Romantische Urbanität: Transdisziplinäre Perspektiven vom 19. bis zum 21. Jahrhundert [1 ed.] 9783412517403, 9783412517380

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Romantische Urbanität: Transdisziplinäre Perspektiven vom 19. bis zum 21. Jahrhundert [1 ed.]
 9783412517403, 9783412517380

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Herausgegeben von Gisela Mettele und Sandra Kerschbaumer

Romantische Urbanität Transdisziplinäre Perspektiven vom 19. bis ins 21. Jahrhundert

Böhlau Verlag wien köln weimar



Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – 250805958/GRK 2041

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek    : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie    ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Hofatelier Elvira, München, Von-der-Thann-Straße, Bildarchiv Foto Marburg, Aufnahme-Nr. 622.388 Satz: büro mn, Bielefeld Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51740-3

Inhalt Sandra Kerschbaumer/ Gisela Mettele „Schaffe dir Ironie und bilde dich zur Urbanität“. Versuch einer Neubewertung des Verhältnisses von Stadt und Romantik  . . . 7

Imaginierte Vergangenheit und Denkmalpflege  Charlotte Bühl-Gramer Nürnberg als Erinnerungsort. Eine ‚romantische Stadt‘  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Matthias Asche/Nina Fehrlen-Weiss Zwischen Kitsch und Kommerz. Romantische Memoria in Rothenburg ob der Tauber vom 19. Jahrhundert bis heute  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Hans-Rudolf Meier Romantische Werte in der Denkmalpflege  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

Stadtentwürfe und Stadtbaukunst  Wolfgang Sonne Ist der malerische Städtebau romantisch? Camillo Sitte im Architekturdiskurs um 1900  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Rainer Schützeichel Der fade Beigeschmack der ‚Romantik‘ im Ulmer Münsterplatzstreit 1925/26  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Matthias Schirren Deus sive natura. Bruno Tauts Alpine Architektur im Lichte Goethes und in Erich Kästners Fliegendem Klassenzimmer  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

Stadt und Land  Thomas Thränert Konzepte der Romantisierung von Stadt und Land in der Gartenkunst um 1800  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

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Inhalt

Sönke Friedreich Heilige Haine in der Industriestadt. Stadtentwicklung, Selbstbilder und ‚natürliche‘ Denkmäler in der Stadt Plauen im Vogtland im ausgehenden 19. Jahrhundert  . . . . . . . . 169 Caroline Rosenthal Wildnis Stadt. Zeitgenössisches Urban Birding und seine historischen Wurzeln in den USA  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

Ästhetisierung des städtischen Raums  Adria Daraban Das Modell des Fragmentarischen. Erfahrungen der Moderne in der Architektur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Gisela Mettele Zauberland des Sichtbaren. August Endell und die Schönheit der großen Stadt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Celina Kress Fatti Urbani. Aldo Rossi und die Poesie urbaner Dinge  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

Stadtmarketing und Museum  Christian Saehrendt Sommernacht in Offenbach. Die Romantisierung der Unorte: Ein neuer Trend der Kulturindustrie  . . . . . 287 Ulf Häder Verstecktes Kleinod im urbanen Zentrum. Das Jenaer Romantikerhaus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Anne Bohnenkamp Ein neues Museum für die Romantik in Frankfurt am Main  . . . . . . . . . . . . . . . 307 Autor*innenverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

Sandra Kerschbaumer/Gisela Mettele

„Schaffe dir Ironie und bilde dich zur Urbanität“. Versuch einer Neubewertung des Verhältnisses von Stadt und Romantik

„O Täler weit, o Höhen“ 1 – wer sich mit Romantik beschäftigt, denkt nicht sogleich an den städtisch gebauten Raum. Und doch ist die urbane Umgebung ein wichtiger Ort von Identitätsbildung und ästhetischen Strategien der Romantik. Diese wird hier weniger als ein historisch abgeschlossener Zeitraum verstanden, sondern vielmehr als ein über die Ursprungsepoche hinausreichendes Phänomen, dessen Spuren dieser Band vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart nachzeichnen will. Dabei zeigt sich schnell, dass ein romantischer Blick nicht mit der zeitlich weit zurückreichenden und geradezu topischen Entgegensetzung von (infernalischer) Stadt und (idyllischer) Natur gleichzusetzen ist, sondern dass die Stadt eine hochdifferenzierte Projektionsfläche für romantisches Wahrnehmen bietet.2 Auch wenn die große Bedeutung des Naturerlebens vollkommen unbestritten bleibt,3 sollen die in diesem Band versammelten Aufsätze dazu beitragen, den urbanen Raum als einen bedeutenden Ort der Aktualisierung romantischer Ideen und Praktiken zu verstehen. Entgegen bisheriger Zugänge zum Thema, bei denen es vorrangig um literarische Repräsentationen von Stadt bzw. städtischer Topographien in der Zeit der Romantik geht,4 widmet sich der Band in historischer Perspektive verschiedenen 1 Joseph von Eichendorff: Abschied, in: Werke in sechs Bänden, hg. v. Hartmut Schultz, Frankfurt am Main 1997, Bd 1: Gedichte, Versepen, S. 346. 2 Ein Akzent der neueren Romantikforschung liegt auf der Frage nach romantischen Raumbeziehungen und Raumwahrnehmungen – ohne dabei allerdings den städtischen Raum systematisch in den Blick zu nehmen, vgl. etwa Mülder-Bach, Inke/Neumann Gerhard (Hg.): Räume der Romantik, Würzburg 2007; Pape, Walter (Hg.): Raumfigurationen in der Romantik, Tübingen 2009. Zu Raumerfahrungen als Mittel romantischer Selbstvergewisserung in den Reiseberichten Sands, Chateaubriands, Gautiers, Michelets u. a. vgl. Schmelzer, Dagmar/ Hertrampf, Marina Ortrud M. (Hg.): Die Neu-Vermessung romantischer Räume, Berlin 2013. 3 Vgl. hierzu etwa Hargraves, Matthew/Sloan, Rachel: A Dialogue with Nature. Romantic Landscapes from Britain and Germany, London/New York 2014. 4 Die romantische Stadt wird dort als europäisches, in Ansätzen auch als transatlantisches Phänomen thematisiert. Dabei geht es meist um romantische Repräsentationen von Stadt bzw. romantische städtische Topographien; vgl. Graevenitz, Gerhart von (Hg.): Die Stadt in der europäischen Romantik, Würzburg 2000; Burdorf, Dieter/Matuschek, Stefan (Hg.): Provinz und Metropole. Zum Verhältnis von Regionalismus und Urbanität in der Literatur, Heidelberg 2008; sowie, vor allem auf die englische Romantik bezogen, Chandler,

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| Sandra Kerschbaumer/Gisela Mettele Facetten des Stadtentwurfs, der Stadtwahrnehmung und der Stadtaneignung, deren Fluchtpunkt das Romantische ist. In programmatischer Absicht wird dabei über das 19. Jahrhundert hinausgeblickt und ein neuer Ansatz vorausgesetzt, der die historische Romantik als Ausgangspunkt für die Ausbildung von Modellen versteht, die moderne Formen von Weltdeutung, Selbstreflexion und ästhetischer Gestaltung bis in die Gegenwart anleiten. Gefragt werden soll, unter welchen Bedingungen und in welchen Medien Vorstellungen von Romantik entworfen wurden. Zu analysieren sind die heterogenen, oft selektiven und m ­ anchmal auch trivialisierenden Bezüge zur historischen Romantik, ihre künstlerische Aneignung ebenso wie ihre politische Instrumentalisierung. Ziel ist eine differenzierte Neubewertung der komplexen Verhältnisse zwischen Stadt und Romantik. Um dieses Ziel zu erreichen, haben sich Expert*innen aus den Bereichen Architektur­geschichte und -theorie, Denkmalpflege, Stadtgeschichte, Stadt- und Raumplanung, Gartendenkmalpflege, Landschaftsarchitektur, Bau- und Planungsgeschichte, Kunstgeschichte und Literatur­wissenschaft auf Grundideen des an der Friedrich-Schiller-Universität Jena angesiedelten Graduiertenkollegs „Modell Romantik. Variation – Reichweite – Aktualität“ eingelassen.5 1. Modell Romantik Dass es jenseits der historischen Romantik um 1800 ein epochenüberschreitendes Phänomen ‚des Romantischen‘ gebe, ist eine etablierte Position, die (populär-)wissenschaftlich ebenso vertreten wird, wie sie im Alltagsverständnis Verwendung findet. Dies gilt auch für den Bereich der Stadt, für ‚romantische‘ Ansichten und Spaziergänge, für den ‚malerischen‘ Städtebau. Allerdings mangelt es allzu oft an überzeugenden Erklärungen einer Verbindung romantischer Phänomene mit ihrem historischen Ausgangspunkt. Dem Band liegt deshalb die im Jenaer Graduiertenkolleg entwickelte Annahme zugrunde, die historische Romantik wirke durch Modellbildungs- und Modellanwendungsprozesse über ihre Gründungsphase hinaus.6 Damit stellt sich natürlich zunächst die Frage: Was ist überhaupt ein James/Gilmartin, Kevin (Hg.): Romantic Metropolis. The Urban Scene of British Culture 1780 – 1840, Cambridge (UK) 2005; Dart, Gregory: Re-imagining the City, in; Romanticism 14/2 (2008), S. V–VI; Peer, Larry (Hg.): Romanticism and the City, New York 2011; Gurr, Jens Martin/Michel, Berit (Hg.): Romantic Cityscapes, Trier 2013. 5 http://modellromantik.uni-jena.de/. 6 Zum Modellkonzept, das diesem Ansatz zugrunde liegt, vgl. Kerschbaumer, Sandra: Immer wieder Romantik. Modelltheoretische Beschreibungen ihrer Wirkungsgeschichte, Heidel­ berg 2018; Kerschbaumer, Sandra/Matuschek, Stefan: Romantik erkennen  – Modelle ­finden. Zur Einführung, in: dies.: Romantik erkennen – Modelle finden, Paderborn 2019, S. 1 – 13; ­Kerschbaumer, Sandra/Matuschek, Stefan: Romantik als Modell, in: Fulda, Daniel/

„Schaffe dir Ironie und bilde dich zur Urbanität“ |

Modell? Die Auswertung wissenschaftstheoretischer Lexika legt nahe, Modelle als idealisierende Nachbildungen eines konkreten Objekts oder Systems zu verstehen, und zwar als Nachbildungen, die dieses Objekt auf die als wesentlich erachteten Eigenschaften reduzieren.7 Eine modellierende Nachbildung kann sich dabei greifbar materialisieren oder – ganz abstrakt – als Denkmodell auftreten. Aktuelle Bestimmungsversuche gehen auf eine (mathematische und kybernetische) Tradition zurück, in der Herbert Stachowiak in den 1960er bis 1980er Jahren eine „Allgemeine Modelltheorie“ entwickelte, die auch in anderen Wissenschaften wahrgenommen wurde. Er verstand unter einem Modell eine Repräsentation der Realität, die das abgebildete Original verkürzt und subjektiviert: Modelle sind immer Modelle von etwas, Abbildungen, Repräsentationen natürlicher oder künstlicher Originale (die selbst wieder Modelle sein können). Aber sie umfassen im Allgemeinen nicht alle Originalattribute, sondern stets nur solche, die für die Modellbildner und/oder Modellverwender relevant sind. Modelle sind mithin ihren Originalen nicht per se zugeordnet; sie erfüllen ihre Ersetzungsfunktion stets a) für bestimmte Erkenntnis- und/oder Aktionssubjekte, b) innerhalb bestimmter Zeitintervalle und c) relativ zu bestimmten Zwecken und Zielen, denen die Modellbildung und die Modelloperationen unterliegen.8

Wer ein ‚Modell Romantik‘ bildet, rekurriert demnach auf die historische Romantik als ‚Original‘, nimmt bei dem Versuch, deren wesentliche Eigenschaften abzubilden, allerdings zwangsläufig Subjektivierungen und Perspektivierungen vor. Denn eine Modellbildung steht prinzipiell in einem funktionalen Zusammenhang. ­Stachowiaks Ansatz bot mit seinem pragmatischen Kontext einen Ausgangspunkt für neuere modelltheoretische Positionen, die den Abbildungscharakter von Modellen grundsätzlich in Frage stellen. Sie betonen stärker das konstruktivistische

Kerschbaumer, Sandra/Matuschek, Stefan (Hg.): Aufklärung und Romantik. Epochenschnittstellen, Paderborn 2015, S. 141 – 155. 7 In der „Enzyklopädie für Philosophie und Wissenschaftstheorie“ wird vom Modell als einer „konkrete[n], wegen ‚idealisierender‘ Reduktion auf relevante Züge, faßlichere[n] und leichter realisierbare[n] Darstellung unübersichtlicher oder ‚abstrakter‘ Gegenstände oder Sachverhalte“ gesprochen. Wolters, Gereon: Modell [Art.], in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hg. v. Jürgen Mittelstraß, Bd. 5, 2. Stuttgart/Weimar, 2 2013, S. 423 – 425, hier S. 423; Hartmann und Bailer-Jones definieren Modelle dadurch, dass sie „die als wesentlich erachteten Eigenschaften eines Objekts oder Systems in einem (möglichst minimalen) Bündel von Annahmen“ erfassen. Dies.: Modell [Art.], in: Enzyklopädie Philosophie, hg. v. Hans Jörg Sandkühler, Bd. 2, Hamburg 2010, S. 1627 – 1632, hier S. 1627. 8 Stachowiak, Herbert: Modelle und Modelldenken im Unterricht, Bad Heilbrunn 1980, S. 29; ders.: Allgemeine Modelltheorie. Wien 1973.

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| Sandra Kerschbaumer/Gisela Mettele Moment von Modellen, die nicht nur durch Abstraktion von Beobachtungen entstünden, sondern auch durch ihnen inhärente Vorannahmen und Hypothesen.9 Die Dynamik einer jeden Modellbildung thematisiert der Informatiker und Wissenschaftstheoretiker Bernd Mahr, der in einer seit den 2000er-Jahren publi­ zierten Reihe von Aufsätzen eine neue allgemeine Modelltheorie zu entwickeln versuchte.10 Für ihn steht jedes Modell in zwei entscheidenden Zusammenhängen: Zum einen stellt es das Ergebnis eines induktiven Prozesses dar, der seinen Ausgangspunkt in einem Ursprungssystem (Matrix) nimmt. Zum anderen ist jedes Modell Referenzpunkt für Realisierungen und Anwendungen (Applikate) und hat damit eine deduktive Komponente. „Der Begriff des Modells lässt sich nur dann überzeugend erklären, wenn man berücksichtigt, dass ein Modell immer zugleich ein Modell von etwas und ein Modell für etwas ist.“ 11 Jedes Modell steht also zwischen einem Ausgangssystem und einer Anwendung und hat damit nicht nur einen rückwärtsgewandten, sondern auch einen gestaltenden, entwerfenden, zukunftsweisenden Charakter. Die in der klassischen und neuesten Modelltheorie bedachten subjektiv-pragmatischen und dynamischen Elemente ermöglichen es, die Vielzahl der Fortschreibungen von Romantik zu erklären. Auf einen um 1800 ausgeprägten Pool an Vorstellungen, Ideen und ästhetischen Verfahrensweisen wird abstrahierend und reduzierend zugegriffen. Jeder dieser idealisierenden Zugriffe kann zum prägenden Element der weiteren Wirkungsgeschichte werden. Die hier zunächst allgemein beschriebenen Prozesse lassen sich nun im besonderen Bereich des Urbanen, der Stadtplanung und ihrer baulichen Umsetzungen nachvollziehen. So finden sich romantische Modellierungen beispielsweise in der Ausbildung spezifischer Vorstellungen von der ‚alten Stadt‘. Diese wiederum können Entscheidungen über den Erhalt und die Gestaltung städtischer Bausubstanz grundieren (Bühl-Gramer). Einige der großen Auseinandersetzungen darum, was zeitgemäßes Bauen eigentlich ausmache, arbeiten um 1900 mit Modellen von Romantik, um die eigene Position zu stützen oder die Gegenposition zu entkräften. Dies zeigt sich am Beispiel der Diskussionen um Entwürfe von Camillo Sitte (Wolfgang Sonne) ebenso wie im Streit um den Ulmer Münsterplatz (Rainer Schützeichel). 9 Knuuttila, Tarja: Models, Representation and Mediation, in: Philosophy of Science 72 (2005), S. 1260 – 1271; Barberousse, Anouk/Ludwig, Pascal: Fictions and Models, in: Suarez, ­Mauricio (Hg.): Fictions in Science. Philosophical Essays on Modeling and Idealization, London 2009, S. 56 – 75. 10 Mahr, Bernd: Modellieren. Beobachtungen und Gedanken zur Geschichte des Modellbegriffs, in: Bredekamp, Horst/Krämer, Sybille (Hg.): Bild, Schrift, Zahl, München 2003, S. 59 – 86; ders.: Ein Modell des Modellseins, in: Dirks, Ulrich/Knobloch, Eberhard (Hg.): Modelle, Frankfurt am Main 2008, S. 187 – 218. 11 Mahr, Bernd: Modelle und ihre Befragbarkeit – Grundlagen einer allgemeinen Modelltheorie, in: Erwägen, Wissen, Ethik 26 (2015), S. 329 – 341, hier S. 331.

„Schaffe dir Ironie und bilde dich zur Urbanität“ |

Modelle können aber nicht nur Gegenstand der Untersuchung von Stadthisto­ riker*innen und Architekturtheoretiker*innen sein. Modelle können auch als Heuristik dienen und einen epistemologisch einheitlichen Rahmen schaffen. So können Wissenschaftler*innen in einem theoretischen Modell gegebene Grundlagen abstrahierend zusammenfassen und ein ‚Modell Romantik‘ als Stellvertreter an die Stelle der komplexen historischen Romantik setzen. Auch dieses Vorgehen hat das Jenaer Graduiertenkolleg erprobt. Zu den Vorteilen der Arbeit mit einem wissenschaftlichen Modell gehört es, sich auf bestimmte Strukturmerkmale zu konzentrieren und sich von der Begriffsverwendung im Diskurs lösen zu können. Bestimmte Eigenschaften des Originalsystems werden vernachlässigt, andere hervorgehoben und dadurch besser sichtbar. Mit einem wissenschaftlichen Modell entsteht eine Vergleichsbasis, zu der die Fülle der Romantikaktualisierungen in der Rezeptionsgeschichte in Bezug gesetzt werden kann. Zur Vergegenwärtigung seien die in Jena formulierten Grundannahmen kurz genannt, die an einen sozialgeschichtlichen Modernebegriff und die von Niklas Luhmann beschriebene Funktionsdifferenzierung anschließen. Demnach entwickelt die historische Romantik Darstellungs-, Deutungs- und Handlungsmuster, die einerseits auf moderne Differenzierungs- und Pluralisierungsprozesse reagieren, die andererseits aber an Ganzheitsperspektiven und Einheitsvorstellungen festhalten.12 Romantische Autor*innen reflektieren in ihren Texten den Zerfall eines metaphysischen Sinnmonopols, die Entwertung essentialistischer Aussagen über Gott, das Ganze von Natur und menschlicher Ordnung. Auf Grundlage der Philosophie Kants und Fichtes wird die Subjektivität als modernes Grundprinzip anerkannt und deren weltkonstituierende Leistung beschrieben. Zugleich artikuliert sich in Texten und Artefakten romantischer Prägung aber das Bedürfnis, die Welt nicht nur als Entwurf eines Subjekts zu verstehen, als naturwissenschaftlich beschreibbare Zustände oder konkurrierende soziale und kulturelle Praktiken. Zum Ausdruck kommt eine vielfach christlich grundierte Leitvorstellung von einer sinnvollen Ganzheit. Universalistische Angebote werden nicht nur in religionsphilosophischen, sondern auch in naturphilosophischen oder politischen Konzeptionen unterbreitet.13 Die Romantiker halten an der Vorstellung eines Absoluten, einer letztgültigen Wahrheit fest, beschreiben diese aber nicht als Kollektivwissen, sondern als ein reflexiv nicht einholbares subjektives Gefühl. Das Absolute, also kontrafaktische Ideen wie Gott, Totalität oder Freiheit bzw. die Autonomie des eigenen Selbst, sind für das empirische 12 Vgl. Auerochs, Bernd/Petersdorff, Dirk von: Einheit der Romantik? Zur Transformation frühromantischer Konzepte im 19. Jahrhundert, Paderborn 2009. Dieser Band ist wegweisend für die Auseinandersetzung mit der romantischen Ambivalenz. 13 Vgl. Kerschbaumer: Immer wieder Romantik, S. 90 – 97 und S. 110 – 112.

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| Sandra Kerschbaumer/Gisela Mettele Ich nur als deren ewiges Verfehlen erfahrbar: ‚Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge‘.14

In romantischen Texten wird das Vorläufige, Subjektive und die Unerreichbarkeit der angebotenen Einheitsvorstellungen so stark markiert, dass diese Einheit nicht nur behauptet, sondern zugleich wieder in Frage gestellt wird. Der Status der romantischen Einheits- und Sinnstiftungssemantik bleibt also ambivalent: Da sie die Selbstreflexion auf ihren regulativen Charakter enthält, wird sie zur Kippfigur zwischen Behauptung und Widerruf.15 Diese doppelte Ausrichtung ermöglicht ästhetische Strukturen und Denkfiguren, die dem weltanschaulichen Holismus ebenso zu entsprechen versuchen wie den Fragmentierungs- und Relativierungsbewegungen der Moderne.16 Die am Kolleg beteiligten Wissenschaftler*innen gehen davon aus, dass die Spannung von holistischen Sinnentwürfen und modernem Kontingenzbewusstsein ein wesentliches Merkmal der historischen Romantik ist und zu ihrer Anschlussfähigkeit, ihrer fortgesetzten Produktivität und Vorbildwirkung beiträgt. Dieser Befund kann auch das Nebeneinander verschiedener Rezeptionslinien erklären, in denen die Romantik wahlweise als harmonisierend oder subjektivierend erscheint. In dieser doppelten Optik der Romantik wird auch die Stadt, gewissermaßen im Vorgriff auf Konzeptualisierungen der Paradoxien der Moderne, zu einem Ort, an dem um eindeutige Ordnungen gerungen wird, der sich diesen eindeutigen Ordnungen aber zugleich entzieht, da diese beständig in Fluss geraten oder – um einen genuin romantischen Ausdruck zu gebrauchen – in der Schwebe sind. Man findet in den folgenden Beiträgen die Stadt als Ort von (leicht irritierter) 14 Löwe, Matthias: ‚Romantik‘ bei Thomas Mann. Leitbegriff, Rezeptionsobjekt, Strukturphänomen, in: Ewen, Jens/Lörke, Tim/Zeller, Regine (Hg.): Im Schatten des Lindenbaums. Thomas Mann und die Romantik, Würzburg 2016, S. 21 – 70, hier: S. 49 – 50. 15 Vgl. Matuschek/Kerschbaumer: Romantik als Modell, S. 145. 16 Diese von den Anglisten Christoph Bode und Christoph Reinfandt gestützte Diagnose trifft sich partiell mit der durch Charles Taylor vertretenen Position, nach der Romantik bei fortschreitendem Verbindlichkeitsverlust der Kirchen und Konfessionen als „komplementäre Großleistung“ gilt, die eine „verlorengegangene Einheit“ der voraufklärerischen Glaubensgemeinschaft durch sprachlich-künstlerische Sinnstiftung kompensiert. Vgl. Taylor, Charles: Ein säkulares Zeitalter, übers. v. Joachim Schulte, Frankfurt am Main 2009, S. 630; Christoph Reinfandt spricht von einer „kompensatorische[n] Fort- bzw. Umschreibung durchtradierter Einheitssemantiken […] unter neuen Bedingungen“, Christoph Bode von einer „Integration der nun funktional desintegrierten Teilgebiete menschlicher Existenz.“ Vgl. Reinfandt, Christoph: Romantische Kommunikation. Zur Kontinuität der Romantik in der Kultur der Moderne, 2003, 56 – 57; Bode, Christoph: Romantik – Europäische Antwort auf die Herausforderungen der Moderne? Versuch einer Rekonzeptualisierung, in: Ernst, Anja/Geyer, Paul (Hg.): Die Romantik. Ein Gründungsmythos der Europäischen Moderne, Göttingen 2010, S. 85 – 96, hier: S. 91.

„Schaffe dir Ironie und bilde dich zur Urbanität“ |

Ganzheitserfahrungsprojektionen ebenso wie als Ort der Fragmentierung, vor allem aber spiegeln sich in den städtischen Analysegegenständen die Ausgleichsversuche beider schon für die historische Romantik konstitutiven Elemente. Zentral für einen Pol des skizzierten wissenschaftlichen Modells ist das Konzept der romantischen Ironie, wie es vor allem von Friedrich Schlegel entwickelt wurde: „[…] die Ironie (bedeutet) eben nichts andres, als dieses Erstaunen des denkenden Geistes über sich selbst, was sich so oft in ein leises Lächeln auflöst“.17 Das Konzept der romantischen Ironie ist fundiert in einem avancierten Schrift- und Textkonzept, das hier nicht ausführlich diskutiert, aber doch kurz präzisiert werden soll: Der ironische Dichter, so August Wilhelm Schlegel, signa­ lisiert seinen Lesern, daß er ihre Einwendungen vorhergesehen und im voraus zugegeben habe, daß er nicht selbst in dem dargestellten Gegenstande befangen sei, sondern frei über ihm schwebe, und er den schönen, unwiderstehlich anziehenden Schein, den er selber hervorgezaubert, wenn er wollte, unerbittlich vernichten könnte.18

Bei den Brüdern Schlegel kommt ein sich selbst transzendierendes Denken zum Ausdruck, ist der von August Wilhelm Schlegel beschriebene Dichter sich doch der Möglichkeit bewusst, das einmal Gesetzte im gleichen Augenblick wieder aufzuheben. Mit dieser Option demonstriert das ironische Subjekt sein Wissen um die Relativität und Vorläufigkeit aller intellektuellen Positionen in Anbetracht der Pluralität des modernen Lebens (und bei den Romantikern natürlich immer auch: der Unerreichbarkeit eines Absoluten). Die romantische Ironie ist sowohl eine Möglichkeit, auf die gesellschaftliche Moderne zu reagieren, als auch eine Folge der transzendentalphilosophischen Einsicht in die Relativität aller Wahrheitsaussagen.19 Für den vorliegenden Band ist interessant, dass Friedrich Schlegel die romantische Ironie in einen engen Zusammenhang mit der Urbanität setzt: „Schaffe dir Ironie und bilde dich zur Urbanität.“ 20 Der Begriff der Urbanität spielt dabei auf die antike Polis als Herkunftsort der Ironie an. Er entsteht bei Schlegel in Ausein­ andersetzung mit den subjektphilosophischen Positionen seiner Zeit, aber eben auch in Auseinandersetzung mit neuen urbanen Lebens- und Erfahrungsformen, 17 Schlegel, Friedrich: Kritische Ausgabe seiner Werke, Bd. 10, hg. v. Ernst Behler, Paderborn 1969, S. 353. 18 Schlegel, August Wilhelm: Kritische Schriften und Briefe, Bd. VI , hg. v. Edgar Lohner, Stuttgart 1962 – 1974, S. 137. 19 Kerschbaumer, Sandra: Heines moderne Romantik, Paderborn 2000, S. 60. 20 Schlegel, Friedrich: Kritische Ausgabe, Bd. 2, hg. v. Ernst Behler u. a., Paderborn 1967, S. 251; Zur Urbanität des frühromantischen Ironiekonzepts vgl. Braungart, Wolfgang: ­Ironie als urbane Kommunikations- und Lebensform. Über Cicero, Quintilian und Friedrich S­ chlegel, in: Neue Beiträge zur Germanistik 3 (2004), S. 9 – 24.

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| Sandra Kerschbaumer/Gisela Mettele die sich um 1800 in den (Groß-)städten etablierten, etwa in Paris und Berlin, wo Schlegel eine Zeit lang lebte. Ein positiver Bezug auf das Städtische, so deutet das Zitat an, war für frühromantisches Denken gewissermaßen konstitutiv.21 Die Romantik auf Kleinstadtidylle zu reduzieren, scheint schon deshalb unangemessen, weil es sich bei den Protagonist*innen der romantischen Bewegung um hochmobile Akteur*innen handelte, die ihr Leben an großen und kleinen Orten verbrachten: in Jena und Berlin, Heidelberg und Paris. Ironie, als neue Verfahrens- und Darstellungsform der romantischen Dichtung, geht nach Schlegel hervor aus der Erfahrung „der ewigen Agilität, des unendlich vollen Chaos“.22 Dieses Chaos ist Ausdruck einer vielstimmigen ruhelosen Welt, in der kaum etwas im Stillstand verharrt, wo die Dinge in Bewegung und nicht recht fassbar sind. Das Gewühl, das Ausdruck einer beschleunigten städtischen Realität als Sinnbild der gesellschaftlichen Moderne ist, lässt keine klar umgrenzten Aussagen zu.23 Nur die Anerkennung widerstreitender und sich gegenseitig relativierender Prinzipien führt zu einer Form des immer nur momentanen Ausgleichs.24 Unter Einbezug einer Perspektive ironischer Uneindeutigkeit sollen die komplexen Verhältnisse zwischen Stadt und Romantik betrachtet werden, die häufig jenseits der dichotomen Vorstellungen von modern und traditionalistisch liegen, von denen die stadtgeschichtlichen, stadtplanerischen und architekturhistorischen Diskurse noch weitgehend bestimmt sind. Einige wiederkehrende Elemente romantischer Stadtvorstellungen, wie die Orientierung an einer imaginierten Vergangenheit, die Ästhetisierung des städtischen gebauten und sozialen Raums, die harmonische Verbindung von Stadt und Land und die Aufwertung des Fragmentarischen, sollen im Folgenden andeutend skizziert werden. 2. Das Mittelalter als Ausgangspunkt von Modellierungen Einen wichtigen Kristallisationskern im auf Einheitsvorstellungen gerichteten Denken der historischen Romantik stellt das Mittelalter dar.25 Die romantische Schule in Deutschland sei „nichts anderes als die Wiedererweckung der Poesie des 21 Zur Begriffsbestimmung und -geschichte von Urbanität vgl. Sonne, Wolfgang: Urbanität, in: ders.: Urbanität und Dichte im Städtebau des 20. Jahrhunderts, Berlin 2014, S. 14 – 36. 22 Schlegel, Friedrich: Ideen, in: Athenaeum. Dritten Bandes Erstes Stück, Berlin 1800. 23 Becker, Sabina: Urbanität als romantische Kategorie. Stadt-Bilder Ludwig Tiecks, in: Insti­ tut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität Berlin (Hg.): „lasst uns, da es uns vergönnt ist, vernünftig seyn!“ – Ludwig Tieck (1773 – 1853), Bern u. a. 2004, S. 179 – 197. 24 Peer, Larry H.: The Infernal and Celestial City of Romanticism, in: ders. (Hg.): Romanticism and the City, New York 2011, S. 1 – 5. 25 Simon, Michael/Seidenspinner, Wolfgang/Niem, Christina (Hg.): Episteme der Romantik. Volkskundliche Erkundungen, Münster 2013, S. 69 – 70.

„Schaffe dir Ironie und bilde dich zur Urbanität“ |

Mittelalters, wie sie sich in dessen Liedern, Bild- und Bauwerken, in Kunst und Leben manifestiert hatte“, so formulierte es bereits der romantische Kritiker der Romantik, Heinrich Heine und unterschlug dabei alle Signale (früh-)romantischer Texte, die zeigen, dass es sich bei diesem Ideal um eine regulative Idee handelt.26 Die relative Geschlossenheit des mittelalterlichen Weltbildes war Voraussetzung für die aus romantischer Sicht maßstabgebende Qualität der mittelalterlichen Kunst. Zugleich bot diese Geschlossenheit aus Sicht von Romantikern wie August ­Wilhelm Schlegel aber auch einen anthropologischen und gesellschaftlichen Orientierungspunkt. Aus dem Zusammenspiel dieser Elemente speiste sich die Attraktivität des Mittelalters, dessen Charakter als idealisiertes Moderne-Gegenbild die frühromantischen Texte zum Teil durchaus bewusst halten.27 Bezogen auf die Stadt manifestierte sich das Mittelalter im Bild der ‚altdeutschen Stadt‘. Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck lieferten mit den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders von 1797 einen Text, der Nürnberg wirkungsmächtig zu einem städtischen Ideal erklärte. Charlotte BühlGramer beschreibt in ihrem Beitrag zu diesem Band, wie im Gefolge der ‚Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders‘ von 1797 […] die architektonische Physiognomie der Stadt mit ihrer regellosen Anlage und Formenvielfalt, mit ihren Monumentalbauten, den Bürger- und Handwerkerhäusern, ihren Kunstwerken und großen Künstlern – allen voran Albrecht Dürer – zum Ausdruck einer organischen, naturhaft gewachsenen Stadt und zur Chiffre deutscher Gotik schlechthin [wird]. Das seit Jahrhunderten unverändert gebliebene Erscheinungsbild wurde zum Ausdruck einer mittelalterlich organischen Einheit einer bürgerlichen Communitas, einer Harmonie von Kunst und Gesellschaft und durch eine Personalisierung von Vergangenheit als ‚Dürer-Zeit‘ imaginiert.28

Es greift allerdings zu kurz, die Sehnsucht nach der verlorengegangenen Einheit der bürgerlichen communitas nur als eine rein rückwärtsgewandte Vision städtischer Ordnung zu begreifen. Denn zumindest in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 26 Heine, Heinrich: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. 8/1, hg. v. Manfred Windfuhr u. a., Hamburg 1973 – 1997, S. 126. 27 Ludwig Stockinger spricht von einer „‚Romantisierung‘ des Mittelalters“, bei der etwa der Redner in Novalis‘ Text „Die Christenheit oder Europa“ zwar „durchaus vom zeitgenössischen geschichtswissenschaftlichen Kenntnisstand ausgeht, aber eine Auswahl von Elementen der realen Geschichte trifft, die es ermöglicht, diese Epoche nach dem Verfahren der Analogie als Verweis auf die Möglichkeiten von Gegenwart und Zukunft zu stilisieren“. ‚Politische Romantik‘ – ‚Romantisierung von Politik‘. Anmerkungen zum Ursprung und zur Rezeption eines frühromantischen Politikkonzepts, in: Pauly, Walter/Ries, Klaus (Hg.): Staat, Nation und Europa in der politischen Romantik, Baden-Baden 2015, S. 47 – 97. 28 Vgl. den Beitrag von Bühl-Gramer im vorliegenden Band S. 35.

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| Sandra Kerschbaumer/Gisela Mettele verkörperte das Mittelalter in den Augen des städtischen Bürgertums vielfach nicht nur eine scheinbar intakte kommunale Einheit, sondern auch die hohe Zeit stadtbürgerlicher Autonomie. Die ‚altdeutsche Stadt‘ als Sinnbild eines sich selbst organisierenden, auf korporativen Prinzipien beruhenden Gemeinwesens wurde so zu einer symbolischen Ressource, die genutzt werden konnte, um politische Anliegen und Partizipationsansprüche zu stärken.29 Die auch in der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts evozierten mittelalterlichen Szenen zeigen besonders klar den konstruktiven Charakter des dargestellten Mittelalters. Als Beispiel kann hier das Fresko Das Frankenheer Kaiser Karls des Großen in Paris des nazarenischen Malers Julius Schnorr von Carolsfelds (1794 – 1874) dienen. Der Maler hatte es 1826 als Teil eines Zyklus von Fresken für die Casino Massimo in Rom (Ariost-Saal) gemalt. Ohne das Bild kunsthistorisch auszudeuten, kann man doch sagen, dass hier ein Mittelalter in Szene gesetzt wird, welches nur eine lose Verbindung zu einer historischen Realität hat: das Spektakel des einziehenden Heeres, das Volk (vor allem hier: die Frau aus dem Volk), der weiße Ritter auf dem weißen Pferd (Abb. 1). Das Bild selbst deutet auf seine Bildhaftigkeit. Es stellt diese aus und trägt doch – und gerade in dieser klischeehaft reduzierenden Form – zum Weitertransport von städtischen Mittelalteridealen im Sinne einer Modellbildung bei. Im 19. Jahrhundert wurde eine idealisierende und verkürzende Darstellung des Mittelalters nicht nur in Bildern und Texten, sondern auch in städtischen Festen und Umzügen geboten. Diese Erinnerungsinszenierungen machten im Rahmen lokaler Ereignisse eine imaginierte soziale Ordnung der Stadt mit allen Sinnen erfahrbar. Historische Feiern, in denen Versatzstücke ‚altdeutsch‘ anmutender Ordnung zur Schau gestellt wurden, waren in den Städten des 19. Jahrhunderts außerordentlich populär. Sie artikulierten sowohl nach innen als auch nach außen das Selbstbild einer Stadt und stifteten durch das ästhetische Erleben kulturelle und gesellschaftliche Kohärenz in Zeiten, in denen diese Kohärenz mehr als fraglich geworden war. Allerdings bleibt die Zurschaustellung von Einheit von dem mehr oder weniger ausgeprägten Wissen begleitet, sich der Inszenierung eines in der Gegenwart abwesenden Ideals zu bedienen.30 29 Vgl. Gall, Lothar (Hg.), Stadt und Bürgertum im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft, München 1993 u. ders. (Hg.): Vom alten zum neuen Bürgertum. Die mitteleuropäische Stadt im Umbruch 1780 – 1820, München 1991; als Fallstudie innerhalb dieses Projekts vgl. etwa Mettele, Gisela: Bürgertum in Köln 1775 – 1870. Gemeinsinn und freie Association, München 1998; vgl. auch Pröve, Ralf: Stadtgemeindlicher Republikanismus und die Macht des Volkes. Civile Ordnungsformation und kommunale Leitbilder politischer Partizipation in den deutschen Staaten vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2001. 30 Dass dies nicht nur für den deutschen Kontext gilt, haben die aktuellen englischen Forschungen zu „urban pageants“ gezeigt. In britischen Städten hatten historisierende Umzüge und

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Abb. 1 Julius Schnorr von Carolsfelds „Das Frankenheer ­Kaiser Karls des Großen in Paris“. Quelle: akg-­images/Pirozzi.

Die romantisierende Sicht auf die Stadt, die in der kommunalen Festkultur zum Ausdruck kam, war nicht zuletzt Reaktion auf die rapiden Veränderungen der Städte im Prozess von Industrialisierung und Urbanisierung. Als frühe Ausprägungen einer ‚Event-Kultur‘ sind diese Feste als moderne Phänomene und Strategien von Stadtrepräsentation zu bezeichnen. Vergangenheitsbegeisterung und Fortschrittsoptimismus bildeten dabei keineswegs ein Gegensatzpaar. Der durch Modellbildung immer weiter fortgetragene idealisierende Blick in das ­Mittelalter war v­ ielmehr fest verwurzelt in modernen ökonomischen Hoffnungen und theatralische Inszenierungen noch im frühen 20. Jahrhundert Konjunktur und evozierten eine neoromantische Vision der Stadt, um gerade in Zeiten ökonomischer und politischer Krisenwahrnehmung ein Gefühl von Zugehörigkeit und städtischer Einheit zu festigen. Tom Hulme hat mit Verweis auf die englischen Forschungsdiskussionen um die Civic Middle Ages betont, dass eine Sicht, die den rein konservativen Charakter solcher Ereignisse betone, zu kurz greifen würde. Auch legt er dar, wie die Spektakel von verschiedenen städtischen Akteur*innen mit sehr unterschiedlichen politischen Hintergründen, darunter auch englische Frauenrechtlerinnen, genutzt wurden; vgl. Hulme, Tom: Historical Pageants, Neo-Romanticism, and the City in Interwar Britain, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2016), S. 36 – 50.

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| Sandra Kerschbaumer/Gisela Mettele Erwartungen. Nicht zuletzt spielten kommerzielle Interessen wie die Stimulierung der städtischen Wirtschaft und des Tourismus eine wichtige Rolle. Der Beitrag von Charlotte Bühl-Gramer zeichnet nach, wie die am Beispiel Nürnbergs entworfene ‚romantische Stadt‘ sich als Wahrnehmungsmuster etablie­ ren konnte und wie dieses im Verlauf der letzten 200 Jahre produktive Anwendungen, Neu- und Umdeutungen erfahren hat. Bühl-Gramer spannt zu diesem Zweck einen weiten Bogen: von der Literatur über Inszenierungen in Festzug und Oper, Andenkengraphik und Fotographie bis zur städtischen Denkmal- und Stadtbildpflege. Während der Anteil der alten Bausubstanz mit dem Wachstum des urbanen Agglomerationsraums beständig abnahm, wurden in den verschiedenen Bereichen Angebote unterbreitet, in Nürnberg eine verlorene Ganzheit der Stadt sentimentalisch zu erfahren. Die Frage nach dem Verhältnis von Stimmungswerten und tatsächlicher alter Bausubstanz wird auch im Beitrag von Matthias Asche und Nina Fehrlen-Weiss aufgeworfen. Sie beleuchten den Fall der ehemaligen Reichsstadt Rothenburg ob der Tauber, in der Gewerbetreibende bereits 1881 das historische Fest des ‚Meistertrunks‘ ins Leben riefen, welches als Fremdenverkehrsmotor fungierte und die Stadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die USA hinein bekannt machte. Diese Bekanntheit war es, die nach der vollständigen Zerstörung der Rothenburger Altstadt im Zweiten Weltkrieg zu der Entscheidung führte, das vormoderne Stadtbild mit alliierter Hilfe zu rekonstruieren, so dass die Stadt bis heute als ‚altdeutsche Stadt‘ wahrgenommen wird.31 Hans Rudolf Meier fragt vor diesem Hintergrund nach romantischen Werten in der Denkmalpflege und verweist auf Alois Riegl, der in Der moderne Denkmalkultus von 1903 betonte, dass es die modernen Subjekte seien, die den Denkmälern Sinn und Bedeutung zuschrieben, Denkmalswerte also keinesfalls überzeitlich feststünden. Meier analysiert die Unterscheidung in „Erinnerungswerte“ und „Gegenwartswerte“ und betont, dass Denkmäler immer sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart angehören. 31 Gerhard Vinken bezeichnet die „Altstadt“ als eine Kreation der Moderne und weist darauf hin, dass der Wiederbesinnung auf das Historische ein durchaus ambivalentes Verhältnis zum geschichtlich Gewordenen zugrunde liegt, indem mit einem „malerischen Erscheinungsbild“ sowohl nicht-authentische Rekonstruktionen als auch die Zerstörung historischen Baubestands legitimiert werden können; Vinken, Gerhard: Zone Heimat. Altstadt im modernen Städtebau, München/Berlin 2010. Rekonstruktionen und historisierende Neubauten v­ erwischen zudem die Zeitgrenze zwischen historischer und gegenwärtiger Bau­substanz, indem das Alte neu und das Neue alt erscheint; Brichetti, Katharina: Die Paradoxie des postmodernen Historismus. Stadtumbau, Ensembleschutz, Städtebauliche Denkmalpflege und Kritische Rekonstruktion vom 19. bis 21. Jahrhundert, Berlin 2009. Das Phänomen der ‚neuen alten Stadt‘ lässt sich aktuell auch in Frankfurt am Main wahrnehmen, siehe dazu Vinken, ­Gerhard: Unstillbarer Hunger nach Echtem. Frankfurts neue Altstadt zwischen Rekonstruktion und Themenarchitektur. In: Forum Stadt 40/2 (2013), S. 119 – 136. Im internationalen Kontext vgl. Eilskov Jensen, Lotte/Leerssen, Joseph Theodoor/Mathijsen, Marita (Hg.): Free Access to the Past: Romanticism, Cultural Heritage and the Nation. Leiden/Boston, 2010.

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3. Können und sollen Stadtentwurf und Stadtbaukunst ‚romantisch‘ sein? Auch in den Diskursen um Stadtentwurf und Stadtbaukunst um 1900 lässt sich beobachten, wie mittelalterliche Städte und mittelalterliche Kathedralen zum Vorbild gemacht wurden und wie dabei auf unterschiedlichste Mittelalterbilder Bezug genommen wurde.32 Rainer Schützeichel greift in seinem Beitrag die Frage auf, wie sich Architekten und Stadtplaner der Jahrhundertwende darauf verständigen mussten, von welchem Mittelalter sie mit ihrem romantisierenden Rückgriff auf die Gotik überhaupt ausgingen und wie sich die Vertreter eines malerischen Städtebaus gegen klassizistische Schulen verteidigten. Schützeichel stellt dies anhand des Streits um die Gestaltung des Ulmer Münsterplatzes dar, in dem darüber diskutiert wurde, was denn die Gotik gewollt habe: das Malerische oder die Achse? Deutlich wird dabei, wie sehr die hier verhandelten Mittelalterbilder von aktuellen Interpretationen und Intentionen überlagert waren. Interessanterweise nutzen alle am Streit Beteiligten den Begriff des „Romantischen“ oder des „Romantikers“ als Kampfbegriff – als negativ aufgeladenes Etikett, das auch die so Bezeichneten ablehnen – und tragen so zur Modellierung dessen bei, was um 1900 darunter verstanden wurde. Wolfgang Sonne präsentiert die Gallionsfigur des künstlerischen Städtebaus, den österreichischen Architekten Camillo Sitte, dessen Ideen des unregelmäßigen Stadtraums, der gekrümmten Straßen und der geschlossenen Plätze an ein idealisiertes mittelalterliches Stadtbild anknüpften. Sitte wollte mit seinem für den modernen Städtebau grundlegenden Werk Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen von 1889 eine Antwort geben auf „unser mathematisch abgezirkeltes modernes Leben, in dem der Mensch förmlich selbst zur Maschine wird“.33 Seine Ideen einer nichtgeometrischen Entwurfslehre wurden u. a. von dem englischen Gartenstadtarchitekten Raymond Unwin aufgenommen – und durch diesen wieder zurück in die deutsche Garten­ stadtbewegung transportiert. Sonne zeichnet nach, wie im zeitgenössischen Diskurs die Ästhetik des „malerischen Städtebaus“ und „Romantik“ miteinander (oftmals polemisch) verschränkt wurden, um dann die Frage zu stellen, ob diese Gleichsetzung überhaupt hilfreich und ‚Romantik‘ eine nützliche Kategorie zur Charakterisierung städtebaulicher Positionen sei? Der praktischen Zwecken und 32 Zum Revival gotischer Architektur und zur Begeisterung für Kathedralen in der Zeit der Romantik in Europa vgl. die beiden Kataloge zur Ausstellung „Kathedralen 1789 – 1914: ein moderner Mythos“ in Rouen und Köln: Wallraf-Richartz-Museum/Fondation Corboud (Hg.): Die Kathedrale. Romantik – Impressionismus – Moderne, München 2014 und Amic, Sylvain/Le Men, Ségolène (Hg.): Cathédrales 1789 – 1914. Un mythe moderne, Paris 2014; sowie Bisky, Jens: „… in einem unendlichen Bau an der Stadt Gottes auf Erden.“ Boiserées Domwerk im Kontext romantischer Architekturtheorie, in: Graevenitz, Gerhart von (Hg.): Die Stadt in der europäischen Romantik, Würzburg 2000, S. 93 – 108. 33 Sitte, Camillo: Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, Wien 1889, S. 113.

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| Sandra Kerschbaumer/Gisela Mettele Konstruktionsgesetzen unterworfene Städtebau als gestaltende und wirklichkeitsprägende Kunstform widersetzt sich, so Sonne, Formen ironischer Brechungen und Relativierung. Eine Position, der Adria Daraban in ihrem Beitrag – durchaus im Sinne romantischer V ­ ielstimmigkeit – vehement widerspricht. Mit Bruno Taut stellt Matthias Schirren einen einflussreichen Architekten der Weimarer Jahre vor. Tauts Ideale entsprangen u. a. der Gartenstadtbewegung und wenden sich gegen Konzepte der urbanen Moderne die, wie etwa im italienischen Futurismus, zunehmende Dichte, Geschwindigkeit und Auflösung des Individuellen feierten, genauso aber gegen die reaktionären Schemata eines identitär gedachten „Heimatschutzes“. Seine Ideen manifestieren sich gleichermaßen in der Berliner Großsiedlung „Britz“ (errichtet in den Jahren 1924 – 26, heute Weltkulturerbe) und in Tauts Buchpublikation Alpine Architektur. Beide loten ein Zusammenspiel von Architektur und organischen Naturformen aus. Die vergletscherten Alpen und die große Stadt bildeten für Taut daher keine Gegensätze. Schirren zeichnet die (neu-)romantischen Prägungen Tauts durch seinen Mentor Theodor Fischer und den gemeinsamen Rückgriff auf den „­ Psychophysiker“ ­Theodor Fechner und dessen „Allbeseelungslehre“ nach. Monistische Vorstellungen der Jahrhundertwende finden Eingang in ein Architekturverständnis, das emphatische Einheitserfahrungen in Natur und Kunst verbinden will. In der Verfilmung von Erich Kästners Kinderbuchklassiker Das fliegende Klassenzimmer von 1954 hat die Alpine Architektur Bruno Tauts einen kurzen Auftritt. So zeigt sich, dass Bruno Taut nicht nur auf durch Fechner vermittelte romantische Positionen zurückgreift, sondern auch, dass seine eigene architektonisch-politische Modellierung naturphilosophischer und ästhetischer Impulse für eine weitere Nutzung und Anwendung zur Verfügung steht. 4. Wechselspiel von Stadt und Land Die Gartenstadtbewegung entwarf im 19. Jahrhundert das Ideal einer harmonischen, rural-urbanen ‚pastoralen Stadt‘. Mit seinem 1898 veröffentlichten Entwurf To-Morrow. A Peaceful Path to Real Reform hatte der englische Reformer Ebenezer Howard ein Lösungsmodell für die akuten sozialen, hygienischen und ökologischen Probleme der industrialisierten Städte seiner Zeit angeboten.34 Gleichzeitig wollte er eine Antwort finden auf die mit den Anfängen der 34 Howard, Ebenezer: To-Morrow. A Peaceful Path to Real Reform, London 1898. Dieses Buch ist 2003 in einer vorzüglichen Edition neu erschienen: Ebenezer Howard: To-Morrow. A Peaceful Path to Real Reform, hg. v. Peter Hall/Dennis Hardy/Colin Ward, London 2003. Erst in der zweiten Auflage von 1902 trug es den Titel „Garden Cities of To-Morrow“ (in der deutschen Übersetzung: Gartenstädte in Sicht, Jena 1907).

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Zersiedelung einhergehenden Probleme. Die rapiden Verbesserungen der Transportsysteme und Kommunikationstechnologien hatten Ende des 19. Jahrhunderts den stadtnahen Raum weit für die Besiedelung geöffnet und die vormals klaren Grenzen zwischen Stadt und Land aufgelöst.35 In der von Howard propagierten städtebaulichen Alternative zum ausufernden Großstadtwachstum sollten die Vorzüge des Landes und der Stadt – wie Schönheit der Natur auf der einen und gesellige Möglichkeiten auf der anderen Seite – in einer neuen Siedlungsform, der Gartenstadt, harmonisch miteinander verbunden werden. Die Gartenstadt stand einerseits für eine ökologische Utopie, die versuchte, Natur und Städtewachstum miteinander zu versöhnen. Aber sie war auch eine soziale Utopie: Verbunden mit dem sozialreformerischen Programm der Genossenschaftsbewegung kreiste Howards Entwurf der Gartenstadt um die Frage nach einer neuen Kultur der Stadt, die Ort der Selbstbestimmung ihrer Bewohner*innen sein sollte statt Produkt spekulativer Prozesse.36 In die Stadt hineingeholt werden sollte mit Elementen der Natur eben jener Wirklichkeitsbereich, von dem sich viele Romantiker der ersten Stunde eine Überwindung der modernen Spaltung in Geist und Erscheinungswelt versprachen.37 Friedrich von Hardenberg (Novalis) hatte ebenso wie F. W. J. Schelling naturphilosophische Studien vorgelegt, die darauf zielten, Natur als Sprache des Absoluten zu verstehen, eine Sprache, deren Bedeutung sich allerdings immer nur erahnen ließ und die sich einer eindeutigen Fixierung entzog. Man wollte die Natur auf den in ihr enthaltenen Geist hin deuten. Was wir Natur nennen, ist ein Gedicht, das in geheimer wunderbarer Schrift verschlossen liegt. Doch könnte das Rätsel sich enthüllen, würden wir die Odyssee des Geistes darin erkennen, der wunderbar getäuscht, sich selber suchend, sich selber flieht; denn durch die Sinnenwelt blickt nur wie durch Worte der Sinn, nur wie durch halbdurchsichtigen Nebel das Land der Phantasie, nach dem wir trachten. Jedes herrliche Gemälde entsteht dadurch gleichsam, daß die unsichtbare Scheidewand aufgehoben wird, welche die wirkliche und idealische Welt trennt, und ist nur die Öffnung, durch welche jene Gestalten und Gegenden der Phantasiewelt, welche durch die wirkliche nur unvollkommen hindurchschimmert, völlig hervortreten. Die Natur ist dem Künstler nicht mehr, als sie dem Philosophen ist, nämlich nur die unter beständigen Einschränkungen

35 Vgl. Howards berühmte Grafik „Die drei Magneten“ in: Howard: To-Morrow, S. 24. 36 Mettele, Gisela: Wieviel Garten braucht die Gartenstadt? Leben im Grünen als genossenschaftliches Reformprojekt im frühen zwanzigsten Jahrhundert, in: Häberlein, Mark/Zink, Robert (Hg.): Städtische Gartenkulturen im historischen Wandel, Ostfildern 2015, S. 193 – 211. 37 Zu romantischen Naturkonzepten vgl. etwa Hargraves, Matthew/Sloan, Rachel: A Dialogue with Nature. Romantic Landscapes from Britain and Germany, London/New York 2014 u. Formann, Inken/Weber, Karl (Hg.): RheinMainRomantik. Gartenkunst, Regensburg 2013.

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| Sandra Kerschbaumer/Gisela Mettele erscheinende idealische Welt, oder nur der unvollkommene Widerschein einer Welt, die nicht außer ihm, sondern in ihm existiert.38

In einer Natur, deren wunderbare Erscheinungsformen sich auf einen höheren Geist hin öffneten, konnte der Mensch sich dann entsprechend in all seinen ­Anteilen erfahren und wiederfinden. Hinsichtlich der städtischen Natur hatte man es dabei aber von vorne herein mit einem Paradoxon zu tun. Denn die in die Stadt hineingeholten Natur-Elemente, von denen man sich im Laufe des 19. Jahrhunderts Ausgleich, Harmonie und organisches Dasein versprach, waren immer nur Teil einer widersprüchlichen, durch nüchterne Modernisierungs- und Industrialisierungsprozesse geprägten städtischen Welt. Je prekärer das städtische Grün wurde, umso mehr Bedeutung wurde ihm bei der bewussten Gestaltung des Stadtraums zugesprochen. Urbane Grünanlagen und Parks sowie leicht erreichbare Wanderungen im städtischen Umland sollten ein Gegengewicht zur rapiden industriellen Entwicklung der Städte bilden, einen Hort der Ursprünglichkeit.39 Sönke Friedreichs Beitrag zeigt dies am Beispiel der sächsischen Textilstadt Plauen, indem er den Diskurs um die Gestaltung des Stadtraums nachvollzieht. Grünanlagen und Parks sollten nicht nur die negativen Folgen städtischer Verdichtung kompensieren, sondern als „natürliche Orte“ auch Resonanzräume bieten, die identitätskonstituierende Erfahrungen ermöglichten. Der seit 1865 amtierende Oberbürgermeister sprach sich für die Einrichtung von „Hainen“ aus, um romantisches Empfinden an Denkmal-Orten zu ermöglichen und Besucher*innen der städtischen Alltäglichkeit zu entheben. Mit dem Hinweis auf die germanischen Wurzeln der Baum- und Waldverehrung wurden zugleich nationale Motive angesprochen. Paradoxien zeigen sich auch dort, wo die moderne städtische und infrastrukturelle Entwicklung bereits Voraussetzung für eine mit hohen Erwartungen aufgeladene Naturwahrnehmung außerhalb der Stadt war. Die von den Städten ausgehende verkehrstechnische Erschließung durch Eisenbahn und Dampfschifffahrt ermöglichten es, dass Landschaften wie das mittlere Rheintal oder Franken für städtische Reisende überhaupt erlebbar wurden. Je mehr die Städte im Zuge der rapiden sozialen und ökonomischen Veränderungen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in die Landschaft ausgriffen, umso mehr wurden scheinbar unberührte Naturlandschaften 38 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Ausgewählte Schriften in 6 Bänden, Bd. 1: 1794 – 1800, hg. v. Manfred Frank, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1995, S. 696. 39 Zur urbanen Waldromantik vgl. Walden, Hans: Stadt-Wald. Zur Grüngeschichte Hamburgs, Hamburg 2002; Wilson, Jeffrey: The German Forest. Nature, identity and the contestation of national Symbol 1871 – 1914, Toronto 2012; Schneider, Ellen: Der Waldpark. Ideen und Erscheinungsformen in Deutschland 1880 – 1935, Remagen 2011; allg. vgl. auch ­Zimmermann, Clemens: Raum in Bewegung – Bewegung im Raum, in: Graevenitz, Gerhart von (Hg.): Die Stadt in der europäischen Romantik, Würzburg 2000, S. 19 – 33, hier S. 24 – 29.

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jenseits der urbanen Zentren zu Sehnsuchtschiffren für die Inszenierung eines von gesellschaftlich vorgegebenen Rollen befreiten und in die Natur eintauchenden Seins.40 Oft wurde die scheinbar unberührte und ursprüngliche Natur aber umso mehr genossen, je näher eine Stadt war. Bei aller Hochschätzung der Natureinsamkeit unterhielten die meisten Romantiker*innen intensive und komplexe Beziehungen zur Stadt und viele hatten dort ihren Lebensmittelpunkt. Es scheint, als hätten die Schriftstellerinnen der historischen Romantik das Leben in der Großstadt und die damit verbundenen Möglichkeiten, wie etwa die Formen urbaner Geselligkeit, noch mehr geschätzt als ihre Männer. Diesen Eindruck erwecken zumindest Achim und Bettina von Arnim.41 Er liebte das ländliche Leben auf Schloss Wiepersdorf, sie war eine passionierte Großstadtbewohnerin, die sich nach dem Tod ihres Mannes zur sozialkritischen Analytikerin der Metro­ pole Berlin entwickelte.42 Der umfangreiche Briefwechsel der beiden, der sich der räumlichen Trennung verdankte, lässt sich im oben beschriebenen Sinn als ein romantisches Vexierbild der Stadt lesen. Auch die Frauen der Jenaer Frühromantik scheinen die Kleinstadt nicht sonderlich geschätzt zu haben. Dorothea Veit, die mit ihrer Scheidung im Januar 1799 die Berechtigung, in Berlin zu leben, verloren hatte 43, berichtete nach ihrer Ankunft in Jena Friedrich Schleiermacher in einem Brief über ihre ersten Eindrücke. Als „Berlinerin“ bestaunte sie „die angenehme gebirgige Gegend“, die „so romantisch und groß“ sei. Sie berichtet von Spaziergängen „in den schönsten Gegenden“, etwa am Ufer der Saale im sogenannten Paradies.44 Jena selbst sei jedoch 40 In manchen romantischen Reisebeschreibungen vom Mittel- und Niederrhein, dem Frankenland oder aus Italien sind die Beschreibungen romantischer Landschaften nurmehr eingebettet in Städtebeschreibungen. Bei den Reisenden selbst lässt sich häufig folgendes Muster erkennen: Die Landschaft wurde bei der Durchfahrt genossen, Ziel waren aber die Städte, in denen gewohnt wurde. Manche der romantischen Reiseführer begrenzten sich sogar ganz auf Städtebeschreibungen „mit Rücksicht […] auf die Rheinreisenden, welche die Zwischenstationen fast gar nicht zu besuchen pflegen.“ Spitz, Johann Wilhelm: Die Rheinfahrt von Köln bis Mainz. Das malerische und romantische Rheinland, Düsseldorf 1840, S. 29. 41 Vgl. Frevert, Ute: Stadtwahrnehmungen romantischer Intellektueller in Deutschland, in: von Graevenitz, Gerhart von (Hg.): Die Stadt in der europäischen Romantik, Würzburg 2000, S. 55 – 78, hier S. 70 – 74. 42 Mettele, Gisela: Das Vogtland in Berlin. Bettina von Arnims Kritik der sozialen Verhältnisse in der preußischen Metropole, in: Kouli, Yaman/Luks, Timo/Mettele, Gisela/Schramm, Manuel (Hg.): Regionale Ressourcen und Europa, Berlin 2018, S. 363 – 380. 43 Hertz, Deborah: Dorothea Mendelssohn Schlegel. In: Jewish Women: A Comprehensive Historical Encyclopedia, https://jwa.org/encyclopedia/article/schlegel-dorothea-­mendelssohn, letzter Zugriff: 08. 03. 2020. 44 Brief 711 Von D. Veit, Jena Freitag 11. 10. 1799, in: Schleiermacher, Friedrich: Kritische Gesamtausgabe. Briefwechsel und biographische Dokumente. Bd. 3 Briefwechsel 1799 – 1800, hg. v.

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| Sandra Kerschbaumer/Gisela Mettele eine häßliche Stadt, aber ich sehe sie nicht viel, wir wohnen alle in einer Art von Hinter­ haus, alle Fenster gehen nach dem Hofe zu. Ganz unten wohne ich, eine Treppe hoch Caroline, dann Wilhelm und zuletzt ganz in die Höhe wohnt Friedrich.45

Sie berichtet auch von Caroline Schlegels „momentan trüber Stimmung“ und möglichem „Hang zur Schwermut“; aus dem geselligen Leben hätten sich die Schlegels, drei Jahre nach ihrer Ankunft in Jena, ganz zurückgezogen: Bis jezt leben wir noch ganz still unter uns, ich habe noch gar keine Gelegenheit gehabt, irgend ein anders Kleid als das gewöhnliche tägliche anzuziehen, und es soll wie man sich vernimmt den ganzen Winter so bleiben, denn Schlegels haben jede Gesellschaft, Club, Concert, und alles öffentliche, aufgegeben.46

Die Einkapselung in ihre eigene Wohnwelt 47 setzte großes kreatives Potential frei, was dann auch eine Sprengkraft entwickelte, die dazu führte, dass alle schon bald Jena in Richtung Paris und Berlin verließen. Dass die Ambivalenz von Stadtflucht und Stadtliebe nicht nur für die deutsche Romantik gilt, zeigt etwa das Beispiel des englischen Romantikers William ­Wordsworth, der gleichzeitig ein Poet der Natur und ein Poet des Städtischen war.48 Auch der amerikanische Romantiker Henry David Thoreau macht in seinem Buch Walden klar, dass seine Hütte Walden Pond nicht in der Wilderness, sondern am Rande der Stadt Concord lag, die letztlich seinen lebensweltlichen Mittelpunkt bildete. Die romantische Idee, die Stadt zu verlassen, die sich im 19. Jahrhundert nicht zuletzt im Bau von Landvillen oder dem Erwerb von Ritter­gütern durch das begüterte städtische Bürgertum niederschlug, war stets mit der Rückkehr zu ihr verbunden. Wie sehr die Romantik der Moderne zugehört, zeigt sich darin, dass sie – auch hinsichtlich der Konzeption von Natur – eine Reaktion auf gesellschaftliche Diffe­ renzierungsprozesse ist, auf deren Überwindung sie einerseits sehnsüchtig hofft, deren Grundbedingungen sie sich andererseits aber nicht mehr entziehen kann. Man hofft, dass sich Natur noch ganzheitlich deuten und romantisieren lässt – weiß aber zugleich, dass diese Haltung nur noch eine partielle, eine unter vielen Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, Berlin/New York 1992, S. 218. 45 Brief 711 Von D. Veit, Jena Freitag 11. 10. 1799, in: Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe, Bd. 3, S. 218. 46 Brief 711 Von D. Veit, Jena Freitag 11. 10. 1799, in: Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe Bd. 3, S. 217. 47 Wichard, Norbert: Erzähltes Wohnen: literarische Fortschreibungen eines Diskurskomplexes im bürgerlichen Zeitalter, Bielefeld 2012, S. 111. 48 Vgl. die Aufsätze von Larry H. Peer, William Galperin, Eugine Stelzig und Peter J. Manning, in: Peer, Larry H. (Hg.): Romanticism and the City, New York 2011.

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ist, wartet die Stadt doch mit anderen ökonomischen, politischen, geselligen Perspektiven und Möglichkeiten der Individualitätsentfaltung auf. Denn ein in der Natur restlos aufgehendes Subjekt kann nicht zugleich seine Emanzipation betreiben, seine Freiheit feiern und ironische Volten vollziehen. Stadt und Land bildeten lebenspraktisch oft keine so großen Gegensätze, wie es das in Urbanitätsdiskursen topologische Vexierbild der Stadt als das Andere der Natur impliziert. Man denke an die Vorstellung des städtischen Umlandes als Ressource für Erholung und Gesundheit. So entstand etwa in der im Beitrag von Thomas Thränert betrachteten Dresdner Elbromantik in Malerei, Grafik und Garten­kunst ein Motivkanon, in dem die Stadt gleichzeitig einen sphärischen Sehnsuchtsort wie auch einen dunklen Gegenpol zur idyllischen Natur der Elbaue darstellte. Der von Thränert geschilderte um 1800 verbreitete Anspruch, im suburbanen Kontext, am Elbufer, in Seitentälern, Weinbergen, Landhäusern und in Gärten, die Alltagsrealität zu übersteigen, erinnert an das Romantisierungsgebot von Novalis: Die Welt muss romantisirt werden. […] Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es.49

Thränert rekonstruiert den Christian Cay Lorenz Hirschfelds „Theorie der Garten­ kunst“ zugrundeliegenden Romantik-Begriff und betont, dass dieser sich ideal als theoretische Basis zum Verständnis der Gestaltungspraxis um Dresden eigne. Alles, „was ihr [der Kunst] übrig bleibt, ist eine kleine Nachhülfe zur Fortleitung der Natur auf dem Wege, den sie sich selbst gebahnt hat, und hie und da eine begleitende Verstärkung“.50 Die gartenkünstlerische Gestaltung der Umgebung Dresdens um 1800, die Denkmalssetzungen, die Anlage von Aussichtspunkten, Spazierwegen, Gast- und Landhausgärten lassen sich – so Thränert – mit dem von Hirschfeld formulierten Romantik-Konzepten verstehen: alles […], was die Einbildungskraft aus ihrer alltäglichen Sphäre heraus in eine Reihe neuer Bilder versetzt, sie in die Feenwelt, in die Zeiten der seltsamsten Bezauberung hinüberschreiten läßt – das ist hier an seinem Platze.51

49 Novalis: Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen. Logologische Fragmente II, in: Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Zweite, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage, begründet und hg. v. Paul Kluckhohn/ Richard Samuel, Bd. 2: Das philosophische Werk I, hg. v. Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl/Gerhard Schulz Stuttgart 1965, S. 531 – 564, hier S. 545. 50 Siehe den Beitrag von Thränert im vorliegenden Band, S. 151. 51 Siehe den Beitrag von Thränert im vorliegenden Band, S. 152.

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| Sandra Kerschbaumer/Gisela Mettele Caroline Rosenthal widmet sich Verzauberungen der städtischen Natur in der Gegenwart, indem sie das Urban Birding, die Vogelbeobachtung in der Stadt, eine nicht nur in Nordamerika verbreitete Freizeitaktivität, zum Gegenstand ihrer Untersuchung macht. In einer Zeit, die den Rückgang von Vogelarten zu verzeichnen hat, wächst proportional zum Verschwinden der Vögel die Begeisterung für deren Beobachtung. Rosenthal verbindet die zeitgenössische Praxis analytisch mit einer Naturkonzeption, die sich in der amerikanischen Romantik ausgeprägt hat und die Auseinandersetzung mit der unverwechselbaren Natur des Landes zur entscheidenden Regenerationsquelle von Individuum und Nation machte. Das gegenwärtige Urban Birding deutet Rosenthal als Ausdruck eines bestimmten Lebensstils, aber auch als Sehnsucht, „einer schwindenden oder doch zumindest als prekär wahrgenommenen Natur für einige Momente habhaft zu werden und das eigene städtische Dasein zu transzendieren.“ 52 Der Vogel wird zum Symbol einer Natur, die auf höhere Zusammenhänge verweist, nistet aber in einer städtischen und hochfragmentierten Moderne. 5. Ästhetisierung des städtischen gebauten und sozialen Raums Für die Romantik war nicht zuletzt die Idee einer Ästhetisierung des Sozialen wichtig, einer Einheit von Kunst und Leben, wie sie in der Forderung einer „progressiven Universalpoesie“ von Friedrich Schlegel ihren Ausdruck fand. Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen.53

In der romantischen Kunst sollte sich das sonst voneinander Getrennte vereinen und so zum Vorschein einer besseren Welt werden. Im Rückgriff auf Schillers Idee einer ästhetischen Erziehung wird die Kunst gewissermaßen auch zur Lösung sozialer Verwerfungen in Stellung gebracht, denn sie soll einen Zustand der Harmonie antizipieren, der die modernen Individuen und Gesellschaften heilt. In modellierender Fortführung dieser Annahmen erscheint auch die Stadt als möglicher Raum von Schönheit und Poesie. Zu denken ist hier an die englische Arts and Crafts-Bewegung, aus der heraus etwa die Schwestern Octavia und Miranda 52 Siehe den Beitrag von Rosenthal im vorliegenden Band S. 209. 53 Schlegel, Friedrich: Kritische Ausgabe, Bd. 2, Paderborn 1967, S. 187 – 188.

„Schaffe dir Ironie und bilde dich zur Urbanität“ |

Hill die Kyrle Society for the Diffusion of Beauty (1875 – 1914) ins Leben riefen, um städtische Sozialarbeit und ästhetische Erziehung miteinander zu verbinden, aber auch an die amerikanische City Beautiful-Bewegung um 1900. Allerdings ist auch bei der Verwendung und Betrachtung von sich im Urbanen materialisierender Poesie, von allegorischem Detail, Ornament, Arabeske und Fragment das Wissen nicht weit, dass sich das schöne Ganze entzieht, denn zur Romantik gehören eben jene Darstellungsformen, die das Wissen um eine unzulängliche Repräsentation signalisieren. Gerade das Fragment zeigt seine eigene Begrenzung und spielt mit seiner Beziehung zu einem Abwesenden – oder, wie Friedrich Schlegel schreibt: „Viele Werke der Alten sind Fragmente geworden. Viele der Neueren sind es gleich bei ihrer Entstehung.“ 54 Welche Bedeutung kommt fragmentarischen Darstellungsformen im städtischen Zusammenhang zu? Adria Daraban schildert in ihrem Beitrag, wie Funktion und Form des Fragment-Begriffs sich in der Geschichte der Architektur (und der modernen Kunst und Literatur) von einer Infragestellung von Totalität hin zu einer Affirmation des Offenen, Instabilen und Ambiguen als Qualität eines Werks entwickeln. Sie schließt sich dabei der Position von Ullrich Schwarz an, der die Auffassung vertritt, dass eine Auseinandersetzung mit der Romantik dabei behilflich sein [kann], die Architektur aus einer Programmatik der Vollendung und der Perfektion zu lösen und sie im Rahmen einer zeitgenössischen Moderne, einer reflexiven Moderne zu denken. Dieser Weg führt von der Geschlossenheit zu einer Akzeptanz des Unabgeschlossenen, des Offenen. So wird der Blick frei für ein Verständnis von Realität, welches das geschichtlich jeweils Bestimmte reflexiv in seine Vorläufigkeit und Begrenztheit zurückstellt und das aus dieser dynamisierenden Aufhebung des Abgeschlossenen und Definierten die Energie des Immer-schon-hinaus-Seins, des Nicht-Identischen, der Differenz gewinnt.55

Daraban wendet diese Beobachtung auf Bauten von Schinkel an, bevor sie die besondere Interpretation und Umsetzung des Fragmentarischen im Werk des Architekten Hans Scharoun (1893 – 1972) untersucht. Er spricht sich für einen Raum aus, der erst individuell konstituiert wird und der disparate Elemente, ambigue Verbindungen und brüchige Übergänge kennt. Die Frage, wie sich die Postmoderne zum Vergangenen verhalten kann, versuchte der italienische Architekt Aldo Rossi in den 1960er und 1970er Jahren mit seinem Konzept der fatti urbani zu beantworten. Celina Kress zeigt in ihrem 54 Schlegel, Friedrich: Kritische Ausgabe, Bd. 2, Paderborn 1967, S. 169. 55 Schwarz, Ulrich: Romantik und Architektur. Auf der Suche nach einer Theorie der Architektur. Hamburg 2004, S. 16 – 17.

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| Sandra Kerschbaumer/Gisela Mettele Beitrag, dass Rossi einen sensibleren Umgang mit der gebauten Umgebung einforderte und dafür unter anderem eine ironische Aneignung des Hergebrachten vorschlug. Rossi plädierte für eine kritische Revision der architektonischen Moderne; seine fatti urbani bilden die Basis einer neuen Betrachtungsweise, die es ermöglicht, vielfältige und widersprüchliche Elemente der Stadt zu entdecken, zu beschreiben und immer wieder neue Bezüge herzustellen. Der inhaltlich offene, assoziative Begriff ist das zentrale Instrument für Rossis Projekt einer collageartigen Theorie der Stadt, die auf eine komplexe und nur noch bruchstückhaft erfahrbare gesellschaftliche Realität reagiert. Gisela Mettele befasst sich mit August Endell als gewissermaßen romantischem Kritiker eines als „romantisch“ verstandenen Antiurbanismus. Für Endell bietet gerade die große Stadt mit ihrer Vielfalt an visuellen und auditiven Eindrücken eine geeignete Bühne für die Wunder des Alltäglichen und damit für die Möglichkeit von Schönheit und Poesie. Auch wenn Endell in den zeitgenössischen Architekturdebatten teilhatte an der Modellierung einer Vorstellung von Romantik als einer gegen die Moderne gerichteten Tendenz, so waren seine ästhetischen Ausdrucksformen doch strukturell von Verfahren geprägt, die zuerst in der Romantik um 1800 entworfen wurden. Dies zeigt sich etwa in der Reaktualisierung der frühromantischen Idee des alltäglich Wunderbaren, in Endells Sehnsucht nach einer Einheit von Leben und Kunst sowie im Entwurf von Ganzheitsvorstellungen im gleichzeitigen Bewusstsein ihrer Unmöglichkeit. 6. Stadtmarketing und Museum Christian Saehrendt richtet den Blick auch auf urbane Gegenorte wie Ruinen oder Brachen. Zur „Ruine“ findet sich im Beitrag von Adria Daraban der schöne Satz: Die Ruine ist weniger als das, was sie als intakter Bau war, und sie trägt zugleich ein Surplus an Bedeutung in sich. Ihren Sinngehalt gewinnt sie aus der Oszillation zwischen Aufbau und Verfall, Vergangenheit und Gegenwart, Natur und Kultur, Erinnerung und Präsenz. Diese Oszillation erhebt sie in den Status eines Kunstobjekts.56

Saehrendt setzt sich kritisch mit dem Phänomen einer Ästhetisierung von Orten prekärer Urbanität auseinander, wie man sie in verfallenen Industriemonumenten, zerfallender moderner Architektur und heruntergekommenen Stadtvierteln findet. Die Erschließung und Vermarktung dieser „Unorte“ erklärt er mit einem von ihm als ‚romantisch‘ bezeichneten Authentizitätskult. Die morbide Lust, sich am Verfallsprozess zu erfreuen, verfolgt er bis in die Ruinenromantik des 19. Jahrhunderts 56 Siehe den Beitrag von Daraban im vorliegenden Band, S. 217.

„Schaffe dir Ironie und bilde dich zur Urbanität“ |

zurück. Sie erstreckt sich auch auf besonders ‚dunkle‘ historische Stätten, die im Zuge eines „Dark Tourism“ den schaudernden Besucher*innen dargeboten werden. Nicht erst im heutigen Stadtmarketing lässt sich die Entwicklung von ‚Marken‘ nachvollziehen, die im Wettbewerb der touristischen Ziele die Besonderheit und Wiedererkennbarkeit einer Stadt garantieren sollen. An vielen städtischen Beispielen lässt sich nachvollziehen, wie bereits im 19. Jahrhundert die Vermarktung romantischer Urbanität über Architektur bzw. das Zusammenspiel von Natur und Architektur, über Stadtgeschichte, über die Herstellung und mediale Vermittlung attraktiver Bilder und mehr oder weniger überzeugender Narrative funktionierte, die von den verschiedensten städtischen Akteur*innen für Ihre jeweiligen Zwecke genutzt wurden.57 Romantische Codierungen von Städten im Zusammenspiel von Architektur, Geschichte, Landschaft und Natur sind also keine Erfindung der heutigen Tourismusindustrie. Vielmehr haben diese Inszenierungen ihre Ursprünge in Stilisierungen der Stadt, die bereits um 1800 formuliert wurden.58 Frühromantiker wie Wackenroder und Tieck entdeckten die Stadt als Reiseziel. Heute wird der Mythos vom romantischen Heidelberg tagtäglich touristisch bis hin zu Hotelarrangements, Gebäck und Liedern inszeniert.59 Romantik spielt eine bedeutende Rolle für die Herstellung von Stadtimages, die sowohl der inneren Identifikation als auch im Wettbewerb der touristischen Ziele der äußeren Profilbildung dienen und die Besonderheit und Wiedererkennbarkeit einer Stadt garantieren sollen. Im Fall Jenas ist der Bezug auf die Romantik auch als Versuch zu verstehen, sich von der touristischen ‚Top-Destination‘ der benachbarten Klassikstadt Weimar abzugrenzen. Auch wenn das Urteil der Jenaer Frühromantikerinnen über das damalige Jena ambivalent ausfiel, hat Jena heute sehr gute Gründe, sich als Stadt der Romantik zu profilieren. Ulf Häder stellt das Jenaer Romantikerhaus als einen Ort vor, der zweierlei zeigen soll: die Situation des Jahres 1798, in dem sich die führenden Köpfe der frühen Romantik in einer Art ‚Kommune 1‘ zusammenfanden, sowie die intellektuellen und ästhetischen Impulse, die von hieraus in die Welt gingen. Frankfurt am Main ist gerade erst im Begriff, sich unter die ‚romantischen‘ Städte einzureihen. Anne Bohnenkamp erklärt in ihrem Beitrag die Standortwahl für das im Aufbau befindliche Deutsche Romantik-Museum, das derzeit in Nachbarschaft zum Goethehaus am Großen Hirschgraben in Frankfurt 57 Grundlegend hierzu Vinken: Zone Heimat; vgl. auch Oevermann, Heike/Frank, Sybille/ Gantner, Eszter (Hg.): Themenheft „Städtisches Erbe – Urban Heritage“, Informationen zur Modernen Stadtgeschichte (IMS), 1 (2016). 58 Vgl. Henkel, Matthias/Schauerte, Thomas (Hg.): Sehnsucht Nürnberg. Die Entdeckung der Stadt als Reiseziel in der Frühromantik, Nürnberg 2011; Möseneder, Karl (Hg): Nürnberg als romantische Stadt. Beiträge zur Kunstgeschichte im 19. Jahrhundert, Petersberg 2013. 59 Bürkert, Joachim: Gewachsenes und Gebautes. Heidelberg als romantische Ideallandschaft, in: Hillenbrand, Rainer/Rösch, Gertrud Maria/Tscholadse, Maja (Hg.): Deutsche Romantik, München 2008, S. 97 – 109.

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| Sandra Kerschbaumer/Gisela Mettele entsteht. Die reichen Sammlungsbestände des Freien Deutschen Hochstifts liefern die Grundlage für eine Ausstellung, die eine deutsche und europäische Schlüssel­ epoche einer breiten nationalen und internationalen Öffentlichkeit zugänglich machen möchte. Die Besucher*innen können sich ab 2021 fragen, wie die Architektur von Christoph Mäckler in ihrer Formsprache auf den Gegenstand reagiert. Auch die genannten musealen Orte entwerfen ein Modell von Romantik, indem sie uns eine Antwort auf die Frage anbieten, was die historische Romantik eigentlich ausmacht und was sie bis heute lebendig hält.

Imaginierte Vergangenheit und Denkmalpflege

Charlotte Bühl-Gramer

Nürnberg als Erinnerungsort. Eine ‚romantische Stadt‘

Auch wenn das Naturerleben, Naturwahrnehmungen und metaphysisch aufgeladene Naturbilder für die Romantik hoch bedeutsam waren, so fungierte doch auch die Stadt als Projektionsfläche des Romantischen.1 Die frühromantische Bewegung verklärte insbesondere Nürnberg zum Idealbild der mittelalterlichen Stadt, Sehnsuchtsort einer vorindustriellen Urbanität und Gedenkraum einer vergangenen nationalen (Kunst-)Blüte. Mit der „romantischen Erfindung“ Nürnbergs etablierten Ludwig Tieck und Wilhelm Heinrich Wackenroder einen Vorstellungs- und Erfahrungsraum, der Merkmale einer „romantischen Stadt“ aufwies, die weiterverarbeitet und tradiert werden konnten.2 Ihre romantischen Zuschreibungen und Stilisierungen Nürnbergs bildeten dabei jedoch kein konstantes, einmal etabliertes Wahrnehmungsmuster, sondern sie erfuhren immer wieder Neu- und Umdeutungen, auch Vereinfachungen und Reduktionen. Der Beitrag möchte am Beispiel Nürnbergs aufzeigen, wie in der Epoche der Romantik eine neue Stadtvorstellung zum handlungsleitenden und ästhetischen Muster wurde, wie dieses weitergegeben und in verschiedenen Zeitstufen aktuali­ siert und angepasst wurde. Zu fragen ist dabei, unter welchen Bedingungen und in welchen Medien Vorstellungen, produktive und wirkmächtige Anwendungen von ‚romantischer Urbanität‘ entstanden und welche ihrer Facetten auf verschiedenen Zeitstufen aufgerufen und neu kombiniert wurden.3 Gegenstand der Analyse sind Beispiele aus vier Bereichen: literarische Modellierungen im Rekurs auf die Frühromantik, performative Aneignungen und Inszenierungen der „romantischen Stadt“ in Festzug und Oper, die Ikonisierung der „alten Stadt“ sowie denkmalpflegerische Aspekte.

1 Vgl. Mettele, Gisela: Stadt und Romantik, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2016), S. 5 – 18, hier S. 5. 2 Vgl. Bühl-Gramer, Charlotte: Die romantische „Erfindung“ des mittelalterlichen Nürnberg im 19. Jahrhundert, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2016), S. 66 – 78. 3 Vgl. Sandra Kerschbaumer: Immer wieder Romantik. Modelltheoretische Beschreibungen ihrer Wirkungsgeschichte, Heidelberg 2018, S. 120.

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| Charlotte Bühl-Gramer 1. Zeitkapsel und Zeitreise – Die ‚Erfindung‘ der alten Stadt als Chronotopie Zum Zeitpunkt ihrer romantischen „Fremderfindung“ 4 durch die beiden Berliner Studenten Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck besaß Nürnberg innerhalb der Stadtmauern die nahezu unveränderte bauliche Gestalt des späten Mittelalters und des 16. Jahrhunderts. Die Wahrnehmungsweise der mittelalter­ lichen Stadt, die wie eine Zeitkapsel betreten werden konnte, erfuhr in der Romantik eine neue Bedeutungsaufladung. Als räumlich erfahrbarer Ort eines unzeitgemäßen Mittelalters avancierte Nürnberg zur Projektionsfläche einer retrospektiven Einheit von Kunst und Leben, als Vorstellungs-, Imaginations- und Erlebnisraum einer von Entfremdung freien Daseins- und Schaffensweise. Diese neue Sinnkonstruktion trägt dabei durchaus auch den Charakter einer „Erfindung“ im Sinne einer historischen Fiktion.5 Nürnberg wurde damit in der Frühromantik zu einem urbanen Gegenmodell, einer Stadt, die nicht nur Kunstwerke beherbergte, sondern als Gesamtensemble selbst zum Kunstwerk erhoben wurde.6 Diese Stadt war kein Ort paradoxer Grenzzustände oder Modernisierungserfahrungen wie etwa Berlin. Dort hatten Tieck und Wackenroder bis 1792 die Schule besucht, und Tieck verließ die Stadt mit ihren „leblosen Steinmassen“ und den „geraden und breiten Straßen“ nur zu gerne, da dessen „labyrinthische Regelmäßigkeit“ einen zwinge, „sich ewig von den umgebenden Gegenständen zu abstrahiren“.7 Im Kontrast zu dieser Abschottung und Distanzierung von der modernen Großstadt wurden 4 Bräunlein, Peter J.: „Sag mir Einer, welche Stadt, Beßere Schildhalter hat…?“ Gedächtniskultur und ästhetische Identität im frühindustriellen Nürnberg, in: Kea – Zeitschrift für Kulturwissenschaften 8 (1995), S. 209 – 252, hier S. 217; noch immer grundlegend: Grote, Ludwig: Die romantische Entdeckung Nürnbergs, München 1967; vgl. auch Blessing, ­Werner K./Zahlaus, Steven: Bürgervernunft – „deutsche Art“ – industrieller Fortschritt. Zum Nürnberger Selbstbild von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg, 87 (2000), S. 59 – 97; Meyer, Carla: Die Stadt als Thema. Nürnbergs Entdeckung in Texten um 1500, Ostfildern 2009; Henkel, Matthias/Schauerte, Thomas (Hg.): Sehnsucht Nürnberg. Die Entdeckung der Stadt als Reiseziel in der Frühromantik, Nürnberg 2011; Möseneder, Karl (Hg.): Nürnberg als romantische Stadt. Beiträge zur Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts, Petersberg 2013. 5 Vgl. Vogel, Gerd-Helge: Wirklichkeit und Wunschbild. Nürnberg, Albrecht Dürer und die Alten Meister in den künstlerischen Konzeptionen der Frühromantik, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums (1998), S. 11 – 24, hier S. 13. 6 Vgl. Frevert, Ute: Stadtwahrnehmungen romantischer Intellektueller in Deutschland, in: Graevenitz, Gerhart von (Hg.): Die Stadt in der europäischen Romantik, Würzburg 2000, S. 55 – 78. 7 Tieck, Ludwig: Briefe über Shakespeare, in: ders.: Kritische Schriften. Zum erstenmale gesammelt und mit einer Vorrede herausgegeben von Ludwig Tieck, Leipzig 1848, Bd. 1, S. 135.

Nürnberg als Erinnerungsort |

Identifikationspotenziale mit der Stadt Nürnberg entdeckt, die – gerade weil sie aus der Zeit gefallen schien – zunächst einmal fremd, weil so ganz anders, außergewöhnlich und faszinierend wirkte. Wackenroder benennt in seinen Briefen an die Eltern die charakteristischen Gegensätze zur modernen Stadt: Die Burg, die „viele verwirrt gebaute Mauern und Gebäude begreift“, die krummen Gassen und die Häuser, die mit „vielen Spitzchen versehen“ sind. Alles ist „an den Häusern zierlich ausgeschmückt“, es findet sich „keine einzige neumodische Fassade“, und „die Verteilung der Fenster an den Häusern in Nürnberg ist oft ganz unsymmetrisch“. Die Kirchen sind „große, schwarze Massen, voller Bildwerk und gotischer Zieraten, durchbrochenen Türmchen, großen Toren und Figuren“.8 „Man kann sie, ihres Äußern wegen, in der Art romantisch nennen.“ 9 In den literarischen Verarbeitungen der Romantik im Gefolge der „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ von 1797 wurde die architekto­ nische Physiognomie der Stadt mit ihrer regellosen Anlage und Formenvielfalt, mit ihren Monumentalbauten, den Bürger- und Handwerkerhäusern, ihren Kunstwerken und großen Künstlern – allen voran Albrecht Dürer – zum Ausdruck einer organischen, naturhaft gewachsenen Stadt und zur Chiffre deutscher Gotik schlechthin. Das seit Jahrhunderten unverändert gebliebene Erscheinungsbild wurde zum Ausdruck einer mittelalterlich organischen Einheit einer bürgerlichen Communitas, einer Harmonie von Kunst und Gesellschaft und durch eine Personalisierung von Vergangenheit als „Dürer-Zeit“ imaginiert. Nicht nur die Erinnerung an Dürer und seine Zeit bedingten sich wechselseitig, sondern die Stadt selbst wurde zum Erinnerungsort, an dem sich Dürers Kunst und Zeit materialisierten. Dieser Ort wurde gegen die bereits von Wackenroder in seinen Briefen beschriebenen Verhältnisse in Stellung gebracht, die nicht nur durch gerade Berliner Straßen gekennzeichnet waren. Vielmehr lässt sich der Erinnerungsort Nürnberg als räumlicher Entwurf einer gesellschaftlichen und ästhetischen Einheit deuten, die angesichts fortschreitender moderner Differenzierungsprozesse sonst nicht mehr erfahrbar war. Eine durch fortschreitende Pluralisierung bereits verlorene Einheits- und Ganzheitsperspektive konnte als Chronotopos weiterhin simuliert und erfahren werden – nicht nur mit sprachlich-künstlerischen Mitteln, sondern auch im Medium gebauter Geschichte. Dem literarischen Städtelob von Wackenroder liegt ein Konzept topographisch gestützter Erinnerung zugrunde, das persönliche wie literarische Eindrücke mit einschloss und zum Sinnbild verdichtete. Die Authentisierung des baulichen Erbes machte die Bauten zu Zeugen der Vergangenheit, die in die Gegenwart hineinragen, so 8 Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Werke und Briefe, Heidelberg 1967, S. 512, 510, 577, 499, 578, 510 (in der Reihenfolge der Zitate). 9 Wackenroder: Briefe, S. 511.

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| Charlotte Bühl-Gramer dass die Wahrnehmung einer möglicherweise auch nur imaginierten Authentizität romantische Phantasie in Gang setzen und zum Kernelement von städtischer Romantisierung werden konnte.10 Diese Wahrnehmung der mittelalterlichen Stadt zeigt dabei eine Nähe zur romantischen Naturwahrnehmung: Nicht nur einzelne „Merkwürdigkeiten“ 11 bzw. Bauwerke wurden besichtigt, die Stadt wurde als Gesamtkunstwerk in langsam bedächtiger Form ganzheitlicher und nicht zuletzt körperlicher Raumerfahrung „durchwandert“.12 Raumstrukturen und Orte stehen demzufolge in aktiver Wechselwirkung mit den Figuren, so dass romantische Topographie in literarischen Verarbeitungen nicht nur als Extention der Figurenpsyche zu verstehen ist, als Korrespondenz zwischen innen und außen, sondern der Raum über eine eigene Wirkmacht verfügt.13 Insbesondere dem baulichen Gesamtzusammenhang und dem umfangreichen Baubestand profaner, tatsächlich überwiegend aus der Renaissance stammender Architektur 14 kam eine herausragende Bedeutung zu. Dieser konnte in besonderem Maße eine Vorstellung vom „Leben“ in der Stadt bzw. eine Stimmung ästhetischer Raumerfahrung evozieren und das Mittelalter als Erlebnis und als eine von geschichtlichen Handlungssubjekten bevölkerte Epoche imaginierbar machen. Bereits Wackenroder schilderte in seinen Reisebriefen: Die Stadt selbst kann ich nicht genug mit Verwunderung ansehen; weil man kein einziges neues Gebäude, sondern lauter alte, vom 10ten Säc. an findet, so wird man ganz

10 Vgl. Becker, Sabina: Urbanität als romantische Kategorie. Stadt-Bilder Ludwig Tiecks, in: Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin (Hg.): „lasst uns, da es uns vergönnt ist, vernünftig seyn!“ – Ludwig Tieck (1773 – 1853), Bern u. a. 2004, S. 179 – 197, hier S. 195; Bernhardt, Christoph: Zur Romantisierung und Authentisierung des Urbanen im 20. Jahrhundert. Eine Erkundung, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2016), S. 79 – 90. 11 Murr, Christoph Gottlieb von: Beschreibung der vornehmsten Merkwürdigkeiten in der Reichsstadt Nürnberg, in deren Bezirke und auf der Universität Altdorf, Nürnberg 1778. 12 Siehe Wackenroders viel zitierte Eingangspassage aus dem „Ehrengedächtnis unsers ehrwürdigen Ahnherrn Albrecht Dürers, in den „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“: „Nürnberg! Du vormals weltberühmte Stadt! Wie gerne durchwanderte ich deine krummen Gassen;“ Wackenroder: Werke und Briefe, S. 57; auch Christoph Bernhardt verweist darauf, dass Romantik und Authentizität performativ hervorgebracht werden. Vgl. Bernhardt: Romantisierung, S. 80. 13 Vgl. Tetzlaff, Sven: Heterotopie als Textverfahren: Erzählter Raum in Romantik und Realismus, Berlin/Boston 2016, S. 75 f; zum Schweifen im städtischen Raum und der Stadt als Ort, „[…] an dem das für das romantische Denken wesentliche „Schweben“ eingelöst werden kann […]“; Becker: Urbanität, S. 195. 14 Vgl. Brix, Michael: Nürnberg und Lübeck im 19. Jahrhundert. Denkmalpflege, Stadtbildpflege, Stadtumbau, München 1981, S. 89; Blessing/Zahlaus: Bürgervernunft, S. 74.

Nürnberg als Erinnerungsort |

ins Altertum versetzt und erwartet immer einen Ritter oder einen Mönch oder einen Bürger in alter Tracht zu begegnen, denn die neue Tracht paßt gar nicht zu dem Kostum in der Bauart.15

Auch Joseph von Eichendorff spricht dem gebauten Raum derartige Erlebnisqualitäten als Imaginationsraum zu. In seinem Tagebuch berichtet er von seinem Nürnberg-Erlebnis im Jahr 1807, „[…] es war, als müßte überall ein Ritter mit ­wehendem Helmbusch die Straße herabgesprengt kommen“.16 Der Erfahrungsraum der „romantischen Stadt“ eröffnete demzufolge Begegnungen mit der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.17 Sie wurde zum Möglichkeitsraum einer Erfahrung der Vergangenheit bei gleichzeitigem Bewusstsein davon, wie stark die eigene Einbildungskraft auf diese Erfahrung einwirkt. In literarischen Texten wurde die „romantische Stadt“ Nürnberg also zum Gedächtnismedium und modernen Erinnerungsort. 2. Literarische Modellierungen der ‚romantischen Stadt‘ Das romantische Fremdbild stieß innerhalb der Nürnberger Öffentlichkeit zunächst auf geringe Resonanz.18 Die auch realpolitische Grunderfahrung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als Signum der Zeit um 1800 koinzidierte mit dem Verlust der politischen Autonomie im Jahr 1806, mit baulichem Verfall und vor allem mit der rigorosen Dezimierung der überlieferten Bausubstanz und der desaströsen „Verschleuderung von Kunst- und Kulturgut“ im Zuge der bayerischen Einverleibung.19 Das sogenannte „Jahrzehnt der Spitzhacke“ 20, der Staatsbankrott und die Erfahrungen mit der bayerischen Obrigkeit bestimmten die Selbstwahrnehmung der Stadt als auf dem Tiefpunkt ihrer Geschichte angelangt. Zugleich aber beförderte

15 Wackenroder: Werke und Briefe, S. 510. 16 Eichendorff, Joseph von: Tagebuch vom 15. Mai 1807, in: Radlmaier, Steffen (Hg.): Das Nürnberg-Lesebuch, Cadolzburg ²2010, S. 84 f. 17 Vgl. Brüggemann, Heinz: Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Universalität und Differenz eines – frühromantischen – Denkens im poetischen Medium, in: Bormann, Alexander von (Hg.): Ungleichzeitigkeiten der Europäischen Romantik, Würzburg 2006, S. 13 – 44. 18 Vgl. Bräunlein: Gedächtniskultur, S. 217 – 220. 19 Grundlegend hierzu: Bauernfeind, Martina: Die Verschleuderung von Kunst- und Kulturgut nach der Besitzergreifung Nürnbergs durch Bayern 1806 bis 1818, in: Diefenbacher, Michael/Rechter, Gerhart (Hg.): Vom Adler zum Löwen. Die Region Nürnberg wird bayerisch 1775 – 1835. Begleitband zu den Ausstellungen in Nürnberg, Erlangen u. a., Nürnberg 2006, S. 119 – 176. 20 Schauerte, Thomas: Aufbruch im Untergang, in: Möseneder, Karl (Hg.): Nürnberg als romantische Stadt. Beiträge zur Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts, Petersberg 2013, S. 27 – 40, hier S. 28.

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| Charlotte Bühl-Gramer dieser Verlust als eine anthropologische Konstante die Wertschätzung des Verlorenen 21 und die Empfänglichkeit für die Aufwertung der Stadt in ihrer Außenwahrnehmung bzw. die Etablierung einer gemeinschaftsstiftenden Erinnerungskultur. In literarischen Modellierungen finden sich einige der von Wackenroder und Tieck etablierten Stadtvorstellungen in der Folgezeit wieder. So bündelt das 1833 von König Ludwig I. von Bayern verfasste Gedicht „An Nürnberg“ in 15 Strophen nicht nur wie in einem Brennspiegel Ludwigs Reformprogramm einer Vereinigung von Kunst, Religion und Moderne.22 In diesem Gedicht findet sich neben der Idee der Stadt als einer gesellschaftlichen Einheit durch eine bürgerliche Communitas und eines Zusammenhangs von Kunst, Leben und Religion ebenfalls die Gegenwärtigkeit einer verklärten mittelalterlichen Vergangenheit. Diese zeigt sich in den einzigartigen historischen baulichen Strukturen der Stadt als ein über Jahrhunderte unverändertes Gesamtensemble, in dem sich Vergangenheit vergegenwärtigt, und macht die Stadt zum Erinnerungsort einer idealisierten, stehengebliebenen Zeit. Nürnberg! Einzig bist auch du zu nennen, Du des Mittelalters treues Bild, Du allein von allen lehrt es kennen, Das Verlangen wird in dir gestillt. Wie Pompeji zeigt des Römers Leben, Sich in dir die alte teutsche Zeit, Wiederum als Gegenwart gegeben Ist die glänzende Vergangenheit. Ruhmbekränzte Stadt, du bist gehüllet In ehrwürdige Erinnerung, Großer Werke hehrer Kunst erfüllte, Die dem Geist ertheilt Veredelung. Die Jahrhunderte, sie kommen, schwinden, Lassen deine Mauern unberührt, Wie du warest, sie dich alle finden, Still an dir vorüber blos geführt. 21 Vgl. Schauerte: Aufbruch, S. 38. 22 Vgl. Frühwald, Wolfgang: Der König und die Literatur. Zu den Anfängen historistischer Dichtung in Deutschland, in: Erichsen, Johannes/Puschner, Uwe (Hg.): „Vorwärts, vorwärts sollt du schauen…“ Geschichte, Politik und Kunst unter Ludwig I., München 1986, S. 365 – 384.

Nürnberg als Erinnerungsort |

Mit dem in der letzten Strophe in die Zukunft gerichteten Wunsch einer Kontinuität eines idealisierten Mittelalters in der Moderne klingen aber Kontingenzbewusstsein und schmerzliche Distanz des Ideals zur Gegenwart an: Möchten sie dieselbe nur dich sehen, Deine Bürger, wie sie jetzo sind; Möchte ihre Tugend nie vergehen, Fort sich pflanzen stets von Kind auf Kind.23

Durch die umwälzenden Veränderungen im Zuge von Industrialisierung und Urbanisierung, den rasanten Wandel und Umbau zur modernen Großstadt Anfang des 20. Jahrhunderts und schließlich durch die fast vollständige Zerstörung der historischen Bausubstanz der Nürnberger Altstadt im Zweiten Weltkrieg wurden die Möglichkeiten des „unmittelbaren Eintauchens“ in die Vergangenheit der mittelalterlichen Stadt sukzessive eingeschränkt und schließlich abgeschnitten. Der Beschreibungsgegenstand „romantische Stadt“ konnte aber unter Anpassung an die jeweiligen Gegebenheiten und unter bestimmten Bedingungen und Beachtung von Verhaltensweisen wieder beschworen und sentimentalisch erfahren werden: Die Bandbreite dieser literarischen bzw. sprachlichen Modellierungen reicht dabei von literarischen Texten bis hin zu trivialisierenden sprachlichen Topoi in Reiseliteratur und Stadtbeschreibungen. Ludwig Tieck thematisiert die romantische Stadtwahrnehmung im „Phantasus“ selbst als Akt der Erinnerung, indem die früheren Möglichkeiten eines Eintauchens in die Vergangenheit in der Gegenwart aufgrund des tiefgreifenden historischen Wandels als nicht mehr möglich beschrieben, aber als erinnerte Erlebnisse der Jugendzeit poetisiert werden.24 Dieses Erinnerungsbild kann immer wieder erinnert und inszeniert werden. So evoziert in Tiecks vierzig Jahre nach den „Herzens­ ergießungen“ erschienenem Zeitroman „Der junge Tischlermeister“ die erinnernde Wiederbegegnung mit der alten Stadt und das Aufsuchen der von früher bekannten Orte eine poetische Stimmung: Als Leonhard die freundlichen Wirtsleute begrüßt und sein Zimmer in Augenschein genommen hatte, trat er mit hoch klopfendem Herzen seine Wanderung durch die geliebte, ihm so bekannte und doch jetzt fremd gewordene Stadt an. Wie feierlich begrüßten ihn die hohen Kirchen, rätselhaft aus der dunkeln Nacht hervortretend […] Er freute sich, daß er selbst in der Nacht das Haus wiedererkannte, in welchem Albrecht Dürer gewohnt, so fleißig gearbeitet und so viele Schmerzen erlitten hatte. Er fühlte sich wunderbar gerührt, und jedes Wort Vorübergehender, im bekannten fränkischen 23 Frühwald: König, S. 366 – 367, Strophe 3, 4, 13 bis 15. 24 Vgl. Meißner, Thomas: Erinnerte Romantik. Ludwig Tiecks „Phantasus“, Würzburg 2007, S. 176.

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| Charlotte Bühl-Gramer Dialekt gesprochen, ging durch sein Herz. So kehrte er um, und zauderte noch den Gasthof zu betreten, um diese poetische Stimmung nicht zu vernichten […].25

Die Wahrnehmung von Fremdheit und Veränderungen durch die neue Zeit verursachen dagegen Enttäuschung und Zorn: [Dann] wandelte er wieder bei sonntäglicher Stille durch die herrliche Stadt. Wieder erfreute er sich, wie vor Jahren, der Blicke auf den Brücken über das Wasser hin, und die wundersamen hölzernen Galerien, die, geschnitzt, bemalt, häusliche Arbeiter zeigten, oder spielende Kinder, oder sinnende Menschen, die sich über das Geländer lehnten. Er trauerte über jede Veränderung, die er wahrnahm, und die die Einwohner wohl eine Verbesserung nennen mochten. Viele der wunderlichen Gemälde hatte man ausgelöscht; so die Riesen in der Nähe des roten Rosses, welche Otnit, Hildebrand, Dietrich von Bern und andere Helden der alten deutschen Gedichte vorstellen sollten. Viele Häuser waren mit jenem aufgeklärten Weiß oder Hellgelb überzogen, an welchen vormals Engel und schwebende Marien prangten; manche neue Gebäude zierten sich mit jenem negativen Stil der neueren Architektur, und nahmen sich in Leonhards Augen neben den echten alten Bürgerhäusern nur widerwärtig aus. So, geteilt in Zorn und Freude, kehrte er in seinen Gasthof zurück.26

Die alte, wiederaufgerufene Begeisterung kann sich wiedereinstellen, doch ist die Voraussetzung dafür ein rein ästhetisches Erleben – der Alltag muss ausgeblendet werden, darf nicht in den Blick geraten bzw. muss von der Kunsterfahrung getrennt werden:27 Leonhard aber konnte es nicht müde werden, seine vielgeliebte Stadt zu durchwandern. Er mochte nicht aus dem Tore gehen, um die poetische Täuschung, in welcher er befangen war, nicht aufzulösen, weil er von ehemals wußte, daß die Natur und Gegend um Nürnberg her nichts Erfreuliches bieten. Er segnete eine Stadt, wie es freilich nur wenige gibt, deren Steine, Mauern und Türme den Wanderer so fesseln können, daß er keine Sehnsucht empfindet, die ihn hinaus in das Freie treibt.28

Neben literarischen Zeugnissen befriedigte zunehmend auch eine umfangreiche Produktion von Stadtführern und Reiseliteratur die zunehmende Nachfrage der Reisenden.29 Die literarische Codierung wie auch die Ikonisierung Nürnbergs und 25 Tieck, Ludwig: Der junge Tischlermeister, in: Werke in vier Bänden, hg. von Marianne Thalmann, Darmstadt 1966, Bd. 4, S. 481. 26 Tieck: Tischlermeister, S. 483. 27 Vgl. Meißner: Erinnerte Romantik, S. 183 f. 28 Tieck: Tischlermeister, S. 489. 29 Vgl. Büchert, Gesa: Ins Land der Franken fahren. Nürnberg-Reisen in der Romantik, in: Henkel, Matthias/Schauerte, Thomas (Hg.): Sehnsucht Nürnberg. Die Entdeckung der Stadt

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ihre touristische Vermarktung präfigurierten in der Folgezeit häufig die Erwartungshaltung von Reisenden vor Ankunft in der Stadt.30 Der Konstruktcharakter des städtischen Mittelalterideals und die sentimentalische Erfahrung der „romantischen Stadt“ wurden auch unter immer schwieriger werdenden Bedingungen der modernen Großstadt aufrechterhalten und bewusst gehalten: etwa durch die Fokussierung auf bestimmte Altstadt-Partien bei der Burg, in denen mittelalterliche Bausubstanz erhalten und erfahrbar blieb, bis hin zur Trivialisierung romantischer Erlebnisästhetik, wenn die Stadt bei Nacht im Mondschein begangen werden soll, um in den 1920er Jahren die Zeichen der Moderne auszublenden: Wer sich aber ganz in den Geist der alten Zeit zurückversetzen will, der wandle des Nachts, wenn möglich bei Mondenschein, in den alten Straßen unter der Burg umher. Da ist noch wahres Mittelalter, da empfängt uns einzigartige Poesie.31

Störende Verkehrsgeräusche werden erwähnt, lassen sich aber bei entsprechendem Verhalten leicht vermeiden, so dass die vielfach beschriebenen Bilder und Erwartungen wieder abgerufen werden können: Wenn man die Reize des Stadtinnern so recht genießen will, muß man eine Stunde wählen, da der Verkehr auf den Straßen ein möglichst geringer ist, am besten eine schöne Sommerabendstunde oder einen Sonntagnachmittag oder gar eine klare Mondscheinnacht, wobei übrigens Nürnberg im Schnee mit dem Zauber einer warmen Sommernacht um den Ruhm streitet. In solchen stillen Stunden, wenn die meisten Läden geschlossen sind, tritt uns alles deutlicher vor Augen: die einfach würdigen Fassaden der meist mit der Traufseite der Dächer nach der Straße gestellten alten Häuser, nur sparsam geziert mit Schmuckstücken, wie den hübschen Chörlein an den Wänden und Erkern an den Dächern der Häuser, die hohen Treppengiebel, die mit Schmiedearbeit oft kunstvoll gezierten Portale, und dann auf Plätzen und Märkten die hehren Dome, die zum Teil ganz reizenden kleinen Kirchen, die entzückenden alten Brunnen. Da wird die alte Zeit wieder als Reiseziel in der Frühromantik, Nürnberg 2011, S. 32 – 47; dies.: „Das herrliche Denkmal der alten Kraft“ – Der Schöne Brunnen in romantischen Reisehandbüchern über Nürnberg, in: Möseneder, Karl (Hg.): Nürnberg als romantische Stadt. Beiträge zur Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts, Petersberg 2013, S. 71 – 82. 30 Vgl. z. B. Kurs, Auguste: Aus dem Sommer. Reisebilder, Berlin 1858, S. 9 – 16, hier S. 11: „Von der alten Reichsstadt hatte ich mir ein ganz anderes Bild entworfen, das beim ersten Anblick gar nicht zutreffen wollte und dessen Grundzüge mir erst wieder nach manchem Gange durch schmale, entlegenere Gassen zum Vorschein kamen“. 31 Madeleiner, Ernst: Fahrt nach der Festspielstadt Bayreuth und Nordbayern, in: Auto-Magazin 18 (1929), S. 1270 – 1277, hier S. 1276 – 1277; vgl. auch Weismantel, Leo: „Wer Nürnberg sieht nur bei Tag und nicht bei Nacht, hat es nie gesehen.“ Erinnerungen an Nürnberg, in: Nürnberg, die Stadt des siebzigsten Deutschen Katholikentages, Nürnberg 1931, S. 62 – 78, hier S. 66.

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| Charlotte Bühl-Gramer lebendig. Albrecht Dürer in wallendem Künstlerhaar schreitet sinnend in seiner pelzgeschmückten Schaube über den Marktplatz, seinen lieben Freund Willibald Pirkheimer, den gelehrten Ratsherrn, zu einem gerngebotenen Glase köstlichen „Reinfalls“ [sic!] zu besuchen, während in der Nähe des Spitalplatzes Hans Sachs, der Schuhmacher und Poet, mit einem mächtigen Schurzfell angetan, ein von einem Kunden dringend benötigtes Paar Schuhe zurechthämmert, dazwischen den Stimmen lauschend, die ihm ein neues ernsthaftes Spruchgedicht oder lieber noch einen neuen lustigen Schwank eingeben.32

Die Sehnsucht nach der „alten Stadt“ als Angebot für brüchige Ganzheitserfah­ rungen und Reflex auf Modernisierungsprozesse konnte in nationalistischer ­Umdeutung als Nürnberg-Mythos genutzt und von den Nationalsozialisten in ihre Ideologie eingefügt werden.33 Die romantischen Codierungen von Mondlicht und Nacht als dem irrational Mystischen, Unbewussten und als Tageszeit der Poesie ermöglichten schließlich auch eine Kompensation des weitgehenden Verlusts und Verschwindens der „romantischen Stadt“: „Die Trümmerlandschaft“, so bilanzierte Otmar Best in seinem 1950 im Merian-Heft Nürnberg erschienenen Artikel unter dem Titel „In der Retorte der Zeit“, […] ist besonders vor der Burg noch fürchterlich. Aber von der Burg selbst ist Wesent­ liches wiederhergestellt. Bei besonderen Gelegenheiten werden Burg und Schöner ­Brunnen und Kirchen angestrahlt. Dann versinken die Ruinen im Dunkel, und es heben sich die alten Bauten ins Licht und zeugen davon, daß Nürnberg doch noch am Leben ist.34

3. Festzug und Oper – performative Verlebendigung zwischen Vergangenheitsimagination und Inszenierungsbewusstsein Mit der Aufwertung der „romantischen Stadt“ als Erinnerungsort etablierte sich eine kommunale Festkultur, die „als frühe Ausprägungen einer ‚Event-Kultur‘“ 35 in öffentlichen Erinnerungsinszenierungen die idealisierte Vorstellung des Mittel­alters aufwändig inszenierte. Als Beobachter eines Nürnberger Volksfestes schilderte der Reiseschriftsteller Gustav von Heeringen in seinen 1838 erstmals

32 Reicke, Emil: Das alte und das neue Nürnberg, in: Das Bayerland 37/3 (1926), S. 65 – 69, hier S. 66 f. 33 Schmidt, Alexander: Nürnberg – die „deutscheste“ aller „deutschen“ Städte? Das Bild des spätmittelalterlichen Nürnberg in der nationalsozialistischen Propaganda, in: Steinkamp, Maike/Reudenbach, Bruno (Hg.): Mittelalterbilder im Nationalsozialismus, Berlin 2013, S. 137 – 151. 34 Best, Otmar: In der Retorte der Zeit, in: Merian 2, 1950, Heft 10, S. 26 – 31, hier S. 31. 35 Mettele: Stadt, S. 8 f.

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erschienenen „Wanderungen durch Franken“ seine Eindrücke. Was Wackenroder und Eichendorff noch als Imagination eines lebendigen Mittelalters beschrieben hatten, wurde nun im Festzug als performative Praxis romantischer Geschichtsaneignung inszeniert: Der große Festzug nach dem Ludwigsfelde hinaus, wobei die große Anzahl von Zünften und Gewerben durch Fahnenträger in mittelalterlicher Pracht repräsentirt wird, ist im Begriff sich zu bilden und bringt die ganz Stadt in Bewegung. Wir kommen aus dem Norden Deutschlands und haben abstracte Ideen und Spree-Philosopheme, keines­ wegs aber Ritter, Knappen, Goldkürasse oder Romantik im Kopfe […] da schmettert vor uns Trompetenton, und zwei geharnischte Ritter, in Gold der eine, in Silber der andere gerüstet, reiten an uns vorüber […] Es ist heller, lichter Tag, wir sind wir, dies ist Straßenpflaster und kein Theaterboden, die Rosse waren nicht gemalt, sondern wirklich, und diese romantischen Gestalten reiten in der That um die nächste Ecke.36

Der auswärtige Beobachter beschreibt die kulturelle und gesellschaftliche Kohärenz, die durch das ästhetische Erleben performativ verlebendigt wurde, hält aber zugleich den Konstrukt- und Inszenierungscharakter bewusst, der sich zumindest in seiner Wahrnehmung einstellte und die Distanz des Ideals zur Gegenwart offenlegt. Im Umzug des Jahres 1853 wird die architektonische Physiognomie der mittelalterlichen Stadt zum unverzichtbaren Element einer ästhetisch erfahrbaren Einheit. Als Inszenierung macht sie einerseits die Kontingenz bewusst, andererseits nutzt sie aber durch die personalisierende Verlebendigung der Vergangenheit mit den großen Söhnen der Stadt deren Leistungen als Ressource für die Erneuerung der Gegenwart und als Ansporn und Handlungsanweisung für die Zukunft 37: Die Wirkung dieses Zuges, zu dem die alterthümliche Stadt die notwendige Umgebung bot, war vollkommen. Das alte Nürnberg schien auch in seinen Bewohnern wieder aufgelebt. Die durch die Strasse Einherschreitenden, unter denen besonders die hehren Gestalten Peter Vischer’s, Albrecht Dürer’s und Hans Sachs‘ hervorragten, […] schienen die rechten Bürger der Gegenwart und die Zuschauer die Masken zu sein. Was an jedem anderen Orte Mummenschanz und blosses Schauspiel geblieben wäre, schien 36 Heeringen, Gustav von: Wanderungen durch Franken, Leipzig 1840, S. 138 f.; vgl. das „Gedächtnisblatt“ mit Bildern des Festzugs aus dem Jahr 1833 von Christoph Georg Wilder unter der URL: https://www.hdbg.eu/koenigreich/index.php/objekte/pdf/herrscher_id/2/ id/613 (zuletzt aufgerufen am 14. 09. 2019). 37 Zur Rezeptionsform der künstlerisch-kulturellen Blüte der ‚Dürerzeit‘ in Verbindung mit modernen ökonomischen Zielsetzungen und wirtschaftlicher Prosperität vgl. Mertens, Rainer: Johannes Scharrer. Profil eines Reformers in Nürnberg zwischen Aufklärung und Romantik, Nürnberg 1996, S. 230 – 236.

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| Charlotte Bühl-Gramer hier Wirklichkeit zu werden, und was anderswo nur die Phantasie angeregt haben würde, bemächtigte sich hier so des ganzen Gefühles, daß man mit so einer Art Heimwehempfindung den Zug vorübergehen und entschwinden sah.38

Diese „Heimwehempfindung“ ließe sich auch in das romantische Paradox übersetzen, im Bewusstsein der eigenen Trennung an einem Zustand alter Blüte und harmonischen Zusammenspiels teilhaben zu wollen. Beim Deutschen Sängerfest 1861 wurde schließlich die Stadt selbst in die histo­ risierende Festdekoration eingebunden und damit zu ihrem eigenen Denkmal, indem an den Häusern oder vermuteten Häusern der bedeutendsten Persönlichkeiten aus Nürnbergs „Blütezeit“ große Bildtransparente angebracht wurden, die die kulturellen Höhepunkte der Stadt ins Bild setzten, während in den Festdekorationen an den Stadttoren auch Elemente der industriell-technischen Entwicklung „in idyllisierender Naivität“ 39 ihren Platz erhielten. Diese „integratorische Formel für das Verhältnis der Wirklichkeit der Gegenwart zur Vergangenheit“ 40 bildete ein Grundmuster städtischer Identität im „langen 19. Jahrhundert“. Die bürgerlichen Festformen des historischen Festzugs und insbesondere Alt-Nürnberg als „deutsche Gefühlskulisse“ 41 reichten dabei in der Kaiserzeit bis ins sozialdemokratische Milieu.42 Neben Festen und Umzügen avancierte im 19. Jahrhundert auch die Oper als Zeit- und Illusionsmaschine zu einem äußerst wirkungsmächtigen Medium von Vergangenheitsvorstellungen. Mit den „Meistersingern von Nürnberg“ partizipierte Richard Wagner „an der romantischen Apotheose der Stadt“ 43, in denen Motive von Tiecks und Wackenroders Nürnberg-Bild mit Motiven des National- und des Volksmythos der Romantik verschmolzen wurden und die aufgrund ihrer außerordentlichen Popularität den Nürnberg-Mythos weiter festigten. Wagner war der Erste, der mit der Verschmelzung von Musik, historischer Handlung und illusionistischem Bühnenbild seine Opern zum Gesamtkunstwerk 38 Ht. [Autorkürzel]: Das Volksfest zu Nürnberg, in: Deutsches Kunstblatt 4 (1853), S. 339 f.; vgl. auch Hartmann, Wolfgang: Der historische Festzug. Seine Entstehung und Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, München 1976, S. 25 – 27. 39 Götz, Norbert: Um Neugotik und Nürnberger Stil. Studien zum Problem der künstlerischen Vergangenheitsrezeption im Nürnberg des 19. Jahrhundert, Nürnberg 1981, S. 121. 40 Götz: Neugotik, S. 10. 41 Blessing/Zahlaus: Bürgervernunft, S. 94. 42 Vgl. Bühl-Gramer, Charlotte: Die Region im Kaiserreich 1890 bis 1914, in: Zahlaus, Steven M. (Hg.): Der Sprung ins Dunkle. Die Region Nürnberg im Ersten Weltkrieg 1914 – 1918. Begleitband zu den Ausstellungen des Stadtarchivs Nürnberg, des Stadtarchivs Erlangen, des Universitätsarchivs Erlangen–Nürnberg und der Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg, des Stadtarchivs und des Stadtmuseums Fürth, Nürnberg 2014, S. 95 – 125. 43 Klesse, Marc: Richard Wagners Meistersinger von Nürnberg. Literatur- und kulturwissenschaftliche Lektüren zu Künstlertum und Kunstproduktion, München 2013, S. 36.

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erweiterte.44 In den 1868 in München uraufgeführten „Meistersingern von Nürnberg“ war die Stadt nicht nur als Kulisse, sondern gleichberechtigt als Protagonistin aufgefasst und dargestellt. Die beiden Hoftheatermaler Angelo Quaglio II und ­Heinrich Döll waren bereits ein Jahr zuvor nach Nürnberg gereist, um vor Ort Studien für das Bühnenbild anzufertigen. Der von Quaglio II und Christian Jank gefertigte illusionistische Bühnenraum des zweiten Akts, der eine Straße Nürnbergs darstellt, rekurrierte nicht auf einen bestimmten historischen Straßenzug Nürnbergs. Sie gestalteten mit dem Blick in die malerische verwinkelte Gasse mit Chörlein, steilen Ziegeldächern, dem Fachwerk, den spitzgiebeligen Häusern und dem Fliederbusch ein Musterbild romantischer Stadtvorstellung, der Illusion und Wirklichkeit miteinander verschmolz und in der zeitgenössischen Berichterstattung hochgelobt wurde: Die Ausstattung mit der die Meistersinger bedacht werden, geht in’s Fabelhafte. Noch nie Dagewesenes wird in dekorativer Hinsicht geleistet werden. Zu dem Acte, welcher in den Straßen Nürnbergs spielt, verschwinden die althergebrachten Coulissen, um der verkörperten Stadt Nürnberg mit Häusern, Giebeln und Vorsprüngen Platz zu machen. Hier sieht man keine gemalten Häuser, sondern vollständige, die Wirklichkeit imitierende Pappgebäude und bis zur Täuschung imitierte Straßen, Plätze und Perspectiven.45

Der Bühnenraum rief ohne konkretes Abbild historische Wirklichkeit „mit dem Anschein von Authentizität“ 46 auf, die durch die Inszenierung auf der ­Guckkastenbühne bewusst gehalten wurde – das Licht im Zuschauerraum wurde seit Wagner gelöscht. 44 Vgl. Groebner, Valentin: Retroland Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen, Frankfurt am Main 2018, S. 86 f. 45 Neue Berliner Musikzeitung, 22. Jg. Nr. 24, 10. 06. 1868, S. 193, zit. bei Johanek, Peter: „Du treue, fleißige Stadt“ – Nürnberg, das Städtewesen des Mittelalters und Richard Wagners Meistersinger, in: ders.: Was weiter wirkt. Recht und Geschichte in Überlieferung und Schriftkultur des Mittelalters, Münster 1997, S. 399 – 417, hier S. 402; vgl. auch die Besprechung im Neuen bayerischen Volksblatt, vom 2. Juli 1868, S. 714: „Der zweite Akt der „Meister­ singer“ dürfte davon Jeden überzeugen, der es nicht schon nach dem ersten weiß. Der Schauplatz stellt eine Straße in Nürnberg dar: rechts im Vordergrund das schmucke Haus Pogner’s, links die Schusterwerkstatt von Hanns Sachs. Zwischen beiden sieht man in einer wunder­baren Perspektive die ganze Länge der Straße hinauf, welche, durchaus plastisch, durch Versetzstücke dargestellt ist, wie denn in der ganzen Münchener Vorstellung keine Seiten-­Koulissen [sic!] vorkommen. Diese prachtvolle Nürnberger Straße, über welche sich das Licht des Vollmondes ergießt, während aus den niedrigen Fenstern der Giebelhäuser trauliche Lichter glänzen, ist ein Haupteffekt der Vorstellung: von ihr hört man sofort mit Entzückung sprechen, wenn von der Musik des zweiten Aktes die Rede ist.“ 46 Schläder, Jürgen: Wagners Theater und Ludwigs Politik. Die Meistersinger als Instrument kultureller Identifikation, in: Bolz, Sebastian/Schick, Hartmut (Hg): Richard Wagner in München, München 2015, S. 63 – 78, hier S. 70 und S. 73.

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Abb. 1 Die Meistersinger von Nürnberg, 2. Aufzug, 1888, Straße in Nürnberg mit den Häusern von Hans Sachs und Veit Pogner, Bühnenbild mit Bühnenvorhang. Quelle: Nationalarchiv der Richard-­Wagner-­Stiftung.

Für die Erstaufführung der „Meistersinger“ im Rahmen der Bayreuther Festspiele im Jahr 1888 kopierten die Brüder Max und Gotthold Brückner auf Anweisung von Cosima Wagner die Bühnenbilder der Münchener Uraufführung.47 „Die Straße in Nürnberg“ des zweiten Akts blieb seit 1888 für Jahrzehnte weitgehend gleich und bildete damit einen festen Topos, der mit Stimmungswerten einer Ganzheit belegt war und eine Authentizität imaginierte, die niemals Realität gewesen war, aber als Sehnsucht auf der Theaterbühne inszeniert werden konnte.48 Die ­Schauplätze 47 Um detailgetreue Kopien handelte es sich dabei nicht. Cosima Wagner überließ es den Brüdern Brückner, für den ersten und dritten Aufzug Entwürfe nach eigenen Ideen anzufertigen. Vgl. Kern, Fabian: Soeben gesehen. Bravo Bravissimo. Die Coburger Theatermalerfamilie Brückner und ihre Beziehungen zu den Bayreuther Festspielen, Berlin 2010, S. 167 – 171. 48 Vgl. Bauer, Oswald Georg: Die Geschichte der Bayreuther Festspiele, Bd. 1, 1850 – 1950, Berlin München 2016, S. 212 f.; Braunmüller, Robert: Von der Komödie zum Staatstheater und wieder zurück, in: Bolz, Sebastian/Schick, Hartmut (Hg): Richard Wagner in München, München 2015, S. 259 – 288, hier S. 272; vgl. in diesem Zusammenhang auch Hugo von Hofmannsthal über die „Meistersinger“ in einem Brief an Richard Strauß vom 1. Juli 1927: „[…] das eigentlich entscheidende Element, das alle anderen trägt, ist Nürnberg. Dieses Stadtganze, wie es in den dreißiger Jahren noch unverderbt dastand, die deutsche bürgerliche Geistes-, Gemüts- und Lebenswelt von 1500 nicht bloß widerspiegelnd, sondern wahrhaft vergegenwärtigend, das war eines der großen entscheidenden Erlebnisse der Romantik, von Tieck, Wackenroders Herzergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders mit der

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trugen zum Erfolg der „Meistersinger“ wesentlich bei, das inszenierte Bild romantischer Urbanität prägte dabei die Wahrnehmung des „romantischen Nürnberg“ ganz entscheidend, Abweichungen vom einmal aufgestellten Muster blieben lange Zeit schwierig. „Das Publikum reagierte auf den Verlust des Vertrauten mit Entzugserscheinungen und Protest.“ 49 4. Ikonisierung der ‚alten Stadt‘ „Tausend Abbildungen haben die Ansicht Nürnbergs durch die ganze Welt getragen“ 50, schrieb Gustav von Heeringen. Bilder von Nürnberg – Gemälde, Veduten und Andenkengraphik, später Fotografien und Ansichtskarten – waren zentrale Medien der Produktion und Ikonisierung eines romantischen Nürnberg-Bildes. Die vielfältigen Aneignungen der alten Stadt im Bild können an dieser Stelle nicht näher ausgeführt werden.51 Hervorzuheben gilt jedoch, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Bildkünste neue Darstellungs- und Wirkungsmöglichkeiten entfalteten, indem sie Verlorenes und Bedrohtes festhielten, Malenswertes dadurch in den Rang des Erhaltenswerten erhoben oder aus dem real Vorgefundenen gar einen ehemaligen oder zukünftigen Idealzustand entwickelten.52 Darüber hinaus entdeckten die Maler der Romantik den Reiz des „Dürerblicks“: Sie „[…] waren begeistert, wenn sie Dürer-Motive in Nürnberg entdeckten.“ 53 Georg Christoph Wilders „Ansicht vom A. Dürerhaus gegen die Burg zu Nürnberg“ aus dem Jahr 1837 avancierte zum Hauptblatt der Nürnberger Romantik.54 Die Radierung gibt einen Blick durch ein Maßwerkfenster im ersten Obergeschoss des Dürerhauses auf die Burg frei. Dreibahnigkeit und Maßwerk erinnern dabei nicht

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Dürergestalt im Hintergrund, über Arnims und E. T. A. Hoffmann zu dem Vollender der Romantik R. Wagner. Wie sehr es Nürnberg war, das Gewahrwerden deutschen Lebens und Wandels in diesem Stadtgebilde, das den Keim zu den „Meistersingern“ in Wagners Seele legte, das erzählt er ja in der Selbstbiographie ganz genau und unvergeßlich. […] Das nun gibt dieser Oper ihre unzerstörbare Wirklichkeit: daß sie eine echte geschlossene Welt w ­ ieder lebendig macht, die einmal da war […]“ Hofmannsthal, Hugo von: Sämtliche Werke, Bd. 23/Operndichtungen, 1, Frankfurt am Main 1986, S. 694 f. Bauer: Geschichte, S. 213. Heeringen: Wanderungen, S. 136. Vgl. hierzu: Mende, Matthias: Sehweisen. Anmerkungen zur Norica-Graphik des 19. Jahrhunderts, in: Stadtgeschichtliche Museen Nürnberg (Hg.): Nürnberg zur Zeit Ludwigs I. von Bayern. Zeichnungen von Georg Christoph Wilder (1794 – 1855) aus dem Besitz der Stadt Nürnberg, Nürnberg 1986, S. 15 – 46; Grote: Entdeckung, S. 44 – 83; Brix: Nürnberg, S. 26 – 53. Vgl. Schauerte: Aufbruch, S. 38. Grote: Entdeckung, S. 87. Vgl. Mende: Sehweisen, S. 29.

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Abb. 2 Georg Christoph Wilder: Blick aus einem Fenster im zweiten Obergeschoss des Dürerhauses in Nürnberg nach Osten auf die Kaiserburg. Radierung, 1838. Die Bildunterschrift auf der Radierung lautet: „Aussicht vom A. Dürerhaus gegen die Burg zu Nürnberg. Zu dem Jahreseintritt 1838 von Wilder jun.“ Quelle: Kunstsammlungen der Stadt Nürnberg, Inventar. Nr. Gr. A. 12493.

zufällig an Kirchenfenster und heben die Burgansicht als Idealbild des deutschen Mittelalters in eine sakrale Sphäre. Trotz ihrer dominierenden Präsenz in der Stadt spielen dagegen Industrie und Eisenbahn in der Norica-Graphik des 19. Jahrhunderts faktisch keine Rolle.55 An dessen Ende fand die Erfüllung der Geschichte in der Gegenwart ihren sinnfälligen Ausdruck in einer spätromantischen Historienmalerei, in der die kommunalpolitische Elite der Gegenwart in historischen Szenerien aus Nürnbergs großer Zeit ins Bild gesetzt wurde. Die reichsgeschichtliche Blütezeit der Stadt wurde mit der Gegenwart der prosperierenden modernen Industriestadt nicht nur im Bild verschmolzen, sondern die Gegenwart durch den Blick auf die Vergangenheit erhöht.56 55 Vgl. Mende: Sehweisen, S. 40. 56 Vgl. Kuhbach-Reutter, Ursula: Spätromantik im Industriezeitalter, in: dies./Bach-Damaskinos, Ruth: Spätromantik im Industriezeitalter. Die Nürnberger Künstlerfamilie Ritter, Nürnberg

Nürnberg als Erinnerungsort | Abb. 3 Titelbild: Merianheft 1950, 2. Jg., 10. Heft. Bildunterschrift: „Die Butzenscheiben des Dürerhauses geben dem romantischen Blick auf die Nürnberg Burg den stilgerechten Rahmen.“ Quelle: Privatbesitz.

Mit zunehmender Urbanisierung wurde die „alte Stadt“ durch einen sich sukzessive herausbildenden Motivkanon bedeutend modifiziert: Der romantische Blick auf die Stadt als Totale stieß an seine Grenzen, da mit der Überbauung der Vorstädte und dem Anwachsen des großstädtischen Agglomerationsraums die Inszenierung harmonischer Stadt-Land-Übergänge und die panoramischen Blickerlebnisse aus der Ferne auf die Stadt entfielen. 1885 war die Bevölkerungszahl in den Vorstädten nahezu gleich groß wie die im Stadtgebiet innerhalb der Mauern, zehn Jahre später wohnten außerhalb des Mauerrings rund 107.000 Menschen, innerhalb der Stadtmauern dagegen mit knapp 55.500 Einwohnern nur noch 34,2 % der Einwohnerschaft.57 Der Motivkanon fokussierte seither vor allem

2007, S. 87 – 18, hier S. 15; Colditz-Heusl, Silke: Nürnberg in den kulturhistorischen Ereignisbildern Paul Ritters, in: Möseneder, Karl (Hg.): Nürnberg als romantische Stadt. Beiträge zur Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts, Petersberg 2013, S. 115 – 129; dies.: Paul Ritter und das kulturhistorische Stadtbild Nürnbergs im späten 19. Jahrhundert, Nürnberg 2013. 57 Vgl. Bühl-Gramer, Charlotte: Nürnberg 1850 bis 1892. Stadtentwicklung, Kommunalpolitik und Stadtverwaltung im Zeichen von Industrialisierung und Urbanisierung, Nürnberg 2003, S. 104 – 114.

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| Charlotte Bühl-Gramer mit für den ­touristischen Markt produzierten Fotopostkarten in ikonischer Verdichtung zunehmend bestimmte Memorialbereiche der „romantischen Stadt“. Vor allem die Sebalder Stadtseite wurde mit dem Blick von der Burg auf die Dächerlandschaft der Stadt, der Moritzkapelle mit dem Bratwurstglöcklein, den Pegnitzpartien, dem Weinstadel, sowie dem Blick von der Museumsbrücke auf das Heilig-Geist-Spital zum eigentlichen „Alt-Nürnberg“ 58: Der Konstruktcharakter der „alten Stadt“ blieb durch die Konzentration auf den Ausschnitt präsent, zugleich markiert die Fotografie als modernes Medium den Beginn einer neuen „Sichtbarkeit des Authentischen“ 59. Ausschnitthafte Bildmotive aus der Romantik können dagegen auch 100 Jahre später im Medium der Fotografie wieder zitiert werden und halten damit einen Teil des Bildgedächtnisses zur ‚romantischen Stadt‘ stabil. Deutlich wird dies etwa am Titelcover des Merianhefts aus dem Jahr 1950, das Wilders romantischen Burgblick mit einer undatierten Fotografie vor der Zerstörung der Altstadt wieder aufgreift und damit die romantische Wahrnehmung der Stadt als bildhafte Erinnerung aufruft. 5. Romantik als Handlungsmodell: Städtische Denkmalund Stadtbildpflege Die Vergangenheitsdeutung der „Dürerzeit“ durch die Frühromantiker wurde mit der Wiedererlangung der städtischen Selbstverwaltung 1818 in einen gegenwarts- und zukunftsrelevanten Sinnzusammenhang transformiert, indem früher als in allen anderen deutschen Städten die Kunst- und Denkmalpflege als Aufgabe einer städtischen Erinnerungskultur in den Aufgabenbereich der Kommunalpolitik miteinbezogen wurde.60 Die Beschwörung der Leistungen der Vergangenheit wurde zur Ressource für die Erneuerung der Gegenwart und fungierte als Ansporn und Handlungsanweisung für die Zukunft.61 Dabei musste jedoch nicht nur das Spannungsverhältnis von historisierendem Stadtpatriotismus und moderner Stadt, von Bewahrung und Modernisierung immer wieder neu ausgehandelt werden, sondern der ‚romantische‘ Blick auf die Stadt veränderte sich, indem auch in denkmalpflegerischer Hinsicht die Vorstellungen von der „alten Stadt“ aktualisiert und angepasst wurden. Sie übernahmen eine 58 Vgl. Beer, Helmut: Grüße aus Nürnberg 3. Nürnberg in Ansichtskarten um 1900. „Lebendige Altstadt“, Nürnberg 1994, S. 41. 59 Saupe, Achim: Art. „Authentizität“, Version 3.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 25. 08. 2015 http://docupedia.de/zg/saupe_authentizitaet_v3_de_2015, DOI: http://dx.doi.org/10.14765/ zzf.dok.2.705.v3 (zuletzt aufgerufen am 26. 9. 2019). 60 Vgl. Brix: Nürnberg, S. 54. 61 Vgl. Mertens: Scharrer, S. 230 – 236.

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Authentifizierungsfunktion und mussten zugleich den ästhetischen Ansprüchen der jeweiligen Gegenwart genügen.62 Vier Beispiele sollen an dieser Stelle kurz angeführt werden: 1. Über die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hinaus etablierte sich die Neugotik gegenüber der klassizistischen Richtung mit Carl Alexander Heideloff als Hauptvertreter eines „um Anpassung bemühten Dekorationsstils“.63 Heideloff ging es mit seinen Restaurierungsarbeiten und Umbauten nicht nur um rücksichtsvolle Einordnung, sondern auch um die „Erhaltung des alterthümlichen Bautypus der Stadt Nürnberg“.64 Öffentliche Denkmäler, Brunnen, neue Gebäude und Fassadengestaltungen sollten im stadtbildpflegerischen Konzept Heideloffs als „sinnliche Erinnerungsmittel an berühmte Männer“ 65 die Wahrnehmung der Stadtlandschaft in übergreifenden Sinnzusammenhängen als Denkmalensemble und Erinnerungsstätte historischer Persönlichkeiten unterstützen und den historischen Charakter der Stadt weiterentwickeln.66 Durch Begrünungen und Anpflanzungen in einzelnen Stadtteilen erfolgte eine Aufwertung der Nahsicht. Durch die Anlage von Spazierwegen um die Stadt wurden neue reizvolle Blickachsen geschaffen, die die bühnenartige Inszenierung der Stadtsilhouette und die Wahrnehmung einer vorgeblich intakten Übereinstimmung von Stadtraum und Natur aus der Fernsicht unterstützte,67 freilich zu einer Zeit, in der die Sicht auf die Stadt noch nicht verstellt war. 2. Die nach massiven Debatten um Erhalt oder Abriss der Stadtmauer gefällte Entscheidung für ihren weitgehenden Erhalt in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts erfolgte zu einem Zeitpunkt, als die Industriebetriebe bereits in die Vorstädte abgewandert waren und der Funktionswandel der Stadt innerhalb des Mauerrings zur historischen „Alt“-Stadt und „City“ bereits in vollem Gang war.68 In dieser Phase der Stadtentwicklung konnte die Stadtmauer – 62 Vgl. Groebner: Retroland, S. 80; Stephen Brockmann bezeichnete dies als „program of beautification and authentication.“ Ders.: Nuremberg. The Imaginary Capital, Rochester 2006, S. 3. 63 Brix: Nürnberg, S. 90. 64 Heideloff, Carl Alexander: Architectonische Entwürfe und ausgeführte Bauten im byzantinischen und altdeutschen Styl, 1. Heft, Nürnberg 1850, S. 18. 65 Der Sammler für Kunst und Alterthum in Nürnberg, Erstes Heft, Nürnberg 1824, S. 71. 66 Vgl. Knop, Andrea: Carl Alexander Heideloff und sein romantisches Architekturprogramm, Nürnberg 2009, S. 76 – 85. 67 Vgl. Knop: Heideloff, S. 49 – 68; deutlich wird dies insbesondere auch an den idealisierten Stadtansichten von Heideloffs Illustration zu dem oben zitierten Gedicht „An Nürnberg“ von König Ludwig I. von Bayern aus dem Jahr 1839. 68 Vgl. Knop: Heideloff, S. 107 – 129; Götz: Neugotik, S. 130 – 133 und 148 – 152; Schwemmer, Wilhelm: Die Stadtmauer von Nürnberg. Verluste und Erhaltung im 19. und 20. Jahrhundert, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 56 (1969), S. 424 – 444; Bühl-Gramer: Nürnberg 1850, S. 208 – 218.

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| Charlotte Bühl-Gramer auch mit Blick auf die wachsende Bedeutung der Tourismusindustrie und des angesichts der zahllosen Mauerschleifungen in anderen Städten Europas sich herauskristal­lisierenden touristischen Alleinstellungsmerkmals eines mittelalterlichen Mauerrings um eine Großstadt 69 – zum neuen Element romantischer Stadtwahrnehmung aufgewertet werden. War im 19. Jahrhundert die Stadtbefestigung kaum Gegenstand des Kunstinteresses, so dass bildliche Darstellungen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts selten blieben 70, so wurden die alten Mauern ab 1895 Schwerpunkt der Denkmalpflege.71 Die alten Mauern und Türme markieren die Demarkationslinie von „alt“ und „neu“ und fungieren als Rahmung für das „Schatzkästlein des deutschen Reiches“ 72. „[…] [A]llerdings sind sie, da sich Nürnberg mächtig ausdehnte, ins Innere der Stadt gerückt“ 73, so dass eine neue Codierung von romantischer Urbanität im Sinne von überschaubarer Größe und Ausdehnung erfolgt. Ihren ästhetischen Reiz entfalten Stadtmauer und Stadtgraben als Ausdruck der harmonischen Verbundenheit von Natur und Mensch: Hier ist sie [die Stadtmauer] mit dem Graben und der ganzen Natur so eng zusammengewachsen, als wenn es von alters her immer so gewesen wäre. Natur und Mensch haben hier einen Bund geschlossen, der für alle Zeiten untrennbar erscheint.74

Mauer und Graben bilden Kontaktzonen und Raum für eine ästhetisch erfahrbare Einheit von Natur, Mensch und Architektur, die aber als gefährdet und z. T. bereits zerstört geschildert wird.75 69 „Die höchst malerische Stadtmauer mit ihren Wehrgängen, Thürmen, Bastionen und der alte Graben bilden eine Zierde, wie sie kaum eine zweite Stadt aufzuweisen hat.“ – so zu lesen in: Neuester Illustrierter Führer durch Nürnberg mit neuestem Stadtplan, 50 Illustra­ tionen und einem Strassen-Verzeichnis, Nürnberg 61901, S. 16. 70 Vgl. Brix: Nürnberg, S. 109 f. 71 Vgl. Volckamer auf Kirchensittenbach, Guido von: Die Stadtmauer von Nürnberg. Mit ihren Veränderungen während dreier Jahrhunderte dargestellt durch Abbildungen aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert, München 1897. 72 Bühl, Charlotte: Art. „Schatzkästlein“, in: Diefenbacher, Michael/Endres, Rudolf (Hg.): Stadtlexikon Nürnberg, Nürnberg 1999, S. 927. 73 Madeleiner: Fahrt, S. 1276. 74 Schulz, Fritz Traugott: Nürnbergs Sehenswürdigkeiten. Führer für die Fremden-Rundfahrten, Nürnberg 1928, S. 55. 75 Vgl. z. B. Reicke: Das neue Nürnberg, S. 66: „Was diese wie andere Mauerpartien so reizvoll macht, ist das Grün der Bäume, mit denen die Zwinger bewachsen sind, das sich aber auch oft aus den Fugen zwischen den alten Quadersteinen zum Lichte drängt. Da der zum Teil sehr tiefe und breite Stadtgraben […] häufig auch zu Gärten verwendet wird, deren Obstbäume zur Zeit der Baumblüte wahre Wunder an Schönheit entfalten, da Flieder und Goldregen und Rotdorn auch in den Zwingern im Mai eine wahrhaft berauschende

Nürnberg als Erinnerungsort |

3. Im Zuge von Citybildung mit Geschäfts- und Hotelviertel musste die „Altstadt“ den Bedürfnissen einer modernen Großstadt angepasst werden. Der Stadtumbau der Lorenzer Stadtseite zu einem Geschäfts- und Hotelviertel im „Nürnberger Stil“, mit der Königstraße als Entrée in die alte Stadt, ist eng verknüpft mit Tourismus und Gastronomie. Er stellte „eine spezifische, ortstypische Antwort auf die Herausforderung des Stadtumbaus am Ende des 19. Jahrhunderts“ dar.76 Dieser lokalspezifischen Variante des Historismus der achtziger und neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts wurde eine besondere Eignung zugesprochen, die eigene reichsstädtische Bautradition Altnürnberger Bürgerhausarchitektur unter Verwendung typischer Nürnberger Bauelemente wie Chörlein, Dacherker und vorgefundener Giebelformen mit modernen Nutzungs- und Repräsentationsbedürfnissen in großstädtischem Maßstab zu vereinen und damit das überlieferte Bild der Stadt zu retten.77 4. Der mit der romantischen „Erfindung“ etablierte Blick auf die Stadt grundierte auch die Debatten und die Entscheidung für den Wiederaufbau nach 1945.78 Als Leitlinie fungierte die Grundsatzentscheidung, Zerstörtes nicht als Kopie zu rekonstruieren, die erhalten gebliebenen Bauwerke von historischem Wert aber „wie Juwelen in eine zurückhaltende, anständige neue Fassung zu bringen.“ 79 Damit war die Basis gelegt, die „romantische Stadt“ für die städtische Identität nach innen und für das Nürnberg-Image nach außen wiederherzustellen, an manchen Stellen aber auch neu zu konstruieren:80 So wurde etwa die durch die

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Farbensinfonie spielen, so versteht man die Begeisterung, mit der namentlich der Einheimische an der Schönheit seiner alten „Noris“ hängt, allerdings auch seine Klagen, daß so vieles im Bilde der Stadt wie auch in den Sitten und Gewohnheiten seiner Bewohner so ganz anders geworden ist […]“. Brix: Nürnberg, S. 140. Vgl. Beer: Grüße aus Nürnberg 3, S. 39. In denkmalpflegerischer Hinsicht distanzierte man sich während des Nationalsozialismus von Stadtvorstellungen der ‚romantischen Stadt‘: So sollten die ‚Bausünden‘, die „ein gewisser romantischer Begriff von ‚Nürnbergisch‘ mit Pseudo-Erkerchen und Chörchen“ mit sich gebracht hätte, zugunsten eines „ursprünglichen, viel herberen Stadtbild[es] so weit als möglich verschwinden“. An seine Stelle sollte ein „herberes Stadtbild“ treten, das die „Schlichtheit“ und Wehrhaftigkeit als Kennzeichen des „deutschen“ Charakters der Stadt betonten sollte. Zit. bei Seiderer, Georg: Nürnberg – die „Stadt der Reichsparteitage“. Selbstinszenierung einer Großstadt im „Dritten Reich“ (1933 – 1939), in: Mayrhofer, Fritz/ Oppl, Ferdinand (Hg.): Stadt und Nationalsozialismus, Linz 2008, S. 311 – 340, hier S. 330; Schmidt: Nürnberg, S. 137 – 151. Zit. bei Wachter, Clemens: Weichenstellung. Der Architektenwettbewerb über den Wiederaufbau der Altstadt 1947, in: Diefenbacher, Michael/Henkel, Matthias (Hg.): Wiederaufbau in Nürnberg, Nürnberg 2009, S. 64 – 83, hier S. 81; vgl. ders.: Kultur in Nürnberg 1945 – 1950. Kulturpolitik, kulturelles Leben und Bild der Stadt zwischen dem Ende der NS-Diktatur und der Prosperität der fünfziger Jahre, Nürnberg 1999, S. 314 – 369. Vgl. Curtius, Andreas: Die Stadt als Denkmal einer versunkenen Zeit, in: Henkel, Matthias/ Schauerte, Thomas (Hg.): Sehnsucht Nürnberg. Die Entdeckung der Stadt als Reiseziel in

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| Charlotte Bühl-Gramer Zerstörung geschaffene freie Sichtachse von der Lorenzkirche zur Burg „als eine einmalige Darstellung des Begriffes von Alt-Nürnberg“ 81 bewusst freigehalten. Die Auseinandersetzung um Bewahren und/oder Modernisieren setzte sich als Erbe des romantischen Blicks auf die Stadt auch nach 1945 bruchlos bis in die Gegenwart fort.82 Die frühromantischen Zuschreibungen Dürers und der Stadt als spezifisch „deutsch“ und als Kristallisationspunkte der Nation waren freilich diskreditiert.83 6. Ausblick „Das, was Nürnberg von allen Städten unerhört unterscheidet, ist das Bildhafte seines ganzen Seins.“ 84 Begreift man Tourismus als „Bildermaschine“ 85, durch den die „Merkwürdigkeiten“ zu „Sehenswürdigkeiten“ wurden, wird der enge Kontext einer ästhetisierenden Aneignung und Erfindung des „romantischen Nürnberg“ in den unterschiedlichsten Medien mit der Entstehung der Tourismusindustrie

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der Frühromantik, Nürnberg 2011, S. 49 – 55; Kosel, Alfred: Nürnberg wieder ein Schatzkästlein, Nürnberg [1960]. Zum Bemühen einer möglichst bruchlosen Wiederanknüpfung an den Überlieferungszusammenhang von Nürnbergs „großer Zeit“ im 15. und 16. Jahrhundert und den verschiedenen Phasen einer Neukonstituierung der städtischen Geschichtskultur im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um die Rolle Nürnbergs in der NS-Zeit vgl. Bühl-Gramer, Charlotte: Nürnberg als „Stadt des Friedens und der Menschenrechte“ – Aspekte einer geschichtskulturellen Analyse, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 11 (2012), S. 98 – 115. Zit. bei Wachter: Weichenstellung, S. 80. Stellvertretend für die vielen Debatten seien hier die Ablehnung der Errichtung eines modernen Geschäftszentrums (Augustinerhof) durch einen Bürgerentscheid im Jahr 1996 und der Bürgerentscheid aus dem Jahr 2014 genannt, bei dem der Frage der Wiederausmalung des historischen Rathaussaals mit Dürer-Motiven mit 68 % dagegen eine klare Absage erteilt wurde. Nach wie vor ist der Verein „Altstadtfreunde Nürnberg“ mit rund 5.500 Mitgliedern und einer beeindruckenden Erfolgsbilanz hinsichtlich der Rettung und Restaurierung historischer Gebäude der größte und einflussreichste Stadtpflegeverein in Deutschland. So stand das Dürerjahr 1971 ganz im Zeichen eines kulturellen Aufbruchs, einem Bekenntnis zur Demokratie und einer Entideologisierung Dürers durch einen Brückenschlag zur Gegenwart und zeitgenössischen Kunst. Vgl. Bühl-Gramer, Charlotte: Nürnberg als „Stadt des Friedens und der Menschenrechte“ – Transformationen von Stadtimage und lokaler Geschichtskultur, in: Kenkmann, Alfons/Spinnen, Bernadette (Hg.): Stadtgeschichte, Stadtmarke, Stadtentwicklung. Zur Adaption von Geschichte im Stadtmarketing, Wiesbaden 2019, S. 99 – 116. Weismantel, Leo: Erinnerungen an Nürnberg, in: Festführer. 70. Generalversammlung der Katholiken in Deutschland in Nürnberg, Nürnberg 1931, S. 62 – 78, hier S. 64. Groebner, Valentin: Touristischer Geschichtsgebrauch. Über einige Merkmale neuer Vergangenheiten im 20. und 21. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 296 (2013), S. 408 – 428, hier S. 418.

Nürnberg als Erinnerungsort |

deutlich. Der Konstruktcharakter des Erinnerungsorts und die Rolle des subjektiven Bewusstseins, um eine „mittelalterliche“ Stadt als erfahrbar zu präsentieren, waren bereits seit Wackenroder und Tieck Kennzeichen dieser Entwicklung. In der Folgezeit lässt sich eine wachsende Dominanz des Konstruktionsbewusstseins feststellen, die mit Veränderungen in der Baubsubstanz einhergeht und zu immer stärkeren Fokussierungen der Blickperspektiven bzw. Ausblendungen zwingt. Der von Cord Pagenstecher konstatierte Wandel in der touristischen Außendarstellung der Altstadt Nürnberg vom kunsthistorischen Kleinod zur historischen Kulisse, die durch die Einrichtung einer Fußgängerzone ab 1975 zur Verkehrsentlastung der Innenstadt auch die Wahrnehmung der Altstadt als „Erlebnisraum“ 86 einer postmodernen Erlebnisgesellschaft unterstützte, kann als Aktualisierung der romantischen Geschichtsaneignung als „Erlebnis“ gelesen werden. Um 1960 wanderte man nicht mehr durch die Stadt, doch nach einem ersten Weg vom Bahnhofsplatz bis zum Hauptmarkt hatte man „den Überblick, der erlaubt, entweder planvoll die zahlreichen Einzelheiten aufzusuchen, oder Schlenderwege anzutreten, die durch Begegnungen mit der großen Vergangenheit zum Erlebnis werden.“ 87 Der Reiz des historischen „Dürerblicks“ bleibt dabei für das Stadtmarketing eine Konstante, um romantische Stadtwahrnehmung aufzurufen: Wurde Nürnberg 1960 als „ein Paradies für Fotoamateure“ 88 bezeichnet, ist in der Imagebroschüre von 2015 zu lesen: „Den Blick über die Pegnitz hinüber zum Weinstadel, einer der größten Fachwerkbauten Deutschlands, oder dem Heilig-Geist-Spital konnte bereits ­Albrecht Dürer, der berühmteste Sohn der Stadt, genießen.“ 89 Die ästhetische Erlebnisqualität eines „lebendigen Mittelalters“ zeigt den Zusammenhang von zutiefst romantischem, wenn nicht nostalgischem und touristischem Blick, einer Reise in den „Zeit-Raum“ 90 und hält sich im touristischen Markt in einfachster Form als ein Versprechen, „Steine zum Sprechen zu bringen“ und des „Eintauchens“ in die Vergangenheit, etwa durch Formen des Reenactments durch 86 Pagenstecher, Cord: Der bundesdeutsche Tourismus. Ansätze zu einer Visual History: Urlaubsprospekte, Reiseführer, Fotoalben 1950 – 1990. Hamburg 22012, S. 329. 87 Kosel: Schatzkästlein, S. 5. 88 Kosel: Schatzkästlein, S. 15: „Auf Schritt und Tritt winkt allen Kamerajägern eine ungewöhnliche Fülle schönster Motive“. 89 Verkehrsverein Nürnberg e. V.: Image-Seiten 2015, https://tourismus.nuernberg.de/­fileadmin/ dokumente/ueber_uns/media/bis-2017/Image_Seiten_2015.pdf (zuletzt aufgerufen am 4. 10. 2019). 90 Vgl. Spode, Hasso: Romantische Zeitreise. Tourismus als Chronotopie, in: Schmidt-Lauber, Brigitta (Hg.): Sommer_frische. Bilder, Orte, Praktiken, Wien 2014, S. 33 – 43, hier S. 40; ders.: Homogenisierung und Differenzierung. Zur Ambivalenz touristischer Chronotopie-­ Konstruktion, in: Schnepel, Burkhard/Girke, Felix/Knoll, Eva-Maria (Hg.): Kultur all inclusive. Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus, Bielefeld 2013, S. 93 – 116, hier S. 99.

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| Charlotte Bühl-Gramer Kostümführungen als authentische Erfahrung zweiter Ordnung.91 Emotionale Reaktionen, persönliche Eindrücke und Zitate einer romantischen Emphase gehören weiterhin zum Repertoire von Reiseeindrücken, die nun als „Bewertungen“ auf digitalen Reiseportalen formuliert werden.92 Auch in der inszenierten öffentlichen Eventkultur der Gegenwart fungiert der Stadtraum als begehbares Erlebnis, der in Nürnberg mit der „Blauen Nacht“, einer seit 2000 veranstalteten Langen Nacht der Kunst und Kultur, besondere atmosphärische Werte im romantischen Zitat der Namensgebung aufruft.93 Gegenwärtig steht die „alte Stadt“ oder ihre Inszenierung im Zuge eines ästhetischen Unbehagens von „moderner“ Architektur und Neubauquartieren für „Einmaligkeit, Charakter und Authentizität“,94 für Dauerhaftigkeit sowie Unverwechsel­ barkeit und fungiert als Rückverweis in eine bekannte Vergangenheit anstelle einer ungewissen Zukunft.95 91 Vgl. das Angebot „Lebendige Geschichte“ des Vereins der Gästeführer Nürnbergs „Die Stadtführer e. V.“: „Die spannendsten „Zeitzeugen“ aus Nürnberg lassen vor Ihren Augen Geschichte und Geschichten lebendig werden. Wenn die Stadtführer in originalgetreue Gewänder schlüpfen, vergessen Sie die heutige Zeit. Glauben Sie es nicht? Kommen Sie doch mit! Und wer von diesen interessanten Figuren führt Sie durch die Altstadt?“ Verein der Gästeführer Nürnbergs „Die Stadtführer“ e. V.: Lebendige Geschichte, https://www.nuernberg-tours.de/tourdetail/guidetour/show/27?cHash=ee8db57ca4b90434ce1a92b92475e93b (zuletzt aufgerufen am 28. 9. 2019). 92 Vgl. die Bewertungen auf dem Reiseportal TripAdvisor: „Nürnberg hat eine tolle Altstadt, absolut sehenswert. Wie zwei Welten zwischen Moderne und Mittelalter. Viele Lokale und Gaststätten.“ https://www.tripadvisor.de/ShowUserReviews-g187310-d2263169r673828793-Altstadt-Nuremberg_Middle_Franconia_Franconia_Bavaria.html; „Nürnberg ist eine romantische Stadt Die Burg abends ist wunderschön Romantik pur Man läuft durch kleine Brücken enge Straßen ein Traum.“ https://www.tripadvisor.de/ShowUserReviewsg187310-d2263169-r653364325-Altstadt-Nuremberg_Middle_Franconia_Franconia_Bavaria. html oder: „Geschichte und Lebensatmosphäre bei Nacht. Bei Nacht ist die historische Kulisse noch viel beeindruckender als bei Tag, das Licht spielt mit den alten Gemäuern. Wem es hier zwischen Geschichte, Shoppen und Restaurants zu langweilig wird, der ist selbst schuld. Einfach mal das Auto parken und zu Fuß durch die nächtliche Szene und alles auf sich wirken lassen.“ https://www.tripadvisor.de/ShowUserReviews-g187310-d2263169r629578319-Altstadt-Nuremberg_Middle_Franconia_Franconia_Bavaria.html (alle drei Bewertungen zuletzt aufgerufen am 1. 10. 2019). 93 „Die Farbe der Romantik, die Magie der blauen Stunde und die Sehenswürdigkeiten einer Nürnberger „Kulturmeile“ standen am Anfang. 15 Jahre später ist die Blaue Nacht als lange Nacht der Kunst und Kultur ein unverwechselbares Markenzeichen auf Deutschlands ­Festival-Landkarte.“ https://www.nuernberg.de/internet/kulturreferat/blaue_nacht.html (zuletzt aufgerufen am 26. 2. 2020). 94 Kaltenbrunner, Robert: Placemaking. Die Innenstadt zwischen Anlageobjekt und Baukultur, in: Enss, Carmen M./Vinken, Gerhard (Hg.): Produkt Altstadt. Historische Stadtzentren in Städtebau und Denkmalpflege, Bielefeld 2016, S. 199 – 218, hier S. 201. 95 Kaltenbrunner: Placemaking, S. 204 f.

Nürnberg als Erinnerungsort |

Eine Bewertung als „alt“ scheint dabei an Relevanz zu verlieren – „schön“ soll es sein. Dies zeigt nicht nur die Reproduktion von Stimmungswerten durch Kulissen­ architektur im historischen Ambiente, wie etwa im 1971 eröffneten Handwerkerhof in Nürnberg, in dem seither in einer fiktiven, mittelalterlich anmutenden Szenerie von Fachwerkhäuschen in Leichtbauweise kunstgewerbliche Artikel und Souvenirwaren verkauft werden. Auch das „Outlet Village“, das unter Simulation von historischem Flair städtische Lebensqualität in einer pseudohistorischen Kleinstadtkulisse inszeniert und situiert, um Kauferlebnisse als charakteristische urbane Freizeitaktivität zu generieren, kann in diesen Kontext gestellt werden.96 Als jüngste Spielart romantischer Codierungen der ‚alten Stadt‘ ist schließlich die vollständige Entkoppelung der Altstadt von Alt-Sein durch die Durchführung von Neubauprojekten anstelle von Sanierung und Stadtbildpflege zu nennen.97 Wie viele Elemente der ‚alten Stadt‘ braucht es, um das Angebot unterbreiten zu können, einen mittelalterlichen Ort wahrzunehmen, zu begehen, zu erleben, und einen Erinnerungsraum zu schaffen? Oder kann es sich ganz von der Bausubstanz lösen? Die im September 2018 eröffnete Frankfurter „Neue Altstadt“ ist für diese produktive Anwendung romantischer Urbanität ein aktuelles und viel diskutiertes Beispiel.

96 Vgl. Bühl-Gramer, Charlotte: Fake history im Outlet Village, in: Public History Weekly 5 (2017), DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2017 – 9012. 97 Vgl. Vinken, Gerhard: Im Namen der Altstadt, in: Enss, Carmen M./Vinken, Gerhard (Hg.): Produkt Altstadt. Historische Stadtzentren in Städtebau und Denkmalpflege, Bielefeld 2016, S. 9 – 26, hier S. 20 f.; ders.: Unstillbarer Hunger nach Echtem. Frankfurts neue Altstadt zwischen Rekonstruktion und Themenarchitektur, in: Forum Stadt 2 (2013), S. 119 – 136.

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Matthias Asche/Nina Fehrlen-Weiss

Zwischen Kitsch und Kommerz. Romantische Memoria in Rothenburg ob der Tauber vom 19. Jahrhundert bis heute

1. Die Erinnerung an das Mittelalter und die Reichsstadtzeit Der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 beendete für Rothenburg wie für fast alle der insgesamt 51 Reichsstädte die jahrhundertelange Zeit der Eigenstaatlichkeit.1 Die Stadt oberhalb der Tauber, die 1274 durch ein Privileg König Rudolfs I. reichsunmittelbar geworden war, besaß nach Nürnberg und Ulm gemeinsam mit Schwäbisch Hall das größte untertänige Landgebiet unter allen Reichsstädten.2 Die protestantische Stadt fiel gemeinsam mit zahlreichen anderen Reichsstädten und geistlichen Territorien an den katholischen Kurfürsten von Pfalz-Bayern.3 Zwar behielt Rothenburg nach ihrer Mediatisierung innerhalb des entstehenden Königreiches Bayern zumindest anfangs noch eine herausgehobene Position als eine der vornehmsten Städte im Lande, was sich etwa im Status der Kreisfreiheit und dem Sitz eines Landgerichts im 1809 geschaffenen mittelfränkischen Rezatkreis mit Sitz in

1 Grundlegend noch immer vgl. Schroeder, Klaus-Peter: Das Alte Reich und seine Städte. Untergang und Neubeginn. Die Mediatisierung der oberdeutschen Reichsstädte im Gefolge des Reichsdeputationshauptschlusses 1802/03, München 1991, zu Rothenburg ob der T ­ auber S.  241 – 243. Zur Mediatisierung Rothenburgs vgl. zuletzt noch den Sammelband von ­Borchardt, Karl/Möhring, Hellmuth/Ott, Heinz (Hg.): Rothenburg ob der Tauber 1802/03. Veröffentlichung anläßlich einer Ausstellung des Reichsstadtmuseums, des Stadtarchivs in Rothenburg ob der Tauber vom 13. Dezember 2002 bis 15. Februar 2003, Rothenburg ob der Tauber 2002; Borchardt, Karl: Rothenburg, Dinkelsbühl, Windsheim und Schweinfurt. Vier fränkische Reichsstädte beim Übergang an Bayern, in: Diefenbacher, Michael (Hg.): Vom Adler zum Löwen. Die Region Nürnberg wird bayerisch 1775 – 1835. Ausstellungskatalog, Neustadt an der Aisch 2006, S. 369 – 382 [wiederabgedruckt in: ders.: Kirchen, Bürger und Bauern. Ausgewählte Studien zu Rothenburg ob der Tauber und seinem Umland, Rothenburg ob der Tauber 2017, S. 370 – 383.] 2 Hierzu vgl. noch immer Woltering, Herbert: Die Reichsstadt Rothenburg ob der Tauber und ihre Herrschaft über die Landwehr, 2 Bde., Rothenburg ob der Tauber 1965/71 [ND Insingen 2010], S. 13 – 15. 3 Enders, Rudolf: Die Eingliederung Frankens in den neuen bayerischen Staat, in: Glaser, Hubert (Hg.): Krone und Verfassung. Max I. Joseph und der neue Staat. Beiträge zur baye­ rischen Geschichte und Kunst 1799 – 1825, Bd. 1, München 1980, S. 83 – 94; Seitz, Jutta: Das Ende der alten Reichsstädte und ihr Übergang an Bayern, in: Müller, Rainer A. (Hg.): Reichsstädte in Franken, Aufsätze, Bd. 1, München 1987, S. 346 – 356.

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| Matthias Asche/Nina Fehrlen-Weiss Ansbach ausdrückte.4 Doch angesichts der Erinnerung an die vermeintlich ‚goldene‘ Reichsstadtzeit im Mittelalter – namentlich bezogen auf die Stauferzeit 5 – blieb die Enttäuschung über die Mediatisierung in der Stadt allgegenwärtig präsent, zumal die Münchener Regierung insgesamt wenig Interesse an der nach der Abtretung eines großen Teils des ehemaligen Landgebietes an das Königreich Württemberg nahe der bayerischen Grenze gelegenen, weithin agrarisch geprägten Stadt zeigte.6 Neben den Folgen der sich in der Stadt katastrophal auswirkenden Hungersnöte und Missernten im beginnenden 19. Jahrhundert 7 wurde besonders die problematische Verkehrslage Rothenburgs, mithin ihr fehlender Anschluss an die neuen frühindustriellen Zentren im Königreich Bayern – Nürnberg, Fürth, Ansbach, ­Würzburg und München – kritisiert. Da es anfangs noch nicht einmal eine Verbindung Rothenburgs 4 Zeuschel, Hermann: Die Folgen des Reichsdeputationshauptschlusses (1803) für die ehemals freie Reichsstadt Rothenburg ob der Tauber. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung, Coburg 1936; Elsberger, Stepahn: Geschichte des Rezatkreises (1806/8 – 1817). Eine verwaltungsgeschichtliche Studie, in: Jahresbericht des historischen Vereins für Mittelfranken 67 (1937), S. 63 – 123; insbesondere Schnurrer, Ludwig: Rothenburg wird bayerisch. Rothenburger Schicksale 1802 – 1809, in: Die Linde. Beilage zum Fränkischen Anzeiger für Geschichte und Heimatkunde von Rothenburg/Tbr. Stadt + Land 63 (1981), S. 54 – 64. Rothenburg blieb immerhin bis 1972 kreisfrei und Sitz des gleichnamigen Landkreises. 5 Exemplarisch vgl. Kroll, Frank-Lother: Kaisermythos und Reichsromantik. Bemerkungen zur Rezeption des Alten Reiches im 19. Jahrhundert, in: Asche, Matthias/Nicklas, T ­ homas/ Stickler, Matthias (Hg.): Was vom Alten Reiche blieb. Deutungen, Institutionen und ­Bilder des frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 19. und frühen 20. Jahrhundert, München 2011, S. 19 – 32. Dass die Staufer-Begeisterung übrigens bis heute in Rothenburg nicht verklungen ist, zeigt die Schenkung einer Stauferstele durch das Göppinger Komitee der Stauferfreunde auf Anfrage an die Stadt im Stauferjahr 2010, vgl. ­Tittmann, Ekkehard: Zur Rothenburger Stauferstele, in: Die Linde. Beilage zum Fränkischen Anzeiger für Geschichte und Heimatkunde von Rothenburg/Tbr. Stadt + Land 99 (2017), S. 45 – 56; zudem Knappe, Michael: Rothenburg ob der Tauber als Inbegriff des deutschen Mittelalters, in: Hoffmann, Ingrid (Hg.): Europäische Städte in der Stauferzeit. Staufische Stadtgründungen und ihr städtebauliches Erbe, Schwäbisch Gmünd 2014, S. 87 – 94. 6 Borchardt, Karl: Rothenburg ob der Tauber 1793 – 1818. Vom reichsstädtischen Kleinstaat zur bayerischen Grenzstadt, in: Müller, Rainer A./Flachenecker, Helmut/Kammerl, Reiner (Hg.): Das Ende der kleinen Reichsstädte 1803 im süddeutschen Raum, München 2007, S. 211 – 230 [wiederabgedruckt in ders.: Kirchen, Bürger und Bauern, S. 385 – 401]; grundlegend für Rothenburg im 19. Jahrhundert vgl. Moritz, Gabriele: Rothenburg ob der Tauber im 19. Jahrhundert. Studien zur politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung einer ehemaligen Reichsstadt am Rande des Königreichs Bayern, Rothenburg ob der Tauber 1996. 7 Möhring, Hellmuth: Das Hungerjahr 1816/17 in Rothenburg, in: Die Linde. Beilage zum Fränkischen Anzeiger für Geschichte und Heimatkunde von Rothenburg/Tbr. Stadt + Land 99 (2017), S. 77 – 80; zu den Hintergründen vgl. Vasold, Manfred: Die Ursachen und Auswirkungen der Hungersnot von 1816/17. Ein Beitrag zur fränkischen Klima- und Umweltgeschichte, in: Borchardt, Karl/Tittmann, Ekkehart (Hg.): Städte, Regionen, Vergangenheiten. Beiträge für Ludwig Schnurrer zum 75. Geburtstag, Würzburg 2003, S. 403 – 423.

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an das Ansbacher Straßennetz gab, war das traditionelle Gewerbe in der Stadt (Bier, Textilien) in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gravierend eingebrochen. Die Auswanderungswellen nach Übersee sowie die Abwanderung der alten Patrizierfamilien taten ein Weiteres zum allgemeinen wirtschaftlichen Niedergang der Stadt.8 Alle Maßnahmen zur Wirtschaftsförderung – so etwa die hoffnungsvolle Gründung eines Gewerbevereins 1848 – schienen zum Misserfolg verdammt. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts bahnte sich eine regelrechte Re-Agrarisierung der Wirtschaftsstruktur an. Die zuweilen larmoyanten Klagen der dezidiert protestantischen Rothenburger, deren Stadt erst sehr spät (1873) an das Eisenbahnnetz zwischen Würzburg und Ansbach angeschlossen wurde,9 gegenüber der bayerischen Regierung über ihre Verarmung und Bedeutungslosigkeit rissen nicht ab, wobei freilich stets der Hinweis auf die früheren, angeblich besseren ­Zeiten von wirtschaftlicher und politischer Potenz nicht fehlte.10 Die Erinnerung an die vermeintlich gute alte Zeit ist in Rothenburg schon sehr früh zu greifen, zumal die baulichen Überreste der Reichsstadtzeit auch noch für die Zeitgenossen des späteren 19. Jahrhunderts weithin sichtbar waren – die Stadtmauer etwa, die König Ludwig I. nicht abreißen ließ.11 Auch der Rothenburger 8 Moritz: Rothenburg, S. 95 – 97, 197 – 199. Allein zwischen 1830 und 1850 hatte sich die Einwohnerzahl Rothenburgs um 13 Prozent reduziert, vgl. Kamp, Michael: Die touristische Entdeckung Rothenburgs ob der Tauber im 19. Jahrhundert. Wunschbild und Wirklichkeit, Schillingsfürst 1996, S. 53. 9 Zum Eisenbahnanschluss in Rothenburg vgl. Paul, Oliver: 100 Jahre Lokalbahn Rothenburg-Dombühl. Die Geschichte der Eisenbahn über die Frankenhöhe, München 2005. 10 Hierzu vgl. die These von Gerhard Hirschmann, „dass in den Städten, deren Bevölkerung sich nur gering vermehrt hat, bei der Einwohnerschaft insgesamt ein ausgeprägteres Bewußtsein von der besonderen historischen Vergangenheit ihrer Stadt erhalten geblieben ist als z. B. in Schweinfurt oder gar in der Großstadt Nürnberg“, vgl. Hirschmann, Gerhard: Fortleben reichsstädtischen Bewußtseins in Franken nach 1806?, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 34/35 (1975), S. 1041 – 1057, hier S. 1043 [wiederabgedruckt in: Ulshöfer, Kuno (Hg.): Aus sieben Jahrhunderten Nürnberger Stadtgeschichte. Ausgewählte Aufsätze von Gerhard Hirschmann. Festgabe zum 70. Geburtstag, Nürnberg 1998, S. 217 – 234]. Dass die Intensität der Reichsstadtmemoria abhängig vom Grad der durch die Transformationsprozesse der Industrialisierung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bedingten sozio-ökonomischen Strukturveränderungen, mithin anhaltender verkehrstechnischer Abgelegenheit, wirtschaftlicher Stagnation und politischer Bedeutungslosigkeit war, zeigt beispielsweise auch Kammerl, Reiner: Von der Reichsstadt zur Stadt 2. Klasse. Bedeutungsverlust und Reichsstadtverklärung am Beispiel Weißenburg, in: Diefenbacher, Michael (Hg.): Vom Adler zum Löwen. Die Region Nürnberg wird bayerisch 1775 – 1835. Ausstellungskatalog, Neustadt an der Aisch 2006, S. 383 – 399, hier S. 393 – 395. 11 Es ist der Intervention des Rothenburger Bürgermeisters zu verdanken, dass die – seit jeher für das städtische Selbstbewusstsein wichtige – Stadtmauer in den 1820er Jahren nicht nieder­gelegt wurde, vgl. Schmitt, Richard: Wem verdanken die Rothenburger Befestigungsanlagen ihre Erhaltung?, in: Die Linde. Beilage zum Fränkischen Anzeiger für Geschichte

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| Matthias Asche/Nina Fehrlen-Weiss S­ chützenverein stellte schon früh Bezüge zur vergangenen Reichsstadtzeit her, so beispielsweise beim historischen Festzug zu Ehren des bayerischen Königs am sogenannten Ludwigstag 1838 in Rothenburg. Vom Augenzeugen Philipp Schmetzer stammt über den Einzug der die alte Wehrbereitschaft symbolisierenden Schützengilde, der Zünfte in altdeutschen Handwerkerkostümen und des Landwehrbataillons mit einer reichsstädtischen Standarte folgendes Jubelgedicht: […] Hoch wehte die reichsstädtische Fahne, / Getragen von einem alten Veteran / Die zerfetzte, auf blut’gem Plane / Schon in Friedrichs Kriegen vorangeweht, / Von zerstörenden Kugeln zerrissen, / Wo der Tod in tausend Gestalten gemäht, / Sie durfte man auch hier nicht vermissen / Dieß alte Zeichen einer glücklichen Zeit / Von Rothenburgs Flor und Unabhängigkeit.12

Im Zusammenhang mit der Revolution von 1848 eskalierte zeitweise auch die allgemeine Unzufriedenheit mit der bayerischen Staatsmacht, als der progressive Rothenburger Märzverein den anlässlich der Mediatisierung der Stadt vom Rathaus entfernten Reichsadler wieder an seinen alten Platz stellte, um seinen politischen Forderungen Nachdruck zu verleihen.13 Die hier nur exemplarisch genannten Beispiele zeigen das Fortleben von spezifischen Erinnerungen an die Reichsstadtzeit im weiteren 19. Jahrhundert 14 – verbunden mit den allgemeinen historischen

und Heimatkunde von Rothenburg/Tbr. Stadt + Land 88 (2006), S. 81 – 86; noch immer Eichhorn, Erich: Zur Baugeschichte und Bedeutung der Befestigungsanlagen in der ehemaligen Reichsstadt Rothenburg ob der Tauber. Ein Beitrag zum fränkischen Wehrbau, seinen städtebaulichen und historischen Voraussetzungen, Diss., Erlangen 1947. 12 Zitiert nach: Der Ludwigstag (25. August) von 1838, in: Die Linde. Beilage zum Fränkischen Anzeiger für Geschichte und Heimatkunde von Rothenburg/Tbr. Stadt + Land 7 (1915), S. 25 – 31. 13 Holstein, Kurt: Rothenburger Stadtgeschichte. Ein Gang durch ein Jahrtausend der ehemals Freien Reichsstadt, Rothenburg ob der Tauber 1963, S. 122. 14 Asche, Matthias: Reichsstadtmemoria im 19. und 20. Jahrhundert. Beobachtungen zu Formen und Funktionen der Erinnerungskultur in ehemaligen Reichsstädten, in: Asche, ­Matthias/Nicklas, Thomas/Stickler, Matthias (Hg.): Was vom Alten Reiche blieb. Deutungen, Institutionen und Bilder des frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 19. und frühen 20. Jahrhundert, München 2011, S. 223 – 260; jetzt auch Wittmann, Helge (Hg.), Tempi passati. Die Reichsstadt in der Erinnerung, Petersberg 2014; vgl. zudem ­Hirschmann: Fortleben reichsstädtischen Bewußtseins, S. 1041 – 1057 [betrifft Nürnberg, Schweinfurt, Rothenburg, Dinkelsbühl, Weißenburg und Windsheim]; Stabenow, Cornelia: Zwischen Denkmal, Märchenbild und Trauma. Zum romantischen Nachleben der Reichsstadt Rothenburg o. d. Tauber in der Literatur und Malerei des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Müller, ­Rainer A. (Hg.): Reichsstädte in Franken, Aufsätze, Bd. 2, München 1987, S. 427 – 444; dazu den Abschnitt Reichsstadtidylle und Andenken, in: Müller, Rainer A./Buberl, Brigitte (Hgg.): Reichsstädte in Franken. Ausstellungskatalog, Bd. 1: Katalog zu

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Rückbezügen auf die vermeintlich große Zeit des deutschen Kaisertums, was freilich im Gegensatz zum propagierten bayerisch-katholischen Patriotismus stand.15 Für Rothenburg ob der Tauber ist aber im 19. Jahrhundert neben der Pflege der Memoria an die längst verklungene Reichsstadtzeit noch ein weiterer, weitaus wichtigerer – freilich ebenso mit der Reichsstadttradition eng verbundener – Aspekt zu betonen, welcher diese Stadt bis heute zu einem besonderen Ort macht: der Beginn eines als ‚Geschichtstourismus‘ zu beschreibenden Phänomens, der mit dem Anschluss der Stadt an das Eisenbahnnetz zunehmend stärker einsetzte.16 Rothenburg wurde mit seinen Stadtmauern und der erhaltenen Stadttopographie gewissermaßen zu einem „Gesamtkunstwerk“ und „Kleinod“ stilisiert,17 mithin ganz zu Beginn des „touristischen Zeitalters“ 18 als deutsches „Nationaldenkmal“ 19 begriffen.20 Vorbereitet hatten diese kulturpolitische Entwicklung die Romantiker, die die Stadt Rothenburg als Verkörperung des Mittelalters, ja geradezu als Ort nationaler Bedeutung ‚wiederentdeckt‘ hatten. „Ein Gang durch’s Tauberthal ist ein Gang durch die deutsche Geschichte, ist heute noch ein Gang durch’s alte Reich“, so schrieb 1865 der Volkskundler Wilhelm Heinrich von Riehl 21 in einem seinerzeit vielbeachteten Zeitungsartikel.22 Über das von ihm ‚wiederentdeckte‘ Rothenburg bemerkte er, es sei

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Ausstellung, München 1987, S. 279 – 285; bezeichnenderweise trägt das alte Heimatmuseum in Rothenburg (wie auch in Weißenburg) heute den Namen Reichsstadtmuseum. Moritz: Krise und Neubeginn, S. 474 f. Kamp: Entdeckung, S. 53; und – erweitert um die Darstellung der Thematik bis zum Nationalsozialismus – Hagen, Joshua: Preservation, Tourism and Nationalism. The Jewel of the German Past, Aldershot/Burlington 2006. Hagen, Joshua: Wie Rothenburg zum Kleinod der deutschen Vergangenheit wurde, in: Rupp, Horst F./Borchardt, Karl (Hg.): Rothenburg ob der Tauber. Geschichte der Stadt und ihres Umlandes, Darmstadt 2016, S. 559 – 576. Mit diesem Attribut wurde bereits in zeitgenössischen Reiseführern geworben, vgl. exemplarisch Klein, Wilhelm: Rothenburg ob der Tauber. Ein Kleinod aus deutscher Vergangenheit, Rothenburg ob der Tauber 1881. Kamp: Entdeckung, S. 99. Kamp: Entdeckung, S. 258. Eichhorn, Ernst: Das Gesamtkunstwerk Reichsstadt Nürnberg und Rothenburg. Ihre Bedeutung für den Reichsstadtbegriff in Franken. Stadttopographie – Stadtbefestigung – Reichsstadtkunst, in: Müller, Rainer A. (Hg.): Reichsstädte in Franken, Aufsätze, Bd. 2, München 1987, S.322 – 341. Zum „Wanderprofessor“ Riehl, der die Heimatschutzbewegung maßgeblich geprägt hatte, vgl. zuletzt Siemann, Wolfram: Wilhelm Heinrich Riehl (1823 – 1897), in: Weigand, Katharina (Hg.): Münchner Historiker zwischen Politik und Wissenschaft, München 2010, S. 95 – 118; bezogen auf Rothenburg auch Gröschel, Georg: Wilhelm Heinrich Riehl (1823 – 1897). Ein Entdecker Rothenburgs, in: Die Linde. Beilage zum Fränkischen Anzeiger für Geschichte und Heimatkunde von Rothenburg/Tbr. Stadt + Land 46 (1964), S. 1 – 2, 5 – 8. Riehl, Wilhelm Heinrich: Ein Gang durchs Taubertal, in: Augsburger Allgemeine Zeitung 1865, aufgenommen in: ders.: Wanderbuch, als zweiter Theil zu „Land und Leute“, Stuttgart 1869, S. 145 – 180, hier S. 148. Seine kleine Schrift wurde mehrfach nachgedruckt, zuletzt:

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| Matthias Asche/Nina Fehrlen-Weiss von allen altertümlichen Städten […] weitaus die altertümlichste, am reinsten mittelalterliche. Die Stadt ist wie erstarrt, versteinert, sie ist äußerlich stehengeblieben […]. Sie ist vergessen worden von der zerstörenden sowohl als von der neubildenden Zeit.23

Auf Riehls Spuren folgten andere, zumal spätromantische Maler (u. a. Gustav Schönleber, Eugen Bracht, Carl Spitzweg, Hans Thoma, Ludwig Richter – auch aus dem Ausland – wie der amerikanische Maler Toby Rosenthal), Architekten und Landschaftsgärtner.24 Die massenhaften, nachgerade auch zur Stimulierung des Tourismus gefertigten Postkarten, Fotografien und Grafiken fanden regen Niederschlag in zahlreichen Reiseführern – für Deutsche wie für fremde Besucher*innen.25 Eine gewisse Rolle für die Bekanntheit und Popularität Rothenburgs im Ausland spielte sicher auch die Weltausstellung in Chicago 1893, wo der deutsche Pavillon nach dem Vorbild des Rothenburger Rathaus gestaltet wurde.26 2. Geschichte als Motor für den Fremdenverkehr – Rothenburg und die Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg In Rothenburg gab es aber ebenso wie die Verklärung der ‚goldenen‘ Reichsstadtzeit im Mittelalter auch eine zweite, bis heute gerade auch touristisch wirksame Traditionslinie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert: die Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg.27 Das 1881 von Gewerbetreibenden der Stadt ins Leben

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ders.: Ein Gang durchs Taubertal. Von Rothenburg bis Wertheim, Gerchsheim 2003; dazu Gräter, Carlheinz: „… heute noch ein Gang durchs alte Reich.“ Vor 125 Jahren erschien Riehls klassischer Aufsatz über das Taubertal, in: Beiträge zur Landeskunde (1990) H. 5, S. 15 – 20. Riehl, Wilhelm, Heinrich: Wanderbuch, als zweiter Theil zu „Land und Leute“, Stuttgart 1869, S. 145 – 180, hier S. 160. Eine Übersicht bietet Stabenow: Denkmal, S. 427 – 444. Der aus Rothenburg stammende Würzburger Regimentsarzt Carl Schiller kompilierte Schriften über seine Heimatstadt, namentlich von Kunsthistorikern, vgl. Schiller, Carl: Stimmen über die Bauten und Kunstwerke Rotenburg’s ob der Tauber, Würzburg 1885. Um 1900 gab es schon eine Vielzahl an nichtdeutschsprachigen Reiseführern zu Rothenburg. Zu den frühesten gehörten beispielsweise Brock, E.: A Run round Rothenburg o. T., London 1893; Wells, Charles B.: Rothenburg on the Tauber, New York 1905, Pobida, Albert: Rothenburg, une ville du passé, Paris 1910; oder Robbers, Herrmann: Een oude Beiersche Stad, Amsterdam 1918. Kamp, Michael: Das „Deutsche Haus“ auf der Weltausstellung in Chicago 1893, in: Die Linde. Beilage zum Fränkischen Anzeiger für Geschichte und Heimatkunde von Rothenburg/Tbr. Stadt + Land 68 (1986), S. 41 – 44. Zum Folgenden vgl. auch die im Entstehen begriffene Potsdamer Dissertation von FehrlenWeiss, Nina: Der Dreißigjährige Krieg als deutscher Erinnerungsort. Ausprägungen einer

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gerufene historische Festspiel Meistertrunk 28 verweist gleichsam auf die einstige ‚Größe‘ Rothenburgs als Reichsstadt. Vom historischen Stadtbild ausgehend, entwickelte der Glasermeister Adam Hörber 29 das Konzept eines historischen Festes 30 mit Schauspiel, Umzug und Living History-Elementen.31 Dabei griff er auf eine seit Beginn des 19. Jahrhunderts bekannte Sage zurück, nach welcher der Bürgermeister von Rothenburg dank seines Sieges bei einem Wetttrinken die Stadt vor der Zerstörung durch die Truppen des katholischen Feldherrn Tilly gerettet habe.32 Das Schauspiel endet mit einem Frieden zwischen der Stadt und Tilly und mündet heute in einem Volksfest im historischen Feldlager, dem die Altstadt als Kulisse dient. Ein historisierendes Fest war nicht Hörbers erster Versuch gewesen, die Stadt für den Tourismus zu öffnen. Bereits in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts sollten die neugestaltete Kirchweihmesse sowie eine eigens initiierte Industrieausstellung Besucher*innen in die Stadt locken.33 Beide Versuche schlugen jedoch fehl, sodass schließlich die Idee eines historischen Volksschauspiels in Rothenburg diskutiert wurde. Adam Hörber erklärte sich bereit, die Suche nach einem geeigneten Thema und die Konzeption eines solchen Festspiels zu übernehmen. Die Wahl fiel schließlich auf die Zeit des Dreißigjährigen Krieges, die einerseits Gedächtniskultur in Deutschland von 1945 bis heute (Arbeitstitel). 28 Hörber, Adam/Graschberger, Toni: Der Meistertrunk oder Tilly in Rothenburg. Historisches Festspiel von Adam Hörber. Uraufführung 1881, Rothenburg ob der Tauber 1981; vgl. dazu Möhring, Hellmuth: Der Meistertrunk, in: Rupp, Horst F./Borchardt, Karl (Hgg.): Rothenburg ob der Tauber. Geschichte der Stadt und ihres Umlandes, Darmstadt 2016, S. 501 – 509. 29 Zu Hörber vgl. Faber, Martha: Adam Hörber. Leben und Werk, Rothenburg ob der Tauber 1966. 30 Zur Gattung der historischen Festspiele im 19. Jahrhundert vgl. etwa Hettling, Manfred/ Nolte, Paul: Bürgerliche Feste als symbolische Politik im 19. Jahrhundert, in: dies. (Hg.): Bürgerliche Feste. Symbolische Formen politischen Handelns im 19. Jahrhundert, ­Göttingen 1993, S. 7 – 36. 31 Lang, Wolfgang: Historische Feste in Bayern. Entstehung und Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Neuried 2001, S. 39 – 41. 32 Historisches Festspiel „Der Meistertrunk“ e. V. (Hg.): 125 Jahre Historisches Festspiel „Der Meistertrunk“ 1881 bis 2006. Verantwortliche und Rollenträger mit einer Chronik des Vereins, Rothenburg ob der Tauber 2006; zum historischen Hintergrund des Festspiels, das freilich eine „dramatische Mischung aus Dichtung und Wahrheit“ ist, vgl. Kamp: Entdeckung, S. 111. Mit dem Festspiel wird Bezug genommen auf die verhinderte Plünderung der Stadt durch die Truppen des bayerischen Liga-Feldherrn Tilly im Dreißigjährigen Krieg, vermutlich auf die Nacht vom 30. zum 31. Oktober 1631. Die 1910 von einem Berliner Indus­ triellen gestiftete Kunstuhr an der historischen Ratstrinkstube zeigt stündlich zwischen 10 und 22 Uhr die legendäre Szene zwischen General Tilly und Bürgermeister Georg Nusch, vgl. Herkner, Kurt: Die „Meistertrunk-Uhr“ zu Rothenburg ob der Tauber, in: Schriften des Historisch-Wissenschaftlichen Fachkreises „Freunde Alter Uhren“ in der Deutschen Gesellschaft für Chronometrie 27 (1988), S. 31 – 36. 33 Lang: Historische Feste, S. 38 f.

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| Matthias Asche/Nina Fehrlen-Weiss für die ehemalige Eigenständigkeit der Stadt, andererseits für einen dramatischen Abschnitt der deutschen Geschichte stand, der nach wie vor tief im Bewusstsein der Deutschen verankert war. Hinzu kam, dass sich die in der Legende beschriebene Belagerung der Stadt 1881 zum 250. Mal jährte. Eine Uraufführung in jenem Jahr bot sich also an.34 Gleich die erste Aufführung wurde zum großen Erfolg: Mithilfe von Sonderzügen wurden die Gäste aus dem gesamten Deutschen Reich nach Rothenburg gebracht.35 In den folgenden Jahrzehnten etablierte sich das histo­rische Fest Rothenburgs und lockte auch zunehmend ausländische Gäste in die Stadt. Zum 50. Jubiläum des Meistertrunks wurde in den USA in verschiedenen Tageszeitungen ausführlich über das historische Fest berichtet.36 Der touristische – und damit wirtschaftliche – Erfolg in Rothenburg rief schnell Nachahmer auf den Plan: 1894 wurden in Altdorf bei Nürnberg erstmals die Wallen­stein-Festspiele aufgeführt, und 1897 versuchten Dinkelsbühler Bürger, ihre Stadt mithilfe des Historienspiels Kinderzeche kulturell aufzuwerten.37 Beide fränkischen Städte befanden sich am Ende des 19. Jahrhunderts bezeichnenderweise in einer ähnlich prekären Situation wie Rothenburg und sahen sich sowohl mit dem politischen, als auch dem wirtschaftlichen Abstieg in die Bedeutungslosigkeit konfrontiert. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde der Veranstaltungskalender Rothenburgs mit zwei weiteren historisierenden Festen erweitert. Künftig sollten neben dem Meistertrunk auch der Schäfertanz (seit 1911) und die Hans-Sachs-Spiele (seit 1921) Gäste von auswärts in die Stadt oberhalb der Tauber locken.38 Damit etablierten sich in Rothenburg gleich m ­ ehrere 34 Historisches Festspiel „Der Meistertrunk“ e. V. (Hg.): 125 Jahre Historisches Festspiel „Der Meistertrunk“ 1881 – 2006. Verantwortliche und Rollenträger mit einer Chronik des Vereins. Rothenburg ob der Tauber 2006; Archiv des Vereins Historisches Festspiel „Der Meistertrunk“ e. V., ohne Signatur. 35 Faber: Adam Hörber, S. 24. 36 Vgl. beispielsweise: Ancient Rothenburg center of travel. Interest in Germany, in: The Detroit Free Press vom 8. März 1931; Rothenburg fetes third centenary of historic event, in: New York Herald vom 20. Mai 1931; The German Town saved by wine. Still maintains its old charm, in: Harvard Union vom 2. Juli 1931. 37 Zu den Wallenstein-Festspielen in Altdorf bei Nürnberg vgl. Böhm, Johann: Altdorf und sein Festspiel. Wallenstein als Student in Altdorf. Eine kulturhistorische Studie, München 1894; Becher, Hans Rudolf: Historische Volksschauspiele in Franken, Kulmbach 1971. Zur Kinderzeche in Dinkelsbühl vgl. Arnold, Gerfrid: Wegen der Kinder Schulzech. Die Dinkels­bühler Zechen in der Reichsstadtzeit, Dinkelsbühl 1994; Mattausch, Hans-Peter: Die Kinderzeche. Das Kinder- und Heimatfest der Stadt Dinkelsbühl, Dinkelsbühl 2005. 38 Zum „Schäfertanz“ vgl. Schnizlein, August: Altes und Neues vom Schäfertanz?, in: Die Linde. Beilage zum Fränkischen Anzeiger für Geschichte und Heimatkunde von Rothenburg/Tbr. Stadt + Land 12 (1922), S. 25 – 32; Schnurrer, Ludwig: 75 Jahre Rothenburger Schäfertanz. Begleitheft zur Prägung eines Jubiläumstalers, Rothenburg ob der Tauber 1986; zu den Rothenburger „Hans-Sachs-Spielen“ vgl. Homepage der Hans-Sachs-Spiele in Rothenburg

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Traditionen, welche in einem lokalpatriotischen Sinne die Liebe zur Heimat ausdrücken sollten sowie die Pflege der Heimatgeschichte und die Tourismusförderung zum Ziel hatten.39 Das für die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert im Verhältnis zur Einwohner*innenzahl der Kleinstadt Rothenburg nahezu beispiellose Fremdenverkehrsaufkommen gründete auf dem vom Magistrat bewusst betriebenen Stadtmarketing des baulichen Gesamtensembles als ‚altdeutsche Baukunst‘ und ‚vaterländisches Denkmal‘.40 Dabei kam es zu einer bemerkenswerten Wechselwirkung zwischen den Ansprüchen des stetig wachsenden Tourismus und der Reaktion des den Fremdenverkehr anlockenden (historischen) Stadtmarketings – und zwar über alle politischen Systeme hinweg – bis zur Gegenwart. Die Besucher*innen der Stadt mit ihren spezifischen, von romantischen beziehungsweise romantisierenden, jedenfalls gänzlich ahistorischen Mittelalter-Bildern geprägten Vorstellungen und Erwartungshaltungen übernahmen einen aktiven Part im Prozess der sich selbst als ‚mittelalterlich‘ immer wieder aufs Neue ‚erfindenden‘ Stadt, wobei deren Gebäudebestand übrigens schon am Ende der Reichsstadtzeit keineswegs mehr überwiegend mittelalterlichen Ursprungs war. Dem 1898 gegründeten Altertums- und Heimatverein Alt-Rothenburg 41 fiel insofern eine entscheidende Rolle bei der touristischen Vermarktung zu, als sich deren Mitglieder im Sinne der für die Belebung der kommunalen Wirtschaft zunehmend wichtigeren Fremdenverkehrsbranche für die Konservierung des alten Stadtbildes einsetzten und damit praktisch alle baulichen Modernisierungsansätze mit dem Argument des Heimatschutzes vom Tisch wischten. Der als ‚mittelalterlich‘ verstandene Baustil Rothenburgs stand fortan allen architektonischen ‚Verunstaltungen‘ entgegen. Vor diesem skizzierten Hintergrund rückte die fränkische Stadt nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten auch in den Fokus der neuen politischen Führung in Deutschland. Die zu diesem Zeitpunkt bereits weithin bekannte ehemalige Reichsstadt mit ihrem historischen Stadtkern, ihrem Traditionsbewusstsein, ihrer Heimatverbundenheit und der dem Nationalsozialismus schon vor 1933 in hohem ob der Tauber, http://www.hans-sachs-rothenburg.de/, letzter Zugriff 20. 12. 2019; vgl. auch Dalb, Dieter: Die drei historischen Vereinigungen, in: Reichsstadt-Jubiläum 1274 – 1974, Rothenburg ob der Tauber, Rothenburg ob der Tauber 1974, S. 75 – 85. 39 Heller, Hartmut: Zur Luxurierung der Historienspiele in Dinkelsbühl und Rothenburg o. d. T., in: Frankenland. Zeitschrift des Frankenbunds 42 (1990), S. 228 – 237. 40 In diesem Sinne bereits 1868 bei Hoffmann, Friedrich: Ein Kleinod aus deutscher Vergangenheit, in: Die Gartenlaube. Ein illustriertes Familienblatt 47 (1868), S. 748 – 751. 41 Winnerlein, Hans: 75 Jahre Verein Alt-Rothenburg. Eine Rück-, Um- und Ausschau, in: 75 Jahre Verein Alt-Rothenburg e. V., Rothenburg ob der Tauber 1973/74, S. 5 – 38; Schmitt, Richard: 100 Jahre Verein Alt-Rothenburg, in: Alt-Rothenburg 1898 – 1998. Jahrbuch des Vereins Alt-Rothenburg zum hundertjährigen Jubiläum, Rothenburg ob der Taubner 1998, S. 9 – 42.

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| Matthias Asche/Nina Fehrlen-Weiss Maße zugetanen Bevölkerung 42 erschien den neuen Machthabern als Paradebeispiel für eine deutsche Stadt, als eine „ideal Nazi Community“.43 In diesem Zusammenhang ist freilich auch darauf hinzuweisen, dass die Reinheit des als ‚mittelalterlich‘ apostrophierten Baustils Rothenburgs und der Kampf gegen alle architektonischen ‚Verunstaltungen‘ gewissermaßen ihre Entsprechung fand in der sehr früh – jedenfalls schon vor der Reichspogromnacht – einsetzenden und konsequenten Judendiskriminierung und -verfolgung. Bezeichnenderweise wurde die Stadt schon früh in den Dienst der neuen Ideologie gestellt. Zur Stärkung des Nationalgefühls und einer deutschen Identität veranstaltete die NS-Fremdenvereinsorganisation Kraft durch Freude (KdF) erstmals 1934 Reisen nach Rothenburg für deutsche Bürger*innen.44 Seit 1935 war die ehemalige Reichsstadt endgültig das Hauptziel der KdF-Reisen nach Franken. Ein Großteil der KdF-Tourist*innen in Rothenburg kam von Anfang an aus den Grenzgebieten Deutschlands – aus dem Saarland und dem Rheinland, später aus Österreich, dem Sudetenland, aus Ostpreußen und dem Memelgebiet. Insgesamt besuchten bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges jährlich zwischen 100.000 und 200.000 Gäste die Stadt, die einen sieben- bis zehntägigen Aufenthalt mit der KdF in Rothenburg verlebten. Zu diesem Zweck wurde die Altstadt unter nationalsozialistischer Regie aufwendig saniert und historisierend ausgestaltet. Sämtliche Leuchtreklameschilder wurden aus der Altstadt verbannt, stattdessen historisch getrimmte Ladenschilder angebracht und auf den Plätzen und in den Cafés der Stadt von Musikern in historischen Gewändern altdeutsche Musik gespielt. Der Fremdenverkehr in Rothenburg erlitt zwar während des Zweiten Weltkrieges einen starken Einbruch, gänzlich zum Erliegen kam er jedoch nicht. Selbst jetzt fanden die Nationalsozialisten einen Weg, das Image der ehemaligen Reichsstadt als historische Modellstadt für Propagandazwecke zu nutzen. So veranstaltete der Bund deutscher Kriegsopfer Veteranenfahrten nach und Soldaten-Urlauber-Treffen in Rothenburg, und der Festspielverein organisierte noch 1941 eine Sondervorstellung für die Mitglieder des NS-Reichskriegerbunds „Kyffhäuser“.45 42 Bauer, Daniel: Die nationalsozialistische Herrschaft in Stadt und Land Rothenburg ob der Tauber 1933 – 1945. Eine regionalgeschichtliche Untersuchung, Würzburg 2017; ders.: Die gescheiterte Demokratisierung und die NS-Zeit, in: Rupp, Horst F./Borchardt, Karl (Hgg.): Rothenburg ob der Tauber. Geschichte der Stadt und ihres Umlandes, Darmstadt 2016, S. 510 – 527. 43 Hagen, Joshua: The most German of Towns. Creating an ideal Nazi Community in Rothenburg ob der Tauber, in: Annals of the Association of American Geographers 94 (2004), S. 207 – 227; ders.: Die deutscheste aller Städte. Wie in Rothenburg eine nationalsozialistische Idealstadt geschaffen wurde, in: Die Linde. Beilage zum Fränkischen Anzeiger für Geschichte und Heimatkunde von Rothenburg/Tbr. Stadt + Land 89 (2007), S. 1 – 16. 44 Hagen: Preservation, S. 190 f. 45 Protokoll des Historischen Festspiels „Der Meistertrunk“ e. V. des Jahres 1942. Archiv des Vereins Historisches Festspiel „Der Meistertrunk“ e. V., ohne Signatur, Eintrag vom 19. Februar 1943.

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Der schwere Bombenangriff am 31. März 1945 erstickte zunächst jede Hoffnung auf ein Anknüpfen an die touristische Vermarktung Rothenburgs vor dem Krieg im Keim. Zwischen 40 und 45 Prozent der historischen Altstadt wurden zerstört, darunter auch große Teile der bis dahin komplett erhaltenen Stadtmauer und Wehranlagen.46 Trotz dieser trostlosen Ausgangslage nach dem Krieg konnte in Rothenburg bereits 1945 an alte Traditionen angeknüpft und der Wiederaufbau der Stadt begonnen werden.47 Dies verdankte Rothenburg zu einem großen Maße seiner internationalen Bekanntheit, nicht zuletzt in den USA, für die wiederum in erster Linie die Tradition des Meistertrunks und der damit einhergehenden Inszenierung Rothenburgs als ‚mittelalterliche‘ Stadt gesorgt hatte.48 Die Stadt lag nach der Kapitulation von NS-Deutschland in der amerikanischen Besatzungszone. In die in Rothenburg zunächst herrschende Unsicherheit platzte ein Schreiben des US-amerikanischen Militärgouverneurs, wie der Maler und Denkmalpfleger Willi Förster berichtete: Es ist vom Gouverneur Bull namens der Militärregierung gebeten worden, an Pfingsten das Festspiel im Kaisersaal [= Rathaus] aufzuführen. Er wird die gesamten Stäbe der Besatzungsmacht hierzu einladen und damit den Grundstock für die Finanzierung unseres Wiederaufbaus legen.49

Damit sollte nur ein paar Wochen nach Kriegsende das Festspiel Meistertrunk im ausgebrannten Rathaus erneut auf die Bühne gebracht und der Wiederaufbau der historischen Altstadt gewagt werden. Aufgrund des nur wenige Tage vor Pfingsten erlassenen Fraternisierungsverbotes konnte dies so jedoch nicht umgesetzt werden.50 Trotzdem wurde das Festspiel nicht abgesagt. Da die Nachfrage nach 46 Vasold, Manfred: Geschichte der Stadt Rothenburg ob der Tauber. Zugleich ein Stadtführer, Stuttgart 1999, S. 213. 47 Rothenburg ob der Tauber 1945. Zerstörung und Kriegsende, Rothenburg ob der Tauber 2 2004; Berger, Hanns-Jürgen/Lauterbach, Tobias: Rothenburg ob der Tauber. Der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine städtebaulich-denkmalpflegerische Analyse, Rothenburg ob der Tauber 2009. 48 Hagen, Joshua: Rebuilding the Middle Ages after the Second World War. The cultural Politics of Reconstruction in Rothenburg ob der Tauber, Germany, in: Journal of Historical Geography 31 (2005), S 94 – 112. 49 Förster, Willi: Die Aufführung des Historischen Festspiels „Der Meistertrunk“ am Pfingstmontag 1945, in: Die Linde. Beilage zum Fränkischen Anzeiger für Geschichte und Heimatkunde von Rothenburg/Tbr. Stadt + Land 5 (1951), S. 33 – 38, hier S. 33. 50 Protokoll des Historischen Festspiels „Der Meistertrunk“ e. V. des Jahres 1945. Archiv des Vereins Historisches Festspiel „Der Meistertrunk“ e. V., ohne Signatur, Eintrag vom 18. Mai 1945; Tätigkeitsbericht des Historischen Festspiels „Der Meistertrunk“ e. V. über die Jahre 1942 – 1948 erstattet in der Jahres-Hauptversammlung1949. Archiv des Vereins Historisches Festspiel „Der Meistertrunk“ e. V., ohne Signatur, Bericht vom 15. Januar 1949, S. 7.

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| Matthias Asche/Nina Fehrlen-Weiss ­ intrittskarten bei der Bevölkerung Rothenburgs und des Umlandes so groß war, E fand die Aufführung auch ohne US -amerikanische Gäste statt.51 Am Ende des Zweiten Weltkrieges fühlten sich die Rothenburger*innen ihren Vorfahren zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges besonders nahe: „Der Krieg in all seinen Phasen hat uns noch umstrickt, Darsteller, Musiker und Zuhörer, er war grausame reale Gegenwart und die Worte Adam Hörbers wurden erlebte Offenbarung.“ 52 Die 1945 entstandene Idee, das mit dem Meistertrunk erwirtschaftete Geld dem Wiederaufbau der Stadt zur Verfügung zu stellen, wurde 1947 aufgegriffen und in die Tat umgesetzt.53 Dabei stand der Grundsatz, „die Einheitlichkeit der städtebaulichen Struktur“ zu wahren und „die ehemalige Geschlossenheit des Stadtbildes wieder“ 54 entstehen zu lassen, im Mittelpunkt der Bestrebungen des Wiederaufbaus. Historisierende Nachahmungen von gänzlich zerstörten Häusern sollten vermieden werden. Die erste Aufführung des Festspiels nach dem Zweiten Weltkrieg bildete somit den Auftakt für ein außergewöhnliches Engagement der Rothenburger Bürger*innen für den Wiederaufbau ihrer Stadt und die Rückkehr zum altbewährten Wirtschaftskonzept: Geschichte als Motor für den Fremdenverkehr. Unterstützend wirkte dabei die Marketingstrategie der 1948 gegründeten Deutschen Zentrale für den Fremdenverkehr.55 Für Werbezwecke im Ausland wählte diese Institution den Slogan „Romantic Germany“ und verteilte mehrsprachige Flyer mit einem Bild der Rothenburger Altstadt auf dem Cover. Auf diese Weise wuchs die Tourismusbranche in der ehemaligen Reichsstadt von Neuem, und 1955/56 konnten die Vorkriegszahlen bei den Übernachtungen erstmals übertroffen werden. Obwohl das Stadtbild wegen des Bombenangriffs keineswegs originalgetreu erhalten ist, gilt Rothenburg bis heute als Inbegriff des romantischen Deutschlands und wird als eine der Sehenswürdigkeiten wahrgenommen, die ausländische Tourist*innen auf ihrer Reise durch Deutschland besucht haben mussten.56 Dies 51 Protokoll des Historischen Festspiels „Der Meistertrunk“ e. V. des Jahres 1945. Archiv des Vereins Historisches Festspiel „Der Meistertrunk“ e. V., ohne Signatur, Eintrag vom 18. Mai 1945; Tätigkeitsbericht des Historischen Festspiels „Der Meistertrunk“ e. V. über die Jahre 1942 – 1948 erstattet in der Jahres-Hauptversammlung 1949. Archiv des Vereins Historisches Festspiel „Der Meistertrunk“ e. V., ohne Signatur, Bericht vom 15. Januar 1949, S. 7. 52 Förster: Aufführung, S. 37. 53 Schreiben des Hauptausschusses des Historischen Festspiels „Der Meistertrunk“ e. V. an alle Mitglieder. Archiv des Vereins Historisches Festspiel „Der Meistertrunk“ e. V., ohne Signatur, Schreiben vom 23. Juni 1947. 54 Berger/Lauterbach: Wiederaufbau, S. 110. 55 Heute Deutsche Zentrale für Tourismus, vgl. Berktold-Fackler, Franz/Krumbholz, Hans: Reisen in Deutschland. Eine kleine Tourismusgeschichte, München/Wien 1997, S. 74 – 76. 56 In diesem Sinne vgl. etwa Bodenschatz, Harald/Geisenhof, Johannes: Die alte Stadt – zu sehr geliebt?, in: Deutsches Architektenblatt. Bundesteil 41/4 (2009), S. 10 – 13.

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liegt sicherlich vor allem daran, dass die großen Zerstörungen während des Zweiten Weltkriegs weitgehend unbekannt sind und die historischen Inszenierungen der verschiedenen Vereine der Stadt regelmäßig vergangene Zeiten wieder aufleben lassen. Dadurch erscheint die gesamte Altstadt auch noch heute wie schon zu Zeiten Wilhelm Heinrich von Riehls als lebendiges, begehbares Museum – als würden die Besucher*innen mit dem Durchschreiten von einem der Stadttore in eine vergangene Zeit reisen. Das Ziel, das der Festspielverein mit seinem Meistertrunk verfolgte, wurde bereits 1958 folgendermaßen formuliert: „Der Zuschauer soll nicht ein Spektakulum auf der Bühne schauen, das vor ihm abläuft, er soll die Schicksalstage erleben.“ 57 An diesem Anspruch des Vereins hat sich bis heute nichts geändert. Dass die Akteur*innen ihr Ziel jedes Jahr aufs Neue erreichen, zeigt das Schlagwort ‚lebendige Geschichte‘, mit dem die Zeitungen den Meistertrunk regelmäßig belegen und bewerben.58 Von Seiten der städtischen Verwaltung scheint es nie Bestrebungen gegeben zu haben, dieses Missverständnis um die originalgetreue Altstadt aufzuklären. Vielmehr spielt diese Fehldeutung den Verantwortlichen im Rathaus offenbar in die Karten, wie der ehemalige Oberbürgermeister Herbert Hachtel deutlich machte: „Wir sind stolz darauf, daß dem so ist, zeigt dieses Unwissen doch, daß der histo­risierende Wiederaufbau im Wesentlichen geglückt ist.“ 59 Das hehre Ziel der Landes­denkmalpflege, eben einen solchen ‚historisierenden Wiederaufbau‘ vermeiden zu wollen, scheint in Rothenburg selbst nicht angekommen zu sein. Auch die Reiseliteratur zur Tauberstadt ignoriert die Folgen des Bombenangriffs. Als Höhepunkt dessen kann eine Ausgabe der Reise- und Kulturzeitschrift Merian von 1954 angeführt werden: Hier wurden die Sehenswürdigkeiten an der Romantischen Straße einem breiten Publikum vorgestellt. Die Wahl des Titelbildes fiel dabei aber auf die Alte Schmiede in Rothenburg – eines der Gebäude, die im März 1945 völlig zerstört worden waren und nach historischem Vorbild komplett nachgebaut wurden.60 An tatsächlich originalen Gebäuden, die für das Cover dieser Ausgabe geeignet gewesen wären, hätte es den Zeitschriftenmachern eigentlich nicht gemangelt. 57 „Kaiserlicher Feldherr“ nahm Abschied vom Festspiel, in: Fränkische Landeszeitung vom 8. Dezember 1958. 58 Fast friedensmäßige Pfingsten, in: Fränkische Landeszeitung vom 9. Juni 1949; „Kaiserlicher Feldherr“ nahm Abschied vom Festspiel, in: Fränkische Landeszeitung vom 8. Dezember 1958; Über Pfingsten in Rothenburg. Die Geschichte wird lebendig, in: Fränkischer Anzeiger vom 4. Juni 1981; Rettung unter freiem Himmel, in: Franken – Das Franken Magazin mit Tipps & Veranstaltungskalender (2006), S. 12. 59 Hachtel, Herbert: Kulturpflege am Beispiel der Stadt Rothenburg ob der Tauber, in: ­Schönere Heimat 85 (1996), S. 209 – 212, hier S. 210. 60 O. A.: Die Romantische Straße, Merian. Die Lust am Reisen 7/12 (1954); Hagen: ­Preservation, S. 252 – 254.

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| Matthias Asche/Nina Fehrlen-Weiss 3. Rothenburg heute – Tourismus und Histotainment Am Beispiel des Titelbildes der Zeitschrift Merian wird die Wirkkraft der seit dem 19. Jahrhundert kaum veränderten Marketingstrategie Rothenburgs besonders deutlich: die Pflege der romantisierenden Reichsstadtmemoria des Mittelalters. Ein wichtiger Akteur in Rothenburg seit dem frühen 20. Jahrhundert ist neben den verschiedenen Veranstaltern der historischen Feste (Meistertrunk, Schäfertanz, Hans-Sachs-Spiele) nach wie vor der Verein Alt-Rothenburg e. V. Einen Höhepunkt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellte das Reichsstadtjubiläum 1974 dar, aus dem die jährlich im September gefeierten Reichsstadt-Festtage 61 hervorgingen. Im Rahmen dieses Festes erleben Gäste aus aller Welt dank der zahlreichen Living History-Darsteller verschiedene Stationen der Reichsstadtgeschichte. Die Lage Rothenburgs an der Kreuzung der beiden touristischen Themenstraßen – der Romantischen Straße 62 und der Burgenstraße 63 – stellt heute ein weiteres wichtiges Standbein des städtischen Werbens auf dem umkämpften Tourismusmarkt dar. Ein jüngst von dem für den Meistertrunk verantwortlichen Festspielverein erlangter Erfolg ist die Aufnahme des historischen Festes in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes 2016.64 Auch diese Auszeichnung wird in den Dienst der Fremdenverkehrswerbung gestellt. Derzeit strebt die Stadt die Aufnahme der Altstadt in das UNESCO-Weltkulturerbe an, zu welchem bezeichnenderweise bereits mit den Domen in Aachen (seit 1978), Speyer (seit 1981) und Köln (seit 1996), der Altstädte von Lübeck (seit 1987), Goslar (seit 1992) und Regensburg (seit 2006) sowie dem Bremer Rathaus samt Roland (seit 2004) eine überproportional große Zahl von Gebäuden und Gebäudeensembles ehemaliger Reichsstädte gehört. So verwundert es eigentlich, dass Rothenburg ob der Tauber nicht Eingang in die Sammlung der Deutschen Erinnerungsorte von Etienne François und Hagen Schulze gefunden hat,65 obwohl es die gegenwärtig rund 11.000 Einwohner*innen zählende Stadt angesichts der jährlich rund zweieinhalb Millionen deutschen und ausländischen Touristen durchaus verdient hätte. 61 Homepage von Rothenburg ob der Tauber, https://www.rothenburg-tourismus.de/­ veranstaltungen/reichsstadt-festtage/, letzter Zugriff 14. 12. 2019. 62 Homepage der Romantischen Straße, https://www.romantischestrasse.de, letzter Zugriff 14. 12. 2019; vgl. dazu zuletzt Roth, Peter: Touristische Leitbilder. Das Beispiel Romantische Straße, in: Seitz, Erwin (Hg.): Fallstudien zum Tourismus-Marketing, München 22007, S. 219 – 231. 63 Homepage der Burgenstraße, https://www.burgenstrasse.de, letzter Zugriff 14. 12. 2019; vgl. dazu zuletzt Born, Ariane: Vermarktung von Burgen am Beispiel einer touristischen Straße, in: Laß, Heiko (Hg.): Burgen. Vermittlung und Vermarktung, Marburg 2013, S. 33 – 37. 64 Deutsche UNESCO-Kommission e. V. (Hg.): Wissen – Können – Weitergeben. B ­ undesweites Verzeichnis Immaterielles Kulturerbe. A bis Z, Bonn 2017, S. 71. 65 François, Etienne/Schulze, Hagen (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2001.

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Bei all dem Nutzen, den die Stadt Rothenburg aus dieser Außendarstellung zieht, darf eines jedoch nicht vergessen werden: die Wirkung, welche die Pflege der Heimatgeschichte nach innen entfaltet. Gertrud Schubart, die Frau des ehemaligen Bürgermeisters Oskar Schubart, brachte dies auf den Punkt: „Ein echter Rothenburger wird nämlich schon an der Mutterbrust zum Patrioten.“ 66 Damit benannte sie 1981 das zweite zentrale Motiv der Geschichtsbegeisterung der Rothenburger Bürger*innen neben dem Willen, den Fremdenverkehr in der Stadt zu fördern: den Lokalpatriotismus und die Identifikation mit der Heimatstadt. Aus eben diesem Grunde setzt auch die Kommunalverwaltung trotz fortschreitenden baulichen Substanzverlustes bis heute weiterhin auf eine Politik der unbedingten Konservierung des vermeintlich ‚mittelalterlichen‘ Stadtbildes und verzichtet auf bauliche Modernismen. Diese bemerkenswerte Wechselwirkung zwischen den Ansprüchen des stetig wachsenden Tourismus und der Reaktion des den Fremdenverkehr anlockenden (historischen) Stadtmarketings – und zwar über alle politischen Systeme hinweg bis zur Gegenwart 67 – war und ist die Politik der Stadt seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Durch einen konsequenten „Baufolklorismus“ 68 mit „banalromantische[n] Vorstellungen vom Mittelalter mit rustikalem Fachwerk und Spitzbogenidylle“,69 ohne dass architektur- und bautechnisch andere Stile zugelassen wurden, wurde Rothenburg mit seinen „romantische[n] Traditionsreservate[n]“ seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert gewissermaßen immer ‚mittelalterlicher‘ – ganz im Dienste der authentizitätssuchenden Tourist*innen.70 Die Stadt stellt sich damit auch in die Tradition des bayerischen Königs ­Ludwig II ., der bereits im ersten Festspieljahr das Engagement der Rothenburger für ihre Stadt lobte.71 Daran anknüpfend ist seit 1964 der jeweils amtierende Ministerpräsident Bayerns Schirmherr des Meistertrunk und verweist in seinen

66 Schubart, Gertrud: Eine alte Stadt lebt mit ihrer Vergangenheit. 100 Jahre „Historischer Meistertrunk“ in Rothenburg ob der Tauber. Sendung im Bayerischen Rundfunk vom 31. Mai 1981. 67 So die Hauptthese der einschlägigen, einen weiten chronologischen Bogen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart schlagenden Studie von Hagen: Preservation. 68 Begriff nach Kamp, Michael: Baufolklorismus in Rothenburg ob der Tauber in der wilhelminischen Zeit, in: Jahrbuch für Hausforschung 38 (1989), S. 169 – 192; vgl. auch Maaß, Philipp: Die moderne Rekonstruktion. Eine Emanzipation der Bürgerschaft in Architektur und Städtebau, Regensburg 2015, S. 207 – 209. 69 Kamp: Entdeckung, S. 252. 70 Wöhler, Karlheinz: Touristifizierung von Räumen. Kulturwissenschaftliche und soziologische Studien zur Konstruktion von Räumen, Wiesbaden 2011, S. 119. 71 Lampert, Friedrich: Königlicher Dank an die Stadt Rothenburg. Ein Bericht über die erste Aufführung des historischen Festspiels, in: Festschrift des „Fränkischen Anzeigers“ Pfingsten 1951.

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| Matthias Asche/Nina Fehrlen-Weiss Grußworten regelmäßig auf die „Bürgertreue“ 72, die „Heimattreue“ 73, den „Idealismus [und] die Traditionstreue“ 74 der Festspielakteur*innen. Im Falle Rothenburgs scheint dieses Konzept jedenfalls aufgegangen zu sein, wenn man einen Blick auf den Flyer der Stadtverwaltung für die seit 1974 jährlich begangenen, an die Übergabe der Reichsstadtprivilegien durch König Rudolf I. erinnernden Reichsstadttage wirft: Wer sich mit deutscher Geschichte befassen möchte, der hat zwei Möglichkeiten. Entweder er quält sich durch mehrere Meter trockener Geschichtsbücher oder er stattet Rothenburg ob der Tauber im September einen Besuch ab. Wobei Letzteres mit Sicherheit kurzweiliger ist. Und da während dieses Historienfestes die ganze Geschichte der alten Reichsstadt nachgespielt wird, ist auch jedes Jahrhundert mit seinen Trachten und Kostümen, aber auch seinen besonderen Eigenheiten präsent. Natürlich gehört auch der Dreißigjährige Krieg zur Stadtgeschichte. Wenn am Samstagabend das Taubertal beim großen Feuerwerk erleuchtet wird, so soll dies an die ‚brennende Stadt‘ im Jahre 1631 erinnern. Mit Kanonendonner und Feuerschein versinkt die Stadt in der Nacht, um am nächsten Morgen wieder unbeschwert weiterzufeiern.75

Daraus geht der Anspruch der städtischen Verwaltung wie auch der Laienakteur*innen der historischen Feste Rothenburgs klar hervor: Geschichte authentisch erlebbar zu machen, das Eintauchen in vergangene Zeiten zu ermöglichen, und dies im Gegensatz zu den die Geschichte ‚trocken‘ vom Elfenbeinturm herab dozierenden Historiker*innen – die Wirkung und der Erfolg der Feste scheint ihnen recht zu geben: Gemäß einer Erhebung der Deutschen Zentrale für Tourismus stand 2017 die Rothenburger Altstadt nach dem Miniatur Wunderland in Hamburg, dem Europa-Park in Rust, dem Schloss Neuschwanstein sowie dem Bodensee mit der Insel Mainau und der Klosterinsel Reichenau an fünfter Stelle der beliebtesten Sehenswürdigkeiten Deutschlands.76

72 Was Ministerpräsident Goppel sagte … „Miteinander und füreinander wirken!“, in: Fränkischer Anzeiger vom 20. Mai 1964. 73 Strauß, Franz-Josef: Grußwort des Schirmherrn, in: Fränkischer Anzeiger vom 4. Juli 1981. 74 Strauß: Grußwort. 75 Aus dem Flyer zum Festprogramm der Reichsstadt-Festtage 2009, vgl. http://www.­rothenburg. de/index.php?PHPSESSID=66ef11d200db17060e4bc83a607cb114&get=1474, letzter Zugriff 3. 9. 2009. 76 Die Top 100 Sehenswürdigkeiten in Deutschland, vgl. https://www.germany.travel/de/­ staedte-kultur/top-100/germany-travel-attractions.html, letzter Zugriff 14. 12. 2019.

Hans-Rudolf Meier

Romantische Werte in der Denkmalpflege

Die Denkmalpflege wird von ihren Protagonist*innen gerne als „Kind des Historismus und Enkel der Aufklärung“ bezeichnet.1 Georg Dehio, der zu den Mitbegründern der modernen Denkmaltheorie gehörte, hat 1905 in seiner Straßburger „Kaiserrede“ diese Genealogie bereichert: der Historismus habe „außer seiner echten Tochter, der Denkmalpflege, auch ein illegitimes Kind gezeugt, das Restau­rationswesen“.2 Dieses scheint für ihn – in welchem verwandtschaftlichen Verhältnis auch immer – aus der Romantik zu schöpfen, denn Dehio erklärt zu den Unterschieden zwischen der „immer der Wirklichkeit“ verpflichteten Denkmalpflege und dem die Fiktion bedienenden Restaurationswesen: „Hier wie überall hat die Romantik den gesunden Sinn des konservativen Prinzips verfälscht. Man kann eben nur konservieren, was noch ist“.3 Allerdings muss auch Dehio in Hinblick auf die Ursprünge der Denkmalpflege einräumen, dass diese „ohne die Dichter der Romantik, die Gelehrten der historischen Schule […] niemals möglich geworden“ wäre. „Im Laufe ihrer weiteren, sich abklärenden Entwicklung“ habe die Denkmalpflege Mühe genug gehabt, mehr noch als irgendeine andere der historischen Disziplinen, ihre Mitgift romantischer Illusionen wieder abzustoßen; ja sie ist bis auf den heutigen Tag noch nicht völlig von ihnen befreit; vergessen wollen wir nie, woher die Grundgesinnung stammt, mit der unsere Denkmalpflege steht und fällt.4

Denn durch die für Dehio ambivalente Romantik sei „die Künstlerwelt stofflich für das Mittelalter gewonnen worden“.5 Dehio spricht damit an, dass die „Entdeckung“ des Mittelalters wesentlich den Künstlern der frühen Romantik zu verdanken sei und dieses Interesse auch eine der Wurzeln der Denkmalpflege ist. Was er als romantische Illusionen des 1 Huse, Norbert: Denkmalpflege. Deutsche Texte aus drei Jahrhunderten, München 1984, S. 11. 2 Dehio, Georg: Denkmalschutz und Denkmalpflege im neunzehnten Jahrhundert. Festrede an der Kaiser-Wilhelms-Universität zu Straßburg, den 27. Januar 1905, in: ders.: Kunsthisto­ rische Aufsätze, München/Berlin 1914, S. 261 – 282, hier S. 274. 3 Dehio: Denkmalschutz, S. 274. 4 Dehio: Denkmalschutz, S. 267. 5 Dehio: Denkmalschutz, S. 277.

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| Hans-Rudolf Meier Restaurierungswesens kritisiert, ist das aus dem neu erwachten Mittelalterinteresse resultierende Bemühen um Wiederherstellung eines vermeintlich ursprünglichen oder einst geplanten Zustands. Zentrale Belege für dieses Bestreben sind die Marienburg in Ostpreußen oder der Kölner Dom, die durch die erfolgreichen Initiativen für die Renovierung bzw. den Weiterbau in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu deutschen „Nationaldenkmälern“ geworden sind. Dehios Bemühen, sich von diesem Tun des eben zu Ende gegangenen Jahrhunderts abzusetzen, ist nicht nur typisch für das zu Beginn des 20. Jahrhunderts in vielen Bereichen fassbare Streben, den Historismus zu überwinden, s­ ondern widerspiegelt auch den damaligen Diskurs in der noch jungen Disziplin der Kunstgeschichte: In demjenigen Moment, in dem sich die Kunstgeschichte als eigenständiges wissenschaftliches Fach etabliert hat, setzt sie an, die Denkmalpflege in ihren Zuständigkeitsbereich zu übernehmen und sie zu Lasten der dort bisher dominierenden Künstler-Architekten zu verwissenschaftlichen.6 Man orientiert sich dabei an den Naturwissenschaften und konstruiert die Romantik als Gegenbild. 1. Alois Riegl und der Alterswert als Einheits- und Ganzheitsperspektive Gleichzeitig mit Dehio – und in einem durchaus spannungsvollen Verhältnis zu ihm – hat in Wien ein anderer Kunsthistoriker Entscheidendes für die weitere Theoriebildung des Faches geleistet: Alois Riegl, der 1905, im Jahr von Dehios „Kaiserrede“, erst 47-jährig starb, hatte zwei Jahre zuvor mit dem „Modernen Denkmalkultus“ die bis heute wohl wichtigste deutsche Schrift zur Denkmaltheorie verfasst. Riegl argumentierte erstmals mit Denkmalwerten und konstatierte analog zu Bewertungsfragen in der Kunst, dass „nicht den Werken selbst kraft ihrer ursprünglichen Bestimmung […] Sinn und Bedeutung von Denkmalen“ zukomme, sondern „wir modernen Subjekte“ es seien, die den Denkmalen Sinn und Bedeutung zusprächen.7 Er formulierte damit die fundamentale Erkenntnis, dass Denkmalwerte nicht ontologisch sind, sondern rezeptiv durch die Gesellschaft festgelegt werden. In einer eingängigen Systematik historisierte und hierar­chisierte er die Denkmalwerte und unterteilte sie in Erinnerungswerte 6 Will, Thomas: Wissenschaftler oder Künstler vor dem Denkmal? Anmerkungen zu Dehios Analyse der Rolle von Architekt und Kunsthistoriker in der Denkmalpflege, in: Deutsche Kunst und Denkmalpflege 50/2 (1992), S. 102 – 108. 7 Riegl, Alois: Der Moderne Denkmalkultus. Sein Wesen und seine Entstehung, Wien/Leipzig 1903; Zit. ders.: Kunstwerk oder Denkmal? Alois Riegls Schriften zur Denkmalpflege, hg. von Ernst Bacher, Wien u. a. 1995, S. 53 – 144; Wohlleben, Marion: Konservieren oder Restaurieren? Zur Diskussion über Aufgaben, Ziele und Probleme der Denkmalpflege um die Jahrhundertwende, Zürich 1989, S. 80.

Romantische Werte in der Denkmalpflege |

und Gegenwartswerte: Letztere umfassen Gebrauchswert und Kunstwert, erstere in ihrer geschichtlichen Abfolge den „gewollten Erinnerungswert“, den „historischen Wert“ und den „Alterswert“. Von diesen zuletzt genannten Kategorien hätten nach Riegls Argumentation der „gewollte Erinnerungswert“ und der „historische Wert“ ihre Bedeutung vor allem im 19. Jahrhundert gehabt, während für den „modernen“ Menschen, den Zeitgenoss*innen, der „Alterswert“ am wichtigsten sei. Folgt man Stefan Matuscheks und Sandra Kerschbaumers Konzept der „Romantik als Modell“, wird die Bedeutung des Alterswerts von Riegl als Festhalten an einer „Einheits- und Ganzheitsperspektive“ romantisch begründet.8 Riegls Text, der eigentlich eine erläuternde Einführung zu einem Denkmalschutzgesetz sein sollte, ist schwierig zu lesen und erscheint streckenweise reichlich hermetisch. Er basiert auf dem Kerngedanken, die Kunst entwickle sich nach eigenen Gesetzen ähnlich der Natur, was der Verfasser bereits 1899 in einem Aufsatz zur „Stimmung als Inhalt moderner Kunst“ ausgeführt hatte.9 Auch das „Kunstwollen“ steht in diesem Zusammenhang, ein Begriff, der zwar nicht von Riegl stammt, sondern bereits 1856 von Heinrich Brunn geprägt wurde, der aber durch Riegl und sein Werk zur „Spätrömischen Kunstindus­ trie“ größte Wirkung erzielte und u. a. eine neue Sicht auf die Kunst der Spätantike ermöglichte.10 Essentiell war für Riegl der Entwicklungsgedanke, dem er für die Moderne Gesetzescharakter zuschrieb, sei es doch „gerade der reine, gesetzliche Kreislauf des naturgeschichtlichen Werdens und Vergehens, dessen ungetrübte Wahrnehmung den modernen Menschen vom Anfang des 20. Jahrhunderts“ erfreue.11 Der Kollektivsingular meint dabei tatsächlich alle Menschen, habe doch der Alterswert gegenüber den anderen Werten den Vorzug, „dass er den Anspruch erheben zu dürfen glaubt, sich an Alle zu wenden, für Alle ohne Ausnahme gültig zu sein.“ Besonders deutlich wird der Wunsch nach einer „einheitlich umfassende(n) Sinnstiftung“ im Angesicht moderner Individualisierungs- und Partikularisierungstendenzen im folgenden Abschnitt:

8 Matuschek, Stefan/Kerschbaumer, Sandra: Romantik als Modell, in: Fulda, Daniel/­Kerschbaumer, Sandra/Matuschek, Stefan (Hg.): Aufklärung und Romantik. Epochenschnittstellen, Paderborn 2015, S. 141 – 156. 9 Riegl, Alois: Stimmung als Inhalt moderner Kunst, in: Die graphischen Künste 22 (1899), S. 47 – 56. 10 Brunn, Heinrich: Über die Grundverschiedenheit im Bildungsprinzip der griechischen und ägyptischen Kunst, in: Rheinisches Museum für Philologie N. F. 10 (1856), S. 154 – 166; Riegl, Alois: Spätrömische Kunstindustrie nach den Funden in Österreich-Ungarn im Zusammenhange mit der Gesamtentwicklung der Bildenden Künste bei den Mittelmeervölkern, Wien 1901. 11 Riegl: Denkmalkultus, S. 70.

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| Hans-Rudolf Meier Der ganze […] Prozeß, der vom gewollten Denkmalwert über den historischen Wert schließlich zum Alterswert geführt hat, ist vom allgemeinen Standpunkt betrachtet bloß eine Teilerscheinung der die neuere Zeit durchaus beherrschenden Emanzipation des Individuums, die […] seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mindestens für eine bestimmte Zahl europäischer Kulturvölker an Stelle der uns überkommenen klassischen Grundlagen der Bildung allmählich wesentlich andere zu setzen sich anschickt. Das für diese Wandlung charakteristische […] Bestreben, alles physisch und psychische Erleben nicht in seiner objektiven Wesenheit, […] sondern in seiner subjektiven Erscheinung, das heißt in den Wirkungen, die es auf das […] Subjekt ausübt, zu erfassen, gelangt in dem skizzierten Wandel des Erinnerungswertes insofern zu deutlichem Ausdrucke, als der historische Wert noch dem einzelnen Ereignis […] Interesse abgewinnt, während der Alterswert von der lokalisierten Einzelerscheinung als solcher im Prinzipe bereits vollständig absieht und in jedem Denkmal […], unter bloßer Berücksichtigung derjenigen Eigenschaften, die auf das Aufgehen des Denkmals in der Allgemeinheit hinweisen (Altersspuren), an Stelle derjenigen, die seine ursprüngliche, geschlossene, objektive Individualität verraten, lediglich die subjektive Stimmungswirkung schätzt.12

Aus der bereits subjektivierten Ausrichtung auf Einheitserfahrungen resultiert konsequenterweise auch ein entsprechend romantisches Handlungsmodell. Denn „der reine erlösende Eindruck natürlichen gesetzlichen Vergehens darf nicht durch die Beimischung willkürlich aufgepfropften Werdens getrübt werden.“ Der Kultus des Alterswerts verdamme demnach nicht allein die gewaltsame Zerstörung des Denkmals, wodurch er erhaltend wirke, „sondern wenigstens im Prinzip auch jede konservierende Tätigkeit, jede Restaurierung als nicht minder unberechtigten Eingriff in das Walten der Naturgesetze“. 13 Der Alterswert erweist sich allerdings als Kippfigur, dient er doch einerseits als Hauptargument der Erhaltungsbegründung, zugleich arbeite er aber, wie Riegl explizit hervorhebt, an seiner eigenen Zerstörung. Riegl billigt zwar zu, dass man den natürlichen Verfall mit konservierenden Maßnahmen verlangsamen könne – und kommt hier der Argumentation John Ruskins fünfzig Jahre zuvor nahe.14 Am 12 Riegl: Denkmalkultus, S. 65 f. 13 Riegl: Denkmalkultus, S. 72. 14 Ruskin verbietet, Hand an das authentische Bauwerk zu legen, „except only so far as may be necessary to sustain, to protect it. The necessary operations consist in substituting new stones for decayed ones, where they are absolutely essential to the stability of the fabric; in propping, with wood or metal, the portions likely to give way; in binding or cementing into their places the sculptures which are ready to detach themselves; and in general care to remove luxuriant weeds, and obstructions of the channels for the discharge of the rain. But no modern or imitative sculpture ought ever, under any circumstances, to be mingled with the ancient work.“ Ruskin, John: The opening of the Crystal Palace considered in some of its relations to the prospects of art, London 1854, S. 10.

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Prinzip der Endlichkeit des Denkmals hält er aber fest; diese als solche sei nicht weiter schlimm, denn die „ewige Schaustellung des Kreislaufes vom Werden und Vergehen“ beinhalte ja auch, dass „an Stelle der heute existierenden Denkmale künftighin andere getreten sein werden.“ 15 In der Ablehnung restaurierender Eingriffe trifft sich Riegl mit Dehio, der aber aus einer ganz anderen Richtung argumentiert, den letzten Beweggrund für die Denkmalpflege in der „Achtung vor der historischen Existenz als solcher“ sieht und gegen Riegls individuelles Denkmalerleben stichelte: „Denkmäler schützen, heißt nicht Genuss suchen, sondern Pietät üben“ – Pietät, die Dehio mit der Nation als Träger der Denkmalpflege verband.16 Riegl wiederum kritisierte diese Bindung an die Nation in der posthum erschienenen Replik „Neue Strömungen in der Denkmalpflege“ als ein Relikt „des Bannes der Anschauung des 19. Jh.“.17 Hauptmotiv des modernen Denkmalkultus sei das „Menschheitsgefühl“, auch wenn das gelegentlich noch „in der beschränkten Form des Nationalgefühls zum Ausdruck“ gelange. 2. Denkmalwerte und der malerische Blick Die fundamentale Bedeutung des Alterswerts in der Argumentation der denkmalpflegerischen Praxis wird deutlich in Riegls Gutachten zur geplanten Freilegung der Reste des spätantiken Palastes Kaiser Diokletians im dalmatischen Split, das damals noch Teil des Habsburgerreichs war, weshalb Riegl als Generalkonservator der Zentral-Kommission dazu Stellung zu nehmen hatte. Die Stadt Split/Spalato hatte sich seit dem Frühmittelalter in den Resten des spätrömischen Kaiserpalastes entwickelt, die nun unter Zerstörung jüngerer Zeitschichten archäologisch freigelegt werden sollten (Abb. 1). Riegl setzte sich für den Erhalt der nachantiken Bebauung ein, u. a. für das barocke Episkopium: Ohne Einschränkung entfaltet sich der ansehnliche Alterswert des Gebäudes, der hauptsächlich in der sympathischen Färbung der alten bräunlichgelben Steinquadern beruht, aber auch in den anspruchsvollen Verhältnissen, die fast noch an die mittelalterliche Weise erinnern, eine Stütze findet.18

15 Riegl: Denkmalkultus, S. 72. 16 Dehio: Denkmalschutz, S. 268. 17 Riegl, Alois: Neue Strömungen in der Denkmalpflege, in: ders.: Kunstwerk oder Denkmal?, S. 217 – 233, hier S. 226. 18 Riegl, Alois: Bericht über eine im Auftrag des Präsidiums der K. K. Zentral-Kommission zur Wahrung der Interessen der mittelalterlichen und neuzeitlichen Denkmale innerhalb des ehemaligen Diokletianischen Palastes zu Spalato durchgeführte Untersuchung (1903), in: ders.: Kunstwerk oder Denkmal?, S. 173 – 181, hier S. 177.

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| Hans-Rudolf Meier Abb. 1 Split/Spalato, Peristyl des ehemaligen Diokletianspalastes mit mittelalterlichen und neuzeitlichen Anbauten und modernen Nutzungen, die zur Freistellung des spätantiken Monuments entfernt werden sollten. Ansichtskarte, um 1905.

Weiter wird mit dem Malerischen, Pittoresken argumentiert: Jedenfalls ist der Anblick des Peripteros, wie er jetzt vom baumbesetzten Hof des Episkopiums aus genossen werden kann, ein so reizender, dass man alle künstlerischen Folgen wohl erwägen sollte, bevor man sich hier zu radikalen Änderungen entschließt.19

Alte Steine und Stadtgrün tragen gemeinsam zum malerischen Ensemble bei, Natur und Stadt werden zusammen gesehen. Den malerischen Blick finden wir ganz explizit auch bei Riegls Nachfolger Max Dvořák, der in seinen „Katechismus der Denkmalpflege“ (1916) die einleitende Frage, was denn Denkmalpflege sei, mit der Beschreibung des anmutigen Bildes eines idealtypischen Städtchens N. beginnen lässt, dessen Gewirr von alten kleinen Häuschen und den „freundlichen Stadtplatz“ beschreibt, um dann den Kontrast zu den brutalen Eingriffen der Moderne anzuklagen.20 Den ­Antagonismus unterstreicht 19 Riegl: Bericht, S. 177. 20 Dvořák, Max: Katechismus der Denkmalpflege, Wien 1916, zitiert nach dem Reprint in: ders.: Schriften zur Denkmalpflege, gesammelt und kommentiert von Sandro Scarrocchia, Wien/Köln/Weimar 2012, S. 521 – 720, hier S. 533.

Romantische Werte in der Denkmalpflege | Abb. 2 Bildpaare zur Visualisierung des Verlusts an urbaner Qualität durch modernebedingte Abbrüche in Max Dvořáks Katechismus der Denkmalpflege (1916). Abb. 2a zeigt als Beispiel das alte Örteltor in Steyr, 15. Jh., das 1891 niedergerissen wurde. Abb. 2b zeigt als „Gegenbeispiel“, die Stelle, an der das Tor stand mit dem Kommentar „Man sieht, dass durch die Demolierung, abgesehen von dem Verluste eines ehrwürdigen Bauwerkes, nichts erzielt wurde, als eine ebenso hässliche wie zwecklose Lücke im Stadtbilde.“ Quelle: Repro aus: Dvořák, Max: Katechismus der Denkmalpflege, Wien 1916, in: ders.: Schriften zur Denkmalpflege, gesammelt und kommentiert von Sandro Scarrocchia, Wien/Köln/Weimar 2012, S. 521 – 720, hier S. 533.

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| Hans-Rudolf Meier er mit einer entsprechenden Bildrhetorik (Abb. 2), die vom Heimatschutz-Begründer und späteren Rassen-Ideologen Paul Schultze-Naumburg die Beispiel-Gegenbeispiel-Paarung übernimmt.21 Die Bildpaare visualisieren den Verlust an urbaner Qualität durch modernebedingte Abbrüche oder Zufügungen sowie die „Folgen falscher Verschönerungssucht“. Wie bei den Auseinandersetzungen um die Vorhaben in Split stehen bei Dvořák nicht nur die herausragenden Monumente im Fokus denkmalpflegerischen Interesses, vielmehr richtete er die Aufmerksamkeit auf ganze Stadtensembles und Städtebilder. Daran schließt knapp sechzig Jahre später, im Europäischen Denkmalschutzjahr 1975, als sich die Denkmalpflege in der Folge der Krise der Moderne – die nicht zuletzt eine Krise der modernen Stadtplanung war – erneut der Stadt als Schutzgegenstand zuwendete, die Bildrhetorik des Katalogs der Wanderausstellung des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz an (Abb. 3).22 Das 20. Jahrhundert hatte sich allerdings nicht so entwickelt, wie Riegl es prophezeit hatte – und dies nicht nur, aber auch bezüglich des Alterswerts: Wenn er 1903 schrieb, der moderne Mensch empfinde den Eingriff in ein Denkmal als ebenso störend „wie einen Eingriff in seinen eigenen Organismus“ 23, so erscheint dies heute, im Zeitalter von Anti-Aging, plastischer Chirurgie und der baulichen Rekonstruktionen „Neuer Altstädte“, gleichermaßen überholt. Bemerkenswert bleibt die Parallelität der Phänomene. Der niederländische Essayist Midas D ­ ekkers hält dazu lakonisch fest: „Restaurierte alte Stadtviertel sind in der Regel mehr restauriert als alt, restaurierte alte Menschen mehr alt als restauriert. An der Zeit herumzubasteln führt zu Pfusch.“ 24 Dennoch bleibt für die Denkmaltheorie und die Denkmalpflege gerade angesichts der Konkurrenz durch neu gebaute „Altstadt“-Ensembles der Alterswert ein wesentliches Argument zur Begründung der Alterität von Denkmalen.25 Sie sind eben nicht nur formal anders als das Neue – das ließe sich, wie bereits Riegl konstatierte, auch neu herstellen 26 – sondern weisen Zeitschichten auf, an denen die Spuren der Zeit ablesbar sind. Damit gehören sie sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart an. 21 Noell, Matthias: Kultur des Sichtbaren. Der fotografische Blick des Herrn Schultze, in: Meier, Hans-Rudolf/Spiegel, Daniela (Hg.): Kulturreformer. Rassenideologe. Hochschuldirektor. Der lange Schatten des Paul Schultze-Naumburg, Heidelberg 2018, S. 33 – 46. 22 Eine Zukunft für unsere Vergangenheit. Denkmalschutz und Denkmalpflege in der Bundes­ republik Deutschland, München 1975. 23 Riegl: Denkmalkultus, S. 70 f. 24 Dekkers, Midas: An allem nagt der Zahn der Zeit. Vom Reiz der Vergänglichkeit, München 1999, S. 114. 25 Meier, Hans-Rudolf: Zwischen Fremdheit und Identität: Zur Alterität des Denkmals, in: Wohlleben, Marion (Hg.): Fremd, vertraut oder anders? Beiträge zu einem denkmaltheoretischen Diskurs, München/Berlin 2009, S. 141 – 150. 26 Riegl: Denkmalkultus, S. 70 f.

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Abb. 3 Cover des Katalogs der Wanderausstellung des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz im Europäischen Denkmalschutzjahr 1975. Quelle: Eine Zukunft für unsere Vergangenheit. Denkmalschutz und Denkmalpflege in der Bundesrepublik Deutschland, München 1975 (Ausstellungskatalog).

Im Sinne eines romantischen Modells kann auch der Ensemble-Gedanke in der Denkmalpflege interpretiert werden. Anders als bei der sogenannten Sachgesamtheit, in der allen Teilen Denkmalstatus zukommt, ist das Ensemble eine Einheit des Differenten und evoziert ein Ganzes im Wissen um die Brüche. Auch hier knüpft die aktuelle Denkmaltheorie an Riegls Sicht an, wie sie am zitierten Ausschnitt seines Gutachtens zu Split deutlich wurde, wo er die Objekte – gebaute und gewachsene – unterschiedlicher Zeiten durch den Gesamtblick als erhaltenswert qualifizierte. Er war damit weiter und moderner als der Katalog des Denkmaljahres 1975, der eine Einheitlichkeit des Historischen darzustellen suchte – und damit seinerseits auf eine anderes und weniger komplex verstandene Romantik rekurrierte.

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Stadtentwürfe und Stadtbaukunst

Wolfgang Sonne

Ist der malerische Städtebau romantisch? Camillo Sitte im Architekturdiskurs um 1900

Wenn man nach einer Richtung des modernen Städtebaus sucht, die man als romantisch bezeichnen könnte, so fällt der Blick schnell auf Camillo Sitte und den malerischen Städtebau. Schon früh wurde dem Verfasser des „Städtebaus nach seinen künstlerischen Grundsätzen“ nachgesagt, dass er ein Romantiker sei. Keineswegs positiv konnotierte dies etwa Albert Erich Brinckmann, der 1908 in seinem Buch Platz und Monument meinte: Man könnte Sitte den Romantiker unter den Stadtbauarchitekten nennen. Er bemüht sich vorzüglich um die mittelalterliche Stadt und urteilt hier mehr aus einem feinen Gefühl heraus, als daß er sich um die Erkenntnis der architektonischen Logik bemüht.1

Durchaus boshaft unterstellte er Sitte eine lediglich gefühlsmäßige Annäherung an seinen Gegenstand und eine Beschränkung auf den mittelalterlichen Städtebau – zwei Merkmale, die wohl als romantisch zu bezeichnen wären, gegen die sich Sitte, so er denn noch gelebt hätte, aber strikt gewehrt hätte. Noch polemischer verunglimpfte Sigfried Giedion Sitte 1941 in seinem Werk Space, time and architecture als „eine Art Troubadour, der mit seinen mittelalter­ lichen Liedern das Getöse der modernen Industrie übertönen wollte“.2 Sittes angebliche Beschwörung vergangener Zeiten sollte ihn als unbrauchbar kennzeichnen für eine Zeit, in der nur mehr durch neuartige städtebauliche Methoden den Herausforderungen der Moderne entsprochen werden könne – so zumindest die Ansicht Giedions, des Trommlers der Avantgarde. Hatte Brinckmann Sitte als romantisch und damit irrational abgewertet, da er eine mehr formal-geometrische Stadtästhetik vertrat, und Giedion ihn als mittelalterlich und damit unzeitgemäß abgetan, da er einem avantgardistischen Städtebau das Wort redete, so hatte sich 1979 bei Carl E. Schorske diese einst pejorativ gemeinte Charakterisierung des malerischen Städtebaus von Camillo Sitte als romantisch bereits zu einem scheinbar sachlichen Urteil gefestigt. In seinem einflussreichen Werk über das Fin-de-Siècle Vienna konstruierte er wirkungsvoll das Antipoden-Paar „Camillo Sitte and Otto Wagner, the romantic archaist and the 1 Brinckmann, Albert Erich: Platz und Monument, Berlin 1908, S. 165. 2 Giedion, Sigfried. Raum, Zeit, Architektur. Die Entstehung einer neuen Tradition, Ravensburg 1965, S. 465.

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| Wolfgang Sonne rational functionalist“.3 Damit scheint historiographisch eigentlich die Lage klar: Entgegen den rational-funktionalistischen Richtungen des modernen Städte­bau stellt Camillo Sittes malerischer Städtebau eine romantische Position dar, die man je nach eigenem Standort als unmodern oder als modern-kompensatorisch bewerten kann.4 Doch wie zutreffend ist die Gleichsetzung des malerischen Städtebaus mit einer romantischen Haltung tatsächlich? Stutzig machen sollte zunächst einmal, dass sich Sitte keineswegs als Romantiker gesehen oder seinen Städtebau als romantisch bezeichnet hat. Weiterhin wirft die Tatsache Fragen auf, dass es in der Geschichte des modernen Städtebaus keine Richtung gibt, die sich selbst als romantisch bezeichnet hat – inwiefern eignet sich der Städtebau überhaupt, um als Gegenstand eines Modells von Romantik zu fungieren? 1. Camillo Sitte Was zeichnet Sittes Haltung im Städtebau tatsächlich aus? Im Unterschied zu den Landvermessern, Abwasseringenieuren und Straßenbauingenieuren seiner Zeit interessierte er sich vor allem für die Räume der Stadt, die von den Bewohnern und Besuchern wahrgenommen werden konnten. Im Zentrum seiner Städtebauauffassung steht also das wahrnehmende Subjekt, woraus sich für den Städtebauer die Frage ergibt, wie der Stadtraum auf das wahrnehmende Subjekt wirkt. Diesen explizit subjektiven Ausgangspunkt könnte man durchaus als romantisch ansehen – doch das weitere Vorgehen Sittes ist weniger romantisch: Er selbst beschreibt es in Analogie zu führenden Naturwissenschaftlern seiner Zeit als eine positivistischwissenschaftliche Methode.5 Für die Raumwahrnehmung des Subjekts sucht er nämlich keineswegs nach subjektiv-künstlerischen Erklärungen und Gestaltungsweisen, sondern – wie schon der Titel seines Buches markiert – nach „künstlerischen Grundsätzen“, die über den einzelnen hinaus sowie überzeitlich gültig sind. Auf der Basis von Hermann von Helmholtz’ Physiologie und in Analogie zu Ernst Haeckels Biologie sammelt er historische Beispiele für Stadträume, die er auf die ihnen zu Grunde liegenden Gestaltungsprinzipien hin untersucht, um daraus Gestaltungsregeln abzuleiten. In seinen eigenen Worten gilt es 3 Schorske, Carl E.: Fin-de-Siècle Vienna. Politics and Culture, New York 1979, S. 100. 4 Vgl. Speitkamp, Winfried: Die Verwaltung der Geschichte. Denkmalpflege und Staat in Deutschland 1871 – 1933, Göttingen 1996, S. 64, hier wird Sitte unter der Überschrift „kultur­ historisch-romantischer Städtebau“ geführt. 5 Zu Sitte vgl. Mönninger, Michael/Collins, Christiane Crasemann/Semsroth, Klaus (Hg.): Camillo Sitte Gesamtausgabe. Texte und Projekte, 6 Bde., Wien 2003 – 2014.

Ist der malerische Städtebau romantisch? | Abb. 1 Camillo Sitte, Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, 1889. Quelle: Sitte, Camillo: Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, Wien 1889.

den Versuch zu wagen, eine Menge schöner alter Platz- und überhaupt Stadtanlagen auf die Ursachen der schönen Wirkung hin zu untersuchen; weil die Ursachen, richtig erkannt, dann eine Summe von Regeln darstellen würden, bei deren Befolgung dann ähnliche treffliche Wirkungen erzielt werden müssten.6

(Abb. 1) Wenn man Sitte etwas vorwerfen wollte, dann wäre es wohl weniger eine romantische Beschwörung vergangener Zeiten als eher eine positivistisch-naturwissenschaftliche Annäherung an einen Gegenstand, der seinerseits kulturellhistorisch ist. Camillo Sitte geht es mitnichten um eine holistische Sinnstiftung zu Zeiten verlorengegangener Einheitsvorstellungen, sein Städtebau weist keine reflexiven Brüche auf, und seine Städtebautheorie kennt keine Ironie. Sittes „Städtebau“ folgt insofern keinem Modell der Romantik. Stattdessen ist sein „Städtebau“ eine praktische Anleitung zur Gestaltung der Stadt auf der Basis einer dem Anschein nach naturwissenschaftlichen Analyse. Ist er deswegen gänzlich unromantisch?

6 Sitte, Camillo: Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, Wien 1889, Vorrede.

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| Wolfgang Sonne Abb. 2 Carl-Spitzweg: Der verliebte Provisor, 1878. Quelle: https://commons.wikimedia.org/ wiki/Category:Paintings_by_Carl_Spitzweg.

Schon das wahrnehmende Subjekt als Ausgangspunkt seiner städtebaulichen Überlegungen ließe sich durchaus als eine romantische Annäherung an den Städtebau ansehen. Noch mehr gilt dies für den Ursprung von Sittes städtebaulichem Gestaltungsideal, das auf geschlossene Stadträume, insbesondere Platzund Straßen-, aber auch Hofräume abzielt, die als harmonische Bilder gesehen werden können. Dieses folgt nicht nur den eigenen Raumerfahrungen von zahlreichen Stadtbesuchen, die Sitte selbst als Grundlage seiner Untersuchungen angibt, sondern sicherlich ebenfalls einer Prägung durch Stadtdarstellungen der romantischen Malerei. Die zahlreichen, in Stichen vielfach verbreiteten biedermeierlichen Stadtansichten zählen dazu ebenso wie die fiktiven Stadtdarstellungen in der Malerei der Romantik wie etwa bei Carl Spitzweg (Abb. 2). In dessen Gemälde „Der verliebte Provisor“ von 1878 sind Sittes städtebauliche Prinzipien wie etwa „Die Geschlossenheit der Plätze“, „Das Freihalten der Mitte“ oder „Unregelmäßigkeiten alter Plätze“ bildhaft – um nicht zu sagen: malerisch – präfiguriert. Solche Stadtdarstellungen der romantischen Malerei haben sicherlich Sittes Wahrnehmungsweise realer Stadträume sowie seine eigenen Planungen mitgeprägt (Abb. 3). Auch Sittes Ästhetisierung der Stadt – die Untersuchung der Wahrnehmungsweisen städtischer Räume sowie die Suche nach deren Gestaltungsprinzipien – lässt sich in den Kontext ästhetischer Weltdeutungen der Romantik stellen. Keineswegs bildet jedoch die Fokussierung auf das Künstlerische im Städtebau notwendig eine

Ist der malerische Städtebau romantisch? | Abb. 3 Camillo Sitte: Kirchenplatz in Marienberg. Quelle: Der Städtebau, Bd. 1, 1904.

romantische Haltung. Sittes künstlerischer Städtebau stellt sich zwar gegen den funktionalistischen Ingenieurs-Städtebau seiner Zeit, aber – anders als bei Schorske dargestellt – befindet er sich mit der Wertschätzung des Künstlerischen mit seinem Antipoden Otto Wagner durchaus auf einer Ebene. Beide betonen das Ästhetische und das Künstlerische im Städtebau – folgen dabei aber unterschiedlichen ästhetischen Idealen. Während Sitte eher die gefassten Räume der Kleinstädte mit ihren abwechslungsreichen Architekturen schätzt, verherrlicht Wagner die weiten Räume der uniformen Großstadt. Da Wagner selbst diese aus den Bedingungen der Zeit ableitet, könnte man seine Haltung als affirmativ-modern bezeichnen, während Sitte eher kritisch-modern agiert, da er sich von aktuellen Tendenzen („modernen Systemen“) absetzen möchte. Bei aller tendenzieller Unterschiedlichkeit verehren doch beide dasselbe zeitgenössische Wiener Projekt: ­Gottfried Sempers Kaiserforum. Dessen einheitlich und zugleich rhythmisch gefasster Raum diente Wagner als Vorbild für sein Idealprojekt Artibus ebenso, wie es als Vorbild Eingang in Sittes Städtebaubuch fand.7 7 Sonne, Wolfgang: „Großstadtbaukunst. Otto Wagners Städtebau im internationalen Kontext“, in: Nierhaus, Andreas/Orosz Eva-Maria (Hg.): Otto Wagner, Wien 2018, S. 52 – 59; Hanisch, Ruth/Sonne: Wolfgang „Camillo Sitte als ,Semperianer‘“, in: Franz, Rainald/­ Nierhaus, ­Andreas (Hg.): Gottfried Semper und Wien. Die Wirkung des Architekten auf ‚Wissenschaft, Kunst und Industrie‘, Wien 2007, S. 97 – 111.

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| Wolfgang Sonne 2. Malerischer Städtebau Mag auch die Ästhetik des malerischen Städtebaus von den romantischen Darstellungen mittelalterlicher Kleinstädte geprägt worden sein, so verfolgten doch Sitte und seine Nachfolger als malerische Städtebauer keineswegs rückwärtsgewandte Ziele, sondern intendierten eine Gestaltung der Stadt der Gegenwart. Nicht wehmütige Erinnerung an vergangene Zeiten, sondern optimistische Prägung der Zukunft, nicht kontemplative Reflexion, sondern aktive Gestaltung, nicht ironische Infragestellung des ganzheitlichen Stadtbildes, sondern dessen möglichst vollständige Realisierung lagen in ihrem Interesse. Karl Henrici etwa wandte die von Sitte dargelegten Prinzipien 1893 im Rahmen des Wettbewerbs für einen Erweiterungsplan von München auf das Gesamtgefüge einer Großstadt an und errang damit einen ersten Preis. Die Betonung des Bildhaften im Städtebau fand bei ihm ganz konkret in denjenigen Bildern Ausdruck, die er seinem Wettbewerbsbeitrag zur Erläuterung der von ihm geplanten Plätze beigab (Abb. 4). Nahezu vollständig nach den Entwürfen ihrer Verfasser umgesetzt wurden die Siedlungen Margarethenhöhe in Essen von Georg Metzendorf 1912 und Staaken bei Berlin von Paul Schmitthenner 1914 (Abb. 5 und Abb. 6). Ihre malerischkleinstädtische Idealgestalt schuf dabei eine holistische ästhetische Einheit, die in vielem zwar als Gegenbild zur modernen industriellen Großstadt konzipiert war und wirkte, die sich aber an keiner Stelle ironisch in Frage stellte, sondern sich unangefochten von Zweifeln als bessere Moderne präsentierte. Dies führt zu der grundsätzlichen Frage, inwiefern sich romantische Prinzipien überhaupt im Städtebau anwenden lassen. Denn im Unterschied zu allen repräsentierenden Künsten von der Literatur und Philosophie über die Malerei und Plastik bis hin zur Musik geht es in Städtebau und Architektur nicht primär um Interpretation, sondern um Gestaltung der physischen Wirklichkeit. Der Städtebauer kann nicht allein wehmütig vergangenen Zeiten nachsinnen, er muss einen praktikablen Entwurf liefern. Er kann nicht ein von ihm erdachtes Ganzheitsversprechen zugleich wieder in Frage stellen, denn dieses von ihm erdachte Ganzheitsversprechen muss in der Realität für die Menschen funktionieren. In diesem Sinne können die von Sitte, Henrici, Metzendorf oder Schmitthenner durchaus nach dem Vorbild romantischer Stadtdarstellungen entworfenen Stadtbilder gar nicht romantisch sein – so wenig wie etwa eine Kanalisation einem Modell der Romantik folgen könnte.

Ist der malerische Städtebau romantisch? |

Abb. 4 Karl Henrici: Wettbewerbsentwurf Stadterweiterung München, 1893. Quelle: Henrici, Karl: Preisgekrönter Konkurrenz-Entwurf zu der Stadterweiterung Münchens, München 1893.

Abb. 5 Georg Metzendorf: Siedlung Margarethenhöhe, 1912. Quelle: Margarethe Krupp-Stiftung für Wohnungsfürsorge (Hg.): Margarethen-Höhe bei Essen, Darmstadt 1913.

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Abb. 6 Paul Schmitthenner: Gartenstadt Staaken, 1914. Quelle: Kiem, Karl: Die Gartenstadt Staaken (1914 – 1917). Typen, Gruppen, Varianten, Berlin 1997.

3. Heimatschutz, städtebauliche Denkmalpflege, Stadtsoziologie Deutlich wird diese Eigenschaft des Städtebaus, wenn man ihn in den Kontext von weiteren Stadtdiskursen setzt. Zeitgenössisch zum malerischen Städtebau bildeten sich etwa Überlegungen zur städtebaulichen Denkmalpflege im Rahmen der Heimatschutzbewegung heraus. Die ästhetischen Ideale mögen dabei identisch gewesen sein. So plädierte Alois Riegl in seinem Gutachten von 1903 für die Erhaltung der Altstadt von Split und gegen die Freilegung des Doms vor allem im Namen des „malerischen Straßenbildes“ 8 – eine Formulierung, die genauso auch von Camillo Sitte stammen könnte. Doch im Unterschied zu Sitte ging es Riegl nicht um eine Gestaltung, sondern um eine Erhaltung des Stadtbildes. Die Interpretation und nicht die Umsetzung stand hier im Mittelpunkt – und konnte deswegen auch romantische Züge tragen. Am deutlichsten kommt dies wohl in Riegls Konzeption des Alterswerts zum Ausdruck: Hier dient das Denkmal primär als memento der Vergänglichkeit, wie schon die Patina der ­Stones of Venice bei John Ruskin das Altern schlechthin evoziert hat. „Alte 8 Achim Hubel, „Überlegungen zum Verhältnis von Theorie und Praxis der Denkmalpflege im 20. Jahrhundert – Das Beispiel Split“, in: kunsttexte.de, H. 2, 2012, S. 1 – 25, Zitat S. 5.

Ist der malerische Städtebau romantisch? |

Zeiten, linde Trauer“ kann ein Thema der Denkmalpflege sein – als Motto des Städtebaus eignet es sich nicht. Ein weiterer städtebaunaher Stadtdiskurs ist die aufkommende Stadtsoziologie. Auch hier geht es nicht primär um Gestaltung der Stadtwirklichkeit, sondern um deren Deutung. Eine Verbindung zwischen Lebensweisen und Stadtformen stellte Ferdinand Tönnies bei seiner einflussreichen Unterscheidung von „Gemeinschaft und Gesellschaft“ her. Während die älteren gemütvollen Formen sozialer „Gemeinschaft“ sich im Dorf und in der Kleinstadt entwickelten, fänden sich die neueren berechnenden Verhaltensweisen der „Gesellschaft“ in der Großstadt: „Die Großstadt ist typisch für die Gesellschaft schlechthin.“ 9 Seine Wertschätzung des Gemeinschaftlichen vor dem Gesellschaftlichen und der verklärende Blick auf die historische Kleinstadt hat zweifellos etwas Romantisches. Vertieft und psychologisiert wurde dieser Gegensatz von Georg Simmel in seinem richtungsweisenden Vortrag „Die Großstädte und das Geistesleben“ auf der Dresdner Städteausstellung 1903. In der Kleinstadt herrsche ein „langsamerer, gewohnterer, gleichmäßiger fließender Rhythmus“, der Bewohner sei an Gruppenwerte gebunden und könne sich innerhalb der Gemeinschaft vor allem mit Hilfe des Gemüts orientieren. In der Großstadt dagegen komme es auf Grund der vielfältigen Eindrücke zu einer „Steigerung des Nervenlebens“, die eine individuelle Vielfalt ermögliche; im Rahmen seiner Geschäfte finde der Bewohner sich in der Gesellschaft vor allem mit Hilfe seines Verstandes zurecht. Um sich allerdings gegen die Flut der Eindrücke schützen zu können, entwickle der Großstädter eine absichtliche Stumpfheit, die „Blasiertheit“, mit der er gleichsam seine individuellen Regungen hinter einer einheitlichen Fassade verstecken könne. Anders als Tönnies verdammt Simmel nicht das rationalere Großstadtleben – das gemütvollere Kleinstadtleben bleibt aber in durchaus romantischer Manier ein Stachel im Fleische einer funktionalen Moderne. 4. Romantik in der Architektur- und Städtebaugeschichte Weil Städtebau weniger eine repräsentierende und interpretierende als eine gestaltende und wirklichkeitsprägende Kunstform ist, hat sich der Begriff einer „romantischen Architektur“ oder eines „romantischen Städtebaus“ nicht wirklich etabliert – und wenn er Verwendung findet, wird er nicht selten zur Abwertung gebraucht. Zu den herausragenden Versuchen der Definition romantischer Architektur und romantischen Städtebaus zählt Sigfried Giedions Dissertation Spätbarocker und romantischer Klassizismus von 1922. Im Sinne der antithetischen 9 Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Leipzig 1887; zit. nach: Klaus M. Schmals (Hg.), Stadt und Gesellschaft. Ein Arbeits- und Grundlagenwerk, München 1983, S. 230.

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| Wolfgang Sonne Stilcharakteristika seines Lehrers Heinrich Wölfflin konzipiert er die Romantik als Gegensatz zum Barock: Die Romantik ist passiv, reflektierend. Sie stürmt nicht in die Natur, um in sie einzugreifen, sondern um sie zu verstehn! […] Der romantische Mensch unterjocht die Erde nicht. Er erduldet sie! Rückschauend auf Zeiten, ferne Orte, Gefühle entflieht er dem handelnden Augenblick.10

Schon aus dieser Charakterisierung wird ersichtlich, dass sich eine romantische Grundhaltung für einen Architekten und Städtebauer nicht wirklich eignet. Folglich interpretiert Giedion den romantischen Klassizismus vor allem als Krisenphänomen. Über den romantischen Städtebau eines Karl Friedrich Schinkel oder Leo von Klenze schreibt er: „Im romantischen Klassizismus bilden sich Plätze, die die zusammenhängenden Wände verloren haben und sich räumlich nicht mehr schließen. Einzelne Kuben stehen im Raum.“ 11 Dies ist einerseits als sachliche Beschreibung zu verstehen (die hier formulierte Auffassung vom romantischen Städtebau steht übrigens ganz im Gegensatz zu Sittes Ideal der Geschlossenheit der Plätze); zugleich wird aber der Verlust einer umfassenden Gestaltungskraft beklagt. Als Prophet einer affirmativen Moderne endet Giedion seine Schrift mit einer gänzlich antiromantischen Vision: Jetzt gelte es, „große Massen in Zucht zu halten, Materie in Raum aufzulösen und das einzelne ich in größerem Chor herrlicher auferstehen zu lassen!“ 12 Auch bei Hermann Beenken, der sich 1952 mit Schöpferische Bauideen der deutschen Romantik befasste, ist das Romantische eigentlich keine Kategorie, mit der sich Architektur treffend beschreiben ließe: Es ist durchaus kein ursprünglich und eigentlich architektonisches Zeitalter, von dessen Bauideen, soweit ihre Urheber Deutsche gewesen sind, dieses Buch handeln soll. Es ist das Zeitalter einer großen Literatur, einer großen Philosophie, einer großen Musik, ein Zeitalter immer auch noch eher der Malerei als gerade der Architektur. Das baukünstlerische Schaffen ist von einer schweren Krise betroffen, die Krankheit des Historismus legt sich lähmend auf das schöpferische Erfinden und Entwerfen der Baumeister. Reflexion hemmt ihre naive Phantasie.13

Gerade das Reflexive der Romantik scheint ihm für die architektonische Produktion ungeeignet. 10 11 12 13

Giedion, Sigfried: Spätbarocker und romantischer Klassizismus, München 1922, S. 13. Giedion: Klassizismus, S. 124. Giedion: Klassizismus, S. 164. Beenken, Hermann: Schöpferische Bauideen der deutschen Romantik, Mainz 1952, S. 8.

Ist der malerische Städtebau romantisch? |

Konsequenterweise behandelt er vornehmlich „Bauideen“ der Romantik und weniger Baurealisationen, denn für diese wäre eine romantische Herangehensweise noch weniger geeignet. Im Fokus auf „Bauideen“, die sich hauptsächlich in Entwürfen und Zeichnungen ausdrücken, leuchtet aber auch auf, wo Architektur romantisch sein kann: Weniger in ihrer Konstruktion und ihrem praktischen Zweck – hier muss sie ohne Zweifel halten und funktionieren; eher in ihrer Ästhetik und Semantik – hier kann sie auch mit romantischer Reflexivität wirken und deuten. Gerade die in der Romantik aufkommende Verwendung diverser historischer Stile zum Ausdruck verschiedener Stimmungen und Botschaften – später Historismus genannt – ist als romantisches Vorgehen in der Architektur zu verstehen. Wie auch Giedion sieht Beenken im Städtebau der Romantik vor allem die Tendenz zur Auflösung gefasster Räume: Die Räume unserer Städte sind im Zeitalter der Romantik gelockert und geöffnet worden. Die mittelalterlichen und nachmittelalterlichen Umwallungen und Befestigungen fielen fast überall. Die Barockbaukunst hatte noch die Tendenz zu fester Umformung und Umschließung von Platz und Straße gehabt. Jetzt dringt auch hier ein Element der Auflösung ein.14

Als Musterbeispiel deutet er die Entfestigung von Bremen mit der Anlage eines Landschaftsgartens an Stelle der barocken Bastionen. Wie im Landschaftsgarten des 18. Jahrhunderts bilden Bauten keinen städtebaulichen Zusammenhang aus, sondern stehen einzeln als Bedeutungsträger in einem Garten. Dass für eine solchermaßen romantische Stadtbauweise gerade der Landschaftsgarten als Vorbild fungierte, ist keinesfalls Zufall, ist doch der Garten – im Unterschied zur Stadt, die als menschlicher Lebensraum funktionieren muss – vor allem repräsentierend, interpretierend und sinnstiftend. 5. Romantische Architektur und Städtebau in der Epoche der Romantik Der ambitionierteste Versuch einer Bestimmung romantischer Architektur im Zeitalter der Romantik findet sich in Georg Wilhelm Friedrich Hegels Geschichtsphilo­ sophie. Dieser hatte in seinen – allerdings erst 1832 publizierten – Vorlesungen über die Ästhetik die Architektur in drei Arten und Epochen aufgeteilt: „erstens die eigentlich symbolische oder selbständige Architektur“, mit der er die orientalische 14 Beenken: Bauideen, S. 11; weitere Architekturgeschichten und -theorien, die den Begriff der Romantik thematisieren: Pevsner, Nikolaus: Architektur und Design. Von der Romantik zur Sachlichkeit, München 1971 und Schwarz, Ullrich: Romantik und Architektur. Auf der Suche nach einer Theorie der Architektur, Hamburg 2004.

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| Wolfgang Sonne bzw. ägyptische meinte, „zweitens die klassische“, welche als „dienende Baukunst“ die griechische und römische Antike umfasste, und „drittens die romantische Architektur als sogenannte maurische, gotische oder deutsche“.15 Diese drei Arten folgen nicht nur zeitlich aufeinander, sondern stellen auch eine logische Entwicklung dar, bei der die dritte Stufe die Synthese der beiden vorausgegangenen bildet: Für die romantische Architektur gilt, dass sich hier die selbständige und die dienende Baukunst vereinige. Doch besteht die Vereinigung nicht etwa in einer Verschmelzung der architektonischen Formen des Orientalischen und Griechischen, sondern ist nur darin zu suchen, dass auf der einen Seite mehr noch als im griechischen Tempelbau das Haus, die Umschließung den Grundtypus abgibt, während auf der anderen Seite die bloße Dienstbarkeit und Zweckmäßigkeit sich ebenso sehr aufhebt und das Haus sich unabhängig davon frei für sich erhebt.16

Die von Hegel als romantische Architektur bezeichnete Baukunst bildet im Sinne der Dialektik als Synthese eine höhere Stufe der Entwicklung, in der sich die beiden zeitlich vorherigen Baustile aufheben. Dieser entscheidende Entwicklungsschritt fand für Hegel bereits im Mittelalter mit der Entstehung der spitzbogigen Gewölbebauweise („maurisch, gotisch oder deutsch“) statt. Mit der „romantischen Architektur“ meinte er also nicht die Architektur seiner Epoche oder eine ideale Synthese der Zukunft, sondern einen bereits vergangenen Baustil, der – so kann man schließen – als ideale Synthese im besten Fall in der Gegenwart wiederaufgenommen werden kann. Die Begeisterung der Romantik für die mittelalterliche Architektur ist hier gleichsam tautologisch geworden, indem die mittelalterliche Architektur selbst als romantische angesehen wurde. In geradezu kurioser Weise hat Karl Friedrich Schinkel, der wahrscheinlich Hegels Theorien an der Berliner Universität gehört hatte, diese Geschichtsphilosophie der Architekturentwicklung in einen Architekturentwurf umgesetzt. In seinen Skizzen für ein Nationaldenkmal schichtete er 1814 die drei von Hegel genannten Baustile übereinander: zuunterst einen ägyptisch anmutenden Sockel, darüber einen Baukörper mit griechisch-römischen Tempelfronten und zuoberst einen mehrstufigen gotischen Zentralbau mit aufstrebender Fiale (Abb. 7 und Abb. 8). In dieser „romantischen Architektur“ kulminierte gleichsam die Weltgeschichte der Architektur. Und diese Darstellung des dialektisch notwendigen Entwicklungsgangs der Architekturgeschichte – von der „symbolischen oder selbständigen Architektur“ über die „klassische Architektur“ hin zur synthetischen 15 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik II, in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 14, hg. v. Moldenhauer, Eva/Michel, Karl Markus, Frankfurt am Main 1970, S. 270 – 271. 16 Hegel: Vorlesung, S. 330 – 331.

Ist der malerische Städtebau romantisch? | Abb. 7 Karl Friedrich Schinkel: Entwurf für ein Nationaldenkmal, 1814. Quelle: Rave, Paul Ortwin: Karl Friedrich Schinkel Lebenswerk. Berlin. Dritter Teil: Bauten für Wissenschaft, Verwaltung, Heer, Wohnbau und Denkmäler, Berlin 1962.

Abb. 8 Karl Friedrich Schinkel: Entwurfsvarianten für ein Nationaldenkmal, 1814. Quelle: Rave, Paul Ortwin: Karl Friedrich Schinkel Lebenswerk. Berlin. Dritter Teil: Bauten für Wissenschaft, Verwaltung, Heer, Wohnbau und Denkmäler, Berlin 1962.

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Abb. 9 Karl Friedrich Schinkel: Mittelalterliche Stadt am Fluss, 1815. Quelle: Haus, Andreas: Karl Friedrich Schinkel als Künstler, München/Berlin 2001.

Abb. 10 Karl Friedrich Schinkel: Blick in Griechenlands Blüte, 1825, Kopie von Wilhelm Ahlborn, 1836. Quelle: Haus, Andreas: Karl Friedrich Schinkel als Künstler, München/Berlin 2001.

Vereinigung in der „romantischen Architektur“, die zugleich auch die „deutsche“ war – sollte der gegen Napoleon siegreichen deutschen Nation als Denkmal dienen. Doch so kurios dieser Entwurf war – Schinkel selbst spürte die ästhetisch unpassende Kombination dieser drei Stile und trennte sie in einer Überarbeitung seines Entwurfs durch Bäume und Büsche – so wenig spielte Hegels eigenwillige Interpretation der Architekturgeschichte in deren weiterer Entwicklung eine Rolle.

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Im Werk Karl Friedrich Schinkels sind es vor allem Zeichnungen und Gemälde, in denen die Romantik als einheits- und sinnstiftendes Bild einer idealen Vergangenheit zum Tragen kommt (Abb. 9 und Abb. 10). Sei es die klassische Polis mit einem im Bau befindlichen Tempel im Vordergrund oder die mittelalterliche Stadt mit einer ebenfalls im Bau befindlichen gotischen Kathedrale im Vordergrund (beide Szenerien mit ihren signifikanten Architekturen gleichsam eingebettet in einen Landschaftsgarten): Klassische und gotische Architekturen und Städte bilden hier gleichermaßen ein romantisches Gegenbild zur Gegenwart. Gerade im Bild sind sie nicht praktischen Zwecken und Konstruktionsgesetzen unterworfen, sondern können einzig ästhetisch wahrgenommen werden und ausschließlich Botschaften übermitteln. Ganz romantisch können Architektur und Stadt auch beim Romantiker Schinkel also nur im Bild sein. Dass es dem pragmatischen Staatsbaumeister Schinkel aber gerade neben dem Funktionieren und Halten der Architektur auch besonders um diese ästhetischen und semantischen Aspekte der Architektur ging, lässt sich nicht nur aus seinen Bauten mit ihrer signifikanten Stilverwendung herauslesen, sondern auch in seiner Architekturtheorie wiederfinden. Dort forderte er, dass das Bauwerk nicht nur „aus seinem nächsten trivialen Zweck allein und aus der Construction“ zu entwickeln sei, sondern dass der Architekt auch „das Historische und das Poetische“ beachten solle.17 In dieser Betonung des Semantischen, des Erzählerischen, des Romanhaften kann man den Kern des Romantischen in Schinkels Architektur verorten. Dort, wo Architektur und Stadt nicht primär funktionieren müssen, sondern durch ihre Form etwas erzählen dürfen – oder: dort, wo Architektur und Stadt nicht primär gestaltend, sondern deutend sind – können sie auch romantisch sein. So wird schließlich in der Geschichtsschreibung der Städtebau des 19. Jahrhunderts weit weniger als „Städtebau der Romantik“ denn vielmehr als „Städtebau der Industrialisierung“ benannt. Zu Recht, denn die durch die Industrialisierung angestoßenen Aufgaben prägen ihn stark: großflächige Stadterweiterungen in ganz Europa – aber auch staatliche Repräsentationsräume wie die Rue de Rivoli in Paris, die Regent Street in London, die Ludwigstraße in München oder die Ringstraße in Wien. All dies lässt sich schwerlich als „romantisch“ beschreiben. 6. Schluss Romantik ist vor allem ein Modell für interpretierende, repräsentierende und sinnstiftende Kulturpraktiken wie Literatur, Philosophie, Malerei und Musik. Architektur und Städtebau sind dagegen weniger interpretierend als verändernd (um einmal die Marxsche Formulierung zu verwenden), nicht repräsentierend, sondern 17 Kruft, Hanno Walter: Geschichte der Architekturtheorie, München 1985, S. 343.

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| Wolfgang Sonne existierend, nicht symbolisch, sondern dinglich. Zudem sind Architektur und Städtebau in hohem Maße direkt von realen Bedingungen wie der Natur, der Ökonomie, der Gesellschaft, der Politik und der Technik abhängig. Im Unterschied zu darstellenden Künsten müssen sie deshalb zu einem großen Teil realistisch bzw. affirmativ sein und können sich nicht zugleich in einem romantischen Sinne ironisch oder kritisch in Frage stellen. Gleichwohl – Architektur und Städtebau erschöpfen sich nicht im praktischen Funktionieren und im haltbaren Konstruieren. Stets entwickeln sie auch Formen, die ästhetisch wahrgenommen und mit Bedeutungen versehen werden. Seien es bei Schinkel das Historische und das Poetische oder bei Sitte das Malerische – dort, wo Architektur und Städtebau sinnlich wirken und darüber etwas erzählen, können sie durchaus romantische Züge tragen. Lassen sich mit der Romantik auch Teilaspekte der Architektur beschreiben, so kann Romantik doch kein generelles Modell für Architektur und Städtebau sein. Deswegen hat sich weder eine architektonische oder städtebauliche Richtung selbst als romantisch beschrieben, noch hat sich ein allgemein akzeptierter Begriff einer romantischen Architektur oder eines romantischen Städtebaus etabliert. Wird der Begriff dennoch verwendet, so hat er meist eine abwertende Konnotation und unterstellt dem so beschriebenen Gegner, dass dessen Architektur und sein Städte­bau nicht ganz von dieser Welt seien. Diese nur partielle Griffigkeit des Romantischen für Architektur und Städtebau hat auch noch eine weitere Konsequenz: Wenn unterschiedliche Kulturpraktiken tatsächlich unterschiedlich funktionieren und sich deshalb Konzepte der einen Praktik nicht umstandslos auf eine andere Praktik übertragen lassen, steht auch eine Stil- und Epochengeschichte, die von homogenen kulturellen Phasen wie etwa „dem Barock“ oder „der Romantik“ ausgeht, auf dem Prüfstand. So wenig wie es einen romantischen Städtebau gab, so sehr gab es doch romantische Literatur oder Musik. Alle diese Kulturpraktiken fanden zwar zur selben Zeit statt (und konnten gar in führenden Protagonisten wie etwa dem Musiker Richard W ­ agner und dem Architekten Gottfried Semper eng zusammenarbeiten), folgten aber doch ihren eigenen Gattungsgesetzen. Wie sinnvoll ist es da noch, von einer alle K ­ ultursparten übergreifenden ‚Epoche der Romantik‘ zu sprechen? Zumindest das ‚Modell Romantik‘ gilt nicht für alle Bereiche der Kultur. Diese Erkenntnis des unterschiedlichen Funktionierens unterschiedlicher Kulturpraktiken schärft auch unseren Blick auf die heutigen Kulturwissenschaften: Sie sind weniger eine Einheitswissenschaft, in der ein holistisches Kulturverständnis die gemeinschaftliche Anwendung aller kulturwissenschaftlichen Methoden erfordern kann, sondern ein dialogisches Konstrukt, in dem die an den unterschied­ lichen Kulturpraktiken wie Literatur, Philosophie, Musik, Malerei, Architektur und Städtebau orientierten Einzelwissenschaften ihre Methoden und Erkenntnisse im kritischen Austausch schärfen.

Rainer Schützeichel

Der fade Beigeschmack der ‚Romantik‘ im Ulmer Münsterplatzstreit 1925/26 Der 1924 ausgelobte und im Folgejahr entschiedene Wettbewerb zur Gestaltung des Münsterplatzes in Ulm entfachte einen Grundsatzstreit, bei dem sich – oberflächlich betrachtet – die einem strengen Formenkanon huldigenden ‚Klassizisten‘ auf der einen Seite ‚Romantikern‘ auf der anderen gegenübersahen, welche dem Mittelalter nachhingen. Ganz so einfach, wie der hier skizzierte Frontverlauf vermuten lässt, war es jedoch nicht – schon gar nicht, was die im Zentrum stehende Begrifflichkeit betrifft. Denn wie schon die Zeitgenossen bemerkten, wurde der „Begriff ‚Romantik‘“ in der Debatte „geradezu im Gefühlston eines Schimpfwortes“ verwendet,1 und zwar von beiden Parteien. Von Vertretern der letztgenannten wurde zwar durchaus eine Rehabilitation der als ‚romantisch‘ gestempelten städtebaulichen Entwurfsprinzipien versucht, jedoch wohlgemerkt keine des ‚Romantischen‘ selbst. Der Ulmer Wettbewerb traf auf eine beachtliche Resonanz, die ihn auf zwei Ebenen zu einem exemplarischen Untersuchungsgegenstand für das Romantische im Städtebau macht: In einer von Krisen geschüttelten, beschäftigungsarmen Zeit sahen zahlreiche Architekturbüros unterschiedlicher „Schulen“ darin erstens eine Chance, einen prestigeträchtigen Auftrag zu erlangen. So waren bis zum Abgabetermin im September 1924 nicht weniger als 478 Entwürfe eingereicht worden, und es gab in der deutschen Architektenschaft folglich nicht Wenige, deren Arbeiten unberücksichtigt bleiben mussten. Diese beäugten den Ausgang der Konkurrenz argwöhnisch und fühlten sich nicht selten dazu berufen, Argumente für die eine oder die andere Konfliktpartei in die Waagschale zu werfen. Dieses allgemeine Interesse erklärt, warum der sich bis ins Jahr 1926 hinziehende Streit von beachtlichem publizistischem Aufwand begleitet wurde. Zweitens ist es – was die engere Frage des Romantischen betrifft – die prominente städtebauliche Positionierung, die den Münsterplatzwettbewerb zu einer repräsentativen Fallstudie macht. Denn es galt, in direkter Nachbarschaft zum gotischen, im Zeichen eines protestantischen Nationalismus am Ende des 19. Jahrhunderts zum landesweiten Symbol erkorenen Münster einen baulichen Rahmen für dieses Monument zu finden. Das ­Mittelalter und insbesondere die Gotik als Fluchtpunkt der Romantik einerseits 1 Meyer, Peter: Ueber Axe und Symmetrie. Ein Beitrag zu der neuen Polemik der ‚Ostendorfer­ schule‘ gegen die ‚Fischerschule‘, in: Schweizerische Bauzeitung 85/16 (1925), S. 207 – 208, Schweizerische Bauzeitung 85/17 (1925), S. 216 – 217 und Schweizerische Bauzeitung 85/18 (1925), S. 231 – 234, hier S. 207.

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| Rainer Schützeichel und die Kathedrale als baulicher Ausdruck dieser Zeit andererseits gaben den Hintergrund ab, vor dem sich der Ulmer Streit wirkungsvoll entfalten konnte. 1. Das Ulmer Münster und seine Umgebung: Abriss und Aufbau Den Wettbewerbsteilnehmern von 1924 stellte sich der Münsterplatz als eine weiträumige Fläche dar, die es mit architektonischen Mitteln zu fassen galt. Diese Gestalt war die Folge der nach 1874 erfolgten Niederlegung eines auf das 13. Jahrhundert zurückgehenden Klosterkomplexes um die sogenannte Barfüßerkirche, welcher dem Münster bis dahin ein städtebauliches Gegenüber gegeben hatte. Insbesondere hatte sich im Norden des ehemaligen Klosters mit dem deutlich kleineren Münsterplatz, im Osten mit dem sogenannten Holzmarkt und im Westen mit der Aufweitung der Hirschstraße eine differenzierte Platzfolge ausgebildet, die inzwischen zu einem weiten, ungegliederten Leerraum verkommen war. Der Abriss dieser Gebäude, der sich bis 1879 hinziehen sollte, überschnitt sich mit dem Beginn der neuaufgenommenen Ausbauarbeiten des Westturms der gotischen Kirche,2 der seit dem 16. Jahrhundert als Torso deren Antlitz geprägt hatte. 1890 war der Turm vollendet,3 und angesichts dieser ins Nationalbedeutsame übersteigerten Leistung jubelte die Presse: Freuen wir uns, daß das Ulmer Münster nun im Aeußeren vollendet dasteht, als ein großartiges Denkmal des neu erwachten Sinns für die großen Werke deutschen Geistes, ein Denkmal neuer deutscher Einheit und Einigkeit.4

Ebenso wie die Vollendung gotischer Kirchtürme ein im 19. Jahrhundert verbreitetes Phänomen war, stellt auch die Freilegung von Kirchen eine typische Maßnahme jener Zeit dar. Sie wurzelt in einem Verständnis, das in den auf mittel­ alterliche Ursprünge zurückgehenden Stadtanlagen Zeugnisse einer überwundenen Kultur erkannte, welche weder in funktionaler noch in hygienischer oder ästhetischer Hinsicht den Forderungen des modernen Lebens genügen könnten. Ein frühes, auf Europa ausstrahlendes Vorbild fanden derlei Freilegungen

2 Siehe dazu Wörner, Hans Jakob: Der Ausbau des Münsters im 19. Jahrhundert im Spiegel zeitgenössischer Berichte, in: Specker, Hans Eugen/Wortmann, Reinhard (Hg.): 600 Jahre Ulmer Münster. Festschrift (1977), Stuttgart 21984, S. 462 – 505. 3 Zur Geschichte der Restaurierung und Turmvollendung siehe Jasbar, Gerald/Ribbert, ­Margret: Das Ulmer Münster, in: Ulmer Museum/Treu, Erwin (Hg.): Steingewordene Träume. Vollendung gotischer Kirchtürme im 19. Jahrhundert, Ulm 1990, S. 52 – 92. 4 o. A.: Das Ulmer Münster, in: Ulmer Tagblatt (1890), Nr. 149, 29. Juni 1890, Beilage: Festzeitung zur Vollendung des Münsters, 3. Blatt.

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ab Mitte des 19. Jahrhunderts im embellissement von Paris,5 welches Voltaire indes bereits mehr als einhundert Jahre zuvor, 1749, in seinem Pamphlet Des Embellissements de Paris 6 vorgezeichnet hatte: als Maßnahmen zur Stadtverschönerung hatte der Philosoph vorgeschlagen, Straßen zu erweitern, ausgesuchte historische Monumente durch Abriss umgebender Bauten im Stadtgefüge zu betonen und neue Monumentalbauten von Beginn an frei – also etwa in der Mitte von Plätzen – aufzustellen.7 Zudem hatte er eine qualitative Unterscheidung zwischen historischer und moderner Architektur vorgenommen, wenn er die Nachbarschaft des Louvre zu mittelalterlichen „bâtiments de Gots & de Vandales“ als störend beschrieb.8 Eine Neuinterpretation und positive Deutung der Gotik als nationale Baukunst sollte in Frankreich erst im 19. Jahrhundert einsetzen, vorangetrieben vor allem vom Wirken des Architekten Eugène ­Emmanuel Viollet-le-Duc (1814 – 1879). Mit der im deutschen Sprachgebiet von nationalem Eifer befeuerten Gotikbegeisterung kehrte sich zwar auch hier das stilistische Qualitätsgefälle um, doch an der Idee einer Wirkungssteigerung bedeutender Monumente mithilfe ihrer Freilegung wurde festgehalten. Somit erhob die Wertschätzung der Gotik gerade das unvollendete (beziehungsweise in seiner Vollendung begriffene) Ulmer Münster in den Rang eines Monuments, welches im engen mittelalterlichen Stadtgewebe allansichtig freizustellen sei. 2. Präludium: Der Wettbewerb von 1905/06 Unter zwischenzeitlich veränderten stadtraumästhetischen Vorzeichen versuchte sich der Wettbewerb des Jahres 1924 daran, dem Münster eine neuerliche städtebauliche Einbindung zu geben. Damit verfolgte er dasselbe Ziel wie eine rund zwanzig Jahre zuvor veranstaltete Konkurrenz, die ebenso den durch die Münsterfreilegung verursachten Schaden zu beheben versucht hatte – nur wenige Jahre, nachdem die oben genannten Bauten im Umfeld der Kirche abgerissen worden waren, hatte man diese Maßnahme als nachteilig für die optische Wirkung des riesigen Münsterturms erkannt.

5 Vgl. Jallon, Benoit/Napolitano, Umberto/Boutté, Franck (Hg.): Paris Haussmann. Modèle de Ville, Zürich 2017; siehe auch Papayanis, Nicholas: Planning Paris before Haussmann, Baltimore 2004. 6 Voltaire: Des Embellissements de Paris [1749], in: ders.: Recueil de pièces en vers et en prose, par l’auteur de la tragédie de Sémiramis, Paris 1750, S. 76 – 90. 7 „[I]l faut élargir les rues étroites & infectes, découvrir les monuments qu’on ne voit point, & en élever qu’on puisse voir“, Voltaire: Des Embellissements de Paris, S. 78. 8 Voltaire: Des Embellissements de Paris, S. 76.

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| Rainer Schützeichel Abb. 1 Schwarzpläne des Ulmer Münsterplatzes mit dem Zustand vor und nach der Niederlegung des Barfüßerklosters. Quelle: Süddeutsche Bauzeitung 15 (1905), H. 16, S. 126.

In diesem früheren, 1905 ausgelobten Wettbewerb trat mit dem Architekten und Städtebauer Theodor Fischer (1862 – 1938) erstmals jener Preisrichter auf den Plan, dessen Position im Streit von 1925/26 eine zentrale Rolle spielen sollte. Doch anders als zwanzig Jahre darauf nahm dieser an der öffentlichen Diskussion um die zukünftige Gestaltung des Platzes teil. So ist es kaum verwunderlich, dass sich der Kreis der Preisträger auf diejenigen Arbeiten beschränkte, in denen dem Platz eine architektonische Fassung gegeben worden war, die der Situation des Barfüßerklosters nahe kam – hatte Fischer selbst doch kurz vor Auslobung des Wettbewerbs in der Süddeutschen Bauzeitung just diesen früheren baulichen Zustand der Umgebung des Münsters geschildert und den teilnehmenden Büros damit einen deutlichen Fingerzeig in jene Richtung gegeben, die sich in der Entscheidung des Preisgerichts widerspiegeln sollte.9 9 Fischer, Theodor: Der Münsterplatz in Ulm, in: Süddeutsche Bauzeitung 15/16 (1905), S. 125 – 126. Bereits im Jahr vor der Wettbewerbsauslobung hatte der evangelische Kirchengemeinderat in Ulm Fischer als Sachverständigen zu Rate gezogen, welcher „vor einer weiteren Freilegung des Münsterplatzes“ warnte und den Vorschlag machte, „einen Aufruf an die Deutschen Baumeister zu erlassen und sie aufzufordern, Pläne für die künftige Gestaltung

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Im Lichte des späteren Wettbewerbs warf das Juryvotum von 1906 neben der von Fischer repräsentierten personellen Kontinuität auch auf der inhaltlichen Ebene einen Schatten voraus auf den städtebaulichen Grundsatzstreit, der in dessen Nachgang vom Zaun brechen sollte. Denn das Preisgericht hatte angesichts entsprechender Beiträge eine deutliche Absage an Versuche formuliert, den Münster­platz symmetrisch zu fassen und gar verlautbart, „daß es ein Unding ist, in der Altstadt Ulms einen symmetrischen Platz schaffen zu wollen“.10 Es sollte exakt diese Frage sein, die 1925 den Reibungspunkt der Kontroverse markierte. 3. Der Wettbewerb von 1924/25: Auslöser eines Grundsatzstreits über die historische Legitimation städtebaulicher Eingriffe Anders als noch beim früheren Wettbewerb wurde im Zuge der am 2. Juni 1924 veröffentlichten Auslobung nunmehr explizit der Ort fixiert, an dem die zu entwerfenden Gebäude platziert werden sollten: Auf einem den Wettbewerbsunterlagen beigegebenen Lageplan wurde der zur Bebauung vorgesehene Bereich mit den Buchstaben A, B, C und D markiert. An der südwestlichen Ecke des Münsterplatzes nahm das so definierte Baufeld recht genau jenen Ort auf, an dem zuvor der niedergelegte Klosterkomplex gestanden hatte. In diesem Bereich war nun „ein Gebäude oder eine Gebäudegruppe zu entwerfen, welche die Wirkung des Münsters steigert“.11 Fernab funktionaler Überlegungen zur Nutzung der zu entwerfenden Gebäude kann die Klärung der Frage, wie das Münster baulich inszeniert werden könne, als das eigentliche Ziel des Wettbewerbs erkannt werden – war doch in der Auslobung neben dem Hinweis, dass in die Neuplanung eine Wartehalle als Ersatz für einen vorhandenen Straßenbahnpavillon zu integrieren sei, lediglich ein allgemeines, Läden, Büroräume und allenfalls Wohnungen beinhaltendes Raumprogramm formuliert worden.12 Folglich sollten die Wettbewerbsbeiträge jeweils mit eingängigen Darstellungen der Entwürfe versehen werden, so dass von den Teilnehmern neben einer Vogelschau zudem vier Perspektivzeichnungen gefordert wurden, die von den im Lageplan mit römischen Ziffern gekennzeichneten Punkten aus aufgenommen des Münsterplatzes einzusenden.“ o. A.: Chronik von Ulm [Ulm im Jahre 1904], in: Ulmer Bilder-Chronik 6/62 (1932), S. 321. 10 o. A.: Wettbewerb von Entwürfen für die künftige Gestaltung des Münsterplatzes in Ulm, in: Bauzeitschrift für Württemberg, Baden, Hessen, Elsass-Lothringen 3/43 (1906), S. 339 – 348, hier S. 344. 11 Städtisches Hochbau-Amt Ulm a. D., Unterlagen zum Wettbewerb von Entwürfen für die künftige Gestaltung des westl. Münsterplatzes in Ulm, 2. Juni 1924, Abs. 3, o. S. [S. 2], Stadtarchiv Ulm, B 611/711, Nr. 001/4. 12 Siehe dazu Stadtarchiv Ulm, B 611/711, Nr. 001/4.

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Abb. 2 Lageplan zum „Wettbewerb für die künftige Ausgestaltung des westlichen Münster­ platzes“ in Ulm, mit Markierung des Baufelds (A – D), 1924, Exemplar mit Skizzen Theodor Fischers vom 6. Januar 1925. Quelle: Stadtarchiv Ulm, Signatur B 611/711, Nr. 5

werden sollten, „von denen aus sich das Münster dem Beschauer am eindrucksvollsten zeigt“.13 Bei dem mit A, B, C und D umrissenen, an das Barfüßerkloster gemahnenden Feld auf dem Lageplan handelte es sich zwar eher um eine Empfehlung für die Situierung des Entwurfs als um eine zwingend einzuhaltende Baulinie – abweichende Lösungen sollten bei der Bewertung „nicht grundsätzlich ausgeschlossen“ werden 14 –, doch die Jury unter Fischers Vorsitz zeichnete letztlich ausnahmslos solche Arbeiten aus, in denen diese Umgrenzung weitgehend respektiert worden war.15 13 Auszug aus dem Gemeinderats-Protokoll vom 12. Mai 1924, § 77, S. 3, Stadtarchiv Ulm, B 611/711, Nr. 001/3. 14 Stadtarchiv Ulm, B 611/711, Nr. 001/4, Nachtrag zu Abs. 3, o. S. [S. 4]. 15 Es wurden jeweils drei erste und zweite Preise vergeben, daneben wurden neun Arbeiten angekauft; siehe dazu o. A.: Entscheidung des Preisgerichts, in: Bausteine (1925), H. 1, S. 4 – 7.

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Abb. 3 Ernst Schwaderer und Walter Hoss: Wettbewerbsbeitrag „Barfüßer Hof“, 1. Preis, Lageplan und Perspektive, 1924. Quelle: Schweizerische Bauzeitung 85 (1925), H. 12, S. 159.

Allerdings hatte sich schon kurz nach Auslobung des Wettbewerbs Widerstand gegen das Festhalten an einem inzwischen seit beinahe fünfzig Jahren überzeichneten Stadtgrundriss geregt. So hatte etwa der Publizist Heinrich de Fries (1887 – 1938) in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Die Baugilde eine derartige Einengung kritisiert und stattdessen für ein größtmögliches Offenhalten der gestellten Aufgabe plädiert: „Wir möchten raten, die Bebauung des Münsterplatzes ganz frei zu geben und völlig ins Belieben der einzelnen Bewerber und ihres Könnens zu stellen.“ 16 Spätestens aber mit der im Januar 1925 getroffenen Entscheidung des Preisgerichts schlug die Kritik landesweit hohe Wellen; mehr noch: sämtliche Wettbewerbsbeiträge, auch diejenigen der Preisträger, gerieten zur Makulatur, als der Ulmer Gemeinderat im April 1925 mit Paul Schmitthenner (1884 – 1972) einem Architekten den Auftrag zur Weiterbearbeitung der Münsterplatzgestaltung übertrug, der am Verfahren gar nicht teilgenommen hatte.17 Es ist jedoch bemerkenswert, dass nicht etwa diese juristisch fragwürdige Aushebelung des Wettbewerbsergebnisses den größten Sturm der Entrüstung losbrach, sondern ausgerechnet die bereits 1905 verhandelte und 1925 nunmehr erneut ins Blickfeld rückende Frage nach der angemessenen Platzgestaltung.

Eine Beschreibung der prämierten Entwürfe und weiterer ausgewählter Projekte findet sich in: Honold, Ingrid: Der Ulmer Münsterplatz. Wettbewerbe und Projekte zu seiner städtebaulichen und architektonischen Gestaltung, Diss. Universität Tübingen, 1993, S. 39 – 86. 16 de Fries, Heinrich: Zu dem Wettbewerb der Stadt Ulm, in: Die Baugilde 6/16 (1924), S. 300. 17 Zu diesem Vorgang siehe: Auszug aus dem Gemeinderats-Protokoll, 12. Oktober 1925, § 169, S. 1, Stadtarchiv Ulm, B 611/711, Nr. 001/5.

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Abb. 4 Feuchtinger (Städt. Tiefbauamt Ulm): Lageplan des westlichen Münsterplatzes mit Einzeichnung des Entwurfs von Paul Schmitthenner, September 1925. Quelle: Stadtarchiv Ulm, Signatur B 611/711, Nr. 1 – 3.

Angesichts der Nachbarschaft des gotischen Münsters lautete die zentrale Streitfrage: „Wollte das Mittelalter Achsialität?“ 18 Wohlgemerkt bedienten sich beide Parteien eines jeweils eigenen, von aktuellen Interpretationen (und Intentionen) überlagerten Mittelalterbildes, das sie zur Favorisierung gänzlich unterschiedlicher formaler Lösungen verleiten sollte. So erzählt der Ulmer Münsterplatzwettbewerb nicht zuletzt auch etwas über die Geschichtlichkeit von Geschichtsbildern, bei denen der retrospektive Blick der Exeget*innen stets mitzudenken ist. 3.1. Erstes Säbelrasseln Im Ulmer Streit standen sich zwei Meinungen gegenüber, die in jeweils einem einflussreichen Lehrer ihre Personifikation fanden. Dem von Theodor Fischer vertretenen, vermeintlich malerischen Städtebau traten Parteigänger der Entwurfslehre Friedrich Ostendorfs (1871 – 1915) entgegen, der einen strengen klassizistischen 18 Schürer, Oskar: Wollte das Mittelalter Achsialität?, in: Der Städtebau 20/11/12 (1925), S. 171 – 173.

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Kanon repräsentierte. Die Debatte, die unter ihren Namen als Streit der „Ostendorfianer“ gegen die „Fischerschule“ tobte, aber war ein Repräsentantenstreit: Ostendorf war schon 1915 gefallen, und das Jurymitglied Fischer vermied – anders als noch 1905 – jede öffentliche Äußerung in dieser Sache. Vielmehr wählte er einen offiziösen Weg, indem er den Ulmer Oberbürgermeister Emil Schwammberger (1882 – 1955) um dessen Stellungnahme zur Kritik an der Wettbewerbsentscheidung bat: „Daß Sie […] das Preisgericht und im Besonderen mich als Vorsitzenden gegen gewisse Unverschämtheiten in Schutz nehmen und zwar öffentlich, darf ich wohl in aller Ergebenheit hoffen.“ 19 Die Weichen für eine Personifizierung des Streits waren schon wenige Tage nach Bekanntgabe des Juryvotums gestellt worden, als der beim Wettbewerb leer ausgegangene Architekt Albert Unseld (1879 – 1964) im Ulmer Tagblatt einen Kommentar veröffentlichte, in dem er sich über die Dominanz von Fischer im Preisgericht beklagte. So habe dieses sämtliche Entwürfe abgelehnt, die „nicht nach Frauen- und Männerklosterbauweise“ ausgesehen hätten,20 womit Unseld formal eindeutig auf den abgerissenen Klosterkomplex hinwies und Fischers architektonische wie städtebauliche Absichten folglich mit einer Wiederherstellung des Status quo ante gleichsetzte. Dieser ersten Kritik ließ Unseld gut eine Woche später eine weitere folgen, in der er die „Fischerschule“ als verschworene Gemeinschaft charakterisierte, deren Mitglieder Fischers Entwurfsprinzipien frönten: Unter Fischerschule verstehen wir Fachleute die Gesamtheit aller jener aus der Schule Theodor Fischers hervorgegangenen Baukünstler, die in mehr oder weniger enger Fühlung untereinander Th. Fischers baukünstlerische Anschauungen praktisch verwerten und in ihrem Sinne bauen.21

Mit seinen Kommentaren zeichnete Unseld die Stoßrichtung vor, welcher die Gegnerschaft Fischers im Wesentlichen folgen sollte. Auf architektonischer Ebene prangerte er das Festhalten an einer unzeitgemäßen, vermeintlich mittelalterlichen Formensprache an, und auf der Ebene des Städtebaus erhob er den Vorwurf der Ignoranz gegenüber modernen Bedürfnissen. 19 Fischer, Theodor: Brief an Emil Schwammberger vom 18. Januar 1925, Stadtarchiv Ulm, B 611/711, Nr. 001/3. Kurz darauf gab Schwammberger in der Gemeinderatssitzung vom 26. Januar 1925 die erbetene Stellungnahme zugunsten des Preisgerichts ab; siehe dazu: Ausführungen des Oberbürgermeisters zur Münsterplatzbebauung in der Sitzung des Gemeinderats am 26. Januar 1925, Stadtarchiv Ulm, B 611/711, Nr. 001/5. Danach war die Angelegenheit für Fischer offenbar erledigt; siehe dazu Theodor Fischer, Brief an Emil Schwammberger vom 1. Februar 1925, Stadtarchiv Ulm, Aktennr. 611/711, Nr. 001/3. 20 Unseld, Albert: Münsterplatzfrage, in: Ulmer Tagblatt (1925), 14. Januar 1925, S. 118. 21 Unseld, Albert: Münsterplatzfrage, in: Ulmer Tagblatt (1925), 22. Januar 1925, S. 208 – 209, hier S. 208.

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| Rainer Schützeichel Auf Unselds Kritik ließ Paul Bonatz (1877 – 1956) eine Erwiderung folgen, die ebenfalls auf den Seiten des Ulmer Tagblatts abgedruckt wurde. Er musste sich direkt angegriffen gefühlt haben, war er doch ein Exponent der getadelten „Fischerschule“ par excellence: Nicht nur, dass er für Fischer im Münchner Stadterweiterungsbüro gearbeitet hatte, ihm als Assistent nach Stuttgart gefolgt war und dort 1908 dessen Nachfolge angetreten hatte.22 Auch hatte er als Jurymitglied unmittelbar Anteil am Votum zum Ulmer Wettbewerb gehabt. Somit bot er dem Vorwurf, Fischer und seine Exegeten hätten die Jury dominiert, einen offenen Angriffspunkt. Daher holte Bonatz zu einer Rundumverteidigung der „Fischerschule“ aus: Die Ulmer Wettbewerbsarbeiten kann man in zwei Kategorien teilen. In völliger Verkennung der schuldigen Rücksichten auf das Münster ergehen sich die einen in Gewaltsamkeiten, suchen auffallende Motive, […] oder sie suchen aus dem Platz ein symmetrisches Regelgebilde mit Achsenbeziehungen zu machen, sie legen vor das Münster ovale Colonnadenplätze in der Art des Petersplatzes in Rom. Das ist Formalismus. […] Die zweite Kategorie sind die Arbeiten, die sich einordnen, an richtiger Stelle unterordnen, die aus der Not der unregelmäßigen Voraussetzungen eine Tugend machen und die Baumasse suchen, welche die auseinanderstrebenden Einzelteile zu einem harmonischen Raum zusammenbindet. Das ist Fischerschule! 23

Damit kehrte er die von Unseld aufgestellten Vorzeichen um. Statt ein vages oder nur motivisches Mittelalterbild zu zeichnen, begründete er seine Ablehnung ­axialer Platzgestaltungen angesichts der Nachbarschaft des gotischen Münsters mit einem stadtbaugeschichtlichen Argument: „Die Gotik hat die Achse in diesem Sinne nirgends angewandt, weil der Blick aus jeder Schrägrichtung auf das Bauwerk dem Achsenblick vorzuziehen ist.“ 24 Und noch einen zweiten wichtigen Aspekt brachte Bonatz im Zuge seiner Erwiderung in den Streit ein, nämlich die Personifizierung der Gegnerschaft – aus der Verteidigung der „Fischerschule“ sollte ein Frontalangriff auf die „Ostendorfschüler“ werden. Ihm zufolge waren letztere mit einem starren Regelwerk indoktriniert worden, womit sie bei einer Aufgabe wie dem Münsterplatz, bei der es auf künstlerischen Takt ankomme, von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen seien.

22 Zum Verhältnis von Bonatz zu Fischer siehe Schickel, Gabriele: Theodor Fischer als Lehrer der Avantgarde, in: Lampugnani, Vittorio Magnago/Schneider, Romana (Hg.): Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950. Reform und Tradition, Stuttgart 1992, S. 5 – 67; sowie Kiem, Karl: ‚Im Bannkreis Theodor Fischers‘: Die frühen Erfolge des Paul Bonatz, in: Voigt, Wolfgang/May, Roland (Hg.): Paul Bonatz 1877 – 1956, Tübingen/Berlin 2010, S. 39 – 49. 23 Bonatz, Paul: Der Wettbewerb Ulmer Münsterplatz u. die Fischerschule, in: Ulmer Tagblatt (1925), 28. Januar 1925, S. 274. 24 Bonatz: Wettbewerb Ulmer Münsterplatz, S. 274.

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Es dürften diese von beiden Seiten gefällten pauschalen Urteile gewesen sein, die schließlich zur Eskalation des Streits führten. 3.2. Die stadtbauhistorische Aufladung der Debatte Hier ist nicht der Ort, um die zahlreichen Volten der Debatte auszubreiten; einzig sollen die wichtigsten Argumente beleuchtet werden, die von den prominentesten, mit Blick auf ihre publizistische Wirkung einflussreichsten Parteigängern – Werner Hegemann (1881 – 1936) auf Seiten der „Ostendorfianer“ und Peter Meyer (1894 – 1984) als Exponent der „Fischerschule“ – vorgetragen wurden. Als Herausgeber sowohl von Wasmuths Monatsheften für Baukunst als auch des Periodikums Städtebau hatte Hegemann bei der Debatte ein gewichtiges Wort mitzureden. Von der letztgenannten Zeitschrift widmete ein ganzes Heft dem Ulmer Wettbewerb, um dort in einem Aufsatz mit dem vielsagenden Titel „Die krystallische Form gotischer Kirchen und ihre Vorplätze“ stadtbauhistorische Untersuchungen anzustellen, mit denen er seine Kritik an der Entscheidung des Preisgerichts auf ein solides Fundament stellte.25 Als Reaktion darauf veröffentlichte Meyer in der von ihm als Redakteur mitverantworteten Schweizerischen Bauzeitung eine ebenso stadtbauhistorisch argumentierende Apologie der angegriffenen „Fischerschule“, in der er eine beachtenswerte Klärung städtebaulicher Begriffe leistete.26 Kurze Zeit später wurde sein Beitrag in leicht veränderter Form auf den Seiten der Zeitschrift Baugilde – dem Organ des Bundes Deutscher Architekten und der Zentralvereinigung der Architekten Österreichs – wiederabgedruckt, so dass auch Meyers Stimme im deutschen Sprachgebiet weithin zu vernehmen war.27 Hegemann lehnte die Entscheidung des Preisgerichts rundweg ab, da er regelmäßige, axial angelegte Platzgestaltungen als eine Konstante in allen Epochen der Baugeschichte vorzufinden können glaubte: Nichts erlaubt uns zu zweifeln, daß die Kirchenbaumeister der Gotik wie die Baumeister aller anderen Zeiten, die in Baufragen ernst genommen werden, den innigen Wunsch verspürten, mit der kristallinischen Symmetrie ihrer Kirchenpläne auch die Umgebung ihrer stolzen Bauwerke beseelend zu durchdringen.28

25 Hegemann, Werner: Die krystallische Form gotischer Kirchen und ihre Vorplätze. Betrachtungen zum Ulmer Münsterplatz-Wettbewerb, in: Der Städtebau 20/3/4 (1925), S. 29 – 39. 26 Meyer: Ueber Axe und Symmetrie. 27 Meyer, Peter: Axiale Architektur, in: Die Baugilde 7/17 (1925), S. 1177 – 1183. 28 Hegemann: Die krystallische Form, S. 30.

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| Rainer Schützeichel Abb. 5 Titelseite des Aufsatzes „Die krystallische Form gotischer Kirchen und ihre Vorplätze“ von Werner Hegemann in der Zeitschrift Der Städtebau, 1925. Quelle: Der Städtebau 20 (1925), H. 3/4, S. 29.

Aus den axialsymmetrischen Grundrissen gotischer Kirchen leitete er demnach eine ideell angestrebte Regelmäßigkeit der Kirchenvorplätze ab. Mithilfe seiner Überhöhung der inneren Raumdisposition zu einem Entwurfsprinzip für den städtischen Außenraum errichtete er indes ein anachronistisches theoretisches Modell, laut welchem ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Innen- und Außenraum besteht – um auf diese Weise der Frage nach mittelalterlichen Raumbildungsprinzipien ausgesprochen moderne Überlegungen zu räumlichen Kontinuen zu unterlegen und die um historische Gestaltungsfragen kreisende Debatte in seine eigene Zeit zu holen. Das Prinzip der Betonung einzelner Monumente durch axiale Stadtraumgestaltung hatte seine reinste Ausprägung im Barock erfahren, so dass Hegemann kaum überraschend barocken Überformungen von mittelalterlichen Kirchenvorplätzen die weitgehende Erfüllung des von ihm angenommenen Ideals zusprach.29 Es sei nur am Rande erwähnt, dass er die gestaltprägenden gesellschaftlichen Bedingungen der Epochen, namentlich die bürgerliche Stadtgesellschaft im Mittelalter

29 Hegemann: Die krystallische Form, S. 36.

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einerseits und die absolutistische Herrschaft im Barock andererseits, dabei vollständig marginalisierte. Im Anschluss an seine Analyse der „krystallische[n] Form“ legte Hegemann im selben Heft des Städtebau den Aufsatz „Camillo Sitte und die ‚Fischerschule‘“ vor, in dem er unter Berufung auf die vermeintlich „romantische“ Bauproduktion der Jahrhundertwende zu einer Generalabrechnung mit letzterer anhob: [Es] blieb […] unbestimmt, wer in erster Linie für das städtebauliche Unwesen von 1890 – 1910 verantwortlich sei. Es ist darum lebhaft zu begrüßen, daß hier der in Ulm ausgebrochene Streit etwas Klarheit schaffen zu sollen scheint. Bei näherer Betrachtung mancher Ereignisse, die mit dem Ulmer Münsterplatz zusammenhängen, gewinnt man in der Tat den Eindruck, als erhebe die sogenannte ‚Fischerschule‘ geradezu mit Stolz einen Anspruch auf die berüchtigte Romantik von 1890 – 1910.30

Schon im Titel seines Aufsatzes brachte Hegemann die „Fischerschule“ mit der Galionsfigur des künstlerischen Städtebaus, Camillo Sitte (1843 – 1903), in ­Verbindung – allerdings in der Absicht, einen diametralen Gegensatz zwischen den Entwurfsstrategien von Fischer und Sitte aufzuzeigen, sei doch Sitte entgegen verbreiteter Meinung für die „großen städtebaulichen Gedanken der Ordnung und Achsenbildung“ eingetreten, und keinesfalls für „romantische Verwilderung“.31 So nutzte Hegemann seine Referenz auf Sitte in zweifacher Weise: erstens entzog er damit der „Fischerschule“ einen für sie selbst wichtigen Theoretiker,32 um diesen allein als Repräsentanten der Gegenpartei erscheinen zu lassen, und zweitens bediente er sich zahlreicher Abbildungen aus Sittes Buch Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen aus dem Jahr 1889, um das zuvor behauptete überzeit­ liche Streben nach Axialität im Städtebau abgestützt auf dessen Autorität zu belegen. Indes verwendete er überwiegend Klischees der stark veränderten französischen Ausgabe, die erstmals 1902 unter dem Titel L’art de bâtir les villes erschienen war.33 30 Hegemann, Werner: Camillo Sitte und die ‚Fischerschule‘, in: Der Städtebau 20/3/4 (1925), S. 39 – 44, hier S. 40. 31 Hegemann: Camillo Sitte, S. 40. 32 Zu Fischers Wertschätzung von Sitte siehe Nerdinger, Winfried: Theodor Fischer. Architekt und Städtebauer, Berlin 1988, S. 22 – 46. Fischer drückte sie beispielsweise in folgendem Vortrag aus: Fischer, Theodor: Städtebau, in: Stadtschultheissenamt Stuttgart (Hg): Die Stuttgarter Stadterweiterung mit volkswirtschaftlichem, hygienischen und künstlerischen Gutachten, Stuttgart 1901, S. 235 – 240, bes. S. 239. 33 Sitte, Camillo: L’art de bâtir les villes. Notes et réflexions d’un architecte traduites et complétés par Camille Martin, Genf/Paris 1902. Zu den Veränderungen in der französischen Ausgabe siehe Posch, Wilfried: Camillo Sittes städtebauliche Schriften, in: Semsroth, Klaus/ Mönninger, Michael/Crasemann Collins, Christiane (Hg.): Camillo Sitte Gesamtausgabe, Bd. 2, Wien/Köln/Weimar 2010, S. 11 – 79, bes. S. 55 – 64.

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Abb. 6 Lageplanskizzen der Vorplätze der Kathedralen von Amiens und Rouen in Hegemanns Aufsatz „Camillo Sitte und die ‚Fischerschule‘“, nach der Vorlage aus L’art de batir les villes, 1925. Quelle: Der Städtebau 20 (1925), H. 3/4, S. 31.

Bei allen der insgesamt dreißig von ihm herangezogenen Lageplanskizzen sah Hegemann seine These bestätigt, auch im Mittelalter seien vor Hauptkirchen regelmäßige Vorplätze angestrebt worden, die axial mit diesen in Beziehung gestanden hätten.34 So betonte er, dass auch der flüchtigste Blick auf die Pläne von alten Kirchenvorplätzen, die Camillo Sitte als mustergültig gesammelt hat […], zeigt, daß immer aufs neue wenigstens der Versuch gemacht wurde, den wichtigsten alten Kirchen an der westlichen Turmseite regelmäßige oder scheinbar regelmäßige Plätze axial vorzulegen.

Hegemann wandte sich in seinem Aufsatz gegen eine populäre Lesart von ­Sittes Buch, wonach dieser eine Rehabilitation mittelalterlich-malerischer Stadtbilder angestrebt habe. Zu einem der prominentesten Kritiker sollte Le Corbusier (1887 – 1965) avancieren. Nachdem dieser sich noch zu Beginn seiner Architektenlaufbahn – angeregt von Sittes Buch – in Österreich und Deutschland auf 34 Hegemann: Die krystallische Form, S. 31 – 33.

Der fade Beigeschmack der ‚Romantik‘ im Ulmer Münsterplatzstreit 1925/26  | Abb. 7 Seite aus dem von Camille Martin herausgegebenen Buch L’art de bâtir les villes [EA 1902, dt. Orig.: Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen] mit Lageplanskizzen der Kathedralen von Amiens und Rouen 1918. Quelle: Camillo Sitte, L’art de bâtir les villes [EA 1902, dt. Orig.: Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen], hg. von Camille Martin, Genf/Paris, o. J. [1918], S. 90.

Spurensuche nach dem künstlerischen Entwurfsansatz im Städtebau gemacht hatte,35 um an seiner (zu Lebzeiten nie veröffentlichten) Studie La construction des villes zu arbeiten,36 tadelte er Mitte der 1920er Jahre in einer offenen Attacke den gewundenen „chemin des ânes“, den „Weg des Esels“, dem Sitte anstelle des geradlinigen – man könnte auch sagen: axialen – Wegs des Menschen gefolgt sei.37 Er tat dies just im selben Jahr, in dem Hegemann und Meyer ihren Disput ausfochten, weshalb Hegemann sich keineswegs sicher geglaubt haben durfte, seine Zuordnung Sittes zu den „Modernen“ werde auf breiter Basis geteilt. Wohl auch aus diesem Grund sah er sich dazu veranlasst, in seinem Aufsatz auf eine frühere Stellungnahme zur Modernität Sittes hinzuweisen, die er 1911 35 Siehe dazu Oechslin, Werner: Le Corbusier und Deutschland: 1910/1911, in: ders. (Hg.): Moderne entwerfen. Architektur und Kulturgeschichte, Köln 1999, S. 172 – 191. 36 Diese Studie ist aufgearbeitet und erstmals publiziert worden in Schnoor, Christoph (Hg.): La construction des villes. Le Corbusiers erstes städtebauliches Traktat von 1910/11, Zürich 2008. 37 „On vient de créer la religion du chemin des ânes. Le mouvement est parti d’Allemagne [sic!], conséquence d’un ouvrage de Camillo Sitte sur l’urbanisme, ouvrage plein d’arbitraire: glorification de la ligne courbe et démonstration spécieuse de ses beautés inconcurrençables. “ Le Corbusier, Urbanisme, Paris o. J. [1925], S. 9. Zur Wandlung der Ansichten Le Corbusiers in Bezug auf den „Weg des Esels“ siehe Pehnt, Wolfgang: Immer geradeaus. Der gerade Weg in der modernen Architektur, in: Daidalos 47 (1993), S. 18 – 27.

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| Rainer Schützeichel im Zuge einer Rezension zum Buch Deutsche Stadtbaukunst in der Vergangenheit des Kunsthistorikers Albert Erich Brinckmann (1881 – 1958) vorgelegt hatte.38 Diese war Hegemann zu einem Kommentar über Sittes Schrift geraten, hatte doch Brinckmann dem Städte-Bau eine verhängnisvolle Wirkung auf die städtebauliche Praxis unterstellt.39 Der Rezensent hatte sich daher genötigt gefühlt, die seiner Meinung nach missverstandenen Prinzipien Sittes klarzustellen, indem er nicht ganz zutreffend festhielt: Während Sitte […] ein leidenschaftlicher Verehrer des Barocks war und […] sich in seinen eigenen Stadtplanentwürfen […] von krummer Romantik gänzlich frei gehalten hatte, fand er, trotz alledem, unaufmerksame Verehrer im Lager der Schematiker, die ihn zum Apostel der Unregelmäßigkeit ausriefen.40

Keine „krumme[] Romantik“ also, sondern barockesque Regelmäßigkeit – so hatte 1911 Hegemanns Fazit gelautet. 1925 nun lieferte er mit Fischer einen jener 14 Jahre zuvor getadelten „unaufmerksame[n] Verehrer“ in persona nach. So wie die Rezension von 1911 sich letztlich zu einem Sitte-Kommentar ausgewachsen hatte, geriet ihm die Kritik an der Ulmer Wettbewerbsentscheidung zu einer Offensive gegen Fischer und dessen Epigonen. Auf Hegemanns Vorwürfe ließ Peter Meyer, der bei Fischer studiert hatte, ein freundschaftliches Verhältnis zu diesem pflegte und bereits einige Jahre zuvor als „hitziger Bekämpfer der ostendorfschen Architekturtheorie“ in Erscheinung getreten war,41 eine Erwiderung in der Schweizerischen Bauzeitung folgen. Darin warf er den „Nachlassverwaltern Ostendorfs“ vor, diese hätten keine Klarheit über grundlegende städtebauliche Begriffe erlangt. Auf der einen Seite argumentierte Meyer ebenso wie sein Kontrahent stadtbauhistorisch, doch auf der anderen Seite erweiterte er seine Beweisführung um eine theoretische Ebene, auf der er die bei Hegemann vermisste Begriffsklärung nachreichte. Damit verfolgte er zwei Ziele: erstens gab er mit diesem Kunstgriff seinem von Polemik keineswegs freien Artikel den Anstrich wissenschaftlicher Objektivität; daneben zielte er mit der Analyse des für Hegemann zentralen Begriffs der „Achse“ zweitens auf die Widerlegung von dessen These einer überzeitlichen städtebaulichen Leitidee ab – sei doch „scharf zu unterscheiden zwischen Blickrichtungen, 38 Hegemann, Werner: Brinckmann über deutsche Stadtbaukunst in der Vergangenheit, in: Der Städtebau 8/9 (1911), S. 105 – 106. Zum rezensierten Buch siehe Brinckmann, Albert Erich: Deutsche Stadtbaukunst in der Vergangenheit, Frankfurt am Main 1911. 39 Hegemann: Brinckmann, S. 106. 40 Hegemann: Brinckmann, S. 105. 41 Schnell, Dieter: Bleiben wir sachlich! Deutschschweizer Architekturdiskurs 1919 – 1939 im Spiegel der Fachzeitschriften, Basel 2005, S. 281.

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Axen und blossen Mittellinien.“ 42 Und so ließ er für die den „Ostendorfianern“ heilige Achse nur eine vergleichsweise enge Definition gelten: Unserer Meinung nach darf man von Axialität nur dann reden, wenn innere Richtungskräfte eines Baukörpers nach aussen ausstrahlen, sodass sich auch die Umgebung nach ihnen einstellen muss […]. Man darf also noch lange nicht jeden mehr oder weniger regelmässigen Platz vor einer Kirche oder sonst einem dominierenden Gebäude als ‚axial‘ bezeichnen, sondern es ist in jedem einzelnen Fall zu fragen, ob die Platzwände die Kirche ganz einfach umgeben […], oder ob diese Platzwände wie eine Schar Trabanten in Achtungstellung auf den Mittelpunkt der Komposition eingestellt sind, ob sie also auch im Einzelnen von den axial ausstrahlenden Richtungskräften abhängen und ihnen antworten. Nur in diesem zweiten Fall ist von axialer Anlage die Rede.43

Diese Exegese garnierte Meyer mit einem Resümee, das einer Bloßstellung gleichkommt – und mit dem er Unselds großspuriger Behauptung, „wir Fachleute“ wüssten um die Eigenschaften der Fischerschule, gleichsam im Vorübergehen das Fundament entzog: „Damit berühren wir die Haupt-Konfusion der Ostendorfschule, die wahllos jede strichpunktierte Linie, die senkrecht zu einer Fassade durch irgend eine Mitte geht, als Axe ansieht.“ 44 Von Fachwissen, so darf man als Subtext dieses Seitenhiebs lesen, fehle bei der Gegenpartei jede Spur. Indem Meyer in seiner Replik auf Hegemann einige der auch von diesem verwendeten Zeichnungen aus L’art de bâtir les villes überzeichnete und um zusätzliche, Mittellinien und Blickrichtungen (niemals aber Achsen) darstellende Linien ergänzte, legitimierte er seine eigene Begriffsdefinition mit derselben Referenz auf Sitte, die auch seinem Kontrahenten zur Untermauerung von dessen These gedient hatte.45 Anders als Hegemann, der daraus auf eine überzeitliche Gültigkeit der Axialität geschlossen hatte, zog Meyer einen ungleich engeren Schluss und meinte, das Streben nach axialer Platzgestaltung einzig zur Zeit des Barock erkennen zu können. Theodor Fischer dankte Meyer für dessen Eintreten „gegen die Achsenwütigkeit“.46 Sein Brief vom Juni 1925 zeigt zudem, dass ihn der Grundsatzstreit – bei dem er sich ja jeder öffentlichen Äußerung enthielt – keineswegs unberührt ließ: 42 43 44 45

Meyer: Ueber Axe und Symmetrie, S. 208. Meyer: Ueber Axe und Symmetrie, S. 208. Meyer: Ueber Axe und Symmetrie, S. 208. Ein Hinweis auf die ergänzten Skizzen findet sich ebenso in Medici-Mall, Katharina: Im Durcheinandertal der Stile. Architektur und Kunst im Urteil von Peter Meyer (1894 – 1984), Basel/Boston/Berlin 1998, S. 132. 46 Fischer, Theodor: Brief an Peter Meyer vom 17. Juni 1925, Nachlass Peter Meyer, Privatarchiv Jakob Meyer, Basel.

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| Rainer Schützeichel Abb. 8 Peter Meyer: Umzeichnung der Lageplanskizzen von Amiens und Rouen nach der Vorlage Hegemanns im Aufsatz „Ueber Axe und Symmetrie“, mit Einzeichnung von Mittellinien und Blickrichtungen, 1925. Quelle: Schweizerische Bauzeitung 85 (1925), H. 18, S. 233.

Daß mich die Dinge, die Sie veranlaßt haben, gegen die Achsenwütigkeit eine Lanze zu brechen, […] ein paar Tage bedrängt haben, will ich nicht leugnen. […] Für Ihren Aufsatz in der Schw[eizerischen] B[au]z[ei]t[un]g danke ich Ihnen herzlich. Ich finde ihn vortrefflich und freue mich, mir einige Anregungen dazu – ohne Ihnen wehezutun – zuschreiben zu dürfen. Die Begriffe über diese Dinge sind in den anständigsten Kreisen – und ganz besonders bei den selbstgerechten Klassizisten – merkwürdig lax.47

4. Das ‚Romantische‘ im Städtebau? Hegemann wie Meyer argumentierten auf historischer Grundlage – hatte Ersterer seine Absage an das Preisgerichtsurteil historisch begründet, so sprach Letzterer diesem gerade umgekehrt seine Legitimation zu. Insofern lässt diese Episode nicht zuletzt eines erkennen: dass nämlich die Konstruktion von Geschichtsbildern ganz wesentlich von dem jeweiligen Erkenntnisinteresse der Interpret*innen abhängen kann und demgemäß in der Rezeption einer kritischen Prüfung bedarf.

47 Fischer, Theodor: Brief an Peter Meyer vom 17. Juni 1925 (Hervorhebung durch den Verf.).

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Was die Streithähne interessanterweise einte war ihre Abneigung gegen das Romantische. Denn über das formale Gezänk hinweg, ob denn nun eine axiale Beziehung der entworfenen Bauten zum Münster historisch legitimiert oder aber vollkommen fehl am Platz sei, hatte der Begriff ‚romantisch‘ für beide Parteien einen faden Beigeschmack. Den Befürwortern strenger Axialität diente das Etikett ‚Romantiker‘ zur Diffamierung ihrer Kontrahenten, indem sie deren Entwürfe mit diesem Schlagwort einerseits stilistisch als rückwärtsgewandt, andererseits städtebaulich als verspielt-malerisch und unzweckmäßig disqualifizieren konnten. Die so angegriffenen Parteigänger der „Fischerschule“ hingegen argumentierten, durch ihre den örtlichen Gegebenheiten angepassten Entwürfe seien allein sie in der Lage, dem Münster ein angemessenes stadträumliches Gegenüber zu geben – den Stempel der ‚Romantik‘ aber wollten sie sich keinesfalls aufdrücken lassen. Vielmehr reklamierten sie ebenso wie ihrer Gegner für sich, ‚modern‘ zu sein. Beide grenzten ihre Modernität dadurch ab, dass sie der jeweils anderen Partei Adjektive zuordneten, welche sich auf eine als überholt dargestellte Epoche bezogen – auf der einen Seite ‚klassizistisch‘, und auf der anderen Seite eben ‚romantisch‘. Ein wenig verschämt gestand Meyer indes ein, dass einigen von Fischers Entwürfen wohl durchaus „süddeutsch-romantische[] Kleinlichkeiten […] anhaften“.48 Allerdings entkräftete er diesen Makel sogleich angesichts des über den Ulmer Wettbewerb ausgebrochenen Streits. Denn auch er habe sich zwar über ein paar Einzelheiten und Komplizierungen geärgert: aber eben über Einzelheiten, und wer glaubt, mit einem Tadel der Fischerschen Romantik etwas Wesentliches gesagt zu haben, der sieht vor lauter Bäumen den Wald nicht.49

Beim architektonischen Detail also zeige sich bei dem für den Streit namensgebenden Lehrer durchaus eine regional verwurzelte Romantik. Im städtebaulichen Zusammenhang aber – und nur darum ging es in Ulm – sei es nicht romantische Motivsucht gewesen, die zu den Positionierungen und Arrangements der preisgekrönten Entwürfe geführt habe, sondern allein die Einsicht in tiefere Gesetzmäßigkeiten der städtebaulichen Komposition im Angesicht eines gotischen Kirchenbaus. Keine „romantische Verwilderung“ 50 also, wie sie Hegemann zu erkennen meinte, sondern das, was man einen aus dem Kontext heraus entwickelten – nicht aber einen romantischen – Städtebau nennen könnte.

48 Meyer: Ueber Axe und Symmetrie, S. 207. 49 Meyer: Ueber Axe und Symmetrie, S. 207. 50 Hegemann: Camillo Sitte, S. 40.

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Matthias Schirren

Deus sive natura. Bruno Tauts Alpine Architektur im Lichte Goethes und in Erich Kästners Fliegendem Klassenzimmer Goethe hatte bemerkt, in der Beschränkung zeige sich der Meister, Kästner setzte leise hinzu: im kurzen Satz. Peter Sloterdijk 20161

Mit seinen stadtbildprägenden Großsiedlungen schuf Bruno Taut (1880 – 1938), eine der führenden Künstlerfiguren unter den Architekten der Weimarer Jahre in Deutschland, eine spezifische Form romantischer Urbanität. Tauts Ideal entsprang der Garten­ stadtbewegung. Es setzt sich ab von anderen Konzepten der Moderne und sagte Dichte, Geschwindigkeit und Auflösung des Individuellen in den Stadtagglomerationen Europas, wie sie beispielsweise vom italienischen Futurismus um 1910 gefeiert wurden, den Kampf an, ohne dabei dem reaktionären Schema einer bloß identitären Heimatschutzarchitektur zu verfallen. Der Schriftsteller Alfred Döblin, Verfasser des programmatischen Großstadtromans Berlin Alexanderplatz, konzedierte 1928 unter anderem der berühmtesten von Tauts Berliner Siedlungen, der Großsiedlung Britz, errichtet in den Jahren 1924 bis 1926 und heute als Weltkulturerbe anerkannt, dass in ihr „der große einfache Gedanke des Zusammenwohnens von riesigen Menschenmassen zu einem klaren Ausdruck“ komme und sich bei ihren Bewohnern anders als bei den bloß äußerlich zusammengedrängten Massen gewöhnlicher Straßen „Ruhe und Selbstgefühl“ entfalteten.2 Die städtebauliche Anlage dieser Großsiedlung hatte Taut zusammen mit Berlins späterem Stadtbaurat Martin Wagner nach denselben Prinzipien aus den Gegebenheiten des Geländes entwickelt und kompositorisch umgesetzt, die auch der Bearbeitung und Ins-Verhältnis-Setzung von runden Gletscherformationen und steilen Berggipfeln der Buchpublikation Alpine Architektur zu Grunde liegen. Deren Zeichnungen hatte er zwischen November 1917 und August 1918 als architektonischen Friedensaufruf an die „Völker Europas“ geschaffen.3 1 Sloterdijk, Peter: Das Schelling-Projekt. Bericht, Berlin 2018, S. 60. 2 „Im Süden der Stadt, in Britz, in der Siedlung und anderswo kommt der große einfache Gedanke des Zusammenwohnens von riesigen Menschenmassen zu einem klaren Ausdruck: man sieht mit Augen die Gewalt der Uniformität, die Uniformität wird bekenntnisartig geäußert. In den Häusern der gewöhnlichen Straßen waren die Masse, zusammengedrängt, gedrückt, gewissermaßen verschmutzt, ohne Gefühl von sich. Hier ist Ruhe und Selbstgefühl.“ Döblin, Alfred: Geleitwort, in: Bucovich, Mario von: Berlin, Berlin 1928, S. X. 3 Vgl. hierzu: Schirren, Matthias: Bruno Taut. Alpine Architektur. Eine Utopie, München/ Berlin/London/New York 2004; zum Aufruf an die „Völker Europas“ im Zentrum der

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| Matthias Schirren Waren es in seiner Alpinen Architektur unter anderem Monte-Rosa-Gletscher und Matterhorn, deren dialektisches Miteinander Taut als Naturschauspiel von fließender Rundformation einerseits und markant aufragendem Spitzgipfel andererseits inszenierte, so gab er in Britz Geschosswohnungsbau und Reihenhauszeilen entsprechende Formqualitäten (Abb. 1). Wie in Erinnerung an die realen Alpen hielt er die prägende Rundform eines großen, im Grundriss hufeisenförmigen Gebäudes, das eine Geländesenke mit einer spiegelnden Wasserfläche einfasst, in den kühlen Gletscherfarben Blau und Weiß. Expressive Rottöne hingegen behielt er unter anderem jener sogenannten Hüsung vor, deren städtebauliche Grundrissfigur im Rücken der weißen Großform eine Raute mit gebrochenen Ecken beschreibt. In allem, was ihre Bauten formal und farblich auszeichnet, ist sie der kompositorische Gegensatz zur großen Rundform des Hufeisens. Auch darin, dass sie aus vereinzelt gestellten Hauszeilen besteht, deren Satteldächer – im Unterschied zum Flachdach des Hufeisenbaus – expressiv aufgipfeln (Abb. 2). Als Taut 1937 seinen Klassiker Houses and People of Japan publizierte, eine Auftragsarbeit, die der 1933 von den Nazis aus Deutschland Vertriebene für den Verlag Sanseido in Tokio verfasst hatte, gab er dem Buch auch eine eigenhändige Zeichnung des Fuji bei (Abb. 3). Sie ist im Stile japanischer Tuschfederzeichnungen gehalten und zeigt den schneebedeckten Gipfel des höchsten Berges der japanischen Inselgruppe als gleichsam natürlichen Regenten dieser Weltgegend. Den charakteristischen Umriss des Berges, den schon Katsushika Hokusai in seinen berühmten Ansichten des Fuji um 1830, also etwa zur Zeit der deutschen Romantik, gefeiert hatte, künstlerisch zu bearbeiten, schloss Taut für den Fuji ausdrücklich aus: „Dieser Berg ist in seiner Form absolut nicht besser zu machen, er ist selbst ein Kunstwerk und doch Natur.“ 4 Damit wollte Taut sich jedoch nicht etwa von seiner utopischen Alpenvision der ausgehenden 1910er Jahre distanzieren. Sie wurde 1944 – wenn auch posthum – sogar noch einmal in japanischer Übersetzung publiziert.5 Bei Lichte betrachtet, liegt ­hierin kein Widerspruch. Denn auch in der Alpinen Architektur (als Buchpubli­ kation im Hagener Folkwangverlag gedruckt unter der Jahreszahl 1919, ausgeliefert allerdings erst Anfang 1920), der erwähnten Folge von dreißig Zeichnungen, die den Betrachter in fünf gleichsam musikalisch komponierten Sätzen einen imaginären Aufstieg in immer höher gelegene, künstlerisch bearbeitete Berg- und Alpenregionen vollziehen lassen, um ihn schließlich zum „Erdrinden-“ und „Sternenbau“ zu führen, war es ihm nicht um eine Umformung der Natur gegangen, sondern um ein empathisches Einfühlen, mithilfe dessen der künstlerisch Begabte das Wesen von Naturformen erkennt, um einen architektonisch im Wortsinn zu verstehenden Zeichnungsfolge (Blatt 16) siehe Schirren: Bruno Taut, S. 72 – 75. 4 Zitiert nach Taut, Bruno: Das japanische Haus und sein Leben, Houses and People of Japan, Berlin 42005, S. 303. 5 Siehe hierzu: Schirren: Bruno Taut, S. 25

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Abb. 1 Großsiedlung Britz, Berlin, 2014. Luftbild Nr. 02227. Foto: Ben Buschfeld, Berlin.

Abb. 2 Großsiedlung Britz, Berlin, Giebel einer Hauszeile in der Hüsung, um 2001. Foto: Ben Buschfeld, Berlin.

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| Matthias Schirren Abb. 3 Bruno Taut: Fuji, Tuschfederzeichnung, 1933. Quelle: Archiv der Akademie der Künste Berlin, Berlin, Signatur BTA-01 – 731.

Weltumbau zu initiieren. In ihm sollte das, was in natürlichen Bildungen wie Berg und Tal, wie Erde und Stern angelegt ist, nicht etwa bloß überformt werden. Vielmehr entsprach es Tauts letztlich platonisch zu nennendem Konzept, das in den Naturformen latent Angelegte auf eine Tendenz, auf ein innewohnendes formales Potential hin, gleichsam sokratisch, zu befragen, um es schließlich künstlerisch weiterzuführen und zu vollenden.6 Natur und Kunst waren für Taut nicht etwa Gegensätze, sondern verschiedene Steigerungsformen ein und desselben Prinzips. Die neuromantischen Grundlagen 7 von Tauts architektonischem Denken gehen über seinen Lehrer und Mentor, den Architekten Theodor Fischer (1862 – 1938), sowohl auf die Ästhetik des Leipziger Psychophysikers Gustav Theodor Fechner (1801 – 1887) zurück, als auch auf dessen seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts in verschiedenen Schriften mit wechselnden Schwerpunkten niedergelegte Allbeseelungslehre.8 6 Siehe hierzu: Schirren: Bruno Taut, S. 8 – 25. 7 Schirren, Matthias: Weltbild, Kosmos, Proportion. Der Theoretiker Bruno Taut, in: N ­ erdinger, Winfried/Hartmann, Kristina/Schirren, Matthias/Speidel, Manfred (Hg.): Bruno Taut. Architekt zwischen Tradition und Avantgarde, München/London/New Yor 2001, S. 90 – 111. 8 Zu ihnen siehe u. a. Mattenklott, Gert: Nachwort, in: Fechner, Gustav Theodor: Das Unendliche Leben, München 1984; sowie Heidelberger, Michael: Die innere Seite der Natur.

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Insbesondere auch Paul Scheerbart, Tauts literarischer Gewährsmann für eine organisch-kristalline Überbauung der Erde mit bunten, die „Erdrinde“ sensibilisierenden Bauten aus Glas, hatte sich von ihnen inspirieren lassen.9 Taut hat sich in einem der Briefe an den Korrespondenzzirkel der Gläsernen Kette, den er 1920 verfasste, explizit zu Fechners Allbeseelungslehre bekannt.10 Schon seine frühesten architekturtheoretischen Aufzeichnungen aus dem Jahr 1904 nehmen wörtlich auf Fechners Ästhetik von 1876 Bezug. 1. Architektur und Assoziation Tauts Text Natur und Baukunst ist in zwei aufeinander aufbauenden Varianten überliefert und bildet gleichsam so etwas wie das älteste Systemprogramm seines Architekturdenkens. Der in Königsberg geborene Taut war zum Zeitpunkt der Abfassung 24 Jahre alt und hatte nach einem Zwischenspiel im Büro des Berliner Jugendstilers Bruno Möhring gerade seine Tätigkeit im Stuttgarter Büro Fischers begonnen. Fechners 1876 erschienene Vorschule der Ästhetik lag schon Fischers stimmungshaftem Späthistorismus zugrunde, dem es nicht mehr bloß, wie noch dem älteren Historismus, um korrekte Stilformen ging, sondern vielmehr um deren orts- und funktionsspezifische Verwendung. So hatte auch der Wiener Camillo Sitte Fechner verstanden,11 dessen Ideen eines malerischen Städtebaus Fischer bei der Münchener Stadterweiterung in den 1890er Jahren gegen die Reißbrettgeometrie der älteren Städtebautheorie vertreten hatte.12

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Gustav Theodor Fechners wissenschaftlich-philosophische Weltauffassung, Frankfurt am Main 1993. Fechner greift auf die Romantiker Oken und Schelling zurück. Schelling entwickelt in seiner Naturphilosophie allerdings eine komplexe Gradationslehre, der zufolge sich die Manifestation des Absoluten in der Natur kontinuierlich steigere. Über eine Stufenfolge versucht Schelling eine einfache In-Eins-Setzung von Gott und Welt mit der modernen Idee der Perfektibilität zu verbinden. Vgl.: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797), in: ders.: Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der ­Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. Von Hans Michael Baumgartner/Manfred Durner/Walter Schieche, Reihe I: Werke, Bd. 5., hg. Von Manfred Durner unter Mitwirkung von Walter Schieche, Stuttgart 1994, S. 59 – 306 [Werkausgabe]. Rausch, Mechthild: Nachwort. Irdisches Vergnügen in Glas, in: Scheerbart, Paul: Das graue Tuch und zehn Prozent Weiß. Ein Damenroman, München 1986, S. 147 – 164. Taut, Bruno: Mein Weltbild, in: Das Hohe Ufer 2/10 und 2/11 (1920), S. 152 – 158. Reiterer, Gabriele: AugenSinn. Zu Raum und Wahrnehmung in Camillo Sittes Städtebau, Salzburg 2003; Jessen-Klingenberg, Detlef/Wilhelm, Karin (Hg.): Formationen der Stadt. Camillo Sitte weitergelesen, Basel/Berlin/Boston 2006. Vgl. Nerdinger, Winfried: Theodor Fischer. Architekt und Städtebauer. 1862 – 1938, Berlin/ München 1988 S. 73 – 75.

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| Matthias Schirren Fechner behauptete in seiner Vorschule, dass für den ästhetischen Eindruck neben der Form vor allem auch die mit dem dargestellten Gegenstand verbundenen Assoziationen maßgeblich seien. Eine gemalte Orange rufe beim Betrachter eines Bildes andere Gefühle hervor als eine gelborange gefärbte Holzkugel. Ein Tisch sei nicht lediglich eine Platte auf vier Beinen, sondern wecke immer auch Gedanken an seine mögliche Nutzung, und auch Bergsee und Fluss seien nicht lediglich spiegelnde Fläche im Grün der umgebenden Wiesen.13 Fechners sogenannte Assoziationstheorie verortete die ästhetische Wahrnehmung nicht in der abstrakten Atmosphäre bloßer Visibilität, vielmehr in einem reichen Kontext psychischer Aktivitäten des Individuums. Fechner hielt diese Aktivitäten sogar für physikalisch messbar, wobei er von einem psychophysischen Parallelismus ausging. Jeder psychischen Aktivität entsprach nach Fechner eine physische Aktivität, ohne dass er dabei eine kausale Abhängigkeit im engeren Sinne voraussetzte. Was durch einen physischen Reiz hervorgerufen wird, generiert eine psychische Aktivität, die sich aus dem Reiz allein nicht erklären lässt, vielmehr über ihn hinausgeht.14 Wie nahe Taut 1904 der Fechnerschen Vorschule argumentierte, in der es nur am Rande um Architektur im engeren Sinne geht, lässt sich schon daran erkennen, dass er Natur und Baukunst nicht generell, sondern vermittelt über ihre Thematisierung in der Malerei einander gegenüberstellte. Anhand zweier von ihm selbst gemalter Pastellbilder, die sich in seinem Nachlass erhalten haben, deren eines das Innere der spätgotischen Stuttgarter Stiftskirche zeigt und deren anderes das Innere eines Waldes bei Stuttgart, erörtert er die Nähe beider Raumbildungen (Abb. 4 und Abb. 5). Nachdem er im vermehrten Naturstudium von Künstlern und Architekten die allmähliche Gesundung der zeitgenössischen Architektur vom bloßen Stilimitat konstatiert hat, mündet die frühere der beiden Textvarianten in ein längeres Zitat aus John Ruskins Stones of Venice, dessen kultur- und stadtkritische Haltung Taut folgendermaßen zu Wort kommen lässt: Wir sind gezwungen um der Anhäufung unserer Macht und unseres Wissens willen, in Städten zu leben; aber der Vorteil, den wir durch die Genossenschaft miteinander haben, wird zum großen Teile aufgewogen, durch den Verlust unserer Gemeinschaft mit der Natur. Wir sind jetzt nicht alle in der Lage, Gärten zu haben oder freund­ liche Felder, um abends darin zu träumen. Nun ist es die Aufgabe unserer Baukunst, diese so weit wie möglich zu ersetzen, uns von der Natur zu reden, uns mit der Erinnerung an ihre Ruhe zu erfüllen, feierlich und liebevoll zu sein, wie sie, und reich an Abbildungen von ihr; voll von zartem Bildwerk der Blumen, die wir nicht mehr

13 Fechner, Gustav Theodor: Vorschule der Ästhetik. Bd. 1, Leipzig 1876, S. 86 – 108. 14 Fechner, Gustav Theodor: Elemente der Psychophysik, Leipzig 1860.

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pflücken können und der lebenden Geschöpfe; die jetzt fern von uns in ihrer eigenen Einsamkeit sind.15

Überwiegt in diesen Passagen noch ein zunächst bloß abbildhaftes Verhältnis zwischen einer natürlichen und einer architektonischen Raumbildung, dessen Sinn allerdings schon in der Übertragung von psychischen Stimmungswerten natürlicher Raumbildungen auf solche gesehen wird, die vom Menschen gemacht werden, so tritt an dessen Stelle im zweiten Text, ohne Rückbezug auf Ruskin, ein deutliches Bekenntnis zu einem assoziativen Verfahren á la F ­ echner: Dort heißt es: Bekannt und oft zitiert ist der Vergleich des Tannenwaldes – mit dem gotischen Dom. Aber nicht allein in einem gotischen Kirchenschiff, überall wo uns die Hallen der alten Baumeister mit einer gewissen Ruhe und Andacht erfüllen, lösen sie in uns Empfindungen aus, ähnlich denen, welche in uns beim Anblick von Raumbildungen der freien Natur erweckt werden. Denken wir an den Wald mit seinen tausendfältigen Raumvariationen, an den Sternenhimmel, das Gebirge und dergleichen. Ein raumbildender Künstler wird nun nicht bewusst durch alles dies zu seinen Schöpfungen angeregt werden – so ist auch nicht das Schaffen der gotischen Baumeister zu denken –, wohl aber verwebt er unbewusst und unwillkürlich in seine Raumlösungen die Erinnerungen an die ihm traute Natur und gelangt so zu Bildungen, die uns zu jenen Vergleichen veranlasst. Von diesem Gesichtspunkt möge man die beiden Pastelle betrachten […]. Beide Bilder in ihren Einzelheiten grundverschieden – und doch im Grund gleiche Raumbildungen. Aber nicht das eine die Nachahmung des anderen – vor dieser Auffassung mag unsere Zeit bewahrt bleiben. – sondern jedes ein selbstständige Erzeugnis der schaffenden Natur.16

Nicht nur in seiner Ansicht über das „Verweben“ von Assoziationen in die ästhetische Wahrnehmung folgt Taut hier Fechners Ästhetik ganz unmittelbar. Auch in seiner Rede von einer „schaffenden“ Natur, die als gleichsam göttliches Schöpfer­ tum im Künstler unbewusst zur Wirkung komme, sind Fechnersche Ideen greifbar, der das menschliche Vermögen der Phantasie analog einer göttlichen Phantasie sah, die sich im „schönen Ganzen“ der „erscheinlichen Welt“ betätige:

15 Taut, Bruno: Natur und Kunst (1904), in: Taut, Bruno: Ex Oriente Lux. Die Wirklichkeit einer Idee. Eine Sammlung von Schriften 1904 – 1938. Herausgegeben und mit E ­ rläuterungen versehen von Manfred Speidel, Berlin 2007, S. 51. 16 Taut, Bruno: Natur und Baukunst (1904), in: Taut, Bruno: Ex Oriente Lux. Die Wirklichkeit einer Idee. Eine Sammlung von Schriften 1904 – 1938. Herausgegeben und mit Erläuterungen versehen von Manfred Speidel, Berlin 2007, S. 53 – 54.

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Abb. 4 Bruno Taut: Tannenwald bei Stuttgart, Pastellfarbenzeichnung.

Abb. 5 Bruno Taut: Inneres der Stuttgarter Stiftskirche, Pastellfarbenzeichnung.

Quelle: Archiv der Akademie der Künste Berlin, BTA-10 – 623.

Quelle: Archiv der Akademie der Künste Berlin, BTA-10-624.

Der rechte Künstler aber hat mit seinem Schaffen dem göttlichen Schaffen nur nachzuschaffen, im Sinne desselben fortzuschaffen, sei es, dass man den Geist des Künstlers nach der Immanenz-Ansicht im Göttlichen selbst lebend, webend denkt und hiermit sein Schaffen mit einer Äußerung göttlichen Fortschaffens selbst identificiert, oder es nur als eine Nachahmung göttlichen Schaffens betrachtet, sofern Gott den von ihm geschaffenen Künstler mit einem Funken seiner eigenen Schöpfer­ kraft begabt habe. 17

17 Fechner, Gustav Theodor: Vorschule der Ästhetik, Bd. 1, S. 156 – 157.

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2. Anschauendes Denken Die romantische Denkfigur des All-Einen, des hen kai pan, wie Johann Wolfgang Goethe sie in der Urpflanze zu einer zeitlich-überzeitlichen Form geronnen sehen wollte, basiert auf einem intuitiven, anschauenden Denken, dessen theoretische Grundlegung sich Goethe für seine naturwissenschaftlichen Studien aus der streng rationalen Ethik Baruch de Spinozas und aus Kants Kritik der Urteilskraft herzuleiten versuchte.18 Vorausgegangen waren tastende Anfänge im Sturm und Drang, die unter anderem seinen Prometheus und vor allem seinen Hymnus auf Erwin von Steinbach, den mythischen Erbauer des Straßburger Münsters, zeitigten. Intuitives Denken ist für das Entwerfen von Architekten insofern von Belang, als es konkret verfährt, also stets vom Bestehenden und unmittelbar Vorhandenen ausgeht und seinen Gegenstand aus dem Kontext formt. Dies erklärt die Attraktivität Goethes für Architekten im frühen 20. Jahrhundert, impliziert aber zugleich einen latenten Konservatismus. Als Goethe seinen Hymnus Von Deutscher Baukunst verfasste, galt seine Ablehnung bekanntlich der vitruvianischen Architekturtheorie des 18. Jahrhunderts in Gestalt eines Pariser Jesuitenpaters. Marc-Antoine Laugiers Essai sur l’architecture war 1753 zunächst anonym erschienen.19 1755 erfolgte die zweite Auflage, der neben dem Autorennamen nun auch die berühmte Frontispizabbildung Charles Eisens beigegeben war. Sie illustriert die Idee der Urhütte, die nach Vitruv der Natur nachgebildet war. Ein Jahr später erschien die erste jener beiden Übersetzungen ins Deutsche, die Goethe gekannt haben dürfte, ohne den Eisenschen Stich übrigens, den Goethe vermutlich nie gesehen hat. Dies verdient deshalb festgehalten zu werden, weil dieser Stich, indem er die Säulen der Urhütte als lebendige, belaubte Bäume darstellte, die Naturwüchsigkeit eben jenes vitruvianischen Architekturvokabulars bildlich einzulösen scheint, die Goethe dessen regelgerechter Verwendung á la Laugier gerade absprach und deren Fehlen er dem Laugierschen Essay polemisch vorrechnete. Goethes Hymnus auf Erwin von Steinbach, den mythischen Baumeister des Straßburger Münsters, entstand bekanntlich unter dem Einfluss der genieorientierten Sturm-und-Drang-Bewegung des späten 18. Jahrhunderts – und der Schriften Johann Gottfried Herders. Goethe hatte ihn just bei seinem ersten Straßburger Besuch 1770 auf der Treppe im Gasthof „Zum Geist“ persönlich kennen gelernt. Herder revanchierte sich einige Jahre später, indem er den Text Goethes in sein 18 Förster, Eckart: Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion. Frankfurt am Main 32018, insbesondere das Kapitel „Wie wird man Spinozist“, S. 87 – 106, und darinnen die S. 104 – 105, denen die u. a. Zitate Goethes (aus dem Briefwechsel mit Herder) zum hen kai pan und zum forschenden „Gottesdienst“ an Steinen und Kräutern entnommen sind. 19 Laugier, Marc-Antoine: Das Manifest des Klassizismus, Zürich/München 1989.

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| Matthias Schirren Bändchen „Von deutscher Art und Kunst“ aufnahm. Mit seiner Schrift initiierte Goethe eine antiklassische Sicht auf die Architektur. An die Stelle von Regelhaftigkeit, Ausgewogenheit und Geschmack des französischen Vitruvianismus des 17. und 18. Jahrhunderts setzte diese Tradition eine Kunst aus Eigenem und die Idee einer lebendigen Form. Diese Form, so die Vorstellung Goethes, konnte nicht aus der Nachahmung fremder Vorbilder (antiker Säulen und Gebälke, wie sie, jenseits des berühmten Eisenschen Stichs auch die zeitgenössischen Ausgaben von ­Laugiers Essay illustrierten) entstehen. Vielmehr wirke, so Goethe, in solch lebendiger Form durch das schöpferische Genie des Künstlers hindurch nichts Anderes als die „bildende Natur“ selbst: „Die Kunst ist lange bildend, eh sie schön ist, und doch so wahre, große Kunst, ja oft wahrer und größer als die schöne selbst. Denn in dem Menschen ist eine bildende Natur, die gleich sich tätig beweist, wann seine Existenz gesichert ist“, heißt es an zentraler Stelle in seinem Text.20 Als direkte Vorwegnahme jenes übergroßen Werks, zu dem Tauts Alpine Architektur dann gute 145 Jahre später aufrufen sollte, muss man die Passagen aus dem Hymnus lesen, in denen Goethe Gott als den Erschaffer der Erde und ihrer Berge auf ebenso subtile wie sublime Weise zu einem „Baumeister“ umdeutet, der – ähnlich dem vergessenen Erwin von Steinbach – als Person zwar im Verborgenen, in seinen Werken aber unübersehbar und offensichtlich wirkt. Die an Erwin gerichteten Worte, während der fiktive Autor noch dessen Grabinschrift im Straßburger Münster sucht, lauten: Was brauchts Dir Denkmal! Du hast Dir das herrlichste errichtet; und kümmert die Ameisen, die drum krabbeln, dein Name nichts, hast Du gleiches Schicksal mit dem Baumeister, der Berge auftürmte in die Wolken.21

Eine mögliche Anspielung auf Christopher Wren, den Erbauer von St. Paul’s Cathe­dral in London, der 1723 unter der Kuppel seiner bedeutendsten Kirche ohne eigenes plastisches Denkmal beerdigt worden war, sei hier nur erwähnt. Die von Wrens Sohn verfasste Grabinschrift enthielt unter anderen die Anrede: LECTOR SI MONUMENTUM REQUIRIS CIRCUMSPICE, also: „Leser, wenn Du ein Denkmal (von ihm) suchst, schau Dich um.“ Ob Goethe die Inschrift kannte, ist nicht überliefert. Goethe ist in seinem Hymnus von 1773 nur noch einen Schritt entfernt von einer gänzlich entpersonalisierten Sicht auf die Natur, die eines emanierenden, von außen auf die Welt wirkenden Gottes nicht mehr bedarf. Er denkt Gott bereits 20 Goethe, Johann Wolfgang: Von deutscher Baukunst (1773), in: ders.: Goethes Werke, Bd. 6 hg. v. Apel, Friedmar, Frankfurt am Main /Leipzig: Insel Verlag 2007, S. 190 – 197, hier S. 195. 21 Goethe: Baukunst, S. 190.

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der Natur immanent. Nur wenige Jahre später wird er Baruch de Spinoza gegen den Atheismusverdacht des Pietisten Jacobi in Schutz nehmen und seine eigenen naturwissenschaftlichen Studien als eine Art Gottesdienst in herbis et lapidibus feiern. Gott und Natur scheinen in eins gesetzt, so wie es die berühmte, Spinoza zugeschriebene Formel deus sive natura, also Gott wie Natur, behauptete.22 Zugleich ist in dieser Textstelle ein künstlerisches Ethos niedergelegt, das sowohl traditionelle humilitas übt, als auch prometheisch aufbegehrt. Ziel ist ein Bauwerk, das über die eigene Zeit hinausgeht und das es, die Beschränkungen des Individuellen in der Generationenfolge übersteigend, mit nicht weniger als mit dem Ganzen der Welt aufnimmt: Wenigen ward es gegeben, einen Babelgedanken in der Seele zu zeugen, ganz, groß und bis in den kleinsten Teil notwendig schön, wie Bäume Gottes; wenigern, auf tausend bietende Hände zu treffen, Felsengrund zu graben, steile Höhen drauf zu zaubern und dann sterbend ihren Söhnen zu sagen: ich bleibe bei euch in den Werken meines Geistes, vollendet das begonnene in den Wolken.23

3. Das Genie des Architekten Bruno Taut, der 1914 mit dem literarischen Phantasten Paul Scheerbart, den er erst im Jahr zuvor kennengelernt hatte, in der gotischen Architektur lediglich das „Präludium“ 24 jener Glasarchitektur sehen wollte, deren erstes Exemplum er mit seinem berühmten Glashaus auf der Kölner Werkbundausstellung von 1914 feierte, dürfte den Goethetext im Stuttgarter Atelier seines Lehrers Theodor Fischer kennen gelernt haben, der zeitlebens ein bekennender Goetheleser war.25 Dass die von Goethe und Herder herkommende Genieästhetik des Sturm und Drang unter der Einbeziehung des von Nietzsche geforderten großen Individuums bei Fischer selbst eine Rolle spielte, lässt sich auch aus dem Bildnis folgern, dass der Münchener Karl Bauer von Fischer in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts fertigte. Damals, vor seiner Berufung nach Stuttgart im Jahr 1901, stand Fischer 22 Kurz verwiesen sei darauf, dass es sich mit dem Bekenntnis zum In-eins-Fallen von Gott und Natur um eine, an anderen Stellen des Werks relativierte Position handelt. Vgl. Petersdorff, Dirk von: „Und lieben, Götter, welch ein Glück“. Glauben und Liebe in Goethes Gedichten, Göttingen 2019, S. 141 – 150. 23 Goethe: Baukunst, S. 190 24 „Der gotische Dom ist das Präludium der Glasarchitektur“ lautet die Bildlegende zu einer Zeichnung seines Kölner Glashauses auf Tauts Einband zu einem gedruckten Prospekt des Kölner Glashauses von 1914. Widmungsexemplar im Nachlass Tauts an der Berliner Akademie der Künste, Signatur BTA 01 328. 25 Fischer, Theodor: Goethes Verhältnis zur Baukunst. München 21948.

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| Matthias Schirren Abb. 6 Karl Bauer: Porträt Theodor Fischer, Lithographie, 1897. Quelle: Architekturmuseum der TU-München, Nachlass Theodor Fischer.

dem Münchener Stadterweiterungsamt vor, das er unkonventionell leitete. Nicht mehr die Reißbrettgeometrie des älteren Städtebaus á la Reinhard Baumeister sollten der Maßstab des Städtebaus sein, sondern die organisch-natürliche Linie der Landschaft, die der Architekt sich unter anderem in Spaziergängen mit seiner Frau an der Peripherie eben jener Stadt erwanderte,26 für deren Erweiterungsplanung er verantwortlich war und die er mit durchaus seherischen Qualitäten erschaute. Bauers Bild ist eine Lithographie und zeigt Fischer als vitalen Mittdreißiger.27 Die auf der linken Kopfseite nach vorne gekämmten Haare lassen die genialischen Sturmfrisuren deutscher Romantiker der Zeit um 1800 assoziieren. Der bärtige Gesichtstypus hingegen weist schon auf jenen Olympier Zeus, in dessen Nähe Fischer von seinen Schülern später gern gerückt wurde. Das Bild charakterisiert

26 Freundlicher Hinweis von Matthias Castorph, München. Vgl. hierzu die Schilderungen der Ehefrau Fischers, Helene Fischer in ihren unpublizierten Erinnerungen, Architekturmuseum der TU München, Signatur TUM-FIS-T-343 – 202, K 15, S. 4. 27 Hierzu und zum Folgenden siehe auch: Schirren, Matthias: Kampf und Kunst. Theodor Fischers Städtebauvorträge, in: Jessen, Johann/Philipp, Klaus Jan (Hg.): Der Städtebau der Stuttgarter Schule, Berlin 2015, S. 43 – 58, aus dem ich im Folgenden einige Passagen erweitert übernehme.

Deus sive natura | Abb. 7 Porträtfotografie Bruno Taut, um 1904. Quelle: Archiv der Akademie der Künste Berlin, BTA-20 – 402.15.

Fischer vielschichtig. Seine Augen fixieren den Betrachter zwar direkt, doch entwickelt sich ihr Glanz unter einer leicht umwölkten, angespannten Stirn. Sie ist in gleißendes Licht getaucht, das von rechts oben einfällt und tiefdunkle Schatten auf die gegenüberliegende Gesichtshälfte wirft. Im Nebeneinander von hell beleuchteten und verschatteten Gesichtspartien scheinen sich aktive Geisteshelle und Melancholie zu durchdringen. Es ist kein Zufall, dass sich Fischer mit Bauer einen Porträtisten wählte, zu dessen Kunden auch der Münchner Georgekreis gehörte. Das Gruppenbild, das die Schwabinger Kosmiker mit Alfred Schuler und George selbst als Hintergrund­ figuren, und Karl Wolfskehl, Ludwig Klages und dem Niederländer Albert Verwey im Vordergrund präsentierte, nahm seinerseits Formen des romantischen Freundschaftsbildes der Zeit um 1800 auf. In der Schrift Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Klopstock – Herder – Goethe – Schiller – Jean Paul – H ­ ölderlin sollte der Georgejünger und Abtrünnige einer späteren Generation, Max K ­ ommerell, Ende der 1920er Jahre dann auch die Dichter der deutschen Klassik als seherisch begabte „Führer“ feiern.28

28 Kommerell, Max: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik, Berlin 1928.

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Abb. 8 Altstadt Nürnberg von der Burg aus. Quelle: Druckfassung von Theodor Fischers Vortrag Stadterweiterungsfragen, Stuttgart, 1904.

Abb. 9 Straßburger Dächeransicht, Frontispizabbildung. Quelle: Schmitthenner, Paul: Das Deutsche Wohnhaus, Stuttgart: Konrad Wittwer, 21940.

Deus sive natura | Abb. 10 Bruno Taut: Firnen im Eis und Schnee, Blatt 10 der Alpinen Architektur, Feder- und Aquarellzeichnung, 1918. Quelle: Archiv der Akademie der Künste Berlin, ALP-10 – 13.

Worin bestand nun aber das Sehertum Fischers? Fischer wollte seine Kunst nicht im Sinne eines poetischen oder ästhetischen Regelwerks verstanden wissen, sondern schlichter und zugleich anspruchsvoller als „Steigerung und Veredelung des menschlichen Tuns überhaupt“, wie er es am Schluss eines Vortrags über die Stuttgarter Stadterweiterungsfragen von 1903 formulierte, mit dem er sich, unmittelbar bevor er Taut in sein Büro aufnahm und kurz nachdem er an die Stuttgarter Universität berufen wurde, im Bürgersaal des Stuttgarter Rathauses vorstellte. Wie in der Porträtmalerei gelte es für den Architekten bei seiner Planungstätigkeit „das Eigenartige“ – im Falle des Architekten: der Umgebung – aufzugreifen und „aufs höchste“ zu steigern.29 Fischers Vergleichsrede von der Porträtmalerei, die das Individuelle zu erfassen habe, ist ein direkter Bezug auf den Roman Wahlverwandtschaften Johann ­Wolfgang Goethes, in dem Goethe die unglückliche Ottilie in einer Tagebucheintragung das notwendige Fehlgehen der Porträtmaler beklagen lässt, da sie einen 29 Fischer, Theodor: Stadterweiterungsfragen mit besonderer Rücksicht auf Stuttgart. Ein Vortrag, Stuttgart 1903, S. 42.

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| Matthias Schirren Lebendigen niemals letztgültig und zur Zufriedenheit derer zu fassen vermöchten, die ihn kennen. Resümierend stellt sie fest: „Man verlangt so selten von den Leuten das Unmögliche, und gerade von diesen [gemeint sind die Porträtmaler] fordert man’s.“ Niemand anderes als Bruno Taut hat diesen Satz Ottiliens 1917 unter das Blatt Firnen in Eis und Schnee seiner Alpinen Architektur gesetzt. Es zeigt eine blüten­artig und zugleich kristalline Überformung eines Schneegipfels, oberhalb der Vegetationsgrenze der Berge, mit Bögen und Prismen, hinter der eine machtvolle Sonne aufgeht (Abb. 10).30 Suchte man in Fischers städtebautheore­tischem Werk, vornehmlich Vorträge, nach einer Analogie zu dem Tautschen Firnenbild, so könnte man sie in Dächeransichten historischer Altstädte finden. Fischer, der in seinen Vorträgen gern die kunsthistorische Methode des Bildvergleichs mithilfe der Doppelprojektion von Großdias anwandte,31 hat insbesondere die Altstadt Nürnbergs, von der Burg aus fotografiert, öfter als Positivbeispiel eines geschlossenen Stadtbildes gezeigt (Abb. 8). Aus der gleichgerichteten und gleichförmigen Struktur der umgebenden Dächer ragen die Kirchenbauten auf dieser Aufnahme wie Gleich-Ungleiche auf: Gleiche, die zugleich ungleich sind, in denen die Struktur der umliegenden Dächer gewissermaßen individualisiert und „aufs höchste“ gesteigert wiederkehrt. 1940 wird Paul Schmitthenner, damals der Kopf jener konservativ-reaktionären Stuttgarter Schule der Architektur, die sich noch in den 1920ern und 1930ern auf Fischers Lehre der nuller und zehner Jahre berief und deren unveränderte Gültig­ keit behauptete, der zweiten Auflage seines Buches Das deutsche Wohnhaus ein Frontispiz voranstellen (Abb. 9), das das Straßburger Münster aus gleichförmigen Dächern á la Fischers Nürnbergbild aufsteigen lässt, unterstrichen von einem Zitat Fischers, das nun – in Anknüpfung an Goethes Erwin-Hymnus – die individuelle Form als genuin deutsch feiert und in das Mittelalter zurückprojiziert: Saxa loquuntur. Ein Volk, reich an individueller Verschiedenheit aber taktvoll genug, diese Verschiedenheit nicht aufdringlich darzustellen, selbstbewusst und frei, einer neben dem anderen, alle zusammen aber im Bann einer großen Idee, das ist das Mittelalter.32

30 Vgl. hierzu Schirren: Bruno Taut, S. 54 – 55. 31 Vgl. hierzu Schirren: Kampf und Kunst, S. 52 – 53. 32 Schmitthenner, Paul: Das deutsche Wohnhaus, Stuttgart 21940, Frontispizabbildung. Die Abbildung ersetzte die polemische Bildgegenüberstellung aus der ersten Auflage des Bandes (1932), in der Goethes Weimarer Gartenhaus im Ilmpark gegen Hans Scharouns als „Wohnmaschine“ diffamierten Haus in der Stuttgarter Weissenhofsiedlung ausgespielt worden war.

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4. Erforschliches und Unerforschliches In der Verfilmung von Erich Kästners Kinderbuchklassiker Das fliegende Klassenzimmer von 1954 hat die Alpine Architektur Bruno Tauts einen kurzen, aber bezeichnenden Auftritt. Er geschieht als Erwähnung und Diskussion ihrer künstlerischen Implikationen und steht an zentraler Stelle, ungefähr in der Mitte des Filmes, strukturell also etwa da, wo man in der Abfolge der 30 Zeichnungen der Alpinen Architektur beim Blatt 16 mit jenem für das Werk zentralen Aufruf an die Europäer konfrontiert wird, der zum Umbau der Alpen als Friedenswerk auffordert. Kästner, der als erzählender Autor in der Rahmenhandlung selbst eine tragende Rolle übernommen hatte, war nicht nur Verfasser der literarischen Vorlage des Films, sondern auch des Drehbuchs selbst. Die Szene geht also, obwohl sie in der Buchvorlage von 1933 nicht enthalten ist, ganz sicher auf ihn persönlich zurück. Den Kern des Films bildet ein Schülertheaterstück, das zu Weihnachten aufgeführt wird. Seine Helden sind Tertianer, also Schüler der Sekundarstufe I eines Gymnasiums, kurz vor der Pubertät. Ihr Internat liegt in einem alten Gemäuer hoch über einer Kleinstadt am Rand der Bayerischen Alpen. Das Stück besteht wie die Alpine Architektur Bruno Tauts aus fünf Bildern. In Tauts Buch sind diese Bilder, jeweils mehrere Zeichnungen zusammenfassend, zu Sätzen einer Art visueller Symphonie ausgestaltet. Taut selbst sah sie analog der Neunten Symphonie des Alpenkomponisten Anton Bruckner.33 Im Schülerstück des Fliegenden Klassenzimmers, das innerhalb des Filmes als Stück im Stück angelegt ist, werden die einzelnen „Bilder“ (eigentlich Akte oder Szenen) musikalisch untermalt durch eigene Kompositionen eines der Schüler. Er ist ein begabter Pianist, der bei der Aufführung das begleitende Orchester aus seiner Mitte heraus am Flügel anführt. Wir sehen ihn in einer Szene auch mit verbundenen Augen, also ausschließlich dem Hören hingegeben und von der sichtbaren Welt abgeschieden, Beethovens Mondscheinsonate spielen. Als Künstlerfigur, die ganz der Musik lebt und deshalb mit den Disziplin- und Unterrichtskonventionen der Schule immer wieder aneinandergerät, ist er einer der Helden des Films wie auch der Romanvorlage. Ihm gehört das Herz des Autors und der Klasse, die ihn anlässlich der Aufführung des Schülerstücks am Schluss des Films mit dem Publikum entsprechend feiern wird. Und mit deren Herzen gehört ihm natürlich auch das der Zuschauer. Auf eine buchstäbliche Herzform treffen wir auch in der Alpinen Architektur, und zwar in ihrem vierten Teil, der dem „Erdrindenbau“ gewidmet ist. Es ist jener Teil der Folge, in dem der Betrachter längst über die höchsten Gipfel (und deren Umgestaltung) der Alpen hinaus ist und aus einer Flugperspektive 33 Hierzu Schirren: Bruno Taut, S. 11 – 12.

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| Matthias Schirren unter anderem Inselgruppen verschiedener Weltgegenden in Europa und Asien vorgeführt bekommt. Hier umgibt die Insel Rügen, geschmückt von gläsernen Kristallen, Standarten und Rundbögen, eine herzförmige Aura.34 Sie lässt sich zugleich als eine Art Schild, ein Panier mittelalterlicher Ritter deuten, eine Bilderwelt, die Taut insbesondere in dem ungedruckt gebliebenen Vorwort der Alpinen Architektur aufgerufen hat, als er den hier namentlich nicht genannten fiktiven Autor des Werks, als dessen Freund er sich vorstellt, mit dem Schweizer Freiheitskämpfer Winkelried verglich. Der Sage nach entschied dieser W ­ inkelried im 14. Jahrhundert die Schlacht bei Sempach, indem er selbst vor den eigenen Reihen die gegnerischen Pfeile auf sich zog. Wörtlich heißt es über das Buch in Tauts Vorwort: Der Urgrund seines Entstehens lag im Herz seines Schöpfers, ein Herz das unter allem Kriegsweh auf der Welt sein Blut verströmte. Wie Winkelried nahm es alle starrenden Lanzen und drückte sie in sich hinein. Wenn es nicht mehr ist, so sagte mein Freund, so ist es wenigstens ein Lobgesang auf die Herrlichkeit der Welt.35

Kurz nach 1900 war die Ostseeinsel Rügen für einige Jahre der Wohnort Paul Scheerbarts gewesen. Aus Scheerbarts Werken hat Taut wohl auch den Begriff „Erdrinde“ übernommen. Er steht für die organische Verfasstheit der Erde, die Scheerbart in der Nachfolge Fechners in seinen Romanen immer wieder thematisiert. 1915, ein Jahr nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges, war Paul Scheerbart, der in beengten Verhältnissen in Berlin lebte, „am Kriege“, wie Taut immer wieder hervorhob, gestorben. Seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte der 1863 geborene Scheerbart die Helden seiner Romane in Eisenbahnen und Luftschiffen um die Welt geschickt, und sie mit Glasarchitekturen überbauen zu lassen. Abgesehen von dem Rügener Zwischenspiel hatte Scheerbart realiter allerdings kaum je den Umkreis Danzigs, wo er geboren wurde, Breslaus, wo er studierte, und Berlins, wo er starb, verlassen. Kästners Filmhelden, die Tertianer, dynamisieren in ihrem Stück ihr Klassenzimmer im Sinne der phantastischen Romane Paul Scheerbarts. „Hier wird der Unterricht zum Lokaltermin“, heißt ein Motto des Films, das Kästner einem der Schüler in den Mund legt. Es variiert in paradoxer Weise das „Reise zu Hause“ Paul Scheerbarts,36 der die fernen Weltgegenden seiner Romane – wie später Taut die von ihm gemalten einzelnen Panoramen der Alpen – nach Reiseführern zu entwerfen pflegte. Die Tertianer steuern in ihrem Klassenzimmer, das sie im 34 Schirren: Bruno Taut, S. 94 – 95. 35 Schirren: Bruno Taut, S. 118 – 119. 36 Schirren: Bruno Taut, S. 12.

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Abb. 11 Geographieunterricht aus dem Flugzeugfenster im Schülerstück, Standfoto aus der 1954er Verfilmung des Fliegenden Klassenzimmers. Foto: Beta Film/Deutsches Filminstitut, Frankfurt/KINEOS Sammlung.

Abb. 12 Der Hauslehrer Dr. Johannes Bökh (Paul Dahlke), genannt Justus, hinter dem Modell der Alpen, Standfoto aus der 1954er Verfilmung des Fliegenden Klassenzimmers. Foto: Beta Film/Deutsches Filminstitut, Frankfurt/KINEOS Sammlung.

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| Matthias Schirren Stück kurzerhand in ein Flugzeug verlegen (Abb. 11), verschiedene Weltgegenden an, unter anderem die Pyramiden von Gizeh, und kommen am Schluss sogar – wie die Betrachter des letzten Kapitels Sternenbau der Alpinen Architektur – in den Himmel. Dort begegnen sie zwar nicht wie die Betrachter der Alpinen Architektur architektonisch personifizierten Sternen, die dort in Fernrohrausschnitten präsentiert werden. Dafür dürfen sie Petrus persönlich interviewen und sehen am Schluss auch noch den lieben Gott, der ihnen die bekannte Weisheit aus Goethes Maximen und Reflexionen mit auf den Weg gibt: Das schönste Glück des denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren. Tauts namentliche Erwähnung bleibt in der Verfilmung einer der Rahmenhandlungen vorbehalten, genauer gesagt: dem geliebten Hauslehrer „Justus“ der Tertianer und seiner Geographiestunde (Abb. 12). Für diese Unterrichtsstunde haben die Kinder ein Modell der Alpen gebaut. Mit ihm überraschen sie ihren Lehrer, der ihnen bei dieser Gelegenheit unter Nennung eines „deutschen Baumeisters, Taut mit Namen“ dessen Vorschlag zur Alpenverschönerung „mittels Dynamit und Sprengstoff “, wie er sagt, in einem Atemzug mit Albert Sörgels Planungen zur Absenkung des Mittelmeerspiegels nahe zu bringen versucht. Die unter den Schülern alsbald aufkommende Frage, ob so ein umfänglicher Eingriff in die Natur, wie Taut ihn propagierte „nur zum Zweck der Schönheit“ ethisch gerechtfertigt sei, spitzt ihr Lehrer durch zweimalige Wiederholung zu, um sie schließlich ebenso unbeantwortet zu lassen, wie seine Schüler sich von ihr überfordert sehen: „Da habe ich ja noch einmal Glück gehabt,“ sagt er, nachdem auch der zweite Schüler kleinlaut die Segel gestrichen hat, und fährt fort: „denn ich weiß es auch nicht“. Der Film jedoch kommentiert die Frage und ihre programmatische Nichtbeantwortung in dieser inhaltlich für das Kunstverständnis Kästners zentralen Szene durch einen Schatten. Sein Auftritt ist penibel vorbereitet. Er gehört dem jungen Pianisten. Er huscht während des Unterrichtsgesprächs über die ethische Rechtfertigung der wirtschaftlich unnützen Alpenverschönerung á la Taut, fast unmerklich, durch den Hintergrund des Klassenzimmers, um, verspätet wie immer, seinen bis dahin leer gebliebenen Platz auf der Schulbank einzunehmen. Was ist die Aussage? Der von Taut als großes, fast übergroßes Gegenbild zum Weltkrieg entworfene Alpen- und Weltumbau im Rahmen eines völkerverbindenden Projekts im Geiste des Phantasten Scheerbart mutiert in Kästners Fliegendem Klassenzimmer, der Mutter aller westdeutschen Internatsfilme, zwar zu einem brav verhandelbaren Unterrichtsthema. Immerhin aber gibt Kästner die Taut’sche Idee der Alpenüberbauung nicht einfach dem unverständigen Pragmatismus der ­Adenauerzeit preis. Das sokratische „Ich weiß es auch nicht“ des Lehrers Justus hält die künstlerisch-literarische Utopie von Tauts Alpiner Architektur offen und versucht ihr philosophisch-pädagogisch zu entsprechen.

Deus sive natura | Abb. 13 Bruno Taut: Einband der Buchausgabe der Alpinen Architektur, Hagen 1919, ausgeliefert 1920. Quelle: Archiv der Akademie der Künste Berlin.

5. Epilog In der äußersten Rahmenhandlung des Filmes wird der Autor Kästner dann höchstpersönlich einem seiner Helden die Buchausgabe seines Fliegenden Klassen­zimmers überreichen. Danach taucht er, freundlich den Hut lüpfend, in die Anonymität der Großstadt unter, eine Selbstdarstellung, die an Scheerbarts literarische Selbstmystifizierung 37 ebenso anknüpft wie an Goethes mythischen Erwin. Dem elternlosen Tertianer, dessen persönliche Geschichte im Film zuvor ausführlich erzählt worden war, geschieht diese befremdliche Begegnung mit dem Autor – oder sagen wir hier ruhig: mit dem Architekten seiner Welt – in Begleitung eines Kapitäns auf Landgang, den er sich an Vaterstelle erwählt hatte, nachdem ihm seine leiblichen Eltern Jahre zuvor einem ungewissen Schicksal auf See ausgesetzt hatten.

37 Zu Scheerbarts Ausdeutung des „künstlerischen Schaffensprozesses als eines sich Unterordnen und zugleich Aufgehen im Weltganzen“ siehe Schirren: Bruno Taut, S. 14.

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| Matthias Schirren Kapitäne wiederum, ob von Luft- oder Wasserfahrzeugen, gehören zur wiederkehrenden Personage Scheerbartscher Romane und Novellen. Warum Kapitäne? Kapitäne verstehen etwas von Orientierungen in stürmischen Gewässern und auf schwankenden Böden, wie sie sich wohl auch der seit seinem sechzehnten Lebensjahr vaterlose Bruno Taut gewünscht haben mag. Noch das, ein antikes geflügeltes Wort des Gnaeus Pompeius variierende „Aedificare necesse est, vivere non est necesse“ (Bauen ist notwendig, und koste es das Leben), das den ebenso nacht- wie wasserblauen Einband der Druckausgabe der Alpinen Architektur ziert, bezieht sich darauf (Abb. 13). Seine labile Wellenform lässt die dem Buchdeckel in Blattaluminium silbern aufgelegten Gipfelformationen dahinter nur umso erhabener und orientierender erscheinen. Wenn Tauts Projekt eines moralisch begründeten Alpenumbaus Eingang in die Kästnerverfilmung fand, so ist dies mehr als ein bislang übersehenes Kuriosum. Kästner gehörte im Dritten Reich wie Taut zu den Verfemten jener sogenannten „Systemzeit“ von Weimar, deren Protagonisten von den Nazis ausgegrenzt und verfolgt wurden. Anders als Taut, der 1938 im türkischen Exil starb, war K ­ ästner noch eine Nachkriegskarriere, in der alten Bundesrepublik, beschieden. Als Präsident des westdeutschen PEN vertrat er während der Adenauerzeit ähnlich konsequent pazifistische und antimilitaristische Positionen, wie sie Taut zu seinen Lebzeiten, unter anderem auch mit seiner Alpinen Architektur, vertreten hatte. Im Film dient die Erörterung dieses Projektes von Taut zur Charakterisierung eines reinen Künstlertums, das des gesellschaftlichen und damit politischen Korrektivs bedarf, um urban, im Sinne von gesellschaftlich, wirksam werden zu können. Seine Bewährung in der sozialen Wirklichkeit von Städtebau und Architektur dokumentiert bis heute die romantische Urbanität der Taut’schen Siedlungen.

Stadt und Land

Thomas Thränert

Konzepte der Romantisierung von Stadt und Land in der Gartenkunst um 1800 Am Beginn von E. T. A. Hoffmanns Märchen Der goldne Topf verlässt der Student Anselmus Dresden am Himmelfahrtstag durch das Schwarze Tor. Sein Ziel ist das östlich der Stadt an der Elbe gelegene Linkesche Bad, das mit seiner Gartenanlage, seiner Gastwirtschaft und seinem Sommertheater um 1800 zu einem vielbesuchten Vergnügungsort wurde (Abb. 1).1 Dieses Vorhaben, an der „Glückseligkeit des Linkischen Paradieses“ teilzunehmen, wird bereits am Stadttor vereitelt, wo Anselmus den Korb eines „Apfelweibes“ umrennt und deren Verwünschungen nicht einmal durch die Herausgabe seines Geldbeutels entkommen kann.2 Anstelle eines üblichen Feiertagsvergnügens knüpft sich an diesen Vorfall eine Reihe höchst ungewöhnlicher Ereignisse, an deren Ende es den Studenten auf ein „Rittergut in Atlantis“ verschlägt, wo er nun von der „Bürde des alltäglichen Lebens“ endgültig befreit ist.3 Wenn sich Anselmus von seinem Aufenthalt im Linkeschen Bad also erhoffte, der Alltagswelt durch ein Freizeitvergnügen für kurze Zeit zu entfliehen, dann liest sich dies in der Perspektive des Märchens wie ein Vorgeschmack seines späteren Schicksals. Nicht zufällig verortet Hoffmann (1776 – 1822) die Sehnsucht nach etwas, das die Alltagsrealität übersteigt, in einem suburbanen Kontext und damit in einem bestimmten Verhältnis zu Stadt und Land. Dass er damit keinen Sonderfall entwirft, sondern auf ein auffälliges gesellschaftliches Phänomen Bezug nimmt, zeigt ein Auszug aus einer „geographisch-statistisch-topographische[n] Beschreibung der Haupt- und Residenzstadt Dresden“ aus dem Jahr 1813: Man muß das Ganze [der Stadt, d. Verf.] an einem Feiertage, bei schönem Wetter, übersehen. Aus allen Thoren und Schlägen wallfahrten Tausende von Menschen zu den k­ leinen und großen Kapellen der Fröhlichkeit, die in Menge rings um die Stadt her liegen.4

1 Rosseaux, Ulrich: Freiräume. Unterhaltung, Vergnügen und Erholung in Dresden 1694 – 1830, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 290 – 301. 2 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus: Fantasiestücke in Callots Manier. Blätter aus dem Tagebuche eines reisenden Enthusiasten (Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 1), Berlin/Weimar 1976, S. 221 – 222. 3 Hoffmann: Fantasiestücke, S. 314. 4 o. A.: Kriegsschauplatz im Jahre 1813. Enthält die geographisch-statistisch-topographische Beschreibung der Haupt- und Residenzstadt Dresden nebst einer umständlichen Schilderung des Königreichs Sachsen, Breslau 1813, S. 11.

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| Thomas Thränert

Abb. 1 Blick über die Gartenanlage des Linckeschen Bades ins Elbtal. – Friedrich Wizani, Vue des Vignes de Loschwitz sur l’Elbe, prise aux Bains de Linke près de Dresde, um 1821. Quelle: Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden. Foto: Herbert Boswank.

Zu diesen „Kapellen der Fröhlichkeit“ zählt der anonyme Autor dieser Beschreibung das Elbufer und einige der angrenzenden Seitentäler, Weinberge, Alleen, Aussichtspunkte, Gastwirtschaften, Landhäuser und ihre Gärten.5 Viele dieser Orte sind zum Gegenstand oder Ausgangspunkt romantischer Weltwahrnehmung geworden.6 Werke der Literatur, Malerei oder Grafik hielten entsprechende Les­ arten fest und verbreiteten diese. Bereits auf diese Weise konnte die Auffassung der räumlichen Situation durch spätere Ausflügler entscheidend und anhaltend verändert werden. Doch wurden viele der genannten Ausflugsziele zugleich mit gartenkünstlerischen Mitteln gestaltet und damit tatsächlich in ihrem Erscheinungsbild verändert, wenn auch jeweils in sehr unterschiedlichem Grade. Mit diesem Beitrag soll am Beispiel der Umgebung Dresdens bis in die Sächsische Schweiz – d. h. im Fokus einer Elbromantik – untersucht werden, welche Rolle Vorstellungen von Romantik dabei spielten. Im Kontext des Themenfeldes ‚romantischer Urbanität‘ 5 o. A.: Kriegsschauplatz, S. 11 – 14. 6 Zum dafür grundlegenden Phänomen des Spaziergangs siehe: König, Gudrun M.: Eine Kulturgeschichte des Spazierganges. Spuren einer bürgerlichen Praktik 1780 – 1850, Wien/ Köln/Weimar 1996, S. 23 – 63.

Konzepte der Romantisierung von Stadt und Land in der Gartenkunst um 1800  |

soll es dabei besonders um die Frage gehen, ob gartenkünstlerische Werke als Medien die Wahrnehmung von Stadt und Land um 1800 in ähnlicher Weise prägten wie Gemälde oder Grafiken. Bevor darauf anhand einiger Gestaltungsbeispiele eingegangen wird, ist jedoch zu klären, ob bzw. welche Auffassungen des Romantischen für die damalige Gartenkunst überhaupt von Bedeutung waren, was im Folgenden am Beispiel von Christian Cay Lorenz Hirschfelds Theorie der Gartenkunst (1779 – 1785) dargestellt werden soll. 1. Wirklich und bezaubernd: zum Romantikbegriff C. C. L. Hirschfelds Das wachsende Interesse an der Landschaft war in der Gartenkunst des 18. Jahrhunderts mit einer zunehmenden Betonung ihrer Wirkung auf Gefühl und Einbildungskraft verbunden.7 Entsprechend stark war diese Entwicklung vom Diskurs um ästhetische Kategorien geprägt, mit denen der Bezug auf das wahrnehmende Individuum näher bestimmt werden konnte. Zu zentralen Begriffen wurden dabei das Schöne, das Anmutige, das Erhabene, das Malerische und das Romantische.8 Indem viele Autoren ihre gartentheoretischen Konzepte anhand der Erörterung ihrer jeweiligen Verständnisse davon entwickelten, erhielt die Auffassung dieser Termini dabei einen deutlichen Modellcharakter.9 In ihrem Spektrum und ihren Gegensätzen boten die Begriffe die Möglichkeit, die „Frage nach der Korrespondenz zwischen der Landschaftsform und der Stimmung beim Betrachter“ 10 zu diskutieren. Zur Entwicklung dieses Verständnisses trug im deutschsprachigen Raum maßgeblich der Kieler Philosophie- und Kunstprofessor Christian Cay Lorenz Hirschfeld (1742 – 1792) bei, der 1779 – 1785 eine fünfbändige Theorie der Gartenkunst veröffentlichte. Die darin entworfene Romantik-Auffassung ist in den 7 Wimmer, Clemens Alexander: Geschichte der Gartentheorie, Darmstadt 1989, S. 415. 8 Tabarasi-Hoffmann, Ana-Stanca: Gärten der Philosophie und Ästhetik, in: Schweizer, ­Stefan/Winter, Sascha (Hg.): Gartenkunst in Deutschland. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Geschichte – Themen – Perspektiven, Regensburg 2012, S. 390 – 403, hier S. 399; Raymond, Petra: Von der Landschaft im Kopf zur Landschaft aus Sprache, Tübingen 1993, S. 48. 9 Damit war das Modellverständnis, mit dem Auffassungen von Romantik in diesem Beitrag untersucht werden sollen, in der Argumentationsstruktur vieler Gartentheoretiker um 1800 bereits angelegt. Zu diesem Modellverständnis vgl. Matuschek, Stefan/Kerschbaumer, Sandra: Romantik als Modell, in: Fulda, Daniel/Kerschbaumer, Sandra/Matuschek, Stefan (Hg.): Aufklärung und Romantik. Epochenschnittstellen, Paderborn 2015, S. 141 – 155, hier S. 148 – 153. 10 Noll, Thomas/Stobbe, Urte/Scholl, Christian: Landschaftswahrnehmung um 1800. Imaginations- und mediengeschichtliche Kontinuitäten und Brüche, in: Noll, Thomas/Stobbe, Urte/Scholl, Christian (Hg.): Landschaft um 1800. Aspekte der Wahrnehmung in Kunst, Literatur, Musik und Naturwissenschaft, Göttingen 2012, S. 9 – 26, hier S. 12.

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| Thomas Thränert Zusammenhang von vier Empfindungsmodi einzuordnen, mit denen er unterschiedliche Wirkungen von Gegenden und Gärten unterscheidet. Er benennt diese als den „angenehmen“ („muntern“, „heiteren“), „sanftmelancholischen“, „romantischen“ und „feyerlichen“ Charakter.11 Damit greift er Gedankengut der englischen Sensualisten und die französische caractère-Lehre auf, beweist jedoch gerade hinsichtlich seines Romantik-Verständnisses Innovationsvermögen.12 Auch wenn Hirschfelds Werk den Zeitgenossen nur vergleichsweise wenig Rüstzeug für die praktische Gartengestaltung lieferte 13 bzw. die tatsächliche Reichweite dieses Einflusses bislang unzureichend erforscht ist,14 bietet sein Romantik-Begriff doch eine umfassend argumentierte theoretische Vergleichsposition zur Gestaltungspraxis um Dresden, die im zweiten Teil dieses Beitrags untersucht werden soll. Wenn sich Hirschfelds Romantik-Verständnis, wie bereits erwähnt, gleichermaßen auf Gegenden und Gärten bezieht, dann ergibt sich daraus ein entscheidender Wandel in der Auffassung der Gartenkunst als Gestaltungsdisziplin. Dabei gewinnt die Auseinandersetzung mit vorgefundenen Gestaltqualitäten und deren künstlerische Aneignung wesentlich an Bedeutung. Für Hirschfelds Auffassung des Romantischen ist dieser Ansatz konstituierend, da er diese Wirkung „fast ganz [als] ein Werk der Natur“ ansieht.15 Mit diesem „fast“ eröffnet er der gartenkünstlerischen Gestaltung einen betont begrenzten Spielraum. Dieser ist für ihn zugleich mit einem spezifischen Planungsverständnis verbunden, denn: „[w]o romantische Gärten erscheinen sollen, da muß die Natur die Anlage ganz vorbereitet haben“.16 Zur sich daraus ergebenden Rolle der Gartenkunst erläutert er: 11 Landschaften, die seiner Meinung nach kein Potential für die Gartenkunst bieten – wie Heiden, Torffelder oder Sümpfe – bezeichnet er als „gemein, unbedeutend, ohne Charakter“. Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst, Bd. 1, Leipzig 1779, S. 209 – 211. Zu Hirschfelds Auffassung der Landschaftscharaktere vgl. Gamper, Michael: „Die Natur ist republikanisch“. Zu den ästhetischen, anthropologischen und politischen Konzepten der deutschen Gartenliteratur im 18. Jahrhundert, Würzburg 1998, S. 271 – 276. 12 Kruft, Hanno-Walter: Geschichte der Architekturtheorie. Von der Antike bis zur Gegenwart, München 52004, S. 305; Immerwahr, Raymond: Romantisch. Genese und Tradition einer Denkform, Frankfurt am Main 1972, S. 64. Als prägende Vorläufer für Hirschfelds Romantikbegriff wies Raymond Immerwahr gartentheoretische Schriften bzw. Gartenbeschreibungen von Joseph Heely, William Chambers und Thomas Whately aus. Immerwahr, Raymond: The First Romantic Aesthetics, in: Modern Language Quarterly 21/1 (1960), S. 3 – 26, hier S. 8. 13 Kruft: Architekturtheorie, S. 305. 14 Stobbe, Urte: Hirschfeld versus Fürst de Ligne. Konkurrierende Autorinszenierungen und Grenzziehungspraktiken um 1800, in: Mulsow, Martin/Rexroth, Frank (Hg.): Was als wissen­ schaftlich gelten darf. Praktiken der Grenzziehung in Gelehrtenmilieus der Vormoderne, Frankfurt am Main/New York 2014, S. 461 – 484, hier S. 462. 15 Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst, Bd. 4, Leipzig 1782, S. 90. 16 Hirschfeld: Theorie, Bd. 4, S. 90.

Konzepte der Romantisierung von Stadt und Land in der Gartenkunst um 1800  |

[…] alles, was ihr [der Kunst, d. Verf.] übrig bleibt, ist eine kleine Nachhülfe zur Fortleitung der Natur auf dem Wege, den sie sich selbst gebahnt hat, und hie und da eine begleitende Verstärkung. Die vornehmste Pflicht der Kunst bei diesem Charakter ist, nichts zu verderben.17

So ist das Romantische – Hirschfelds Auffassung zufolge – etwas, das durch gartenkünstlerische Mittel nicht gestaltet, sondern allenfalls erhalten, für die Betrachtung erschlossen und in seiner Wirkung verstärkt werden kann. Dementsprechend wird die Wahrnehmung des Ungestalteten zu einem entscheidenden Merkmal dieses Romantik-Verständnisses und bestimmend für dessen Reiz. Hirschfeld formuliert dies als die Wahrnehmbarkeit der „Züge […] ursprüngliche[r] Wildniß“ im Charakter der Gegend.18 So betont er das Wirkliche romantischer Natur und öffnet sie damit für über die konstruierte Sphäre eines Gartenkunstwerkes hinausgehende Deutungen. Er ordnet das Romantische „gebirgigen und felsigen Gegenden, [… und] versperrten Wildnissen [zu], wohin die geschäftige Hand des Menschen noch nicht gedrungen ist“ 19 und sieht in „romantischen Scenen […] eine Zuflucht zur Freyheit und zur Ruhe“.20 Hier zeigt sich zugleich, dass Hirschfelds Romantik-Verständnis mit bestimmten Naturformen in besonderem Maße verknüpft ist. Dazu zählen v. a. Felsen, Höhlen, Grotten und Wasserfälle.21 Entscheidender als deren Vorkommen ist für die romantische Wirkung jedoch, ob diese sich „durch starke und auffallende Entgegenstellungen und kühne überraschende Zusammensetzungen“ auszeichnen.22 Somit ist Hirschfelds Romantik-Begriff untrennbar mit Abwechslungsreichtum verbunden. Es liegt sogar nahe, diesen als Unterhaltsamkeit zu bezeichnen, da H ­ irschfeld in seiner Auffassung des Romantischen von spezifischen Wirkungen auf die Naturbetrachter*innen oder Gartenbesucher*innen ausgeht. Als diese bezeichnet er „Verwunderung, Ueberraschung, angenehmes Staunen und Versinken in sich selbst.“ 23 Auf diese Weise grenzt er das Romantische v. a. von seinem Begriff des Feierlichen (Ernsthaften, Erhabenen und Majestätischen) ab, den er ähnlich – jedoch mit anderem Wirkungsspektrum – belegt.24 Aus der Charakterisierung der Wirkungen des Romantischen geht unmittelbar hervor, warum Hirschfeld dieses als Synonym des „Bezaubernden“ ansieht.25 Er stellt fest: 17 18 19 20 21 22 23 24 25

Hirschfeld: Theorie, Bd. 4, S. 111. Hirschfeld: Theorie, Bd. 4, S. 112. Hirschfeld: Theorie, Bd. 1, S. 214. Hirschfeld: Theorie, Bd. 1, S. 220. Hirschfeld: Theorie, Bd. 4, S. 90. Hirschfeld: Theorie, Bd. 1, S. 214. Hirschfeld: Theorie, Bd. 1, S. 214. Schepers, Wolfgang: Hirschfelds Theorie der Gartenkunst 1775 – 1785, Worms 1980, S. 33. Hirschfeld: Theorie, Bd. 1, S. 214.

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| Thomas Thränert […] alles, was die Einbildungskraft aus ihrer alltäglichen Sphäre heraus in eine Reihe neuer Bilder versetzt, sie in die Feenwelt, in die Zeiten der seltsamsten Bezauberung hinüberschreiten läßt – das ist hier an seinem Platze.26

Dabei nimmt er einerseits Bezug auf die Wirkung der individuellen Erinnerung auf das Landschaftserlebnis. Dazu schreibt Hirschfeld: Die Einbildungskraft […] schweift gern in schwärmerischen Bildern zügellos umher, entflammt sich aus der Erinnerung von hundert Märchen, die einst die Amme oder der Küster erzählte, verjüngt alte Erscheinungen, wandelt und bildet neue Gestalten, und leihet den Scenen einen Schauer, den die Natur und die Vernunft nicht kennen.27

Andererseits weist er auf den Einfluss von Zufälligkeiten, die diesen Effekt hervorbringen können und nennt als Beispiele dafür Wolkenbildungen und Wirkungen „des aufgehenden und niedersinkenden Lichts des Tages“.28 An solchen auf das Ungestaltbare bezugnehmenden Aspekten zeigt sich für ihn „das Romantische in wunderbaren Aussichten“.29 Hirschfelds Ausführungen zum „Romantischen Garten“ enthalten zudem einige Gartenbeschreibungen sowie Hinweise auf die Wirkung dieses Gartentyps stärkende Gebäudetypen und Pflanzen.30 Da mit diesem Beitrag nicht die Einflüsse des Gartentheoretikers auf ein Phänomen der Gestaltungspraxis untersucht, sondern romantische Konzepte in dieser identifiziert werden sollen, wird dieser Aspekt an dieser Stelle ausgeklammert. In ihrem Zusammenspiel führen die Einzelaspekte von Hirschfelds RomantikVerständnis zur Konstruktion einer Kippfigur, die die Wahrnehmung von Wirklichkeit und die Wirkung des Bezaubernden – d. h. Außergewöhnlichen – verknüpft. Von zentraler Bedeutung ist dafür das Moment der Überraschung, durch das sein Konzept zugleich etwas Fragiles gewinnt. Dessen Wahrnehmbarkeit wird somit zu einer entscheidenden Bedingung des Romantischen, da es das Erwartbare und Alltägliche durchbricht. 26 27 28 29

Hirschfeld: Theorie, Bd. 1, S. 193. Hirschfeld: Theorie, Bd. 4, S. 112. Hirschfeld: Theorie, Bd. 4, S. 105. Hirschfeld: Theorie, Bd. 4, S. 105. Damit zeigt Hirschfeld im 1782 veröffentlichten vierten Band seiner Theorie der Gartenkunst ein verändertes, offeneres Verständnis hinsichtlich romantischer Aussichten als im ersten Band von 1779. Dort erklärte er zu diesem Thema: „Die Aussichten sind, weil die Einbildungskraft sich mit nahen Gegenständen beschäftigen soll, hier mehrentheils verschlossen; sie breiten sich selten vorwärts aus, sondern erheben sich öfter aus der Tiefe in die Höhe, oder senken sich von der Höhe in die Tiefe herab.“ Hirschfeld: Theorie, Bd. 1, S. 214. 30 Hirschfeld: Theorie, Bd. 4, S. 112 – 115.

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2. Gartenkünstlerische Konzepte für das Ungestaltete und das Ungestaltbare Als theoretische Auseinandersetzung mit dem Begriff des Romantischen bietet Christian Cay Lorenz Hirschfelds Verständnis einen Ansatzpunkt für die Identi­ fizierung romantischer Konzepte in der gartenkünstlerischen Gestaltung der Umgebung Dresdens um 1800. Sie schafft damit im Rahmen dieses Beitrags eine Untersuchungsgrundlage anstelle der meist fehlenden oder hinsichtlich der gestalterischen Intention wenig aussagekräftigen Zeugnisse der beteiligten Akteure, ohne dass daraus Rückschlüsse auf deren Romantikverständnis gezogen werden können. Doch bietet dieser Untersuchungsansatz durch den als Modell aufgefassten Romantik-Begriff Hirschfelds den Vorteil, die sonst oft im Fokus stehenden Fragen des Freiraumtyps und der formalen Gestaltung als nachrangig anzusehen und das von einzelnen Denkmalssetzungen über Aussichtspunkte und Spazierwege bis zu Gast- und Landhausgärten reichende Spektrum – wenn auch hier nur kursorisch – zu überblicken. Wie für Hirschfelds Romantik-Verständnis ist auch für die Schaffung dieser Anlagen in der Dresdner Umgebung um 1800 der unmittelbare Bezug auf das Ungestaltbare des Himmels und auf das gartenkünstlerisch Ungestaltete, was dieser das „Werk der Natur“ nennt,31 von entscheidender Bedeutung. Wie auch an den als Beispiel benannten Landschaftsbeschreibungen des Gartentheoretikers deutlich wird, gilt das ebenso für land- und waldwirtschaftlich geprägte Bereiche. Bei diesem gestalterischen Bezug auf das „Ungestaltete“ und Ungestaltbare lässt sich in der Gestaltungspraxis zwischen drei Vorgehensweisen unterscheiden, die häufig in Kombination miteinander auftreten. Die erste ist die Erschließung von Bestandssituationen durch ein Wegesystem. Ein zweites Mittel stellt die räumliche Bezugnahme durch eine punktuelle gestalterische Setzung dar. Als dritte Strategie ist die Öffnung von Aussichten anzusehen, mit der das Ungestaltbare in Form des Himmels und des Blickes auf weite Landschaftsräume einbezogen wurde. Um die Spezifik dieser Konzepte zu verdeutlichen, soll im Folgenden je ein Gestaltungsbeispiel kurz dargestellt werden, für das diese eine zentrale Rolle spielen. Die Wirkung des Wegesystems zeigt sich sehr deutlich an den Spazierwegen, die in den siebziger und achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts im Umfeld der kurfürstlichen Sommerresidenz in Pillnitz geschaffen wurden. Initiatoren dieser Anlagen waren Kurfürst Friedrich August III . (1750 – 1827), der hier regelmäßig Spaziergänge unternahm, und dessen Oberkammerherr Camillo Graf Marcolini (1739 – 1814).32 Mit diesem Wegesystem wurde ein Bereich der Hänge 31 Hirschfeld: Theorie, Bd. 4, S. 90. 32 Zur Entwicklungs- und Nutzungsgeschichte der Spaziergänge um Pillnitz siehe: Krepelin, Kirsten/Thränert, Thomas: Die gewidmete Landschaft – Spaziergänge und verschönerte

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| Thomas Thränert des Elbtals mit dem davon abzweigenden Tal des Meixbachs (Friedrichsgrund) und dem Borsberg erschlossen. In Verbindung dazu ließ Marcolini, ausgehend von dem von ihm als Sommersitz genutzten Plantagengut in Hosterwitz, Spazierwege durch den daran grenzenden Keppgrund bis auf einen Hügel führen, für den sich in diesem Zusammenhang die Bezeichnung „Zuckerhut“ etablierte.33 In seiner topographischen Beschreibung Dresdens hebt Friedrich Christian August Hasse (1773 – 1848) den Abwechslungsreichtum der Gegend um Pillnitz und Hosterwitz hervor und leitet daraus – dem Verständnis Hirschfelds entsprechend – einen Bezug zum Romantischen her: „Hier vereinigen sich alle die Farben und Gestalten, welche der Landschaft von Meißen bis Dresden und Pirna jenen arkadischen und romantischen Charakter leihen.“ 34 Durch die Schaffung und Führung des Wegesystems wird diese Vielfalt für die Spaziergänger erfahrbar gemacht. Für die Praktik des Spazierengehens und das Erleben der Landschaft gewinnt die Anlage der Wege als grundlegende Ebene der Gestaltung dementsprechend eine besondere Bedeutung, indem sie signalisiert, dass Andere eine Gegend bereits als betrachtenswert ansehen. Der Weg ist also ein entscheidendes Mittel, diese zum Ausflugsziel und zur Landschaft „zu erheben“. Dafür spielt auch die bauliche Beschaffenheit des Wegesystems eine Rolle. So führte durch den Keppgrund ein „bequemer Kiesweg, […] längs des steinigen […] Baches“.35 Der ausgebaute Weg bewirkt hier eine spezifische Ästhetisierung der umgebenden gartenkünstlerisch ungestalteten Gegend. Durch ihn wird eine neue Freiraum- und Aufenthaltsqualität vermittelt, die sich sowohl von der des Gartens wie der der dörflichen Fluren unterscheidet und beides typologisch zugleich verbindet. Diesen hybriden Status verdeutlicht graphisch besonders treffend eine Radierung Carl August Richters (1770 – 1848), mit der er die Aussicht vom Hausberg darstellt, die fälschlich als die vom nahegelegenen Zuckerhut bezeichnet ist (Abb. 2). Er zeigt, wie aus dieser Perspektive für die Spaziergänger*innen das umgrenzte Areal des Pillnitzer Schlossgartens ebenso zum Gegenüber wird wie die Landschaft der Sächsischen Schweiz und des Osterzgebirges. Ein Beispiel Landschaften um Dresden, Worms 2011, S. 109 – 130; Melzer, Stefanie: Früh 6 Uhr begaben sich seine Churfürstliche Durchlaucht nach der Eremitage … Zur Ausgestaltung von Friedrichs­grund und Borsberghängen im Stil des frühen sentimentalen Landschafts­gartens, in: Staatliche Schlösser, Burgen und Gärten Sachsen (Hg.): Jahrbuch 2006, Bd. 14, Dresden 2007, S. 173 – 184. 33 [Hasse, Friedrich Christian August]: Dresden und die umliegende Gegend bis Elsterwerda, Bautzen, Herrnhut, Rumburg, Schandau, Aussig, Töplitz, Freyberg und Hubertusburg, Bd. 2, Dresden 21804, S. 152. 34 [Hasse]: Dresden, S. 152. 35 Voß, Carl von: Tagebuch über meine Reise nach Dresden und den Aufenthalt daselbst, in: Voß, Rüdiger von (Hg.): Eine Reise nach Dresden 1822. Aufzeichnungen des Kammerherrn Carl v. Voß, Pfullingen 1986, S. 13 – 291, hier S. 91.

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Abb. 2 Aussicht vom Spazierweg auf dem Pillnitzer Hausberg. Am linken Bildrand ist die künstliche Ruine über dem Friedrichsgrund dargestellt. – Carl August Richter, Vue de Pillnitz et de ses environs prise du chemin pour le Zuckerhut, um 1830. Quelle: SLUB Dresden/Deutsche Fotothek.

für die Wirkung einer punktuellen gestalterischen Setzung stellt das 1814 südlich von Dresden in der Nähe des Dorfes Räcknitz errichtete Moreau-Denkmal dar (Abb. 3). Es entstand zur Erinnerung an Jean-Victor Moreau (1763 – 1813), der als Generaladjutant Zar Alexander I. (1777 – 1825) am 26. und 27. August 1813 an der Schlacht von Dresden teilnahm. In deren Verlauf wurde er von einer Kanonenkugel getroffen, die ihm beide Beine zertrümmerte, die daraufhin im nahegelegenen Schloss Nöthnitz amputiert werden mussten. Moreau wurde bald nach der Operation nach Böhmen gebracht, wo er wenige Tage darauf verstarb.36 Den zufälligen Fund der amputierten Beine 1814, die in Nöthnitz „in einem trockenen Gartenwinkel“ überdauert hatten, beschreibt Hasse in seiner Lebensbeschreibung Moreaus als Initial für die Schaffung des Denkmals.37 Sie wurden auf Initiative des Amtshauptmanns Hans Georg von Carlowitz (1772 – 1840) geborgen und auf 36 [Hasse, Friedrich Christian August]: Johann Victor Moreau. Sein Leben und seine Todtenfeier, Dresden, den 4. November 1814, erzählt für junge Krieger und Freunde der Geschichte, Dresden 1816, S. 133 – 142. 37 [Hasse]: Moreau, S. 151.

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Abb. 3 Blick auf Dresden von der Räcknitzer Höhe mit dem Moreau-Denkmal am rechten Bildrand. – Vue de Dresde prise de la hauteur de Räcknitz, um 1830. Quelle: SLUB Dresden/Deutsche Fotothek.

Veranlassung des nach der Völkerschlacht in Sachsen als Generalgouverneur eingesetzten Fürsten Nikolai Repnin-Wolkonski (1778 – 1845) ärztlich identifiziert. Repnin-Wolkonski ordnete auch die Beisetzung der Beine in einer Urne am Ort der Verwundung Moreaus und die Aufstellung eines Denkmals an. Hasse schreibt die Grundidee des daraufhin geschaffenen Monuments dem bereits genannten von Carlowitz zu. Zu einem Entwurf entwickelt wurde sie von Gottlob Friedrich Thormeyer (1775 – 1842). Zum 1814 errichteten Denkmal gehört eine Umpflanzung mit drei Eichen, die das Bündnis der Heiligen Allianz Russlands, Österreichs und Preußens gegen Napoleon symbolisieren.38 Im Gegensatz zu den Spaziergängen um Pillnitz handelt es sich beim MoreauDenkmal also um eine Gestaltung, die von verschiedenen Personen aufgrund ihrer Rolle in der Landesadministration initiiert wurde. Aus der Perspektive der mit diesem Beitrag untersuchten Fragestellung besteht die zentrale Funktion dieses Denkmals in der Formulierung eines Ortes, zu dem das gartenkünstlerisch ungestaltete Umfeld in einen Bezug gesetzt wird.39 Ohne die gestalterische Setzung bestünde demnach auch dieser Bezug nicht – oder zumindest nicht in gleicher Weise. Ob es 38 [Hasse]: Moreau, S. 151 – 152. 39 Zum dabei angewandten Ortsverständnis siehe: Valena, Tomáš: Beziehungen. Über den Ortsbezug in der Architektur, Aachen/Berlin 2014, S. 19 – 23.

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sich bei dem gewählten Ort wirklich um die exakte Stelle des erinnerten Geschehens handelt, wird dabei irrelevant, indem die Denkmalanlage dessen Bedeutung übernimmt. Dies zeigt sich am Stellenwert, den der Ausblick über das ehemalige Schlachtfeld, auf Dresden und über die die Stadt umgebende Elbtalweitung für die Konzeption des Denkmals erhielt, der eine potentielle Aufstellung in einer Geländesenke oder einem Taleinschnitt a priori ausschloss. Im geomorphologisch kaum Auffälligkeiten aufweisenden Geländeverlauf „der sanft ins Elbthal sich verflachenden Anhöhe von Recknitz“ 40 entstand durch das Denkmal eine eindeutig bestimmte Lage. In Bezug zum bestehenden Wegesystem konnte diese zum Ziel von Spaziergängen werden und Ansichten von Stadt und Landschaft manifestieren. Die beiden dargestellten Beispiele haben zugleich bereits die Bedeutung des ungestalteten Aussichtsfeldes für gartenkünstlerische Konzepte in der Umgebung Dresdens um 1800 illustriert. Dass dies nicht nur für ländlich geprägte Anlagen gilt, sondern ebenso für Gärten mit aufwändigerer Gestaltung soll im Folgenden anhand des auf den Elbhängen zwischen der Dresdner Neustadt und Loschwitz gelegenen Findlaterschen Landsitzes gezeigt werden. Lord James Ogilvy, der siebte Earl of F ­ indlater (1750 – 1811), hatte hier 1803 bis 1805 über seinen Sekretär und Lebens­gefährten Johann Georg Christian Fischer (1773 – 1860) Weinberggrundstücke erworben und den Bau eines Palais beauftragt, das 1811 – in seinem Todesjahr – vollendet wurde.41 Durch Erbstreitigkeiten wurden Palais und umgebendes Gartengrundstück kaum als repräsentativer Landsitz genutzt, sondern 1821 an den Hotelier Johann Gabriel Krebs (1781 – 1840) verkauft, der die Anlage zu einer Sommer­frische mit Gaststätte, Fremdenzimmern und Konzertgarten umbaute.42 In der Folge wurde die dem Palais auf der Elbseite vorgelagerte große Rasenfläche terrassiert und mit Beeten intensiver gärtnerisch gestaltet (Abb. 4). Prägend für diesen Ort blieb dennoch der sich der gartenkünstlerischen Gestaltung entziehende Blick auf das Elbtal und die Dresdner Stadtsilhouette. Auffällig für die Konzeption solcher Ausblicke – wie auch vom Pillnitzer Hausberg oder vom Moreau-Denkmal – ist die Tendenz zu einem möglichst weit gefassten Sichtfeld bis hin zum umfassenden Panorama.43 So bekommen atmosphä­rische Aspekte wie Wolkenbildung, Lichtintensität, Sonnenauf- und Sonnen­untergänge oder die Windstärke eine wesentliche Bedeutung für die Konzeption und Wahrnehmung der Anlagen. Beispielsweise lobte der Schriftsteller Carl Julius Weber (1767 – 1832) den „ländlichen Naturanblick[]“ vom Findlaterschen Weinberg und speziell die Situation „wenn die Abendsonne die 40 41 42 43

[Hasse]: Moreau, S. 149. Köhne, Rolf: Die Albrechtsschlösser zu Dresden-Loschwitz, Dresden 1992, S. 25 – 35. Köhne: Albrechtsschlösser, S. 42. Zur Bedeutung der Ausweitung des Horizonts und des panoramatischen Blickfeldes für Erlebnis und Erkenntnis um 1800 siehe: Oettermann, Stephan: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums, Frankfurt am Main/Wien 1980, S. 9 – 13.

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| Thomas Thränert Felsenwände am Eingange der sächsischen Schweiz, und die Kuppeln und Zinnen der Stadt vergoldet“.44 Auch der Kammerherr Carl von Voß (1778 – 1856) schrieb in seinen Tagebuchaufzeichnungen über diesen Ausblick: Die Aussicht von der Gartenterrasse ist gleich reizvoll, sowohl nach Dresden zu als auch nach der Sächsischen Schweiz, und sie war es besonders an diesem Nachmittage, da einige leichte Gewitter, ohne uns auch nur durch Regen zu stören, am Horizont hinwanderten.45

Ein weiteres Element, das diesen Erlebniswert maßgeblich bestimmte, waren Gewässer – v. a. Flüsse wie die Elbe. Sie sind bewegte Landschaftselemente, die Licht in unterschiedlichster Weise spiegeln können. Selbst in einer Landschaft im hier und jetzt vermitteln sie durch ihre Fließrichtung Bezüge in die Ferne. Nicht zuletzt bieten sie Orientierung in der Gegend und waren wichtige Verkehrswege. Der damit verbundene Beziehungs- und Abwechslungsreichtum führt Johann Hoser 1841 hinsichtlich der Elbe zu der euphorischen Schilderung: „[…] die aus tiefer Weite mit himmelhohen Masten und weit angeschwollenen Segeln herankommenden Lastschiffe gewähren den Ankommenden ein höchst interessantes Schauspiel und einen göttlichen Genuß.“ 46 Der für alle drei dargestellten Beispiele maßgebliche Bezug auf das außerhalb der Gestaltung Befindliche zeigt, dass diese medial konzipiert waren. Sie bilden Voraussetzungen für die subjektive oder wenigstens als subjektiv empfundene Auffassung von Landschaft in der Gegend.47 Dem Medien-Begriff von Lorenz Engell und Joseph Vogl folgend machen sie etwas „lesbar, hörbar, sichtbar, wahrnehmbar“ und sind zugleich von der Tendenz geprägt, „sich selbst und ihre konstitutive Beteiligung an diesen Sinnlichkeiten zu löschen und also gleichsam unwahrnehmbar, anästhetisch zu werden.“ 48 Dies mag bei gartenkünstlerischen Gestaltungen 44 Weber, Carl Julius: Deutschland oder Briefe eines in Deutschland reisenden Deutschen, Bd. 3, Stuttgart 31855, S. 193. 45 Voß: Tagebuch, S. 69. 46 Hoser, Johann: Der Elbestrom, pittoresk-topographisch geschildert von Melnik bis Meißen, Prag 1841, S. 116. Dabei ist zu beachten, dass der Fluss um 1800 noch nicht für die Schifffahrt ausgebaut und deutlich breiter war und in seinem Lauf und seiner Breite viel stärker variierte. Hoser schildert die Elbe bei Dresden entsprechend als „große Spiegelfläche auf dem seebreiten Strome“. Ebd., S. 115. 47 Vgl. Kirchhoff, Thomas/Trepl, Ludwig: Landschaft, Wildnis, Ökosystem: zur kulturbedingten Vieldeutigkeit ästhetischer, moralischer und theoretischer Naturauffassungen. Einleitender Überblick, in: Kirchhoff, Thomas/Trepl, Ludwig (Hg.): Vieldeutige Natur. Landschaft, Wildnis und Ökosystem als kulturgeschichtliche Phänomene, Bielefeld 2009, S. 13 – 66, hier S. 27 – 29. 48 Engell, Lorenz/Vogl, Joseph: Vorwort, in: Pias, Claus/Vogl, Joseph/Engell, Lorenz/Fahle, Oliver/Neitzel, Britta (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht

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Abb. 4 Blick über die Gartenterrasse von „Findlaters Weinberg“ auf Dresden. – Carl August Richter, Findlaters Palais von der Elb-Seite, um 1840. Quelle: SLUB Dresden/Deutsche Fotothek.

unterschiedlich stark ausgeprägt sein, doch überwiegt selbst bei Spaziergängern, die diese Anlagen in ihrer Ausführung kritisieren, die Auffassung, in der Aussicht autonom zu sein. 3. Landschaft als Kippfigur So wie Hirschfelds Romantik-Begriff durch seinen Bezug auf das ‚Ungestaltete‘ oder Ungestaltbare und mit seiner Orientierung auf Zufälligkeiten und Überraschungen auf das Kippfigurhafte zielt, gilt das demnach auch für viele der um 1800 in der Dresdner Umgebung geschaffenen gartenkünstlerischen Gestaltungen. Mitunter bildet dies die Grundlage des Gestaltungskonzeptes wie beim schon beschriebenen Moreau-Denkmal. Dieses vermittelt den Spaziergänger*innen zwei an sich alternative Landschaftswahrnehmungen, die Friedrich Christian August Hasse in seiner Lebensbeschreibung Moreaus beide darstellt. Die erste führt den Ausblick von „einer hohen, freien Stelle, die das Elbthal und Dresden in einem malerischen Umkreise mit seinem Weingebirge und den Waldhöhen der Lausitz und Böhmens umfaßt“,49 vor Augen. Zugleich vermag das Denkmal den B ­ etrachter bis Baudrillard, Stuttgart 1999, S. 8 – 11, hier S. 10. 49 [Hasse]: Moreau, S. 148.

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Quelle: SLUB Dresden/Deutsche Fotothek.

Abb. 5 Johann Gottlob Henschke, Panorama von der Bastei, um 1830.

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durch das damit erinnerte Geschehen „inmitten des furchtbaren ­Wendekreises eines blutigen Kampfs, wo Moreau […] tödlich verwundet zu Boden sank“,50 zu versetzen. Diese Wahrnehmungen erscheinen unvereinbar und müssen sich doch gerade für die Zeitgenossen, für die das Kriegsgeschehen bei Errichtung des Denkmals gerade ein Jahr zurücklag, immer wieder durchbrochen haben. Im Fall des Moreau-Denkmals bietet diese Brechung – abgesehen von eventuellen überraschenden atmosphärischen Wirkungen der Aussicht – die entscheidende Grundlage dafür, diesen Ort romantisch aufzufassen. Doch beruht die Wirkung des Romantischen auch darüber hinaus – Hirschfelds Verständnis entsprechend – maßgeblich auf der Unvorhersehbarkeit des Erlebten und damit auf dem Eindruck von Neuheit. Das zeigt ein Tagebucheintrag des Kammerherr Carl von Voß, der über seinen ersten Besuch auf dem Basteifelsen (Abb. 5) in der Sächsischen Schweiz am 18. Mai 1822 notierte: Mein erstes Gefühl an dieser Stelle ist kaum zu beschreiben: Meine Augen füllten sich mit Thränen und unwillkürlich beugte sich mein Knie vor dem Schöpfer. Erst nachdem ich mehrere Minuten stumm und mit gefalteten Händen am Geländer gelehnt hatte, vermochte ich mir Rechenschaft über das zu geben, was ich sah.51

Diese dem von Hirschfeld beschriebenen „Versinken in sich selbst“ 52 entsprechende Reaktion erwies sich dennoch als fragil, als von Voß diesen Ort bereits einen Tag später nochmals aufsuchte: […] kehrten wir […] noch einmal zur Bastey zurück. Auf dem Kehrplatze vor derselben fanden wir vierzehn Wagen und die Hütten und Buden so mit Menschen besetzt, dass wir nur mit Mühe ein Plätzchen für uns ergattern konnten. Dies störte uns, und da überdies die grelle Mittagssonne die Landschaft fast schattenlos beleuchtete, fehlte dem Ausblick jeder besondere Reiz. Wir fanden also heute nicht den gestrigen Genuß.53

Sollte es von Voß‘ Absicht gewesen sein, das Erlebnis des Vortages zu wiederholen, so erwies sich dies also als unmöglich. Zu den genannten Gründen, die ihn davon abhielten (Nutzungsintensität, andere Wetterlage), kommt aber auch, dass dieses Erlebnis nicht mehr neu für ihn war. Diese Kippfigur ist hier sicher nicht Teil des Gestaltungskonzepts, doch bezeichnet sie ein grundsätzliches Dilemma für die Planung. Wenn die Wirkung des Romantischen auf Überraschung und Verzauberung beruhte, wie Hirschfeld dies versteht, dann stellt sich diese leicht ein, wenn Gegenden 50 51 52 53

[Hasse]: Moreau, S. 148. Voß: Tagebuch, S. 56. Hirschfeld: Theorie, Bd. 1, S. 214. Voß: Tagebuch, S. 60.

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| Thomas Thränert oder Orte im Zuge ihrer touristischen Entdeckung um 1800 erstmals aufgesucht wurden. Doch war eine gleiche oder auch nur ähnliche Wirkung bei einer sich etablierenden wiederholten Freizeitnutzung der dortigen Anlagen nicht zu erwarten.54 Einen unmittelbaren Ausweg boten hier, neben dem schon von Hirschfeld betonten Verweis auf die Zufälligkeiten atmosphärischer Effekte und auf die Entdeckung von Details, die Vielfalt und der Abwechslungsreichtum der um 1800 in der Umgebung Dresdens geschaffenen gartenkünstlerischen Gestaltungen. Dies ermöglichte das Ausweichen auf andere Ausflugsziele und potentiell ein Andauern der bezaubernden Wirkung. Doch stellt sich die Frage, ob auch in den einzelnen Anlagen gestalterische Konzepte entwickelt wurden, um die Wirkung des Romantischen aufrechtzuerhalten. 4. Romantisierung als Gestaltungskonzept Hirschfeld bezeichnet es in seiner Theorie der Gartenkunst als Aufgabe der Kunst, im „Romantischen Garten“ diese Wirkung der Natur zu stärken, vielleicht den „Anstrich des Wunderbaren“ zu verbreiten.55 Von Gebäuden fordert er, dass ihre „Bauart […] seltsam, regellos, abweichend von dem gewöhnlichen Gepräge“ 56 wirken und von Pflanzungen, dass sie wie „wilde, rohe, hingeworfene Klumpen“ 57 erscheinen sollen. Damit formuliert er einen Ermöglichungsraum für die Gestaltung, der Spielerisches und Experimentelles zuließ.58 In der Gestaltungspraxis führte dies zu einer Reihe von Konzepten, die ­darauf abzielten, die Wirkung des Landschaftlichen zu steigern und so auch beim wieder­ holten Besuch einer Gegend Abwechslung und Überraschung empfinden zu können. Dabei darf die Rolle des Spielerischen oder Experimentellen nicht zu hoch bewertet werden, da das wesentlichste und gestalterisch prägendste Mittel, um Abwechslung zu bieten, in der Schaffung von Aussichtsplätzen oder -gebäuden bestand. Der auf diese Weise vermittelte Blick auf die Landschaft war stets der 54 Hans Magnus Enzensberger hat dieses Phänomen in seiner Theorie des Tourismus aus Perspektive der Tourismusnutzung und hinsichtlich der gestalterisch vermittelten Angleichung des Unbekannten an das Vertraute dargestellt. Enzensberger, Hans Magnus: Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie, Frankfurt am Main 31966, S. 190 f. 55 Hirschfeld: Theorie, Bd. 4, S. 112. 56 Hirschfeld: Theorie, Bd. 4, S. 112. 57 Hirschfeld: Theorie, Bd. 4, S. 114. 58 Für den Typus des kleinen Gartenhauses hat Günter Oesterle auf diesen Aspekt bereits hingewiesen. Oesterle, Günter: Skizze einer Kulturgeschichte des kleinen Gartenhauses, in: Fischer, Hubertus/Thielking, Sigrid/Wolschke-Bulmahn, Joachim (Hg.): Reisen in Parks und Gärten. Umrisse einer Rezeptions- und Imaginationsgeschichte, München 2012, S. 65 – 78, hier S. 74.

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Veränderung durch die Witterung, die Tages- und Jahreszeiten und den Lauf der Zeit unterworfen und oft durch Tiere sowie Landwirtschaft, Wegeverkehr oder Schifffahrt belebt. Ein Konzept zur Steigerung dieser Wirkung bietet die farbliche Tönung der Aussicht, d. h. die Veränderung des Kolorits der Landschaft. Ein Beispiel dafür entstand im Zusammenhang mit der wahrscheinlich um 1820 erfolgten Gestaltung der Brandaussicht über dem Polenztal in der Sächsischen Schweiz, deren Initiator der für das Hohnsteiner Forstrevier zuständige Kammer- und Jagdjunker Ludwig Job von Carlowitz (1782 – 1863) war.59 Dabei wurde u. a. ein als Einsiedelei oder Eremitage bezeichnetes Borkenhäuschen mit unterschiedlich getönten Fenster­ scheiben errichtet (Abb. 6). Karl August Friedrich von Witzleben (1773 – 1839) stellt deren Wirkung in seiner Reisebeschreibung Der Norweger dar, der zufolge die „[…] bunte[n] Fensterscheiben die Umgegend in einem ganz verschiedenen Zauberlichte“ zeigten, und führt dies weiter aus: Hier ward die Landschaft vor mir plötzlich zu einer trüben, nebligen, dort schien ein glühender italischer Himmel sie zu beleuchten, und als ich durch eine andere Scheibe blickte, schien das Ganze in Rosenduft getaucht zu sein.60

Während diese Gestaltung darauf zielt, das vorhandene Landschaftsbild durch verschiedene Akzentuierungen zu steigern, betonten andere Konzepte den Aspekt des Überraschenden. Exemplarisch zeigen dies die zu dieser Zeit durch Anstauung von Bächen und mitunter auch durch deren Umleitung geschaffenen künstlichen Wasserfälle. Eine Gestaltung dieser Art wurde beispielsweise 1779 bis 1780 im Pillnitzer Friedrichsgrund angelegt (Abb. 7).61 Dazu wurden hier oberhalb des Tales Reservoirs angelegt, durch deren Ablassen „[i]n mancherlei Absätzen und farbigen Strahlen […] sich dann der Strohm von der Höhe herab [ergoss], und […] sich unten in wilden Schaum auf[löste]“.62 Demnach war es hier also ein durch die gartenkünstlerische Gestaltung steuerbares Ereignis, das Hirschfelds Verständnis des Romantischen entsprechend eingesetzt wurde. Beim Gang durch die gartenkünstlerisch erschlossenen Gegenden konnte diese Überraschung auch auf die Bewegung des Spaziergängers zurückgehen und dann von plötzlich in

59 Krepelin/Thränert: Landschaft, S. 225 f. 60 Tromlitz, A. von [Karl August Friedrich von Witzleben]: Der Norweger oder Romantische Wanderung durch die Sächsische Schweiz, Bd. 2 (Sämmtliche Schriften, 3. Sammlung, Bd. 29), Dresden/Leipzig 1841, S. 14 – 16. 61 Melzer: Friedrichsgrund, S. 175. 62 [Müller, Karl]: Das Friedrichsthal bei Pilnitz (Dichterischer Schilderungen von den berühmtesten romantischen Lustörtern und malerischschönen Gegenden in Sachsen, vorzüglich um Dresden, Meißen und Pirna [et]c., Teil 4), Pirna 1786, S. 104.

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| Thomas Thränert Sichtweite kommenden Bauten, Pflanzungen oder Aussichten ausgehen.63 Hierfür ist die Prozesshaftigkeit der Anlagegestaltungen von großer Bedeutung, da sie die unerwartete Entdeckung neuer Ausstattungselemente bei wiederholten Besuchen ermöglichte. Gebäude und Denkmäler vermitteln dabei durch ihre meist denkmalhafte, sinnstiftende Konzeption spezifische Impulse auf die Einbildungskraft der Betrachter*innen. Adrian von Buttlar hat dies als einen auf Kinästhesie und Imagination beruhenden steten Wechsel der Realitätsebenen beim Spaziergang beschrieben.64 Ein Beispiel dafür liefert Karl Müllers Beschreibung des Pillnitzer Friedrichsgrunds, in der der Autor die Annäherung an die dort im Zuge der garten­künstlerischen Gestaltung aufgestellte Irmensäule (Opferstein) und die sogenannte Tempelruine (Abb. 8) folgendermaßen darstellt: O führet mich weiter den Weg hinauf, ihr winkenden Pappelweiden! […] führet mich hin, wo unter dem stillen Tannenhaine am Waßer noch der alte zerbrochene Opferstein steht, und der graue Ruin eines Tempels sich erhebt. Denn hier war es, wo vor grauen Jahrhunderten die Irmensäule der heilige Hain umschloß, das Bild des sächsischen Helden, der die Legionen des Varus streckte, und die teutsche Freiheit wieder gewann. – Hier war es, wo weiland unsere tapfern Väter am Opfermahle das Andenken des göttlichen Hermins feierten, oder die Nächte des Vollmonds in der Rathsversammlung fröhlig durchtranken. An jener alten knotigen Rüster, die den Weg da weit mit grünen Schatten umwölbt, hingen dann die starken Waffen umher, und im weißen Gewande, das Haar mit Eichenlaub bekränzt, saßen die Opfernden und die Priester in heitern Kreisen umher. Die Barden aber sangen dann in der horchenden Versammlung ihre begeisternden Lieder ab.65

Das literarische Ich wird also – Hirschfelds Formulierung entsprechend – durch seine Einbildungskraft aus der „alltäglichen Sphäre heraus in eine Reihe neuer Bilder versetzt“.66 Diesem Verständnis entsprechend wirkt die gestaltete Szene romantisch, indem sie die Gegenwart einer anderen Zeit erfahrbar macht. 8Während Müllers Beschreibung dabei die mutmaßliche gestalterische Intention bestätigt und ausschmückt, genügt Friedrich Christian August Hasse in der Schilderung eines Besuchs im gartenkünstlerisch erschlossenen Seifersdorfer Tal bei Radeberg für diese Bewegung der Einbildungskraft der bloße Bezug auf den Genius loci: 63 Jeroen Leo Verschragen stellt dies am Konzept des „Wegenetz[es] als Formular“ dar. Verschragen, Jeroen Leo: Die „stummen Führer“ der Spaziergänger. Über die Wege im Landschaftsgarten, Frankfurt am Main 2000, S. 165 f. 64 Buttlar, Adrian von: Gedanken zur Bildproblematik und zum Realitätscharakter des Landschaftsgartens, in: Die Gartenkunst 2/1 (1990), S. 7 – 19, hier S. 8 – 9. 65 [Müller]: Friedrichsthal, S. 99 – 100. 66 Hirschfeld: Theorie, Bd. 1, S. 193.

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Abb. 6 Eremitage und Pavillon auf dem Felsplateau des Brand mit Aussicht ins Elbtal. – Carl Heinrich Beichling, Vue prise du Brand dans la Suisse Saxonne, um 1830. Quelle: Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Herbert Boswank.

Abb. 7 Der künstliche Wasserfall im Pillnitzer Friedrichsgrund. – Carl August Richter, 1816. Quelle: Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Herbert Boswank.

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Abb. 8 Opferstein und Tempelruine im Pillnitzer Friedrichsgrund. – Eine Partie aus dem Pillnitzer Grunde, um 1800. Quelle: SLUB Dresden/Deutsche Fotothek.

Wer es noch nicht sah, besuche es in einer Mondnacht. – Die Nacht ruhte schon auf der Erde. Ich trat in die Tiefe über welcher die laubichten Aeste sich umarmten. Die gemeine Welt ging unter: ich war in der poetischen. In der Stille leuchtete durch den finstern Dom des Waldes die Erinnerung an schöne Phantasieen [sic]. Sie trug mich nach Italien auf die romantischen Pfade, welche Ariost’s Hippogryph durchflog. Ich sah seinen Roland, der von der Wuth verzweifelnder Liebe des Nachts durch diesen Wald gejagt.67

Da es in Seifersdorf keinen gestalterischen Bezug auf Ariost (1474 – 1533) oder dessen Orlando furioso gab, genügen also der von Sinnstiftung geprägte Charakter des Orts 68 und die Unschärfe des nächtlichen Garten- und Naturerlebnisses, um das 67 [Hasse, Friedrich Christian August]: Dresden und die umliegende Gegend bis Elsterwerda, Bauzen, Tetschen, Hubertusburg, Freyberg und Rumburg. Eine skizzirte Darstellung für Natur- und Kunstfreunde, Pirna 1801, S. 301 – 302. 68 Dieser Sinnbezug wird einerseits durch die gartenkünstlerische Umwertung des Tals an sich und andererseits durch dessen durchgängig denkmalhaft aufgefasste gestalterische Ausstattung vermittelt. Zu letzterer gehörten u. a. ein „Tempel der Wohlthätigkeit“, eine „Hütte der Einsamkeit“, ein „Moritz und den ländlichen Freuden“ gewidmeter Pavillon und Denkmäler für die Weimarer Herzoginmutter Anna Amalia (1739 – 1807), Herzog Leopold

Konzepte der Romantisierung von Stadt und Land in der Gartenkunst um 1800  |

Abb. 9 Spaziergänger am Loschwitzer Elbhang mit Aussicht auf Dresden – Gustav Täubert, Blick auf Loschwitz und Umgebung, um 1860. Quelle: SLUB Dresden/Deutsche Fotothek.

literarische Ich räumlich und zeitlich in eine phantastische Welt zu versetzen. Die dargestellten Beispiele verdeutlichen, dass für gartenkünstlerische Gestaltungen in der Umgebung Dresdens um 1800 Hirschfelds Romantik-Verständnis entsprechende Konzepte eine prägende Rolle spielten. Dies gilt unabhängig von deren formaler Konzeption für landschaftliche ebenso wie für architektonische Anlagen oder einfachste Maßnahmen zur Etablierung von Freiraumnutzungen. Entscheidend ist dabei, dass sie in ihrer Mehrzahl Ausflugsziele für Spaziergänger*innen im Umfeld der Stadt boten und durch den Aufenthalt an diesen Orten eine Distanzierung vom urbanen Raum vermittelten. Indem damit – gewissermaßen im ersten Schritt – das „Land“ romantisiert wurde, entwickelte sich aus dieser Perspektive zugleich eine neue Sicht auf die Stadt (Abb. 9). Aus dem Nicht-Alltäglichen der Ausflüge in die Gegend heraus erschien auch die Stadt nicht mehr alltäglich. Aus der Unschärfe der Distanz verlor sie ihre Aktualität für die Betrachter*innen und von Braunschweig-Wolfenbüttel (1752 – 1785), Johann Gottfried Herder (1744 – 1803) und Laura, der zentralen Figur von Francesco Petrarcas (1304 – 1374) Sonetten. Die umfassendste Darstellung zur Gestaltung der Anlage im 18. Jahrhundert bietet: Becker, Wilhelm Gottlieb: Das Seifersdorfer Thal, Leipzig 1792.

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| Thomas Thränert wurde fast schon selbstverständlich romantisch.69 Dafür wurden mit Mitteln der Gartenkunst nicht nur die Wahrnehmung der Stadt prägende Sichtbezüge fixiert, sondern aus dem inhärenten Gegensatz des Landaufenthaltes heraus auch vielfältige Sinnstiftungen ermöglicht.

69 Vgl. Ullrich, Wolfgang: Die Geschichte der Unschärfe, Berlin 2009, S. 11.

Sönke Friedreich

Heilige Haine in der Industriestadt. Stadtentwicklung, Selbstbilder und ‚natürliche‘ Denkmäler in der Stadt Plauen im Vogtland im ausgehenden 19. Jahrhundert Am 24. Januar 1924 erschien in der „Neuen Vogtländischen Zeitung“, einer seit 1898 publizierten bürgerlichen Tageszeitung im Vogtland, ein Artikel mit dem Titel „Wenn Plauen erwacht …“. In diesem Beitrag wird beschrieben, dass sich nicht nur der Mensch, sondern auch die Stadt morgens gleichsam den Schlaf aus den Augen reibe; die Art und Weise, wie dies geschehe, lasse Rückschlüsse auf ihren Charakter zu: Die Schritte werden immer lauter, immer zahlreicher. Ernst gehen die Menschen dahin, auch die Mädchen, die noch am Abend ein frohes Lachen und ein klingendes Lied auf den Lippen hatten. Die Pflicht, harte, vielleicht ungeliebte Arbeit eines langen Tages liegt vor ihnen. Da fehlt, ach, gar oft die Fröhlichkeit und das glückliche Leuchten in den Augen, das man in verträumten alten Städten finden kann, wo das Leben beschaulich und leise dahinfließt. Und doch ist auch unsre Stadt nicht ohne Poesie. Einen andern Rhythmus hat sie, einen harten dröhnenden Schritt, und ihr Gesicht ist wie das so vieler Straßenzüge nüchtern und ausdruckslos. Aber auch ihr fehlen die stillen w ­ inkligen Straßenzüge nicht, in denen längst verschwundene Romantik im Dämmerschein jedes Tages zu neuem Leben erwacht. Wenn dann aber die strahlende Morgensonne über die breiten Dächer, über die wuchtigen Türme wandert […], dann schwindet alle Verträumtheit dahin, dann findet sie Regsamkeit und Fleiß […].1

Was in diesen Zeilen entworfen wird, ist die Beschreibung einer Stadt, die innerhalb weniger Jahrzehnte im Zuge des Industrialisierungsprozesses von einem regionalen Zentralort zu einer industriellen Großstadt herangewachsen war und in deren öffentlichem Leben sich dieser Modernisierungssprung nachdrücklich eingeschrieben hatte. Regsamkeit und Fleiß, Nüchternheit und Ausdruckslosigkeit erscheinen als beinahe notwendige Eigenschaften einer Stadt, in der die I­ ndustrie, hier namentlich die Textilindustrie, den Takt, den Rhythmus als einen harten dröhnenden Schritt vorgibt. Kann eine solche Stadt ein Ort romantischer Urbanität sein, wo doch in dem Artikel von der längst verschwundene[n] Romantik die Rede ist, die nur gelegentlich zum

1 Wenn Plauen erwacht…, in: Neue Vogtländische Zeitung Nr. 20 v. 24. 01. 1924.

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| Sönke Friedreich Leben erwacht? Diese Frage soll im Folgenden diskutiert werden.2 Im alltäglichen Sprachgebrauch sind „Industrie“ und „Romantik“ bekanntlich keineswegs unvereinbar. Dies belegt der Begriff der „Industrieromantik“, eine Art Kurzformel für Bilder von sich im Abendrot abzeichnenden rauchenden Schloten, moosbewachsenen Fabrikruinen oder stillgelegten Eisenbahnstrecken. Im Begriff der „Industrieromantik“ verbirgt sich vor allem die Beschönigung einer als hässlich und lebensfeindlich wahrgenommenen Industrie, eine Ästhetisierung, die nach dem Funktionsverlust klassischer Industriebauten einsetzte. Der morbide Charme des Zerfalls übt für das postindustrielle Zeitalter eine offenbar magische Anziehungskraft aus.3 Dies geht inzwischen so weit, dass hierfür mit dem Begriff des „ruin porn“ ein Schlagwort für eine geradezu obsessive Beschäftigung mit romantisch verklärtem industriellen Verfall Verbreitung gefunden hat.4 Für das ausgehende 19. Jahrhundert ist dieser Begriff jedoch kaum anwendbar. Eher müsste man für diese Zeit von einer verbreiteten ‚Agrarromantik‘ sprechen, wie dies Klaus Bergmann in seinem 1970 erschienenen Buch zur Großstadtfeindschaft getan hat.5 Die ländliche Gesellschaft war demzufolge jener Raum, in den hinein Vorstellungen von Einheit, Natürlichkeit, Harmonie und organischem Dasein projiziert wurden. In eine ähnliche Richtung zielt auch die „Kleinstadtromantik“, als deren Ort die alte, vormoderne, überschaubare, langsame und naturnahe Kleinstadt anzusehen ist.6 Die Industriestadt im ausgehenden 19. Jahrhundert entsprach dagegen dem Zerrbild eines Ortes der Rationalität, der Vermassung, der Verdinglichung, der Konflikte, der Gewalt und der Entfremdung. 1. Plauen im Vogtland – Aufstieg einer Industriestadt Plauen blickte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auf eine über 700-jährige Geschichte zurück. Die Stadt besaß lange eine verwaltungsgeschichtliche Funktion als Zentralort im Vogtland und war wirtschaftlich von der Textilherstellung, 2 Dieser Beitrag beruht auf den Ergebnissen des Forschungsprojektes „Zwischen Aufstieg und Krise. Städtische Identität und Selbstwahrnehmung in Plauen, 1880 – 1933“ des Verfassers am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde. Vgl. Friedreich, Sönke: Der Weg zur Großstadt. Stadtentwicklung, bürgerliche Öffentlichkeit und symbolische Repräsentation in Plauen, 1880 – 1933, Leipzig 2017. 3 Vgl. z. B. den Spiegel-Artikel von Andreas Heimann „Der Charme der Industrieruinen“ (13. 05. 2005), http://www.spiegel.de/reise/europa/tourismus-im-revier-der-charme-derindustrieruinen-a-355845.html (letzter Zugriff: 09. 05. 2019). 4 Vgl. Lyons, Siobhan (Hg.): Ruin Porn and the Obsession of Decay, Basingstoke 2018. 5 Bergmann, Klaus: Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, Hain/Meisenheim am Glan 1970. 6 Vgl. Hannemann, Christine: Marginalisierte Städte. Probleme, Differenzierungen und Chancen ostdeutscher Kleinstädte im Schrumpfungsprozess, Berlin 2004, S. 54.

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zunächst der Tuchmacherei, später der Baumwollweberei, geprägt.7 Bis etwa 1850 hatte Plauen ein nur mäßiges Wachstum erfahren, war abgesehen vom Textilhandwerk agrarisch geprägt (im Sinne einer Ackerbürgerstadt) und baulich weitgehend in den mittelalterlichen Stadtmauern verblieben.8 Bei aller politischen und wirtschaftlichen Signifikanz für das regionale Umfeld hatte Plauen weder eine größere überregionale Bedeutung noch eine entsprechende Bekanntheit. In baulich-architektonischer, aber auch in geistes- und kulturgeschichtlicher Hinsicht hatte es nur einen geringen überregionalen Stellenwert. Die Industrialisierung veränderte auch in Plauen die Bedingungen der Stadtentwicklung grundlegend. Seit 1857 wurden Handstickmaschinen eingeführt, durch die die lokale Stickereiherstellung eine neue technologische Grundlage erhielt.9 1867 existierten 18 Betriebe mit 159 Maschinen in Plauen, 1872 dann bereits 239 Betriebe bzw. Lohnsticker mit 907 Maschinen.10 1881 bedeutete die Einführung der maschinengestickten Tüllspitze einen weiteren entscheidenden Schritt hin zu einer raschen Spezialisierung der in der Stadt ansässigen Fabrikanten. Die Verwendung durchbrochener Stoffe als Grundlage der Stickerei war die Basis des später unter der Bezeichnung „Plauener Spitze“ weltweit bekannt gewordenen Produkts.11 Durch die globale Expansion des Marktes für Spitzen wuchs die Textilindustrie stark und zog vor allem aus der näheren Umgebung (Vogtland, Erzgebirge, Oberfranken) Menschen an, für die die wachsende Industrie eine Verbesserung ihrer persönlichen Lebensumstände versprach.12 Hatte Plauen 1871 bereits etwa 23.000 Einwohner*innen, so erreichte es 33 Jahre später den Status einer Großstadt mit 100.000, 1912 gar mit 128.000 Einwohner*innen.13 Neben einer wachsenden Schicht 7 Bünz, Enno: Das Vogtland in Mittelalter und Früher Neuzeit, in: ders./Friedreich, Sönke/ Ranacher, Christian/Vogel, Lutz: Vogtland, Leipzig 2013, S. 21 – 54. 8 Naumann, Gerd: Grundzüge der wirtschaftlichen Entwicklung in der Stadt Plauen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Jahre 1914, in: Mitteilungen des Vereins für vogtländische Geschichte, Volks- und Landeskunde 10 (2004), S. 53 – 7 1, hier S. 53. 9 Naumann: Grundzüge, S. 57; Fröhlich, Horst: Plauens Weg zur Industriestadt, in: Vogtländisches Kreismuseum (Hg.): Plauen. Ein kleines Stadtbuch, Plauen 1963, S. 59 – 77, hier S. 69; Erhardt, Willy: Das Glück auf der Nadelspitze. Vom Schicksalsweg der vogtländischen Stickereiindustrie, Plauen 1995, S. 22 – 23; Luft, Frank: Die Textilregionen sächsisches Vogtland und Ascher Land 1750 – 1930, Plauen 2013, S. 61; Hopf, Werner: Die Strukturwandlungen in der vogtländischen Spitzen- und Stickereiindustrie seit der Jahrhundertwende, Leipzig 1938, S. 13. 10 Naumann: Grundzüge, S. 60; Fröhlich: Plauens Weg, S. 70. 11 Naumann, Gerd: Die Plauener Spitzen- und Stickereiindustrie in Vergangenheit und Gegenwart, in: Sächsische Heimatblätter 4/43 (1997), S. 236 – 246, hier S. 239; Fröhlich: Plauens Weg, S. 71; Hopf: Strukturwandlungen, S. 16 – 17. 12 Kramer, Gerd: Die Herausbildung der Großstadt Plauen, in: Mitteilungen des Vereins für vogtländische Geschichte, Volks- und Landeskunde 9 (2003), S. 82 – 119, hier S. 90. 13 Vgl. Blaschke, Karlheinz: Bevölkerungsgeschichte von Sachsen bis zur Industriellen Revolution, Weimar 1967, S. 138 – 141, und ders.: Entwicklungstendenzen im sächsischen Städtewesen

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| Sönke Friedreich lohnabhängiger Arbeiter*innen nahm auch die Zahl von selbständigen Lohnsticker*innen sowie wirtschafts- und bildungsbürgerlicher Gruppen zu.14 In rascher Folge entstanden neue Stadtviertel, die die wachsende Bevölkerung aufnahmen.15 Typische großstädtische Infrastrukturmaßnahmen, von der Ansiedelung eines Vieh- und Schlachthofs bis hin zur elektrischen Straßenbahn, wurden durchgeführt, während sich der wirtschaftliche und gesellschaftliche Mittelpunkt aus der Stadtmitte heraus verlagerte.16 Die maßgeblichen Entscheidungen über die Stadtentwicklung und -gestaltung wurden in diesem Prozess einerseits durch das bürgerliche Stadtregiment getroffen, andererseits durch eine dieses Stadtregiment stützende breitere bürgerliche Stadtgesellschaft. Die lokalen Akteure waren hierbei Verwaltungsangestellte, Ratsmitglieder, Unternehmer, Lehrer sowie die Vorsitzenden bürgerlicher Vereine, die das bürgerliche Weltbild ihrer Zeit – vom bürgerlichen Tugendkatalog über die nationalistische Grundhaltung bis hin zum Geist des Protestantismus – über verschiedene Repräsentationsstrategien in der Stadt sichtbar machten.17 Wie in anderen wachsenden Industriestädten hatten die bürgerlichen Gruppen auch in Plauen eine durchaus ambivalente Sichtweise auf das Wachstum ihrer Stadt. Der Stolz auf den wirtschaftlichen Erfolg und die Expansion des Gemeinwesens paarte sich mit der Angst vor der Anomie der Großstadt und dem Verlust der sozialen Kontrolle.18 Sah man die Großstadtwerdung einerseits als Siegeszug von Wirtschafts- und Erfindungskraft an, so stellte sie andererseits als Ort sozialer Konflikte, angeblichen sittlichen Verfalls und weitgehender Individualisierung eine Bedrohung dar.19 Diese negativen Aspekte waren bereits von Wilhelm Heinrich Riehl als Vordenker der Großstadtkritik formuliert worden und wurden in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vielfach wiederholt

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während des 19. Jahrhunderts (1815 – 1914), in: Matzerath, Horst (Hg.): Städtewachstum und innerstädtische Strukturveränderungen. Probleme des Urbanisierungsprozesses im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1984, S. 44 – 64, hier S. 60 – 64. Naumann: Grundzüge, S. 67. Lindner, Paul: Räumliche Prägung von Städten durch die Industrialisierung im 19. Jahrhundert am Beispiel der Textilstadt Plauen im Vogtland, in: Geographie und Schule 131/23 (2001), S. 40 – 44, und 132/23 (2001), S. 31 – 36. Kramer, Gerd: Die technische Infrastruktur als Wegbereiter der großstädtischen Entwicklung von Plauen, in: Mitteilungen des Vereins für vogtländische Geschichte, Volks- und Landeskunde 10 (2004), S. 72 – 88, hier S. 76 – 84. Zu den verschiedenen bürgerlichen Gruppen in Plauen vgl. Meiner, Felix: Bodenspekulation und Recht der Stadterweiterung in Plauen i. V., Leipzig 1907, S. 6. Vgl. die Beiträge in: Hein, Dieter/Schulz, Andreas (Hg.): Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt, München 1996. Zur bürgerlichen Ablehnung großstädtischer Urbanität vgl. Schambach, Karin: Von der Identifikation zur Entfremdung. Die Erfahrung städtischer Wirklichkeit im 19. ­Jahrhundert, in: Archiv für Kulturgeschichte 81 (1999), S. 133 – 147.

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und zum Teil auch mit sozialdarwinistischen und biologistischen Argumentationsmustern untermauert.20 Dieser Entwicklung suchten die bürgerlichen Entscheidungsträger mit der Auffassung von Stadt als einem Integrationsmodell zu begegnen, einem Modell, das von der Romantik als einer „simulierte[n] Einheits- und Ganzheitsperspektive“ im Sinne Stefan Matuscheks und Sandra Kerschbaumers getragen wurde.21 Eine zentrale Rolle nahm dabei die „Natur“ ein, deren Integration in das städtische Leben als ein Bollwerk gegen den angeblichen zivilisatorischen Verfall fungierte – Natur als ein Reservoir von Ursprünglichkeit, als Ort vorgeblicher Freiheit von den Zwängen der Moderne und als Gegengewicht zur gebauten, mechanisierten, technisierten Stadt. Dabei wurden die fortschrittliche Stadt und die Natur nicht als Gegensätze gesehen, sondern ihr Zusammenspiel betont. Natürlichkeit und Elemente des „Natürlichen“ waren der technischen Moderne hinzuzufügen, die Stadt demnach der Rahmen, in dem begrenzte Naturräume mit entgrenzender Wirkung anzulegen waren. 2. Natur als Denkmal in der wachsenden Stadt: Oberbürgermeister Kuntze und die Haine Clemens Zimmermann hat darauf hingewiesen, dass in den größeren Städten West- und Mitteleuropas bereits seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmend Parks und Gärten entweder neu angelegt oder für eine breitere Öffentlichkeit geöffnet wurden.22 Die Einfügung der gestalteten Natur in die wachsenden Städte wurde im 19. Jahrhundert bald als eine Hauptaufgabe angesehen, sodass etwa auf niedergelegten Befestigungswerken Grünanlagen gepflanzt wurden. Diese Einfügung oder Rückholung einer gezähmten Natur in die Stadt verfolgte zwei funktionale Ziele: Zum einen galten Parks als Heilmittel gegen Luftverschmutzung, Gedränge und „angespannte Nerven“ der Stadtbewohner (was Willy Hellpach später als großstädtische Nervosität charakterisieren sollte)23, zum anderen boten sie eine Stätte der Erholung und Begegnung und einen Ort zum Spazierengehen 20 Bergmann: Agrarromantik, S. 38. 21 Matuschek, Stefan/Kerschbaumer, Sandra: Romantik als Modell, in: Fulda, Daniel/­ Kerschbaumer, Sandra/Matuschek, Stefan (Hg.): Aufklärung und Romantik. Epochenschnittstellen, Paderborn 2015, S. 141 – 155, hier S. 143. 22 Zimmermann, Clemens: Raum in Bewegung – Bewegung im Raum. Beispiele aus London, Paris und Hamburg, in: Graevenitz, Gerhart von (Hg.): Die Stadt in der europäischen Romantik, Würzburg 2000, S. 17 – 32, hier S. 24 – 26. 23 Hellpach, Willy: Nervosität und Kultur, Berlin 1902; ders.: Mensch und Volk in der Großstadt, Stuttgart 1939. Vgl. auch Radkau, Joachim: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München/Wien 1998.

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| Sönke Friedreich als Praxisform bürger­licher Geselligkeit.24 Sie waren somit als ein ausgleichendes Element zur ‚unnatürlichen‘ Industrie konzipiert, sollten urbane Defizite kompensieren helfen. Dass diese Strategie auch in der Zeit der Hochurbanisierung verfolgt wurde, verwundert nicht. In zahlreichen expandierenden Städten stellten Parks und Grünanlagen wichtige Elemente der Stadterweiterung dar und sollten negative Folgen der städtischen Verdichtung abfedern.25 Dazu zählte insbesondere auch die Gesunderhaltung der Bevölkerung, die gewissermaßen zu einer neuen Risikogruppe erklärt wurde, zumal in den neu entstehenden industriellen Ballungsgebieten wie dem Ruhrgebiet.26 Abgesehen von dieser Nutzung von Natur in kompensatorischer Funktion lässt sich in den Städten der Hochindustrialisierung auch die Einrichtung ‚natürlicher‘ Orte als Resonanzräume im Sinne Hartmut Rosas beobachten, in denen entgegen der Rationalität und Sachlichkeit der Stadt das Sublime zelebriert wurde und Resonanzerfahrungen als „identitätskonstituierende Erfahrungen des Berührt- oder Ergriffenseins“ 27 gemacht werden konnten oder sollten. Dabei ging es auch um eine Politisierung der Stadträume, vor allem im Rahmen von Nationalisierungsbestrebungen innerhalb der „konservativen bürgerlichen Identitätspolitik“.28 In Plauen wurden entsprechende Orte durch den langjährigen, seit 1865 amtierenden Oberbürgermeister Oskar Kuntze initiiert.29 Sein Ansatz, der zeitgleich auch in anderen Städten Verbreitung fand, bestand in der Errichtung von „Hainen“.30 24 Vgl. König, Gudrun M.: Eine Kulturgeschichte des Spaziergangs. Spuren einer bürgerlichen Praktik, 1780 – 1850, Wien/Köln/Weimar 1996. 25 Vgl. Schott, Dieter: Die Vernetzung der Stadt. Kommunale Energiepolitik, öffentlicher Nahverkehr und die ‚Produktion‘ der modernen Stadt. Darmstadt – Mannheim – Mainz 1880 – 1918, Darmstadt 1999, S. 61 – 62. 26 Vgl. Kastorff-Viehmann, Renate (Hg.): Die grüne Stadt. Siedlungen, Parks, Wälder, Grünflächen 1860 – 1960 im Ruhrgebiet, Essen 1998; Guckes, Jochen: Ordnungsvorstellungen im Raum. Überlegungen zur deutschen Stadtplanungs- und Architekturgeschichte zwischen 1918 und 1945 aus kulturhistorischer Sicht, in: Archiv für Sozialgeschichte 48 (2008), S. 661 – 702, hier S. 679 f. 27 Rosa, Hartmut: Resonanz statt Entfremdung: Zehn Thesen wider die Steigerungslogik der Moderne, Tagung „Von Krise zu Krise? Transformation ohne Ende“ des SFB 580 „Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch“ und des Kollegs „Postwachstums­ gesellschaften“ am 14./15. 06. 2012 in Jena, http://www.kolleg-postwachstum.de/sozwgmedia/ dokumente/Thesenpapiere+und+Materialien/Thesenpapier+Krise+_+Rosa.pdf, (letzter Zugriff: 09. 05. 2019). 28 Guckes: Ordnungsvorstellungen im Raum, S. 680. 29 Zu Kuntze vgl. Hillen, Barbara: Kuntze, Oskar Theodor, in: Sächsische Biografie, hg. v. Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde, http://saebi.isgv.de/ (letzter Zugriff: 09. 05. 2019). 30 Eine systematische Erfassung von städtischen Hainen existiert nicht. In Sachsen lassen sich während des Kaiserreichs Haine u. a. in den Städten Crimmitschau, Dresden, Frankenberg, Löbau und Meerane nachweisen.

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Der Begriff war bewusst an die von Friedrich Gottlieb Klopstock vorgenommene Gegenüberstellung von „Hügel“ und „Hain“ in der gleichnamigen Ode von 1767 angelehnt. Bei Klopstock heißt es: Des Hügels Quell ertönet von Zeus, Von Wodan der Quell des Hains. Weck‘ ich aus dem alten Untergange Götter Zu Gemählden des fabelhaften Liedes auf; So haben die in Teutoniens Hain Edlere Züge für mich! Mich weilet dann der Achäer Hügel nicht: Ich geh zu dem Quell des Hains!31

Der Hain, der von Klopstock als der Ort der germanisch-deutschen (Barden-)Dichtung im Gegensatz zum griechischen Parnass konzipiert war, erscheint physisch als ein umfriedeter Waldbezirk mit transzendenten Bezügen, d. h. als ein geformter, künstlicher Naturraum von metaphysischer Qualität. Auch wenn nicht jeder Hain „heilig“ war, so bedeutete schon die Verwendung dieses Begriffes eine Aufwertung der als „bloße Natur“ missverstandenen Grünanlagen der Stadt. Trotz ihrer künstlichen Herstellung und ihrer Umfriedung waren die Haine daher gewissermaßen entgrenzt und sollten als Orte des individuellen Innehaltens, der Reflexion und des Gedenkens, kurzum: als ein Denkmalort fungieren. Wenn dies von Kuntze auch keineswegs explizit gemacht wurde, so war ihm dieses religiöse Element doch zentral: Der Hain enthob die Stadt der Alltäglichkeit und ihrer zivilisatorischen Prägung und koppelte sie mit scheinbar zeitlosen Werten. Es ist kein Zufall, dass Kuntze die Errichtung eines Haines erstmals bei der Suche nach einem angemessenen Denkmal für den vogtländischen Dichter Julius Mosen (1803 – 1867), den Dichter des Andreas-Hofer-Liedes (1831), ins Spiel brachte.32 Anlässlich des zehnjährigen Todestages Mosens 1877 hatte sich ein studentisches Komitee für die Errichtung eines Denkmals gebildet, dem Kuntze vorschlug, einen „Mosen-Hain“ als das dem Dichter „entsprechendste Denkmal“ zu errichten.33 Die Idee war, statt eines klassischen Denkmals in Form einer Statue oder 31 Klopstock, Friedrich Gottlieb: Der Hügel, und der Hain [1767], Kap. 34, Stuttgart 1994. 32 Zu Mosen vgl. Emmrich, Brigitte: Mosen, Julius August, in: Sächsische Biografie, hg. v. Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde, http://saebi.isgv.de/ (letzter Zugriff: 09. 05. 2019). Zum Plauener Mosen-Denkmal vgl. auch Friedreich, Sönke: Standpunkte und Standorte. Stadtentwicklung und Denkmalsdiskussionen in Plauen i. V., 1871 – 1900, in: Volkskunde in Sachsen 27 (2015), S. 49 – 86, hier S. 73 – 84. 33 Diese Formulierung findet sich in einem Schreiben Kuntzes an das Mosen-Denkmalkomitee vom 13. Mai 1886, in dem es heißt, „daß ich bei früheren Verhandlungen mit dem betreffenden studentischen Comité meine Ansicht dahin ausgesprochen habe, es würde

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| Sönke Friedreich eines steinernen Monumentes, einen ‚natürlichen‘ Ort zu errichten, der zu einem längeren Aufenthalt, zu geistiger Auseinandersetzung mit dem Dichter sowie zur Naturbeschau einlud. Kuntze folgte mit diesem Vorstoß dem weit verbreiteten Werk „Theorie der Gartenkunst“ von Christian Cay Lorenz Hirschfeld, das zwischen 1779 und 1785 publiziert worden war. Hirschfeld ging es um die Gestaltung von „artifiziellen Stimmungsorten“,34 und dazu gehörte auch, „den Dichtern, den Künstlern, den schönen Geistern, den Philosophen besondere heilige Hayne“ zu errichten.35 Im Falle Mosens gelang es Kuntze nicht, seinen Vorschlag in die Tat umzusetzen. Als das Komitee, das in den ersten Jahren seines Bestehens eine Finanzierung des Denkmals nicht sichern konnte, im Jahr 1886 einen neuen Anlauf nahm, rief man dazu auf, dem Unvergesslichen, in Plauen, seiner geistigen Heimath, ein Denkmal aus Erz und Stein zu errichten. Die Unterzeichneten wenden sich deshalb zuvörderst an alle Bewohner Plauens und des Vogtlandes, besonders auch an alle Vereine und Corporationen von Stadt und Land mit der herzlichen Bitte, ihrerseits beitragen zu helfen, dem Dichter ein seiner würdiges Monument, der Stadt Plauen eine dauernde, künstlerische Zierde zu schaffen.36

Von einem Hain war hier also keine Rede mehr; stattdessen wurde am 8. Juli 1888 eine Büste des Dichters geweiht. Kuntzes frühester Vorstoß lässt sich demnach für das Jahr 1877 nachweisen. Vier Jahre später brachte der Oberbürgermeister das Thema dann in die Debatte um ein König-Johann-Denkmal in Sachsen ein. Grundlage war der Vorschlag der Sächsischen Militärvereine vom Januar 1881 zur Errichtung eines Denkmals für den sächsischen König Johann. Noch bevor sich ein landesweites Komitee gründen und die Denkmalsplanungen vorantreiben konnte, wandte sich Kuntze mit einem im Februar 1881 gedruckten Aufruf „Zum König-Johann-Denkmal!“ an gerade für Mosen die Errichtung eines Mosen-Haines auf hiesigem Stadtgebiet das entsprechendste Denkmal sein“. Stadtarchiv Plauen (im Folgenden: StadtA Pl), Rep. II, Cap. IX, Sect. I, Nr. 76: Acten des Commites für Errichtung eines Mosendenkmals in Plauen, Vol. I, 1886: Schreiben von OB Kuntze an das Comité für das Mosendenkmal v. 13. 05. 1886, o. S. 34 Hoefer, Natascha N.: Im Bann des polizeilichen Auges. Freiheit durch Begrenzung als ästhetisches Konzept des Lustorts „Volksgarten“, in: dies./Ananieva, Anna (Hg.): Der andere Garten. Erinnern und Erfinden in Gärten von Institutionen, Göttingen 2005, S. 55 – 86, hier S. 56. 35 Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst, Bd. 5, Leipzig 1785, S. 70. 36 StadtA Pl, Rep. II, Cap. IX, Sect. I, Nr. 76: Acten des Commites für Errichtung eines Mosendenkmals in Plauen, Vol. I, 1886: Gedruckter Spendenaufruf des Comités für das Mosendenkmal v. 20. 06. 1886, o. S., am 06. 04. 1886 im Vogtländischen Anzeiger und Tageblatt veröffentlicht.

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die Öffentlichkeit.37 Er behauptete, in Plauen werde bereits eifrig für ein solches Denkmal gesammelt, doch sei es zu erörtern, ob nicht die angemessene Form eines solchen Denkmals darin bestehe, Baum und Wald in den Mittelpunkt zu stellen und einen König-Johann-Hain anzulegen. Sodann holte er zu einer ausführlichen Begründung aus: Diese Idee [des Hains, SF] knüpft in erster Linie an die Würdigung der hohen Bedeutung von Baum und Wald an, wie sie sich früher mehr ahnungsvoll in den heiligen deutschen Hainen, in den dem Allvater geweihten Bäumen […], ausspricht, sie knüpft daran an, daß der Baum die Krone der pflanzlichen Schöpfung ist […]. Es hat dem Unterzeichneten stets geschienen, daß es überhaupt schöner, deutscher Art und Denkungsweise und dem bei Errichtung von Denkmalen für einzelne Personen verfolgten Zwecke in mehrfacher Beziehung viel entsprechender sein würde, wenn man anstatt nach antikem (griechisch-römischen) Brauche, auf öffentlichen Plätzen steinerne oder metallene Standbilder für um das Wohl ihrer Mitmenschen verdiente Männer und Frauen […] zu errichten, dem schon hie und da geübten schönen Brauch allgemeiner ein- und durchführte, schöne Baumgruppen und Haine anzupflanzen und zu pflegen. […] Je mehr solche Erinnerungshaine, über das Land vertheilt, errichtet würden, desto besser und auf desto längere Zeit hinaus würde für das Andenken der Gefeierten gesorgt und desto mehr Städte und Dörfer würden zugleich nach und nach mit einem segenspendenden, schmuckvollen Gürtel, einem Gürtel der Anmuth, Schönheit und Gesundheit umgeben werden.38

Die Bezugnahme auf Klopstocks „Hügel und Hain“ ist hier deutlich herauszulesen. Dass der Terminus in den frühen achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts im Sinne eines „heiligen Bezirks der Natur“ popularisiert wurde, lässt sich u. a. auch an den seit 1871 entstandenen Bildern „Heiliger Hain“ von Arnold Böcklin ablesen. Deutlich stellte sich Kuntze mit dem Hain in eine angeblich seit den Germanen überlieferte Naturverehrung, die in der Verherrlichung der „deutschen Eiche“ ihren Höhepunkt fand.39 Lange bevor die Einrichtung von Ehrenhainen im Zuge 37 Vgl. die Veröffentlichung im Erzgeb. Volksfreund Nr. 46 v. 25. 02. 1881, dem Wochenblatt für Lengenfeld und Umgegend Nr. 30 v. 10. 03. 1881, den Zittauer Nachrichten und Anzeiger Nr. 49 v. 01. 03. 1881 und dem Reichenbacher Wochenblatt und Anzeiger Nr. 25 v. 26. 02. 1881. 38 StadtA Pl, Rep. I, Cap. IX, Sect. I, Nr. 123: Acten, die Errichtung eines König-Johann-Denkmals in Dresden betr., 1887: Gedruckter Aufruf „Zum König-Johann-Denkmal!“ von OB Kuntze, Februar 1881, o. S. 39 Vgl. Zechner, Johannes: Von „deutschen Eichen“ und „ewigen Wäldern“. Der Wald als national-politische Projektionsfläche, in: Breymayer, Ursula (Hg.): Unter Bäumen. Die Deutschen und der Wald, Dresden 2011, S. 231 – 235, hier S. 231; Lehmann, Albrecht: Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald, Reinbek 1999, S. 25.

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| Sönke Friedreich des Ersten Weltkrieges populär wurde, hatte Kuntze eine national codierte Denkmalsform für bedeutende Persönlichkeiten gefunden.40 Wie bereits im Falle des Mosen-Denkmals scheiterte jedoch auch die Idee des Johann-Hains, da das Landeskomitee sich am Ende doch lieber für eine Variante aus Stein und Metall entschied.41 Das gleiche Schicksal erlitt der Vorschlag K ­ untzes, anlässlich des Luther-Jubiläumsjahres 1883 nicht nur die barocke St. Bartholomäuskirche in „Lutherkirche“ umzubenennen, sondern auch einen Luther-Hain zu errichten. Zwar erreichte Kuntze, dass eine Baumpflanzung vom zuständigen Festkomitee in das Programm der Feierlichkeiten aufgenommen wurde. Kuntze berichtete dem Stadtrat am 19. Oktober 1883 von der in das Programm für die Lutherfeier noch aufgenommenen Pflanzung von ­Bäumen seitens der Schulkinder der Bürgerschulen auf dem dazu gewählten und „Lutherplatz“ zu benennenden [!] Platze, welcher auf dem geschlossenen Gottesacker geschaffen werden solle.42

Doch ein Denkmal im eigentlichen Sinne wurde der Lutherplatz nie, und auch als ‚Hain‘ ist er nicht bezeichnet worden. Die frühen Vorschläge Kuntzes wurden nicht in die Tat umgesetzt. Erst in den späteren 1880er Jahren gelang es ihm, mit dem Bismarck-Hain (1885), dem ­Kaiser-Wilhelm-Hain (1887) und dem König-Albert-Hain (1889) seine Überlegungen zu realisieren. Bismarck- und Kaiser-Wilhelm-Hain waren die Grundlage des heutigen Plauener Stadtparks, der sich an der nördlichen Stadtgrenze befindet. Die Umsetzung der Hain-Idee erfolgte damit zu der gleichen Zeit, in der auch in anderen deutschen Städten (wie z. B. Elberfeld) Haine errichtet wurden. Dass Kuntze bereits in den späten siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Errichtung von Hainen propagierte, zeichnet ihn als Pionier dieser neuen Denkmalsform aus. Seinem Vorschlag lag dabei eine vielschichtige Motivation zugrunde, wie sich an dem programmatischen Text von 1881 erkennen lässt. Durch den Bezug auf eine mythische germanische und vorchristliche Vorzeit, in der eine naturreligiöse Verehrung von Wald und Baum vorherrschend war, berief sich Kuntze geradezu auf 40 Vgl. Gröning, Gert/Schneider, Uwe: Naturmystifizierung und germanische Mythologie. Die Heldenhaine, ein nationalistisches Denkmalskonzept aus dem Ersten Weltkrieg, in: dies. (Hg.): Gartenkultur und nationale Identität. Strategien nationaler und regionaler Identitäts­ stiftung in der deutschen Gartenkultur, Worms 2001, S. 94 – 118. 41 Das Johann-Reiterstandbild von Johannes Schilling wurde 1889 auf dem Theaterplatz in Dresden enthüllt. Vgl. Mergen, Simone: Monarchiejubiläen im 19. Jahrhundert. Die Entdeckung des historischen Jubiläums für den monarchischen Kult in Sachsen und Bayern, Leipzig 2005, S. 272. 42 StadtA Pl, Rep. II, Cap. IX, Sect. I, Nr. 21: Acten, die Luther-Feier betr., Bd. I, 1883: Auszug aus dem Protokoll des Stadtgemeinderates v. 19. 10. 1883, S. 138.

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eine gegen- oder vorzivilisatorische Kultur, die ein starkes Gegenbild zur Moderne darstellte.43 Des Weiteren unterstrich Kuntze – aus diesen angeblichen germanischen Wurzeln ableitend – die Bedeutung des Hains als spezifisch deutsche Einrichtung und begründet damit die Implementierung national bzw. nationalistisch codierter Orte im Stadtbild. Schließlich wies er drittens auf die Bedeutung des Hains als „schmuckvoller Gürtel“ 44 hin, der zur Ästhetisierung des Stadtbildes und zur Gesunderhaltung der Stadtbewohner beitrage. 3. Romantische Haine? Doch inwieweit lassen sich diese Vorstellungen als ‚romantisch‘ verstehen? Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Stadt Plauen sich stets als eine eng mit ihrem natürlichen Umland verbundene Stadt gesehen hatte, sodass die vielfach als Verlusterfahrung beklagte Separierung von Stadt und Land hier nur abgeschwächt wahrgenommen wurde. Die enge Verflechtung mit der vogtländischen Landschaft war seit dem Beginn des rasanten Stadtwachstums und bis hinein in die Stagnationszeit der zwanziger Jahre ein immer wiederkehrender Topos. Bezeichnend für diese Haltung ist etwa ein Zeitungsartikel des Lehrers Emil Müller vom März 1925, in dem dieser die „Silhouette der Stadt Plauen“ beschrieb. Müller schilderte zunächst das Wachstum Plauens „nach amerikanischem Muster“ seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, womit er sowohl die Dynamik des Expansionsprozesses wie auch konkret das gitterförmige Muster der Straßen in der innerhalb weniger Jahre neu angelegten Bahnhofsvorstadt meinte.45 Abgesehen von dieser Besonderheit war es für Müller aber die spezielle Situiertheit der Stadt in der natürlichen Umgebung, die für ihn eine besondere Qualität besaß. Für ihn ging es darum, „das Wesentliche der Stadt“ in den Blick zu bekommen, wobei „die Wahl des Standpunktes“ entscheidend sei. In einem virtuellen Stadtrundgang führte er den Leser*innen in Plauen vor Augen und schloss dann: Und noch ein anderes Bild darf man dem Fremden zeigen, um das uns manche andere Stadt beneidet. Wer zum ersten Male die Bahnhofstraße abwärts wandelt und in der Gegend der Darmstädter Bank oder der Johannisapotheke den Blick auf den 43 Diese Interpretation basiert auf der „Germania“ von Tacitus, der auch den Begriff des „castum nemus“ (heiliger Hain) verwendet. Vgl. Zechner: Von „deutschen Eichen“, S. 231. 44 StadtA Pl, Rep. I, Cap IX, Sect. I, Nr. 123: Acten, die Errichtung eines König-Johann-Denkmals in Dresden betr., 1887: Gedruckter Aufruf „Zum König-Johann-Denkmal“ von OB Kuntze. Februar 1881, o. S. 45 Zum Topos der ‚amerikanischen‘ Verhältnisse in Plauen vgl. auch Schulze, Otto: Das Vogtland und seine Kreisstadt Plauen, in: Salonblatt, 18/5 (1910) [Themenheft „Das Vogtland und seine Industrie“], S. 512 – 518, hier S. 516.

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| Sönke Friedreich Kemmlerberg lenkt, der breit ausladend vom Schnee bedeckt oder im Schmuck des grünen Waldes dort drüben das Bild wirkungsvoll abschließt, der ahnt etwas von den großen Gegensätzen der Kultur und Natur, die sich hier unmittelbar berühren […]. Dieser reizvolle Hintergrund der bewegten vogtländischen Landschaft ist es, der durch den Gegensatz der Berge und Talsenken, mit dem Schmuck von einzelnen Baumgruppen oder geschlossenen Wäldern dem Stadtbild Plauens etwas unsagbar Anziehendes verleiht. Weder Leipzig noch Dresden können in ihren berühmtesten Stadtansichten dieses wirkungsvolle landschaftliche Moment aufweisen.46

Für Müller war der Blick von der (topographisch unebenen) Stadt hinaus in die landschaftliche Umgebung mindestens ebenso wichtig wie die Betrachtung der Stadt selbst. Keine größeren Fabrikbauten, Halden oder Schornsteine störten das harmonische, letztlich immer noch kleinstädtische Bild Plauens. Die spezifische Verbundenheit mit der vogtländischen Naturlandschaft wurde nicht nur von Müller gerade deshalb betont, um das Provinzielle Plauens zu unterstreichen und damit die Gefahren der Großstadtwerdung zu negieren. Diese Provinzialität war ein Bild, das die Expansion Plauens von Anfang an begleitet hatte und das immer dann bemüht wurde, wenn es um die Produktion von Urbanität ging, etwa bei der baulichen Gestaltung der neuen Stadtviertel oder der Errichtung repräsentativer Bauten wie dem Theater.47 So kann man in der Betonung der Naturverbundenheit eine Weigerung erkennen, die Moderne ganz und gar unter dem Aspekt des technisch-industriellen Fortschrittes zu deuten. Kuntzes Hain-Idee passt sich insofern ein, als bei ihm die Möglichkeiten und Potenziale der Natur überhöht wurden, ein durchaus romantisierender Zug in der Selbstbetrachtung der Stadtbewohner*innen. Die Naturverherrlichung der Großstädter*innen ließ das ausgeprägte Naturgefühl der frühen Romantiker*innen nachklingen, das zwischen gleichzeitiger Behauptung und Widerruf changierte. Nunmehr war es aber die geordnete und überschaubare Natur, die in den Hainen angelegt wurde, sodass Natur und Stadt sich in einer Art „Ganzheitssimulation“ zusammenfügten. So wie Plauen sich mittels der „Einschließung“ durch die natürliche Stadtumgebung den Status einer zwar wachsenden, zugleich aber provinziellen Stadt zu erhalten versuchte, so sollte die moderne Gegenüberstellung von Subjekt und Natur in den Hainen eine „heimliche[n] Korrespondenz 46 Kaiser, Emil: Die Silhouette der Stadt Plauen, in: Plauener Sonntags-Anzeiger Nr. 2355 v. 01. 03. 1925. 47 Vgl. als Beispiele etwa die Ausführungen des Plauener Stadtbaurates Georg Osthoff über „Die Bauten Plauens i. Vogtl.“ auf dem Verbandstage Sächsischer Baugewerken in Plauen am 27. 09. 1886, in: Bericht über den Stand und die Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten der Kreisstadt Plauen i. V. auf die Jahre 1865/66 – 1889/90, 1. Theil, Plauen 1890, S. 91 – 101, sowie den Zeitungsbericht über die Plauener Theaterbaupläne „Vor der Entscheidung“, in: Vogtländischer Anzeiger und Tageblatt Nr. 75 v. 31. 03. 1896.

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und Resonanz zwischen innerer und äußerer Natur“ ermöglichen, die als eine „romantische Idee“ verstanden werden kann.48 Auch die bewusste und affirmative Hinwendung zur germanischen Vorzeit entsprach dem solchermaßen verstandenen romantischen Modell, da hier eine voraufklärerische Geschichte bejaht wurde, die nicht nur jenen ganzheitlichen Sinnhorizont aufwies, der der Gegenwart verlorengegangen war, sondern auch jene irrationalen Züge, die sie im Auge des modernen zeitgenössischen, politisch informierten Betrachters so attraktiv machten. Für liberal und national denkende Lokalpolitiker wie Oskar Kuntze bestand zwischen dem Ideal des 1871 geeinten Deutschland einerseits und der Realität einer sozial tief gespaltenen deutschen Gesellschaft andererseits ein Graben, der durch die rückwärtsgewandte Utopie der Volksgemeinschaft überbrückt werden konnte.49 Die Klage über die soziale Spaltung lässt sich bis hinein in Kuntzes Propagierung von Hainen verfolgen. Anlässlich der Errichtung des Bismarck-Hains 1885 fragte er rhetorisch: Wie kommt es, daß überall die vaterlandsfeindlichen, zerstörenden Parteien, die Feinde der sozialen Ordnung, auch, mehr oder minder, bewußte Feinde, mindestens keine besonderen Freunde von Baum und Wald sind? Warum sind die großen baumlosen Städte die Brutheerde der Sozialdemokratie? […] Die Beantwortung aller dieser F ­ ragen und noch vieler anderer, welche in derselben Richtung gestellt werden könnten, ist zugleich eine weitere Aufforderung zur Ausführung des Vorschlages: ‚Pflanzet Bäume, schaffet Baumgänge und Haine!‘ […] Lockt sie hinaus, die vertrockneten Stuben- und angeräucherten Kneipenmenschen aus den staubigen Straßen, den qualmigen Kneipen, in den göttlichen freien deutschen Wald!50

Naturverherrlichung und Rückbezug auf eine imaginierte germanische Vorzeit stellten für Kuntze zumindest rhetorische Mittel dar, um die gesellschaftlichen Verhältnisse der Moderne zu problematisieren.51

48 Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016, S. 456. 49 Zur Begründung eines organologischen Volksbegriffes in der Romantik und dessen Übernahme in den politischen Sprachgebrauch vgl. Scheuner, Ulrich: Der Beitrag der deutschen Romantik zur politischen Theorie, Opladen 1980, S. 20 – 21 und S. 69 – 72. 50 Zit. nach: Bericht über den Stand und die Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten der Kreisstadt Plauen i. V. auf die Jahre 1865/66 – 1889/90, 1. Theil, Plauen 1890, S. 54. 51 Dabei wäre es verfehlt, Kuntze als politischen Reaktionär abzustempeln. Ganz im Gegenteil vereinigte er progressive Sozialpolitik mit rückwärtsgewandtem Gesellschaftsideal und zeigte sich damit gerade als Romantiker: „Romantik ist nicht verhärtete Tradition, sondern Leiden am Traditions-Schwund und Tasten nach einem neuen Grund.“ Marcuse, Ludwig: Reaktionäre und progressive Romantik [1952], in: Prang, Helmut (Hg.): Begriffsbestimmung der Romantik, Darmstadt 1968, S. 377 – 385, hier S. 385.

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| Sönke Friedreich Schließlich galten die Haine dem Oberbürgermeister wie auch seinen Nachfolgern nicht nur als Denkmäler für bedeutende Persönlichkeiten, sondern auch als elementarer Bestandteil städtischer Identität, eine Identität, die sie zwar einerseits als „industriell“ definierten, die jedoch diese Qualität zugleich überstieg. Die Haine passten sich in den städtischen Habitus Plauens besonders gut ein.52 Dieser Habitus war durch eine sozioökonomische Struktur geprägt, die in entscheidenden Punkten von dem klassischen Modell der Industrie und der Industriearbeit abwich und die gewissermaßen das ambivalente Verhältnis der Stadt zur Industrie begründete. So gab es nur wenige Großbetriebe oder andere baulich hervorstechende Industriebauten, auch die Luft-, Lärm- und Gewässerverschmutzung war im Stadtgebiet vergleichsweise gering. Der Vorsitzende der Plauener Fabrikantenvereinigung schrieb 1911 in einer Publikation über die Plauener Industrie, wer nach Plauen komme, werde dort keine „rauch- und rußgeschwärzten Fabrikstädte“ vorfinden, sondern sich an den „breiten, reinlichen Straßenzüge[n]“ und „hohen, luftigen, peinlich sauber gehaltenen, hellen Fabriksälen“ erfreuen: „Da sieht er keine rauchende Schlote, hört er kein Hämmern, Stampfen und Lärmen.“ 53 Ein Jahr zuvor hatte bereits Otto Schulze gleiches behauptet: Die eigenartige Industrie Plauens drückt auch dem gesamten Stadtbilde ihren S­ tempel auf. Trotz der zahllosen großen und kleinen Etablissements fehlen die rauchigen Schlote und das dunstige Milieu, die sonst Fabrikstädte so unvorteilhaft kennzeichnen.54

Diese Meinung wurde in zahlreichen anderen Quellen reproduziert. Sozialstrukturell gesehen stellten die bereits erwähnten selbständigen Lohnsticker zumindest ein Gegengewicht zur Fabrikarbeiterschaft dar, da sie zwar materiell nicht immer bessergestellt waren, aber das kleinbürgerlich-handwerkliche Aufstiegsethos verinnerlicht hatten, sich also den sozial explosiven Forderungen der freien Gewerkschaften und der Sozialdemokraten verschlossen. Ebenfalls prägend war der hohe Anteil der weiblichen Erwerbsarbeit sowohl in den Fabriken wie auch bei den selbständigen Lohnstickern, auf den das anfangs wiedergegebene Zeitungszitat über „die Mädchen, die noch am Abend ein frohes Lachen und ein klingendes Lied auf den Lippen hatten“ 55, verweist. Hier wurden männliche Ausformungen und Repräsentationen von Industriearbeit gebrochen. Schließlich ist auch das Hauptprodukt der Plauener Industrie, nämlich die Plauener Spitze, als ein Veredelungsprodukt der 52 Zum städtischen Habitus vgl. Lindner, Rolf: Der Habitus der Stadt – ein kulturgeographischer Versuch, in: Petermanns Geographische Mitteilungen 147 (2003), S. 46 – 53. 53 Tröger, Otto: Plauen im Vogtland und seine Industrie, in: Wanderungen durch Deutschlands Textil-Industrie Jg. 34 v. 11. 11. 1911, o. S. 54 Schulze: Vogtland, S. 517. 55 Wenn Plauen erwacht …, in: Neue Vogtländische Zeitung Nr. 20 v. 24. 01. 1924.

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Textilindustrie von Bedeutung für die städtische Geschmackslandschaft gewesen: Die fein gearbeiteten, weißen Spitzen galten als Inbegriff des „guten“ und „verfeinerten“ Modegeschmacks, eine Wertung, die sich auf die Produzenten und über diese auf die Industrie insgesamt übertrug.56 Plauen gab um die Wende zum 20. Jahrhundert somit ein durchaus schillerndes Bild ab. War der Charakter als moderne Industriestadt einerseits unverkennbar, so fehlten doch zugleich zahlreiche Attribute derselben. Es waren romantisierende bauliche Bezüge wie die Errichtung von Hainen, die die städtische Transformation erleichterten und den Stadtbewohner*innen die Gewissheit eines unbeschädigten Selbstbildes verschafften. Die Harmonisierung von Industrie und Natur gelang in Plauen zumindest rhetorisch deswegen so mühelos, weil sie hier nicht als ein Gegensatzpaar erfahren wurden. Die Stickereiindustrie war zwar technisch modern, doch waren es die Rückbezüge auf vorindustrielle Produktions- und Arbeitsformen, die das Selbst- und Fremdbild dominierten, etwa das für die Lohnstickerei typische Verlagswesen oder die überdurchschnittliche Häufung familiärer Produktionseinheiten, die die Idee des „ganzen Hauses“ reflektierten. In diese Strukturbedingungen wurden die „Natur“ und die Naturverehrung eingepasst. Lässt sich eine nicht geringe Leistung Kuntzes darin erkennen, die Ästhetisierung des städtischen Raumes durch Haine mit der Errichtung von Denkmälern sowie mit praktischen Überlegungen der Verbesserung städtischer Lebensqualität in Einklang gebracht zu haben, so kann zugleich nicht übersehen werden, dass der Gedanke eines harmonischen „Integrationsmodells Stadt“ zutiefst romantische Züge trug. 4. Widersprüche romantischer Identitätssuche Wenn romantische Vorstellungen städtischer Entwicklung demnach in Plauen eine nicht unerhebliche Rolle spielten und insbesondere für das Verhältnis von Großstadt und Natur folgenreich waren, so ist zugleich darauf hinzuweisen, dass hierdurch kein bestimmter Pfad vorgegeben wurde. Die Ideale, denen das bürger­liche Stadtregiment zu folgen meinte, waren in sich widersprüchlich, und Moderne und Romantik konnten nicht in ein wirkliches Kompensationsverhältnis gebracht werden. Mehr noch: die romantischen Impulse der Stadtentwicklung und der Integration von Natur waren für sich genommen uneindeutig – was in der Natur des Modells Romantik liegt.57 In Plauen wurde dies im Jahr 1900 anlässlich eines Bauvorhabens deutlich, das von großer symbolischer Bedeutung für das Verhältnis der Stadt zur Natur war. Ähnlich wie in einer Vielzahl anderer Städte hatte man sich entschlossen, nach dem Tode Bismarcks 1898 Planungen für 56 Erhardt: Glück, S. 121 – 122. 57 Matuschek/Kerschbaumer: Romantik als Modell, S. 142.

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| Sönke Friedreich einen Bismarck-Turm vorzunehmen, basierend auf dem bekannten Entwurf von ­ ilhelm Kreis, den dieser nach dem Aufruf der Deutschen Studentenschaft 1899 W vorgelegt hatte.58 Als Ort für die Errichtung des Turmes wählte man den ­Kemmler, den etwas über 500 Meter hohen Plauener „Hausberg“ südöstlich der Stadt. Auf diesem befand sich allerdings bereits ein Aussichtsturm, der 1883 errichtet worden war und schlicht als „Kemmlerturm“ bezeichnet wurde. Als der Stadtrat am 9. Oktober 1900 den Abriss des Kemmlerturms beschloss, führte dies zu erheblichen Kontroversen in der städtischen Öffentlichkeit.59 Dass ein Turm vor den Toren der Stadt ein wichtiges Element für das (romantische) Naturerleben darstellte, wurde dabei von beiden Seiten anerkannt. Die Verteidiger des Kemmlerturms sahen in dem bestehenden Turm ein Wahrzeichen Plauens und seines rasanten Aufstiegs, aber eben auch seiner besonderen Fähigkeit, die Moderne auf einem sicheren Fundament der Tradition zu errichten.60 Die Stadtratsmehrheit verfolgte dagegen die Absicht, ein nationales Denkmal zu errichten und hierfür die monumentale Formensprache des Kreisschen Entwurfes zu verwenden. Nach dem Stadtratsbeschluss flammte die Diskussion indes sowohl im Sommer 1901 wie auch im März 1902 neuerlich auf, was den Stellenwert innerhalb der städtischen Öffentlichkeit demonstriert. Der Kemmlerturm mit seiner relativ schlanken Ausführung wurde von seinen Verteidigern als ein ideales Monument der Naturverehrung und -beobachtung charakterisiert, während der Entwurf des Bismarckturms als zu massiv und optisch dominierend galt. Ein Leserbriefschreiber äußerte, der Kemmlerturm sei ein Wahrzeichen, das sich schlank in die blaue Luft erhebt. Und dieser so recht zur ganzen Bergkuppe passende, architektonisch wohl geformte Bau soll einem Steinkolosse Platz machen, von dem man nur sagen kann, daß er nach derselben Schablone wie viele andere ­gemauert ist, daß ihn sein Entwerfer warm empfohlen und seinen Standplatz als vorzüglich gefunden hat, nicht aber, ob sein Anblick wohlgefällig ist und ob er auf den spitzen Kemmlerrücken passen wird.61 58 Mai, Ekkehard: Vom Bismarckturm zum Ehrenmal. Denkmalformen bei Wilhelm Kreis, in: ders./Schmirber, Gisela (Hg.): Denkmal – Zeichen – Monument. Skulptur und öffentlicher Raum heute, München 1989, S. 50 – 57. 59 Vgl. detailliert dazu Friedreich, Sönke: Kemmler- gegen Bismarck-Turm. Ein Denkmal-Konflikt in Plauen i. V. am Anfang des 20. Jahrhunderts, in: Volkskunde in Sachsen 31 (2019), S. 183 – 191. 60 Vgl. die Debatte in: StadtA Pl, Rep. II, Cap. IX, Sect. I, Nr. 154: Akten, die Vogtländische Bismarcksäule auf dem Kemmler betr., Bd. I, 1902/11: Abschrift eines Protokollauszugs des Stadtrates v. 09. 10. 1900, S. 1 – 3. 61 Leserbrief v. Karl Höppner „Zur Kemmlerthurm-Frage“, in: Neue Vogtländische Zeitung Nr. 56 v. 09. 03. 1902.

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Die nationale Botschaft stand nach dieser Auffassung der Harmonie von Bauwerk und natürlicher Umgebung entgegen. Letztlich beriefen sich beide Seiten darauf, dass der Turm ein Ausdruck der besonderen Verbundenheit von Stadt und Natur, damit aber auch Ausdruck einer romantischen Identitätssuche sei. Die Bismarcktürme wurden vorrangig als national-völkisches Symbol wahrgenommen, das sich in eine romantische Auffassung von Stadt und Moderne integrieren ließ; sie waren eben nicht allein ein Element der „Staatssymbolik“ 62, sondern Ausdruck einer Suche nach Transzendenz der städtischen Moderne. Der Kemmlerturm wiederum war zwar Gegenstand romantisierender Selbstbeschreibungen, doch bewahrte ihn dies nicht vor der Konkurrenz einer national aufgeladenen Naturbetrachtung. 5. Fazit In der Industriestadt Plauen lassen sich um 1900 all jene Gleichzeitigkeiten des Ungleichzeitigen und alle Widersprüchlichkeiten feststellen, die den Prozess der Moderne als Ganzes kennzeichnen: die Hinwendung zu technischen Neuerungen und das Beharren auf überkommenen Produktionsformen und Arbeitsbeziehungen, die Ausdehnung der gebauten Stadt und die Integration von „Natur“ ins Stadtbild, die optimistische Erwartung einer zukünftigen (Selbst-)Verbesserung von lokaler Gesellschaft und der Rekurs auf eine idealisierte Vergangenheit. Im Sinne Christoph Bodes ist es gerade diese Widersprüchlichkeit, die einem „Modell Romantik“ entspricht: „Die Einheit der europäischen Romantik bestünde gerade in ihrer irreduziblen Heterogenität und Selbstwidersprüchlichkeit.“ 63 Dies bedeutet, dass auch im Falle von klassischen Industriestädten, deren Gestalt, Ausprägung und Habitus nichts mit romantischen Inhalten und Themen zu tun zu haben scheinen, ein genauerer Blick lohnt, um Spuren von ganzheitlichen Sinnstiftungsversuchen und Resonanzräumen zu suchen. Wenn man die Romantik als eine Suchbewegung bezeichnet, um „der entzauberten Welt der Säkularisierung etwas entgegensetzen“ zu können, und in ihr die „Fortsetzung der Religion mit ästhetischen Mitteln“ sieht,64 so wird man auch die Großstadtwerdung von Städten und die damit einhergehenden Urbanisierungsprozesse als romantische Schauplätze definieren können, auch wenn die ironische Gebrochenheit, die die frühromantische Suche 62 Vgl. Hardtwig, Wolfgang: Bürgertum, Staatssymbolik und Staatsbewußtsein im Deutschen Kaiserreich 1871 – 1914, in: Geschichte und Gesellschaft 16 (1990), S. 269 – 295. 63 Bode, Christoph: Romantik – Europäische Antwort auf die Herausforderung der Moderne? Versuch einer Rekonzeptualisierung, in: Ernst, Anja/Geyer, Paul (Hg.): Die Romantik: ein Gründungsmythos der Europäischen Moderne, Göttingen 2010, S. 85 – 96, hier S. 91. 64 Safranski, Rüdiger: Romantik. Eine deutsche Affäre, München 2007, S. 13.

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| Sönke Friedreich nach ganzheitlicher Sinnstiftung kennzeichnete, oft fehlte. Die Haine in der Stadt Plauen stellen nur ein Beispiel hierfür dar. Anders als die Zeitgenossen, die die „blaue Blume der Romantik“ nur noch in „alte[n] Winkel[n]“ blühen sahen, wie es in einem Plauener Zeitungsbericht von 1924 heißt,65 wird man bei genauer Betrachtung der lokalen Verhältnisse in dem rationalen und effizienzorientierten Getriebe der Industrie auch diese Blume finden.

65 Plauen wird gefilmt, in: Neue Vogtländische Zeitung Nr. 128 v. 04. 06. 1924.

Caroline Rosenthal

Wildnis Stadt. Zeitgenössisches Urban Birding und seine historischen Wurzeln in den USA

1. Urban Birding: Eine neue soziale Praxis 2019 wurde das Spiel Wingspan (Flügelschlag) der Amerikanerin Elizabeth Hargrave als Kennerspiel des Jahres ausgezeichnet. Hargrave, selbst passionierte Birderin, hatte das Spiel entwickelt, weil sie das für die heutige Zeit so wichtige Thema des Umweltschutzes in die Spielelandschaft tragen wollte und ihr hierfür Birding als das richtige Vehikel erschien. In diesem auch optisch sehr ansprechend gestalteten Spiel gewinnt, wer die meisten Vögel anlockt und einen artgerechten Lebensraum für die entsprechende Vogelart schafft und sie so erhält.1 Das Spiel schult also in der Kenntnis von Vogelarten ebenso wie in den Bedingungen, die ein Überleben dieser Arten garantiert, beispielsweise durch Nistplätze und Naturreservate. Das Spiel verkauft sich gut, da es nach Angaben des U. S. Fish & Wildlife Service in den USA zurzeit 45 Millionen begeisterte Vogelbeobachter gibt, die pro Jahr 45 Milliarden Dollar allein für Reisen und Equipment ausgeben.2 Das sogenannte Birding hat sich zur beliebtesten Freizeitaktivität in Nordamerika überhaupt entwickelt.3 Zugleich titelte die New York Times im September 2019 „Birds are Vanishing from North America“.4 Wie die Zeitung im Rückgriff auf einen in Science veröffentlichten Report berichtete, ist die Anzahl von Vögeln in Nordamerika seit 1 O. A.: Wingspan, https://stonemaiergames.com/games/wingspan/, letzter Zugriff: 10. 10. 2019 und Breuer, Hendrik: „Just One“ ist das Spiel des Jahres 2019, https://www.spiegel.de/­ netzwelt/games/spiel-des-jahres-2019-just-one-gewinnt-fluegelschlag-wird-kennerspieldes-jahres-a-1278445.html, letzter Zugriff: 10. 10. 2019. 2 U. S. Fish and Wildlife Service (Hg.): Economic Impact. Birds, Bird Watching and the U. S. Economy, https://www.fws.gov/birds/bird-enthusiasts/bird-watching/valuing-birds.php, letzter Zugriff: 10. 10. 2019. 3 A Sharp Eye LLC (Hg.): The Soaring Popularity of Bird Watching, https://www.­asharpeye. com/soaring-popularity-bird-watching/, letzter Zugriff: 10. 10. 2019 und Kozicka, ­Patricia: Birding Hobby Soars in Popularity across North America, https://globalnews.ca/ news/1978047/birding-hobby-soars-in-popularity-across-north-america/, letzter Zugriff: 10. 10. 2019. 4 Zimmer, Carl: Birds Are Vanishing from North America, in: New York Times, 19. September 2019, https://www.nytimes.com/2019/09/19/science/bird-populations-america-canada. html, letzter Zugriff: 10. 10. 2019.

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| Caroline Rosenthal 1970 um 29 % zurückgegangen. Der erste Satz des Artikels The skies are emptying out zieht eine gewollt dramatische Parallele zu Rachel Carsons Buch Silent Spring, das bereits 1962 die Auswirkungen der Umweltkatastrophe, die für den Einzelnen immer abstrakt entsetzlich und wenig greifbar bleibt, durch einen Frühling ohne Vogelstimmen dramatisch in Szene setzte.5 Wie diese beiden Beispiele zeigen, geht die zurzeit gerade in Städten flächendeckend aufflammende Begeisterung für das Beobachten von Vögeln einher mit deren Verschwinden. Dabei hat Birding sich als Begriff für eine Praxis durchgesetzt, bei der eine Liebe zu Vögeln und eine Begeisterung für die Vogelbeobachtung vor ornithologischen Begrifflichkeiten und wissenschaftlicher Genauigkeit steht. Obwohl die amateurwissenschaftliche Beobachtung von Vögeln schon immer eine wichtige Quelle von Daten für die Ornithologie war 6 und auch beim Birding manche Vogelbeobachter obsessive Listen anlegen und das Sichten vor allem seltener Vögel kompetitiv betreiben 7, steht hier letztlich die soziale Praxis im Vordergrund. Als substantiviertes Verb legt das Birding großes Gewicht auf die Tätigkeit selbst und evoziert so eine Unmittelbarkeit und emotionale Verbundenheit, die dem nüchternen Begriff des Vogelbeobachtens abgeht.8 Birding kann überall stattfinden, verlagert sich aber zunehmend in den städtischen Raum und geht einher mit einem sich radikal wandelnden Verständnis von Natur und Wildnis. Dabei wurzelt Urban Birding in der Wertschätzung der Natur, wie sie seit der Romantik im westlichen Kulturkreis aufkam, nur ist Natur nun nicht mehr das außerhalb der Zivilisation und Stadt liegende, sondern Teil von ihr. Urban Birding hat sich zu einer Art Lifestyle-Bewegung entwickelt, die sich zunehmend auf lokaler wie auch globaler Ebene über die sozialen Medien vernetzt. Twitter, Instagram, Facebook 5 Siehe hierzu MacGillivray, Alex: Rachel Carson’s Silent Spring, East Sussex 2001, S. 49 – 51 und das Kapitel “And No Birds Sing“ in Carson, Rachel: Silent Spring, Boston 1962, S. 103 – 128. 6 Seit 1900 gibt es den jährlich stattfindenden Christmas Bird Count, bei dem Menschen in ganz Nordamerika einen Tag lang alle Vögel zählen, die sie in einem Radius von 15 Meilen sichten. Der CBC wird heute von der Audubon Society administriert und ist das langlebigste Citizen Science Projekt der Welt. Siehe hierzu Altshuler Douglas L./Cockle, Kristina L./ Boyle, W. Alice: North American Ornithology in Transition, in: Biology Letters 9 (2012), http://dx.doi.org/10.1098/rsbl.201 2. 0876, letzter Zugriff: 27. 10. 2019. 7 Jonathan Franzen, der passionierter Birder ist, beschreibt in einem für The New Yorker begonnen und später expandierten Artikel „My Bird Problem“ sowie in seinem Essayband The End of the End of the Earth (New York 2018) diese Obsession sehr eindrücklich; vgl. Franzen, Jonathan: My Bird Problem, o. O. o. D., https://www.trincoll.edu/Academics/ centers/TIIS/Documents/My%20Bird%20Problem%20New%20Yorker%202005.pdf, letzter Zugriff: 27. 10. 2019. 8 Zur Bedeutung des Terminus Birding siehe States, Bert O.: A Philosophy of Birding, in: The North American Review 285/3 – 4 (2000), S. 13 – 15. States nimmt im Rückgriff auf ­Heidegger an, dass Birding am „Vogelsein“ des Vogels, also an dessen Wesen, mehr als an dessen genauer Bestimmung interessiert ist.

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und zahlreiche Blogs gehören ebenso zur Szene wie Vogelerkennungs-Apps und zum Teil heftig umstrittene Lockruf-Apps.9 Dieser Aufsatz untersucht, wie zeitgenössische Praktiken des Urban Birding auf eine Semiotisierung der Natur, wie sie in der Romantik stattgefunden hat, zurückgreifen und zugleich Dichotomien von Natur/Kultur, Wildnis/Zivilisation, Tier/Mensch, die sich in der Romantik herausgebildet haben, unterläuft. Zunächst werde ich auf die Bedeutung von Vögeln und auf Meilensteine in der Geschichte der Vogelbeobachtung in den USA im 19. Jahrhundert im Kontext des Siedlerkolonialismus 10 und der Romantik eingehen. Der zweite Teil des Beitrags widmet sich dann dem Begriff der Urban Nature und der sozialen Praxis des Urban Birding. 2. Die Bedeutung von Vögeln und Vogelbeobachtung in den USA des 19. Jahrhunderts Die Erkundung und Beobachtung von Vögeln ist in den USA untrennbar mit dem Namen John James Audubons und dessen Buch Birds of America verbunden, das zwischen 1827 und 1838 zunächst in Edinburgh und London als Serie erschien. Zwar war Audubon nicht der erste Autor eines ornithologischen Buches über die Vögel Amerikas und auch nicht der naturwissenschaftlich korrekteste, aber es waren seine großflächigen, bunten und lebensechten Vogel-Portraits, die sich ins kulturelle Gedächtnis einschrieben und bis heute in der nach Audubon benannten National Audubon Society fortleben. Als Pionier der Ornithologie in Amerika gilt Audubons Zeitgenosse Alexander Wilson, der 1794 von Schottland nach Amerika einwanderte und 1808 begann, die Vögel der neuen Welt zu zeichnen und zu beschreiben.11 Was Audubon von Wilson unterschied, war seine Technik, vor allem aber auch seine charismatische Persönlichkeit, die eng verwoben war mit einer Frontier-Romantik, wie sie im frühen 19. Jahrhundert in Amerika und ebenso in 9 Watson, David M./Znidersic, Elizabeth/Craig, Michael D.: Ethical Birding Call Playback and Conservation, in: Conservation Biology 33/2 (2019), S. 469 – 471. 10 Vögel haben in den Texten der indigenen Bevölkerung Amerikas stets eine zentrale Rolle gespielt. In Schöpfungsmythen und Geschichten, die weit vor die Ankunft der ersten europäischen Siedler datieren, sind Vögel oft Trickster Figuren, die eine zentrale Rolle für das kosmische Verständnis spielen. Anders als im jüdisch-christlichen anthropozentrischen Weltbild wird in indigenen Mythen der Mensch als ein Teil und ein Akteur unter vielen in der Natur beschrieben. Wenn in diesem Beitrag von einem amerikanischen Naturbegriff und von der Geschichte amerikanischer Vogelbeobachtung gesprochen wird, bezieht sich dies auf Praktiken und Begriffe in Szenarien des Siedlerkolonialismus, der indigenes ­Wissen und Praktiken im Umgang mit der Natur oft ausschloss und auslöschte. 11 Burroughs, John: John James Audubon, Boston 1902, S. IX

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| Caroline Rosenthal Europa geschätzt wurde. Ganz anders als der durch protestantische Zurückhaltung und Nüchternheit geprägte Wilson war Audubon ein Frontier-Dandy.12 Auf seinen Reisen nach Europa, auf denen er um Unterstützung für die aufwendigen Drucke seiner Bilder warb, achtete er darauf […] to look every inch the „American Woodsman“ he proclaimed himself to be – the long, flowing hair, a hunting shirt and wolfskin jacket, a fur cap with bushy tail. It was a shrewd affectation that fit perfectly with the Romantic view of the wilderness then in vogue […].13

Ebenso melodramatisch wie Audubon seine Persönlichkeit in Szene setze, malte er die Vögel der neuen Welt. Baron George Cuvier, dem Audubon in Paris sein Buch Birds of America vorstellte und der als einer der größten Biologen seiner Zeit galt, pries das Werk als „das prachtvollste Monument, das bislang für die Ornithologie errichtet wurde“.14 Dieser Effekt lag vor allem an Audubons Technik. Er schoss die Vögel, die er malen wollte – oft weit mehr, als er wirklich brauchte – und entwickelte nach mehreren gescheiterten Versuchen eine Methode, welche die Vögel lebensecht erscheinen ließ. Zunächst hatte er die toten Vögel an den zusammengebundenen Füßen aufgehängt, was den Gemälden den Charakter eines Stilllebens gab, dann versuchte er in einem ausgeklügelten Verfahren, aus Korken und Draht eine Art Vogelmodell zu bauen, das allerdings wie eine groteske Schaufensterpuppe anmutet, bis er schließlich auf die Idee kam, den noch warmen toten Vogelkörper mit schlankem Draht in einer natürlichen Pose aufzurichten. Die so hindrapierten Vögel, die ihm nun wie zum Portrait saßen, zeichnete Audubon und inszenierte sie in dramatischen Szenarien, die er mit Wasserfarben von Hand kolorierte.15 1827 reiste Audubon nach Europa, wo er insgesamt 435 seiner Bilder auf handgravierte Druckplatten übertragen ließ.16 Der mehr als 100.000 $ teure Druck der ersten Gesamtausgabe wurde über Vorbestellungen finanziert und bedurfte eines hohen Werbeaufwands. Die Anordnung der Bilder folgte daher weniger ornithologischen oder nomenklatorischen Gesichtspunkten, als dass sie den Betrachter in eine reichhaltige fremde und zugleich vertraute Welt mitnahmen.17 Audubons

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Weidensaul, Scott: Of a Feather: A Brief History of American Birding, New York 2007, S. 54. Weidensaul: Of a Feather, S. 59. Zitiert in Weidensaul: Of a Feather, S. 66, eigene Übersetzung. Weidensaul: Of a Feather, S. 54 – 55. Reproduktionen der Gemälde in Birds of America sind auf der Homepage der National Audubon Society zu sehen: https://www.audubon.org/birds-of-america, letzter Zugriff: 15. 10. 2019. 17 Vögel waren durch die Lyrik der englischen Romantiker präsent als Symbol für Transzendenz und Kreativität, etwa durch John Keats’ „Ode to a Nightingale“ (1819) oder Percy Bisshe

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Buch bediente viele Sehnsüchte Europas. Naturkunde war en vogue, und das 19. Jahrhundert war, wie Allen Bewell in Natures in Translation: Romanticism and Colonial Natural History treffend bemerkt, geprägt durch „an unprecedented ­traffic in biological organisms“.18 Aber Naturkunde klassifizierte und tauschte nicht nur Exemplare, sondern wurde im 19. Jahrhundert „a translational world-making activity, which mediated colonial natures through their portable form“.19 Hierzu trug Audubons Buch maßgeblich bei. Exponate aus der neuen Welt ebenso wie Exemplare unbekannter Arten oder eben naturgetreue Zeichnungen trugen die sagenumwobene Wildnis Amerikas nach Europa. Ebenso rief Audubons Buch viele Gründungsmythen Amerikas auf. Schon Thomas Jefferson hatte in Notes on the State of Virginia (1785) die Einzigartigkeit Amerikas und seine Überlegenheit gegenüber Europa durch die Natur gerechtfertigt, die in Amerika unvorstellbar weiter, größer und reicher sei als in der alten Welt. Die amerikanische Romantik, die mit der Begründung eines eigenständigen amerikanischen Nationalbewusstseins zusammenfiel, steigerte diese Bedeutung der amerikanischen Natur weiter. Ralph Waldo Emersons Nature, das zum Manifest der amerikanischen Transzendentalisten wurde, erschien 1836 und erhob die Natur zum ästhetischen wie moralischen Lehrmeister für den Dichter. Sein ein Jahr später erschienener Aufsatz „The American Scholar“ verknüpfte die aus der Beobachtung und Verschmelzung mit der Natur erwachsende Imaginationskraft mit dem Schicksal der Nation, von der, aufgrund der Erhabenheit der amerikanischen Natur, Großes zu erwarten sei. „The American Scholar“ läutete die Epoche der American Renaissance ein, welche die erste Blütezeit amerikanischer Literatur und Kultur markiert und mit dem amerikanischen Bürgerkrieg endet. Nicht die Vergangenheit, sondern die Auseinandersetzung mit der Natur wurden zur wichtigsten Regenerationsquelle des Individuums wie der Nation. Es gibt keine der englischen Lyrik vergleichbare Tradition von Vogelgedichten in der amerikanischen Romantik, aber die Kraft, Vitalität und „raw emotion“ 20 seiner Gemälde machten Audubon im 19. Jahrhundert zum Inbegriff des romantischen Künstlers. John Burroughs, der 1902 die erste Biographie Audubons schreibt, bezeichnet Audubon in einem früheren Aufsatz als Dichter. In „Birds and Poets“ (1877) untersucht Burroughs den engen Zusammenhang zwischen (romantischer) Lyrik und Vögeln und stellt fest, dass Audubon zwar nicht schrieb, sondern stattdessen zum Pinsel griff. Dennoch habe dieser aber „the singleness of purpose, the Shelleys „To a Skylark“ (1820). Siehe hierzu Dogett (1974) und Ferber (2006), der nicht den Singvogel, sondern den Adler in der Romantik in den Blick nimmt. 18 Bewell, Alan: Natures in Translation: Romanticism and Colonial Natural History, Baltimore 2017, S. 21. 19 Bewell: Natures in Translation, S. 33 – 34. 20 Weidensaul: Of a Feather, S. 57.

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| Caroline Rosenthal enthusiasm, the unworldliness, the love, that characterizes the true and divine race of bards“ 21 besessen. Somit ist Audubon in das ‚göttliche Geschlecht der Dichter‘, mit dem Burroughs die Romantiker meinte, aufgenommen. Burroughs, der 1871 sein erstes Buch über Vögel, Wake Robin, veröffentlichte, war nicht nur ein passionierter Vogelbeobachter und Essayist, sondern ein national vielgelesener Naturalist.22 Sein Aufsatz „Sharp Eyes“ von 1879 wandte das Konzept des „transparent eyeball“ 23 aus Ralph Waldo Emersons Essay „Nature“ auf die Vogelbeobachtung an, indem er schreibt: „The Eye sees what it has the means of seeing, truly. You must have the bird in your heart before you can find it in the bush“.24 Für Burroughs war eine gewisse innere Haltung die Grundvoraussetzung für eine genaue Beobachtung der Vögel in der Natur. Wie für Emerson war für ihn ein wahres Begreifen des Betrachteten nicht nur durch ein naturwissenschaftliches, sondern durch ein intuitives Sehen möglich, also ein Verstehen, das nicht nur rein rational operiert, sondern alle Sinne einbezieht. Es ist diese Qualität, die Burroughs, der sonst wenig Toleranz für fantastisch verzerrende Darstellungen der Natur hatte, an Audubon schätzte.25 In seiner Biographie kritisierte Burroughs Audubon dafür, manchen Vogel in zu dramatischer und damit Natur ungetreuen Pose dargestellt oder die Farbgebung übertrieben zu haben. Dennoch sah Burroughs Audubon als einen alle anderen Ornithologen überragenden Künstler an:

21 Burroughs, John: Birds and Poets. With other Papers, Boston/New York 1877, S. 1. 22 Er kann nach Henry David Thoreau als Amerikas erster genuiner Nature Writer betrachtet werden. Seine Schriften schlagen eine Brücke zwischen den amerikanischen Romantikern Emerson, Thoreau und Whitman und späteren Nature Writers wie John Muir, Aldo Leopold oder Edward Abbey, da sie eine Überhöhung der Natur zum spirituellen Imaginationsraum zusammenführen mit einer sehr genauen und akkuraten Beobachtung der Natur. Zur Tradition des Nature Writing siehe Braun, Peter/Rosenthal, Caroline: Sehnsuchtsort Natur: Nature Writing in den USA und in Deutschland, in: Nell, Werner/Weiland, Marc (Hg.): Rurale Topographie Bielefeld 2020 (im Erscheinen). 23 Der „transparent eye-ball“ steht für ein sowohl nach außen wie innen gerichtetes Sehen. Das Individuum begreift in der Beobachtung der Natur seine eigene Göttlichkeit sowie die der Natur innewohnende universelle göttliche Kraft. Mit „reason“ bezieht Emerson sich auf eine von Coleridge stammende Begrifflichkeit, in der „reason“ im Gegensatz zu „understanding“ eine höhere Form des Begreifens bezeichnet. Während ­„understanding“ auf ein Erfassen der Welt in einem wissenschaftlich rationalen Sinne verweist, ist mit „reason“ ein ganzheitliches Verstehen gemeint, das auf Eigenverantwortlichkeit und Intuition fußt. 24 Bourroughs, John: Sharp Eyes (1879), in: ders.: Sharp Eyes and Other Papers, New York 1889, S. 18. 25 Siehe etwa Burroughs Essay „Real and Sham Natural History“ von 1903, in dem er Schriftsteller wie Ernest Thompson Seton oder Charles G. D. Roberts für ihre anthropomorphisierenden und fantastischen Darstellungen der Natur scharf angriff.

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He had the heavenly gift of enthusiasm – a passionate love for the work he set out to do. He was a natural hunter, roamer, woodsman; as unwordly as a child, and as simple and transparent. We have had better trained and more scientific ornithologists since his day, but none with his abandon and poetic fervor in the study of birds.26

Was sich in Burroughs, wie auch allen späteren Beschreibungen von Audubons Werk, zeigt, ist, dass Audubons inner-amerikanische wie auch transatlantische Wirkkraft nicht von der Verlässlichkeit seiner Vogeldarstellungen rührte, sondern von seiner Frontier-Persönlichkeit, die sein Äußeres wie seine Bilder theatralisch in Szene setzten und ihn in Amerika zum gefeierten Patrioten und in Europa zum Boten der neuen Welt machten. Audubon wurde in Amerika zum Symbol für Naturschutz, was einer gewissen Ironie nicht entbehrt, da er sich nie für den Erhalt von Vögeln einsetzte, deren Vielfalt in Amerika er wie viele seiner Zeitgenossen für unerschöpflich hielt,27 und mehrere Jäger beschäftigte, die immer neue Vögel und Vogelarten für ihn erlegten. Was Ornithologen und Vogelliebhaber Audubon zuschreiben, ist ein Bewusstsein und eine Aufmerksamkeit für Vögel geschaffen zu haben, die bei späteren Generationen ein Verantwortungsbewusstsein für die Natur auslösten.28 Die erste Audubon-Gesellschaft wurde 1886 von George Bird Grinnell gegründet, brachte schnell ein eigenes Magazin heraus und hatte innerhalb eines Jahres 18.000 Mitglieder, ging aber aufgrund zu hoch gesteckter Ziele und schlechter Organisation bald wieder ein. Der Vorläufer der heutigen National Audubon Society wurde 1896 von Harriet Lawrence Hemenway ins Leben gerufen. Sie fand schnell eine wachsende Gruppe von Mitstreiterinnen, die sich gegen das Töten von Vögeln zu modischen Zwecken einsetzten, da zur damaligen Zeit unzählige Vögel wegen ihrer Federn und Häute für Hüte gejagt wurden. Die zweite Gründung erwies sich als erfolgreich, nicht nur, weil sie besser in lokalen Gruppen organisiert war, sondern in eine Zeit fiel, in der Naturbeobachtung zum amerikanischen Hobby avancierte: 26 Burroughs, John James Audubon, S, 4. 27 Dabei waren Vogelarten wie etwa die Wandertaube, die einst ebenso millionenfach vorhanden war wie der Büffel, etwa 200 Jahre nach Ankunft der ersten Siedler ausgerottet: „By the middle decades of the nineteenth century, the rapid decline of two formerly abundant species, the buffalo […] and the passenger pigeon […] forever shattered the myth of inexhaustibility […]. Both species elicited superlative descriptions from explorers and settlers who had encountered the prodigious numbers that once ranged across the North American continent. […] The rapid collapse of these two species served as a haunting reminder that humans possessed the ability to forever alter the natural world and seemed to jar some Americans from their smug complacency“ (Barrow, Mark V. Jr.: A Passion for Birds. American Ornithology after Audubon, New Jersey 1998, S. 107). 28 Audubon, John J./Peterson, Roger T./Peterson, Virginia M./Rawls, Walton H.: Audubon’s Birds of America. Introduction and Commentaries by Roger Tory Peterson, New York 1981, S. 7.

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| Caroline Rosenthal As industrialization, urbanization, and economic expansion increasingly reshaped the nation’s landscape, growing numbers of enthusiasts began collecting natural objects and observing animals in their natural surroundings. For these middle- and upper-class Americans, regular forays into fields and forests fulfilled a vague but real longing to regain contact with a natural world that modern civilization seemed bent on destroying.29

Das Beobachten von Vögeln wurde für weiße Amerikaner*innen der gehobenen Mittelschicht zum Freizeitsport. Außerdem lebte die Neugründung der Audubon Society von den zu der Zeit sehr populären und effektiven Women’s Clubs, die es als ihre moralische Aufgabe sahen, sich für Bildung und Erziehung sowie gegen die Verrohung der Sitten einzusetzen – siehe etwa das Temperance Movement gegen den Konsum von Alkohol.30 Bereits 1901 gab es Audubon-Vereinigungen in 36 Staaten, die sich 1905 zu einer nationalen Organisation zusammenschlossen. Vogelclubs, die sich von Audubon Societies nur geringfügig unterschieden, verbreiteten sich im ganzen Land und die Verkaufszahlen von Vogelbestimmungsbüchern schossen in die Höhe.31 All dies war Teil „[…] of a larger Romantic backlash against an increasingly urbanized, industrialized society that threatened to irrevocably alter the American landscape“.32 Audubon Societies begannen mit der Jahrhundertwende, Aktivitäten, Ausflüge und Fortbildungen rund um Vögel flächendeckend zu organisieren. Von Anbeginn an war die Audubon Society eine Vereinigung, die sich nicht nur um Vögel bemühte, sondern soziale Aktivitäten für Angehörige bestimmter sozialer Gruppen koordinierte. Zum Ende des 19. Jahrhunderts trugen neue Technologien wie auch die gesteigerte Mobilität durch Autos zur weiteren Popularisierung von ­Birding bei. 1893 entwickelte Ernst Abbe in Jena das Prismenfernglas, das bald auch in der neuen Welt erhältlich war. In dieser Zeit entstanden nicht nur eine Reihe neuer Vogelbestimmungsbücher, sondern auch das Nature Writing wurde als Genre populär. Neben Audubon und ­Burroughs wurde Henry David Thoreau zu einem Wegbereiter des modernen ­Birdings. Thoreau hat sich nie in einer eigenständigen Publikation Vögeln zugewandt, aber kein anderes Tier taucht so oft in Thoreaus Tagebucheinträgen auf, und keines hat über naturkundliche Beobachtungen hinaus eine solche symbolische Dichte entwickelt. Vögel regen Thoreau immer wieder dazu an, äußeres Beobachten und inneres Erleben zusammenzuführen und die Natur als Symbol für größere menschliche Zusammenhänge zu deuten.33 Diese Z ­ usammenführung naturkundlicher 29 30 31 32 33

Barrow: Passion for Birds, S. 5. Weidensaul: Of a Feather, S. 158. Barrow: Passion for Birds, S. 164. Barrow: Passion for Birds, S. 156. Stansberry, Gloria Jean: Let Wild Birds Sing. A Study of The Bird Imagery in the Writings of Henry David Thoreau, Proquest Dissertations and Theses 1973.

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Beobachtungen mit einer Reflexion über das Dasein und über Spiritualität ist ein typisches Merkmal des Nature Writing. Thoreau sammelte Beobachtungen zum Gesang der Vögel, zu ihrem bunten Gefieder und zu ihrem Verhalten – hier inte­ ressierten ihn vor allem Muster der Mobilität, also die Migration und der Nestbau. Die Beobachtung von Vögeln wurde aber vor allem bedeutsam für Thoreaus Vorstellung von Wildheit, die im Gegensatz zu Wildnis nicht an einen bestimmten Raum gebunden ist, sondern all das bezeichnet, was sich der Zähmung des Menschen entzieht. Das Wilde ist eine regenerative Kraft, welche es der Zivilisation erlaubt, sich zu erneuern. Der Vogel, der frei im Himmel schwebt, wurde hierfür für Thoreau zum Symbol, denn er ordnet sich nicht dem Willen des Menschen unter und steht für eine urtümliche Kraft der Wildheit im Sinne einer Freiheit von der Zivilisation. 1910 brachte Francis H. Allan Thoreau’s Notes on Birds of New England heraus, eine Kompilation aller Vogelbeobachtungen Thoreaus, die Allan aus Thoreaus 14 Bände umfassenden Journals systematisiert edierte und mit 16 prächtigen Farbillustrationen von Audubon versah. Thoreaus Aufzeichnungen stammen aus den Jahren 1837 – 1861 und sind, wie Allan im Vorwort seines Buches bemerkt, für zeitgenössische Leser nicht immer verlässlich. Dies lag zum einen daran, dass ­Thoreau bis 1854 kein Fernglas besaß und früh begann darauf zu verzichten, Vögel zu schießen, um sie genauer bestimmen. Beides führte dazu, dass Thoreau sich auf den flüchtigen und zufälligen Moment verlassen musste. Zudem steckte die Ornithologie in Amerika 34 zu Thoreaus Zeit in den Kinderschuhen, und es gab keine verlässlichen und mit heute vergleichbaren Field Guides zur Vogelbestimmung, so dass es viele lokal variable Namen für dieselbe Vogelart gab.35 Neben diesen eher 34 Die Geschichte und Begründung der Ornithologie Nordamerikas liegt zeitlich später als in Europa; die American Ornithologist Union wurde 1883 in New York gegründet. In Nordamerika speiste die aufkommende Wissenschaft der Ornithologie sich zum einen aus naturkundlichen Interessen, die darauf aus waren, Exponate zu sammeln und in Museen ­auszustellen. Zum anderen waren die Entdecker und Siedler bei der Erschließung des amerikanischen Kontinents auf das Erlegen wilder Tiere angewiesen, und Vögel waren eine wichtige Nahrungsquelle. Dies führte 1885 zur Gründung der Section of Economic Ornithology i­ nnerhalb des United States Department of Ornithology, denn Vögel wurden zu einer nationalökonomisch wichtigen Einheit und unterstanden nun dem Bundesgesetz. Der 1917 verabschiedete ­Migratory Birds Act verstärkte die föderale Kontrolle weiter und sorgte dafür, bestimmte Vögel zum Abschuss freizugeben und andere zu schützen. Siehe dazu Cooke, Fred: Ornithology and Bird Conservation in North America – A Canadian Perspective, in: Bird Study 50/3 (2003), S. 211 – 222. 35 Siehe Thoreau, Henry D./Cruickshank, Helen: Thoreau on Birds. Compiled and with Commentary by Helen Cruickshank, New York 1964, S. 215 – 223; Thoreau zog sein Wissen zur Vogelbestimmung aus Alexander Wilsons American Ornithology (1832) und John James Audubons The Birds of America (1841), benutzte vor allem aber Thomas Nuttalls 1832 erschienenes Manual of Ornithology of the United States and Canada. Es war das erste Handbuch zu den Vögeln Nordamerikas, enthielt aber noch viele Fehler die korrekte Nomenklatur der Vögel betreffend. Zu Nuttall siehe auch Weidensaul: Of A Feather, S. 86 f.

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| Caroline Rosenthal technischen Gründen schien Thoreau auch weniger an der Bestimmung der beobachteten Vögel interessiert gewesen zu sein als an deren symbolischen Bedeutung. Statt eines Vogelexperten war Thoreau vielmehr, wie Allan bemerkt, ein „expert analogist“ 36, der durch Vogelbeobachtung philosophische Rückschlüsse auf die Welt und das Dasein zog.37 Allerdings ist diese philosophisch-ästhetische Seite der Naturbeobachtung – wie so oft in Thoreau – gepaart mit einer genauen Beobachtung eines begrenzten Raumes über einen langen Zeitraum, so dass heutige wissenschaftliche Studien zum Klimawandel auf Thoreaus Daten über Zugvögeln und deren Migrationsmuster von damals zurückgreifen.38 1964 gibt die amerikanische Naturschriftstellerin und -fotografin Helen ­Cruickshank – verheiratet mit Allan Cruickshank, einem der bekanntesten Naturfotografen seiner Zeit und Redakteur der Audubon Society – das Buch Thoreau on Birds heraus. Das Vorwort schreibt Roger Tory Peterson, der als Erfinder des modernen Field Guide zur Vogelbestimmung gilt. Anders als Allans Buch trägt Cruickshank Thoreaus Beobachtungen von Vögeln aus seinem Gesamtwerk zusammen und kontextualisiert diese z. B. durch Verweise auf Thoreaus Hilfsmittel und organisiert die Einträge nach Regionen und Texten, in denen Vögel auftauchen. Auch wenn Cruickshank die von Thoreau gesammelten Vogeldaten hervorhebt, steht auch bei ihrem Buch nicht die Akkuratesse von Thoreaus Beobachtungen im Vordergrund, sondern seine Botschaft an heutige urbane Leser*innen. So schreibt Cruickshank in ihrer Einleitung:

36 Allan, Francis H.: Thoreau’s Notes on Birds of New England, New York 2019 [1910], xi. 37 In diesem Sinne interpretiert auch Gaston Bachelard in seiner Studie „The Poetics of Space“ Thoreaus Beschreibungen von Vögeln. Im Kapitel „Nester“ nimmt Bachelard auf eine Passage aus Walden Bezug, in der Thoreau ein Nest von zum Leben erwachenden Spechten mit einem fröhlichen, von Kinderlachen erfüllten Haushalt vergleicht. Ein Nest genau zu beschreiben, ist für Bachelard Aufgabe von Ornithologen, der Phänomenologe betrachtet das Nest, um das naive Staunen zurückzuerlangen, mit dem wir als Kinder ein Nest betrachtet haben, so dass das Nest uns in die Kindheit zurücktransportiert – oder in eine solche, die wir gerne gehabt hätten (Bachelard, Gaston: Nests, in: ders.: The Poetics of Space, Boston 1994, S. 90 – 104, hier S. 93 und S. 102 f.). 38 Ellwood, Elizabeth R./Primack, Richard B./Talmadge Michele L.: Effects of Climate Change on Spring Arrival Times of Birds in Thoreau’s Concord From 1851 to 2007, in: The Condor 112/4 (November 2010), S. 754 – 762. Siehe hierzu auch Boston University Medical ­Center (Hg.): Thoreau’s Study of Birds at Waldon Pond Aids Biologists in Climate Change Research, https://phys.org/news/2010-12-thoreau-birds-waldon-pond-aids.html, letzter Zugriff: 16. 10. 2019. Ebenso wie die Daten zur Vogelbeobachtung werden Thoreaus akribische Aufzeichnungen und Tabellen über Pflanzen heute verwendet, um dem Klimawandel auf die Spur zu kommen: Plumer, Brad: Taking a Leaf out of Thoreau’s Book, https://www. nytimes.com/2018/04/11/climate/thoreau-climate-change.html, letzter Zugriff: 27. 10. 2019 und Nijhuis, Michelle: Teaming up with Thoreau, https://www.smithsonianmag.com/­ science-nature/teaming-up-with-thoreau-163861621/, letzter Zugriff: 27. 10. 2019.

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At the present period in history when travel by car and hurried walking from one point to another are characteristic of field trips, Thoreau teaches a leisure way of going afield with relaxed and intent attention. He found joy in the sounds of birds, and took time to go beyond the mere identification of them to really appreciate them, their wildness or delicacy or mystery, and his art of writing communicates his delight to his readers.39

Mit „leisure“ sowie „relaxed and intent attention“ ruft Cruickshank Schlüsselwörter auf, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts die Bedeutung Thoreaus für die amerikanische Populärkultur beschreiben. Thoreaus Schriften und sein Lebensexperiment am Walden Pond werden zum Vorbild für eine Lebensführung der Vereinfachung, der Achtsamkeit und des temporären Ausstiegs aus einer urbanisierten, technisierten und digitalisierten Welt, die unsere Reize zu überfluten droht.40 Es ist genau diese Art von Vogelbeobachtung, wie sie sich von Audubon über Thoreau in der amerikanischen Gesellschaft etabliert hat, die das heutige Urban Birding in den USA ausmacht. 3. Von der Wildnis zur Urban Nature Im 19. Jahrhundert hat sich in den USA eine Vorstellung von Natur herausgebildet, die stark mit Oppositionen operierte und in der Natur mit Wildnis gleichgesetzt und im Gegensatz zur Stadt definiert wurde. Die wilde, d. h. unberührte Natur wurde dabei idealisiert und als Raum für spirituelle wie nationale Erneuerung gesehen, während die zivilisierte Stadt als korrumpierend und schlecht galt.41 Vögel gehörten in den Bereich der Natur, die zum Ende des 19. Jahrhunderts auch ein touristischer Raum wurde. Mit der Schaffung von Nationalparks, der Einrichtung von Bird Clubs und Societies wurde die Dichotomie von zu schützender wilder Natur einerseits und der anderen nicht schützenswerten Umwelt noch weiter vertieft. Wie Leo Marx und andere gezeigt haben, ist in Amerika diese Unterteilung in eine romantisierte, reine Natur, in welcher der Mensch in Einklang mit sich und der Natur leben kann, und in eine von Menschen korrumpierte Umwelt auch 39 Thoreau on Birds, S. 12. 40 Zu Thoreaus Bedeutung für die Populärkultur, insbesondere die Achtsamkeitsbewegung und Magazin Kultur siehe: Rosenthal, Caroline: Modell des einfachen Lebens: Henry David Thoreaus Walden, in: Kerschbaumer, Sandra/Matuschek, Stefan (Hg.): Romantik e­ rkennen – Modelle finden, Paderborn 2019, S. 169 – 186. 41 Im amerikanisch kulturell Imaginären ist die Stadt zum einen glorifiziert worden als Raum der Erneuerung, zum anderen aber auch stets dämonisiert worden als Ort der Korruption des Einzelnen wie auch originärer amerikanischer Werte. Siehe Rosenthal, Caroline: North American Urban Fiction, in: Nischik, Reingard M. (Hg.): The Palgrave Handbook of Comparative North American Literature, New York 2014, S. 237 – 254.

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| Caroline Rosenthal tief im kulturell Imaginären verankert. Marx hat dies als American Pastoralism beschrieben, als einen ideologischen Habitus durch den die realen Missstände der Gesellschaft ebenso wie die reale Zerstörung der Natur geglättet werden durch einen symbolischen wie realen Rückzug in vermeintlich unberührte Räume. Daraus entstand, wie der Umwelthistoriker William Cronon überzeugend dargelegt hat, ein Verständnis von Natur in den USA, das nur ausgesuchte Räume als natürlich und schützenswert ansah und alle anderen eben als nicht schützenswert. Die vermeintlich natürlichen Räume wurden zum Reservoir aller guten und originären amerikanischen Werte 42 – so schuf Theodore Roosevelt während seiner Präsidentschaft vor allem Nationalparks, um zukünftigen Generationen von Amerikanern ein Erlebnis der Frontier zu ermöglichen, mit der die frühen Siedlern konfrontiert waren und so zu Amerikanern wurden, und nicht, um Natur an sich zu schützen. Gleichzeitig bedeutete dies aber eben auch, dass man den Schutz anderer Räume komplett vernachlässigte. In „The Trouble with Wilderness“ kritisiert Cronon zum einen, dass der romantische Begriff von Wildnis sich im 19. Jahrhundert in den USA etablierte, als die reale Grenze zu verschwinden begann und ein Frontier-Mythos einsetze, der die Werte der Zivilisation reflektierte und reproduzierte, denen die Gesellschaft zu entkommen suchte.43 So wurde es zum einen unmöglich, der Natur inhärente und von der Zivilisation unabhängige Werte zu entdecken und zum anderen eine verantwortungsvolle Umweltethik zu entwickeln, denn Wildnis war ja per definitionem unabhängig von menschlichen Einflüssen. Wildnis, so schlussfolgert Cronon daher, wurde Ende des 20. Jahrhunderts paradoxerweise zum Problem für den Umweltschutz. Zum anderen war diese Vorstellung von Wildnis zutiefst imperialistisch geprägt: Roosevelt ließ Native American Nations zwangsumsiedeln, um seine Nationalparks frei von menschlichen Einflüssen anzulegen. Natur und Wildnis sind damit verortet in einem Szenario des Settler-Colonialism,44 das nicht nur indigene Völker, sondern auch indigenes Wissen und Umgang mit der 42 In Cronons Worten: „[…] wild country became a place not just for religious redemption but national renewal, the quintessential location for what it meant to be American“ ­(Cronon, William: The Trouble with Wilderness; Or Getting Back to the Wrong Nature, in: ders. (Hg.): Uncommon Ground: Rethinking the Human Place in Nature, New York 1995, S. 69 – 90, hier S. 76). 43 Cronon, The Trouble, S. 78: „In way, wilderness came to embody the national frontier myth, standing for the wild freedom of America’s past and seeming to represent a highly attractive natural alternative to the ugly artificiality of modern civilization. The irony, of course, was that in the process wilderness came to reflect the very civilization its devotees sought to escape“. 44 Weidensaul: Of a Feather, S. 66; zum Begriff des Szenarios siehe Taylor, Diana: From the Archive to the Repertoire: Performing Cultural Memory in the Americas, Durham/London 2003.

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Natur ausschließen. Dies gilt ebenso für die Kategorien von Klasse und Geschlecht, denn der Naturbegriff schloss Menschen, die auf dem Land arbeiteten, ebenso aus wie Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität, die sich einer Unterwerfung der Natur und heterosexuellen Normen entzogen. Wildnis wurde damit zu einer diskursiven oder ideologischen Formation, die genau festlegte, was und wer als natürlich zu gelten hatte und wer und was nicht. Cronon war einer der ersten Umwelthistoriker, die anregten, die harte Unterscheidung von Natur versus Stadt aufzugeben und alles als uns natürlich umgebende Welt anzusehen – schließlich sind Naturparks ebenso von Menschenhand gemacht wie Städte, und auch hier werden von Menschen Entscheidungen getroffen, was und welche Spezies erhaltenswert ist, sowie ‚natürliche‘ Gebiete infrastrukturell erschlossen. Wie Cronon in seinem späteren Werk Nature’s Metropolis über Chicago und sein Umland darlegt, bedeutet die Stadt als unnatürlich zu betrachten, den Menschen von den Ökosystemen zu isolieren, die ihn direkt umgeben. Während wir diese Unterscheidung von Romantikern wie etwa Wordsworth, Emerson oder Thoreau gelernt haben, ist es an der Zeit, die Stadt als Ort der Natur anzusehen und zu erkunden, so Cronon.45 Das würde es erlauben, den Menschen als Teil der Natur und nicht als das andere zur Natur zu erleben und die Räume, in denen wir tatsächlich tagtäglich leben als natürlich und damit schützenswert zu begreifen. Natur würde damit auch von einem abstrakten Ort sakraler Schönheit zu einer konkreten Vielzahl materieller Dinge und Beziehungen, die uns ernähren, kleiden und schützen.46 Vorstellungen von Wildnis und Natur sind immer kulturell konstruiert und reflektieren die Normen und Werte einer bestimmten Zeit und Gesellschaft. Auch die zeitgenössische Urban Birding-Bewegung in den USA transportiert ein bestimmtes Verständnis von Natur und der Interaktion von Mensch und Natur, in dem allerdings im Sinne von Cronon die Trennung von Natur und Kultur ebenso dekonstruiert wird wie viele ihr unterliegende Parameter. Das heutige Birding greift dabei – bewusst oder unbewusst – Ansätze auf, die sich im Zeitalter des Anthropozäns in mehreren Wissensdisziplinen entwickelt haben und traditionelle Kategorien für die Bestimmung und Analyse natürlicher Räume in Frage stellen. Der Begriff „Natur“ wird dabei als „political dead weight“ 47 betrachtet und bewusst vermieden, weil er Abgeschiedenheit und pastorale Sehnsüchte evoziert, während der städtische Raum nun als Kontaktzone von menschlichen und nicht-menschlichen Ökosystemen gesehen und eine „politics for urban wild things“ 48 eingefordert 45 Cronon, William: Nature’s Metropolis. Chicago and the Great West, New York 1991. 46 Cronon: Nature’s Metropolis, S. 384. 47 Hinchliffe, Steve et al.: Urban Wild Things: A Cosmopolitical Experiment, in: Environment and Planning D: Society and Space 23 (2005), S. 643 – 658. 48 Hinchliffe: Urban Wild Things, S. 643.

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| Caroline Rosenthal wird. Die Stadtökologie oder die Urban Reconciliation Ecology wollen Wege finden, um menschliche und nicht-menschliche Interessen in der Stadt zu vereinen, etwa durch die Begrünung von Wänden und Dächern zum Erhalt von Biodiversität.49 Die auf einem anthropozentrischen Weltbild beruhende Hierarchie von Mensch und Tier wird in Zweigen der Geographie, Soziologie oder Anthropologie zunehmend in Frage gestellt und die „[…] dominant romantic and pastoral tropes that have held sway over the field […]“ 50 herausgefordert. Stattdessen soll „Urbanisierung als eine besondere Verräumlichung von Natur betrachtet werden“.51 Damit soll der zunehmenden „Synurbization“ – einer Anpassung wilder Tiere an urbane Entwicklungen – Rechnung getragen werden. Vögel haben sich der urbanen Umwelt so sehr angepasst, dass manche Arten dort besser gedeihen als im ländlichen Raum. So nisten immer mehr Nachtigallen in Berlin, Mauersegler bauen ihre Nester statt in hohlen Bäumen nun in Schornsteinen.52 Vögel haben Begrifflichkeiten von Natur in die Stadt getragen, wie die Ausdrücke „urban nature“, „wild cities“ oder „city birds“ zeigen, die früher widersprüchlich oder binär waren. Die soziale Praxis des Urban Birding reflektiert diese Widersprüche bewusst und changiert ambivalent zwischen einer konsequenten Entromantisierung der Natur und Wildnis, wie die kurz angerissenen Wissenschaftsdiskurse es tun, welche die Romantik für einen Naturbegriff verantwortlich machen, der Natur als das Andere, außerhalb des Menschen und der menschlichen Sphäre Liegende begreift statt als Teil seiner Mitwelt. Andererseits findet im Urban Birding aber auch eine Romantisierung des städtischen Raums statt, indem der 49 Francis, Robert A./Lorimer, Jamie: Urban Reconciliation Ecology: The Potential of Living Roofs and Walls, in: Journal of Environmental Management 92 (2011), S. 1429 – 1437. 50 Braun, Bruce: Environmental Issues: Writing a More-than-Human Urban Geography, in: Progress in Human Geography 29/5 (2005), S. 635 – 650. 51 Braun: Environmental Issues, S. 641; Ökologen und Biologen greifen dabei auf wissenschaftstheoretische Ansätze von Donna Haraway oder Bruno Latour zurück, um zu z­ eigen, dass Stadt und Land in politökonomischen und kulturellen Kreisläufen eng miteinander verwoben sind (Braun: Enviromental Issue, S. 636 und siehe Kirksey, Eben/Stefan ­Helmreich, The Emergence of Multispecies Ethnography, Cultural Anthropology 25/4 (2010), S. 545 – 576). Donna Haraways Buch When Species Meet hat in der Anthropologie den sogenannten „species turn“ eingeleitet und den Terminus des „becoming“ eingeführt, der über menschlichen Exzeptionalismus hinausdenkt und den Menschen als Wesen begreift, das erst im Kontakt mit anderen Spezies und der ihn umgebenden Welt entsteht. Die sich hieraus entwickelnde Multispezies Ethnographie untersucht die Konnektivität aller Arten und stellt die Überlegenheit von Anthropos in Frage (Haraway, Donna: When Species Meet, Minneapolis 2008). 52 Woltron, Ute: Wo Schatten, da Licht. Warum in Berlin mehr Nachtigallen brüten, https:// www.diepresse.com/5648207/wo-schatten-da-licht-warum-in-berlin-mehr-nachtigallenbruten, letzter Zugriff: 18. 10. 2019 und Kaufman, Kenn/Kaufman, Kimberly: City Birds in Urban Birding Hotspots, http://www.birdsandblooms.com/birding/birding-hotspots/citybirds-in-urban-birding-hotspots/, letzter Zugriff: 18. 10. 2019.

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städtischen Natur eine ähnliche Wertigkeit und Gestaltungskraft zugeschrieben wird wie einst der wilden und indem mit der Naturerfahrung ähnliche Sehnsüchte verbunden sind wie einst in der Romantik. 4. Zeitgenössisches Urban Birding Im Internet omnipräsent ist als Urban Birder zurzeit ein Londoner mit jamaikanischen Wurzeln namens David Lindo. Sein Blog „The Urban Birder“ 53 hat die Bewegung nicht nur in London, sondern weltweit in anderen Großstädten äußerst populär gemacht und viele Nachahmer in Amerika gefunden.54 In einem Interview mit der amerikanischen Audubon Society legt Lindo die Ursprünge und Beweggründe des Urban Birding wie folgt dar: In the past Birding was just for people who had time and access to the countryside. My parents moved from rural Jamaica to London. Their memories of the countryside were not good, so why would they replicate that in their new home? As a kid, I was told that you couldn’t see nature unless you went to the countryside – but there was no one to take me. In my early days I watched birds in local city patches while everyone else rushed to the countryside during migration. Instead, I saw the migration happen over a broad area, not just the hotspots. But city Birding still felt like a „poor cousin“ to Birding in the country, even though cities and towns are where most people live. Thirteen years ago, I decided to sell urban Birding as a concept and make it contemporary and easy.55

Drei Aspekte in dieser Aussage Lindos erscheinen mir wichtig für die soziale Praxis des Urban Birding insgesamt: Erstens ist Natur kein universeller Begriff, sondern je nach kulturellem und gesellschaftlichem Hintergrund anders besetzt. Und Vorstellungen davon, was ländlich und was städtisch ist, und die Wertigkeiten, mit denen diese Definitionen besetzt sind, migrieren mit den Einwander*innen in die Städte und verändern den städtischen Raum.56 Diese oben bereits erläuterte 53 https://theurbanbirder.com/ und https://theurbanbirderworld.com/blog/, letzter Zugriff: 27. 10. 2019. 54 http://citybirder.blogspot.com/; https://birdscalgary.com/; http://birdblogmap.blogspot. com/; https://celebrateurbanbirds.org/, http://www.bryonyangell.com/,, letzter Zugriff: 27. 10. 2019. 55 Angell, Bryony: Big-City-Birding-Hotter-than-Ever, https://www.audubon.org/news/ big-city-birding-hotter-ever, letzter Zugriff: 18. 10. 2019. 56 Interessant sind hier Forschungsansätze, die die Bedeutung von Tieren im städtischen Raum für kulturpolitische Dimensionen von Rasse, Geschlecht und Klasse untersuchen, siehe hier vor allem Anderson, Kay: ,The beast within’: Race, Humanity, and Animality, in: Environment and Planning D: Society and Space 18 (2000), S. 301 – 320; Die Animal

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| Caroline Rosenthal ­ orstellung einer neuen Urban Nature, in welcher der Kontrast zwischen Natur und V Stadt verschwindet, ist zentral für das Birding, weil sich hierrüber viele ehemals vom Naturbegriff ausgeschlossene Gruppen neue Räume in der Stadt erobern. So fragt Lindo zweitens nach „whose nature?“ und macht deutlich, dass Naturerfahrung Mechanismen der In- und Exklusion in Gang setzt. Es geht also um politische Partizipation, um die Möglichkeit der Teilhabe an Naturerfahrung, die Lindo in die multikulturelle Stadt verlegt, weil diese dort jeder und jedem zugänglich ist und der städtische Raum durch seine Diversität oft egalitärer ist als der ländliche.57 Das Zitat macht drittens deutlich, dass Urban Birding auch ein Verkaufskonzept für einen bestimmten zeitgenössischen urbanen Lebensstil ist, bei welchem dem Birding ebenso wie den Birdern selbst bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden, wie etwa Kontaktfreudigkeit, Verantwortungsbewusstsein für die Umwelt und Toleranz für Diversität. Urban Birding als Lifestylephänomen repräsentiert gerade nicht die etwas spießig (und sehr weiß) besetzte Landlust, sondern holt eine Leidenschaft für Natur in die städtische Sphäre. Urban Birding ist hipp, in den letzten Jahren immer jünger und diversifizierter geworden – junge Birders heißen Yubbies 58 – und zielt insgesamt auf die soziale Vernetzung ab, die mit neuen Apps und Internetplattformen marktwirksam betrieben wird. Birding als Mittel politischer Partizipation im städtischen Raum zielt zunächst darauf ab, den klassischen Naturbegriff, der nur bestimmte Gruppen der Gesellschaft einschloss, zu dekonstruieren. David Lindo und anderen Urban Birders geht es darum, Vogelbeobachtung aus der Sphäre eines Hobbys weißer Männer mittleren Alters zu holen und zu einer Aktivität zu machen, an der alle Mitglieder der multikulturellen städtischen Gesellschaft teilhaben können, jenseits von Alter, Geschlecht oder Ethnizität. Im Interview mit der Audubon Society verneint Lindo den typischen Habitus des Birdwatcher, wie er beispielsweise durch eine bestimmte Ausrüstung und einen spezifischen Dresscode markiert wird: „I’m a

Geography beschäftigt sich damit, wie Tierhaltung in Städten ethnische Identitäten bestärken oder unterminieren kann, etwa wenn neue Einwanderer Hühner im Garten der Stadtwohnung halten (siehe Hodgetts, Timothy/Lorimer, Jamie: Methodologies for Animals’ Geographies: Cultures, Communication and Genomics, Cultural Geographies 22/2 (2015), S. 285 – 295) und sehen die Stadt als hybriden Raum, indem Menschen, Tiere und fühlende Wesen gemeinsam leben (Wolch, Jennifer: Anima Urbis, in: Progress in Human Geography 26/6 (2002), S. 721 – 742). 57 Dies galt natürlich ebenso für Gruppen im 19. Jahrhundert, die nicht der gehobenen weißen Mittelschicht angehörten. Für Sklaven etwa war Natur zumindest hoch ambivalent besetzt durch die knochenbrechende Arbeit auf den Baumwollplantagen. Für viele spätere Einwanderer hatte Natur auch nicht dieselbe Bedeutung wie für die ersten weißen amerikanischen Siedler. 58 Green, Penelope: The World of Young Urban Birders. Community, Activism and Instagram, https://www.independent.co.uk/environment/birdwatching-birds-animals-environmentamerica-a8418161.html, letzter Zugriff: 18. 10. 2019.

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black guy […]. I try not to wear the classic stuff […] I’m trying to popularize it [Birding] as a black man and to get white people to know Birding is for everyone. I want to appeal to all people, full stop“.59 Ein Birder, so Lindo, brauche weder eine Expertise noch teure Spezialgeräte und muss auch nicht an besondere Orte fahren, so dass Birding auch für weniger gut situierte Menschen möglich ist. Vögel gibt es schließlich überall in der Stadt. 2018 bringt David Lindo bei der Princeton University Press das international erfolgreiche Buch How to Be an Urban Birder heraus, für das Jamie Oliver das Vorwort schreibt, der wie kein anderer dafürsteht, gesunde und gute Küche massenkompatibel und für alle Schichten zugänglich zu machen. Aber nicht nur Klasse und ethnische Zugehörigkeit, sondern sexuelle Orientierung spielt im Urban Birding eine zunehmend große Rolle. Für die LGTBQ Community war Natur einerseits ein Raum der Befreiung, da vermeintlich frei von gesellschaftlichen Normen und Urteilen, andererseits sind Nature Reserves meist in ländlichen Gegenden, die wenig Diversität und mehr Diskriminierung aufweisen.60 Zudem haben traditionelle Formen des Vogelbeobachtens, die einen gewissen Dresscode und Habitus mit sich brachten und heterosexuelle Normen transportierten, es schwierig für Homosexuelle gemacht, sich zugehörig zu fühlen.61 1994 wurde der erste Gay Birders Club gegründet, 2002 der Vereinigung Queer Birders of America, und es gibt immer mehr Feminist Birding Clubs in amerikanischen Städten, wie etwa den von Molly Adams, „dedicated to promoting diversity in Birding and providing a safe opportunity to connect with the natural world in urban environments […]“. Die Praxis des Birding wird dabei zugleich begleitet von „an ongoing conversation about intersectionality, activism, and the rights of all womxn, non-binary folks, and members of the L. G. B. T. Q.+ community“.62 Das Logo von Adams‘ Club zeigt die Darstellung eines „spotted sandpiper“, eines Drosseluferläufers, bekannt für Polyandrie, eine Form der Fortpflanzung, bei der ein Weibchen sich mit mehreren Männchen paart, diese sich aber nur mit einem Weibchen (paart das Männchen sich mit mehr als einem Weibchen, spricht man in der Biologie in diesem Fall von Promiskuität).

59 Zitiert in: Angell: Big City Birding Is Hotter than Ever, https://www.audubon.org/news/ big-city-birding-hotter-ever, letzter Zugriff: 18. 10. 2019. 60 Dies gilt natürlich auch für rassistische Übergriff. Siehe den Post eines schwarzen Birders, der von einem weißen Farmer als „nigger“ beschimpft wurde, der zurück auf die Baumwollplantage solle: Lanham, J. Drew: The United State of Birding, https://www.audubon. org/news/the-united-state-birding, letzter Zugriff 20. 10. 2019. 61 Jones, Benji: For the LGBTQ Community Birding can be a Relief – and a Source of Anxiety, https://www.audubon.org/news/for-lgbtq-community-birding-can-be-relief-and-sourceanxiety, letzter Zugriff: 21. 10. 2019. 62 Adams, Molly: Feminist Bird Club, https://molly-adams.com/feminist-bird-club, letzter Zugriff: 21. 10. 2019.

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| Caroline Rosenthal In den genannten Beispielen bedingen Partizipation und eine Veränderung des Naturbegriffs sich gegenseitig. Besonders augenfällig ist dies im von Pinar Ateş Sinopoulos-Lloyd ins Leben gerufenen Queer Nature-Projekt, das eine Dekolonialisierung unseres Wissens über Natur und eine Wiederaneignung indigener Praktiken verbinden will mit der Dekonstruktion heterosexueller Normen. Hierbei sollen „place-based skills“, „naturalist studies“ und „deep listening“ allen Mitgliedern der LGBTQ2+- und der QTBIPOC-Gemeinschaft zugänglich sein.63 Das Queer Nature-Projekt findet zwar nicht im städtischen Raum statt, zeigt aber, dass in den USA das Bedürfnis, Natur neu zu verstehen, ebenso groß ist, wie das Bedürfnis, politische Partizipation auch in natürlichen Räumen umzusetzen. Audubons Marktforschungsabteilung hat herausgefunden, dass es mehr als neun Millionen Birders zwischen 18 und 35 Jahren gibt und sich diese Gruppe in Amerika heute zu 25 % aus Hispano- und zu 18 % aus Afro-Amerikaner*innen sowie zu 10 % aus Amerikaner*innen asiatischer Herkunft zusammensetzt.64 Da die Birding Community (und Industrie) immer urbaner und damit jünger und diversifizierter wird, bemüht die Audubon Society sich sichtlich darum, ihr Image eines Clubs weißer Mittelschichtler los zu werden. So hat sie beispielsweise das Wild Indigo Nature Explorations Project ins Leben gerufen, das nachhaltige Beziehungen zwischen „urban communities of color and their local natural areas“ aufbauen will. Hierbei wird eine Parallele zwischen „healthy natural habitats“ und „healthy urban communities“ angenommen, die dadurch entstehen soll, dass den Menschen an den Orten, an denen sie leben und arbeiten, durch naturbasierte Aktivitäten wie das Birding die sie umgebende Tierwelt nahegebracht wird.65 Durch eine Hinwendung zur Natur wird der urbane Raum nicht nur neu entdeckt, sondern durch die soziale Praxis des Vogelbeobachtens werden auch andere urbane Räume geschaffen bzw. werden diese anders semiotisiert und bislang ausgeschlossene Gruppen inkludiert. Weitere Faktoren der Differenz wie „ability“ oder „age“ spielen im Urban Birding eine ebenso große Rolle. So wird Birding eingesetzt, um marginalisierte oder in ihrer Mobilität eingeschränkte Gruppen in natürliche urbane Räume einzubinden. „Birdability“ in Austin, Texas, ist zum Beispiel „a new initiative to get mobilityimpaired people out in the parks and enjoying nature, by way of Birding — and 63 LGBTQ 2+ steht für „Lesbian, Gay, Bisexual, Trans, Queer, Two-Spirited People“ und QTBIPOC für „queer transblack and indigenous people of color“. o. A.: Nature-Connection & Ancestral Skills for LGBTQIA+, Two-Spirit, and Non-Binary People, https://www. queernature.org/, letzter Zugriff: 28. 10. 2019. 64 Mendenhall, Matt: The New Faces of Birding. Young, Urban, More Diverse, https://www. birdwatchingdaily.com/news/birdwatching/new-faces-Birding-young-urban-more-diverse/, letzter Zugriff: 18. 10. 2019. 65 o. A.: Wild Indigo Nature Explorations, https://gl.audubon.org/bird-friendly-communities/ wild-indigo-nature-explorations, letzter Zugriff: 25. 10. 2019.

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in turn, to make Birding more accessible“.66 Eine im Rollstuhl sitzende Teilnehmerin berichtet, dass das Birding ihr ein ganz neues Zutrauen in den städtischen Raum und ihre Fähigkeit, sich in diesem mit der Hilfe von anderen zu bewegen, vermittelt habe und dass die Beobachtung der Natur „ihre Seele genährt habe“. Der Vogelbeobachtung wird zunehmend eine therapeutische, stressreduzierende Wirkung zugeschrieben. Birding ist momentan ein Allrounder der Kinderpädagogik und Entwicklung. Es soll die mentale und physische Gesundheit von Kindern fördern, ihnen helfen, eine eigene Identität aufzubauen und soziale Kompetenzen zu erwerben und zudem noch ein umweltethisches Bewusstsein schulen.67 Für junge Leute ist das Urban Birding eine neue Form der Interaktion mit der Natur, die nicht mehr mit dem elterlichen Sonntagsausflug assoziiert wird, sondern mit einem jungen Lebensstil, der Twitter und Instagram wie zahlreiche Apps und Tools einsetzt. Dabei vermischen virtueller und realer Raum sich ständig. Es entsteht eine in beiden Räumen angesiedelte Gemeinschaft, die sich über die Vogelbeobachtung und den Austausch hierüber dem Umweltschutz verpflichtet. Im Zuge des Anthropozäns und eines zunehmenden Bewusstseins für Klimawandel und Umweltzerstörung sowie einer damit einhergehenden Hilflosigkeit, wie diese zu stoppen sind, ist das Birding ein handhabbarer Weg, sein Umweltbewusstsein zu demonstrieren und zugleich Teil einer hippen Gemeinschaft zu sein, die sich sowohl real wie virtuell konstituiert. Apps wie iBird oder Merlin, Websites wie eBird des Cornell Lab for Ornithology 68 oder bird alerts auf Twitter ersetzen altmodische Vogelbestimmungsbücher, und Instagram und Facebook machen Funde sofort verwertbar für das soziale Profil. Das Birding ist zu einer Form der Vernetzung partikulärer Gruppen geworden, soll aber insgesamt inklusiv sein. Die Audubon Society attribuiert auf ihrer Website unter „How to meet other birders“ den Birders als kollektiver Gruppe bestimmte Eigenschaften: Birders are a fun, diverse, caring, inclusive, passionate, adventurous, and occasionally wacky group of people. And lucky for you, they’re way easier to ID than the birds they seek. Just look for the badge; whenever you see other people with binoculars, ask if 66 Foster, Tom: A Movement to Make Birding More Inclusive and Accessible, https://www. audubon.org/news/a-movement-make-birding-more-inclusive-and-accessible, letzter Zugriff: 25. 10. 2019. 67 Harris, Danielle: Cure-All for Kids, https://www.birdwatchingdaily.com/news/birdwatching/ cure-all-for-kids/, letzter Zugriff: 27. 10. 2019. Und Vogelgesang wird in Krankenhäusern und Schulen eingesetzt, um Kinder ruhiger und aufnahmefähiger zu machen oder Menschen ihre Flugangst zu nehmen: Sundstrom, Bob: Around the World the Soothing Sounds of Birdsong are Used as Therapy, https://www.audubon.org/news/around-world-soothingsounds-birdsong-are-used-therapy, letzter Zugriff: 27. 10. 2019. 68 https://ebird.org/home, letzter Zugriff: 18. 10. 2019.

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| Caroline Rosenthal they’ve found anything interesting, and then introduce yourself. Pretty soon, by doing what you enjoy, you’ll get to know the most active birders in your area—and you’ll build a whole new social circle.69

Die Sprache, mit der das Birding beworben wird, ähnelt der von Dating-Plattformen und vermarktet die Vogelbeobachtung als den einfachsten Weg, lebenslustige, einfühlsame, auf Inklusion bedachte Menschen zu treffen, die zudem noch leidenschaftlich und abenteuerlustig sind. Birders sind kommunikativ und inklusiv; sie teilen ihre Sichtungen mit anderen, die dann ins Auto springen und quer durch die Stadt fahren, um den seltenen Vogel ebenfalls zu sehen und dies dann erneut zu teilen. So erfahren Urban Birders in New York City von der Ankunft eines Papstfinken im Brooklyn Prospect Park umgehend durch ihren „rare bird alert“ auf ihrem Smartphone. Es versammelt sich sofort eine größere Gruppe von Birders, und als der Vogel am vierten Tag noch immer da ist, wird die wachsende Menge begleitet von lokalen TV-Sendern und der New York Times. Der Papstfink bleibt bis Januar 2016 eine große Attraktion – bis er plötzlich seine Flügel ausbreitet und ohne Erklärung weiterfliegt.70 Die Vogelbeobachtung ist zu einem medialen und monetären Massenphänomen geworden. Eine ganze Industrie lebt von Magazinen, die das Birding bewerben und die, wenn auch gar nicht mehr nötig, die richtige Ausrüstung und das richtige Zubehör anpreisen. Hunderte von Birding Festivals, die von einem Tag bis zu einer Woche dauern, werden in ganz Nordamerika angeboten. Sie bringen Birders aus aller Welt zusammen, finden immer häufiger in großen Städten statt und bieten neben der tatsächlichen Vogelbeobachtung ein weitreichendes Begleitprogramm von Vorträgen, Verkaufsständen, Abendgalas, Spielshows und anderen Formen der Unterhaltung.71 Auf der Homepage der American Birding Association gibt es ein B ­ irding Festivals Directory 72, auf dem jede*r fündig wird – mit einer eigenen Kategorie zu Urban Birding von Texas bis Philadelphia. Außerdem ist die Vogelbeob­achtung von einer Nische zu einer boomenden Sparte des Ökotourismus geworden, bei dem Menschen um die Welt fliegen, um mit anderen Vögel zu beobachten, zunehmend auch in Städten, genannt „urban avitourism“. Anders als früher führen diese Touren nicht immer in abgelegene Wildnis, sondern auch 69 Strycker, Noah: How to Meet other Birders, https://www.audubon.org/news/how-meetother-birders, letzter Zugriff: 18. 10. 2019. 70 Cherry, Elizabeth/Davidson-Onsgard, August/Moore, Lisa Jean: Birdwatching in the City. A Case for Multispecies Tourism, https://www.metropolitiques.eu/Birdwatching-in-theCity-A-Case-for-Multispecies-Tourism.html, letzter Zugriff: 18. 10. 2019. 71 o. A.: Birding and Birdwatching Festivals and Events, http://www.birdseyebirding. com/2019/02/28/birding-festivals-events-2019/, letzter Zugriff: 18. 10. 2019. 72 o. A.: Featured Festivals and Events, https://www.aba.org/festivals-events/, letzter Zugriff: 18. 10. 2019.

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auf Müllhalden, weil hier viele Vögel und seltene Spezies aus nächster Nähe zu sehen sind.73 In den oben genannten Beispielen steht das Birding neben der Partizipation für einen bestimmten urbanen Lebensstil, in dem Birders sich über das Birding als modern, inklusiv und umweltbewusst erleben. Darüber hinaus schreiben Birders ihrer Praxis oft auch eine bewusstseins- und weltverändernde Bedeutung zu, die es ihnen ermöglicht, sich neu in der Welt zu verorten. Und so findet im Birding jenseits der Dekonstruktion des Naturbegriffs eben auch eine Romantisierung der urbanen Welt statt. Lindo transportiert nicht nur die Botschaft, dass jede*r zum Birder werden kann, sondern auch, dass die alltägliche städtische Natur voller Wunder ist, wenn man nur die äußeren wie inneren Augen dafür öffnet: I believe wildlife in urban areas is so easy to engage with. All we have to do is open our eyes, ears, hearts and minds and soon we will be linked into the nature around us. […] See your urban environment as how a bird would: The buildings are cliffs and any green areas are an oasis for nesting, resting and feeding. Don’t stress about learning the names and songs of all the birds you encounter, just enjoy them.74

Augen, Ohren, Herz und Geist für natürliche Phänomene zu öffnen, ohne in einen Gestus des Benennens und des rational Bestimmenden zu verfallen, hat einen Emersonschen Klang, ebenso wie das entspannte Verweilen im Moment, welches das Dasein vereinfacht, an Thoreau erinnert. Diese Aspekte der Verzauberung und Entschleunigung finden sich auch in vielen anderen Blogeinträgen und Aufsätzen zum Birding. So beschreibt der Blogger Evan Landy, wie er auf einem Gang durch die Stadt ein „brutalist architecture building with tall protruding towers“ sieht. Während die meisten Menschen, so Landy weiter, nur das martialische Gebäude sehen, ist er ein Birder, der nur Augen für die in den Türmen nistenden „common kestrels“, die Turmfalken, hat, die hoch über den „crowded streets“ bestens gedeihen. Während Landy das Gebäude mit Adjektiven wie „brutal“ und „herausstehend“ als negatives Produkt der Kultur beschreibt, schlussfolgert er über die Vögel: „It lifts ones spirit immensely to see them every day and is the perfect antidote to the constant hustle and bustle going on around you“.75 Die Vogelbeobachtung wird zum Gegengift zur hektischen modernen Welt und holt das Spirituelle und Zauberhafte in den städtischen Raum. 73 Zu Urban Avitourism siehe Cherry: Birdwatching in the City, https://www.metropolitiques. eu/Birdwatching-in-the-City-A-Case-for-Multispecies-Tourism.html, letzter Zugriff: 18. 10. 2019. 74 https://theurbanbirder.com/, letzter Zugriff: 18. 10. 2019. 75 Landy, Evan: How Urban Nature Hooked Me in, https://theurbanbirderworld.com/howurban-nature-hooked-me-in/, letzter Zugriff: 27. 10. 2019.

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| Caroline Rosenthal Auf seinem Blog „Urban Birds: Tails of the Unexpected“ schreibt Paul Brook etwa, dass „Encounters with them [birds] are little moments of magic in a frantic world“,76 weil sie es uns erlauben, eine Pause einzulegen, und ihre Farben, Stimmen und ihr Wesen zu schätzen. Oft bringe der Vogelruf eines Zaunkönigs auf dem Weg zur Arbeit ihn wieder ins Hier und Jetzt. Urban Birds, so Brook, regen die Vorstellungskraft an und helfen, mit Stress und Depression umzugehen, weil sie Momente des Vergnügens und der Freude in die urbane und zivilisierte Welt tragen: „Birds are what turn a walk to buy a sandwich into an adventure“. Das Abenteuer liegt vor der eigenen Tür, wenn wir nur Augen und Herz öffnen für das nicht Technisierte und Zivilisierte, so der Grundtenor. Es gehe darum, der oft als feindlich wahrgenommenen Stadt das auf den ersten Blick Unsichtbare und Ungewohnte zu entlocken. Im Birding soll die alltägliche Umgebung mit neuen Augen gesehen und wahrgenommen werden. Dazu gehört, den Blick für das Unerwartete zu schulen und traditionelle Formen der Wahrnehmung hinter sich zu lassen, zum Beispiel Natur nur außerhalb der Stadt zu erwarten, denn die Wildnis wartet auf dem Weg zum Bus. Und ein Teil der Freude rührt daher, dass Vögel im wahrsten Sinne des Wortes flüchtig und oft nur für einen kostbaren Moment sichtbar sind, wie Lindo es im zitierten Interview fasst, „[…] when it comes to urban birding you have to expect the unexpected, regard the unexpected as expected“.77 Dazu gehört, die Welt wie ein Vogel wahrzunehmen und quasi das Vogel-Sein zu teilen, den Vogel also als einen Artverwandten zu betrachten. Der Politologe Christian Hunold hat emotionale Reaktionen von Menschen auf eine mitten in Philadelphia nistende Habichtfamilie untersucht, die durch eine installierte „bird cam“ schnell eine enthusiastische Fangemeinde im Internet gefunden hatten. Die Hawkwatcher sind „spellbound“ und verfolgen das Paarungsritual, die Geburt der drei Küken, den Tod der Eltern und schließlich ihres Nachwuchses wie eine Soap Opera und diskutieren – in stark anthropomorphisierender Weise – das Schicksal der Vögel. Wie Hunold treffend bemerkt: „[…] it is the viewers that do the story­ telling“ 78, so dass wir letztlich mehr über die Birder erfahren als über die Vögel. Nachdem der letzte der Habichte gestorben ist, weil er gegen eine Scheibe geflogen ist, gibt es eine weitreichende Diskussion im Internet darüber, wie man die Stadt für Vögel sicherer machen könne, die nun als „urban dwellers“, also als Mitbürger, beschrieben werden. Die Vogelbeobachtung führt für Hunold folglich zu „cultivating conviviality between people and wildlife“ 79, destabilisiert traditionelle Interaktionen von Mensch und Tier und führt zu einer Empathie mit dem natürlichen Anderen. 76 Brook, Paul: Urban Birds. Tail of the Unexpected, https://theurbanbirderworld.com/urbanbirds-tails-of-the-unexpected/, letzter Zugriff: 27. 10. 2019. 77 Lindo, David: How to be an Urban Birder, Princeton 2018, S. 13. 78 Lindo: How to be, S. 119. 79 Lindo: How to be, S. 116.

Wildnis Stadt |

Der Kulturgeograph Mark Bonta geht in seinem Aufsatz „Ornothophilia“, der die Liebe zu Vögeln mit „topophilia“, einer Liebe zu einem Ort verbindet, noch einen Schritt weiter. Er nimmt an, dass die Beobachtung von Vögeln nicht nur ein ästhetisches, sondern ein körperliches Erleben auslöst und es zu einer Verschmelzung von „human-as-birder“ und „landscape-with-birds“ kommt 80. Diese Verschmelzung beschreibt Bonta als „the three-way enounter of self, bird[s], and landscape“ 81 und lehnt sich damit an die transzendentalistische Triade von Self, Oversoul und Nature an, durch die das Individuum sich selbst sowie eine göttliche Kraft in der Natur entdeckt. Der Vogel ersetzt hier die Oversoul und steht für das Erlebnis des Göttlichen, Transzendenten in der Natur. Vögel, so zitiert Bonta den Birder Dan Koeppl, „show us what nature is“; durch sie gelinge es der Betrachter*in, das Geflecht der Schöpfung zu entwirren, weil er oder sie in der Beobachtung einen Moment mit ihnen fliege.82 Vögel befriedigen damit die Sehnsucht nach dem Einswerden mit der Natur in dem Sinne, dass das beobachtende Ich sich selbst und eine universelle Kraft in der Natur erkennt. Wie der Beitrag gezeigt hat, erzählt das zeitgenössische Birding mehr über den Birder und die Bedeutung, welche das Birding für die heutige Gesellschaft und Gruppierungen in ihr hat, als über Vögel selbst. Immer mehr Menschen beobachten immer weniger werdende Vögel. Das eigentliche Beobachten von Vögeln erscheint oft sekundär und wird zum Vehikel für Partizipation, Umweltethik oder eine Geisteshaltung oder einen bestimmten Lebensstil, mit welchem der Beobachter von Vögeln sich von anderen Menschen absetzt. Hierbei schwingt jedoch auch die Sehnsucht mit, einer schwindenden oder doch zumindest als prekär wahrgenommenen Natur für einige Momente habhaft zu werden und das eigene städtische Dasein zu transzendieren. Während im Urban Birding die alte Dichotomie von Wildnis und Zivilisation, welche die Stadt bisher von der Natur unterschieden hatte, zunächst hinfällig wird, kommt es doch auch zu einer Aktualisierung romantischer Konzepte. Zwar ist die Natur nun Teil der Stadt, aber sie bleibt dennoch ein Gegen- und Sehnsuchtsort zum geschäftigen urbanen Leben. Der Vogel evoziert Natur und wird in den behandelten Beispielen als Quelle der Regeneration, Inspiration und Imagination verstanden, weil er sich dem rein rationalen und utilitaristischen Begreifen entzieht. Stattdessen steht der Vogel als Teil der Zivilisation/Stadt für das Wilde und Ungezähmte, das den Betrachter an die Möglichkeit von Freiheit und Transzendenz erinnert. Der Vogel appelliert an die Sinne und erlaubt somit dem passionierten Birder, die umgebende Welt mit neuen Augen zu sehen und sich anzueignen. Mit Novalis gesprochen ist dies ein romantischer Impuls, der gewohnten und bewohnten Welt durch die Beobachtung von Vögeln einen neuen Zauber zu geben und das Alltägliche zu transzendieren. 80 Lindo: How to be, S. 149. 81 Lindo: How to be, S. 150. 82 Bonta, Mark: Ornithophilia: Thoughts on Geography in Birding, in: The Geographical Review 100/2 (2010), S. 139 – 151.

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Ästhetisierung des städtischen Raums

Adria Daraban

Das Modell des Fragmentarischen. Erfahrungen der Moderne in der Architektur

In künstlerischen, philosophischen und literarischen Diskursen wird das Fragment verhandelt als ein ästhetischer Begriff, der den Aufbruch zu einer modernen Ästhetik signalisiert.1 Er markiert die Abkehr von der Vorstellung einer mimetischen Repräsentation der Natur im Werk.2 Den Kern dieser Neuerung bildet Friedrich Schlegels (1772 – 1889) in den „Athenäums-Fragmenten“ 3 festgehaltene Theorie des Fragments, die er nicht nur darlegt, sondern in seinen Texten auch umsetzt. Es ist eine offene Theorie, die in Form von Essays, Notizen und Aphorismen überliefert wurde. Sie bildete den Anfang einer völlig neuen „Vorstellung von der Produktion und Rezeption verbaler Kunstwerke […] – eine Vorstellung, die für […] das Idiom der Moderne ganz entscheidend war.“ 4 Dem deutschen Philosophen Rüdiger Bubner zufolge dürfe man ohne Umschweife behaupten, dass die konzeptuellen Grundlinien der Moderne am Ausgang des 18. Jahrhunderts in brillanter Klarheit und ohne die übliche Verschwommenheit formuliert worden sind. Hier erwächst mit einem Schlage eine ganz neue Kunstauffassung 5,

und der „gemeinsame Nenner“ der verschiedenen Formen dieser neuen Kunstauffassung bestehe, so Bubner weiter, „im Verzicht auf die herkömmliche Werkform“. Mit der „herkömmlichen Werkform“ verweist Bubner auf die griechische – und 1 Fetscher, Justus: Fragment, in: Barck, Karlheinz/Fontius, Martin/Schlenstedt, Dieter/Steinwachs, Burkhart/Wolfzette, Friedrich (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 2010, S. 551 – 588. 2 Rüdiger Bubner schreibt in seinen „Gedanken über das Fragment“: „Mit dem Ende der Mimesiskonzeption bricht das Ende der werkorientierten Produktion an. […] Wo die althergebrachte Bezugnahme der Kunst aufs Werk abbricht, beginnt die Karriere des Fragments als bevorzugte Ausdrucksform.“ In Bubner, Rüdiger: Gedanken über das Fragment. Anaximander, Schlegel und die Moderne, in: Merkur 47/4 (1993), S. 290 – 299, hier S. 296. 3 Athenaeum ist der Titel der Zeitschrift, die von den Brüdern August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel herausgegeben und in Berlin gedruckt wurde. Zwischen 1798 und 1800 erschienen insgesamt sechs Hefte. Dieses Medium bildete das zentrale literarische Organ der Frühromantik in Jena. 4 Chaouli, Michel: Das Laboratorium der Poesie: Chemie und Poetik bei Friedrich Schlegel, Paderborn 2004, S. 11. 5 Bubner: Gedanken, S. 295.

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| Adria Daraban mit Beginn der Renaissance in der Neuzeit wieder aufgenommene – Kunstauffassung, die als Ziel „aller kunstvollen Tätigkeiten das Hervorbringen eines Werks, das heißt die Produktion eines Resultats, das in sich abgeschlossen und, weil vollendet, keiner weiteren Zutat, keiner fortgesetzten Aktivität mehr bedürftig ist.“ 6 Die werkorientierte Produktion wird also ins Wanken gebracht von einer fragmentarischen Werkform, die sich in offenen, unbestimmten und wandlungsfähigen Prozessen kontinuierlich konstituiert. Im Zuge seiner Genese verändern sich Funktion und Form des Fragmentbegriffs von einem kulturkritischen, zeitdiagnostischen Instrument hin zu einer eigenständigen Kategorie, die in ihrer Funktion über die Negation der Totalität und auch über die verdeckte Repräsentation einer Totalität hinausreicht und zur Affirmation des Offenen, Instabilen und Ambiguen als Qualitäten eines kontingenten Werkbegriffs führt. Im 20. Jahrhundert unterscheiden Vertreter*innen der Philosophie, Kunstgeschichte und Literatur wie Maurice Blanchot, Phillipe Lacoue-Labarthe oder Jean-Luc Nancy 7 zwischen zwei konsekutiven Arten des Fragments, in denen sich zwei Auffassungen von Kunst artikulieren: Auf der einen Seite steht das Fragment als das Bruchstück, die Scherbe, das Verfallene – Kategorien, die sich aus dem Rapport zu einer Totalität definieren. Auf der anderen Seite steht jenes Fragment, dem ein Ereignischarakter zukommt.8 Das Ereignis liegt im Akt des (Unter-)brechens oder Teilens, oder – mit Maurice Blanchot – in der Entwerkung (désoeuvrement).9 Das Fragment entspricht der „Suche nach einer neuen Form der Vollendung, die das Ganze mobilisiert – beweglich macht –, indem sie es durch die unterschied­ lichen Arten der Unterbrechung fragmentiert.“ 10 In dieser Perspektive „schließt die Forderung des Fragmentarischen die Totalität nicht aus, sondern geht über sie hinaus.“ 11 Die Kraft des Fragmentarischen liegt für Jean-Luc Nancy jetzt nicht mehr im „erschöpfenden Kampf des Kleinen gegen das Große, um selbst das Große zu sein“. Vielmehr ist sie im Ereignis der Fragmentierung zu finden, in der Unterbrechung, 6 Bubner: Gedanken, S. 295 f. 7 Phillipe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy besprechen in ihrem Essay „Noli me frangere“ den Versuch, den Maurice Blanchot unternimmt, um das Fragment von der „Dialektik des Fragments am Werk zu befreien“: Lacoue-Labarthe, Phillipe/Nancy, Jean-Luc: Noli me frangere, in: Dällenbach, Lucien/Hart Nibbrig/Lucas, Christiaan (Hg.): Fragment und Totalität, Frankfurt am Main 1984, S. 64 – 76; des Weiteren, bezugnehmend auf frühromantische Konzepte, auch in Lacoue-Labarthe, Phillipe/Nancy, Jean-Luc: Das Literarisch Absolute. Texte und Theorie der Jenaer Frühromantik, Wien 2016. 8 Jean-Luc Nancy: Die Kunst, Fragment, in: Naharaim 6/2 (2012), S. 286 – 307, hier S. 286 – 287. 9 Phillipe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy erklären die Herleitung des Begriffs bei Blanchot. Lacoue-Labarthe/Nancy: Das Literarisch Absolute, S. 104. 10 Blanchot, Maurice: Das Athenäum, in: Bohn, Volker (Hg.): Romantik. Literatur und Philosophie. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt am Main 1987, S. 107 – 120, hier S. 109. 11 Lacoue-Labarthe/Nancy: Das Literarisch Absolute, S. 119.

Das Modell des Fragmentarischen |

in der Teilung oder in der „Unendlichkeit einer Ankunft“ in einer Gegenwart, in der die Welt durch Sinn und Subjekt und nicht durch das Absolute bestimmt wird.12 Der vorliegende Beitrag nimmt dieses Moment als Ausgangspunkt. Indem das Fragment einen Ereignischarakter entwickelt, wendet sich seine Wirkungssphäre zunehmend von einer bildlich kontemplativen Reflexion über das Verhältnis ­zwischen Fragment und Ganzem hin zu einer dynamischen Erfahrung der Fragmentierung. Für den architektonischen Diskurs bedeutet diese Wende, dass sich die Kategorie des Fragmentarischen von einer Ausdrucksform hin zum Ausdruck einer offenen und instabilen (dynamischen) architektonischen Ordnung bewegt und dadurch eigene architekturspezifische Merkmale entwickelt. Diese These setzt voraus, dass auch ein Teil des modernen Architekturdiskurses, statt nach Gesetzmäßigkeiten des Universellen zu operieren, sich auf Werkbegriffe konzentriert, in denen Forderungen nach Abgeschlossenheit, Totalität und Unversehrtheit architektonischer Werke zugunsten eines neuen, ungleich komplexeren Werkverständnisses aufgegeben werden, welches ganz im Zeichen einer Verbindung von Zeit und Fragment steht. Diese Erscheinungsformen des Phänomens verweisen auf einen architekturspezifischen Fragmentbegriff, der sich von seinem bildhaften, evokativen Charakter zunehmend emanzipiert, hin zu einer bestimmten Qualität von Raumordnungen. Eine besondere Interpretation und Umsetzung des Fragments als Phänomen findet sich im Werk des deutschen Architekten Hans Scharoun (1893 – 1972). ­Scharoun, der Raum als Bewusstseinsform definiert, entwickelte in seiner langjährigen Laufbahn eine eigene Position im Diskurs des Fragmentarischen in der Architektur. Er argumentierte für die Idee eines individuell konstituierbaren Raumes, der erst durch den Subjekt-Objekt-Bezug entsteht. Scharouns Architektur, die auf den ersten Blick aus disparaten Raumelementen, ambiguen Verbindungen, brüchigen Übergängen und Lücken besteht, will vor diesem Hintergrund als ein Stimulans oder eine Aufforderung zum interpretativen Akt des Gebrauchs als raumgenerierende Handlung gelesen werden. Kant hat den Raum, der keine außer uns und unabhängig von uns bestehende Dinglichkeit sei, als Bewußtseinsform determiniert. Form des Bewußtseins setzt das Besondere, Unterscheidbare, Vergleichbare voraus oder, anders ausgedrückt, [es] wandelt sich der Subjekt-Objekt Bezug, wie Ich und Inhalt sich wandeln oder untereinander verschieden sind. Wissen wir um diese und um deren wirksame Bezüge, so können wir uns das Wesenstümliche anschaulich vorstellen und Tendenzen wirksam werden lassen.13 12 Nancy: Die Kunst, S. 289. 13 Scharoun, Hans: Erläuterungsbericht zu der Volksschule in Darmstadt von 1951, in: P ­ fankuch, Peter (Hg.): Hans Scharoun. Bauten, Entwürfe, Texte, Schriftreihe der Akademie der Künste, Bd. 10, Berlin 1993, S. 193.

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| Adria Daraban 1. Der Begriff des Fragmentarischen in der Architektur Als wiederkehrender Topos im Architekturdiskurs hinterfragt das Fragment in seiner traditionellen Funktion legitimierte Totalitätskategorien und Autoritätsformeln. In dieser Funktion begleitet das Denkmodell des Fragmentarischen universalis­ tische Diskurse der Moderne und verhält sich reflexiv, kritisch und ergänzend dazu. Dabei entfaltet das Architekturpanorama diverse Erscheinungsformen des Fragmentarischen, die allesamt die Tragweite des traditionellen Begriffs des Werkganzen verhandeln. In seinem Aufsatz „The Nature of the Modern Fragment and the Sense of Wholeness“ 14 beschreibt Dalibor Vesely die Entwicklung des Fragmentbegriffs in der Architektur ausgehend von seiner symbolischen Funktion bis hin zu seiner modernen Deutung als eigenständige Kategorie in der Ästhetik der Moderne. Der symbolische Gehalt des Fragments lässt sich nach Vesely sowohl im Motiv der mittelalterlichen spoglia als auch im Typus der Kuriositätenkabinette in der Spätrenaissance oder in der vor allem im 18. Jahrhundert gefeierten Erscheinung der künstlichen Ruine erkennen. All diesen Phänomenen gemeinsam sei die Referentialität zu dem jeweiligen ursprünglichen Kontext, dem diese Fragmente entspringen. Für Vesely sind diese verweisenden Fragmente angemessener als Elemente oder Teile eines Ganzen zu beschreiben. Denn, so Vesely, unsere moderne Auffassung der Fragmente als isolierte Elemente, die beliebig kombiniert werden können, hat ihren Ursprung im 18. Jahrhundert, wenn die Elemente zum ersten Mal als wirkliche Fragmente, die ihren eigenen Kontext generieren können, behandelt wurden.15

Explizit verweist er hier auf die künstlichen Ruinen und die fabriques als Elemente in der Gestaltung der Landschaftsgärten des 18. Jahrhunderts. 2. Konstruierte Ruinenlandschaften Die Auseinandersetzung mit Ruinen und deren Neuwertung als ästhetische Kategorie sind moderne Phänomene, die, so Hartmut Böhme in seiner Abhandlung zur Ästhetik der Ruine 16, ihren Ursprung in der Renaissance haben. 14 Dalibor, Vesely: The Nature of the Modern Fragment and the Sense of Wholeness, in: ­Bergdoll, Barry/Oechslin, Werner (Hg.): Fragments. Architecture and the Unfinished, New York 2006, S. 43 – 56, hier S. 43. 15 Vesely: Nature, S. 43. (Eigene Übersetzung, Hervorhebungen A. D.). 16 Böhme, Hartmut: Die Ästhetik der Ruinen, in: Kamper, Dietmar/Wulf, Christoph (Hg.): Der Schein des Schönen, Göttingen 989, S. 287 – 304.

Das Modell des Fragmentarischen |

Von sich aus jedoch bedeuten Ruinen nichts. Sie mußten vor etwa 700 Jahren – als solche erst entdeckt, ihr Begriff entwickelt, ihre Ästhetik kodifiziert werden. Die katastro­phale oder langsame, anthropogene oder natürliche De-Architekturierung, die dem ästhetischen Bewußtsein der Ruine vorausgeht, heißt vor allem, daß der funktionale oder repräsentative Sinn intakter Bauwerke aus diesen ausgezogen ist. Ruinen werden damit zu freien Schauplätzen neuer signifikatorischer Akte. Erst in Gesellschaften, in denen zerfallene Gebäude in Differenz zu ihrem vormaligen Verwendungssinn semantisch neu besetzt werden, kann man von einer Ästhetik der Ruine sprechen.17

Noch mehr als nur des Verlusts des ursprünglichen Verwendungssinns bedürfe es „bestimmter historischer und kultureller Rahmenbedingungen“, um das Interesse an einer Kodifizierung der Ruine als ästhetische Kategorie hervorzubringen, postulieren die Herausgeber des Sammelbandes „Ruinenbilder“ 18, Aleida Assmann, Monika Gomille und Gabriele Rippl. Denn Ruinen entstünden „durch Traditionsbruch; sie sind eine Folge der Modernisierung […]“ 19, weshalb „die Wahrnehmung von Ruinen viel mit der Veränderung von Zeiterfahrung zu tun hat.“ 20 Die Ruine ist weniger als das, was sie als intakter Bau war, und sie trägt zugleich ein Surplus an Bedeutung in sich. Ihren Sinngehalt gewinnt sie aus der Oszillation zwischen Aufbau und Verfall, Vergangenheit und Gegenwart, Natur und Kultur, Erinnerung und Präsenz. Diese Oszillation erhebt sie in den Status eines Kunstobjektes. Mit diesem oszillierenden Charakter avanciert die Ruine zu einem modernen Symbol für den Zerfall der Ideologien, wie Norbert Bolz und Willem van Reijen in dem von ihnen edierten Band „Ruinen des Denkens – Denken in Ruinen“ 21 konstatieren: […] die Sympathie für die Ruine [rührt] aus dem Unbehagen an von Menschen gestifteten Totalitäten. […] Man zieht das Bruchstück dem Ganzen, das Fragment dem System und den Torso der vollendeten Skulptur vor.22

Im 18. Jahrhundert erhält die künstliche Ruine eine zentrale Rolle in den Inszenierungen des neuen Gartentypus des Landschaftsgartens. Dies geschah vor dem Hintergrund des Naturenthusiasmus und der Entwicklung der Landschaft als eines der wesentlichen kulturellen Topoi in der romantischen Bewegung. Der 17 Böhme: Ästhetik, S. 287. 18 Assmann, Aleida/Gomille, Monika/Rippl, Gabriele: Einleitung, in: dies. (Hg.): ­Ruinenbilder, Paderborn 2002, S. 7 – 14, hier S. 8. 19 Assmann/Gomille/Rippl: Einleitung, S. 7. 20 Assmann/Gomille/Rippl: Einleitung, S. 7. 21 Bolz, Norbert: Einleitung. Die Moderne als Ruine, in: Bolz, Norbert/Reijen, Willem van (Hg.): Ruinen des Denkens – Denken in Ruinen, Frankfurt am Main 1996, S. 7 – 23. 22 Bolz: Die Moderne, S. 9.

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Abb. 1 Louis Carmontelle und Thomas Blaikie: Paris, Park Monceau, 1779, 46 × 28 cm. Quelle: Buttlar, Adrian von: Der Landschaftsgarten, Köln, 1989 S. 111, Abb. 61.

Landschaftsgarten ist zu verstehen als ein „radikaler Bruch in der Geschichte der Gartenkunst, jene ‚Gartenrevolution‘, die kaum noch als Erneuerung zu bezeichnen ist, die vielmehr zur Begründung und Ausarbeitung einer neuen Kunstform führte […]“ 23 – so beschreibt der Historiker Hans von Trotha das Aufkommen des Landschaftsgartens. Dies ist im Zusammenhang mit der Wirkungsästhetik des 18. Jahrhunderts zu sehen. Dem Garten als Bühne oder als Bild in der barocken Gartenkunst folgt nun der Landschaftsgarten – ein Garten der Emotionen und sinnlichen Empfindungen. Diese pseudonatürlichen Landschaften“ seien nichts anderes als „kalkulierte Kunstlandschaften zum Zweck der Unterhaltung des Parkbesuchers. […] Die Grammatik des Landschaftsgartens war in der Folge Grammatik des Erhabenen, Grammatik einer Wirkungsästhetik des angenehmen Schauers […] – in eben dem Sinn, in dem Burke das Schöne als Kehrseite des Erhabenen definiert hatte.24

Um bei dem Betrachter unterschiedlichste Empfindungen hervorzurufen, arbeiteten die Erfinder dieser Landschaften mit Strategien des Verbergens und Erscheinens oder der Überraschung, setzten optische Täuschungen und Kontraste ein. 23 Trotha, Hans von: Angenehme Empfindungen. Medien einer populären Wirkungsästhetik im 18. Jahrhundert vom Landschaftsgarten bis zum Schauerroman, München 1999, S. 92. 24 Trotha: Empfindungen, S. 95.

Das Modell des Fragmentarischen |

Abb. 2 Louis Carmontelle und Thomas Blaikie: Paris, Park Monceau, 1779, 46 × 28 cm. Quelle: Buttlar, Adrian von: Der Landschaftsgarten, Köln, 1989 S. 111 Abb. 62.

Grundlegend wurden diese Szenerien als eine phantasiereiche Ansammlung künstlicher Ruinen gestaltet. All diese Szenenfolgen wurden auf einem komplexen Wegenetz installiert, dessen Ziel es war, dem Spaziergänger eine endlose Vielfalt an Optionen anzubieten (Abb. 1 und Abb. 2). Der Kieler Philosoph Christian Cay Lorenz von Hirschfeld notiert in seiner fünfbändigen „Theorie der Gartenkunst“, die zwischen 1779 und 1785 in Leipzig erschienen ist: Ruinen als Werke der Nachahmung in Garten betrachtet, haben bey dem ersten Anblick so viel Auffallendes, daß man sich mit Recht darüber verwundern zu dürfen scheint, wie man sie mit Bedacht anlegen kann. Es scheint ein Eingriff in die Vorrechte der Zeit zu seyn […]. Vornehmlich aber sind es die Wirkungen der Ruinen, die ihre Nachahmung nicht allein rechtfertigen, sondern selbst empfehlen. Zurückerinnerung an die vergangenen Zeiten und ein gewisses mit Melancholie vermischtes Gefühl des Bedauerns, sind die allgemeinen Wirkungen der Ruinen.25

Diese Inszenierung melancholischer Stimmungen beschreibt Hartmut Böhme als „Kunst der Objektivierung von Stimmungen“; in der Ruinenarchitektur erscheine diese als „eine ästhetische Konstruktion der Melancholie“.26 So symbolisiere die 25 Trotha: Empfindungen, S. 110. 26 Böhme, Hartmut: Natur und Subjekt, hier der Abschnitt: Ruinen – Landschaften. Zum Verhältnis von Naturgeschichte und Allegorie in den späten Filmen von Andrej Tarkowskij,

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| Adria Daraban Ruine in der Romantik nicht mehr den Diskurs, sondern den durch die Aufklärung markierten Zerfall der großen Diskurse: Die Bilderschrift der Ruinen wurde, so scheint es, bis zur Romantik immer dechiffriert als enigmatisches Zeichen eines Sinns, der in den Ruinen erscheint und diese zugleich überschreitet. Dieser Sinn ließ sich theologisch, machttheoretisch, geschichtsphilosophisch oder naturgeschichtlich rekonstruieren. Seit der Romantik zerfallen dagegen die Diskurse, die den Ruinen Sinn verliehen. Damit entsteht eine Tendenz zur Universalisierung des Ruinenemblems, das nichts mehr jenseits seiner selbst bedeutet. Die Unheimlichkeit eines enigmatisch anwesenden Sinns wechselt in die Unheimlichkeit von dessen Verschwinden. Nicht länger haben die Ruinen einen Ort im Diskurs, sondern sie werden zum Zeichen des Diskurses selbst […].27

3. Ruinen aus der Vergangenheit. Fragmente aus der Zukunft Wir ahnen voraus die Verheerungen der Zeit und unsere Vorstellung verstreut auf der Erde die Gebäude, die wir selbst bewohnen. […] Die Ideen, die Ruinen in mir wecken, sind groß. Alles wird zunichte gemacht, alles verfällt, alles vergeht. Allein die Erde bleibt noch übrig. Allein die Zeit dauert an. Wie die Welt doch alt ist!28

Dies konstatiert Denis Diderot beim Betrachten der Ruinenbilder von Hubert Robert in den Salons von 1796. Der französische Maler und Landschaftsgärtner spielte das Spiel der Imagination in die entgegengesetzte Richtung: Er fertigte im Rahmen des Projekts für die Umgestaltung der Grande Galerie des Louvre zwei Gemälde, den eigenen Entwurf des Umbaus und die neue Grande Galerie als spätere Ruine (Abb. 3 und Abb. 4). Mit dieser genialen Strategie der Vorwegnahme des Verfalls stellt Hubert Robert seinen Entwurf visionär neben die antiken Vorbilder und verleiht ihnen auf diese Weise den Zauber der Zeitlosigkeit und die Würde des Monumentalen. Robert lieferte eine weitere raffinierte Umschreibung der Zukunft eines Bauwerks in seiner Form als Ruine mit dem 1762 im Garten von Ermenonville errichteten „Tempel der modernen Philosophie“ (Abb. 5). Das Bauwerk befindet sich in einem Zustand der Unvollendung: eine Baustelle, die vom Verfall eingeholt wird. https://www.hartmutboehme.de/static/archiv/volltexte/texte/natsub/ruinen.html, (zuletzt aufgerufen am 10. Januar 2020). 27 Böhme: Ästhetik, S. 287. 28 Diderot, Denis: Ästhetische Schriften, hg. v. Friedrich Bassenge, Bd. 2, Frankfurt am Main 1967, S. 150 und ders.: Philosophische Schriften, hg. v. Theodor Lücke, Bd. 1, Frankfurt am Main 1967, S. 186.

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Abb. 3 Hubert Robert: Entwurf für die Umgestaltung der Grande Galerie des Louvre, 1796, Paris, Musée du Louvre, 112 × 143 cm. Quelle: Hofmann, Werner: Une époque en rupture: 1750 – 1830, deutsche Übersetzung Miguel Couffon, Paris, 1995, S. 714.

Das Bauwerk ist eine verkleinerte Nachbildung des Tempels der Tiburtinischen Sibylle in Tivoli, also eine als Baustelle vom Verfall überraschte Réplique. Dabei wird die wahrsagerische Fähigkeit der Göttin durch die Macht der Philosophie in den Inschriften repräsentiert, die Hubert Robert den – aus seiner Sicht – bedeutendsten Gelehrten widmet: Newton, Descartes, Voltaire, Penn, Montesquieu und Rousseau. Zwei Säulenschäfte, Franklin und Buffon gewidmet, liegen noch vor dem Tempel und scheinen darauf zu warten, aufgerichtet zu werden. Die Dimension der Zeit wirkt hier in drei Weisen: in der Wiederholung, in der Nicht-Vollendung und in dem Verfall. Das Motiv des ‚Nicht-mehr-Vollendeten‘ steht so dem Motiv des ‚Noch-nicht-Vollendeten‘ entgegen. Die Vision einer Zukunft im Verfall impliziert nicht nur Zeitlichkeit in der Architektur, auch die Linearität der Zeit selbst wird infrage gestellt. Es ist das frühromantische Motiv Friedrich Schlegels der „Fragmente aus der Zukunft“ und der „Fragmente aus der Vergangenheit“ kennt, die zwar richtungsverschieden, aber ästhetisch gleichrangig sind. Im 24. Athenäums-Fragment heißt es: „Viele Werke

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Abb. 4 Hubert Robert: Imaginäre Ansicht der Grande Galerie des Louvre als Ruine, 1796, Paris, Musée du Louvre, 112 × 143 cm. Quelle: Hofmann, Werner: Une époque rupture: 1750 – 1830, deutsche Übersetzung Miguel Couffon, Paris, 1995, S. 714.

der Alten sind Fragmente geworden. Viele der Neueren sind es gleich bei der Entstehung.“ 29 Das Bild des Zerfallenen, des ‚Nicht-mehr-Vollendeten‘ wird so mit der Positivität des ‚Noch-nicht-Vollendeten‘ überlagert. Die immanente Differenz zwischen den Begriffen Fragment und Ruine kommt dadurch erstmals bei Friedrich Schlegel explizit zum Ausdruck. Er bestimmt Ruinen als zerbrochene Objekte und Fragmente dagegen als unvollendete Projekte.30 29 Schlegel, Friedrich: Athenäums-Fragmente und andere Schriften, Auswahl und Nachwort v. Huyssen, Andreas, Stuttgart 2010, Fragment 24, S. 74. 30 „Ein Projekt ist der subjektive Keim eines werdenden Objekts. Ein vollkommenes Projekt müßte zugleich ganz subjektiv, und ganz objektiv, ein unteilbares und lebendiges Individuum sein. Seinem Ursprunge nach, ganz subjektiv, original, nur grade in diesem Geiste möglich; seinem Charakter nach ganz objektiv, physisch und moralisch notwendig. Der Sinn für Projekte, die man Fragmente aus der Zukunft nennen könnte, ist von dem Sinn für Fragmente aus der Vergangenheit nur durch die Richtung verschieden, die bei ihm progressiv, bei jenem aber regressiv ist. Das Wesentliche ist die Fähigkeit, Gegenstände unmittelbar

Das Modell des Fragmentarischen | Abb. 5 René Louis de Girardin und Hubert Robert: Tempel der modernen Philosophie, Garten von Ermenonville, ca. 1762. Quelle: Adria Daraban, 2014.

Diese Unterscheidung beruht zunächst auf einer zeitlichen Dimension. Zugleich werden die Fragmente – im Unterschied zu den Ruinen als historische Artefakte – als unvollendete Projekte positiv aufgeladen.31 Das Fragment entfernt sich dadurch von dem Status eines auf eine verlorene Ganzheit verweisenden Elements. Es wird zu einer autarken ästhetischen Kategorie, die sich von der Semantik der zerstörten Form zunehmend emanzipiert.

zugleich zu idealisieren, und zu realisieren, zu ergänzen, und teilweise in sich auszuführen. Da nun transzendental eben das ist, was auf die Verbindung oder Trennung des Idealen und des Realen Bezug hat; so könnte man wohl sagen, der Sinn für Fragmente und Projekte sei der transzendentale Bestandteil des historischen Geistes“ (Schlegel, F ­ riedrich: AthenäumsFragmente und andere Schriften, Auswahl und Nachwort v. Huyssen, Andreas, Stuttgart 2010, Fragment 22, S. 74). 31 „Ruinen wurden von Schlegel eher negativ als Zeichen für die zerfallene Vergangenheit gelesen, während er Fragmente als Stimulanzien der kreativen Einbildungskraft positiv aufgefaßt hat“ (Assman/Gomille/Rippl: Einleitung, S. 9 f).

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| Adria Daraban 4. Affizierungspotenziale. Die Fortsetzung eines Werkes durch die Involvierung des Betrachters. Die Vergegenwärtigung nichtsprachlicher Gehalte der Kunstwerke So wie die Ruinenbilder Hubert Roberts bei Diderot das elegisch-melancholische Bewusstsein der eigenen und gesamtmenschlichen Vergänglichkeit hervorriefen, so lädt auch der „Torso von Belvedere“ 32 über die Jahrhunderte dazu ein, seinen Sinn zu dechiffrieren. Im Fokus steht das enigmatische Zeichen eines Sinns, die „Bilderschrift der Ruinen“, die „in den Ruinen erscheint und diese zugleich überschreitet.“ 33 Diese Dechiffrierung, zu der die Torsi und Ruinen inspirieren, vollzieht sich als Transfer in verschiedensten Diskursen: unter anderem literarisch, theologisch oder geschichtsphilosophisch. Den Bruchstücken, Torsi und Ruinen sind empathische Gehalte eingeschrieben, die „sichtbar gemacht werden“ wollen. In seiner Abhandlung „Rilkes Archaischer Torso Apollos in der Geschichte des modernen Fragmentarismus“ 34 spricht Peter Horst Neumann in diesem Zusammenhang von einer „verbalen Vergegenwärtigung nichtsprachlicher Kunstwerke“ 35 und kann damit nichts anderes meinen als den Transfer der empathischen und resonanten Gehalte von Kunstwerken in eine andere künstlerische Sprache: „Musik interpretiert Gedichte, Bilder illustrieren Erzählungen, Gedichte protokollieren Eindrücke, die von Werken der bildenden Kunst ihren Ausgang nahmen.“ 36 Diese verbale Vergegenwärtigung bestehe nicht nur in der Rezeption und in der Transkription dieser Gehalte. Das Empfangen dieser unsichtbaren Botschaften impliziere auch ein Weitersenden. Um die Richtigkeit seiner Überlegungen zu demonstrieren, analysiert Neumann Rainer Maria Rilkes Sonett Archaischer Torso Apollos 37 von 1908. Neumanns Argumentation fokussiert hier nicht nur die

32 Der Torso wurde vermutlich von dem athenischen Bildhauer Apollonios von Athen geschaffen. Die Datierung schwankt zwischen 200 und 50 v. Chr. Die Statue wurde um 1420 auf einem Grundstück der Colonna gefunden und wurde zwischen 1530 und 1536 in die Sammlung des Vatikanischen Museums aufgenommen. 33 Böhme: Ästhetik, S. 287. 34 Neumann, Peter Horst: Rilkes Archaischer Torso Apollos in der Geschichte des modernen Fragmentarismus, in: Dällenbach, Lucien/Hart, Nibbrig/Lucas, Christiaan (Hg.): Fragment und Totalität, Frankfurt/Main 1984, S. 257 – 274. Dieser Band vereinigt Beiträge zum Begriff des Fragmentarischen in Musik, Literatur und bildender Kunst, S. 257 – 293. 35 Vgl. Neumann: Rilkes Archaischer Torso, S. 257. 36 Neumann: Rilkes Archaischer Torso, S. 257. 37 Rilke, Rainer Maria: Archaïscher Torso Apollos, in: Sämtliche Werke. Erster Band, Frankfurt am Main 1955, S. 557.

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Leistung der Interpretation selbst, sondern vor allem das Objekt dieses Vorgangs und seine Transformation durch die Interpretation seines Gehaltes: Aber nicht irgendein Bildwerk ist hier zum Objekt einer Beschreibung, einer Auslegung, einer Reflexion von Betroffenheit geworden, sondern ein Fragment. Die Pointe des Gedichtes liegt in der Art, wie es uns dieses Fragment präsentiert: als ein Ding von so überwältigender Vollkommenheit, dass dabei nicht nur dessen Torso-Qualität in Vergessenheit gerät, sondern sogar sein Kunstcharakter gegenstandslos zu werden scheint.38

Neumanns Argumentation aktiviert Johann Joachim Winckelmanns 39 berühmte Klage von 1759, einen Gründungstext der klassizistischen Ästhetik und zugleich des „neueren Fragmentarismus“. Winckelmanns Postulat und Rilkes Evokationen gemeinsam sei der Versuch, den Moment der Affizierung durch die Kunst zu beschreiben, wenn auch mit unterschiedlichen Intentionen. Winckelmann versuche ein Fragment „verbal zu rekonstruieren“, zu vervollständigen. [U]nd indem so ein Haupt voll Majestät und Weißheit vor meinen Augen erhebet, so fangen sich an in meinen Gedanken die übrigen mengelhaften Glieder zu bilden: es sammelt sich ein Ausfluß aus dem Gegenwärtigen und wirket gleichsam eine plötzliche Ergänzung.40

Rilkes Intention hingegen sei eine ganz andere: „Nicht die Ergänzung, sondern Verdichtung – die Bruchstellen als Türen, die sich nur einmal geöffnet haben: nach Innen […]. Das Fragment in sich selbst.“ 41

38 39 40 41

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug, der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trug. Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schultern durchsichtigem Sturz und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern. Neumann, 1984, S. 257. Neumann, 1984, S. 266. Winckelmann, Johann Joachim: Beschreibung des Torso von Belvedere zu Rom, 1759, hier aus Neumann: Rilkes Archaischer Torso, S. 267. Neumann: Rilkes Archaischer Torso, S. 267.

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| Adria Daraban Beide Werke nehmen den bruchstückhaften Zustand des Objektes zum Anlass, um ihre Betroffenheit zu thematisieren. Während Winckelmann die Intention als eine idealistische Rekonstruktion identifiziert, liest Rilke aus der Abwesenheit der Glieder die Anwesenheit des Absoluten und formuliert angesichts der Plastik eine überwältigende Erfahrung und den Appell „Du muss Dein Leben ändern“. Eine stärkere Einbindung der Betrachter*in in ein Kunstwerk scheint kaum möglich. „Ein Torso der aufgehört hat, Fragment zu sein, weist auf das Lebens-Fragment seines Betrachters.“ 42 Damit entfernt sich das Fragment von dem bruchstückhaften Objekt (Torso oder Ruine) und wird zu einem Ereignis oder Vorgang der Affizierung des Betrachters durch das fragmentarische Werk. Dieser Moment, in dem die Eigenschaften und Qualitäten eines Werkes zugunsten seiner Wirkung fast in Vergessenheit geraten, markiert eine Wende im Fragmentdiskurs. Das Fragment wird ersetzt durch eine vom Autor und Betrachter gleichermaßen abhängige Erfahrung der Fragmentierung. Diese fragmentarische Werkform setzt einen offenen, unbestimmten und unabgeschlossenen Prozess der Entstehung voraus. 5. Romantik und Moderne Diese die Romantik kennzeichnende Auseinandersetzung mit den empathischen Gehalten eines Werkes und mit der Vergegenwärtigung und Sichtbarmachung dieser Gehalte ist für Charles Baudelaire das Sinnbild der Moderne. Er schrieb bereits 1846, zu einer Zeit, als die romantische Bewegung als restaurative und rückwärtsgewandte Denkrichtung, weltflüchtige und anachronistische Position abgelehnt wurde, „[w]er Romantik sagt, sagt moderne Kunst“ 43. Die Kraft des romantischen Gedankens lag für Baudelaire in der „Art des Empfindens“ und nicht in historisierenden Gegenständen – so seine Kritik an den Romantikern und ihrer Vorliebe für das Mittelalter, denn „sie haben außer sich gesucht, was nur in ihnen zu finden war.“ 44 Baudelaires Begriff modernité und seine Definition von moderner Kunst wurde mit dem Essay „Le Peintre de la vie moderne“ eingeführt, das von November bis Dezember 1963 in drei Teilen im Pariser Figaro erschienen ist.45 Diese Schrift ist ein Manifest für einen ganz neuen, unakademischen Begriff der Schönheit und 42 Neumann: Rilkes Archaischer Torso, S. 271. 43 Baudelaire, Charles: Was ist Romantik?, in: Kemp, Friedhelm/Pichois, Claude (Hg.) in Zusammenarbeit mit Dorst, Wolfgang: Sämtliche Werke/Briefe, München/Graz 1977, S. 198. 44 Baudelaire: Was ist Romantik?, S. 198. 45 Charles Baudelaire: Der Maler des modernen Lebens, in: ders.: Werke in deutscher Ausgabe, Bd. 4, Bruns, Max (Hg.), Minden 1906, S. 265 – 326.

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der Moderne, mit einem Plädoyer für das Moderne nicht nur als eine Eigenschaft des Kunstwerks, sondern auch als ein neuer „Gegenstand künstlerischen Bemühens“ 46. Baudelaires Begriffsverständnis und seine Vorstellung der Aufgabe des modernen Künstlers korreliert exakt mit dem Spannungsfeld zwischen Werk und Auftrag. Der Auftrag der Kunst besteht in diesem Sinne aus dem Einfangen der flüchtigen und kontingenten Neuheit der Gegenwart. Doch „im trivialen Leben, in der täglichen Metamorphose der äußeren Dinge, gibt es eine Bewegung, die vom Künstler die gleiche Auffassung in der Geschwindigkeit verlangt.“ Daraus entsteht ein neuer Typus des Künstlers als „Beobachter, Flaneur, Philosoph“, er ist „der Maler des Augenblicks und all dessen, was dieser an Ewigem suggeriert.“ 47 Um die flüchtigen Bewegungen seiner Zeit einfangen zu können, muss der Beobachter in die Menge eintauchen: Die Menge ist sein Gebiet […] seine Leidenschaft und sein Beruf ist, sich mit der Menge zur vermählen. Für den vollkommenen Flaneur […] ist es ein ungeheurer Genuß, in der Menge zu hausen, im Wogenden, in der Bewegung, im Flüchtigen und Unendlichen. Außerhalb seines Heims zu sein und doch sich überall bei sich daheim zu fühlen; die Welt zu sehn, im Mittelpunkt der Welt zu sein, und der Welt verborgen zu bleiben.48

In der Menge bewegt sich der Flaneur wie „ein nach dem Nicht-Ich unersättliches Ich!“; er ist ein Resonanzkörper für die Menge, die er wie ein „gewaltiges Behältnis mit Elektrizität“ in sich aufnimmt. Ebenso ist er für die Menge wie ein „Spiegel“, ein „mit Bewußtsein versehenes Kaleidoskop“, das „die Mannigfaltigkeit des Lebens und die bewegliche Anmut aller Elemente des Lebens“ in sich aufnimmt und wiedergibt in Bildern, „die lebendiger sind als das Leben selbst, das immer wandelbar und flüchtig ist.“ Dies alles erlebt der Flaneur in den „Landschaften der Stadt, Landschaften aus Stein.“ 49 Den größten Niederschlag findet Baudelaires Konzeption in den Ansätzen Simmels, Benjamins und Krakauers zum Studium der Moderne.50 Die drei Autoren beziehen sich in ihren Analysen auf die politische Instabilität ihrer Zeit, auf den Konsumismus, auf die neuen technischen Entwicklungen in den Bereichen Medien und Transport und artikulieren das Erleben von Diskontinuität, Volatilität 46 Vgl. Frisby, David: Fragmente der Moderne. Georg Simmel – Siegfried Kraukauer – Walter Benjamin, Rheda-Wiedenbrück 1989, S. 22. 47 Baudelaire: Der Maler, S. 277. 48 Baudelaire: Der Maler, S. 280. 49 Baudelaire: Der Maler, S. 280. 50 Vgl. Frisby: Fragmente der Moderne, S. 9 – 10: „Die drei Analysen der Moderne haben – oft unwissentlich – eine Orientierung gemeinsam mit dem, was Baudelaire als Begründer des Begriffs der modernité als „le transitoire, le fugitiv, le contingent“ charakterisierte.“

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| Adria Daraban und Fragmentierung, das für die introspektive Beschreibung der Moderne charakteristisch ist. Im Mittelpunkt ihres Diskurses steht die zeitliche Dimension des Begriffs des Fragmentarischen, eine Argumentation, die Baudelaires Definition der Moderne folgt. Ähnlich wie Baudelaire, für den nur der „Maler des vergehenden Augenblicks“ in der Lage war, die Moderne in all ihren fragmentarischen Momenten – im zeitlichen Sinne als übergangshaft und im räumlichen Sinne als flüchtig – einzufangen, definiert Georg Simmel „[d]as Wesen der Moderne überhaupt“ als Psychologismus, das Erleben und Deuten der Welt gemäß den Reaktionen unseres Inneren und eigentlich als einer Innenwelt, die Auflösung der festen Inhalte in das flüssige Element der Seele, aus der alle Substanz herausgeläutet ist, und deren Formen nur Formen von Bewegungen sind.51

Für Baudelaire und Simmel ist die Moderne eine Form der Erfahrung, ein Komplex von fragmentarischen und widersprüchlichen Momenten, die in unserem inneren Leben verankert sind. In diesem Zusammenhang wird die moderne Kunst als Mittel zur Erfassung und Artikulation dieser Volatilität determiniert, wobei für Simmel nur der Bildhauer Auguste Rodin (1840 – 1917) (Abb. 6) in der Lage ist, dieses Konzept der fragmentarischen Moderne zu verbildlichen. Simmels Bewunderung gründet in Rodins Fähigkeit, in seiner Kunst die „Impression des Übermomentanen, die zeitlose Impression“ 52 einzufangen. Noch mehr: Die wahre Leistung Rodins liege nicht nur in der Darstellung einer bewegten Moderne, „sondern in seiner Auffassung der Kunst als Auflösung der Widersprüche der Moderne.“ 53 Rodin erlöst uns, weil er gerade das vollkommenste Bild dieses in der Leidenschaft der Bewegtheit aufgehenden Lebens zeichnet. […] Indem er uns unser tiefstes Leben noch einmal in der Sphäre der Kunst erleben läßt, erlöst er uns von eben dem, wie wir es in der Sphäre der Wirklichkeit erleben.54

Simmels Definition der Moderne, wie Rodin sie in seinen Arbeiten als „Impression des Übermomentanen“ 55 umgesetzt hat, führt uns zu einem der philosophischen Zentralaspekte der Romantik: die Aufgabe der Darstellung des Undarstellbaren, bzw. die Reflexion darüber. Diese Ästhetik basiert auf der unlösbaren Spannung zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen, wie es schon bei Schlegel heißt: 51 52 53 54 55

Georg Simmel: Philosophische Kultur, Potsdam 31923, S. 188. Simmel: Philosophische Kultur, S. 188. Frisby: Fragmente der Moderne, S. 70. Simmel: Philosophische Kultur, S. 197. Simmel: Philosophische Kultur, S. 188.

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Abb. 6 Auguste Rodin in seinem Atelier, Foto: Jacques-Ernest Bulloz, 1904 – 1905. Quelle: Rodin: Eros und Kreativität, hg. v. Rainer Crone und Siegfried Salzmann, München 1991, S. 52.

„Das [ist] das eigentlich Widersprechende in unserem Ich, dass wir uns zugleich endlich und unendlich fühlen.“ 56 Der Philosoph Manfred Frank verweist auf ein in der Geschichte des ästhetischen Denkens neues Problem, mit dem die frühromantische Ästhetik konfrontiert sei: Der Kunst muß nämlich etwas gelingen, woran die Philosophie scheitert: uns eine Darstellung d[ies]es Unbedingten zu liefern. Das Unbedingte heißt im philosophischen Diskurs dieser Epoche auch das ,Unendliche‘ oder ,das Absolute‘.57

Dargestellt werden soll also das permanente Pendeln zwischen dem Absoluten und dem Relativen, die Unerreichbarkeit des Absoluten, das Unaussprechliche, das Bewegliche, die Verflüssigung alles Festen. Dem modernen Kunstwerk fällt 56 Schlegel, Friedrich, zitiert nach Frank, Manfred: „Romantische Ironie“ als musikalisches Verfahren am Beispiel von Tieck, Brahms, Wagner und Weber, in: Athenäum 13 (2003), S. 163 – 190, hier S. 165. 57 Frank: „Romantische Ironie“, S. 163.

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| Adria Daraban somit seit der Romantik die Aufgabe zu, die Undarstellbarkeit des Absoluten nicht begrifflich, sondern mit eigenen ästhetischen Mitteln zu präsentieren. Im Scheitern der Darstellung des Ganzen gelingt so die Darstellung des Undarstellbaren, wie man „das Höchste […] weil es unaussprechlich ist, nur allegorisch sagen“ 58 kann. Baudelaires Auftrag an die Kunst, die flüchtige Neuheit der Gegenwart einzufangen, ist nicht allzu weit von dem Ziel der romantischen Poesie entfernt, die Undarstellbarkeit als Undarstellbarkeit in sich aufzunehmen und das Unendliche als Ergebnis eines ästhetischen Prozesses ins Werk zu setzen […]. Diese poetische Operation nennt Novalis ‚romantisieren‘ […]. Diese Operation des Romantisierens führt allerdings zu keinem festhaltbaren Besitz, der Funke des Unendlichen ist flüchtig, er blitzt nur auf. Die Allegorie ist für Schlegel der künstlerische Blitzerzeuger. Der Blitz ist die Erscheinungsweise des Unendlichen, es manifestiert sich im Blitz als undarstellbar.59

Auch bei Baudelaire und ebenso bei Simmel ist ein Begriff der Schönheit evident, dem eine Absage an die Schönheit als gegenständliche Vollendung zugrunde liegt. Stattdessen definieren sie Schönheit als transitorisches, flüchtiges Moment. 6. Romantische Architektur. Reflexive Moderne Doch dieses Flüchtige ist nichts Bestimmtes, immer eher Unterminierung des Bestimmten, des Definierten, des Fixierten. Die moderne Schönheit ist die Subversion des Wissens. […] Wenn Friedrich Schlegel in einem seiner berühmtesten Texte von der Unverständlichkeit spricht, dann manifestiert sich in diesem Begriff das ästhetische Programm einer Öffnung der Erfahrung. Das macht bis heute den Stachel der romantischen Ästhetik aus.60

In seinem Vortrag „Romantik und Architektur. Zum Doppelgesicht der Moderne“, gehalten 2002 an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg, stellt der Architekturtheoretiker Ullrich Schwarz fest: „Will man der Romantik als einem architekturgeschichtlichen Phänomen auf die Spur kommen, dann läuft man zunächst ins Leere“.61 Und dennoch, nachdem er detektivisch dem Begriff Romantik in 58 Schlegel, Friedrich: Gespräch über die Poesie (1800), in: ders.:, Friedrich Schlegel. Athenaeums-Fragmente und andere Schriften, hg. v. Huyssen; Andreas, Stuttgart, 2010, S. 189 – 224. 59 Schwarz, Ullrich: Romantik und Architektur. Zum Doppelgesicht der Moderne, Hamburg 2004, S. 15. 60 Schwarz: Romantik, S. 15. 61 Schwarz: Romantik, S. 8.

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­sämtlichen Architekturkompendien nachspürt, schlussfolgert Schwarz, dass romantisches Gedankengut in der Architektur in Form der romantischen Reflexivität zu finden sei. „Geistesgeschichtliche Voraussetzung einer solchen Haltung ist die Abkehr von einer Idealisierung der Antike als überzeitlich gültiges Nachahmungsvorbild und ihre Überführung in ein Objekt der historischen Forschung“ 62, führt Schwarz weiter aus, oder in der „Funktionalisierung der Antike […] für Zwecke der Imagination.“ 63 Die romantisch-reflexiven Tendenzen der Architektur basieren nach Schwarz auf drei Etappen: auf dem Abbau des Vitruvianismus, auf der Gefühlsästhetik des 18. Jahrhunderts und auf der durch Kant „legitimierte[n] subjektive[n] Genialität.“ 64 Die Auseinandersetzung mit der Romantik könne der Architektur dazu verhelfen, sich „aus einer Programmatik der Vollendung und der Perfektion zu lösen und sie im Rahmen einer zeitgenössischen Moderne, einer reflexiven Moderne zu denken“, so Schwarz. Dieser Weg führt von der Geschlossenheit zu einer Akzeptanz des Unabgeschlossenen, des Offenen. So wird der Blick frei für ein Verständnis von Realität, welches das geschichtlich jeweils Bestimmte reflexiv in seine Vorläufigkeit und Begrenztheit zurückstellt und das aus dieser dynamisierenden Aufhebung des Abgeschlossenen und Definierten die Energie des Immer-schon-hinaus-Seins, des Nicht-Identischen, der Differenz gewinnt.65

Schwarz beobachtet diese kunstgeschichtliche Auffassung der Antike spätestens bei Karl Friedrich Schinkel in dessen Referenz auf das antike Vorbild. Dadurch vollziehe sich auch in der Architektur die Wende zu einer reflexiven Moderne: Wird die quasi naturwüchsige Einbettung in die Ströme der Tradition aufgebrochen, erscheinen Traditionen als Produkt spezifischer geschichtlicher Bedingtheiten, wird die Überlieferung vor den Richterstuhl der Vernunft gezerrt, dann werden die Mächte des Herkommens zu einem Gegenstand der rationalen Prüfung und Diskussion. Anders gesagt: Unser Verhältnis zur Tradition wird reflexiv.66

Die latente Präsenz des romantischen Denkmodells in der Architektur bestätigt der Architekturtheoretiker Jörg Gleiter. Auch seine Argumentation rekurriert auf Schinkel: 62 63 64 65 66

Schwarz: Romantik, S. 12. Schwarz: Romantik, S. 12. Vgl. Schwarz: Romantik, S. 13. Schwarz: Romantik, S. 16. Schwarz: Romantik, S. 14.

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| Adria Daraban In der Architektur spricht man aber nicht von einer romantischen Phase. Das liegt in der Architektur selbst begründet. Denn in Gegensatz zu Literatur und Malerei ist die Architektur mehr ein Medium gesellschaftlicher und allgemein-kultureller Phänomene und weniger der Individualität des Autors. Dennoch, ohne romantisch im engeren Sinne zu sein, zeigen sich die Veränderungen in der Kunstauffassung jener Zeit auch im Konzept der Architektur. Es macht gerade die Stellung Schinkels aus, dass er als Architekt die Architektur für den ‚Ausdruck von Ideen‘ und für das ‚Gefühl‘ öffnete, aber weniger im Horizont des Persönlichen und Subjektiven, als vielmehr im Horizont gesellschaftlicher Synthese […]. Mit der Idee nimmt Schinkel ein zentrales Konzept der Romantik auf, das in der Darstellung des Undarstellbaren besteht, was eben nur als Wirkung, Stimmung oder Gefühl erfahren werden kann.67

Gleiter illustriert anhand von zwei Projekten Schinkels, dem Alten Museum (1825 – 1830) in Berlin und den römischen Bädern (1829 – 1840) in Potsdam, dessen Anlehnung an das romantische Prinzip der Metamorphose als Transformationsprozess klassizistischer Vorbilder. Die Metamorphose steht hier für das „Moment der Emanzipation des Menschen von der Überlieferung“, zu dem nur noch ein „reflektiertes Verhältnis“ aufrechterhalten werden kann. Es zeichnet die Romantik aus, dass der Mensch sich zurück in jene Zeit eines nicht entfremdeten Verhältnisses zwischen Mensch und Natur, zwischen Individuum und Gesellschaft sehnt, im Bewusstsein aber, dass eine naive Rückkehr nicht mehr möglich ist. Nur sentimentalistisch, das heißt in der Reflexion, kann es gelingen, das Gefühl, als nun komplementär zur rationalen Welt, wiederzugewinnen. […] Geschichtliche Reflexion und Gefühl sind die zwei Erwartungen, die das beginnende 19. Jahrhundert an die Kunst und Architektur stellen kann.68

7. Fragmentarisches im Werk von Hans Scharoun In einem undatierten, maschinenschriftlichen Manuskript überrascht der Architekt Hans Scharoun mit der Beschreibung romantischer Gehalte in der Architektur Schinkels: Das ‚Antikische‘ wird zum Romantischen in Gegensatz gestellt, das Antikische als ‚Gesetz‘, die Romantik als ein ‚Schwärmen‘, das Antikische männlich, das Romantische 67 Gleiter, H. Jörg: „Reflexion und Gefühl. Schinkel, Architekt der Sattelzeit.“, in: Gleiter, Jörg/Schlimme Hermann/Schulz-Brize, Thekla (Hg.): Die Humanistischen Grundlagen der modernen Architektur. Schinkel, Poelzig, Koldewey, Berlin 2019, S. 16 – 23, hier S. 19. 68 Gleiter: Reflexion, S. 20.

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weiblich bezeichnet. Das geht von der Vorstellung aus und verwirrt die Stellung der Realitäten: schöpferischer Mensch, Aufgabenstellung, Zeitbindung. Schinkel als Mittler des ‚Antikischen‘ ist in den ihm eigenen Schnittpunkt der senkrechten und waagerechten Stoßkräfte zurückzustellen. […] Bei der Lösung der […] Aufgaben bedient er sich antiken Formmaterials. Aber er verwendet dieses Material […] im romantischen Sinne. So formt er im Puttbuser Badehaus nicht ‚Gesetzmäßiges aus Kreis und Quadrat‘, sondern es wird eine – romantische – Identifizierung der antiken Formelemente mit ‚Persönlichkeitswerten‘, die nicht die Landschaft krönen, vollenden, sondern sich mit der Landschaft, ja gegen die Landschaft, in Spannung setzen. Nicht das Allgemeingültige des Gesetzmäßigen lebt sich aus, sondern der Wille, die Energie, das Dynamische.69

Scharouns Postulat ist in zweierlei Hinsicht von großer Bedeutung. Er ist zunächst eine der führenden Stimmen der deutschen Architektur-Avantgarde der 1920er Jahre, zu einer Zeit, in der die Architektur ihre ästhetischen Werte noch überwiegend aus dem Klassizismus schöpfte. Andererseits bildet sein Postulat mit hoher Wahrscheinlichkeit die einzige Textpassage in Scharouns Schriften, in der sich der Architekt explizit zur Romantik als Denkmodell bekennt. Indem er von Schinkels Manier spricht, sich „antiken Formmaterials zu bedienen“ (als geschichtliche Reflexion) und diesem Material „Persönlichkeitswerte“ (das Gefühl) zuzuweisen, tangiert Scharoun die Essenz des romantischen Gedankens. Noch mehr: Er spricht von der Spannung zwischen Landschaft und Bauwerk, zwischen dem Gesetzmäßigen und dem Dynamischen, zwischen Allgemeinem und Individuellem, worin zweifelsohne die der Romantik spezifische Dualität zwischen holistischen Anschauungen und Fragmentierungstendenzen aufscheint. In der langen Schaffenszeit Scharouns zeigt sich die Verbindung verschiedener Erscheinungen eines Phänomens, das der britische Historiker Robin Evans in ­seinem Buch The Projektive Cast. Architecture and Its Three Geometries als „beharrliche[n] Bruch“ (persistent breakage)70 bezeichnet. Evans spricht von einer antipodischen Akzeptanz moderner Phänomene der Disparität und Fragmentierung in der Avantgarde der 1920er Jahre, in der Kunst einerseits und in der Architektur andererseits: Der Kubismus, insbesondere die Gemälde von Picasso und Braque zwischen 1907 und 1912, war die Quelle der Fragmentierung in der modernen Kunst. Die moderne Architektur hingegen gilt als totale Architektur, monadisch bis totalitär. Dies ist der Konsens, 69 Scharoun, Hans: Das Wirkbild der Stille, der Preußische Stil, Schinkel (undatiert), in: ­Wendschuh, Achim (Hg.): Hans Scharoun. Zeichnungen, Aquarelle, Texte, Berlin 1993, S. 96 – 98, hier S. 98. 70 Evans, Robin: The Projective Cast. Architecture and its Three Geometries, Cambridge Mass. 1995, S. 54.

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| Adria Daraban und dennoch ist die moderne Architektur […] durch Fragmentierung gekennzeichnet. […] Wie konnte die vorherrschende Architektur des 20. Jahrhunderts frakturiert und total zugleich sein?71

Evans identifiziert drei Phasen, in denen sich Phänomene des Fragmentarischen in der Architektur aufspüren ließen und benennt Scharoun als Exponent all dieser Phasen. Die erste Phase sei die avantgardistische Zeit der 1910er und 1920er Jahre, als Facettierung und Fragmentierung als revolutionärer Impuls aus der kubistischen Malerei in die Architektur gelangten. Den Nachkriegsjahren weist er die zweite Phase zu, in der man von einem Wiedereinzug humanistischer Werte in der Architektur als Reaktion auf die nivellierenden Dispositionen der Moderne sprechen könne. Als dritte Phase bezeichnet Evans die 1970er Jahre, als sich an verschiedenen Architekturschulen eine Gegenreaktion zu den historisierenden Tendenzen der Postmoderne formierte, die in formale Gesten wie das der Dekonstruktion mündeten.72 Die Grundlage für diese Entwicklung bildete sich bei Scharoun in der Aufbruchszeit nach dem Ersten Weltkrieg heraus: „Die Frage nach der neuen Wirklichkeit, neuen Gestalt des Gemeinsamen war gestellt. […] Jeder von uns versuchte sein Weltbild mitzuteilen.“ 73 Scharouns Rückblick beschreibt den neuen Geist, der sich in den Berliner Kulturkreisen in der Zwischenkriegszeit entfaltete: Es war die Zeit eines neuen Anfangs mit der Chance, das eigene Weltbild durch künstlerische und kulturelle Arbeit zu formulieren, ein kollektiver Impuls initiierte neue Formen von Allianzen. Unter den Namen Novembergruppe, Gläserne Kette, Ring oder Arbeitsrat für Kunst entstanden Kollektive von Künstlern, Schriftstellern und Architekten mit dem erklärten Ziel, die Künste zu vereinen und jedem Menschen zugänglich zu machen. Kultur war die neue Religion, das neue Band für eine neugeborene Gemeinschaft. Damals begann Scharoun, inspiriert von Bruno Tauts Aufruf im Namen des Arbeitsrates für Kunst, Zeichnungen zu produzieren, die kristalline Phantasien für die anbrechende Zeit darstellen. In diese Zeit datieren auch Scharouns erste Versuche, seine Motivation und sein theoretisches Verständnis in Form von Notizen, Aufsätzen und Vorträgen zu artikulieren. Am 3. Mai 1920 wurde die Ausstellung „Ruf zum Bauen“ eröffnet, eingeführt durch die Position von Adolf Behne: „Bauen ist etwas mehr als Mauern. Das Bauen soll die Form schaffen für unsere Kultur.“ 74 Auch Arbeiten von Hans Scharoun 71 Evans: The Projective Cast, S. 57, eigene Übersetzung. 72 Vgl. Evans: The Projective Cast, S. 54 – 94. 73 Scharoun, Hans: „Die gläserne Kette“ (gesprochen im Sender Freies Berlin, 14. März 1964), in: Wendschuh, Achim (Hg.): Hans Scharoun. Zeichnungen, Aquarelle, Texte, Berlin 1993, S. 51. 74 Behne, Adolf, Einleitung zum Ruf zum Bauen, zweite Veröffentlichung des Arbeitsrates für Kunst, Berlin, 1920, S. 2, Adk, Baukunstarchiv, Signatur AfK 6.

Das Modell des Fragmentarischen | Abb. 7 Hans Scharoun: Kultbau in Ruf zum Bauen, AfK, Berlin, 1920. Quelle: Archiv der Akademie der Künste Berlin, Abteilung Baukunst, Signatur: AfK6, S. 8.

waren in der Ausstellung vertreten, vier seiner Zeichnungen wurden im Katalog veröffentlicht, drei davon repräsentieren Kulturbauten, das vierte war ein „Volkshaus“. Die Zeichnungen wurden von einem Text mit dem Titel „Gedanken zum Theaterraum“ begleitet (Abb. 7). Die hier formulierten Zeilen sind nur der Anfang einer ganzen Reihe von Texten mit Überlegungen zur Architektur, die Scharouns stetige Anliegen bezeugen, eine eigene ‚Künstlertheorie‘ zu formulieren. Euphorisch erläutert er in diesem Katalogtext eine neue Theaterraumkonzeption im Zeichen des gemeinschaftlichen Erlebens: Form, gemeinschaftliches Bewusstsein und gemeinsames Erleben in Haus, Ding und Mensch sind einheitliches Wiederspiel unseres Zeitsehens: Einen Kunst und Leben. […] So weitet er [der Theaterraum] raumlose Unendlichkeit und bereitet empfangsfrohen Boden den Mysterien der Farbe des Wortes, des Tones. […] Die Menge spielt sich und: Wir sind.75

75 Scharoun, Hans: Gedanken zum Theaterraum (1920), in: Wendschuh, Achim (Hg.): Hans Scharoun. Zeichnungen, Aquarelle, Texte, Berlin 1993, S. 28, Hervorhebung im Original.

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| Adria Daraban Seine Konzeption widersetzt sich dem konventionellen Theaterraum, der Schauspieler und Zuschauer trennt, verengt und entfremdet. Scharouns Vision beschreibt keine Form eines Raumes, sondern das gemeinschaftliche Erleben von Raum, das Eintauchen in Empfindungen räumlicher, visueller und auditiver Art. Das Th ­ eater ist hier eine Allegorie der Architektur für die Gemeinschaft. Darin spannen sich die Kräfte zwischen Individuum und Kollektiv: „Vergehendes – Menschenform – verschwindet. Bleibendes, ewig Verbindendes – Form, Farbe, Wort und Ton – dringt unmittelbar auf ergriffene Menge ein.“ 76 Scharoun formuliert hier erstmals sein Interesse an der vierten Dimension des Raumes, der zeitlichen Dimension, indem er auf die Kinematographie als erstes Medium verweist, das die für die moderne Gesellschaft und das moderne Denken charakteristische Symbiose zwischen Raum und Zeit verkörpert. Das moderne Theater und darüber hinaus der moderne Raum – so sein Credo – sollten diesem Impuls folgen, denn „es [ist] die im Film erreichbare Verbindung von Raum und Zeit, die das Dynamische, das der Kultur unserer Technik orientierten Zeit Seele gibt und das unbewußten Reiz auf den Zuschauer ausübt.“ 77 Das Interesse an der Wirkung der zeitlichen Dimension auf die Entstehung und Wahrnehmung von Raum wird in Scharouns Schriften fortan konstant bleiben. Seine Antrittsvorlesung 1925 an der Akademie für Kunst und Kunstgewerbe in Breslau gilt als früheste und dezidierteste Formulierung seiner Raumtheorie. Mit dem Augenmerk auf die Flüchtigkeit der modernen Wahrnehmung, auf ihre Spaltung in einer Vielzahl fragmentarischer Eindrücke, betonte Scharoun in seiner Rede die Rolle des Zeitbegriffs in der Raumwahrnehmung und verwies auf die Auflösung dieses Verhältnisses in modernen Raumkonzepten.78 Seine Argumentation war im kulturellen Diskurs seiner Zeit tief verankert. Der Architekt selbst erwähnte die zufällige, zutiefst bewegende Entdeckung expressionistischer Kunst in den Ausstellungen der Galerie Herwarth Waldens, „Der Sturm“ und beschrieb die Begegnungen zwischen Architektur, Kunst, Literatur und Musik im Zeichen des impulsiven, höchst dynamischen Neuanfangs: Wie ein Blitz  – ganz unmittelbar  – traf uns damals die Wandlung der Weise des Lebens, der Aufbruch, der dann immer mehr den Charakter einer mutativen Wandlung annimmt […] ‚Spontaneität‘ ist das Kennzeichen der Zeit, ‚Improvisation‘ – das Wesen der Werke – Improvisation hält die Freiheit der Entscheidung in Ursprünglichkeit offen. […] Vielfältige, sich voneinander abhebende Bewegungen – auf dem Aspekt des

76 Scharoun: Theaterraum, S. 28. 77 Scharoun: Theaterraum, S. 28. 78 Vgl. Scharoun, Hans: Antrittsvorlesung an der Kunstakademie in Breslau 1925, in: Pfankuch, Peter (Hg.): Hans Scharoun. Bauten, Entwürfe, Texte, Berlin 1993, S. 48 – 54.

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Welt anschaulichen – zeigen als Abglanz einer inneren Beunruhigung das verwirrende Bild einer dynamisch bewegten Oberfläche […].79

Im Nachkriegsdeutschland hatte der Schweizer Philosoph Jean Gebser einen gewissen Einfluss in den intellektuellen Kreisen gewonnen. Sein Buch Ursprung und Gegenwart erschien 1949 und handelt von der Theorie des a-perspektivischen Bewusstseins, einer Form des integralen Bewusstseins als einer Bewusstseinsstufe, die erstmals in der neuen Zeit erreicht worden sei und den Rationalismus der Aufklärung und das mythische, magische Denken der Vorzeit zusammenfasst. Gebser argumentiert, dass sich dieser Zustand des integralen Bewusstseins nicht nur in den Naturwissenschaften manifestiert, insbesondere im Bereich der Physik, sondern auch in der Malerei, Architektur und Musik. Allen diesen Bereichen gemeinsam sei die Integration einer vierten Dimension der Wahrnehmung, die Dimension der Zeit. Scharoun, der Gebser persönlich begegnet war, borgt sich in seinen theoretischen Ausführungen diese Terminologie. In unveröffentlichten Manuskripten zu seiner Vorlesung Raum Zeit Theater, gehalten 1956 an der Technischen Universität Berlin, 1956 (Abb. 8) expliziert Scharoun seine Auffassung von einem perspektivischen Raum: „Das Nacheinander – psychische Kettenreaktion und Perspektivisches entsprechen einander. Der Raum dient dem Ausdruck der Zeitkonkretisierung“.80 Den a-perspektivischen Raum determiniert er demgegenüber als eine „[z]eitliche Ganzheit, daher das Neben und Übereinander: Neue Zeitkonkretisierung wird im Wegablauf und im polaren Bezug von Orten ausgedrückt“ 81. Seine Antwort auf Heideggers Gedanken „Der Raum wird durch Orte eingeräumt“ 82 lautet: „Die zeitliche Ganzheit wird im Räumlichen durch Orte verwirklicht.“ 83 Scharouns Konzeption des Raumes als eine von der Dimension Zeit abhängige Entität spezifiziert sich unter dem Einfluss seines kulturellen Kontextes immer weiter und findet eine besondere Konkretion in seinen Theater-Entwürfen. Scharouns Gedanken zum Theaterbau blieben lange Zeit Theorie. Er hatte bereits Anfang der zwanziger Jahre zwei Theater für Gelsenkirchen bzw. Bremerhaven entworfen, doch seine Experimente mit dem szenischen Raum begannen 1949 mit dem Wettbewerb um das Opernhaus in Leipzig und mit dem Entwurf für einen Konzertsaal für die Liederhalle in Stuttgart. 1952 gewann Scharoun 79 Scharoun, Hans: Zur Eröffnung der Ausstellung „Expressionismus. Literatur und Kunst 1910 – 1923.“ Ansprache in der Akademie der Künste, 5. Februar 1961, in: Wendschuh, Achim (Hg.): Hans Scharoun. Zeichnungen, Aquarelle, Texte, Berlin 1993, S. 41. 80 Scharoun, Hans: unveröffentlichtes, maschinenschriftliches Manuskript zur Vorlesung „Raum., Zeit, Theater“, 1956, Scharoun Archiv, AdK., Baukunstarchiv, ohne Signatur und Seitenangaben. 81 Scharoun: Raum, Zeit, Theater. 82 Heidegger, Martin, zitiert durch Hans Scharoun in: Raum, Zeit, Theater. 83 Scharoun: Raum, Zeit, Theater.

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| Adria Daraban Abb. 8 Hans Scharoun: Wettbewerb für das Nationaltheater, Mannheim, Grundrisse, 1953. Quelle: Pfankuch, Peter (Hg.): Hans Scharoun. Bauten, Entwürfe, Texte, Schriftreihe der Akademie der Künste, Bd. 10, Berlin 1993, S. 224.

zusammen mit dem Landschaftsarchitekten Hermann Mattern und dem Architekten Wilhelm Huller den Wettbewerb für das Theater in Kassel. Zur gleichen Zeit beteiligte er sich an dem Wettbewerb für das Mannheimer Theater, 1954 reichte er einen Entwurf im Wettbewerb für das Gelsenkirchener Theater ein, Mitte der 1960er Jahre beteiligte er sich an den Wettbewerben für das Stadttheater Zürich und schließlich für das Wolfsburger Theater – letzteres wurde posthum nach seinem Entwurf verwirklicht. Eine seiner kühnsten Konzeptionen, der Entwurf für das Nationaltheater Mannheim, gab Scharoun die Gelegenheit, sein Studium der Theatergeschichte und -theorie zu vertiefen. Dafür nahm er Kontakt zu Margot Aschenbrenner auf, der Assistentin von Hugo Häring und Verfasserin des Aufsatzes „Über die Baustruktur des Theaters“ im Rahmen des Wettbewerbs. Aschenbrenners Unterscheidung zwischen dem „rationalen“ und dem „irrationalen“ Theater folgend, arbeitete Scharoun in seinem Entwurf an den Möglichkeiten eines neuen Verhältnisses zwischen Bühne und Publikum, wie es das irrationale Modell des ShakespeareTheaters impliziert. In seinem Kommentar zum Projekt überlagert Scharoun,

Das Modell des Fragmentarischen | Abb. 9 Auguste Rodin: Meditation, 1897, Foto: Aufnahme von Eugène Druet. Quelle: Ruebel, Dietmar: Plastizität. Eine Kunstgeschichte des Veränderlichen, München 2012, S. 42.

bezugnehmend auf Gebser, die Begriffe des rationalen und irrationalen Theaters, mit den Begriffen des perspektivischen und a-perspektivischen Raumes.84 Der Grundriss und die komplexe Disposition des Mannheimer Theaterentwurfs sind durch die Aufhebung der Symmetrie des Auditoriums gekennzeichnet. Der Raum ist weder achsial angeordnet noch symmetrisch. Die Bestuhlung ist in Gruppen unterteilt, die über separate Eingänge vom Foyer aus erreicht werden können. Diese Gruppen sind in unterschiedlichen Winkeln orientiert und verweigern somit den für alle identischen Fokus. Die Bühne ist in verschiedenen Teilen nutzbar, die autark oder als Raumsequenz in verschiedenen Höhen aktiviert werden können. Peter Blundell Jones verweist in seiner Monografie über Scharoun auf das zeitspezifische Raumkonzept in Scharouns Mannheimer Theater: „Durch den zeitlichen Ortswechsel wird die vierte Dimension anstelle der statischen Dreidimensionalität des perspektivischen Theaters eingeführt.“ 85 Auch im Foyer setzt Scharoun viele räumliche Strategien ein, welche die Bewegungen der Besucher umlenken, verändern 84 Scharoun, Hans: Nationaltheater Mannheim. Erläuterung zum Wettbewerbsentwurf, ­Februar 1953, in: Pfankuch, Peter (Hg.): Hans Scharoun. Bauten, Entwürfe, Texte. Berlin 1993, S. 223 – 227, hier S. 223. 85 Blundell Jones, Peter: Hans Scharoun, London 1995, S. 161.

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| Adria Daraban oder unterbrechen. Dafür versetzt er Raumelemente, wechselt wiederholt die Raumebenen, unterbricht mit unerwarteten Elementen die Sichtachsen, inszeniert Stadtansichten, indem er Brunnen und Pflanzen als urbane Möblierung installiert, und zwingt dadurch die Besucher*innen, anzuhalten, sich umzudrehen und umzuschauen, damit sie sich frei durch die Räume bewegen und – analog zur Konzeption des Landschaftsgartens des 18. Jahrhunderts – eigene Wegkompositionen zu entwerfen. Scharouns Raumidee erweist sich hier in zweierlei Hinsicht als modern. Einerseits scheint er das Besondere dem Allgemeinen vorzuziehen, das Mehrdimensionale dem Linearen, das Disparate dem Ganzen. Relevanter noch erscheint aber sein evidenter Versuch, den Raum als eine zeitbedingte und durch die individuelle, sequenzierte Wahrnehmung entstehende Entität zu fassen. An dieser Stelle ist die Parallele zu Rodins Vorstellung vom skulpturalen Körper hilfreich. In seinen 1911 veröffentlichten Gesprächen mit Paul Gsell skizziert Rodin seine Ideen zu Zeitlichkeit und Skulptur, wonach „der Bildhauer den Übergang von einer Pose zur anderen darstellt“ und „so den Betrachter sozusagen zwingt, die Entwicklung eines Aktes durch eine Figur zu verfolgen“. Es ist die Definition des skulpturalen Körpers als „progressive Entfaltung“ (Abb. 9) mehrerer aufeinanderfolgender Momente der Anschauung, als „die Augen, auf ihren Reisen […] die Illusion haben, dass die Bewegung ausgeführt wird“ 86, wie Rodin es ausdrückt. Diese Definition offenbart den Terminus der Zeit als generative Ressource für das Verständnis des skulpturalen, dreidimensionalen Körpers in zweierlei Hinsicht: als Kern jeder Bewegung, die sich in der Skulptur im Auge des Betrachters entfaltet, und als Zeit der Anschauung als eine konstitutive Zeit, die die Skulptur erst ‚erschafft‘. Hans Scharoun setzt in seinen Theater-Entwürfen Bauelemente ein, um Räume zu umschreiben, aber nicht zu fixieren. Jean-Luc Nancys Begriff des Fragments als Ereignis 87 verdichtet sich an dieser Stelle. Den Raum als Ereignis aufzufassen hieße nichts anderes als ihn zu öffnen, ihn fortzuschreiben, durch die Wahrnehmung zu produzieren und dadurch unerwartete Beziehungen herzustellen. In Analogie dazu kann die Scharounsche Raumauffassung hier als Ereignis der Fragmentierung gelesen werden. Der Raum wird von seinen Elementen nicht länger begrenzt, sondern ‚gebildet‘. Dies ermöglicht, dass die Räume aus immer neuen, wechselnden Blickrichtungen wahrgenommen werden können und sich vor den Augen des Rezipienten verschiedenste Konstellationen zusammensetzen. Sie können fortwährend überschrieben, miss- oder neu interpretiert werden. Sie bleiben nie gleich und sind nie eins. Der durch den Raum wandernde Blick wird an verschiedenen Stellen empfangen, kurzgehalten und wieder weitergeleitet. Der Raum wird sukzessive erlebt, Bruchstück für Bruchstück, und mehr als Sequenz denn als Bild wahrgenommen. 86 Rodin, Auguste: Die Kunst. Gespräche des Meisters gesammelt von Paul Gsell, Zürich 1979. 87 Nancy: Die Kunst, S. 289.

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Abb. 10 – 12 Scharoun Theater in Wolfsburg, Hans Scharoun, 1969 – 1973. Quelle: Adria Daraban, 2018.

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Gisela Mettele

Zauberland des Sichtbaren. August Endell und die Schönheit der großen Stadt Denn das ist das Erstaunliche, dass die große Stadt trotz aller häßlichen Gebäude, trotz des Lärmes, trotz allem, was man an ihr tadeln kann, dem, der sehen will, ein Wunder ist an Schönheit und Poesie, ein Märchen, bunter, farbiger, vielgestaltiger als irgendeines, das je ein Dichter erzählte […].1

Dieses paradoxe Urteil über das Wesen der modernen Großstadt fällt der Jugendstilkünstler August Endell (1871 – 1925) in seiner Schrift Die Schönheit der großen Stadt von 1908. Die große Stadt sei „als Gestaltung mit verschwindenden Ausnahmen abscheulich“ 2, dennoch scheint sie ihm mit ihrer Vielfalt an Eindrücken eine Bühne für die Wunder des Alltäglichen. Die Großstadt ist für Endell kein Idyll, sondern ein lauter und hässlicher Ort. Und doch habe sie gleichzeitig das Potential, zur poetischen Landschaft zu werden. Entscheidend sei es, sehen zu wollen. Denen, die dazu bereit sind, wird die große Stadt in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit zu einem Ort des Staunens, ein Zauberland des Sichtbaren 3, in dem wie im Märchen das Unbekannte reizvoll, das Unvertraute begehrenswert und das Unheimliche attraktiv wird. In einer solchen doppelten Optik, die im Hässlichen das Schöne erkennt und als wichtig wahrnimmt, was zuvor als unwichtig erachtet wurde, öffnet sich der Blick für eine Poetisierung der Wirklichkeit oder, um es mit Novalis auszudrücken, für eine Romantisierung der Welt. Endell verstand sich nicht als Romantiker – im Gegenteil. Romantiker waren für ihn jene, die „mit tönenden Worten das Zeitalter beschimpfen“ und der „Abkehr vom Heute“ das Wort reden. Sie predigen „die Rückkehr zur Natur“, obwohl sie nicht einmal Bienen von Wespen unterscheiden können, flüchten „zu einer theatralisch aufgeputzten Kunst“, ohne Zusammenhang mit der Wirklichkeit und träumen sich aus „dürftigen Schulkenntnissen und fleißigem Theaterbesuch“ eine

1 Endell, August: Die Schönheit der großen Stadt, Stuttgart 1908; der Text ist mehrfach wieder abgedruckt worden. Im Folgenden zitiert nach Endell, August: Vom Sehen. Texte 1896 – 1925 über Architektur, Formkunst und „Die Schönheit der großen Stadt“, hg. von Helge David, Basel/Berlin/Boston 1995, S. 163 – 208, hier S. 172. 2 Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 185. 3 So der Titel der posthum veröffentlichten Sammlung von Schriften Endells, darunter auch „Die Schönheit der großen Stadt“; Endell, August: Zauberland des Sichtbaren, Berlin-Westend 1928.

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| Gisela Mettele „wunderlich verzerrte“ vergangene Welt zusammen, „ohne Widerstände, ohne Leid, aber voll behaglich pathetischer Sensationen.“ 4 Romantik sei, so Endell, die Todfeindin alles Lebendigen. Sie macht den Untauglichen hochmütig, sie verwirrt und hemmt den Tätigen, sie verfälscht Empfindung und Gefühl, züchtet Unaufrichtigkeit und Sentimentalität, verführt zu leeren Maskeraden, zu tönenden Prachtworten, die die Menge blenden, sie zerstört die Einheit des Seins, zerreißt den Zusammenhang von Sehnsucht und Leben, Ideal und Tat.5

Architektonisch wandte sich Endell mit seiner Romantikkritik zum einen gegen die historistischen Neo-Stile, die um 1900 vor allem bei öffentlichen Bauaufträgen noch häufig den Ton angaben und deren „Eklektizismus“ und „sinnlose Nachahmung des Alten“ Endell entschieden ablehnte.6 Zum anderen war der Vorwurf des „Romantischen“ gegen die restaurativen Bestrebungen eines „Heimatschutzes“ gerichtet, der identitäre Geschichtskonstruktionen gegen alles Neue in Stellung brachte. Endell stand mit dieser Kritik nicht alleine. In den Architekturdebatten um 1900 hatte ‚Romantik‘ insgesamt keinen guten Ruf. ‚Romantisch‘ war eine vielfach polemisch verwendete Negativzuschreibung gegenüber allem tatsächlich oder vermeintlich Rückwärtsgewandten. Als Kampfbegriff modelliert, stand Romantik um 1900 gewissermaßen für die Gegenmoderne schlechthin, und mit dieser Redeweise schien alles gesagt zu sein, von „Verrat bis Ursünde“.7 Dieses Verständnis von Romantik speiste sich aus einer – vor allem über Heinrich Heine und Friedrich Nietzsche tradierten – polemischen Romantikkritik. Heine hatte in seiner „Romantischen Schule“ 1835 eine Argumentationslinie entworfen, in der die Romantiker als christliche Frömmler und weltferne, einer i­ dealen Vergangenheit sehnsuchtsvoll nachhängende Träumer erschienen.8 Der Referenzpunkt von Nietzsches Kritik war die europäische Spätromantik,9 in 4 Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 165 – 167. 5 Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 167. 6 Endell, August: Werkring-Ausstellung, in: Berliner Architekturwelt. Zeitschrift für Baukunst, Malerei, Plastik und Kunstgewerbe der Gegenwart 8 (1906), S. 214 – 218, hier S. 214. 7 Vgl. Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987, S. 18. Welsch bezieht sich auf den Begriff der ‚Postmoderne‘, dem es Ende des 20. Jahrhunderts ähnlich ergangen sei wie dem Begriff ‚Romantik‘ in der Architektur um 1900. 8 Zu Heines ambivalentem Verhältnis zur Romantik vgl. Kerschbaumer, Sandra: Heines moderne Romantik, Paderborn 2000. 9 Schmidt, Friedrich: Nietzsche und die Romantik, in: Colloquium Helveticum. S­ chweizer Hefte für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft 39 (2009), S. 233 – 260; in der Literatur wird vielfach betont, dass die deutsche Frühromantik bei Nietzsche nur spärlich erwähnt wird, vgl. Perrakis, Manos: Nietzsche und der frühromantische Kritikbegriff, in: Heit, Helmut/Thorgeirsdottir, Sigridur (Hg.): Nietzsche als Kritiker und Denker

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der die k­ osmopolitischen Zukunftshoffnungen der Frühromantik, bei partieller Kontinuität in den darstellerischen Formen, einer eher konservativen, an einer mythischen Vergangenheit orientierten Traditionspflege Platz gemacht hatten.10 Heine wie auch Nietzsche trugen in je unterschiedlicher Weise dazu bei, ein negatives (Klischee-)Bild von Romantik zu popularisieren, und etablierten damit eine Beschreibungs- und Deutungskonvention, die um 1900 als „Modell“ aufgerufen und aktualisiert werden konnte. Das restaurative Deutungsmodell von Romantik hat die Romantikrezeption um 1900 nachhaltig geprägt und verstellte den Blick auf die von Heine und Nietzsche selbst aufgenommenen und fortgeführten progressiven Impulse, die ursprünglich von der Romantik ausgegangen waren. 1. Endells „Liebe zum Heute und Hier“ und die frühromantische Ästhetik Dem restaurativen Verständnis von Romantik stellte Endell „die leidenschaftliche Liebe zum Heute und Hier, zu unserer Zeit“ 11 entgegen. In seiner Kunst wollte er Darstellungsformen finden, die der dynamisierten Wirklichkeit seiner Gegenwart mit ihren neuen Lebensverhältnissen, Erfahrungen und Zeitrhythmen entsprachen. Zu dieser Gegenwart gehörte für Endell vor allem die gegebene Realität der großen Städte. Für ihn waren sie ein unhintergehbarer Ausgangspunkt, aber es ging ihm nicht um eine reine Affirmation des Bestehenden, sondern, wie Matthias Schirren betont, um einen poetisierenden Blick, „der im Schock des ästhetischen Empfindens die gewöhnliche Welt der Alltäglichkeit durchlässig macht für jene zweite, von der Jean Paul sagt, wir hätten sie einzig in der Poesie“.12 Stefan Matuschek hat dafür plädiert, zwischen Romantik als Diskurs und Romantik als (literatur-)ästhetischem Phänomen zu unterscheiden und betont: „Es gibt ästhetisch Romantisches, das nicht am Romantikdiskurs teilnimmt, und umgekehrt Romantikdiskurse, die nichts mit dem ästhetisch Romantischen zu tun haben.“ 13

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der Transformation, Berlin/Boston 2016, S. 73 – 80. Zu Nietzsche und Endell vgl. David, Helge: An die Schönheit. August Endells Texte zu Kunst und Ästhetik 1896 bis 1925, Weimar 2008, S. 77 – 115. Vgl. Strack, Friedrich (Hg.): 200 Jahre Heidelberger Romantik, Berlin/Heidelberg 2008, S. VI – VII. Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 167. Schirren, Matthias: Wirklichkeit der Bilder: Endells „Ästhetische Opposition“ und die Berliner Moderne, in: Bröcker, Nicola/Moeller, Gisela/Salge, Christiane (Hg.): August Endell (1871 – 1925). Architekt und Formkünstler, Petersberg 2012, S. 347 – 359, hier S. 356 f. Matuschek, Stefan: Romantiker, die keine sind – und umgekehrt. Die Pluralität der europäischen Romantiken, in: Bohnenkamp, Anne (Hg.): Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2017, Göttingen 2017, S. 127 – 146, hier S. 130 (Zitat) u. S. 144; vgl. a. ders.: Romantik

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| Gisela Mettele Mit dieser Unterscheidung lässt sich Endell in doppelter Weise positionieren: Zum einen hat er in den zeitgenössischen Architekturdebatten teil an der Modellierung einer Vorstellung von Romantik als einer gegen die Moderne gerichteten Tendenz, zum anderen sind seine ästhetischen Ausdrucksformen strukturell von Verfahren geprägt, die zuerst in der Romantik um 1800 entworfen wurden. Dies zeigte sich bei Endell etwa in der Reaktualisierung der frühromantischen Idee des alltäglich Wunderbaren, in seiner Sehnsucht nach einer Einheit von Leben und Kunst sowie im Entwurf von Ganzheitsvorstellungen im gleichzeitigen Bewusstsein ihrer Unmöglichkeit. Ähnlich wie Endell um 1900 setzten sich bereits die frühromantischen Künstler*innen mit einer sich ausdifferenzierenden und zunehmend fragmentierten Realität auseinander und suchten nach neuen ästhetischen Strategien, dem einen zeitgemäßen künstlerischen Ausdruck zu geben. Mit der Aufklärung teilte die Romantik das Bewusstsein, in einer tiefgreifenden Umbruchszeit zu leben.14 War es das Ziel der Aufklärung, durch Systematisierung und Bildung von Mustern die Dinge transparent zu machen, löste die Romantik die klaren Konturen auf. In Anerkennung einer chaotischen Wirklichkeit und im Wissen um die Vorläufigkeit aller intellektuellen und künstlerischen Positionen reagierte sie auf die Heraus­ forderungen ihrer Zeit im Modus romantischer Ironie, d. h. mit einer Darstellungsweise, die trotz der Pluralitäts- und Kontingenzerfahrungen des modernen Lebens mit künstlerischen Mitteln eine sinnstiftende Einheitsperspektive entwirft, diese aber als artifiziell markiert und damit potentiell auch widerruft.15 Durch die Unmöglichkeit von eindeutigen Zuordnungen wird so ein Prozess unendlicher Reflexion angestoßen, denn eine Auflösung dieser „Kippfigur aus Evokation und Widerruf “ 16 war für die Frühromantik nicht vorstellbar. Ihre Ästhetik strebte nicht nach „einer in sich zur Ruhe gekommenen Vollendung“, vielmehr ging es ihr um die „permanente Bewegung des Widerstreits“, die „Verflüssigung alles Festen“ und die „Unterminierung aller Eindeutigkeit“.17

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als Phänomen – Romantik als Diskurs, in: Matuschek, Stefan/Kerschbaumer, Sandra (Hg.): Romantik erkennen – Modelle finden, Paderborn 2019, S. 107 – 130. Aufklärung und Romantik werden hier nicht als eine Abfolge von Epochen begriffen, sondern als um die Lösung derselben Probleme miteinander konkurrierende Erscheinungen; Löwe, Matthias: Epochenbegriff und Problemgeschichte. Aufklärung und Romantik als konkurrierende Antworten auf dieselben Fragen, in: Fulda, Daniel/Kerschbaumer, Sandra/ Matuschek, Stefan (Hg.): Aufklärung und Romantik. Epochenschnittstellen, Paderborn 2015, S. 45 – 68, hier S. 47. Matuschek: Romantiker, S. 132. Vgl. Kerschbaumer, Sandra/Matuschek, Stefan: Romantik erkennen – Modelle finden. Zur Einführung, in: Matuschek, Stefan/Kerschbaumer, Sandra (Hg.): Romantik erkennen – Modelle finden, Paderborn 2019, S. 1 – 14, hier S. 6. Schwarz, Ullrich: Romantik und Architektur. Auf der Suche nach einer Theorie der Architektur, Hamburg 2004, S. 15 f.

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Die Paradoxien der urbanen Moderne standen von Anfang an im Zentrum romantischer Sensibilität. Friedrich Schlegels „Schaffe dir Ironie und bilde dich zur Urbanität“ 18 erklärte die Stadt zu einem Ort, der sich eindeutigen Ordnungen entzieht, auch weil diese beständig im Fluss – oder um einen genuin romantischen Ausdruck zu gebrauchen – in der Schwebe sind. Bereits in der Romantik um 1800 ging es – wie erneut um 1900 bei Endell – um eine fragende Suche nach neuen ästhetischen Formen, die im Wissen um die Vorläufigkeit holistischer Sinnentwürfe eine emphatische Einheit von Leben und Kunst entwarfen und so die paradoxen Konfigurationen der urbanen Moderne erfahrbar machen. 2. (Neu-)romantische Vermittlungsinstanzen Endell stand im lebhaften Austausch mit der kulturellen Avantgarde seiner Zeit, darunter auch führende Protagonist*innen der Neuromantik.19 In München, wo er seit 1892 lebte, stand er dem Kreis um Stefan George nah. Mit Karl W ­ olfskehl, den er dort kennenlernte, verband ihn eine lebenslange Freundschaft.20 Mit ihm tauschte er sich auch über den frühromantischen Schriftsteller Jean Paul (1763 – 1825) aus, mit dessen Werk Endell bereits seit jungen Jahren vertraut war. 1894 schrieb er begeistert an Wolfskehl über seine Lektüre Jean Pauls in der Bibliothek seines Großvaters.21 Nach seinem Umzug nach Berlin gehörte Endell etwa ab 1904 zum festen Gästekreis des Salons von Sabine Lepsius, wo unter anderem auch Stefan George, Lou Andreas-Salomé, Rainer Maria Rilke 18 Zit. n. Kritische Friedrich-Schlegel Ausgabe, hg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner, Paderborn/Darmstadt/Zürich 1958 ff., Bd. 2, S. 251, Nr. 431. 19 Die Neuromantik gilt als eine Gegenströmung zum Naturalismus um 1900. Die sehr heterogene Bewegung war vielfältig beeinflusst von anderen Bewegungen der Moderne – wie etwa Jugendstil, Impressionismus, Décadence und Symbolismus. Sie unterschied sich vor allem durch die Wiederaufnahme von Themen der historischen Romantik (das Wunderbare, das Geheimnisvolle, die Differenz von Traum und Wirklichkeit, Musik als Klang- und Farbkunst, Universalpoesie etc.), aber auch von Autoren wie etwa Novalis, Tieck und E. T. A. Hoffmann; vgl. Breuer, Ulrich/Wegmann, Nikolaus: Wie romantisch ist die Neuromantik? Zur Einführung, in: Athenäum 27 (2017), S. 11 – 20; zu einem modelltheoretischen Verständnis der Neuromantik vgl. Stübe, Raphael: Neuromantik der Jahrhundertwende. Transformationen, Impulse und Textverfahren eines populären Phänomens. (Dissertationsmanuskript im Erscheinen). 20 Zu Endells ausgedehnten intellektuellen Netzwerken, die von den Münchner Kosmikern bis zur Sozialistin Lily Braun reichten, vgl. die eingehende Studie zu Endells Leben und Schaffen von David: An die Schönheit, S. 80 – 150, zu Wolfskehl S. 135 – 141. 21 Schirren: Wirklichkeit der Bilder, S. 355 f; Karl Wolfskehl gab 1902 gemeinsam mit Stefan George eine Anthologie von Schriften Jean Pauls heraus.

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| Gisela Mettele und Hugo von Hofmannsthal verkehrten. Mit Andreas-Salomé und Rilke war Endell eng befreundet.22 Eine wichtige Vermittlungsinstanz für die Ideen der Frühromantik stellte Charles Baudelaire (1821 – 1867) dar, mit dessen Gedichten sich Endell intensiv beschäftigte. Baudelaire stand, wie Ullrich Schwarz hervorgehoben hat, für eine Rezeptionslinie, „die die Romantik ausdrücklich als Moment der modernen Ästhetik wieder entdeckt“.23 In seiner Kritik des Pariser Kunstsalons von 1846 hielt Baudelaire fest: Für mich ist die Romantik der jüngste, der aktuellste Ausdruck des Schönen […]. Wer Romantik sagt, sagt moderne Kunst – das heißt Innerlichkeit, Spiritualität, Farbe, S­ treben nach dem Unendlichen, ausgedrückt mit allen Mitteln, die die Künste enthalten.24

Dieser Definition entsprechend stellte er „Delacroix an die Spitze der Romantik“.25 Zudem bezog er sich auf den Frühromantiker E. T. A Hoffmann (1776 – 1822) als einen Schriftsteller, dem es gelungen sei, „das Poetische und Groteske des bürgerlichen Alltags aufzuspüren“.26 Romantik lag für Baudelaire „weder in der Wahl des Gegenstandes noch in der Genauigkeit der Wiedergabe, sondern in der Art des Empfindens“ sowie „in einer der Moral des Jahrhunderts entsprechenden Konzeption“.27 Wie Schwarz betont, fasst Baudelaires romantische Moderne Schönheit als transitorisches, flüchtiges Moment […]. Doch dieses Flüchtige ist nichts Bestimmtes, immer eher die Unterminierung des Bestimmten, des Definierten, des Fixierten. Die moderne Schönheit ist die Subversion des Wissens. Hier geht es jedoch in keiner Weise um Obskurantismus, sondern um ein Weitertreiben der Aufklärung über die Grenzen einer starren Rationalität hinaus.28 22 Salge, Christiane: August Endell. Leben, Werk und Wirken, in: Bröcker, Nicola/­Moeller, Gisela/Salge, Christiane (Hg.): August Endell (1871 – 1925). Architekt und Formkünstler, Petersberg 2012, S. 35 – 60, hier: S. 50. George scheint dagegen Endell nicht besonders geschätzt zu haben; dies ist für die Berliner Zeit und die Treffen im Salon von Sabine ­Lepsius überliefert; vgl. David: An die Schönheit, S. 147. Dazu, wie Rilkes Verständnis des Stadtraums und Endells Sensibilität für visuelle Beobachtungen sich gegenseitig informierten, vgl. Eisenschmidt, Alexander: Visual discoveries of an urban wanderer. August Endell’s perception of a beautiful metropolis, in: Arq. Architectural Research Quarterly 11/1 (2007), S. 71 – 80, hier S. 78. 23 Schwarz: Romantik, S. 7. 24 Baudelaire, Charles: Der Salon von 1846, in: Der Künstler und das moderne Leben. Essays, „Salons“, intime Tagebücher, Leipzig 1990, S. 17 – 45, hier S. 22 f. 25 Baudelaire: Der Salon, S. 33. 26 Grössel, Hans: Lyrik aus dem Geiste der Kritik. Charles Baudelaires kunsthistorische Schriften in einer neuen deutschen Gesamtausgabe, in: DIE ZEIT Nr. 48 (1977), S 4. 27 Baudelaire: Der Salon, S. 22 f. 28 Schwarz: Romantik, S. 16.

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Abb. 1 Endell, August: Um die Schönheit: eine Paraphrase über die Münchener Kunstausstellungen 1896. Quelle: Staatsbibliothek zu Berlin – PK, Abteilung Historische Drucke, Sammlung Dry.

Baudelaire sah sich als Vertreter einer genuin urbanen Romantik. In der Verbindung von kritischer Reflexion und intensiver sinnlicher Wahrnehmung pries seine Poetik die „moderne Schönheit“ und das „Wunderbare“ des großstädtischen Pariser Alltagslebens.29 Endell bezieht sich in seinen Texten mehrfach implizit und explizit auf ­Baudelaires Les Fleurs du Mal (1857), von einigen Gedichten des Zyklus hat er sogar eigene Übersetzungen angefertigt.30 Eine deutliche Spur dieses Einflusses findet sich auf dem Titelblatt seiner Schrift Um die Schönheit von 1896, auf dem der Schattenriss einer Frauenschuhorchidee erscheint und auf der nächsten Seite B ­ audelaires Sonett L’Idéal aus Les Fleurs du Mal.31 Endell, so Schirren, vergegenwärtigt hier 29 Schwarz: Romantik, S. 9. 30 Schirren: Wirklichkeit der Bilder, S. 349 f. 31 Endell, August: Um die Schönheit. Eine Paraphrase über die Münchner Kunstaustellung 1896, München 1896. Das Gedicht erscheint bei Endell ohne Titel in deutscher Übersetzung.

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| Gisela Mettele bildlich, was Baudelaire „als Poesie aktualisiert: unmittelbar empfundene Gefühlssensationen, die sich absetzen von der Diskursivität des nachfolgenden Textes, der allerhöchstens umkreisen kann, worum es sich bei der Kunst handelt.“ 32 Diesen Schattenriss stellte Endell später auch dem Abschnitt „Blumen“ in seiner Schrift Vom Sehen (1905) voran und beschrieb dort nunmehr, was diese Orchidee für ihn bedeutete: Als er, „der städtische Bücherwurm, für den die Straßen sich nach Buchläden ordneten und teilten“, erstmals einen Blumenladen und in dessen Fenster eine Orchidee entdeckte, trug er sie „wie einen Schatz nach H ­ ause“.33 Beim Blick auf die Blume staunte ich über die unheimliche Macht, die ein so kleines Gebilde mit unscheinbaren Farben über den Menschen haben kann. […] Stunden und Tage hatte ich nur Auge und Sinn für diese rätselhafte Form, diese dunkel überwältigende Macht einer vergänglichen Blume.34

Durch sie lernte er, dass auch alle die wohlbekannten Blüten der Rosen, Stiefmütterchen, Tulpen nicht weniger Herrliches dem Auge boten und dass ich das Bekannteste, Alltäglichste eben nie recht gesehen hatte, und daß man auch da nur hinsehen braucht mit der ganzen Kraft der Seele, um berückenden überraschenden Reichtum zu entdecken.35

Im Bild sehen wir nur noch den Schatten der Orchidee, die, als konzeptioneller Ableger zu Baudelaires Les Fleurs du Mal, nun ihre dunkle Seite preisgibt.36 Der Schattenriss lässt die Orchidee gewissermaßen ins Unheimliche gleiten. Viel eher „als an eine zartfarbige Orchidee“ 37 lässt sie in dieser stilisierten Form zunächst an ein vielarmiges, bedrohlich glotzendes Ungeheuer denken, „in der Art der Medusen und Staatsquallen, die der Meeresbiologe Ernst Haeckel seit Jahren erforscht, gezeichnet und veröffentlicht hatte“.38 Mit der oktopusartigen Erscheinung der Orchidee, so Schirren, wollte Endell bei den Betrachter*innen ein „[s]chockartiges Erstaunen in der Wahrnehmung des Alltäglichen“ auslösen.39 Das Unheimliche 32 33 34 35 36 37 38

Schirren: Wirklichkeit der Bilder, S. 351. Wiederabgedruckt in Endell: Zauberland, S. 32. Endell: Zauberland, S. 32. Endell: Zauberland, S. 34. Schirren: Wirklichkeit der Bilder, S. 349 f. Schirren: Wirklichkeit der Bilder, S. 349 f. Dry, Graham: Orchideen als Buchschmuck eines ‚Orchideenfaches‘, in: Bibliotheksmagazin. Mitteilungen aus den Staatsbibliotheken in Berlin und München 13/38 (2018), S. 5 – 17, hier S. 7 f. 39 Schirren: Wirklichkeit der Bilder, S. 355.

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und der Schauder stehen aber nicht im Gegensatz zum Schönen. Schirren spricht vielmehr von ins Paradox führenden Auslegungsmöglichkeiten.40 Als Erinnerung an die Orchidee, die Endell so lange bewunderte, lässt sich das Schattenbild als eine romantische Kippfigur lesen, in der die Anwesenheit der zartfarbigen Orchidee gleichermaßen verneint wie evoziert wird. 3. „Reine Formkunst ist mein Ziel“ 41 Endell sah sich selbst als „nicht nur im Anfang einer neuen Stilperiode, sondern zugleich im Beginn der Entwicklung einer ganz neuen Kunst“ stehend.42 In der Auseinandersetzung mit dem Historismus forderte er eine von historischen Überlieferungen freie Ornamentik und Farbgebung und entwickelte ein Konzept der reinen Formkunst. Das Ornament sollte keine Bedeutungszusammenhänge vermitteln, sondern allein intensive Sinneseindrücke bei den Betrachter*innen hervorrufen. Endell ging es darum, „mit Formen, die nichts bedeuten und nichts darstellen und an nichts erinnern, unsere Seele so tief, so stark zu erregen, wie es nur immer die Musik mit Tönen vermag“.43 Ähnlich wie bereits um 1800 die romantische Arabeske, sollte das Ornament bei Endell keine bloße Verzierung sein, sondern auf Bewegtheit und Unendlichkeit verweisen.44 Mit dem Ornament wie mit der romantischen Arabeske verband sich der Versuch, die Fragmente der Wirklichkeit künstlerisch zu binden.45 In der Frühromantik war die Arabeske als unmittelbarer Ausdruck künstlerischer Kreativität (wieder-)entdeckt worden. Friedrich Schlegel hob ihre Bedeutung 40 Schirren: Wirklichkeit der Bilder, S. 349 f. 41 Endell in einem Brief an seinen Vetter Kurt Breysig im Herbst 1897: „Reine Formkunst ist mein Ziel. Fort mit jeder Association […] Formkunst als Parallele zur Musik“; zit. n. David: An die Schönheit, S. 178. 42 Endell, August: Formenschönheit und dekorative Kunst. I. Freude an der Form, in: Dekorative Kunst 2 (1897), S. 75 – 77, zit. n. Rehm, Robin: „Formgebilde, die ein starkes Gefühl erregen.“ August Endells geometrische Ornamentik und die Raumästhetik von Theodor Lipps, in: Bröcker, Nicola/Moeller, Gisela/Salge, Christiane (Hg.): August Endell (1871 – 1925). Architekt und Formkünstler, Petersberg 2012, S. 77 – 89, hier S. 77. 43 Endell: Formenschönheit und dekorative Kunst, zit. n. Rehm: „Formgebilde, die ein starkes Gefühl erregen“, S. 77. 44 Oesterle, Günter: Von der Peripherie ins Zentrum. Der Aufstieg der Arabeske zur prosaischen, poetischen und intermedialen Reflexionsfigur um 1800, in: Busch, Werner/Maisak, Petra (Hg.): Verwandlung der Welt. Die romantische Arabeske, Petersberg 2013, S. 29 – 36, u. ders.: Das Faszinosum der Arabeske um 1800, in: Hinderer, Walter (Hg.): Goethe und das Zeitalter der Romantik, Würzburg 2002, S. 51 – 70. 45 Vgl. Werner/Maisak (Hg.): Verwandlung der Welt. Die romantische Arabeske, Petersberg 2013.

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| Gisela Mettele als Strukturprinzip aller Dichtung hervor: Als eine scheinbar chaotische, naturähnliche Form sei sie der älteste und ursprünglichste Ausdruck der menschlichen Fantasie.46 Sie verweist, so die Kulturhistorikerin Ocón Maria Fernandez, auf das sprachlich nicht zu Fixierende und drückt gleichzeitig die Sehnsucht danach aus – als Zeichen, das, wie jedes Zeichen, das Gemeinte verfehlt.47 Auch Endells Verweis auf die Musik lässt an die Frühromantik denken, der die Musik ebenfalls als Modell für die Bewältigung einer neuen irritierenden Welterfahrung der Zeit um 1800 galt. E. T. A. Hoffmann bezeichnete sie „als die romantischste aller Künste, – fast möchte man sagen, allein rein romantisch“ im Sinne der Autonomie des Kunstwerks.48 Novalis begriff seine Dichtung als Musizieren mit Gedanken und drückte damit – wie Manos Perrakis festhält – „eine radikale Sprachkritik“ aus. „Die Sprache aus dem Geist der Musik zu betrachten“ bedeutete für ihn, sie von ihrem Abbildungscharakter zu lösen und ihr „wegen des unbestimmten und unerschöpflichen musikalischen Materials einen ebenso unerschöpflichen kreativen Charakter zuzuschreiben“.49 Wie Novalis die Sprache, so betrachtete Endell Formen aus dem Geist der Musik. Sowohl die Formgebung als auch deren Wahrnehmung sollten sich jeder Vereindeutigung entziehen. Nur „vor dem Auge des Suchenden“, der „sich ganz hingeben kann an das Jetzt, an das Hier“ erschließt sich, so Endell, eine neue Welt.50 In seinem Essay Um die Schönheit (1896) heißt es: Wer es aber gelernt hat, sich seinen visuellen Eindrücken völlig ohne Associationen, ohne irgendwelche Nebengedanken hinzugeben, wer nur einmal die Gefühlswirkung der Formen und Farben verspürt hat, der wird darin eine nie versiegende Quelle außerordentlichen und ungeahnten Genusses finden.51

Für Endell war „der Moment der Einfühlung, des Empfindens von Formen“ zentral.52 Die Frage nach einer assoziationsfreien „reinen“ Gefühlssensation zieht 46 Schlegel, Friedrich: Gespräch über die Poesie. In: Athenäums-Fragmente und andere Schriften, hg. von Andreas Huyssen, Stuttgart 2005. 47 Vgl. Fernandez, Ocón Maria: Ornament und Moderne. Theoriebildung und Ornamentdebatte im deutschen Architektendiskurs, Berlin 2004. 48 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus: Rezension der 5. Symphonie von Ludwig van B ­ eethoven, in: Allgemeine musikalische Zeitung 12 (1810), Nr. 40, Sp. 630 – 642, u. Nr. 41, Sp. 652 – 659, hier: Sp. 631; Digitale Edition von Jochen A. Bär, Vechta 201, http://www.zbk-online.de/ texte/A1094.htm (letzter Zugriff 26. März 2020). 49 Perrakis: Nietzsche, S. 78. 50 Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 170. 51 Endell: Um die Schönheit, S. 11. 52 Salge, Christiane: „Reine Formkunst ist mein Ziel“. August Endell und die „Schule für Formkunst, in: Bröcker, Nicola/Moeller, Gisela/Salge, Christiane (Hg.): August Endell (1871 – 1925).

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sich wie ein Leitmotiv durch seine Schriften.53 Inspiriert war er hier von Theodor Lipps und dessen Einfühlungstheorie. Endell hatte zunächst bei ihm in München Philosophie studiert, erst später, nach einer Begegnung mit Hermann Obrist, dessen extravagante Stickereien ihn tief beeindruckt hatten, sollte er sich für die bildende Kunst entscheiden.54 Für Lipps bestand Einfühlung in der völligen „Hingabe zur optischen Wahrnehmung“ unter Absehung jeder vorgängigen Kenntnis des Gegenstandes.55 Wie der Ästhetiker Paul Stern, Endells Zeitgenosse und ein Anhänger von Lipps, meinte, knüpfte Lipps hier an die theoretischen Voraussetzungen der frühromantischen Ästhetik an. Diese habe „mit künstlerischer Intuition die Grundanschauung der heutigen Ästhetik“ vorweggenommen, die Lipps und andere später wissenschaftlich ausgestaltet hätten.56 Im Sinne seines Lehrers Lipps ging auch Endell davon aus, dass die an die visuellen Formen gerichteten Bedeutungszuschreibungen nicht in der Form selbst lägen, sondern im Auge der Betrachter*innen und damit ihre Eindeutigkeit verlören. Es seien nicht die Gebäude, die zu den Betrachter*innen sprächen, um ihnen einen bestimmten Begriff von Schönheit zu vermitteln. Schönheit war für Endell vielmehr ein „Erlebnis“.57 Durch das Oszillieren von Bedeutungen sollte eine offene Perspektive der Wahrnehmung geschaffen werden. Einfache „Stimmungen“ lehnte Endell allerdings ab. So, wie in der Frühromantik das Sehen eine im Zusammenspiel der verschiedenen Sinne „neu zu erlernende Grammatik“ darstellte 58, ging es auch bei Endell darum, das Sehen und Wahrnehmen zu schulen. In seiner 1904 in Berlin gegründeten Schule für Formkunst Architekt und Formkünstler, Petersberg 2012, S. 103 – 119, hier S. 103 f. 53 Schirren: Wirklichkeit der Bilder, S. 348. 54 Vgl. Salge: August Endell, S. 40 u. Alexander, Zeynep Celik: Metrics of Experience: August Endell’s Phenomenology of Architecture, in: Grey Room 40 (2010), S. 50 – 88, hier S. 54; zu Obrists Einfluss auf Endell vgl. David: An die Schönheit, S. 172 – 189. 55 Eisenschmidt, Alexander: Fantastisches Berlin. Die Entdeckung einer neuen Metropole, in: Bröcker, Nicola/Moeller, Gisela/Salge, Christiane (Hg.): August Endell (1871 – 1925). Architekt und Formkünstler, Petersberg 2012, S. 327 – 336, hier S. 329. Zu Lipps Einfluss auf Endell vgl. a. David: An die Schönheit, S. 63 – 66. 56 Stern, Paul: Einfühlung und Association in der neueren Ästhetik: ein Beitrag zur psychologischen Analyse der ästhetischen Anschauung, Hamburg und Leipzig 1898 (Zugl.: München, Univ., Diss), Einleitung, Kapitel I „Der Einfühlungsgedanke in der Romantik“, S. 1 – 8, hier S. 1. Das Buch erschien in der von Theodor Lipps und Richard Maria Werner herausgegebenen Reihe „Beiträge zur Ästhetik“. Allg. zum Einfühlungskonzept: Curtis, Robin/Koch, Gertrud (Hg.): Einfühlung: Zu Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts, München 2009. 57 Salge: August Endell, S. 56. 58 Pape, Walter (Hg.): Die Farben der Romantik. Physik und Physiologie, Kunst und Literatur, Berlin/Boston 2014, S. X (Vorwort); zum Zusammenhang von Kunstautonomie und ästhetischer Erziehung vgl. a. Stockinger, Ludwig: Die ganze Romantik oder partielle Romantiken?,

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| Gisela Mettele etwa wollte er durch das freie Erfinden in Farbe und Form sowie das Studium von Naturformen, Pflanzen, Muscheln oder Käfern, die Phantasie entwickeln und das Auge für Form und Farbenwirkungen schulen.59 Wie bei Lipps war auch bei Endell die „Wirklichkeit der Bilder“ programmatisch gegen den Naturalismus gerichtet bzw. ging über das naturalistisch Gegebene hinaus.60 Was Endell lehrte, „war Ästhetik im eigentlichen Wortsinn: eine Wahrnehmungslehre, und zwar eine, die unter dem Primat des Augeneindrucks steht und die die Faktizität des bloß alltäglich Gegebenen auflöste zu einer neuen Sicht“.61 4. Das Fotoatelier Elvira Endells erster Versuch, seine Theorie der emotionalen Sensationen in der Architektur zu verankern, war die Neugestaltung des mondänen Fotoateliers Elvira in der Münchner Von-der-Tann-Straße 15. Am Rande des Englischen Gartens visà-vis des Hofgartens der Münchner Residenz war das Atelier perfekt gelegen als provokatives Statement für einen neuen Architekturstil.62 Anfang 1897 hatte er den Bauauftrag von den Besitzerinnen des Ateliers, Anita Augspurg und Sophia Goudstikker, erhalten. Beide waren führende Vertreterinnen des sogenannten radikalen Zweigs der bürgerlichen Frauenbewegung, die um 1900 in München im engen Austausch mit der modernen Kunst- und Literaturszene stand. Endell war, ebenso wie Obrist, Rilke und Ernst von Wolzogen, für den Endell einige Jahre später das Bunte Theater in Berlin gestaltete, Mitglied in dem von Anita Augspurg gegründeten Münchner Verein für Fraueninteressen.63 Viele

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in: Auerochs, Bernd/Petersdorff, Dirk v. (Hg.): Einheit der Romantik? Zur Transformation frühromantischer Konzepte im 19. Jahrhundert, Paderborn 2009, S. 20 – 41. Salge: „Reine Formkunst ist mein Ziel“, S. 110. Wir wissen wenig über die Schüler*innenschaft. Offensichtlich haben viele Frauen diese Kurse besucht, Salge: „Reine Formkunst ist mein Ziel“, S. 111. Schirren: Wirklichkeit der Bilder, S. 348. Schirren: Wirklichkeit der Bilder, S. 357. Alexander: Metrics of Experience, S. 56; zur Geschichte des Ateliers vgl. den Ausstellungskatalog von Herz, Rudolf/Bruns, Brigitte (Hg.): Hof-Atelier Elvira 1887 – 1928. Ästheten, Emanzen, Aristokraten, München 1985. Salge: August Endell, S. 42; Herz, Rudolf: August Endell in München. Bau des Ateliers Elvira und die Resonanz der Zeitgenossen, in: Herz, Rudolf/Bruns, Brigitte (Hg.): HofAtelier Elvira 1887 – 1928. Ästheten, Emanzen, Aristokraten, München 1985, S. 25 – 42, hier S. 32. Zur Münchner Frauenbewegung um 1900 vgl. Richardsen, Ingvild: Evas Töchter. Münchner Schriftstellerinnen und die moderne Frauenbewegung 1894 – 1933, München 2018. Zum Wolzogen-Theater vgl. Gisela Möller: Das „Bunte Theater“ für Ernst von ­Wolzogen in Berlin-Mitte, in: Bröcker, Nicola/Moeller, Gisela/Salge, Christiane (Hg.): August Endell (1871 – 1925). Architekt und Formkünstler, Petersberg 2012, S. 181 – 195.

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Künstler*innen und Schriftsteller*innen ließen sich im Fotoatelier Elvira porträtieren. Aber auch Aristokrat*innen, Militärangehörige und Beamte gehörten zur oft wohlhabenden Kundschaft.64 Der ganzheitlichen Grundidee des Jugendstils entsprechend, hatte Endell nicht nur den Bau selbst, sondern auch den gesamten Innenraum, das Mobiliar und die Wohnaccessoires entworfen.65 Bei der Einweihung am 29. Oktober 1899 war es jedoch vor allem die Fassade, die Aufsehen erregte. Um das Sonnenlicht vom Inneren des Ateliers fernzuhalten, war sie fast fensterlos und wurde so zur Projektionsfläche für ein sieben mal dreizehn Meter großes, auf die flache Oberfläche der Fassade geputztes Ornament. Heute gilt es als ein einzigartiges Werk des Münchner Jugendstils, damals war es hochumstritten und versetzte viele Münchner*innen in „Aufregung und Empörung“.66 Endell machte es schlagartig berühmt. Das mit allen Konventionen brechende, in leuchtenden Farben ausgeführte Reliefornament bestand aus ineinandergreifenden Ebenen mit unterschiedlichen Texturen. Die Betrachter*innen fanden nur vage Etiketten für die Beschreibung dessen, was sie da sahen. War es ein Drache oder ein „phantastisch vergrößertes Seepferdchen“ 67, eine Nixe mit wehendem Haar in den Wogen oder eine von der Gischt umspülte Muschel? Oft wurde das Ornament auch mit japanischen Drucken und Illustrationen in Büchern des Zoologen Ernst Haeckel verglichen.68

64 Vgl. Herz, Rudolf: Das Fotoatelier Elvira (1887 – 1928). Seine Fotografinnen, seine Kundschaft, seine Bilder, in: Herz, Rudolf/Bruns, Brigitte (Hg.): Hof-Atelier Elvira 1887 – 1928. Ästheten, Emanzen, Aristokraten, München 1985, S. 63 – 128. 65 Salge: August Endell, S. 43. 66 Vgl. Reichel, Klaus: Vom Jugendstil zur Sachlichkeit. August Endell (1871 – 1925). (Dissertation) Bochum 1974, S. 126; Schaffer, Nicolaus: Architektur als Bild. Das Atelier Elvira – ein Unikum der Architekturgeschichte, in: Herz, Rudolf/Bruns, Brigitte (Hg.): Hof-Atelier Elvira 1887 – 1928. Ästheten, Emanzen, Aristokraten, München 1985, S. 5 – 24. Eine eingehende Auseinandersetzung mit Schaffers Position bei David: An die Schönheit, S. 199 – 204. 67 So der Kunstkritiker Karl Scheffler; vgl. Schaffer: Architektur als Bild, S. 10. 68 Alexander, Metrics of Experience, S. 56. Wie sehr das Ornament ostasiatischen Motiven folgt, wird in der Literatur unterschiedlich bewertet. München war als Zentrum des Jugendstils auch ein Zentrum des Japonismus. Endell selbst meinte dazu: „Nicht neuen japanischen Mummenschanz sollen wir pflegen“, sondern an den Techniken der Japaner lernend, „[d] er Gedankentiefe ihrer Schöpfungen folgend, sollen wir uns bestreben, wieder selbstschöpferisch tätig zu sein“; Inga Ganzer, Spuren Ostasiens. August Endell im Kontext der Japanrezeption nach 1900, in: Bröcker, Nicola/Moeller, Gisela/Salge, Christiane (Hg.): August Endell (1871 – 1925). Architekt und Formkünstler, Petersberg 2012, S. 91 – 101, hier S. 100. Becker, Ingeborg: Im Zeichen des Seepferdchens. August Endells Möbel aus der Berliner Zeit, in: Bröcker, Nicola/Moeller, Gisela/Salge, Christiane (Hg.): August Endell (1871 – 1925). Architekt und Formkünstler, Petersberg 2012, S. 159 – 168, hebt die Bedeutung der submarinen Welt im Werk Endells hervor.

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Abb. 2 Fassade des Fotostudios Elvira, München, Von-der-Tann-Straße 15. Quelle: Stadtarchiv München, Signatur DE-1992-FS-STR-0411.

Endell selbst vermied jede Festlegung und verstand das Relief mit seinen bizarren Strukturen und Bewegungslinien als reine Form. Der ausführende Bildhauer Josef Hartwig erinnerte sich, bei der Ausfertigung durch die Vorstellung von „Beziehungen zur Natur, zum Pfirsichkern, zu flatternden Bändern oder Meereswellen, die sich am Strand kräuseln etc.“ geleitet worden zu sein.69 Endell selbst ging es um die bauliche Umsetzung eines durch „Verkettung, Verschmelzung, das Zusammenstoßen verschiedener Formen in der Fläche“ 70 entstehenden Formgebildes, das sich in den Augen der Betrachter*innen zu immer neuen Bedeutungen zusammenfügen konnte. Die Fassade stellte eine gezielte Störung im urbanen Raum dar. Als ein strategisches Paradox, das sich der Eindeutigkeit entzog, sollte es zu schockartigen „Gefühlssensationen“ herausfordern. Endells die Zeitgenossen mitunter beängstigenden Ornamente sind Wachtraumgeburten eines ästhetischen Empfindens, das sich nicht auflösen lassen wollte ins beliebig Ornamentale oder die Geschwätzigkeit des bloß Illustrierenden. Die künstlerische 69 Hartwig, Josef: Leben und Meinungen des Bildhauers Josef Hartwig, Frankfurt am Main 1955, S. 13. 70 Salge: „Reine Formkunst ist mein Ziel“, S. 109.

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Notwendigkeit seiner Formbildungen sollte […] im unmittelbaren und vom Rezipienten durchaus als unheimlich geschilderten Wahrnehmungsakt fühlbar machen, was sich bloßer Diskursivität entzieht.71

Auch wenn gerade die Fassade des Fotostudios Elvira beispielhaft zeigt, dass das Verweben von Assoziationen in die ästhetische Wahrnehmung schwer zu vermeiden ist 72, setzt Endell doch eine prinzipielle Offenheit voraus, sich immer wieder von verdinglichenden Assoziationen frei zu machen und die eigenen Wahrnehmungen in Frage zu stellen. Mit August Wilhelm Schlegel gesprochen ging es um die Möglichkeit, das einmal Gesetzte im gleichen Augenblick wieder aufzuheben.73 Helge David bezeichnet Endells „reines Sehen“ als „Versuch, künstlich einen naiven Zustand zu simulieren und der Form ihre ursprüngliche Reinheit zurückzugeben: eine Welt des Sichtbaren an der Stelle einer gewussten Welt“.74 Farbe war ein wesentliches Element der Fassade. Mit der Gestaltung in Lila und Grün wählte Endell zwei Farben, die zu den bevorzugten des Jugendstils gehörten.75 Endell nutzte diese Farbkombination auch in späteren Entwürfen, etwa in seinem Beitrag zur Ausstellung „Raumkunst“ im Berliner Kaufhaus Wertheim 1902. Dass er damit in der zeitgenössischen Wahrnehmung die gewünschte provokative Wirkung erzielte, macht Max Osborns Ausstellungsrezension deutlich. Dieser lobte zwar Endells „Mut zur Farbe“, er habe sich „diesen tollen Akkord immer wieder angesehen“, meinte dann jedoch abschließend, „aber ich muss ehrlich sagen: es geht nicht!“ 76 Vielleicht war es kein Zufall, dass Endell bei der Fassadengestaltung des Fotostudios Elvira in Lila und Grün auch die Farben der angloamerikanischen Frauenbewegung aufgenommen hat. Seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts ließen sich wohlhabende Suffragetten in Großbritannien und in den USA Schmuck im Arts-and-Crafts-Stil aus grünen, weißen und violetten Halbedelsteinen anfertigen, 71 Schirren: Wirklichkeit der Bilder, S. 351. 72 Vgl. dazu allg. Graevenitz, Gerhart v./Rieger, Stefan/Thürlemann, Felix (Hg.): Die Unvermeidlichkeit der Bilder, Tübingen 2001. 73 Vgl. den einführenden Beitrag von Sandra Kerschbaumer und Gisela Mettele im vorliegenden Band, S. 13. 74 David: An die Schönheit, S. 51. 75 Bröcker, Nicola: Das Haus am Steinplatz in Berlin Charlottenburg, in: Bröcker, Nicola/ Moeller, Gisela/Salge, Christiane (Hg.): August Endell (1871 – 1925). Architekt und Formkünstler, Petersberg 2012, S. 211 – 223, hier S. 214. 76 Osborn, Max: Die modernen Wohn-Räume im Waren-Haus von A. Wertheim zu Berlin, in: Deutsche Kunst und Dekoration 11 (1902/1903), S. 259 – 304, hier S. 267; zu violetter Tapete (mit roten Fußleisten, Fenster- und Türumrahmungen) sowie zart- bzw. dunkelgrüner Decke und Fußboden vervollständigten Möbel mit blauen Stoffbezügen den Akkord. Osborn sprach von einer „sehr kecken koloristischen Komposition“, S. 267.

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| Gisela Mettele deren Farben ein Code für „Give Women Votes“ war.77 Vor dem Hintergrund seines Engagements für die Münchner Frauenbewegung und angesichts seiner Auftraggeberinnen kann zumindest als sicher angenommen werden, dass ihm die Symbolik der Farben bekannt war. 5. Die Schönheit der großen Stadt Endells künstlerische Produktion war stets von theoretischen Schriften begleitet. Sein Essay Um die Schönheit von 1896 markierte „den Beginn einer sehr reichen schriftlichen Auseinandersetzung […] mit der ästhetischen Wahrnehmung von Kunst und Architektur“ 78. Als sein wichtigstes Werk gilt vielen Die Schönheit der großen Stadt von 1908, eine Art Labor seiner wahrnehmungstheoretischen Gedanken. Darin nimmt Endell seine Leser*innen mit auf einen Streifzug durch eine zunächst namenlose Stadt, die sich im Verlauf des Textes als Berlin entschlüsselt.79 Berlin stieg nach der Reichsgründung als Hauptstadt zum kulturellen und gesellschaftlichen Zentrum auf und wurde in der zeitgenössischen Wahrnehmung zur Stadt der Moderne schlechthin. Karl Baedeker bezeichnete sie 1908 aufgrund ihrer mangelnden historisch-architektonischen Substanz und ihrer verhältnismäßigen Traditionslosigkeit als „die größte rein moderne Stadt in Europa“.80 Im Zuge der Industrialisierung und des ökonomischen Wachstums in der Folge veränderte sich die soziale Realität in der Metropole rapide. Das rasche Bevölkerungswachstum – zwischen 1871 und 1910 hatte sich die Einwohnerzahl von etwa 800.000 auf 77 Diese Preziosen, die bis heute als „Suffragettenschmuck“ gehandelt werden, wurden bis 1918 produziert, dem Jahr, in dem britische Frauen erstmals das Wahlrecht erhielten; https:// antique-jewellery.de/omega-search/?q=Suffragettenschmuck&post_type=page (letzter Zugriff: 26. 03. 2020). 78 Salge: August Endell, S. 41; ein Verzeichnis der Schriften Endells findet sich bei Buddensieg, Tilmann: Zur Frühzeit von August Endell. Seine Münchener Briefe an Kurt Breysig, in: ­Müller Hofstede, Justus/Spies, Werner (Hg.): Festschrift für Eduard Trier zum 60. Geburtstag, Berlin 1981, S. 223 – 250, hier S. 248 – 250. 79 David: An die Schönheit, S. 227. Der sich selbst in der Stadt verlierende Flaneur ist durch Honoré de Balzac, Charles Baudelaire, Rainer Maria Rilke, Franz Hessel, Walter Benjamin u. a. vielfach literarisch beschrieben worden. Die Frage, inwieweit um 1900 die Option des ziellosen Flanierens in der Großstadt auch Frauen offenstand, ist in der Forschung ebenfalls ausgiebig diskutiert worden; vgl. hierzu klassisch Wilson, Elisabeth: The Sphinx in the City. Urban Life, the Control of Disorder and Women, Berkeley 1992. 80 Baedeker, Karl: Berlin und Umgebung. Handbuch für Reisende, Leipzig 151908, Vorwort, S. V; zu Berlin als Stadt der Moderne vgl. Mönninger, Michael: So lebt man in der Menschenwerkstatt, Rezension zu Rolf Lindner: „Berlin, absolute Stadt“. Eine kleine Anthropologie der großen Stadt, Berlin 2016, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 13. 01. 2017.

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über zwei Millionen vergrößert – führte zu oftmals schlechten und ungesunden Wohn- und Lebensbedingungen mit überfüllten Quartieren, überteuerten Mieten und völlig unzulänglichen sanitären Anlagen auch in den neu hochgezogenen Mietshäusern. Mit dem explosionsartigen Wachstum entwickelte sich zudem ein hochspekulativer Immobilienmarkt. Die Stadt war geprägt von kaum reglementiertem, wildem Bauen, meist ohne gestalterische Qualität.81 Diese Entwicklungen produzierten einerseits ausgeprägte antiurbanistische Diskurse, die unter dem Vorzeichen des lebensreformerischen Slogans „Zurück zur Natur“ oftmals dystopische Szenerien der Folgen des Städtewachstums entwickelten.82 Andererseits wurden im entstehenden Feld der Stadtplanung und des Städtebaus neue Wege gesucht, mit technischen und hygienischen Maßnahmen die expansiven Entwicklungen zu kontrollieren und zu steuern. In Berlin wurden, wie in anderen europäischen und amerikanischen Großstädten auch, städtebauliche Wettbewerbe ausgelobt und große Pläne für einen systematischen Städtebau entworfen, die darauf abzielten, den urbanen Raum mit Hilfe eines Gesamtplans zu ordnen, ihn übersichtlich zu gestalten und lesbar zu machen.83 Endell stand der Stadtflucht wie der Stadtplanung gleichermaßen skeptisch gegenüber. Die Stadtflüchtigen zählte er zu denen, die „feige, den Notwendigkeiten sich entziehend, in einer Scheinwelt“ ihre Aufgaben zu vergessen suchten.84 Aber auch eine universelle Strategie des Städtebaus hielt er weder für wünschenswert noch für möglich. Für ihn bestand die moderne Großstadt aus einer „Ansammlung von verschiedensten Abläufen und Zusammenhängen […], welche nie vollkommen zusammengeführt“ 85, sondern grundsätzlich nur fragmentarisch erfahrbar waren. Die Fragmentierung der Stadt, die Heterogenität ihrer Abläufe und die Flüchtigkeit der städtischen Momente bildeten den Kern seiner Überlegungen. Damit die Bewohner*innen der Großstadt sich in dieser chaotischen Realität zurechtfinden konnten, wollte Endell sie „lehren, ihre Stadt erst einmal richtig zu sehen und aus ihrer Umgebung so viel Freude, so viel Kraft, als eben möglich ist, zu schöpfen“.86 81 Kress, Celina: Die Stadt als imaginierte Landschaft. August Endell und Berlin um 1910, in: Bröcker, Nicola/Moeller, Gisela/Salge, Christiane (Hg.): August Endell (1871 – 1925). Architekt und Formkünstler, Petersberg 2012, S. 337 – 346, hier S. 337; der Hobrechtsche Bebauungsplan von 1862 erwies sich rasch als zunehmend unzureichendes Mittel für die Regelung der überschießenden baulichen Entwicklung der Metropole. 82 Zu den anti-urbanistischen Diskursen um 1900 vgl. Lees, Andrew: Critics of Urban Society in Germany 1854 – 1914, in: Journal of the History of Ideas 40/1 (1979), S. 61 – 83. 83 Einen Überblick über die Anfänge des Städtebaus und die entsprechenden Wettbewerbe und Konferenzen bei Bodenschatz, Harald/Kress, Celina (Hg.): Kult und Krise des großen Plans im Städtebau, Petersberg 2017. 84 Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 167. 85 Eisenschmidt: Fantastisches Berlin, S. 328. 86 Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 172.

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| Gisela Mettele Dieses Lernen zielte auf eine Wiederentdeckung des Sehens „als Genuß“ 87 gegenüber einem verzweckten oberflächlichen Erfassen der äußeren Wirklichkeit. Die Menschen z e r s e h e n eben gewöhnlich das Sichtbare, zerlegen es, zerstückeln es, nehmen Teile daraus, betrachten jenes flüchtig, dies genauer und ein drittes bis in die letzte Kleinigkeit, je nach ihrem praktischen Interesse. Daher zerrinnt ihnen die sichtbare Schönheit, sie haben keine Aufmerksamkeit für sie, und darum fragen sie unwillkürlich vor jedem Kunstwerk: was stellt es dar?88

Dagegen erschloss sich die „Wunderwelt des Sichtbaren“ nur denen, die sich „unbedingt restlos“ den visuellen Eindrücken von Farben und Formen und den unmittelbar empfundenen Gefühlssensationen hingaben.89 Endells Ausgangspunkt war die bauliche Substanz der Stadt, aber diese war für ihn nur sekundär gegenüber dem Raum, der durch die Architektur geschaffen wurde. Wer an Architektur denkt, versteht darunter zunächst immer die Bauglieder, die Fassaden, die Säulen, die Ornamente, und doch kommt das alles nur in zweiter Linie. Das Wirksamste ist nicht die Form, sondern ihre Umkehrung, der Raum, das Leere, das sich rhythmisch zwischen den Mauern ausbreitet, von ihnen begrenzt wird, aber dessen Lebendigkeit wichtiger ist als die Mauer.90

Der gebaute Raum Berlins, dessen neue Architektur er immer wieder mit harten Worten kritisiert 91, wird bei Endell zum Resonanzkörper für die Schwingungen der Stadt. Bewegungen und Geräusche machen sie zu einem rhythmisierten Ensemble. Menschen beleben sie, indem sie sich in unterschiedlicher Weise auf den Straßen bewegen und betätigen. Die Straße als architektonischer Raum ist heute noch ein elendes Produkt. Luft und Licht verbessern ihn, aber die gehenden Menschen teilen ihn neu, beleben ihn, weiten ihn, erfüllen die tote Straße mit der Musik rhythmisch wechselnden Raumlebens. Aber noch mehr: da die Menschen ungleich die gleichartige Straße begehen, anders und andere am Morgen, die ins Geschäft eilen, anders die Frauen, die einkaufen, anders am

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Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 180. Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 182. Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 183. Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 199 f. „Ich will nur von der modernen Stadt reden, die als Gestaltung mit verschwindenden Ausnahmen abscheulich ist. Die Häuser schreiend und doch tot, die Straßen und Plätze notdürftig den praktischen Erfordernissen genügend, ohne Raumleben, ohne Mannigfaltigkeit, ohne Abwechslung eintönig sich hinziehend.“; Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 185.

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Vormittag, anders am Abend, so scheiden die Straßen sich in stille, in laute, in hastig begangene, in schlendernd schauend beschrittene. Die Straßen bekommen ihr Stundenleben, sie bekommen gute Seiten und schlechte; es gibt Sonntagsstraßen und Straßen des Alltages, alle deutlich geschieden durch Dichte, Hast und Art des Getümmels, das heute grau und eilig und anderen Tages bunt und behaglich erscheint.92

Leise und laute Geräusche lassen „in der Stille einsamer Gegenden und dem Tosen geschäftiger Straßen ein viel verschlungenes seltsames Leben spüren“.93 Wie wundervoll braust der satte, dunkle Ton einer Trambahn in voller Fahrt, rhythmisch gegliedert durch das schwere Stampfen des Wagens, dann allmählich hineinklingend das harte Schlagen auf den Schienen, das Klirren des Räderwerkes, das Schlirren der Rolle und das lang nachzitternde Zischen des Zuführungsdrahtes.94

Mehr noch, das helle Rollen der Droschken, das schwere Poltern der Postwagen, das Klacken der Hufe auf dem Asphalt, […] jedes hat seinen eigentümlichen Charakter, feiner abgestuft als wir es mit Worten wiederzugeben vermögen […] Wie vielfältig sind die Stimmen der Automobile, ihr Sausen beim Herannahen, der Schrei der Hupen […] Und schließlich ganz in der Nähe die Sirenentöne der Räder, deren Speichen die Luft schlagen, und das leise rutschende Knirschen der Gummireifen.95

Ebenso belebt die Natur die Stadt. Gemeint ist damit weniger das städtische Grün als vor allem der Wechsel des Wetters und der Lichtverhältnisse, deren Schönheit „fast immer übersehen wird, weil man gar nicht gewohnt ist, eine Stadt so anzusehen, wie man die Natur, wie man Wald, Gebirge und Meer ansieht“.96 Das Wetter – eine Natur, die nicht in die Stadt geholt werden muss, sondern stets Teil von ihr ist – versteht Endell als lebendiges Wesen, „das uns geheimnisvoll wirksam immer umgibt, und das wir nur mit armseligen Worten, wie Wetter oder Klima zu nennen wissen“.97 Indem die labilen Wetterformen die Stadt immer wieder neu erscheinen lassen, ermöglichen sie momenthafte Evokationen des 92 Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 198; der Begriff „Stundenleben“ ist möglicherweise eine Reminiszenz an Rilkes Gedichtzyklus „Das Stunden-Buch“ (1905), den dieser Lou Andreas-Salomé gewidmet hatte. 93 Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 178. 94 Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 178. 95 Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 177. 96 Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 177. 97 Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 189 f.

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| Gisela Mettele märchenhaft Wunderbaren und werden so zu einem entscheidenden Faktor für die Poetisierung des Alltags.98 Das Spiel von Licht und Schatten zaubert fantastische Motive auf die „greulichen Steinhaufen“ eines wenig inspirierenden Stadtbilds und formt „aus dem hoffnungslos Häßlichen seltsame Schönheit“.99 Der Regen macht die Farben „schwerer, dunkler, satter“ und legt über alles „das Wunder des Glanzes und der Spiegelungen, die alles in ein glitzerndes Netz einhüllen, und aus den vernünftig nützlichen Straßen ein schimmerndes Märchen, einen funkelnden Traum machen“.100 Nebel lässt die Gebäude, „die fast alle an einem sinnlos übertriebenen Relief kranken, […] feiner, zurückhaltender, flächiger“ erscheinen. Selbst der Berliner Dom, dieses erschreckende Erzeugnis eines ziellos und steuerlos gewordenen Handwerks, scheint an dunstigen Herbsttagen, wenn gegen zehn Uhr morgens der Nebel sichtig und warm wird, ein wundervolles Gebilde; die unsinnigen Vertiefungen, die tausendfältigen Zerschneidungen und Teilungen verschwinden, von Nebel angefüllt, und die zerrissenen Formen werden voll und groß. Der Nebel verfeinert die schlechte Architektur.101

Die Gesamtheit der Raum- und Bewegungswirkungen sind es, „die vereint mit den Schleiern der Luft und des Lichtes aus der großen Stadt das unbegreiflich bunte Märchen machen, das man nie erschöpfen kann“.102 Menschen, Fahrzeuge, Geräusche und Wetter verwandeln die große Stadt in einen „gestimmten Raum“, dessen Gestimmtheit sich aus dem wahrgenommenen Bedeutungsganzen seiner einzelnen Bestandteile ergibt.103 Die städtischen Momente sollten gewissermaßen als ein sich ständig veränderndes, das Transitorische des urbanen Lebens 98 Wetterphänomene werden auch in Schriften und Bildern der historischen Romantik häufig thematisiert bzw. dargestellt, allerdings existiert noch wenig Forschungsliteratur, die dieses Thema systematisch erschließt. Eine Ausnahme bildet Horn, Eva/Schnyder, Peter (Hg.): Romantische Klimatologie. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1 (2016), wobei sich nicht alle Beiträge spezifisch auf die Romantik beziehen. Intensiver mit dem Thema befasst hat sich die angloamerikanische Romantikforschung: vgl. etwa Reed, Arden: Romantic ­Weather. The Climates of Coleridge and Baudelaire, Hanover, NH 1984; Collett, Anne/Murphy, Olivia (Hg.): Romantic Climates. Literature and Science in an Age of Catastophe, London 2019; vgl. a. das AHRC-Projekt https://romanticcatastrophe.leeds.ac.uk/. Für die Hinweise danke ich William Planz. 99 Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 185. 100 Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 187. 101 Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 186. 102 Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 202. 103 Friedrich, Thomas/Gleiter, Jörg H.: Einleitung, in: dies. (Hg.): Einfühlung und phänomenologische Reduktion. Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kultur, Berlin 2007, S. 7 – 36, hier S. 29; vgl. a. Hasse, Jürgen: Was Räume mit uns machen – und wir mit ihnen. Kritische Phänomenologie des Raumes, Freiburg 22015, S. 219.

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aufnehmendes Bild wahrgenommen werden, wie es sich etwa in Endells Beschreibung des regen Lebens auf dem Platz der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zeigt, wo er oft an Sommerabenden, auf der Terrasse des Romanischen Cafés sitzend, stundenlang „dem bunten Spiele der kommenden und gehenden Menschen“ zusah. [D]er ganze Platz scheint bedeckt von vereinzelten Menschen. Jeder löst sich vom anderen. Zwischen ihnen breitet sich der Raum. In perspektivischer Verschiebung scheinen die entferntesten Gestalten immer kleiner, und man empfindet deutlich die weite Dehnung des Platzes. […] Die Schreitenden schieben sich durcheinander, verdecken einander, lösen sich wieder ab, schreiten frei und allein, jeder aufrecht einen Platzteil betonend, verdeutlichend, und so wird der Raum zwischen ihnen ein fühlbares, ungeheures, lebendiges Wesen, was noch viel merkwürdiger wird, wenn Sonne jedem einzelnen Fußgänger einen begleitenden Schatten, oder Regen ein blitzendes unsicheres Spiegelbild unter die Füße breitet.104

Die verfließenden Stadträume und verschwommenen Optiken impressionistischer Gemälde waren Endells Vorbilder dafür, wie er die flüchtigen momenthaften Wahrnehmungen des lebendigen städtischen Raums in Szene setzen wollte, „alles zugleich, ein Sehfeld, das vollständig mit einem einzigen Blick umfaßt werden kann“, wie der Kunstkritiker Karl Scheffler (1869 – 1951) die Eigenart der impressionistischen Malerei beschrieben hat.105 Bei den französischen Impressionisten sah Endell sein Ideal eines sich von den Gegenständen lösenden Sichtbaren verwirklicht. Er wollte die Großstadt zeigen wie diese, „die nicht mehr Menschen, Brücken, Türme [malten], sondern die seltsamen Erscheinungen, die Luft, Beleuchtung, Staub, Blendung aus ihnen machen“.106 Nicht zufällig sind alle drei im Text enthaltenen Abbildungen impressionistische Stadtansichten: zwei Bilder von Claude Monet, Die Kohlenträger (1875) und Saint-Germain L’Auxerrois (1866/67), letzteres als Frontispiz, sowie Max Liebermanns Zeichnung Kanal in Leyden.

104 Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 200. Bei Endell wird nur vom „Café“ und der „romani­ schen Kirche“ gesprochen. Dass es sich bei der „romanischen Kirche“ um die neoromanische Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche handelt, legt Endells Beschreibung nahe: „Schaudervoll, höchst schaudervoll als Architektur, konfus im Aufbau, sinnlos in den Verhältnissen, töricht im Detail, mühsam zusammengetragen aus tausend alten Kostbarkeiten […]“; Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 189. Zur Identifizierung der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und des Romanischen Cafés vgl. Schirren, Wirklichkeit der Bilder, S. 352. 105 Scheffler, Karl: Max Liebermann, München und Leipzig o. J., (1906), S. 68. 106 Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 184. Lothar Müller hat darauf hingewiesen, dass Impressionismus sich um 1900 von der Malerei löste und „zu einer diskursiven Plattform der Erörterung von Modernität insgesamt“ wurde; Lothar Müller: Impressionistische Kultur. Zur Ästhetik von Modernität und Großstadt um 1900, in: Steinfeld, Thomas/Suhr, Heidrun (Hg.): In der großen Stadt. Die Metropole als kulturtheoretische Kategorie, Frankfurt am Main 1990, S. 41 – 69, hier S. 47.

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Abb. 3 Max Liebermann, Kanal in Leyden, Zeichnung. Quelle: Scheffler, Karl: Max Liebermann, München und Leipzig o. J. , vor S. 69.

Endells Momentaufnahmen von den Straßen und Plätzen Berlins bilden eine Landschaft, die sich ständig weiterentwickelt und verändert. Orte erscheinen und verschwinden, immer wieder werden neue Momente kreiert und zerstört. Endell verfolgt die fluiden Bedingungen des großstädtischen Lebens und visualisiert ein Ganzes, das nicht mehr statisch erfasst werden kann, sondern sich ständig neuen Bedingungen anpassen muss.107 Die Überlagerung der verschiedenen Eindrücke entspricht der fragmentierten Realität der modernen Großstadt, allein in der Wahrnehmung ist diese Fragmentierung momenthaft außer Kraft gesetzt.108 Endell beschreibt Straßen, Plätze, Verkehrsanlagen, Bahnhöfe, Brücken und andere Ingenieursbauten aber auch die undefinierten Bereiche der Stadt wie die typischen Berliner Brandwände oder marginale urbane Orte, die sich jeglicher etablierten Definition entziehen.109 Repräsentative städtische Bauten spielen kaum eine Rolle bzw. kommen vor allem als abschreckende Beispiele historistischen Bauens in den Blick. Die urbanen Hierarchien werden neu bewertet. Die repräsentativen Standorte der Metropole verlieren an Bedeutung. Die sonst eher vernachlässigten Gegebenheiten der Stadt bieten dagegen potentielle Schauplätze, wo sich im Erstaunen über das Alltägliche eine flüchtige, transitorische Schönheit zeigt. 107 Eisenschmidt: Urban Wanderer, S. 76. 108 Vgl. a. Eisenschmidt: Fantastisches Berlin, S. 333. 109 Eisenschmidt: Fantastisches Berlin, S. 327.

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Endells Wahrnehmung ist nicht eskapistisch, auch Arbeitswelten und schlechte Wohnbedingungen kommen in den Blick. Bereits 1905 hatte er in der von H ­ einrich und Lily Braun herausgegebenen sozialistischen Wochenschrift Die Neue Gesellschaft mehrere Artikel zu seiner Idee einer visuellen Erziehung veröffentlicht, die ausdrücklich auch die „arbeitenden Klassen“ mit einschließen sollte.110 In Die Schönheit der großen Stadt lotet er am Beispiel der von ihm so genannten „Straße der Vogelkäfige“ im Nordosten Berlins die Möglichkeiten individueller Aneignungen von widrigen baulichen Bedingungen aus. Die Häuser seien dort „sehr hoch, höher als jetzt erlaubt“, mit düsteren Wänden und in jedem Stock zwei Gitterbalkons wie kleine Vogelkäfige, und jeder Käfig ist ganz voll vom dunklen Grün und Rot der dort sorgsam gezogenen Blumen und Schlingpflanzen. So scheinen die Straßenwände ganz bedeckt mit dicken, sattfarbigen Nestern, die in der perspektivischen Verschiebung dicht aufeinander hocken und der trübseligen armen Straße einen seltsamen Reiz von verhaltener leidenschaftlicher Glut, von phantastischer Großartigkeit geben. So kann aus einem schematisierenden Paragraphen einer Baupolizeiordnung, aus rücksichtslosester Ausnutzung des Bodens, aus architektonischem Unverstand und aus der Sehnsucht des eingesperrten Städters nach Blumen und Wachstum ein Bild von seltener Schönheit entstehen. Natürlich ist das ein besonders glückliches Zusammentreffen.111

Die Beschäftigung mit dem Unscheinbaren und Unvollständigen folgt einem romantischen Verfahren der Umkehrung, wie es bereits Novalis beschrieben hat: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisire ich es.“ 112 Im Akt des Romantisierens wird scheinbar Gegensätzliches vereint und dadurch die verlorene Ganzheit der Welt zumindest momenthaft wieder hergestellt, gleichzeitig aber auch beständig wieder 110 Vgl. Endell, Vom Sehen, S. 114 – 144, hier S. 116 f. Endell verstand sich selbst nicht als Sozialdemokrat, dennoch prägte seine Ästhetik das kulturpolitische Programm der Wochenschrift, das Julie Braun-Vogelstein rückblickend so resümierte: „Sie führte weniger durch Museen als durch den Frühling, den Sommer, den Herbst, durch die Straßen der Stadt bei Morgenund Abendlicht; sie öffnete das Auge für Form und Farbe, erschloß im Leser die eigenen künstlerischen Erlebnismöglichkeiten und bereitete so zum Betrachten von Kunstwerken vor. Sie belehrte nicht, sie regte die Selbständigkeit an“; Braun-Vogelstein, Julie: Heinrich Braun. Ein Leben für den Sozialismus. Stuttgart 1967, S. 190. 111 Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 191. 112 Novalis: Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen (1798), in: Novalis, Werke. Tagebücher und Briefe, hier Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk, hg. v. Hans-­Joachim Mähl. München 1978, S. 334 (Nr. 105).

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| Gisela Mettele aufgehoben.113 Die Erinnerung an das jeweils Andere und das Wissen um den permanenten Wandel verunsichert die Wahrnehmung und eröffnet die Möglichkeit, das Gegebene zu transzendieren. Ohne die sozialen Verwerfungen der Großstadt zu sentimentalisieren, will Endell – gegen den verdinglichten Heimatbegriff der Heimatschutzbewegung gerichtet – dazu veranlassen, eine „Heimat“ im Erleben zu finden, damit „auch das Schrecklichste Ansporn zum Wollen und Handeln“ werde.114 Endell wendet sich explizit gegen an fixe Identitäten, bloße Traditionen oder nationale Größe gebundene Heimatvorstellungen. Für ihn meint Heimat „nichts Festes, Unwandelbares, sondern ein Werdendes, stetig sich Änderndes“ und damit prinzipiell Unendliches.115 Die Suche nach dieser unendlichen Welt, „nicht bloß in Raum und Zeit, im großen und kleinen, sondern in den Arten und Weisen, wie wir sie betrachten können“, habe gerade jenen, die glaubten, „am Ende zu sein, nichts mehr erwarten zu dürfen […] neue und aberneue Türen geöffnet“ und ihnen gezeigt, „dass die Welt nie und nirgends ein Ende hat, daß wir ungestraft jeden Schleier heben dürfen; immer werden dahinter neue Wunder, neue Geheimnisse verborgen liegen.“ 116 Für Endell boten gerade die ungestalteten Elemente der großen Stadt unbegrenztes Potential für die Entfaltung der eigenen Phantasie, wie er an der Aussicht verdeutlicht, die sich ihm beim Blick aus dem Fenster seines Arbeitszimmers auf die gegenüberliegende Giebelwand eröffnete. [I]ch kann von meinem Schreibtisch nichts sehen außer ihr, und den Himmel nur, wenn ich ganz nahe ans Fenster trete und den Kopf zurückbeuge. Die Wand ist unbeworfen, aus schlechten Ziegelsteinen, bald gelb, bald rötlich, mit grauen, unregelmäßigen Fugen. Aber diese Wand lebt, sie ist bei jedem Wetter ein anderes Geschöpf: grau, eintönig, schwer an trüben Tagen, lebhaft bewegt an hellen. […] Manchmal kommt die Sonne und bescheint ihren oberen Teil. Dann wird die Wand oben feurig und leuchtend und der untere Teil bekommt einen weichen, feinen, bläulichen Ton.117

Je weniger erschlossen die Orte waren, umso mehr konnten sie zur Projektionsfläche für das Spiel von Farben und Formen werden und für eine von vorgängigen Festlegungen freie Wahrnehmung des Schönen. Diese Offenheit machte den 113 Schwarz: Romantik, S. 16 u. Behler, Ernst: Klassische Ironie, romantische Ironie, tragische Ironie: zum Ursprung dieser Begriffe, Darmstadt 1981, S. 82. 114 Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 169. 115 Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 169 f. 116 Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 170. Dass Romantisieren und Sozialkritik auch in der historischen Romantik keine Gegensätze bildeten, zeigt das Beispiel Bettina von Arnims; vgl. Gisela Mettele, Das Vogtland in Berlin. Bettina von Arnims Kritik der sozialen Verhältnisse in der preußischen Metropole, in: Kouli, Yaman/Luks, Timo/Mettele, Gisela/Schramm, Manuel (Hg.): Regionale Ressourcen und Europa, Berlin 2018, S. 363 – 380. 117 Endell: Schönheit der großen Stadt, S. 188.

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Betrachter*innen keine Vorgaben, sondern gab ihnen die Freiheit, unter unbeständigen Bedingungen sich ihren eigenen Eindrücken zu überlassen. Die ungeformte bauliche Struktur und das Wetter verwirklichten gewissermaßen das, was Endell bereits bei der Gestaltung der Fassade des Fotoateliers Elvira vorgeschwebt haben mag und was mit dinglichen Mitteln nur zeichenhaft verwirklicht werden konnte. 6. Epilog Das einst von Endell gestaltete Ornament in der Münchner Von-der-Tann-Straße 15 überlebte die Schließung des Fotostudios im Jahr 1928. Es zierte die Fassade über mehrere Jahrzehnte. Der ausführende Bildhauer Josef Hartwig berichtete in seinen Erinnerungen, wie er sein „Jugendwerk später bei jeder Gelegenheit betrachtete. Technisch war es einwandfrei gemacht und hielt sich glänzend“.118 Als gezielte Störung im öffentlichen Raum blieb das Ornament erhalten, bis das NS-Regime es abschlagen ließ. „Als Hitler die von-der-Tann-Straße zur Pracht-Avenue in Richtung auf das Haus der Deutschen Kunst“ gestalten wollte, so berichtet Hartwig, „mußte der ihm verhaßte Jugendstildrache herausgehauen“ werden.119 Am 1. Juli 1937 ordnete die Stadtverwaltung die Beseitigung des Ornaments an. Die „häßliche, im Straßenbild sehr störend wirkende Fassade des ehemaligen Photo-Ateliers“ sei „bis spätestens 10. Juli 1937 derart abzuändern, daß unter Beseitigung der bisherigen Verzierung ein glatter Wandputz hergestellt und mit neuem Anstrich versehen wird“.120 Hartwig, der auch die Entfernung des Ornaments registrierte, erinnerte sich: „Da jedoch der neue Putz eine andere Saugfähigkeit hatte als der alte, so schimmerte der Drache noch viele Jahre in geisterhafter Silhouette sozusagen als unsterbliches Werk an der Fassade.“ 121 In dieser schattenhaften Form überdauerte das Ornament auch die Zerstörung des Hauses am 25. April 1944 bei einem Fliegerangriff.122 Trotz oder gerade wegen der physischen Zerstörung auch des schattenhaft überdauernden Ornaments in der Nachkriegszeit hat das Nachdenken Endells über die Schönheit der großen Stadt Bestand: als Anregung zur immer wieder neu in der subjektiven Wahrnehmung bzw. im Wahrnehmungsmoment sich vollziehenden Aneignung der großen Stadt, ihrer Schönheit im Auge der Betrachter*in. 118 Hartwig: Leben, S. 14. 119 Hartwig: Leben, S. 14. 120 Brief der Lokalbaukommission München 1 Juli 1937, zit. n. Herz, Rudolf: Von-der Tannstraße 15. Zur Geschichte eines Hauses und seiner Straße, in: Herz, Rudolf/Bruns, Brigitte (Hg.): Hof-Atelier Elvira 1887 – 1928. Ästheten, Emanzen, Aristokraten, München 1985, S. 43 – 62, hier S. 60. 121 Hartwig: Leben, S. 14. 122 Herz: Von-der-Tannstraße 15, S. 62.

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Abb. 4 Fassade des vormaligen Fotoateliers Elvira nach dem Fliegerangriff am 25. April 1944. Quelle: Stadtarchiv München, Signatur: DE-1992-FS-WKII-STR-3682.

Celina Kress

Fatti Urbani. Aldo Rossi und die Poesie urbaner Dinge 1

1. Hölderlin als Schlüssel Die Mauern stehn Sprachlos und kalt, im Winde Klirren die Fahnen (Friedrich Hölderlin 1805)

In einer seiner Vorlesungen an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich formte der Architekt Aldo Rossi den Schluss von Friedrich ­Hölderlins Gedicht Hälfte des Lebens um und endete mit der Paraphrase: „Meine Architektur steht sprachlos und kalt.“ 2 Dazu erläuterte er später in seiner Wissenschaftlichen Selbstbiographie: Ich war – und bin es immer noch – von der Natürlichkeit, der Unmittelbarkeit und dem Klassizismus der Architekturen und dem Naturalismus der Personen und Gegenstände angezogen. Die Spannung, die ich dabei empfand, erweckte in mir Formen exaltierter Kälte […].3

Das hier beschriebene Empfinden inspirierte Rossis journalistische Tätigkeit und seine frühen Schriften. Es materialisierte sich in seinen frühen Bauten und fand sichtbaren Ausdruck in Zeichnungen und Stillleben, in denen Rossi leere Arkaden, gestreifte Strandkabinen und emaillierte Kaffeekannen zu immer neuen menschenleeren Arrangements versammelte. So lenkt der Umgang mit dem berühmten Gedicht des Romantikers Hölderlin den Blick bereits auf zentrale Aspekte der Seh- und Arbeitsweise des Architekten und Theoretikers Aldo Rossi. Die Kältemetapher bildete einen wichtigen Orientierungspunkt darin.4 Sie liefert zugleich 1 Wiederabdruck von Celina Kress, Fatti Urbani. Aldo Rossi und die Poesie urbaner Dinge, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2016) S. 51 – 65. 2 Rossi, Aldo: Wissenschaftliche Selbstbiographie, Bern/Berlin 1988, S. 17. 3 Rossi: Selbstbiographie, S. 76. 4 Vgl. Moravánszky, Ákos: Formen exaltierter Kälte. Rossis Rationalismus und die Deutschschweizer Architektur, in: ders./Hopfengärtner, Judith (Hg.): Aldo Rossi und die Schweiz. Architektonische Wechselwirkungen, Zürich 2011, S. 209 – 222, hier S. 210.

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| Celina Kress einen ersten Hinweis auf Rossis Affinität zum romantischen Denken und macht auf mögliche Bezüge seiner Arbeit zur Romantik oder einem ‚romantischen Modell‘ aufmerksam. Hier geht es darum, weitere Zusammenhänge zwischen Aspekten von Rossis Arbeit und Strategien des romantischen Denkens offenzulegen: Dabei richtet sich der Blick zuerst auf Rossis Haltung in der Debatte um Stadt und Region in Italien in den frühen 1960er Jahren, anschließend geht es um das Konzept der fatti urbani, die hier als roter Faden in Rossis theoretischen Projekten zur Stadt interpretiert werden. Abschließend wird gefragt, welche neuen Perspektiven auf den Gesamtbeitrag Rossis Verbindungen mit der Romantik als Modell eröffnen. Am Werk des Architekten Aldo Rossi schieden sich von Beginn an die Geister: Insbesondere unter jüngeren Architekten und Studenten fand er seit den 1960er und 1970er Jahren Bewunderer und ergebene Anhänger, während ihn andere für einen überschätzen Formalisten hielten. „Seine schlagwortartigen Thesen waren nicht weniger einprägsam, hypnotisch und charismatisch als die Le Corbusiers. Sie zu übernehmen, war wie bei Le Corbusier eher Glaubensakt als rationale Entscheidung“ 5, bemerkten die Architekturhistoriker Tzonis und Lefaivre. Der Soziologe Lucius Burckhardt sah dagegen den Grund für die Attraktivität seines zeitweiligen Kollegen an der ETH in der simplen Tatsache, dass die „Schweizer Studenten noch nie von der Tipologia gehört hatten, und die Profs noch nie bei Spaghetti und weißen Trüffeln so klug unterhalten wurden.“ 6 Ein jüngst in der Architekturzeitschrift Arch+ erschienener Artikel etwa greift Francoise Choays Abkanzelung von Rossis Hauptwerk, Die Architektur der Stadt, als „Blütenlese der Absurditäten“ 7 auf und schließt damit an die traditionell kritische Haltung der Zeitschrift zu Rossi an.8 Allgemein wird Rossi auch in der deutschsprachigen Architektur- und Städtebaugeschichte seit langem eine zentrale Position und Bedeutung eingeräumt 9, während er in der deutschen Planungsgeschichte und -theorie bisher nur selten Erwähnung 5 Tzonis, Alexander/Lefaivre, Liane: Architektur in Europa seit 1968, Frankfurt am Main/ New York 1992, S. 62. 6 Burckhardt, Lucius: Bildungsbrocken aus Italien, in: Werk, Bauen und Wohnen 84/12 (1997), S. 37 – 44, hier S. 41. 7 Choay, Françoise: Conclusion, in: Merlin, Pierre/Choay, Françoise/D’Alfonso, Ernesto (Hg.): Morphologie urbaine et parcellaire, Saint-Denis 1988, S. 156. 8 baukuh: Die Architektur der Stadt. Das nicht gehaltene Versprechen, in: Arch+ 214 (2014), S. 14 – 27; Pellnitz, Alexander: Rossi and Germany. Translation and Perception of The Architecture of the City, in: De Maio, Fernanda/Ferlenga, Alberto/Montini Zimolo, Patrizia (Hg.): Aldo Rossi. La storia di un libro, Padua 2014, S. 213 – 214. 9 Etwa Kruft, Hanno-Walter: Geschichte der Architekturtheorie. Von der Antike bis zur Gegenwart, München 1985, S. 517; Neumeyer, Fritz: Nachdenken über Architektur. Eine kurze Geschichte ihrer Theorie, in: ders. (Hg.): Quellentexte zur Architekturtheorie, München 2002, S. 69 – 70.

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fand.10 Jüngere Arbeiten zu Aldo Rossi beschäftigen sich mit vielfältigen Teilbereichen seiner Arbeit, die aus immer neuen Blickwinkeln beleuchtet werden.11 Dies lässt seine Arbeit seltsam fragmentiert erscheinen und verstärkt den Eindruck, er habe Ansichten revidiert und seine Arbeitsweise und seinen Stil mehrfach gewandelt. Rossi selbst unterschied zwei Phasen seiner Karriere: In seiner Jugend habe er von der Möglichkeit profitiert, „das Verhältnis von Theorie und Praxis zu studieren […]. Heute jedoch ziehe ich es vor zu entwerfen und zu bauen und bin fasziniert von der Möglichkeit an unterschiedlichen Orten und in verschiedenen Ländern zu bauen“ 12, erklärte er anlässlich der Verleihung des Pritzkerpreises 1990 in Venedig. Das italienische Wirtschaftswunder und der Bauboom zwischen 1958 und 1964 waren von intensiven und politisch aufgeladenen Debatten zur Urbanistik und Architektur begleitet.13 Aldo Rossi schrieb bereits seit der ersten Hälfte der 1950er Jahre für die einflussreiche, von Ernesto Nathan Rogers geleitete Architekturzeitschrift Casabella continuità, und seine Artikel erhielten besondere Aufmerksamkeit. Rossi stellte die Doktrin der Moderne in Architektur und Städtebau grundsätzlich in Frage. Von Anfang an suchte er nach Ansatzpunkten für eine grundlegend neue Herangehensweise an Fragen der Stadtplanung und des Städtebaus. Dafür beschäftigte er sich gezielt mit den Hauptvertretern und deren gebautem Erbe der klassischen Moderne in Architektur und Städtebau. Seine Artikel beleuchteten Arbeiten von Le Corbusier, Adolf Loos, Emil Kaufmanns Boullée-Rezeption, Besonderheiten des Mailänder Neoklassizismus oder der Berliner Wohnungstypologien 14 – dabei

10 Vgl. etwa Albers, Gerd: Zur Entwicklung der Stadtplanung in Europa. Begegnungen, Einflüsse, Verflechtungen, Braunschweig/Wiesbaden 1997; Frick, Dieter: Theorie des Städtebaus. Zur baulich-räumlichen Organisation der Stadt, Berlin 2011; Altrock, Uwe: Städtebau in der Bestandsentwicklung – vom Durchbruch nachmoderner Leitbilder bis zu Tendenzen hybriden Städtebaus, in: ders./Kunze, Roland/Schmitt, Gisela/Schubert, Dirk (Hg.): 40 Jahre Städtebauförderung – 50 Jahre Nachmoderne. Jahrbuch Stadterneuerung 2012, Berlin 2012, S. 125 – 146. 11 Vgl. etwa Brichetti, Katharina: Von Boullée bis Rossi. Vom romantischen Klassizismus zur Postmoderne, Berlin 2002; Ruhl, Carsten: Magisches Denken – Monumentale Form. Aldo Rossi und die Architektur des Bildes, Wiesbaden 2014; Schnell, Angelika: Die Konstruktion des Wirklichen. Eine systematische Untersuchung der geschichtstheoretischen Position in der Architekturtheorie Aldo Rossis, Stuttgart 2009. 12 Rede Aldo Rossis anlässlich der Verleihung des Pritzkerpreises in Venedig 1990, zit. in: Forster, Kurt W.: Architektur vor dem Verstummen retten. Rossis Zürcher Jahre als Transit, in: Moravánszky, Ákos/Hopfengärtner, Judith (Hg.): Aldo Rossi und die Schweiz. Architektonische Wechselwirkungen, Zürich 2011, S. 119 – 130, hier S. 124. 13 Lobsinger, Marie Louise: The New Urban Scale in Italy, in: Journal of Architectural Education 59/3 (2006), S. 28 – 38; Aureli, Pier Vittorio: The Project of Autonomy. Politics and Architecture within and against Capitalism, New York 2008. 14 Diese Artikel sind gesammelt in: Rossi, Aldo: Scritti scelti sull’ architettura e la città, Mailand 1975.

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| Celina Kress argumentierte Rossi immer aus einer ungewöhnlichen, eigenständigen und kritischen Perspektive. Die in seinen Artikeln entwickelten neuen Fragestellungen und Positionen machte er zu zentralen Bausteinen seines Projekts einer „grundlegenden Theorie des Urbanen“.15 Mit diesem Projekt wollte Rossi den zu dieser Zeit von vielen Akteuren geforderten und diskutierten grundsätzlichen Wandel in Architektur und Städtebau auf eine umfassend neue theoretische Basis stellen. Er arbeitete mit den diskursleitenden Architekten und Urbanisten seiner Zeit zusammen – in Workshops und Seminaren an den nationalen Architekturzentren in Mailand, Venedig, Florenz und Rom – und pflegte vielfältige internationale Kontakte.16 Zugleich misstraute Rossi dem modernen Spezialistentum und war überzeugt, dass sich die Komplexität urbaner Phänomene nicht auf das jeweilige disziplinäre Feld von Architektur, Stadt- oder Regionalplanung reduzieren ließe. Der Architekt ließ sich von vielfältigen kulturellen Ausdrucksformen inspirieren und sammelte Anregungen und Hinweise aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen. 1966 erschien Rossis Buch L’architettura della città. Der Text versammelt viele Einzelbetrachtungen und Beobachtungen, die Rossi zu einer umfassenden Theorie der Stadt zu verbinden suchte. In vier Kapiteln kreisen seine Überlegungen um vier zentrale Begriffe: Typus, primäre Elemente, Permanenz und Locus. Der Text, der als Rossis Hauptwerk gilt, liefert eine komplexe Verdichtung seiner Standpunkte. In den folgenden zwei Jahrzehnten ergänzte Rossi diese Basisarbeit zu einer Theorie der Stadt, an der ihm so viel gelegen war, mit unterschiedlichen Projekten: vor allem das Projekt der città analoga und die von ihm kuratierte Ausstellung zur XV. Triennale in Mailand 1973. Zu Recht wurden Defizite und nicht eingelöste Versprechen der theoretischen Arbeiten und Projekte Rossis aufgezählt und angemerkt, dass Rossis anfänglich breiter internationaler Erfolg aufgrund der offenbar fehlenden Systematik und Methodik seines Buches schon bald wieder verblasste.17 Umso bemerkenswerter ist das trotzdem anhaltende, wenn auch etwas diffuse Faszinationspotential seiner Beiträge, das immer neue Erklärungsversuche angeregt hat. Anthony Vidler formulierte bereits 1976 eine erste epochale Einordnung. In dem einflussreichen Aufsatz The Third Typology versuchte er, die historische Relevanz des von Rossi vertretenen theoretisch-methodischen Ansatzes zu klären.18 Darin stellte Vidler den 15 Teil des Untertitels der deutschen Übersetzung von L’archittetura della citta. Die italienische Originalschrift hat keinen Untertitel; vgl. Rossi, Aldo: Die Architektur der Stadt. Skizze zu einer grundlegenden Theorie des Urbanen, Düsseldorf 1973. 16 Etwa durch eine Reise nach Ostberlin auf Einladung von Hans Schmidt, Direktor der Deutschen Bauakademie, Berlin, im November 1961. 17 Vgl. etwa Moravánszky: Formen, S. 214. 18 Vidler, Anthony: The Third Typology, in: Oppositions 3/7 (1976); leicht gekürzte deutsche Übersetzung in: Blomeyer, Gerald R./Tietze, Barbara (Hg.): In: Opposition zur Moderne. Aktuelle Positionen in der Architektur, Braunschweig 1980, S. 108 – 116.

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Erklärungsmodellen der Moderne als „erster“ und „zweiter Typologie“ die neue „dritte Typologie“ der „neuen Rationalisten“ um Aldo Rossi kritisch gegenüber: Er bezeichnete die Architekturtheorien des 18. Jahrhunderts als „erste Typologie“, die Entstehungszusammenhänge der Architektur auf Grundformen aus der Natur zurückführe, während die „zweite Typologie“ – ausgelöst durch die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert – Architektur ausschließlich als technisches Problem angesehen habe. Beide zielten jeweils auf umfassende Erklärungsmodelle der Architektur, deren Wesen jeweils auf umfassende Erklärungsmodelle der Architektur, deren Wesen jeweils mit Sinnzusammenhängen erklärt wurde, die außerhalb der Architektur selbst liegen. Die modernekritischen Beiträge der neuen italienischen Rationalisten und im speziellen Aldo Rossis beschrieb Vidler als „dritte Typologie“: Charakteristisch für diese neue Haltung sei, dass sie weder nach allgemeinen „Gültigkeitserklärungen“ noch nach „ganzheitlichen Mystifizierungen der Vergangenheit“ suche und Architektur – „auch ohne einen klaren Satz von Regeln“ – ganz auf ihre eigene Natur beziehe.19 Bereits Ende der 1970er Jahre war Vidler bewusst, dass die von Rossi eingeführte Selbstreferenzialität der Architektur der Gefahr des (postmodernen) Formalismus ausgesetzt war sowie von kapitalistischen Konsumlogiken vereinnahmt zu werden drohte. Nur rhetorisch konnte er den neuen Rationalismus von „jeglicher Nostalgie in Anlehnung an die Geschichte“ und von „Eklektizismus“ freisprechen.20 Zudem wies die von Vidler gewählte Bezeichnung „Ontologie der Stadt“ in eine falsche Richtung, denn sie suggerierte eine Form von Vollständigkeit, Bestimmtheit und Festigkeit, die Rossis Prinzipien und Projekte gerade nicht aufweisen. Zugleich verengte der gewählte Leitbegriff der „Typologie“ Vidlers eigentlich breit angelegte historische Argumentation auf lediglich einen der von Rossi bearbeiteten konzeptuellen Schlüsselbegriffe. Dies machte den Text eher missverständlich und begrenzte seine Wirksamkeit in der theoretischen Debatte wie auch für die urbanistische Praxis. Bisher wurden die vielfältigen, überraschenden und interessanten neuen Perspektiven, die Rossi eröffnet hat, nur als unvollendet und fragmentarisch wahrgenommen. Somit erschienen diese als defizitär, woraufhin sich Enttäuschung darüber einstellte, dass Rossi das Gesamtmodell, nach dem er so explizit gestrebt hatte, schuldig geblieben war. Hier kann das Angebot der jüngeren Romantikforschung genutzt werden, um neue Zugänge und Verständnismöglichkeiten zu Rossis Werk und den von ihm mitgeprägten Positionen und Projekten zu testen. Die systematisch-historische Analyse könnte damit auch wertvolles, bisher noch nicht genutztes Anregungspotential für die städtebauliche Theorie und Praxis in der Gegenwart verfügbar machen. Einige

19 Vidler: Third Typology, S. 113. 20 Vidler: Third Typology, S. 116.

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| Celina Kress Annahmen zum Begriff der ‚Romantik‘ bilden den Ausgangspunkt:21 Romantik bezeichnet sowohl eine historische Epoche wie auch zugleich programmatische Einstellungen, die mit bestimmten Stimmungsqualitäten verbunden werden. Deren Besonderheiten erklären sich ganz wesentlich aus der Nachbarschaft und Beziehung zwischen der Epoche der ‚Romantik‘ und der Epoche der ‚Aufklärung‘. Diese Epochennachbarschaft prägt die Ambivalenz romantischer Strategien und ihren zentralen Kern: das Streben nach Ganzheit, Allgemeingültigkeit und Gemeinschaft angesichts der tatsächlich fortschreitenden Auflösung, Ausdifferenzierung und Individualisierung. Die Annahme, dass sich Romantik somit auch als Modell verstehen lässt, ermöglicht es, die damit verbundenen Strategien zu abstrahieren, und eröffnet neue, umfassende Erklärungszusammenhänge für Phänomene aus anderen disziplinären Feldern und zeitlichen Kontexten. Auch Aldo Rossi arbeitete mit seinen modernekritischen Texten und Projekten an einer historischen Nahtstelle, am Übergang zur Nach- oder Postmoderne, möglicherweise einem Epochenübergang. Seine zentralen Themen – etwa Stadt und Peripherie oder die Ambivalenz von wissenschaftlicher Strenge und individuellem Kunstschaffen – stehen in Verbindung mit wichtigen Bezugspunkten romantischer Stadtvorstellungen. Eine systematischere Analyse dieser Verbindungen könnte zu einem besseren Verständnis seines Werks beitragen. Kehren wir noch einmal zu Rossis Paraphrase auf Hölderlins Gedicht Hälfte des Lebens zurück, werden nun romantisch-ästhetische Strategien identifizierbar, die Rossi hier offenbar interessierten: Dieses Gedicht beschreibt Sommer und Winter als aufeinanderfolgende Zustände. Im Titel wird aber nur auf eine Hälfte angespielt. Dies ruft die Ahnung von etwas Ganzem hervor, das aber nie zustande kommt, weil zu einer Zeit immer nur der eine oder der andere Zustand eintritt. Dieser ist dann jeweils angefüllt mit der Erinnerung an den jeweils anderen oder mit seiner Erwartung. So treibt das Unvollständige ein imaginiertes Vollständiges hervor. Das Wissen um den permanenten Wandel versetzt die jeweilige Hälfte in einen Schwebezustand: Während der überreife Sommer schon die Ahnung seines Vergehens in sich trägt, erzeugt der Winter Sehnsucht und Hoffnung, enthält also eine hohe Potentialität. Mit der Kältemetapher entschied sich Rossi für diese zweite Hälfte. Das Interesse des Architekten für dieses romantische Bild legt nahe, auch Rossis Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, seine verbale Strenge und die stereometrische Abstraktion seiner frühen Entwürfe auf Zusammenhänge mit Strukturen des romantischen Denkens zu untersuchen.

21 Angelehnt an die Überlegungen von Stefan Matuschek und Sandra Kerschbaumer, siehe: ­Matuschek, Stefan/Kerschbaumer, Sandra: Romantik als Modell, in: Fulda, Daniel/­ Kerschbaumer, Sandra/Matuschek, Stefan (Hg.): Aufklärung und Romantik. Epochenschnittstellen, Paderborn 2015, S. 141 – 156.

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2. Von den Rändern zum Zentrum: Die Stadt als Ganzes Dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe[n]. (Novalis)22

Kontinuierliche Bevölkerungszunahme durch Zuzug der Landbevölkerung kennzeichnete die Entwicklung italienischer Städte bereits vor dem Zweiten Weltkrieg. In der Nachkriegszeit setzte sich diese Tendenz fort, verstärkt durch das italienische Wirtschaftswunder zwischen 1957 und 1964. Mit Bevölkerungszunahmen zwischen einer halben und einer Million in Mailand, Turin und Rom erreichte der Urbanisierungsschub bis 1971 seinen Höhepunkt. Am Rand der Städte errichteten private und staatliche Baugesellschaften massenhaft einfach ausgestattete Wohnkomplexe in direkter Nachbarschaft zu Industrie- und Gewerbebauten. Die damit verbundenen beschleunigten gesellschaftlichen Veränderungsprozesse hatten gravierende Auswirkungen auf das soziale und räumliche Gefüge der italienischen Städte. Traditionelle, teilweise rural geprägte Lebensstile mussten an die vom Massenkonsum geprägte städtische Lebensweise angepasst werden und veränderten diese auch umgekehrt. Ungleiche soziale und wirtschaftliche Bedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten im Kerngebiet und an den Rändern spalteten die Städte sozial und räumlich. Diese umfassenden urbanen Wandlungsprozesse sowie die unbefriedigenden Ergebnisse der Wohnungsproduktion an den Rändern der Städte forderten Architekten dazu heraus, ihre Rolle als Planende grundsätzlich neu zu bestimmen und lösten zu Beginn der 1960er Jahre eine lebhafte, politisch aufgeladene Debatte im professionellen Feld der Urbanisten in Italien aus. Dabei fanden sich die italienischen Experten nicht in regionalen Zirkeln zusammen sondern standen landesweit in enger Verbindung. Der überregionale Austausch unter den Fachleuten entwickelte sich durch wechselnde Engagements der Akteure an den Architekturfakultäten in Mailand, Venedig und Rom, in professionellen Vereinigungen und Aktionsgruppen sowie durch temporäre Ereignisse wie Konferenzen und speziell organisierte Seminare. Zentral ging es um die Frage, wie der Städtebau und die architektonische Gestaltung den neuen Formen des Massenkonsums, neuen Kommunikationsmitteln und wachsender Mobilität angepasst werden sollten.23 Der Architekt Giuseppe Samonà, Dekan des Istituto Universitario di Architettura di Venezia (IUAV), prägte den Begriff la 22 Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, hg. v. Hans-Joachim Mähl, zit. in: Matuschek/ Kerschbaumer: Romantik, S. 148. 23 Vgl. etwa: Il volto della città, VII. Convegno nazionale del’Istituto nazionale urbanistica, in: Urbanistica 32 (1960), S. 5 – 8.

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| Celina Kress nuova dimensione (der neue Maßstab), um neue Formen der Verbindung von Stadt und Land in der Stadtplanung zu beschreiben. Auf dieser Basis sollten dynamische Verbindungen zwischen Zentren, Peripherien und Stadtregionen entwickelt und vorhandene soziale und ökonomische Disparitäten ausgeglichen werden. Giorgio Piccinato und der junge Architekturhistoriker Manfredo Tafuri arbeiteten in ihrem Konzept der città-territorio das Planungsprinzip des neuen stadtregionalen Maßstabs als offene urbane Form weiter aus. Sie betonten das politische Ziel einer faireren Verteilung von Wohlstand und Dienstleistungen zwischen Stadt und Region auf der Basis neuer Transport- und ökonomischer Austauschformen.24 Die radikale politische Linke lehnte dieses Konzept als Ausdruck eines „abgemilderten Kapitalismus“ ab, der die Arbeiterschaft auf neue Weise in das System integriere, um diese noch produktiver zu machen. Die einzige Alternative für solche Neuerfindungen der Stadt sei es dagegen, sich die Stadt als autonome Struktur genauso anzueignen, wie sie ist.25 Diese radikal linke Position vertrat auch der Architekt Aldo Rossi und machte sie zur Basis seiner Stadttheorie. Auf zwei Veranstaltungen 1962 und 1963 kam es zur direkten Konfrontation der beiden Positionen. Der Architekt Giancarlo De Carlo, Leiter des Bereichs Urbanismus am Istituto Lombardo per gli studi economici e sociali (ILSES) in Mailand, organisierte im Januar 1962 in Stresa eine Tagung mit den wichtigsten Vertretern der Stadtplanung in Italien und internationalen Planungsexperten aus England, Frankreich und Deutschland. Die Diskussion wurde im folgenden Jahr bei einem vom Olivetti-Konzern gesponserten, prominent besetzten Studienseminar in Arezzo fortgesetzt.26 Die Mehrheit der Planer verstand die funktionalistische Stadt im Sinne der Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM) als Gegenstand und Ziel der Stadt- und Regionalplanung. De Carlo, selbst CIAM-Mitglied, erläuterte, dass sich die konkrete Gestalt der dezentral organisierten Stadtregionen aus den wissenschaftlich ermittelten sozialen und ökonomischen Bedingungen und Bedarfen organisch ableite. De Carlo beschrieb Stadtregionen als sich „selbst organisierende, dynamische Systeme. “ 27 Allein die optimale Verarbeitung funktionaler Anforderungen führe sowohl zur angemessenen ästhetischen Gestalt der Stadt wie auch zu neuen Formen sozialer Gerechtigkeit. Der „offenen Struktur“ der Stadt stellte De Carlo das Negativbild der historischen Stadt gegenüber, charakterisiert durch ihre geschlossene Form, hierarchische Gliederung und statische Struktur. 24 Vgl. Piccinato, Giorgio/Quilici, Vieri/Tafuri, Manfredo: La città-territorio verso una nuova dimensione, in: Casabella continuità 270 (1962), S. 16 – 25. 25 Vgl. Greppi, Claudio/Pedrolli, Alberto: Produzione e programmazione territoriale, in: Quaderni rossi 3 (1963), S. 94 – 101, zit. in: Aureli: Project of Autonomy, S. 60 f. 26 De Carlo, Giancarlo u. a. (Hg.): Relazioni del seminario. La nuova dimensione della città – La città regione, Mailand 1962. 27 De Carlo: Relazioni del seminario, S. 189, zit nach: Lobsinger: New Urban Scale, S. 32.

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Abb. 1a und b Projekt für eine Quartierserweiterung im Norden von Mailand 1960. Oben: Auguste Perrets Projekt für den Wiederaufbau von Le Havre 1945 – 1955 als Referenz. Unten: Perspektive mit Blick auf das Zentrum der Stadt. Quelle: Polesello, Gian Ugo/Rossi, Aldo/Tentori, Francesco: Il problema della periferia nella città moderna, in: Casabella Continuità H. 241/1960, S. 44, 51.

Auf diese Dichotomie ließ sich Rossi nicht ein. Er vertrat eine grundsätzlich andere Vorstellung von Städten sowie den Möglichkeiten und Aufgaben der Stadtplanung. Rossi betrachtete jeweils konkrete Situationen und die Ergebnisse der Stadtplanung der Moderne an den Rändern der Städte. Er richtete den Blick auf die Realität der Peripherie. In seinem 1961 publizierten Artikel La città e la periferia beschrieb der Architekt die Erscheinung bekannter Wohnsiedlungen am Rande Roms und Mailands als „Grenze zwischen Stadt und Land“, als absurdes Niemandsland, als Provisorium ohne Wurzeln und ohne Perspektive. Als positive Vision für die Zukunft forderte Rossi, diese Räume „aus der Isolation zu befreien“ und wieder mit den Zentren der Städte zu verbinden: sozial, funktional und räumlich. Er illustrierte seinen Artikel mit eindringlichen Fotos, die wie

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| Celina Kress Abb. 2 Zeichnung von Aldo Rossi: Fragmente früher Bauprojekte. Quelle: Tafuri, Manfredo: Architecture and Utopia, Cambridge, Mass., 1976, Umschlag.

Filmszenen aus bekannten Spielfilmen des italienischen Neorealismus erscheinen.28 Auf Pasolinis, Fellinis und Viscontis Filme geht der Text ebenso ein wie auf die Arbeit italienischer Schriftsteller wie Giovanni Testori, die sich künstlerisch mit den Räumen am Rand der Städte beschäftigten, in denen die gesellschaftliche Transformation Italiens ihren sichtbarsten Ausdruck fand. Rossi argumentierte, dass die gebaute Stadt immer auch gelebte und damit historische Realität sei. Und er suchte nach Möglichkeiten, diese evolutionäre Realität der Stadt zu erfassen, um sie als Planer und Architekt zu verbessern. Während der 1960er Jahre versuchte Rossi auf verschiedene Weise, Verbindungen zwischen der Peripherie und dem Zentrum der Stadt herzustellen: In einem Wettbewerbsbeitrag für ein Stadterweiterungsprojekt an der Via Farini im Norden Mailands schlug sein Team einen mehrere hundert Meter langen straßenbegleitenden Riegel vor (Abb. 1). Die Gesamtform war ein monumentales Zeichen für die beabsichtigte Verbindung. Neu war zudem, dass auf der Südseite Anschluss an den Maßstab des Quartiers gesucht und Komplettierungen der vorhandenen Raumkanten vorgeschlagen 28 Rossi, Aldo: La città e la periferia, in: Casabella continuità 253 (1961), S. 23 – 27.

Fatti Urbani | Abb. 3 Aldo Rossi: L’Architettura della Città, Luftbild einer Idealstadt auf dem Umschlag der Originalausgabe von 1966. Quelle: Rossi, Aldo: L’Architettura della Città, Padua 1966, Titelblatt.

wurden. Einige Jahre später konnte Rossi für das neue Wohnquartier Galaratese im Norden Mailands tatsächlich ein 182 Meter langes Wohnungsbauprojekt realisieren. Bereits kurz nach der Fertigstellung 1974 kam es zu Protestveranstaltungen der Bewohner.29 Dabei ging es zwar nicht um Formfragen, sondern um die geplante private Vermarktung der als Arbeiterwohnungsbau geplanten abstrakten räumlichen Großstruktur. Jedoch wurden die seriell aufgereihten und sich vielfach wiederholenden Elementarformen von den Nutzern nicht als kollektive Erinnerungsspeicher volkstümlicher urbaner Wohnungstypologien verstanden, und auch der Wert solcher Referenzen für die Organisation des täglichen Lebens wurde nicht erkannt. Lediglich Rossis Zeichnungen und die Kunstfotografien, die von dem Projekt angefertigt wurden, vermitteln etwas von dem poetischen, über den konkreten Gebrauch hinausweisenden Gehalt des Projekts, den Rossi tatsächlich meinte 30 (Abb. 2 und Abb. 3). 29 Vgl. Ruhl, Carsten: Magisches Denken, S. 106. 30 Aldo Rossi beschrieb die Poetik des Alltäglichen in diesem Projekt kurz nach der Fertigstellung: „In the last few days I saw the first open windows, clothes hanging out to dry in

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| Celina Kress 3. Fatti urbani: Der rote Faden Der locker geknüpfte Faden der Erzählung schlingt sich durch die in romantischen Romanen danach häufig variierten Szenerien von Schlössern, Klöstern, Burgen, Flußauen und Wäldern,  […] wo unablässig das Posthorn, das Waldhorn oder eine Hirtenflöte ertönt. Dazwischen die Unterweisungen durch die Meister der Kunst. (Rüdiger Safranski 2007)31

Die Regionalplanung in Italien folgte in den 1960er Jahren wesentlich den von den Mitgliedern der CIAM formulierten und vertretenen Grundsätzen der Charta von Athen. Die funktionalistische Stadtplanung zielte auf eine Neuerfindung der Stadt. Da sie die überlieferte Stadt als zukunftsfähiges Modell grundsätzlich ablehnte, stellte sie offenkundig auch keine Methoden zur Verfügung, um die gegebene Realität der Städte zu erkunden oder diese planerisch und baulich zu verbessern. Für eine Urbanistik, die von den konkreten Gegebenheiten jeweils spezifischer Städte ausging, fehlten zu Beginn der 1960er Jahre die theoretischen Grundlagen und praktischen Beispiele. Um sich aber mit der konkreten Form und Materialität einer Stadt auseinandersetzen zu können, musste man sich mit ihren gebauten Räumen, also mit der Architektur am Ort, beschäftigen. Mit diesem Motiv veröffentlichte Aldo Rossi während der 1950er und 1960er Jahre eine große Zahl von Fachartikeln, in denen er die unterschiedlichsten Themen der Architekturgeschichte beleuchtete.32 Die Aufsätze dokumentieren seine Suche nach Hinweisen, methodischen Zugriffen und Best-Practice-Beispielen, mit denen er viele Dimensionen der real existierenden Städte und verschiedene Momente ihrer Entwicklung in einem Gesamtmodell einfangen wollte. Kaleidoskopartig ließ Rossi diese Vorarbeiten in sein 1966 erschienenes Buch L’architettura della città einfließen. Gedanken über und Perspektiven auf Elemente der Stadt und ihre historische Entwicklung sind in den vier begrifflichen Rubriken – Typus, primäre Elemente, Permanenz und the loggias – the first timid signs of life it will assume when people move in. I am confident that the spaces reserved for this daily life – the big colonnade, the ballatoi – will bring a sharp focus to the dense flow of daily life and the deep popular roots of this residential architecture and of this ‘big house’ which would be at home anywhere along the Milanese waterway or any Lombardian canal.“, in: Rossi, Aldo: Buildings and Projects, New York 1985, S. 75. 31 Safranski, Rüdiger: Romantik. Eine deutsche Affäre, Frankfurt am Main 2013, S. 106. 32 Vgl. etwa: Rossi, Aldo: Il Concetto di Tradizione nella Architettura Neoclassica Milanese, in: Società (1956), S. 474 – 494; Rossi, Aldo: Emil Kaufmann e l’architettura dell’illuminismo, in: Casabella continuità 222 (1958), S. 34 – 46; Rossi, Aldo: Adolf Loos 1870 – 1933, in: Casabella continuità 233 (1959), S. 5 – 12; Rossi, Aldo: Il Convento de la Tourette de Le Corbusier, in: Casabella continuità 246 (1960), S. 4; Rossi, Aldo: Aspetti Tipologia Residenziale a Berlino, in: Casabella continuità 288 (1964), S. 11 – 20.

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Locus – zusammengefasst. Dennoch hat sich die Schrift den Versuchen, eine konsistente, logisch-systematische Theorie der Stadt nachzuvollziehen, immer wieder entzogen. Und auch die 1973 erschienene deutsche Übersetzung des Buches hat Missverständnisse eher befördert.33 Dabei hat Rossi die zwei Pole seines Verständnisses der Stadt in den einführenden Kapiteln klar dargelegt. Diese beiden Pole bilden, auf vielfältige Weise ineinander verwoben, die Basis seiner Theorie der Stadt. Rossi ging davon aus, dass die Architektur der konkreteste Ausdruck der Stadt sei.34 Um aber die Komplexität der Stadt in den Blick nehmen zu können, unterschied er zwischen Baulichkeiten und den fatti urbani. Als Baulichkeiten bezeichnete er die Monumente oder primären Elemente und die Wohngebiete, also allgemeine, auf bestimmten Typologien beruhende Baustrukturen. Mit fatti urbani bezeichnete er die Stadt als Prozess, also alle Vorgänge des ‚Stadt-Machens‘ und des ‚Stadt-Werdens‘.35 Rossi achtete darauf, dass sich beide Perspektiven in allen Teilen des Buches durchdringen. In den vier Kapiteln des Buches reflektierte er über Systematisierung und Beschreibung, Geschichte und Politik sowie über konkrete Teilbereiche der Stadt. Die fatti urbani bildeten die Basis einer neuen Betrachtungsweise der Stadt. Dieser Begriff ermöglichte es Rossi, vielfältige Elemente der Stadt zu entdecken, zu beschreiben und immer wieder neue Bezüge herzustellen. Der inhaltlich offene, assoziative Begriff war das zentrale Instrument für Rossis Projekt einer Theorie der Stadt. Dieses Projekt setzte sich ausdrücklich mit der materiellen Formation der Stadt auseinander, analysierte ihre Architektur und ihre Geschichte. Rossi war davon überzeugt, dass die typischen Formen, die aus der Vergangenheit der Stadt ausgewählt werden können, sich immer in und durch politisches und soziales Handeln ausgeprägt haben, dass diese Typen also ihre gesellschaftliche Bedeutung bereits in sich tragen. Rossi abstrahierte die gebaute Realität der Stadt nicht vom sozialen Handeln. Vielmehr verstand und erklärte er materielle Formen als sichtbaren, historisch geprägten Ausdruck politischer und gesellschaftlicher Strukturen und konkreter Handlungsweisen der Akteure. Den entscheidenden Hinweis für dieses Verständnis liefert der Begriff der fatti urbani selbst. Er bezeichnet „Taten“, „Handlungen“, „Gegebenheiten“ oder „Tatsachen“, die die materiellen Formen der Stadt erst ermöglichen oder hervorrufen: Dazu gehören Ideen, Visionen und Zeichnungen ebenso wie die sozialen Umstände und die politischen Strukturen. 33 Vgl. zu den Übersetzungsproblemen jüngst Pellnitz: Rossi and Germany, der eine neue Übersetzung ankündigt (S. 226, FN 55). 34 Der erste Satz des Buches lautet: „Stadt wird in diesem Buch, dessen Gegenstand sie ist, als Architektur verstanden“, Rossi: Architektur, S. 12. 35 Vgl. etwa in der Einleitung: „Diese Methode beruht einerseits auf dem Verständnis der Stadt als eines kontinuierlichen Bauvorgangs und damit als eines menschlichen Artefaktes (la teoria degli fatti urbani) und anderseits auf der Unterscheidung zwischen primären Elementen und Wohngebieten.“ Rossi: Architektur, S. 13.

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| Celina Kress Der Begriff weckt zugleich Assoziationen an Emile Durkheims Konzept der „faits sociaux“, mit dem dieser umgekehrt soziale Fakten auch als Dinge, also als faktische Grundlage der soziologischen Analyse verstand.36 Den zentralen Zusammenhang zwischen fatti urbani und den „typischen Formen“ der Stadt beleuchtete Rossi aus verschiedenen Perspektiven immer wieder neu. Er folgte dabei keiner streng wissenschaftlichen Struktur, sondern collagierte Überlegungen, Assoziationen und Informationen aus verschiedenen Sachgebieten, ebenso wie er auch seine Leitbegriffe Typus, primäre Elemente, Permanenz und Locus eher reflektierend umrundete, als sie allgemein verbindlich zu definieren. Dieses Buch dokumentiert den Versuch, die Stadt wieder als Ganzes wahrzunehmen, ohne ihre Komplexität auf vermeintlich logische Systeme und gesicherte Aussagen zu reduzieren. Rossi setzte damit dem „naiven Funktionalismus“ seiner Kollegen seinen „exaltierten (irrationalen) Rationalismus“ entgegen und zielte auf eine neue Haltung in der räumlichen Planung. Deren Grundlage war die Anerkennung der konkreten Gegebenheiten und ihrer historischen Entwicklung. Rossi wollte eine Struktur zur Analyse von urbanen Entwicklungen zur Verfügung stellen. Damit wollte er die gebaute und gelebte Realität der Städte – insbesondere für Planer – dechiffrierbar machen, ohne die Stadt „neuerlich auf einige Aspekte [einzuschränken] und damit ihre eigentliche Bedeutung aus den Augen [zu verlieren]. “ 37 4. Romantische Strategien: Rossis Fluchten Aldo Rossi floh vor eindeutigen Botschaften. (Bruno Reichlin, 1998)38

Auf die Poesie im Werk von Aldo Rossi ist immer wieder hingewiesen worden.39 Meist wird das Bildhafte seiner Architektur hervorgehoben, seine Nähe zur Malerei De Chiricos und zu den Surrealisten. Vielfach wird Rossi selbst zitiert, denn er hat immer wieder deutlich erklärt, wie wichtig ihm das Märchenhafte, das „Geheimnisvolle, Unfassbare und Verzaubernde“ 40, die Poetik als Inspirationsquelle war. Poesie oder Poetik war für Rossi – ähnlich wie für die Romantiker – das 36 Durkheim, Emile: Les règles de la méthode sociologique [1895], Paris 1988; vgl. auch ­Moravánszky: Formen, S. 213. 37 Rossi: Architektur, S. 18. 38 Reichlin, Bruno: Unberechenbar, unnachahmlich, in: Werk, Bauen und Wohnen 85 (1998), S. 39. 39 Vgl. etwa Scully, Vincent: The End oft the Century Finds a Poet, in: Rossi: Buildings, S. 12 – 13. 40 Rossi: Scritti Scelti, S. 362 – 363.

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Medium, die Methode, mit der er die unauflösliche Widersprüchlichkeit zwischen der Sehnsucht nach Klarheit und universaler Logik auf der einen Seite und der tatsächlichen „Unordnung der Dinge“ 41 auf der anderen aushalten und in konkreten Projekten produktiv machen konnte. Rossis theoretische Schriften basieren ebenso auf Poesie als Methode wie sein bildnerisches Werk. Auf diese Weise verbindet die Poesie in Rossis Arbeit Theorie und Praxis, die er selbst noch als zwei zeitlich aufeinander folgende Phasen seiner Arbeit beschrieb, zu einer untrennbaren Einheit. Auf poetische Weise machte Rossi immer neue Anläufe, um den – nur auf den ersten Blick simpel erscheinenden – Anspruch, „von den Gegebenheiten auszugehen“, theoretisch abzusichern und zum universellen städtebaulichen Prinzip zu erweitern. Genau dies war auch das Ziel seiner gebauten Architekturcollagen, die er zuerst aus abstrakten, später aus historisch anmutenden Formen zusammenfügte. In Hinblick auf dieses Verfahren warnte Rossi selbst eindringlich vor der Gefahr „stilistischer Anpassungsrestaurierung. “ 42 Angesichts des wachsenden Interesses am historischen Material schrieb er Ende der 1970er Jahre bereits enttäuscht: „Wer sich ernsthaft die Frage nach dem geschichtlichen Stadtkern gestellt hat, reduziert am Ende die wirkliche Stadt immer auf ein Denkmal der Stadtgeschichte und komprimiert die städtische Dynamik in dessen Formen.“ Genau dies führe aber zu jener „stilistischen Anpassungsrestaurierung“, deren Ergebnisse „durchwegs allzu mittelmäßig“ gewesen seien, und zwar bis heute.43 Damit adressierte Rossi selbst die zentralen Vorwürfe, denen sich die historisch-analytische Entwurfsmethode seit ihrer Erfindung ausgesetzt sah: unkritische Konsumgängigkeit und mangelhafte Qualitätssicherung. Rossi wich Anwürfen aus dieser Richtung aber auch aus, indem er der individuellen Kreativität des Architekten einen immer höheren Stellenwert beimaß. Seine Position zwischen Analyse und Entwurf (Rationalität und Irrationalität) bestimmte er poetisch-ambivalent: „[…] die Rationalität oder ein Minimum an Luzidität genügt, um den gewiss faszinierendsten Aspekt zu analysieren: das Irrationale und das Unsagbare.“ 44 Ob mit Rossis poetischer Methode auch das politische Ziel der sozialen und topographischen (Re-)Integration der Peripherie in die Stadt erreichbar wird, bleibt damit weiterhin in der Schwebe.

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Rossi: Selbstbiographie, S. 38. Rossi, Aldo: Die venedischen Städte, in: ders.: Die venedischen Städte, Zürich 1978, S. 27. Rossi: venedische Städte, S. 27. Rossi: Selbstbiographie, S. 94.

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Stadtmarketing und Museum

Christian Saehrendt

Sommernacht in Offenbach. Die Romantisierung der Unorte: Ein neuer Trend der Kulturindustrie

Eine diffuse Sehnsucht macht sich in unserer Gegenwart bemerkbar wie ein leiser ziehender Schmerz; eine Sehnsucht nach großen Gefühlen, nach einem „echten“, „wahren“ Leben, eine Sehnsucht nach weiter Welt und alter Zeit. Die einen igeln sich ein, ziehen sich in Schöner-Wohnen-Eigenheim-Idyllen zurück, die anderen suchen in plötzlicher Ruhelosigkeit das Glück in der Ferne. Einerseits Bionade-Biedermeier, andererseits permanenter hyperaktiver Eskapismus: Fernund Weltreisen werden wie noch nie nachgefragt, Outdoorabenteuer gesucht und Extremsport getrieben. Man bucht Pauschalarrangements in Romantik-Hotels, immer neue Vintage-Moden und Retrowellen im Design jagen einander, neue Heimatliebe erblüht, hier und da auch ein aufgefrischter Nationalismus oder ein gefühliger Antikapitalismus. Was ist die Kraft hinter all diesen paradoxen Fluchtbewegungen und Versteckspielen? Meiner Ansicht nach ist es eine neue Welle der Romantik, die wie vor gut zweihundert Jahren als Reaktion auf einen technologischen und sozialen Wandel zu verstehen ist. Der zentrale Punkt in dieser vielgestaltigen und widersprüchlichen Bewegung ist die Sehnsucht nach dem Authentischen. Sie ist so stark, dass man geradezu von einem Zwang zum Authentischen sprechen kann. Das Gefühl des Einheitsverlustes hat die romantische Bewegung vor zweihundert Jahren entscheidend angetrieben, jenes Gefühl von Zerrissenheit, das sich einstellte mit den großen, fundamentalen Trennungen, die mit Aufklärung, Moderne und rationalistischer Wissenschaft und Philosophie vollzogen worden waren: der Trennung von Gefühl und Verstand, von Glauben und Wissen, von Natur und Geist, von Gott und Mensch, von Leben und Arbeiten, von Kunst und Leben – und schließlich auch der Trennung von Liebe und Vernunft. Die romantische Weltanschauung wird vom Traum beherrscht, all diese Trennungen der Moderne wieder aufzuheben, ein großes Ganzes wiederherzustellen. Vergleichbar ist dies mit einer Vorstellung vom authentischen Leben, das nicht in einzelne soziale Rollen und Perspektiven zerfällt, sondern in dem sich eine konsistente, wahrhaftige Persönlichkeit den existenziellen Herausforderungen stellen kann. Das Romantisieren hat heute oftmals eine nostalgische Ausrichtung. So verwundert es nicht, dass sich romantische Visionen auf vormoderne Epochen oder Gesellschaftsmodelle beziehen, die es – auch architektonisch – wiederherzustellen gelte – siehe die neue Frankfurter Altstadt oder die Dresdner Frauenkirche. In der Kunst, im Tourismus

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| Christian Saehrendt und in der Architektur kamen romantische und neoromantische Haltungen durch naturalistische und historisierende, bisweilen kitschig und kulissenhaft anmutende Bildprogramme und Dekorationen zum Ausdruck. Neu ist, dass seit einiger Zeit auch die städtebaulichen und architektonischen Zeugnisse der Moderne sowie das darin beheimatete Prekariat Gegenstand von Romantisierungsprozessen geworden sind, die von einer gebrochenen Ästhetik, einer Underdog-Verherrlichung und von märchenhaften sozialen Aufstiegsgeschichten geprägt werden. Darin wird eine doppelgesichtige Tradition der Romantik sichtbar, einerseits das Erkennen (und Bedauern) der Veränderungs- und Aufspaltungsprozesse der Moderne, andererseits das trotzige Festhalten an einem mystischen, vormodernen Weltzugang mit den Mitteln von Kunst, Musik und Rausch. 1. Sommernacht in Offenbach Seit einigen Jahren thematisieren Medien unwahrscheinliche, manchmal geradezu aschenputtelartige Erwerbsbiografien – an denen sie allerdings selbst manchmal gehörigen Anteil haben – etwa diejenige Mark Medlocks: Zunächst Ghetto-Kid aus der berüchtigten Offenbacher Lohwald-Siedlung, dann diverse Jobs als Pflegehelfer, Müllmann, Küchenhilfe, später Sänger, schließlich Gewinner von „Deutschland sucht den Superstar“ und erfolgreicher Popstar. Inzwischen spricht kaum noch jemand mehr von ihm, doch Offenbach hat mittlerweile einen neuen Star hervorgebracht. Der Stern Aykut Anhans ist aufgegangen, der sich vom Schulversager, flüchtigen Betrüger, Kfz-Lehre-Abbrecher und Buchmacher zum hochgeschätzten und selbst im bürgerlichen Feuilleton bejubelten Rapper aufschwang. Unter dem Künstlernamen „Haftbefehl“ besingt er das harte Leben in seiner Heimatstadt, allerdings nicht ohne Gefühl: Block Romantik, paar Chayas, paar Girls/ laufen vorbei, Chabos pfeifen hinterher/ Polizeistreifen machen es uns schwer/ […] Fick die Straßen, so wie Chaker sagt/ die Köpfe gefickt und die Herzen vernarbt/ […] Sommernacht in Offenbach, Sommernacht in Offenbach […]1

Die Medlocks oder Anhans suchen ihr Glück in Städten und Vierteln, die weithin als soziale Brennpunkte, als abgewirtschaftete und heruntergekommene Innenstadtviertel und Großsiedlungen, als ästhetische Unorte bekannt sind. So steht „Offenbach“ als Chiffre für eine deindustrialisierte, architektonisch mittelmäßige, im 1 Lyrics aus dem Track „Sommernacht in Offenbach“.

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Schatten der Metropolen vernachlässigte Gemeinde, die überall sein könnte. Zudem kann Offenbach, von dem aus man die glitzernden Türme des Frankfurter Bankenviertels sehen kann, mit einem Alleinstellungsmerkmal punkten: dem höchsten Migrantenanteil einer deutschen Stadt. „Haftbefehl“ formt in seinen Texten aus diesen Zutaten eine selbstbewusste Underdog-Identität und artikuliert zugleich einen Lokalpatriotismus, der sich durch Härte, Ehrlichkeit und damit besondere „Echtheit“ auszeichnet. Auch die Rapperin Schwesta Ewa alias Ewa Malanda aus dem benachbarten Frankfurt zeigt sich als patente Aufsteigerin, der es gelingt, das Hamsterrad von Drogensucht und Beschaffungsprostitution zu verlassen und den sozialen Aufstieg als Künstlerin zu schaffen. Zugleich scheint sie dem Milieu treu zu bleiben, nunmehr aber als Unternehmerin, die sich juristischen Vorwürfen der Zuhälterei ausgesetzt sah. Sie soll fünf jugendliche Fans zur Prostitution gezwungen haben. Am 20. Juni 2017 wurde sie wegen 35-facher Körper­verletzung, Steuerhinterziehung und sexueller Verführung Minderjähriger zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt.2 Die tiefe Milieuverwurzelung mag durchaus als Authentizitätsbeweis ihrer Texte dienen, ebenso bleibt das Bahnhofsviertel mit seinen Nachtgestalten und Großstadtlichtern unverzichtbare Kulisse: Ich komm mit Rap-Sprüchen/ die so heiß sind wie Crack-Küchen/ Du checkst die Hälfte, weil du nicht echt bist!/ […] Braunes Blut in den Adern/ Hier hast du was erreicht, wenn du umsteigst auf Weiß/ Krank oder? Sag mal!/ Das ist der Frankfurter Alltag!/ […] Blaulicht mein Feind – Rotlicht mein Zeuge! / […] Was rappst du? Ich seh’ du wirst bleich, guck weiter Filme – wir leben den Scheiß!3

Ein anderer Unort mit ähnlich hohem Bekanntheitsgrad findet sich in BerlinKreuzberg: das Areal rund um das Kottbusser Tor in Berlin. Seine 1970er-JahreBebauung ist in die Galerie städtebaulicher Sünden eingegangen, wird mittlerweile von Hipster-Locations und Massen internationaler Tourist*innen besiedelt. Schon in Peter Fox‘ Berlin-Hymne „Schwarz zu Blau“ war der „Kotti“ als Place-to-be für Nachtschwärmer geadelt worden: Komm aus’m Club, war schön gewesen/ Stinke nach Suff, bin kaputt, ist ’n schönes Leben/ 2 O. A.: „Schwesta Ewa geht in Revision“, in: Spiegel Panorama vom 27. 06. 2019, http://www. spiegel.de/panorama/justiz/schwesta-ewa-geht-gegen-urteil-vor-a-1154711.html. 3 Lyrics aus dem Track „Realität“.

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| Christian Saehrendt Steig’ über Schnapsleichen, die auf meinem Weg verwesen/ Ich seh die Ratten sich satt fressen im Schatten der Dönerläden/ Stapf ’ durch die Kotze am Kotti, Junks sind benebelt/ […] Guten Morgen Berlin/ Du kannst so hässlich sein/ So dreckig und grau/ Du kannst so schön schrecklich sein/ Deine Nächte fressen mich auf/ […] Und während ich durch die Straßen laufe/ Wird langsam Schwarz zu Blau

Die Unwirtlichkeit des „Kotti“ hängt mit dem mehrspurigen Kreisverkehr zusammen, vor allem aber mit der anonymen Hochhausbebauung in der Umgebung, die den Zuzug von Randgruppen und den Drogenhandel in den weitläufigen Gebäuden begünstigte. Die riegelartigen Blöcke des „Neuen Kreuzberger Zentrums“ am Nordrand des Platzes sollten ursprünglich eine dahinter geplante Autobahntrasse akustisch abschirmen. Diese Autobahn hätte das historische Stadtviertel vollkommen zerstört. Nicht zuletzt gilt der fließende Verkehr mit seiner immerwährenden Fluktuation, mit seiner austauschbaren Service-Architektur als Gegenteil von Verlässlichkeit, von Beständigkeit, von Heimat. Die Infrastruktur des Verkehrs, besonders des Autoverkehrs, gilt als Landschaftsvernichterin par excellence. Die Massenmotorisierung erleichterte ab Mitte des 20. Jahrhunderts die große Fluchtbewegung aus den großen Städten, welche man mit sozialer Unruhe, politischen Konflikten und Heterogenität assoziierte. Das Eigenheim im Vorort, den man ansteuert, abgeschottet im eigenen PKW , verhieß hingegen Ruhe, Ordnung, homogene Nachbarschaft (aber auch: kulturlose Ödnis, Langeweile, Einsamkeit). Die Sehnsucht nach dem hübschen Häuschen im Grünen hat dazu geführt, dass die Innenstädte verödeten, dass die Landschaft flächendeckend zersiedelt und von Autostraßen zerstückelt wurde. Für den Traum von der Vorstadtidylle opferte man Stadt und Land und machte beide zu Unorten. Nicht alle aber konnten sich ein eigenes Häuschen leisten, und so entstand eine weitere Kategorie des Unortes: Die Großsiedlung am Stadtrand, ebenfalls ein Produkt der autogerechten Stadtplanung und oftmals durch breite Verkehrsschneisen von der Umgebung isoliert. Ursprünglich für die Mittelschicht ­vorgesehen, die abseits von Industrie und Innenstadt in geschlossenen Neubausiedlungen einquartiert werden sollte, fand in vielen dieser Siedlungen in den letzten Jahrzehnten eine soziale Entmischung statt. Einwandererwellen trafen auf eine einheimische Restbevölkerung mit hohem Hartz-IV -Anteil. Die herunterkommende Bau­substanz, die schwindende ökonomische Attraktivität dieser oft relativ abgelegenen Siedlungen, Vandalismus und Jugendkriminalität sorgten für einen schlechten Ruf, bis sich diese Entwicklung in einer Stigmatisierung der Bewohner*innen verfestigte.

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Aus Stolz und Trotz versuchten Jugendgangs und Subkulturen die territoriale Stigmatisierung in eine positive Identität umzuwandeln, ein Muster, das im Rap seit den späten 1970er Jahren bekannt ist, und sich von der South Bronx weltweit bis nach Hamburg-Mümmelmannsberg ausbreitete. Seitdem bilden Hochhausund Wohnblocksilhouetten, verlassene Gewerbegebiete und vermüllte S-Bahntrassen die Kulisse unzähliger Musikvideos. Dabei werden sie nicht selten in der Tradition romantischer „Nachtstücke“ in schmutzigen Farben, mit verfremdenden Filtern oder harten Schwarz-Weiß-Kontrasten gezeichnet, düsterer und dramatischer als in der Realität, beispielsweise jene Leipziger Stadtlandschaften, die der deutsch-kubanische Rapper Omik K. als Schauplätze seiner Clips wie „Vaterland“ verwendet. 2. Wachstumsbranche Dark Tourism Viele Tourist*innen sind mittlerweile von den eigens für sie errichteten pittoresken, gemütlichen oder historisierenden Kulissen und der dazugehörigen Infrastruktur gelangweilt. Sie wollen teilhaben am „echten“ Leben, wollen Gefahren spüren, wollen berührende Lebens- und Leidensgeschichten hören – wenngleich sie sich dabei natürlich nicht in echte Gefahr begeben wollen. Beispielsweise hat der Journalist Ulrich Mattner diese Marktlücke erkannt. Er bietet im Frankfurter Bahnhofsviertel „Redlight“-Stadtführungen an. Ein Auszug aus dem Programm: Besuch im Laufhaus bei Gabriella. Backstage bei der Security im Bordell. RedlightBeamershow‚ Streets of Desire‘ in der Jamboo-Bar. Freier Eintritt im Pure Platinum. Drei Welcome Drinks + eine Currywurst (die beste in Frankfurt) alles zusammen für nur 69 Euro.4

Sexindustrie und Drogenumschlagplätze bieten das pittoresk-schauerliche Ambiente für einen wohldosierten Thrill, für eine Dosis urbaner Authentizität für Leute, denen Oper, Freßgass und Frankfurter Zoo keine Regungen mehr entlocken. Führte der Tourismus seine Kund*innen traditionell zu landschaftlich schönen, klimatisch angenehmen und kulturhistorisch wertvollen Orten, hat sich in den letzten Jahren ein neuer Zweig der Tourismusindustrie entwickelt, der Lost Places, authentische Orte von Verbrechen, historischer Schlachten und sogar von Genoziden als morbide Ausflugsziele im Angebot hat. „Dark Tourism“ übernimmt Motive der Schauerromantik und arbeitet mit dem Versprechen, den Tourist*innen am historischen Schauplatz von Leid, Katastrophen und tragischen Geschichtsereignissen besonders intensive Empfindungen zu verschaffen. Das 4 http://umattner.de/touren (31. 10. 2016).

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| Christian Saehrendt Betreten von ehemals blutgetränkter Erde, von Gefängniszellen und von Krematorien, das Berühren von Gegenständen und Materialien soll besondere Beweiskraft für gesellschaftliche Narrative erzeugen, welche die Tourist*innen bereits verinnerlicht haben. Ein „böser“ oder tragischer Ort scheint besonders geeignet zu sein, um starkes, authentisches Empfinden bei den Besucher*innen hervorzurufen – sicherlich auch von entsprechenden Erwartungshaltungen begünstigt. Ein nostalgischer Sehnsuchtstourismus, oftmals auch von der Literatur inspiriert, führt Besucher*innen zu Orten, die im Zuge der Weltkriege, der Vertreibungen und des Holocausts von der Landkarte verschwunden sind. An untergegangenen Städten und verschwundenen Provinzen besteht vor allem in Ostmitteleuropa kein Mangel, und seit dem Ende des Kalten Krieges sind diese blutgetränkten Landschaften, jene Bloodlands, wieder zugänglich. Im Alter machen sich Überlebende und Vertriebene (manchmal auch deren Kinder oder Enkel) oftmals noch einmal auf den Weg, die Orte ihrer Kindheit zu besuchen oder zu suchen. Meistens sind neue Städte an deren Stelle entstanden, oder neue Bewohner*innen hausen in den alten Gebäuden, manchmal blieben die Orte buchstäblich wüst, und es gibt nicht einmal mehr Ruinen. Einer der tristesten Orte für diese Sehnsuchtstourist*innen überhaupt dürfte wohl Königsberg sein, Heimatstadt von Immanuel Kant. Anstelle der Innenstadt findet sich heute eine Brache, und ein Betonkoloss aus sowjetischen Zeiten (der als Bauruine niemals bezugsfertig geworden war) prägt die Skyline der Großstadt Kaliningrad. Der dänische Künstler Joachim Koester hat Kants historisch verbürgte tägliche Spaziergangsroute im verwahrlosten Originalgelände in seiner atemberaubend melancholischen Fotoarbeit „The Kant walks“ dokumentiert. Auch viele Berlin-Tourist*innen interessieren sich für Unorte und düstere Stätten der Vergangenheit. Die Stadt bietet zahlreiche authentische Orte, Mahnmale und Gedenkstätten, die mit Schlüsselereignissen des 20. Jahrhunderts in Verbindung stehen. Vor allem die Orte des NS-Terrors zählen zu den Zielen des Dark ­Tourism. Viele Besucher*innen wollen das „Zentrum des Bösen“, die Schaltstellen des „Dritten Reiches“ besichtigen, doch weder die Gestapo-Zentrale noch die Reichskanzlei mit Führerbunker sind erhalten. Ersatzeshalber dienen Museen und neu erbaute Gedenkstätten als Reiseziele, wie das 2005 eingeweihte Denkmal für die ermordeten europäischen Juden, ein weitläufiges Feld aus Betonstelen direkt im Stadtzentrum. Bereits nach wenigen Jahren wurden die ersten Haarrisse in den Säulen sichtbar, die aus einem Spezialbeton gegossen worden waren. Mittlerweile gibt es kaum noch Stelen, die nicht von Rissen durchzogen werden, einige mussten bereits mit Stahlmanschetten gesichert werden. Ein Denkmal, das das historische Bewusstsein des wiedervereinigten Deutschlands symbolisieren, einen offiziellen Kanon des Selbstverständnisses illustrieren sollte, zerfällt bereits nach wenigen Jahren. Noch unter den Augen seiner Erbauer und Förderer droht dieses neue Nationaldenkmal zur Ruine zu werden, und veranschaulicht auf diese Weise die Begrenztheit ihrer Macht, wird ihnen unverhofft zum Memento Mori.

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3. Postmoderne Ruinenromantik Ruinen haben Architekten, Bauherren und Künstler schon seit der frühen Neuzeit fasziniert. Statuen, Mosaike, Spolien und Ruinen wurden in der Renaissance als Zeugnisse einer fortschreitenden Geschichte erkannt. Einerseits konnte man antike Trümmerfelder als Kulisse für vitale Selbstinszenierungen nutzen, und mithilfe der Ruine den historischen Fortschritt dokumentieren, dessen erfolgreichstes Produkt man selbst zu sein glaubte. Andererseits veranschaulicht die Ruine die Begrenztheit menschlicher Macht, ihre Betrachtung konnte melancholisch stimmen. Wie der Totenschädel im Studierzimmer des Gelehrten wurde die antike oder mittelalterliche Ruine zum Memento Mori, zur Aufforderung zur Demut, aber auch zur Ermunterung, das Leben zu genießen, solange man es noch kann. In der Romantik verlagerte sich die Ruinensehnsucht aus der Antike ins Mittelalter. Waren keine authentischen Ruinen in Sichtweite, ließen die europäischen Herrscher künstliche Ruinen in ihren Parks und Schlossgärten errichten. Dieser herrschaftliche Gestus ist heute übrigens beim Discounter angelangt: Seit einigen Jahren bieten Lidl und Obi Ruinen-Bausätze aus grauen Plastiksteinen für die Gartengestaltung an.5 Heute erleben wir eine neue Welle von Ruinenbegeisterung, welche sich aber auf Bauten bezieht, die erst in den letzten siebzig Jahren errichtet worden sind. Ihre Ursache liegt aber nicht in einer romantisch-rückwärtsgewandten Sehnsucht nach einer „guten alten Zeit“, sondern kann als Begleiterscheinung der kritischen Auseinandersetzung mit einer rapide alternden Moderne verstanden werden. Ihr geht es um die geistige Verarbeitung gescheiterter Utopien und technologischer Wunschträume. Viele funktionalistische Bauten der Moderne werden mittlerweile als Chiffren für Kälte und Unmenschlichkeit betrachtet, sie verursachen einen Schauder. Zudem stehen sie sinnbildlich für die Versprechen und Träume der Moderne, die sich nicht verwirklichen ließen. Man betrachtet sie wie einen veralteten Science-Fiction-Film oder -Comic, mit Unverständnis, Rührung oder fast Wehmut. Und so verwundert es nicht, dass heute die architektonischen Zeugen der Moderne in ihrem Verfallsprozess ebenso zu Objekten von Melancholie, Weltschmerz und Vanitasgefühlen werden konnten wie im 19. Jahrhundert die Ritterburgen und Klöster des Mittelalters. Der renommierte Fotograf Robert Polidori verdankt seinen Erfolg zu einem guten Teil der neoromantischen Ruinenbegeisterung. Mit grandiosen Aufnahmen der verstrahlten Zone um das ukrainische Atomkraftwerk Tschernobyl, der vom Hurrikan verwüsteten Stadt New Orleans oder des unaufhörlich verfallenden Havanna setzte er künstlerische Akzente. Fotograf*innen und Tourist*innen stürzen sich heute lustvoll-schaudernd auf die ruinösen Überreste totalitärer Systeme und technischer Großprojekte, auf verlassene 5 https://www.obi.de/einfassungen-stufen-mauersysteme/ehl-ruinenbausatz-z-form-grauanthrazit-nuanciert-577-cm-x-233-cm-x-220-cm/p/6946743 (17. 05. 2020).

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| Christian Saehrendt Siedlungen und aufgegebene Industrieanlagen. Diese Begeisterung äußerte sich bereits in den 1980er Jahren (vielleicht auch unter dem Einfluss eines apokalyp­ tischen No-Future-Zeitgeistes) mit Paul Virilios Bunkerarchäologie des Westwalls 6 und findet heute reiche Nahrung in der geisterhaften evakuierten sozialistischen Planstadt Pripjat bei Tschernobyl, die Polidori so eindrucksvoll in Szene setzte:7 Gerade fertiggestellt als Wohnstätte für die Kernkraftwerksbeschäftigten und ihre Familien, wurde Pripjat im April 1986 hastig nach der Havarie des Reaktors evakuiert, und anschließend von Kriminellen geplündert, denen Geigerzählerwerte offenbar völlig egal waren. In weiten Teilen wirkt die städtische Szenerie mit ihren Einkaufszentren, Vergnügungsparks, Schulen und Kindergärten heute wie eingefroren, wie ein modernes Pompeji. In den Klassenzimmern der „Schule Nr. 3“ liegen noch die Schreibhefte auf den staubbedeckten Tischen. „Mein Vaterland ist die UdSSR“, schrieben die Erstklässler in ihre Kladden, bevor der Befehl zur Evakuierung kam. Die Pflanzen- und Tierwelt nimmt das Gebiet mittlerweile wieder in Besitz. Besonders in den ersten Jahren nach der Verstrahlung wurden zahlreiche Mutationen bei Pflanzen und Tieren beobachtet, auch bizarre Gerüchte verbreiteten sich, etwa über blinde Vögel und Riesenwuchs bei Wildschweinen. Mittlerweile sind die Strahlenwerte in einigen Arealen so weit gesunken, dass eine umfangreichere touristische Nutzung möglich wird. Vor Beginn des russischukrainischen Krieges war bereits ein Tagestourismus in geführten Kleingruppen in Mode gekommen, ausgehend von der nahen Metropole Kiew. Fachleute glauben, dass es möglich ist, die Zahl der Tourist*innen auf eine Million jährlich zu erhöhen (wenn einmal wieder Frieden im Land herrscht). Ein regelrechter Ruinen-Tourismus hatte sich in den letzten Jahren bereits in Detroit entwickelt, dem ehemaligen Zentrum der US -Autoindustrie, dessen verlassene Industrieanlagen, Bahnhöfe und Wohnviertel dem zeitgenössischen Ruinen­kult reiche Nahrung gaben. Detroit mit seinen ca. 80.000 verlassenen Häusern, über 6.000 verwahrlosten, mit Müll bedeckten Parzellen und weitläufigen verlassenen Industrieanlagen war zeitweilig zum Spielplatz für Künstler geworden, zum Reiseziel von Fotograf*innen und Street Artists – fast schon zum Ärger der verbliebenen Einheimischen, die sich als Statist*innen in einem „Ruin Porn“ fühlten – Objekte einer morbiden Lust am Verfall. Es fällt auf, dass mit Pripjat und Detroit zwei Städte zu postapokalyptischen Kultorten wurden, die sinnbildlich für die technologische und industrielle Potenz der beiden antagonistischen Weltmächte Sowjetunion und USA stehen, zugleich aber auch für deren Niedergang. Die beiden rivalisierenden Imperien dominierten unangefochten die Epoche zwischen 1945 und 1990. Pripjat und Detroit wirken heute wie Grabsteine 6 Virilio, Paul: Bunkerarchäologie. Seit 1967 mehrere Auflagen und Ausgaben, zuletzt 2011 im Passagenverlag Wien. 7 Polidori, Robert: Zones of exclusion. Pripyat and Chernobyl, Göttingen 2003.

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jener Ära. Die Sowjetunion zerbrach schon wenige Jahre nach der Atomkatastrophe. Die USA halten sich zwar noch, doch sind ihre strukturellen Probleme in Wirtschaft und Gesellschaft erheblich, ihr Niedergang ist vor allem im Inneren unübersehbar, während die Neigung, sich international militärisch zu engagieren, nachlässt. Eine Gemeinsamkeit beider absinkender Weltmächte war der strategische Misserfolg in Afghanistan. Beide brachten nicht die Kraft auf, diesen Krisenherd zu befrieden: Während die Sowjetunion das Land zwischen 1979 und 1989 besetzt hielt, halten sich US-Truppen seit 2001 dort auf. In Kabul steht eine Ruine, die als Sinnbild für das Scheitern der Weltmächte in Afghanistan gelten darf: Der Palast von Darulaman, 1929 vom deutschen Architekten Walter Harten als Parlamentssitz für ein neues, modernes Afghanistan errichtet. Ein Parlament beherbergte er nie, stattdessen erst sowjetische Militärberater, dann das afghanische Verteidigungsministerium, zuletzt amerikanische Soldaten. Die Künstlerin Mariam Ghani, Tochter des 2014 gewählten afghanischen Präsidenten, hatte die Palastruine bereits vor einigen Jahren mit starken Bildern in Szene gesetzt, welche u. a. auf der documenta in Kassel ausgestellt wurden.8 Ein romantischer Dreiklang des Verfalls: Pripjat, Detroit, Kabul-Darulaman – in diesen drei authentischen Ruinen wurden der Sozialismus, der American Dream und die globale Moderne beerdigt – drei Utopien, die am Ende doch keine Zukunft hatten. Manchmal aber ist das Verfallsdatum noch früher erreicht, manchmal sind es schon prestigeträchtige Neubauten, die direkt in den Ruinenzustand übergehen – leerstehende Spekulationsobjekte und Bauruinen. Einige von ihnen stehen nicht nur als Anti-Korruptions-Mahnmale oder ästhetische Gruselobjekte in der Landschaft, sondern wurden von illegalen Besetzer*innen besiedelt und zu neuem Leben erweckt – etwa der unvollendet gebliebene Wolkenkratzer „Torre de David“ im Zentrum von Caracas, ein gigantisches Immobilienprojekt, das durch den Zusammenbruch venezolanischer Banken 1994 auf der Strecke blieb. In dem weitgehend fertiggestellten Hochhaus siedelten sich Bewohner*innen aus den Armenvierteln an und bauten Etagen mit provisorischen Mitteln zu Wohnungen, Werkstätten und kleinen Läden aus. Zeitweise lebten bis zu 2.500 illegale Bewohner*innen im Haus. Ein venezolanisches Architektenbüro begleitete das Projekt und machte es als ein Wohnmodell der Zukunft bekannt – als Beispiel für die basisdemokratische Aneignung und erfolgreiche Umnutzung verlassener Gebäude und verwüsteter städtischer Räume. 2012 wurden sie für dieses Projekt mit dem „Goldenen Löwen“ 8 Dellit, Olaf: Mein Lieblingskunstwerk: Mariam Ghanis „A Brief History of Collapses“, in: Portal der Hessische/Niedersächsische Allgemeine (HNA), 29. 07. 2012, https://www.hna. de/kultur/documenta/historie-vielfaeltig-verwirrend-2437704.html. 2016 wurden Pläne zum Wiederaufbau bekannt, der allerdings bislang nicht stattfand. Ruttig, Thomas: Dar-ulAman-Palast in Kabul wird wieder aufgebaut, in: Blog „Afghanistan Zhaghdablai – Thomas Ruttig über Afghanistan“, 04. 06. 2016, https://thruttig.wordpress.com/2016/06/04/2546/.

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| Christian Saehrendt der internationalen Architektur-Biennale von Venedig ausgezeichnet. Fotografen, Künstler und Location Scouts des Fernsehens entdeckten nun die Ruine, machten sie zum Schauplatz einer postapokalyptischen Idylle, zeigten sich fasziniert von der dort lebenden Community, die sich einfache, aber strenge Regeln gegeben hatte. Eine Folge der US-Fernsehserie „Homeland“ spielte im Torre de David und skizzierte eine dort lebende Außenseitergemeinschaft, in der Solidarität, aber auch eine drakonische Selbstjustiz herrschen, wie man es aus Räuber- und Piratengeschichten kennt. Angeblich wegen der katastrophalen hygienischen Bedingungen und der Häufung von Unfällen, bei denen Menschen in die ungesicherten Treppenschächte gestürzt waren, entschieden sich die Behörden im Sommer 2014, das Gebäude schrittweise räumen zu lassen. Möglicherweise war aber auch das Interesse chinesischer Investoren am Weiterbau des Turms der entscheidende Grund dafür. Bis die Chinesen kommen, pfeift der Wind nun wieder ungebremst durch die Etagen der 200 Meter hohen Ruine. Zudem kam es im Sommer 2018 zu einer Beinahe-Katastrophe: Nach einem Erdbeben neigten sich Teile der obersten fünf Geschosse um 25 Grad nach unten – die Spitze des Torre hat seitdem Schlagseite. 4. Schluss Leben am Limit, in ständiger Absturzgefahr, in Sichtweite des Todes – davon verspricht sich das Publikum eine Intensivierung des Lebens, und es vermutet, dass Menschen in dieser Lage besonders authentisch handeln und fühlen. Das Leben wird in jenem Augenblick besonders intensiv, wertvoll und elementar, in dem seine Endlichkeit deutlich wird. Todesnähe, Gefahr und Schmerz werden zu Insignien eines wahrhaft authentischen Lebens, das man vielleicht nicht unbedingt selbst erleiden will, aber gerne bei anderen beobachtet und an „authentischen Orten“ wie Ruinen, Slums, Killing Fields nachvollziehen möchte. Der klassische Vanitaseffekt ist auch in der Postmoderne wirksam und wird zum entscheidenden Standortfaktor des Dark Tourism. Es muss aber nicht immer so spektakulär und exotisch sein, wie das Beispiel Offenbachs zeigt, das sich im Vergleich zu Orten wie Tschernobyl, Kabul, Detroit oder Caracas eigentlich recht geordnet und gemütlich ausnimmt. Offenbach besitzt keine spektakulären Ruinen, und dennoch darf es als romantischer Sehnsuchtsort und als Vanitassymbol gelten. Denn auch hier lauert der Tod – ein schleichender Tod, eine tödliche Langeweile, ein dumpfer Stillstand. Im Gegensatz zu den hochgradig verwerteten, überpflegten, neu konstruierten oder sanierten Bauten und urbanen Orten gilt erstaunlicherweise gerade das als wahrhaft authentisch, was schäbig, zufällig, unbeachtet, unkultiviert oder natürlich gewachsen erscheint. Der Vanitaseffekt steckt hier im Detail. Die alltägliche kleine Lebenswelt der Spielhallen, Autobahnzubringer, Stadtpark-Dealer, Dönerbuden und Discount-Märkte schlägt paradoxerweise in puncto Authentizität die

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touristischen und ökonomischen Prachtkulissen, die Kunstmuseen und Edelboutiquen, denn diese gelten als gemacht, als künstlich, als Täuschungen. In einem Wettbewerb um glaubwürdige Authentizität schlägt Kickers Offenbach Eintracht Frankfurt, hässlich schlägt schön, unglücklich schlägt glücklich, Schmerz schlägt Lust, Schicksal schlägt Karriere, lokal schlägt global. Zum authentischen Helden wird nicht der Biennalen-Künstler oder Banker, sondern der Bewohner des Viertels, des Barrios, des Slums – der Kleinkriminelle, der Dealer, der Hustler, der Gangster. Im Gegensatz zu gut ausgebildeten Akademikern, Global Players und Kreativnomaden ist er, wie ein Indigener an das Reservat, an sein Viertel, an seine Ethnie gebunden. Unzählige Rap-Lyrics und Videos mystifizieren diese Bindung, sie erzählen immer wieder die gleiche Geschichte. In gewisser Weise ist dies ein sehr konservatives Identitätsmodell – es erinnert fast an das alte völkisch-nationalistische Konzept des Bauern, der auf ewig an seine Scholle gebunden ist. Interessant ist auch, dass die globale komplexe Finanzökonomie in Rap-Texten als entfremdet und „verlogen“ dargestellt wird, verherrlicht wird stattdessen eine lokale Subsistenzwirtschaft und Bandenökonomie mit den dazugehörigen Komponenten Clan, Komplize, Blutsbruder und Räuberhäuptling. Als authentisch gilt in den Texten der Rapper, was durch Familienzugehörigkeit, Treue und Ortsgebundenheit bewiesen wird; eine Identität, die auf Loyalität, Furcht, (gemeinsam erlittenem) Schmerz oder (gemeinsam ausgeübter) Gewalt beruht. Hier wird ein archaisches Lebensmodell als Gegenentwurf zu den „entfremdeten“ und „über“zivilisierten bestehenden gesellschaftlichen Systemen verherrlicht. Doch es bleibt ein romantischer Traum, der nicht einmal von seinen Propagandisten mit Leben gefüllt werden kann. Wo ist denn die echte Gemeinschaft? Gibt es die in der Straßenbande oder im Sozialbau-Wohnblock? Gibt es echte Gemeinschaft unter den Außenseitern, den Dieben, Dealern, Huren, Deutsch-Rappern? Gibt es dort eine echte, besonders starke Liebe, gibt es echte, besonders starke Gefühle angesichts der Härte der Lebensumstände und der sozialen Stigmatisierung? In den Werken der Rapper, deren Tracks millionenfach heruntergeladen und gehört werden (und sicherlich das Weltbild einer ganzen Generation mitprägen), ist wenig davon zu spüren. Stattdessen dominiert Hetze, Hochmut und Hass gegen andere in den Texten, stattdessen müssen die Protagonist*innen zwanghaft mit allen erdenklichen Mitteln Authentizität beschwören, sobald sie zu Geld gekommen sind. „Guck weiter Filme – wir leben den Scheiß!“ ruft uns Schwesta Ewa zu und profitiert zugleich von unserer Sehnsucht nach dem echten Leben, profitiert von all unseren Klicks, Views und Downloads. Marketing mit Echtheits-Zertifikat! Den romantischen Entwurf einer Gegenwelt sucht man aber hier vergebens. Alles in allem bilden die Topographie der Unorte und das Pandämonium der gesellschaftlichen Außenseiter*innen nur ein weiteres, ein dunkles Segment der Kulturindustrie. Die Romantisierung der Unorte ist ein neuer, lukrativer Trend, ein neues Territorium, das ausgebeutet werden kann, ihre Kulissen liefern der Sehnsucht nach

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| Christian Saehrendt wahrer urbaner Authentizität neues Futter. Die Neo-Romantik unserer Zeit stellt Echtheitszertifikate für unser Leben in Aussicht und in Rechnung – in Gestalt unzähliger Konsumangebote und hinzu buchbarer Erlebnisoptionen. So wird die Sehnsucht nach dem echten, intensiven Leben kurzfristig befriedigt, aber gleichzeitig immer weiter angeheizt. Wie Junkies gieren wir nach dem nächsten Schuss Authentizität, egal wie gestreckt der Stoff mittlerweile ist. Diesen Kreislauf gilt es zu durchbrechen. Doch sind wir stark genug für den Kalten Entzug?

Ulf Häder

Verstecktes Kleinod im urbanen Zentrum. Das Jenaer Romantikerhaus

Deutschlandweit besitzt es ein Alleinstellungsmerkmal, das Romantikerhaus in Jena, eines der drei literatur- und philosophiegeschichtlichen Museen in der SaaleStadt neben Schillers Gartenhaus und der Goethe-Gedenkstätte am Botanischen Garten. Es handelt sich um ein vergleichsweise kleines Museum, anders als die Besuchsmagneten Phyletisches Museum und Deutsches Optisches Museum, anders auch als die „städtischen Geschwister“ in der „Göhre“, also das ganz in der Nähe befindliche spätgotische Bürgerhaus, das heute das Stadtmuseum und die Jenaer Kunstsammlung beherbergt. Ein Kleinod ist das Romantikerhaus deshalb, weil es sich um das einzige Museum handelt, das dem romantischen Aufbruch, der in Jena beheimateten Frühromantik, gewidmet ist. Auch das in Gründung befindliche Romantik-Museum des Freien Deutschen Hochstifts in Frankfurt am Main wird nach dem bisher bekannten Konzept die Jenaer Frühromantik zwar erwähnen, aber nicht im Sinne etwa einer diachronischen Darstellung als eigenen Schwerpunkt behandeln. Ein Kleinod ist das Romantikerhaus auch deshalb, weil es sich in einem denkmalgeschützten Gebäude befindet, einem bürgerlichen Wohnhaus aus dem Jahr 1669 (Abb. 1). Dieses Haus hat seine eigene Authentizität und Bedeutung sowohl für die Jenaer Geistesgeschichte der bedeutungsvollen Jahre um 1800 im Allgemeinen als auch für die Geschichte der Jenaer Frühromantik im Besonderen, denn hier wohnte und lehrte seit 1794 der Philosoph Johann Gottlieb Fichte (Abb. 2). Er gehörte zu den zentralen Persönlichkeiten der geistigen Kultur in der Stadt, und ohne ihn hätte die romantische Bewegung wohl kaum von Jena ihren Ausgang genommen. Als Fichte in Jena lebte, befand sich das Haus am Rand der Innenstadt, die sich damals freilich erst allmählich aus dem „Kerker“ der mittelalterlichen Ummauerung zu lösen begann. Immerhin – die Stadtmauer war hier bereits verschwunden und Fichte hatte einen freien Blick nach Süden auf die Saaleaue. Bis zum Kirstenschen Haus, wo nicht nur Schiller eine seiner zeitweiligen Wohnungen hatte und wo im Jahr von Fichtes Umzug nach Jena die engere Zusammenarbeit mit Goethe begann, waren es nur wenige Schritte. Fichte wohnte also ebenso zentral wie in Randlage (Abb. 3). Die geringe Ausdehnung – ein Charakteristikum des nicht viel mehr als 4.500 Einwohner*innen zählenden Ackerbürgerstädtchens, welches 250 Jahre zuvor unverhofft zur Universitätsstadt gemacht wurde – ließ beides zu. Und natürlich unterliegen Entfernungen ohnehin einer erheblichen Relativität.

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| Ulf Häder Abb. 1 Romantikerhaus von der Hofseite. Foto: Andreas Hub.

Heute gehört das Romantikerhaus unbestritten zum Stadtzentrum, und dennoch reicht ein kleiner Spaziergang, um nach wenigen Gehminuten im Paradies die vorbeifließende Saale mit ihrer Aue auf sich wirken zu lassen, den Kamm des Jenzigs oder der Hausberge am östlichen Saaleufer zu erreichen – Hügel, die Fichte und die Jenaer Frühromantiker*innen wohl tagtäglich gesehen haben dürften. Erst 1981 wurde das damals baufällige Haus von der Stadt saniert und zum Museum ausgebaut. Zunächst beherbergte das Gebäude im Erdgeschoss die literaturgeschichtliche Ausstellung. Oben war die Kunstsammlung – gemessen an den heutigen Bedingungen – auf noch vergleichsweise kleinem Raum untergebracht. Als die Kunstsammlung dann Ende der neunziger Jahre auszog, wurde die Ausstellung in der heutigen Form entwickelt und das gesamte Haus dem Ereignis Frühromantik gewidmet. Jena hat seitdem sein Romantikerhaus, wobei der größte Teil des Obergeschosses für Sonderausstellungen reserviert bleibt – häufig, aber nicht immer mit Bezügen zur Romantik. Die Dauerausstellung, der von Expert*innen immer wieder eine ausgezeichnete Fundierung bescheinigt wird, steht nun kaum verändert seit etwa zwanzig Jahren. Vom International Council of Museums (ICOM ) wird die inhaltliche Überarbeitung und vor allem auch die ästhetische Erneuerung von Dauerausstellungen schon nach Ablauf von zehn Jahren empfohlen. Dieser Erneuerungsprozess hat jetzt begonnen.

Verstecktes Kleinod im urbanen Zentrum | Abb. 2 Albrecht Schultheiß, Porträt Johann Gottlieb Fichtes, Kupferstich nach Zeichnung von Friedrich Bury, nach 1850, Stadtmuseum Jena. Foto: Stadtmuseum Jena.

Im Jahr 2019 wurde der Auftrag vergeben, für das Haus und die Nutzung der Etagen eine neue Konzeption zu entwickeln. Betraut wurde nach einem Ausschreibungsverfahren die ausstellungserfahrene Germanistin Dr. Cornelia Ilbrig, welche 2018 auch die in Jena gezeigte Ausstellung „Aufbruch ins romantische Universum – August Wilhelm Schlegel“ mitkonzipiert hat und parallel an der Ausgestaltung des Frankfurter Romantik-Museums mitwirkt. Die Neukonzipierung hat das Ziel, die innovativen Momente der von Jena ausgehenden Frühromantik und das Potential für die philosophische und literaturgeschichtliche Moderne stärker herauszuarbeiten. Dabei sollen die Situationen des Jahres 1798, als sich die führenden Köpfe der neuen Bewegung in der „Kommune 1“ zusammenfanden, und das geistesgeschichtliche Umfeld in diesen herausragenden Jahren natürlich nicht außer Acht gelassen werden. Ohne den Charakter als Lesemuseum aufzugeben, ist beabsichtigt audiovisuelle Vermittlungsformen stärker einzubeziehen und die Zugänglichkeit barriereärmer zu gestalten. Die Möglichkeiten der Umsetzung sind dabei noch nicht in vollem Umfang abschätzbar, wie auch die erforderlichen Budgets erst noch bewilligt werden müssen. Mit der Umsetzung der Planungen in den Haushaltsjahren 2022 bis 2025 soll einerseits die Ausstellung bei Erhaltung des Informationsgehaltes und bei Heraus­ arbeitung der besonderen Bedeutung Jenas für die romantische Bewegung neu gestaltet werden. Andererseits ist die Nutzung der Etagen neu zu ordnen, so dass zumindest Verbesserungen hinsichtlich Barrierearmut erreicht werden können. Der Auftrag schließt die Einbeziehung von interaktiven und partizipativen Modulen im neuen Ausstellungskonzept mit ein. Ein wichtiger Aspekt wird zukünftig auch sein, in der Ausstellung zu verdeutlichen, in wie vielen gesellschaftlichen Bereichen das in Jena „erfundene“ romantische Denken weiterlebt.

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| Ulf Häder Abb. 3 Jenaer Stadtplan mit Hausmodellen für die Zeit um 1800, Exponat im Romantikerhaus. Unten rechts das Wohnhaus Fichtes (Nr. 1) – heute Innenstadt, um 1800 Randlage. Foto: Städtische Museen Jena.

Worum geht es im Einzelnen? Konkrete Leistungen der örtlichen Protagonist*innen, darunter für die damalige Zeit auffallend viele Frauen, sollen verdeutlicht werden. Dies betrifft die schriftstellerischen Erträge und deren poetische Qualität ebenso wie die Übersetzungsleistungen, die romantische Literaturkritik oder die naturwissenschaftlich-naturphilosophischen Schriften. Das Phänomen der Jenaer Frühromantik kann dabei die Lebens- und Liebesverhältnisse mit den damit verbundenen Skandalen nicht unberücksichtigt lassen, was nicht zuletzt zu den Dingen gehört, die auf besonderes Interesse stoßen können und damit geeignet sind, den Museumsbesuch einprägsam zu machen. Man denke nur an das bewegte und vergleichsweise emanzipierte Leben der Caroline Schlegel-Schelling. Stärker als bisher ist auch die Wirkungsgeschichte der Romantik (beispielsweise mit dem politischen Professorentum in der Nachfolge Fichtes) und die Aktualität der romantischen Ästhetik herauszuarbeiten. Dabei sollen im Romantikerhaus weiterhin kleinere Sonderausstellungen und ausstellungsbegleitende Veranstaltungen angeboten werden. Mit der Notwendigkeit kind- bzw. altersgerechter Vermittlung ist die Hoffnung auf Schaffung einer an das Haus gebundenen Stelle für Museumpädagogik verbunden. Bisher werden die Angebote durch das vorhandene

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Personal der Hausleitung zusätzlich zu den übrigen Aufgaben unter Mithilfe von Honorarkräften erarbeitet, kommuniziert und vermittelt. Die konkrete Raumzuordnung und die Darstellungsbreite der einzelnen Ausstellungsschwerpunkte bedürfen noch der Prüfung hinsichtlich baulicher Umsetzbarkeit. Von Form und möglichem Umfang der baulichen Eingriffe wird a­ bhängen, inwieweit Erweiterungen der Ausstellungsfläche geschaffen werden können. Grundsätzlich jedoch wird das Museum seine Dimensionen und damit seine Authentizität bewahren. Bei der inhaltlichen Erneuerung des Romantikerhauses geht es jedoch nicht nur um die Präsentation, die Schwerpunktsetzungen der Dauerausstellung und um das Erscheinungsbild des Hauses als Aushängeschild auch für auswärtige Gäste der Stadt. Der bauliche Handlungsbedarf resultiert auch aus der veränderten Altersstruktur unserer Gesellschaft. Das Besucher*innen-Profil hat sich geändert und wird sich wahrscheinlich – trotz aller Bemühungen um jugendliche Besucher*innen und die Schicht der Eltern mit schulpflichtigen Kindern – weiter in Richtung älterer Besucher*innen-Gruppen verschieben. Und diese zahlenmäßig starke und kulturell interessierte Gruppe darf und soll keineswegs ausgeschlossen werden. Im Gegenteil: Neben Schulklassen, Tourist*innen und den alle Altersschichten umfassenden Gästen der Sonderausstellungen, ist den älteren Menschen weiterhin und möglichst umfassend Teilhabe an den Veranstaltungs- und Ausstellungsangeboten zu ermöglichen. Dies stellt in einem denkmalgeschützten Haus, dessen Fassade nicht einmal durch die Anbringung eines Handlaufs an den Treppen des Eingangs beeinträchtigt werden darf, eine große Herausforderung dar. Verbesserungen müssen aber erreicht werden, allein schon deshalb, weil sowohl der Bühnenraum für Vorträge und andere Veranstaltungen, als auch die Räume der Sonderausstellungen sich in den beiden oberen Etagen befinden (Abb. 4) und so bereits heute ein Teil der Besucher*innen ausgeschlossen wird. Zugänglichkeit hat in Bezug auf das Jenaer Romantikerhaus noch eine andere Dimension. Trotz seiner zentralen Lage in der Innenstadt und wenigen Gehminu­ ten von Paradiesbahnhof oder von Bus- und Straßenbahnhaltestellen müssen Interessierte das Museum erst einmal finden! Die Zuwegung ist trotz verschiedener Beschilderungen, trotz Markierungszeichen und eines Schaukastens an der Hauptzugangsstraße problematisch. Selbst Einwohner*innen Jenas, die gezielt das Romantikerhaus besuchen wollen, verpassen immer wieder den stadtseitigen Zugang zum Innenhof. Die innerstädtische Bebauung in der unmittelbaren Umgebung des Romantikerhauses besteht aus meist höheren Wohn- und Geschäftshäusern von bis zu fünf Geschossen. Automatisch bildet das niedrigere Wohnhaus Fichtes mit dem Giebeldach, dem grünen Hausanstrich und vor allem wegen des südlich vorgelagerten kleinen Gartens einen Blickfang (Abb. 5). Spätestens mit Wahrnehmung der drei bronzenen Bildnisbüsten assoziieren viele Passant*innen einen besonderen, kulturgeschichtlichen Hintergrund. Aber: Der Gehweg an dieser Hausseite ist nur

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Abb. 4 Bühnen- und Veranstaltungsraum des Romantikerhauses im ersten Obergeschoss. Foto: Städtische Museen Jena.

wenig frequentiert, und aus der vorüberfahrenden Straßenbahn heraus kann man die Besonderheit nur erahnen. Man darf sich hier nicht allein auf die Langzeitwirkung – „ich wollte schon immer mal schauen, was das für ein Haus ist“ – verlassen. Zur Behebung oder zumindest Linderung des Problems wurde der BothoGraef-Kunstpreis für zeitgenössische bildende Kunst im Jahr 2015 mit der Aufgabe ausgelobt, die bestehende Hinterhofsituation mit Zufahrt für Anwohner*innen, Mülltonnenstellplätzen und Fahrradständern zu verändern und einen besser wahrnehmbaren Zugang zu schaffen. Dabei war gewünscht, die Zuwegung mit einer kennzeichnenden, auf das Museum vorausweisenden Ästhetik aufzuwerten. Die Neugestaltung des unmittelbaren Umfeldes des Hauses mit Vorplatz, Brunnen, Durchgang zur Innenstadt und seitlichem Durchgang zum Löbdergraben hätten damit Gegenstand einer künstlerischen Umgestaltung werden können. Es hätte sogar die Möglichkeit gegeben, auch den südlichen Vorgarten und sogar angrenzende Häuserfassaden in ein entsprechendes Umgestaltungskonzept einzubeziehen. Ein Leitsystem sollte sowohl den Zugang von der Innenstadt her (Straße Unterm Markt) und vom Löbdergraben aus leichter wahrnehmbar machen. Zur Verdeutlichung des Anliegens der Auslobung wurde im Mai 2015 ein zweitägiger Künstlerworkshop durchgeführt, um die Entwicklung konkreter und auf den Ort zugeschnittener Entwürfe zu befördern. Allerdings nahm an diesem Workshop keines der späteren Jury-Mitglieder teil. 14 Künstler*innen bzw. Künstlergemeinschaften

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Abb. 5 Vorgarten an der Südseite des Romantikerhauses. Foto: Andreas Hub.

beteiligten sich an dem Wettbewerb. Mehrere Entwürfe boten umsetzbare Lösungsvorschläge, die gewiss eine Verbesserung der Situation im Sinne der Aufgabenstellung bewirkt hätten. Das Jury-Urteil folgte aber einer anderen Richtung. In den Vordergrund der Bewertung wurde der Kunstcharakter gestellt. Die städtebauliche Relevanz eines künstlerischen Wettbewerbs wurde ausdrücklich abgelehnt. Der Sieger*innen-Entwurf stellt gewiss eine interessante Interpretation des Wettbewerbsthemas dar und ist im Sinne der Jury künstlerisch ambitioniert, aber für die bauliche Einbettung des Romantikerhauses und eine bessere urbane Erschließung würde mit einer Umsetzung keine spürbare Verbesserung erzielt werden. Somit bleibt die zentrale und zugleich versteckte Lage des Romantikerhauses mit seinem internationalen Alleinstellungsmerkmal weiterhin ein Problem. Kulturbetrieb und Museumsleute sind in dieser Situation gefordert, zunächst über die inhaltliche Modernisierung und ein attraktives Ausstellungs- und Veranstaltungsangebot eine große Strahlkraft zu erzeugen. So kann das kulturgeschichtlich bedeutsame Haus für die Zukunft vorbereitet und noch stärker im Kulturleben der Stadt verankert werden – trotz versteckter Lage. Jena hat eine herausragende geistesgeschichtliche Tradition. Am Romantikerhaus, dem authentischen Ort der Frühromantik, ist sie geradezu mit Händen zu greifen. Dieses Erlebnis soll möglichst vielen Menschen ermöglicht werden – Romantik fordert in Jena eben nicht „Waldeinsamkeit“, sondern bessere urbane Erschließung.

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Anne Bohnenkamp

Ein neues Museum für die Romantik in Frankfurt am Main

Mit der deutschen Romantik wird gemeinhin eine Reihe ganz verschiedener Lokalitäten und Städte assoziiert. Dazu zählen vor allem Jena und Heidelberg sowie Berlin, München und Dresden, auch Wiepersdorf im Brandenburgischen, Schloss Oberwiederstedt in Sachsen-Anhalt, Oestrich-Winkel am Rhein oder auch Rom, Wien und das polnische Lubowitz. Die Liste ließe sich fortsetzen – Frankfurt am Main fände sich nicht auf einem der vorderen Plätze. Wenn nun ausgerechnet dort seit 2012 an der Errichtung eines Deutschen Romantik-Museums gearbeitet wird, dann waren mehrere Aspekte ausschlaggebend für diese Entwicklung. Im Freien Deutschen Hochstift/Frankfurter Goethe-Museum – einer traditionsreichen Frankfurter Kulturinstitution – spielte die deutsche Romantik schon seit dem frühen 20. Jahrhundert eine zentrale Rolle. Dieser Bürgerverein, der von einem enttäuschten Anhänger der gescheiterten Revolution von 1848 zum 100. Geburtstag Schillers 1859 als „Freies Deutsches Hochstift für Wissenschaften, Künste und allgemeine Bildung“ gegründet wurde,1 übernahm wenige Jahre später die Verantwortung für das Frankfurter Geburts- und Elternhaus Johann ­Wolfgang Goethes. Seither ist das Hochstift vor allem als Träger des Goethe-Hauses am Großen Hirschgraben bekannt. Zu seinen wichtigsten und umfangreichsten Sammlungsbeständen zählt jedoch die deutschsprachige Romantik. Der erste Teilnachlass eines Romantikers gelangte schon 1911 ins Haus: Mit dem Ankauf von Manuskripten Clemens Brentanos aus dem Nachlass des mit dem Dichter befreundeten Frankfurter Historikers Johann Friedrich Böhmer – darunter die Manuskripte zu Brentanos großem Versepos ‚Romanzen vom Rosenkranz‘ – war ein naheliegender Anfang gemacht. Mit Clemens und Bettine Brentano stammen zwei wichtige Protagonisten deutscher romantischer Literatur aus einer Frankfurter Familie. Ernst Beutler knüpfte als Direktor des Hochstifts hier an und entwickelte bald nach seinem Amtsantritt im Jahr 1925 die Absicht, das Hochstift zu einem zentralen Ort der Romantik zu machen und es auf diese Weise – nicht zuletzt gegenüber dem 1885 gegründeten Goethe-Archiv in Weimar – als unverwechselbaren Sammlungsort zu profilieren. Während seiner bis 1960 dauernden Amtszeit gelang es ihm, Literatur und bildende Kunst der Romantik zum 1 Zur Geschichte des Hochstifts vgl. Adler, Fritz: Freies Deutsches Hochstift. Seine Geschichte 1859 – 1885, Frankfurt am Main 1959 und Seng, Joachim: Goethe-Enthusiasmus und Bürgersinn. Das Freie Deutsche Hochstift/Frankfurter Goethe-Museum 1881 – 1960, Göttingen 2009.

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| Anne Bohnenkamp Schwerpunkt des Hochstifts zu entwickeln. Eine erste große Möglichkeit ergab sich für Ernst Beutler 1929, als auf drei legendären Versteigerungen des Berliner Auktionshauses Henrici der Wiepersdorfer Nachlass der Arnims zum Verkauf kam. Von seinem Erfolg bei dieser Auktion berichtet der Hochstiftdirektor dem Wirtschaftswissenschaftler und Sozialreformer Lujo Brentano, einem Neffen von Clemens und Bettine: Alles fast, was von Clemens da war, ist uns in die Hände gekommen […] so ist jetzt bei uns das gesamte Brentanomaterial […] vereinigt. Darunter ist viel Ungedrucktes, dessen Bearbeitung und Herausgabe von uns aus unternommen werden wird […]. So ist durch diese Käufe das Frankfurter Goethemuseum – und wer wollte ihm die innere Berechtigung dazu absprechen – zum Zentralarchiv der Brentano-Romantikforschung geworden und wir wollen unser Institut nach dieser Seite hin noch weiter ausbauen.2

Weitere wichtige Bestände kamen in den letzten Jahrzehnten hinzu. So ist von besonderer Bedeutung die sukzessive Versammlung verschiedener EichendorffBestände in den Magazinen des Hochstifts, das heute einen großen Teil des ­Eichendorff-Nachlasses bewahrt, und bereits mit Blick auf das entstehende Museum gelang es im Sommer 2018, Robert Schumanns Entwurfsmanuskripte der „Szenen zu Goethes Faust“ für das Hochstift zu erwerben. Diese und weitere Quellen zur Romantik ziehen Forscher*innen aus aller Welt nach Frankfurt. Heute beherbergen die Magazinkeller des Freien Deutschen Hochstifts mit den Nachlässen und Teilnachlässen romantischer Schlüsselfiguren wie Clemens ­Brentano, Bettine und Achim von Arnim, Friedrich von Hardenberg (Novalis) und Joseph von Eichendorff sowie bedeutenden Sammlungen zu weiteren zen­tralen Autor*innen der Epoche (Friedrich und A. W. Schlegel, Ludwig Tieck, ­Karoline von Günderrode u. a.) eine der weltweit umfangreichsten und vielseitigsten Sammlungen zur Literatur dieser Epoche.3 Sie wird ergänzt durch ansehnliche Bestände im Bereich der bildenden Kunst (Gemälde, Graphiken) und Stücke aus der Alltags­ kultur der Zeit (Möbel, Gebrauchsgegenstände). Die Epoche der Romantik ist im Konzert der Gedenkstätten und Erinnerungsorte unseres Landes vielfältig vertreten. Während sich die existierenden Häuser und Museen jedoch jeweils regionalen oder personellen Schwerpunkten der vielgestaltigen Strömung widmen, wird das Deutsche Romantik-Museum in Frankfurt 2 Ernst Beutler an Lujo Brentano, Brief vom 15. 4. 1929. (Freies Deutsches Hochstift, HS17200,2). Vgl. auch Joachim Seng, Goethe-Enthusiasmus und Bürgersinn. Das Freie Deutsche Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum 1881 – 1960, Göttingen 2009, S. 339 f. 3 Auf dieser Basis wird im Hochstift seit den 1970er Jahren Grundlagenforschung zur Romantik betrieben, im Mittelpunkt steht hier das über Jahrzehnte von der DFG geförderte Langzeitprojekt der Historisch-kritischen Edition der Werke und Briefe Clemens Brentanos.

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am Main auf der Basis seiner Sammlung erstmals den Versuch machen, den Facettenreichtum der ganzen Epoche an einem Ort vorzustellen. Im Mittelpunkt des zweiten Stockwerks des neuen Museums soll eine interaktive Landkarte den Besucher*innen einen Überblick vermitteln, welche Orte in welchen Jahren für die romantischen Künstler*innen zu Zentren ihrer Bewegung wurden – und darüber hinaus auch anschaulich über diejenigen Einrichtungen informieren, die heute im ganzen Land an die Romantik erinnern. Ausgehend von ausgewählten Stücken aus der Sammlung des Hochstifts entwickelt sich die neue Dauerausstellung im Übrigen in einer Folge von rund 30 chronologisch gereihten, aber unabhängig voneinander erzählten einzelnen Stationen, in deren Mittelpunkt jeweils ein Exponat aus den Beständen des Freien Deutschen Hochstifts steht. Beginnend mit einem Brief der im Harz reisenden Freunde Wackenroder und Tieck aus dem Jahr 1794 führt der Parcours bis zu Schumanns 1844 – 1853 komponierten „Szenen zu Goethes Faust“. Ausgehend von den Sammlungen und Tätigkeiten des Freien Deutschen Hochstifts liegt der Schwerpunkt der neuen Dauerausstellung bei den Schriftsteller*innen, einbezogen werden im Sinne der frühromantischen „Universalpoesie“ jedoch auch die benachbarten Künste und die (Natur-)Wissenschaften. Der Ehrgeiz der Ausstellungsgestaltung zielt darauf, die Aufmerksamkeit auch eines breiteren Publi­ kums für die empfindlichen Originale zu gewinnen und anhand ihrer konkreten Gestalt und Geschichte pars pro toto die zentralen Themen der Epoche kaleidoskopartig lebendig werden zu lassen. Die Zeit der Romantik zählt fraglos zu den prägenden Phasen unserer Geschichte, besonders ihre Musiker und Maler gelten im Ausland häufig geradezu als Inbegriff deutscher Kultur. Aus internationaler Perspektive gehören auch die Autoren der Weimarer Klassik zur deutschen Romantik, während die deutschsprachige Literaturgeschichtsschreibung hier lange vor allem die Unterschiede betonte. Mit der direkten Nachbarschaft zu dem Geburts- und Elternhaus Goethes und einem unmittelbaren Zusammenhang mit den traditionsreichen Goethebeständen des Hochstifts bietet das neue Museum in Frankfurt nicht zuletzt gute Voraussetzungen, um den engen Zusammenhang zwischen Goethe und der Romantik neu in den Blick zu nehmen. So wird die kommende Dauerausstellung von einer „Goethe-­ Galerie“ mit den Gemälden aus der Sammlung des Freien Deutschen Hochstifts eröffnet, die inhaltlich und chronologisch das Scharnier bildet zwischen dem Goethe-Haus und der Dauerausstellung zur Romantik, die sich im zweiten und dritten Stockwerk anschließt. Der Rundgang führt von den Frankfurter Malern des mittleren 18. Jahrhunderts, die Goethes Vater im Goethe-Haus sammelte, über den Schweizer Maler Füssli und eine als Freundschaftstempel gestaltete Porträt­galerie bis zu den großen Landschaften Jakob Philip Hackerts, die Goethe auf seiner italienischen Reise am Vorabend der französischen Revolution kennen- und schätzen lernte. Im dritten Stockwerk wird die Folge der geschilderten chronologischen

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| Anne Bohnenkamp Stationen durch ein Gemäldekabinett ergänzt, in dem hochkarätige Beispiele romantischer Malerei (C. D. Friedrich, C. G. Carus u. a.) versammelt sind. Gliederung und Gestaltung des künftigen Ensembles am Großen Hirschgraben, das sich architektonisch um das wiederaufgebaute Goethe-Haus gruppiert, ergibt sich aus dem Ort und seiner Geschichte. Während das aus dem 19. Jahrhundert stammende, im 20. Jahrhundert mehrfach erweiterte Bibliotheks- und Verwaltungsgebäude des Freien Deutschen Hochstifts nördlich an das historische Goethe-­Haus anschließt, folgt im Süden nun unmittelbar benachbart das Museumsgebäude, über dessen Eingangsfoyer zukünftig alle öffentlichen Ausstellungsbereiche des Hochstifts zugänglich sein werden. Von diesem großzügigen zentralen Foyer aus erreicht man sowohl das historische Brunnenhöfchen (von dem aus man ins Goethe-Haus, in die Gärten und in den Gartensaal des Hochstifts gelangt), als auch – über eine, die neuen Museumsgeschosse verbindende blaue „Himmelstreppe“ – die Bereiche der rund 1200 qm umfassenden künftigen Dauerausstellung. Städtebaulich orientiert sich die Architektur von Christoph Mäckler 4 an der historischen Parzellierung des Großen Hirschgrabens, der seit dem 17. Jahrhundert bis zum Ende des 19. Jahrhunderts von Wohnhäusern auf relativ schmalen Grundstücken geprägt war. Während das nördliche Ende des Hirschgrabens seit 1932 bis zum heutigen Tag mit dem Verwaltungsgebäude des Hochstifts bebaut ist, schloss sich südlich im direkten Anschluss an das Goethe-Haus nach den Kriegszerstörungen eine Bürobebauung der 1950er Jahre an. Hier residierte bis 2012 der Börsenverein des Deutschen Buchhandels. Sein Umzug in einen Neubau in der Braubachstraße und die Entscheidung der Stadt Frankfurt, die alten Bürogebäude abzureißen, eröffnete die historische Chance einer Erweiterung des HochstiftEnsembles und ermöglichte die Realisierung des neuen Museumsgebäudes. In Anlehnung an die historische Bebauung gliedert sich der Museumsbau am Großen Hirschgraben in drei Häuser, die sich in Proportionen und Materialwahl auf das Goethe-Haus beziehen und dabei zugleich einen ganz eigenen zeitgenössischen Charakter entwickeln. Jedes dieser drei Häuser hat einen eigenen Eingang, der die Räume der Kulturvermittlung, der Wechselausstellung und des Hauptfoyers vom Großen Hirschgraben aus erschließt. Der Haupteingang hat nicht nur die 4 Im Oktober 2013 wurde von der Stadt Frankfurt unter dem Projektnamen „Goethehöfe“ ein Architektenwettbewerb unter 15 Architekturbüros ausgelobt, in dem es um die städtebauliche Zukunft des Areals und den Bau des Romantik-Museums ging. Die Jury hat im Juni 2014 drei zweite Preise vergeben und diesen drei Preisträgern eine Nachbesserungsfrist von zwei Monaten bis zur endgültigen Entscheidung gewährt. In der Folge entschied sich ein Nachfolgegremium der Jury einstimmig für eine Kombination zweier Entwürfe: für den städtebaulichen Entwurf des Büros Landes & Partner mit den geplanten Wohnungen und der Integration des Cantate-Saals sowie für den Museumsneubau des Büros Christoph Mäckler Architekten. Die beiden Büros bildeten eine Planungsgemeinschaft „Goethehöfe – Deutsches Romantik-Museum“.

Ein neues Museum für die Romantik in Frankfurt am Main |

architektonisch einladendste Form, sondern wird auch durch einen die Fassade dominierenden Erker aus blauleuchtendem Glas im Straßenraum hervorgehoben. Durch diesen Eingang gelangt man ins Foyer und sieht sich einer raumhohen Glasfassade mit direktem Blick in den Romantik-Garten gegenüber. Zur rechten Hand nehmen die eintretenden Besucher*innen die alte, freigelegte Brandwand des Goethe-Hauses wahr, zur linken Hand erstreckt sich der hohe, aus gestocktem, mit rötlichem Naturstein versetzten Beton gebildete Raum bis zum Tresen mit einem raumhohen dahinterliegenden Bücherregal. In den Fußboden aus geschnittenen Ziegeln in Erdfarben sind Steine aus dem Vorgängerbau des Börsenvereins integriert: mit den sogenannten „TVG“-Steinen, die nach dem Krieg aus dem Schutt der zerstörten Stadt von der „Trümmerverwertungsgesellschaft“ hergestellt und für den Wiederaufbau verwendet worden waren, erinnert seine Gestaltung an die jüngere Baugeschichte des Ortes. Die bisher von den Nachbarhäusern verdeckte historische Brandwand des Goethe-Hauses führt dagegen bis in die Frühe Neuzeit zurück, denn sie zeigt, dass die alte Brandwand einmal eine Fensteröffnung besaß, die wahrscheinlich schon zugemauert war, als Goethes Großmutter die alten Fachwerkhäuser erwarb, die Goethes Vater dann ab 1755 zu einem stattlichen Bürgerhaus umbaute. Denn in der Stadtansicht Merians aus dem Jahr 1628 ist die Brandwand bereits durch ein Nachbargebäude verstellt. Vom Foyer aus gelangen die Besucher*innen schließlich auch in das Untergeschoss, in dem rund 400 qm für künftige Wechselausstellungen vorgesehen sind. Ergänzend zu der aus den Beständen des Hochstifts entwickelten neuen Dauerausstellung sollen in Zukunft Sonderausstellungen und Veranstaltungen auch die europäischen Dimensionen des Themas entfalten – denn die Romantik ist aus Frankfurter Perspektive keineswegs vor allem eine „deutsche Affäre“, sondern ein vielgestaltiges, europäisches Phänomen. Mit der Errichtung des Deutschen Romantik-Museums in Frankfurt am Main verbindet sich das Ziel, dieser Schlüssel­ epoche der deutschen und der europäischen Geistesgeschichte in der breiteren nationalen und internationalen Öffentlichkeit einen zentralen Erinnerungsort zu schaffen. Am Horizont der Auseinandersetzung mit der für die deutsche und die europäische Geschichte folgenreichen Epoche der Romantik soll die Frage nach den Konturen des modernen europäischen Menschen und Weltbilds stehen, das im romantischen Aufbruch des ausgehenden 18. Jahrhunderts, der entscheidend auch von Goethe inspiriert wurde, wesentliche Wurzeln besitzt.

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Autor*innenverzeichnis

Matthias Asche, Prof. Dr., Professor für Allgemeine Geschichte der Frühen Neuzeit, Universität Potsdam. Thematisch verwandte Publikationen: Asche, Matthias: Reichsstadtmemoria im 19. und 20. Jahrhundert – Beobachtungen zu Formen und Funktionen der Erinnerungskultur in ehemaligen Reichsstädten, in: Asche, Matthias/Nicklas, Thomas/Stickler, Matthias (Hg.): Was vom Alten Reiche blieb. Deutungen, Institutionen und Bilder des frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 19. und frühen 20. Jahrhundert, München 2011, S. 223 – 260. Anne Bohnenkamp-Renken Prof. Dr., Direktorin des Freien Deutschen Hochstifts/ Frankfurter Goethemuseum und Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Thematische verwandte Publikationen: Bohnenkamp, Anne/Heidenreich Bernd/Brockhoff, Evelyn/­Bunzel, Wolfgang (Hg.): Die Brentanos – eine romantische Familie?, Frankfurt am Main 2016; Bohnenkamp, Anne/Breuer, Constanze/Karl, Paul/Philipsen, Christian (Hg.): Häuser der Erinnerung: zur Geschichte der Personengedenkstätte in Deutschland, Leipzig 2015; Bohnenkamp, Anne/Vandenrath, Sonja (Hg.): Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie. Zur Theorie und Praxis von Literaturausstellungen, Göttingen 2011. Charlotte Bühl-Gramer Prof. Dr., Professorin für Didaktik der Geschichte der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Thematisch verwandte Publi­kationen: Bühl-Gramer, Charlotte: Die romantische „Erfindung“ des mittel­ alterlichen Nürnberg im 19. Jahrhundert, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2016), S. 66 – 78; Bühl-Gramer, Charlotte: Perspektivenwechsel. Das e­ hemalige Reichsparteitagsgelände aus der Sicht von Besucherinnen und Besuchern, Nürnberg 2019; Bühl-Gramer, Charlotte: Nürnberg als „Stadt des ­Friedens und der Menschenrechte“ – Transformationen von Stadtimage und lokaler Geschichtskultur, in: Kenkmann, Alfons/Spinnen, Bernadette (Hg.): Stadt­ geschichte, Stadtmarke, Stadtentwicklung. Zur Adaption von Geschichte im Stadtmarketing, Wiesbaden 2019, S. 99 – 115. Adria Daraban Dipl.-Ing., Gastprofessorin für das Fachgebiet Architekturtheorie an der BTU Cottbus-Senftenberg. Publikationen u. a.: Daraban, Adria: Representations of the Fragmentary in modern Architecture, in: Gleiter, Jörg/Meireis, Sandra (Hg.): Architecture between intellectual and sensory reason: regarding phenomenology, Belgrad, 2018, S. 157 – 172; Daraban, Adria: Figuren des Fragmentarischen,

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| Autor*innenverzeichnis in: Engelberg-Dočkal, Eva von/Krajewski, Markus/Lausch Frederike (Hg.): Mimetische Praktiken in der neueren Architektur. Prozesse und Formen der Ähnlichkeitserzeugung, Heidelberg 2017, S. 168 – 183; Daraban, Adria: Konstellationen des Denkens. Hans Scharouns Geschwister-Scholl-Schule in Lünen – eine frühe Alternative zur Moderne, in: Archithese 46 (2016), S. 78 – 83. Nina Fehrlen-Weiss M. A., Archivrätin beim Landesarchiv Baden-Württemberg, Abteilung Hauptstaatsarchiv Stuttgart. Thematisch verwandte Publikationen: Fehrlen-­Weiss, Nina/Schindling, Anton: Les colonnes mariales à Munich, Vienne et Prague: mémoriaux de la Guerre de Trente Ans, in: Martin, Philippe/­Forclaz, Bertrand (Hg.): Religion et piété au défi de la Guerre de Trente Ans, Rennes 2015, S. 19 – 38; Fehrlen-Weiss, Nina: „O Tilly, leicht hast Du es nicht, zu der Ehre zu kommen, die Dir schon lange gebührt!“ Der steinige Weg zum Denkmal für einen katholischen Kriegshelden in Altötting, in: Reeken, Dietmar von/­Thießen, Malte (Hg.): Ehrregime. Akteure, Netzwerke, Praktiken lokaler Ehrungen in der Moderne, Göttingen 2016, S. 221 – 237; Fehrlen-Weiss, Nina: The Thirty Years‘ War in German Commemorative Culture from the Beginning of the Holy Roman Empire to the Present – an Overview, in: Giangiulio, Maurizio/Franchi, Elena/Prioetti, Giorgia (Hg.): Commemorating War and War Dead. Ancient and modern, Trient 2019, S. 157 – 169. Sönke Friedreich Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde, Dresden. Thematisch verwandte Publikationen: ­Friedreich, Sönke: Der Weg zur Großstadt. Stadtentwicklung, bürgerliche Öffentlichkeit und symbolische Repräsentation in Plauen (1880 – 1933), Leipzig 2017; Friedreich, Sönke: Eine provinzielle Großstadt. Städtische Selbstwahrnehmung in Plauen/Vogtl. um 1900, in: Moderne Stadtgeschichte H 1 (2018), S. 108 – 126; Friedreich, Sönke: Sauber bleiben. Zum historischen Verhältnis von Stadt und Industrie in Plauen, in: Volkskunde in Sachsen 30 (2018), S. 41 – 53. Ulf Häder Dr., Direktor der Städtischen Museen Jena. Publikationen u. a.: Häder, Ulf: Konradin. Positionen des Historienbildes im 19. Jahrhundert, in: Herzner, Volker/Krüger, Jürgen: Mythos Staufer. Akten der 5. Landauer Staufertagung, Speyer 2010, S. 159 – 172; Häder, Ulf: Maria Pawlowna und das Jenaer Adler-Monument von 1821, in: Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen (Hg.): „Ihre Kaiserliche Hoheit“. Maria Pawlowna – Zarentochter am Weimarer Hof, Weimar 2004, S. 173 – 193; Häder, Ulf: Gartenkunst und Bürgerstolz. Lennés Magde­burger Volksgarten in einer bildlichen Inszenierung des 19. Jahrhunderts, in: Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen Magdeburg (Hg.): Gärten der Flora. Kunstausstellung anläßlich der Bundesgartenschau Magdeburg 1999, Magdeburg 1999, S. 212 – 221.

Autor*innenverzeichnis |

Sandra Kerschbaumer PD Dr., Privatdozentin am Institut für Germanistische Literaturwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Forschungs­ koordinatorin des DFG-Graduiertenkollegs „Modell Romantik. Variation – Reichweite – Aktualität“. Weitere Publikationen: Kerschbaumer, Sandra/Matuschek, ­Stefan (Hg.): Romantik erkennen – Modelle finden, Paderborn 2019; ­Kerschbaumer, Sandra: Immer wieder Romantik. Modelltheoretische Beschreibungen ihrer Wirkungsgeschichte, Heidelberg 2018. Celina Kress Dr., Architektin und Planungshistorikerin, Gründungspartnerin von team [BEST ] projekte für baukultur und stadt sowie assoziierte Wissenschaftlerin am Center for Metropolitan Studies der TU Berlin. Weitere Publikationen: Kress, Celina: Identities of the Urban Region. ’Copernican Turnarounds’?, in: Fischer, Karl Friedhelm/Altrock, Uwe (Hg.): Windows Upon Planning History, New York, London 2018, S. 151 – 171; Kress, Celina: The German Traditions of Städtebau und Stadtlandschaft and their Diffusion through Global Exchange, in: Hein, Carola (Hg.): The Routledge Handbook of Planning History, Oxford 2018, S. 173 – 191; Kress, Celina: Große Pläne – Ein Instrument für die Zukunft?, in: dies./­Bodenschatz, Harald (Hg.): Kult und Krise des großen Plans im Städtebau, Petersberg 2017, S. 17 – 27. Hans-Rudolf Meier Prof. Dr., Professor für Denkmalpflege und Baugeschichte an der Bauhausuniversität Weimar. Publikationen u. a.: Bogner, Simone/Franz, Birgit/Meier, Hans-Rudolf/Steiner, Marion (Hg.): Denkmal – Erbe – Heritage. Begriffshorizonte am Beispiel der Industriekultur. Monument – Patrimony – Heritage. Industrial Heritage and the Horizons of Terminology, Holzminden/Heidelberg 2017; Meier, Hans-Rudolf: Verkörpern, Verwandeln und Autorisieren mittels Spolien, in: Inkarnieren 8 (2017), S. 177 – 192; Meier, Hans-Rudolf: Fremdheit und Alterität in der Architektur der Moderne, in: Kappel, Kai/Müller; Matthias (Hg.): Geschichtsbilder und Erinnerungskultur in der Architektur des 20. und 21. Jahrhunderts, Regensburg 2014, S. 149– 165. Gisela Mettele Prof. Dr., Professorin für Geschlechtergeschichte an der FriedrichSchiller-Universität Jena. Thematisch verwandte Publikationen: Mettele, Gisela: Das Vogtland in Berlin. Bettina von Arnims Kritik der sozialen Verhältnisse in der preußischen Metropole, in: Kouli, Yaman/Luks, Timo/Mettele, Gisela/Schramm, Manuel (Hg.): Regionale Ressourcen und Europa, Berlin 2018, S. 363 – 380; Mettele, Gisela: Wieviel Garten braucht die Gartenstadt? Leben im Grünen als genossenschaftliches Reformprojekt im frühen zwanzigsten Jahrhundert, in: Häberlein, Mark/Zink, Robert (Hg.): Städtische Gartenkulturen im historischen Wandel, Ostfildern 2015, S. 193 – 211; Mettele, Gisela: Stadt und Romantik, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2016), S. 5 – 18.

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| Autor*innenverzeichnis Caroline Rosenthal Prof. Dr., Professorin für Amerikanistik an der FriedrichSchiller-Universität Jena. Sie hat u. a. zur amerikanischen Romantik und zu Nature Writing und Ecocriticism publiziert, z. B.: Rosenthal, Caroline/Comos, Gina (Hg.): Anglophone Literature and Culture in the Anthropocene, Cambridge 2019; ­Rosenthal, Caroline/Braun Peter: Landmarken: Das Konzept des Bioregionalismus bei Gary Snyder und Helmut Salzinger, in: Zeitschrift für Germanistik 30 (2020), S. 363 – 380; Rosenthal, Caroline: Modell des einfachen Lebens: Henry David Thoreaus Walden, in: Kerschbaumer, Sandra/Stefan Matuschek (Hg.): Romantik erkennen – Modelle finden, Paderborn 2019, S. 169 – 186. Christian Saehrendt Dr., Kunsthistoriker und Publizist. Thematisch verwandte Publikationen: Saehrendt, Christian: Schneewittchen und der Kopflose Kurator. Der Reiseführer für documenta-Besucher, Romantiker und Horrorfans, Köln 2017; Saehrendt, Christian: Gefühlige Zeiten. Die zwanghafte Sehnsucht nach dem Echten“, Köln 2015; Saehrendt, Christian: Ruinen und Wälder, Revoluzzer und edle Wilde – wie romantisch ist die Gegenwartskunst?, in: Formann, Inken (Hg.): RheinMainRomantik. Gartenkunst, Regensburg 2013, S. 135 – 152. Matthias Schirren Prof. Dr., Kunsthistoriker, Professor für Geschichte und Theorie der Architektur an der Technischen Universität Kaiserslautern. Zuvor Leiter der Sammlung Baukunst an der Akademie der Künste in Berlin. Publikationen und Ausstellungen zur Kunst und Architektur des 19. bis 21. Jahrhunderts, zuletzt: „Strategien der Moderne am Beispiel einer Stadt“, Ausstellung des Landes Rheinland-Pfalz zum Internationalen Bauhausjahr 2019. Weitere Informationen unter: www.gta-kl.de/Personen. Rainer Schützeichel Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur (gta) der ETH Zürich und Gastdozent an der Architekturfakultät der Hochschule München. Publikationen u. a.: Schützeichel, ­Rainer: Die „Theorie der Baukunst“ von Herman Sörgel. Entwürfe einer Architekturwissenschaft, Berlin 2019 (ausgezeichnet mit dem Theodor-Fischer-Preis des Zentralinstituts für Kunstgeschichte 2017); Schützeichel, Rainer: Die „Theorie der Baukunst“ von Herman Sörgel. Entwürfe einer Architekturwissenschaft, Berlin 2019; Schützeichel, Rainer/Lampugnani, Vittorio Magnago (Hg.): Die Stadt als Raumentwurf. Theorien und Projekte im Städtebau seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, Berlin/München 2017. Wolfgang Sonne Prof. Dr., Professor für Geschichte und Theorie der Architektur an der TU Dortmund, wissenschaftlicher Leiter des Baukunstarchivs NRW sowie stellvertretender Direktor des Deutschen Instituts für Stadtbaukunst. Publikationen u. a.: Sonne, Wolfgang: Representing the State. Capital City Planning in the Early

Autor*innenverzeichnis |

Twentieth Century, München 2003; Sonne, Wolfgang: Art. Stadtarchitektur, in: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 8, Tübingen 2007, S. 1297 – 1319; Sonne, Wolfgang: Urbanität und Dichte im Städtebau des 20. Jahrhunderts, Berlin 2014. Thomas Thränert Dipl.-Ing., Freier Landschaftsarchitekt, Gartenhistoriker. Thema­ tisch verwandte Publikationen u. a.: Thränert, Thomas/Krepelin, Kirsten: Reliefstudien – Die Gestaltung des Ortes in der freien Landschaft um 1800, Berlin 2016; Thränert, Thomas: Finden und Formen – Landschafts-Architekturen um 1800, in: Wolkenkuckucksheim 20 (2015), S. 215 – 230; Thränert, Thomas/Krepelin, Kirsten: Die gewidmete Landschaft – Spaziergänge und verschönerte Landschaften um Dresden, Worms 2011.

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