Ontologie des Rechts [1 ed.] 9783428459858, 9783428059850

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Ontologie des Rechts [1 ed.]
 9783428459858, 9783428059850

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Vladimir

Kubes / Ontologie des Rechts

Schriften

zur

Rechtstheorie

Heft 118

Ontologie des Rechts

Von

Dr. Vladimir Kubes o. Univ.-Profeseor, Brno

DUNCKER

& HUMBLOT

/

BERLIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek KubeS, Vladimir: Ontologie des Rechts / von Vladimir KubeS. — Berlin: Duncker und Humblot, 1986. (Schriften zur Rechtstheorie; H. 118) ISBN 3-428-05985-9 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1986 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin 61 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-05985-9

Der rechtswissenschaftlichen der Universität gewidmet

Wien

Fakultät

Vorwort Nach meiner Auffassung kann man das System der Rechtsphilosophie in fünf relativ abgeschlossene, allerdings eng miteinander verbundene Bücher gliedern. In einem ersten Buch erscheint es angebracht, sich dem Begriff der Rechtsphilosophie, ihren Aufgaben und der bestimmenden Bedeutung dieser Wissenschaft für die anderen Rechtswissenschaften (besonders für die dogmatische Rechtswissenschaft - die Rechtsdogmatik, die soziologische Rechtswissenschaft - die RecMssoziologie, die psychologische Rechtswissenschaft - die Rechtspsychologie und die politische Rechtswissenschaft - die Rechtspolitik) zu widmen. Auch die Beziehung der Rechtsphilosophie zu den großen Rechtskulturen, die Rechtsmethodologie und die Methode der Rechtsphilosophie gehören dazu. In einem zweiten Buch des Systems der Rechtsphilosophie soll die Ontologie (und gewissermaßen auch die Noetik) des Rechts behandelt und in diesem Rahmen auch die Umrisse der Axiologie des Rechts (was die reale Idee des Rechts und die ideale Nörmidee des Rechts betrifft) dargestellt werden. In einem dritten Buch ist vom Begriff des Rechts die Rede, von einzelnen Rechtsbegriffen mit ihrer grundsätzlichen Gliederung und von der Philosophie der rechtlichen Grundbegriffe. Hier interessieren besonders Rechtsbegriffe, wie Rechtspflicht, Rechtsnorm, subjektives Recht, Rechtssubjekte, Mensch, Person, Organ, Rechtsverfahren, Delikt, Schuld und Strafe, der stufenförmige Aufbau der Rechtsordnung, das Verhältnis der ranghöheren zur rangniederen Rechtsnorm, Lücken im Recht, die Problematik der rechtlich-volitiven Sphäre, die Begriffe der Interpretation, Applikation und der Erzeugung des Rechts usw. Auch die Rolle der Logik in der rechtlichen Sphäre und die Sollsatzlogik, die Frage der logischen Struktur der Norm und der Rechtsnorm, einzelne Wesensmerkmale des Rechts, das Verhältnis des Rechts zu anderen Systemen von Normen und vieles mehr stehen im Mittelpunkt dieses Buches. Im Grunde genommen geht es hier um die Theorie des Rechts (um die Theorie des Rechts und des Staates - keinesfalls aber um die Theorie des Staates und des Rechts). Ein viertes Buch des Systems ist der rechtsaxiologischen Problematik gewidmet, besonders der Frage nach Sinn und Zweck des Rechts überhaupt und der rechtlichen Weltanschauung, als einem offenen hierarchischen

8

Vorwort

System einzelner rechtlicher Ideen mit der realen Idee des Rechts an der Spitze. In die Konstruktion einer solchen rechtlichen Weltanschauung gipfelt das rechtsphilosophische Streben. Ein fünftes Buch des Systems enthält die Geschichte der Rechtsphilosophie von Hesiod und Heraklit bis zu den gegenwärtigen Rechtsphilosophen. Der Kern des ganzen Systems der Rechtsphilosophie liegt im zweiten Buch, das von der „Ontologie des Rechts" handelt. Dieses Buch lege ich nun der Öffentlichkeit vor. Meiner Überzeugung nach gibt es keinen Grund, an der Existenzberechtigung der Philosophie und der Philosophie vom Recht (der Rechtsphilosophie), an ihrer Notwendigkeit für die Gesellschaft und daher auch - und vor allem - für das Leben des konkreten Menschen zu zweifeln. Dabei erscheint es natürlich, daß eine Philosophie, eine Rechtsphilosophie, streng wissenschaftlich betrieben werden. Philosophie und Rechtsphilosophie sind Wissenschaften per eminentiam. Folgerichtig ist daher ihre Grundlage und ihr Ausgangspunkt die Gesamterfahrung, also das, was i n der Welt der Erfahrung gegeben ist und erkannt werden kann. Daher richtet sich diese Studie gegen alle „philosophischen" Modeströmungen, für welche ein vollkommener Bruch mit philosophischer Tradition, Irrationalismus und Pessimismus maßgebend und charakteristisch sind. Es ist unrichtig, die Rechtsphilosophie ohne Bindung an die Philosophie begründen zu wollen und zu meinen, daß die Philosophie am Ende angelangt sei. Wäre dieser Standpunkt richtig, so wäre auch die Situation der Rechtsphilosophie hoffnungslos. Die Rechtsphilosophie ist kein bloßer Bestandteil der allgemeinen Philosophie, sondern sie ist eine Philosophie vom Recht, d.h. sie befaßt sich - in sinnvoller Anwendung - mit allen Fragen, die auch Fragen der allgemeinen Philosophie sind, im Hinblick auf das Recht als einen besonderen Gegenstand. Die Geschichte der Rechtsphilosophie beweist, daß die Rechtsphilosophie immer auch von den großen Philosophen (Heraklit, Piaton, Aristoteles, Thomas von Aquino, Leibniz, Kant, Fichte, Hegel, Emil Lask, Leonard Nelson) gepflegt wurde. Besonders seit dem Ende des 19. Jahrhunderts kann man feststellen, daß eine neue, allgemein philosophische Richtung fast immer einen Widerhall in einer entsprechenden neuen rechtsphilosophischen Konzeption gefunden hat, und zwar nach einem Zeitraum von durchschnittlich 1 0 - 3 0 Jahren (z.B. die neokantische Richtung Marburger Prägung, die südwestdeutsche neokantische Richtung, die Phänomenologie, besonders der objektiv-realistischen und der transzendental-phänomenologischen Richtung, schließlich auch der Existentialismus).

Vorwort

Ohne Bindung an die Philosophie kann man den Gegenstand „Recht" in seinem Wesen nicht erfassen. Es ist unrichtig zu meinen, daß sich der Gegenwartsphilosophie kein neues, tragbares Fundament anbietet. Das zwanzigste Jahrhundert brachte einen wahrhaft großen Philosophen hervor, der ein wirkliches, auf universale Weltdeutung ausgerichtetes philosophisches System aufgebaut hat; ein philosophisches System, auf dem man eine Rechtsphilosophie gründen kann, vielleicht unter weiterer Ausnutzung einiger Grundgedanken der transzendentalen Philosophie von Immanuel Kant und der materialistischen Geschichtsauffassung. Es ist dies Nicolai Hartmann mit seinem großartigen, tiefen und zugleich gesunden, d.h. die Phänomene nie ignorierenden und nicht in die „Angst" verfallenden System. Wenn ich mir erlaube, dieses Buch, welches schon vor sechs Jahren beendet wurde, der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, deren Geschichte von den großen Namen der juristischen Welt geprägt ist, zu widmen, tue ich es nicht nur als Ausdruck meiner aufrichtigen Verehrung, sondern auch aus dem Gefühl tiefer Dankbarkeit. Die Zeit, die mir gegönnt wurde, auf ihrem Boden mehrere Jahre als Gastprofessor tätig zu sein und mit ihren Wissenschaftlern zu diskutieren, gehört zu den glücklichsten meines Lebens. Hier habe ich ein volles Verständnis gefunden und in manchen Gesprächen wurden offene Fragen geklärt. Mein Dank gilt besonders dem Altmeister der Rechtsphilosophie und des Völkerrechts, Alfred Verdross, dem Betreuer der Reinen Rechtslehre, Robert Walter und schließlich Günther Winkler, dessen unaufhörliche empfindsame Bereitschaft, mir konkret zu helfen, beispiellos ist. Brno - Wien, im Dezember 1985 Vladimir Kubes

Inhaltsverzeichnis Erster Teil Einleitung § 1. Der Zweck der Arbeit und die strittigen Grundfragen des Denkens über das Recht

15

§ 2. Der Weg der Beweisführung

17

Zweiter Teil Der Begriff der kritischen Ontologie § 3. Zur Einführung in die kritische Ontologie

19

§ 4. Einige Hauptmerkmale der kritischen Ontologie

22

§ 5. Theorien, die niedere Seinsschichten durch Kategorien der höheren Seinsschichten oder der Idealität erklären

27

§ 6. Theorien, die höhere Seinsschichten durch Kategorien der niederen Seinsschichten erklären

30

§ 7. Der stufenförmige Aufbau der realen Welt nach Nicolai Hartmann . . . .

37

§ 8. Die kategoriale Mannigfaltigkeit im stufenförmigen Aufbau der Welt; das Gesetz der Stärke und das Gesetz des Novums § 9. Die Verschiedenheit einzelner Seinsschichten; die Überformung und die Überbauung

43

§ 10. Fundamentalkategorien und besondere Typen der Determination in den Schichten der realen Welt

45

§11.

54

Grundsätze der kategorialen Gesetzlichkeit und die kategorialen Gesetze

41

Dritter Teil Das geistige Sein §12.

Zur Problematik des geistigen Seins; einige Erklärungsversuche

68

§13.

Ausgangspunkte für die Erklärung des geistigen Seins

70

§ 14. Die drei Grundformen des geistigen Seins (der personale, der objektive und der objektivierte Geist) und die Einheit des Geistes §15. §16.

72

Der Geist und die Normideen; die Herrschaft des Geistes und seine Abhängigkeit

77

Zum personalen Geist; die Person und ihre Entscheidung

79

12

Inhaltsverzeichnis

§ 17. Die Fähigkeit zur Vorsehung, zur Initiative und zur Zwecktätigkeit; ein erster Kontakt des Geistes mit dem „Reich" der Normideen; ein erster Zugang zur Freiheit des Willens

80

§ 18. Der objektive Geist und der Volksgeist; ein erster Zugang zum Wesen des Rechts (und des Staates)

86

§19.

Der objektive Geist und die Gemeinschaft der Individuen; ein zweiter Zugang zum Wesen des Rechts (und des Staates)

93

§ 20. Das Verhältnis des objektiven Geistes zum personalen Geist; ein dritter Zugang zum Wesen des Rechts (und des Staates)

96

§ 21. Über die Macht des objektiven Geistes und die Problematik des Verhältnisses des Rechts, der Macht und der Revolution; ein vierter Zugang zum Wesen des Rechts (und des Staates)

100

§ 22. Die Individualität des objektiven Geistes, seine Eigengesetzlichkeit und sein Leben; ein Zugang zur rechtlichen Geltung

109

§23.

Der Geschichtsprozeß und die Ideen; die Realität des geistigen Seins, insbesondere des Rechts; der Geist und das Bewußtsein

114

§ 24. Der Modus deficiens des objektiven Geistes und die Problematik der Führung im Staat

120

§ 25. Der objektive Geist und die Formen der Objektivation

129

§26.

132

Der spezielle Modus des Seins des objektivierten Geistes

§27. Der objektivierte Geist und die Normideen § 28. Die Dialektik im Verhältnis des objektivierten, objektiven und personalen Geistes

137 140

§29.

Abgeleitete Normativität einiger Sphären des geistigen Seins, insbesondere der rechtlichen Sphäre

145

§30.

Das Problem der Willensfreiheit im Lichte der kritischen Ontologie

. ..

149

§31.

Klarstellung der Gesamtproblematik des Wesens des Rechts, der Idee, der Normidee und des Begriffs des Rechts

161

§32.

Eine Einführung i n die Frage nach dem Wesen des Rechts zum Unterschied von der Frage nach dem Wesen des Staates, der Gesellschaft und der Gemeinschaft

164

§33.

Ein Abriß der Problematik der Normidee des Rechts

165

§34.

Ein Abriß der Problematik der rechtlichen Geltung und der Verbindlichkeit

167

§35.

Ein Überblick über einzelne Erklärungsversuche des Wesens des Rechts

168

§36.

Erklärung des Wesens des Rechts mit Hilfe der Kategorien der niederen Seinsschichten

170

Vierter

Teil

Eine Erklärung des Wesens des Rechts und weiterer Grundfragen auf der Grundlage der kritischen Ontologie

Inhaltsverzeichnis § 37. - Erklärung des Wesens des Rechts mit Hilfe der Kategorien der Idealität

193

§38.

215

Vermittelnde Erklärungen des Wesens des Rechts

§ 39. Der Weg im Schrifttum zur ontologischen Erfassung des Wesens des Rechts

237

§ 40. Die Notwendigkeit der Ausrichtung nach dem Material des Rechts; eine vorläufige Bestimmung des Ortes, wohin das Recht gehört

308

§ 41. Zu den ontologischen und noetischen Kategorien im allgemeinen

312

§ 42. Natur und Typen der ontologischen Kategorien des Rechts § 43. Grundsätze der kategorialen Gesetzlichkeit und die dialektisch-komplexe Einheit der Kategorien des Rechts

313 317

§ 44. Die Unzulänglichkeit der bisherigen Erklärungsversuche vom Wesen des Rechts

321

§ 45. Das Recht als ein reales Phänomen und seine Tendenz zur Welt der Idealität

324

§ 46. Das Recht und der personale, objektive und objektivierte Rechtsgeist . .

328

§ 47. Das Recht und die Macht; der organisierte Zwang; die komplexe zusammengesetzte Natur des Rechtsphänomens

335

§ 48. Die doppelte Transzendenz der Rechtsordnung

342

§ 49. Die Idee und die Normidee des Rechts; die zwei Welten; Sein und Sollen

343

§ 50. Die rechtliche Geltung und die Verbindlichkeit; Normen contra humani§51.

tatem und das rechtlich-volitive Problem

358

Recht und Staat

389

§ 52. Das Wesen der Gesellschaft und der Gemeinschaft in Beziehung zum Wesen des Rechts und des Staates

405

§53.

Recht und Wirtschaft

413

§54.

Recht und Moral

417

§55.

Recht und Sitte

425

§ 56. Zur begrifflichen Bestimmung des Rechts

428

Literaturverzeichnis

446

Namenverzeichnis

464

Sachverzeichnis

469

Erster Teil

Einleitung § 1. Der Zweck der Arbeit und die strittigen Grundfragen des Denkens über das Recht I. Der Zweck der Arbeit ist die grundlegende Bedeutung der modernen, kritischen Ontologie für die Klärung der Grundprobleme des Denkens über das Recht zu demonstrieren. Keine Grundfrage der allgemeinen Philosophie - das gleiche gilt für die Rechtsphilosophie - kann ohne vorhergehende kritisch ontologische Untersuchungen richtig beantwortet werden. Die Klärung der rechtsnoetischen, rechtslogischen, rechtsmethodologischen Probleme, ebenso wie die Untersuchung der Rechtsidee, des Sinnes und des Zweckes des Rechts und der rechtlichen Weltanschauung ist ohne vorhergehende rechtsontologische Untersuchung unmöglich. Ja selbst die moderne Sollsatzlogik (Normenlogik) ist ohne vorhergehende ontologische Untersuchung unvorstellbar. Gerade diese ontologische (rechtsontologische) Untersuchung ist bei Lösungen aller philosophischen (rechtsphilosophischen) Grundprobleme einfach präjudiziell. II. Die erste Grundfrage ist die nach dem Wesen des Rechts. Was das Recht ist, wohin es als Phänomen gehört, ob in die Welt der Idealität, was der Meinung der Mehrheit der naturrechtlichen Lehren auf der einen Seite und der Reinen Rechtslehre Hans Kelsens und Franz Weyrs auf der anderen Seite entsprach, oder in den Überbau, in den der historische Materialismus das Recht einreihte, oder in die Welt der Realität (und, falls dies zutrifft, i n welche Schicht dieses hierarchischen Stufenbaues der realen Welt), und welche die eventuelle Beziehung des Rechts als eines realen Phänomens zur Welt der Idealität ist - das sind die Fragen nach dem Wesen des Rechts. Auch die Frage der rechtlichen Verantwortlichkeit im Verhältnis zum Urproblem der Freiheit des Willens ist in diesem Zusammenhang sehr interessant. Die zweite Grundfrage ist die nach der Idee (Normidee) des Rechts als einer dialektischen Synthese der Ideen der Gerechtigkeit, Sicherheit, Freiheit des konkreten Menschen und der Zweckmäßigkeit.

16

l.Teil: Einleitung

Die dritte Grundfrage ist die nach der Geltung und Verbindlichkeit Rechts.

des

Die vierte Grundfrage ist die Frage, wie ich denken (erkennen) muß, um das Objekt, im konkreten Fall das Recht am adäquatesten zu erfassen. Die fünfte Grundfrage ist die nach der begrifflichen Bestimmung (nach der Definition des Rechts) und nach den rechtlichen Grundbegriffen. Immer gilt, was Karl Bergbohm sagte1, daß ohne Rekurs zum Rechtsbegriff eine allgemeine Diagnose, daß diese konkrete Frage eben eine Rechtsfrage ist, überhaupt nicht möglich ist. Die sechste Grundfrage ist die Frage nach dem Sinn und Zweck des Rechts und nach der rechtlichen Weltanschauung. Die siebente Grundfrage ist die nach dem Verhältnis des Rechts, des Staates, der Gesellschaft und der Gemeinschaft. Die achte Grundfrage ist die Frage nach dem Verhältnis des Rechts und der Moral (event, der Sitte). Die neunte Grundfrage betrifft das Verhältnis des Rechts und der Wirtschaft. Die zehnte Grundfrage ist die des Verhältnisses des Rechts und der Revolution. Die Lösung aller dieser Grundfragen setzt die Erklärung des schwierigsten Problems des Verhältnisses des Seins und des Sollens voraus. III. Die Arbeit w i r d versuchen zu zeigen, daß bisherige Lösungen dieser Grundfragen des philosophischen (theoretischen) Denkens über das Recht ohne wesentlichen Erfolg geblieben sind, bzw. die Fülle der gegebenen Problematik nicht erf aßt haben. Die Versuche um eine Lösung haben nur einige Teilaspekte gebracht, haben aber nie die dialektische Komplexheit des Phänomens des Rechts dargelegt. Sicher hat die Mehrzahl von verschiedensten Auffassungen unser Wissen vom Recht bereichert, nie aber war die ganze Problematik geklärt. Es w i r d sich zeigen, daß die Beantwortung der ersten Grundfrage nach dem Wesen des Rechts, die überhaupt die bedeutendste ist, restlos in die rechtsontologische Problematik fällt. Hierher gehört auch - und das ist eine überraschende Erkenntnis der modernen, systematischen Philosophie - die Bearbeitung des Urproblems der Freiheit des Willens. Auf der Grundlage der kritischen Ontologie w i r d es nötig sein, auch das Problem der realen Idee des Rechts und der Normidee des Rechts, sowie die Frage nach der rechtlichen Geltung und Verbindlichkeit zu lösen. 1

Karl Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, Bd. I, S. 71 f.

§ 2. Der Weg der Beweisführung

17

Die Frage, wie man das Recht erkennt, ist zwar eine Frage der Noetik (der Gnoseologie, der Erkenntnistheorie), aber ohne vorhergehende ontologische Erforschungen kann man auch dieses Problem nicht mit Erfolg lösen. Übrigens sind die ontologischen und die noetischen Kategorien - wenigstens grundsätzlich - die Vorder- und Rückseite ein- und derselben Sache. Die begriffliche Fixierung des Rechts als eines Systems von Normen gewisser Qualität und die Theorie der Rechtsbegriffe ist Gegenstand der Rechtslogik, bzw. der Rechtstheorie. Aber auch hier sind die rechtsontologischen Untersuchungen präjudiziell. Auch die Beantwortungen der weiteren Grundfragen (Grundprobleme), wie nach dem Sinn und Zweck des Rechts und nach der rechtlichen Weltanschauung als eines stufenförmigen Aufbaues der einzelnen Ideen mit der Rechtsidee an der Spitze (wo besonders die Problematik des geistigen Seins und der Normideen eine entscheidende Rolle spielt), ebenso wie die Frage nach dem Verhältnis des Rechts zum Staat, zur Gesellschaft und Gemeinschaft, die Frage nach dem Verhältnis des Rechts zu anderen gesellschaftlichen Normen, die Frage des Verhältnisses des Rechts und der Wirtschaft und die Frage des Rechts und der Revolution, sind nur auf der ontologischen Basis lösbar. Das zentrale Problem überhaupt ist das Problem des Wesens des Rechts. Wenn man zur richtigen Klärung dieses Problems gelangt, w i r d die Beantwortung der weiteren Grundfragen leicht und fast selbstverständlich sein. Aus diesem Grunde w i r d man an der Erklärung dieses Problems des Wesens des Rechts die ausschlaggebende Bedeutung der kritischen Ontologie als des Hauptteiles der Philosophie und der Rechtsphilosophie demonstrieren. § 2. Der Weg der Beweisführung I. Zuerst wird uns die Problematik der modernen kritischen Ontologie interessieren. Im Vordergrund stehen der hierarchische Aufbau der realen Welt und die besonderen Typen der Determination einzelner Seinsschichten, das geistige Sein und besonders der objektive Geist und der Volksgeist als erster Zugang zum Wesen des Rechts, der objektive Geist und die Gemeinschaft als zweiter Zugang zum Wesen des Rechts, das Verhältnis des objektiven und personalen Geistes als dritter Zugang, die Macht des objektiven Geistes und ein Abriß der Lösungen der Frage des Verhältnisses des Rechts, der Macht und der Revolution auf der Grundlage des objektiven Seins (vierter Zugang), die Individualität des objektiven Geistes, seine spezifische Gesetzlichkeit und sein Leben (der Zugang zur Frage der rechtlichen Geltung), die Realität des geistigen Seins, in erster Reihe des Rechts, der Modus deficiens des objektiven Geistes und die Problematik der Führung im Staate. 2 KubeS

18

l.Teil: Einleitung

Weiters ist es die Problematik des objektivierten Geistes, die abgeleitete Normativität einiger Sphären des geistigen Seins, besonders des Rechts, und die Lösung des Verhältnisses des objektivierten und des objektiven Rechtsgeistes, sowie das alte Problem der Willensfreiheit. II. Im weiteren Teil der Arbeit wird die Lösung des zentralen Problems des Wesens des Rechts auf der Grundlage der kritischen Ontologie dargestellt. Bei dieser Lösung werden die Hauptlösungen des Wesens des Rechts demonstriert und die bedeutendsten Versuche der Lösung in der Literatur kritisch erörtert. Gerade hier liegt der Schwerpunkt unseres Interesses, sowie die Möglichkeit, die entscheidende Bedeutung der kritischen Ontologie klarzumachen. Das Recht als ein Phänomen der Welt der Realität und sein Verhältnis zur „Welt" der Idealität, die Einreihung des Rechts in dem stufenförmigen Aufbau der realen Welt, die ontologischen Kategorien des Rechts, die Kategorien der Normativität und der Teleologie, das Verhältnis des Rechts zur Idee und Normidee des Rechts - das alles w i r d uns interessieren. Besonders wird uns die Frage der rechtlichen Geltung mit der Unterscheidung der Geltung der Rechtsordnung als eines Ganzen, der Geltung einer einzelnen Rechtsnorm, der Geltung der realen Idee des Rechts und der Geltung der idealen Normidee des Rechts interessieren, sowie das Verhältnis des Rechts zum Staat, zur Gesellschaft und Gemeinschaft. Besondere Aufmerksamkeit wird dem Verhältnis des Rechts zu anderen gesellschaftlichen Normen, vor allem zur Moral, gewidmet werden. Auch das Verhältnis des Rechts und der Wirtschaft lage der kritischen Ontologie erörtert werden.

w i r d auf der Grund-

Alle Ausführungen werden schließlich zur begrifflichen Rechts führen.

Bestimmung des

Zweiter Teil

Der Begriff der kritischen Ontologie § 3. Zur Einführung in die kritische Ontologie I. Die moderne kritische Ontologie wurde vor allem in einer Reihe von Schriften Nicolai Hartmanns aufgebaut. 1 1 Siehe besonders: Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, 1921, 2. Aufl. 1925, 4. Aufl. 1949; Wie ist die kritische Ontologie überhaupt möglich? Festschrift für Paul Natorp, 1923; Ethik, 1926, 2. Aufl. 1935, 5. Aufl. 1949; Das Problem des geistigen Seins, Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften, 1933, 2. Aufl. 1949; Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, 3. Aufl. 1948; Systematische Philosophie in eigener Darstellung, 1935; Der philosophische Gedanke und seine Geschichte, 1936; Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938, 2. Aufl. 1949; Der Aufbau der realen Welt, 1940, 2. Aufl. 1949; Neue Wege der Ontologie, 1942; Teleologisches Denken, 1952; Ästhetik, 1953; Philosophie der Natur, 1950; Kleinere Schriften, Bd. I. Abhandlungen zur systematischen Philosophie, 1955; Die Philosophie des deutschen Idealismus, I. Teil: Fichte, Schelling und die Romantik, 1923, II. Teil: Hegel, 1929; - Zur Philosophie N. Hartmanns: Max Hartmann, Die philosophischen Grundlagen der Naturwissenschaft, 1959; derselbe, Die Philosophie der Natur Nicolai Hartmanns, 1951; H. Meyer, Nicolai Hartmann, 1951; Jean Wahl, La structure de monde réel d'après Nicolai Hartmann, 1953; derselbe, La théorie des cathégories fondamentales dans Nicolai Hartmann, 1954; Stanislav Breton, L'être spirituel à recherches sur la philosophie de Nicolai Hartmann, 1962; Barone Francesco, Nicolai Hartmann nella filosofia del novocento, 1957; H. Wein, Zugang zu philosophischer Kosmologie, 1954; Heinz Hülsman, Die Methode in der Philosophie Nicolai Hartmanns, 1959; Hans Theisen, Determination und Freiheit bei Nicolai Hartmann; T.N. Gorstejnova und Kol., Filozofija Nikolaja Gartmanna (Kristióeskij analyz osnovnych problem ontologii), russ. 1969; Georg Klaus, Manfred Buhr, Philosophisches Wörterbuch, 2. Bd. 11. Ausg. 1975, S. 891 ff.; Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, Grundlagen des Rechts, 1964, 2. Aufl. 1978; E.v. Hippel, Zur Ontologie des Rechts, Stud. gen. 1959; Arthur Kaufmann, Naturrecht und Geschichtlichkeit, 1957; derselbe, Die ontologische Struktur des Rechts, in: Die ontologische Begründung des Rechts, Hrsg. Arthur Kaufmann, 1965, S. 470ff.; Luis Legaz y Lacambra, Rechtsphilosophie, 1965; Werner Maihof er, Recht und Sein, Prolegomena zu einer Rechtsontologie, 1954; derselbe, Vom Sinn menschlicher Ordnung, 1956; derselbe, Naturrecht als Existenzrecht, 1963; derselbe, Die Natur der Sache, in: Die ontologische Begründung des Rechts, Hrsg. Arthur Kaufmann, 1965, S. 52ff.; Aragó, Die antimetaphysische Seinslehre N. Hartmanns, Philosophisches Jahrbuch 67,1959, S. 117ff.; s. auch Helmut Coing, Vom Sinngehalt des Rechtes, in: Die ontologische Begründung des Rechts, Hrsg. Arthur Kaufmann, 1965 S. 33ff.; Werner Goldschmidt, Beziehungen zwischen Ontologie und Logik in der Rechtswissenschaft, in: Die ontologische Begründung des Rechts, S. 244ff.; René Marcie, Um eine Grundlegung des Rechts, Existentiale und fundamental-ontologische Elemente im Rechtsdenken der Gegenwart, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Die ontologische Begründung des Rechts, S. 509 ff.; Vladimir Kubeè, Prâvni filosofie X X . stoletl (Die Rechtsphilosophie

2*

20

2. Teil: Der Begriff der kritischen Ontologie

Die Ontologie ist eine Wissenschaft vom Seienden im weitesten Sinn des Wortes. Nicolai Hartmann bestimmt die Ontologie als „die Wissenschaft vom Seienden". 2 G. Jacobi definiert sie als Lehre „vom Seienden unter dem Gesichtspunkt seines Seins". Den Terminus „Ontologie" hat - wie es scheint - zum erstenmal Coclenius im Jahr 1613 und dann Glauberg im Jahr 1656 verwendet, und zwar im eigentlichen Sinn „der Lehre vom Sein"; es handelte sich dabei um das Sein und um die allgemeinsten Bestimmungen und Begriffe. 3 Der Name „Ontologie" taucht im 17. Jahrhundert auch bei Du Hamel auf. 4 Wie Marcie erwähnt, kann man Ontologie und auch Metaphysik auf deutsch mit „Seinslehre" wiedergeben. Eine Schuldefinition der Ontologie, bzw. Metaphysik findet man im Handbuch von Alexander Gottlieb Baumgarten 5, einem Schüler von Christian Wolff: „Metaphysica est scientia prima cognitionis humanae principia continens; ad metaphysicam referentur: ontologia, cosmologia, psychologia et theologia naturalis". Marcie meint 6 , in der Gegenwart empfehle sich für die Seinslehre der Gebrauch des Namens Ontologie , weil das Wort Metaphysik Vorstellungen „mystischer Transzendenz" wachrufe. II. Aus Hartmanns begrifflicher Bestimmung der Ontologie geht vor allem hervor, daß man unter der Ontologie nicht irgendeine metaphysische Theorie über die allgemeinsten Formbeziehungen der Wirklichkeit, wie z.B. die Stoiker die Ontologie begriffen, versteht. 7 Die alte Ontologie, die auch eine Lehre vom Sein war, baute auf die These, daß das, was allgemein ist

des 20. Jahrhunderts), 1947; derselbe, tJkoly prâvni filosofie (Die Aufgaben der Rechtsphilosophie), Prâvnlk 1968, S. 142ff.; derselbe, Prâvnl vëdy a dneâek (Die Rechtswissenschaften und der heutige Tag), Sbornlk praci filosofické fakulty Brnënské university 1969, Bd. 16, S. 77ff.; derselbe, Prâvnl sociologie a prâvnl filosofie (Die Rechtssoziologie und die Rechtsphilosophie), ibid. Bd. 17, S. 95ff.; derselbe, Die philosophischen Grundlagen der Brünner Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Schule, Universitas Brunensis, 1969, S. 345ff.; derselbe, Reine Rechtslehre und kritische Ontologie in der Tschechoslowakei, Österr. Zeitschrift f. öffentl. Recht, 25, 1974, S. 305ff.; derselbe, Die heutige Sendung der Rechtsphilosophie, Österr. Juristen-Zeitung, 30, 1975, S. 600ff.; derselbe, Rechtsontologie und ihre Beziehung zur Struktur des Rechts, in: Rechtsphilosophie und Gesetzgebung, Forschungen aus Staat und Recht, 36, 1976, S. 44ff.; derselbe, Die Logik im rechtlichen Gebiet, Österr. Zeitschrift f. öffentl. Recht, 27,1976, S. 271ff.; derselbe, Die Grundfragen der Philosophie des Rechts, 1977: derselbe, Die Rechtspflicht, 1981. 2 Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, 2. Aufl. S. 15. 3 Georg Klaus, Manfred Buhr, Philosophisches Wörterbuch, 11. Aufl. 2. Bd., S. 891 ff. 4 Dazu E. Coreth, Metaphysik, 1961. S. 17ff.; 28; René Marcie, Um eine Grundlegung des Rechts, Existentiale und fundamental-ontologische Elemente im Rechtsdenken der Gegenwart, S. 509f. 5 Met. Ed. I I , 1743, § l f . ; s. René Marcie, I.e. 6 René Marcie, I.e. S. 510. 7 Vgl. z.B. Wilhelm Windelband - Heinz Heimsoeth, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, Ausg. 1935, S. 166.

§ 3. Zur Einführung in die kritische Ontologie

21

und in essentia in eine Formsubstanz konzentriert und im Begriff bestimmbar ist, das bestimmende und formende Innere der Sache sei.8 Nach dieser alten Ontologie existiert neben der Welt, in die auch der Mensch eingeschlossen ist, eine Welt der Wesenheiten, die zeitlos und immateriell sind und ein Reich der Vollkommenheit und des höheren Seins bilden. Die extremen Vertreter dieser Lehre behaupteten, daß die eigene und echte Realität nur allgemeine Wesenheiten besitzen, und in solcher Weise die zeitlich sachliche Welt entwerteten. Die Ontologie ist nicht nur eine Grundwissenschaft von der „Wirklichkeit" im kausalen Sinn, sondern auch von der „Wirklichkeit", oder besser gesagt von der Gegebenheit (vom Material) im normologischen und teleologischen Sinn (in der Terminologie von Englis). 9 Anders ausgedrückt: das Sein ist nicht nur ein Sein des Anorganischen, oder des Organischen; es existieren auch das seelische Sein und auch das geistige Sein. Die Ontologie hat zur Aufgabe, alle Schichten des Seins, des physisch-materiellen oder anorganischen, des organischen, des seelischen und des geistigen Seins, ihre Strukturen, ihre Kategorien zu untersuchen. III. Im ausklingenden neunzehnten und im beginnenden zwanzigsten Jahrhundert wurde, besonders unter dem entscheidenden Einfluß der Marburger neukantischen Richtung Hermann Cohens und Paul Natorps, - und zwar nicht im Einklang mit der Auffassung vom Immanuel Kant, der als einen Grundstein seiner transzendentallogischen Methode das „Ding an sich" betrachtete 10 - die Bedeutung der Erkenntnistheorie (Noetik) und der Methodologie bis zum äußersten hervorgehoben: Das allerwichtigste war das ewige Schleifen des Messers (die noetisch-methodologischen Betrachtungen), und das eigentliche Schneiden des Brotes (das Erfassen des „Objekts", das man erkennen will) war nur etwas sekundäres. Die Erkenntnistheorie wurde die Grundwissenschaft überhaupt. Das „Objekt", die Wirklichkeit, der Stoff, das Material - das alles begann zu verschwinden. Das kann man in der allgemeinen Philosophie - und besonders in der Philosophie des Rechts, bzw. in der Theorie des Rechts beobachten. Die am meisten verbreitete rechtstheoretische Schule, die Schule der reinen Rechtslehre (Hans Kelsen, Franz Weyr) erschöpft sich im wesentlichen in der Behandlung der noetischen und methodologischen Problematik. Das „Objekt", der „Gegenstand", d.h. das Recht (sc. sein Inhalt und seine Interpretation) sind ihr fast fremd.

8 Dazu Nicolai Hartmann, Neue Wege der Ontologie, Systematische Philosophie, Hrsg. Nicolai Hartmann, S. 204. 9 Karel EngliS, Velkâ logika, D i l druhy, Öls. 11 (Große Logik, Zweiter Teil, Nr. 11); vgl. Vladimir Kubeè, Prâvnl filosofie X X . stoletl (Die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts), S. 134 - 136. 10 Nicolai Hartmann, Wie ist die kritische Ontologie überhaupt möglich?

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2. Teil: Der Begriff der kritischen Ontologie

Erst im fortschreitenden zwanzigsten Jahrhundert beginnt man wieder „zum Objekt zurückzukehren". 11 Die „erste Philosophie" der antiken und mittelalterlichen Tradition beginnt wieder lebendig zu werden. In diesem Zusammenhang ist nicht uninteressant, was Nicolai Hartmann im Vorwort zu seiner Schrift „Zur Grundlegung der Ontologie" 12 sagt, wenn er von der Bezeichnung seiner neuen Lehre als Ontologie spricht: „Ich hätte den von Aristoteles geprägten Namen ,philosophia prima' vorgezogen, wenn die Aussicht bestünde, ihn wieder einzubürgen. Die Aussicht schien mir nicht zu bestehen". § 4. Einige Hauptmerkmale der kritischen Ontologie I. Die neue, moderne kritische Ontologie stützt sich auf eine empfindsame, sehr sorgfältige und gründliche Untersuchung aller Schichten der realen Welt (des anorganischen, organischen, seelischen und geistigen Seins), geht von der Gesamterfahrung aus und mit einem Rückschluß aus der Erfahrung kommt sie zu den Grundlagen. Sie ist sich voll bewußt, daß das Erkenntnisproblem ohne vorhergehende ontologische Untersuchung unlösbar ist. Sie akzeptiert - in Anknüpfung an die eleatische Schule (Parmenides - etwa 515 vuZ. geboren), daß „man nur das Sein und keineswegs Nichts erkennen kann". Die neue philosophische Wissenschaft vom Seienden (die kritische Ontologie) unterscheidet sich von allen Ontologien der alten metaphysischen Systeme vor allem dadurch, daß sie als Grundlage und Ausgangspunkt kein absolutes Sein in der Sphäre eines überzeitlichen Ideenzusammenhanges vor Augen hat, sondern das, was in der Welt der Erfahrung gegeben und erkannt ist. 1 Das Verfahren der kritischen Ontologie setzt die ganze Breite der Erfahrung, und zwar sowohl der Erfahrung des praktischen Lebens, als auch der wissenschaftlichen Erfahrung voraus. Das Verfahren der neuen Ontologie setzt auch die philosophische Erfahrung voraus, nämlich die, welche sich im geschichtlichen Verlauf der menschlichen Gedankenarbeit als eine lange Reihe von Versuchen, Irrtümern und Korrekturen darstellt. Die Summe dieser Gesamterfahrung bildet die Aussagenebene des Gegebenen. In dieser Richtung distanziert sich die neue Ontologie sowohl von dem Irrtum des Neokantismus, der nur von den „Errungenschaften der Wissenschaft" ausging, als auch von dem Irrtum der Phänomenologie, welche im Gegenteil diese Errungenschaften überhaupt ausschließen wollte und zu ihrem ein11 Wilhelm Windelband - Heinz Heimsoeth, 1. c. S. 583; Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, S. 2. 12 Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 2. Aufl. 1948, S. V. 1 Vgl. Wilhelm Windelband - Heinz Heimsoeth, I.e. S. 591.

§ 4. Einige Hauptmerkmale der kritischen Ontologie

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zigem Ausgangspunkt das naive Wissen über die Welt nahm. Im Sinne der neuen kritischen Ontologie umfaßt die gegebene Erfahrung, von der w i r ausgehen müssen, sowohl das naive Wissen von der Welt, als auch alle Errungenschaften der Wissenschaft und auch - wie schon gesagt - die philosophische Erfahrung. 2 In der neuen Ontologie handelt es sich um fundamentale Aussagen über das Sein als solches.3 Solche Aussagen sind nichts anderes als die Kategorien des Seins; sie teilen mit den kantischen Kategorien welche inhaltlich gesehen auch nichts anderes als fundamentale Aussagen über das Seiende sind - den Charakter der allgemeinen konstitutiven Prinzipien, unter denen auch alle spezielleren Aussagen über das Sein stehen. Der Weg der neuen, kritischen Ontologie stellt sich also als eine kategoriale Analyse, als ein besonderes Verfahren, das sich weder in der Induktion, noch in der Deduktion erschöpft und bei dem es sich weder um eine rein aposteriorische, noch um eine rein apriorische Erkenntnis handelt. 4 II. In der neuen, kritischen Ontologie haben w i r nichts mit irgendeiner spekulativen Metaphysik zu tun. In dieser Richtung ist also das Feld der Wirksamkeit der neuen Ontologie „verengt". Diese „Verengung" aber ist nur scheinbar. Das Gegenteil ist vielmehr die Wahrheit. 5 Die alte Ontologie wurde im wesentlichen nur auf das Sein der Dinge und noch auf das Sein des Organismus orientiert; das Seelische hat sie organologisch begriffen und den Geist in das Reich der Wesenheiten eingereiht. In der realen Welt hatte der Geist in der Auffassung der alten Ontologie keinen Platz; diese alte Lehre war der Meinung, daß der Geist ein zeitloses Sein führe und ohne Änderungen und ohne Individualität sei. Im Gegenteil dazu demonstriert und beweist die neue Ontologie, daß das geistige Sein ein reales Sein ist, und daß die Realität keineswegs mit der Materialität identisch ist; sie beweist, daß die wirklichen Merkmale der Realität keineswegs an die Kategorien des Raumes und der Materie gebunden sind, sondern an die Kategorien der Zeit und der Individualität. Die neue Ontologie zeigt, daß der Raum und die Zeit ontologisch nicht gleichwertig sind, sondern daß die Zeit eine fundamentalere Kategorie als der Raum ist. Nur Dinge und Organismen, einschließlich der zuständigen Prozesse, sind räumlich; die seelischen und geistigen Prozesse befinden sich i n der Zeit, und sind daher real. Nur ein Teil des Realen ist räumlich; alles Reale unterliegt jedoch der Kategorie der Zeit. 2 Nicolai Hartmann, Neue Wege der Ontologie, S. 208f.; Vladimir Kübel·, Rechtsontologie und ihre Beziehung zur Struktur des Rechts, Forschungen aus Staat und Recht, Bd. 36: Rechtsphilosophie und Gesetzgebung, S. 45f. 3 Nicolai Hartmann, Neue Wege der Ontologie, S. 208; Wilhelm Windelband Heinz Heimsoeth, I.e. S. 591. 4 Nicolai Hartmann, I.e. S. 214f. 5 Zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e. S. 217 - 218.

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2. Teil: Der Begriff der kritischen Ontologie

Mit der Zeitlichkeit hängt untrennbar die Individualität zusammen. Sie ruht in nichts anderem als in der „Einmaligkeit und Einzigkeit", wie Nicolai Hartmann feststellt. 6 Alles Reale, alles Zeitliche und Individuelle vergeht, unterliegt der Kategorie der Zeit. In der Zeit befindet sich nämlich alles, was real ist; im Raum befindet sich nur ein Teil des Realen, nur niedrigere Gebilde der realen Welt. In diesem Zusammenhang ist es nicht uninteressant, daß die Einreihung des Geistes in das Reich der Idealität auch zu den Irrtümern der Schule der Reinen Rechtslehre gehört und offenbar ein Überrest der alten Ontologie ist. Es genügt, die Ausführungen des großen Kenners der Schule der Reinen Rechtslehre W. Ebenstein anzuführen: 7 „Sich an Herbarts Metaphysik anlehnend geht Kelsen bei der Aufnahme des kantischen fundamentalen Dualismus weiter. Für ihn werden Sein und Sollen zu einem formal-logisch unlösbaren Antagonismus, der eine unverrückbare Einteilung der Wissenschaften zur Folge hat. Je nachdem das Ziel· der Betrachtung das Sein tatsächlich Geschehens, d.h. eine Realität, oder ein sittliches, rechtliches, ästhetisches oder sonstiges Sollen, d. h. eine Idealität ist, scheiden sich die Sphären unserer Erkenntnis in zwei grundlegend verschiedene Gruppen, teilt sich die Welt in zwei Reiche, die kein Weg miteinander verbindet, scheiden sich die Wissenschaften in Kausalwissenschaften auf der einen und Normwissenschaften auf der anderen Seite. Außerordentlich wichtig für das Verständnis Kelsens ist es, daß für ihn der Gegensatz von Sein und Sollen übereinstimmt mit dem von Wirklichkeit und Wert, Natur und Geist oder Natur und Zweck (Zweck ist hier in einem streng objektiven Sinn genommen). Das kausal geordnete Sein ist eins mit der Wirklichkeit oder der Natur im weitesten Sinne, genau so wie Geist, Wert und Zweck eins sind mit dem Sollen. Ist das Kausal- oder Naturgesetz ein Ausdruck für das Sein, die Wirklichkeit, die Natur, so ist die Norm ein Ausdruck für Sollen, Wert, Geist". III. Wie kann man aber diese „Zuneigung zum Objekt" mit unserem noetischen Ausgangspunkt, der sich vor allem auf die kantische Lehre von der Spontaneität der Vernunft stützt, in Einklang bringen? Steht nicht die ontologische „Zuneigung zum Objekt" im Widerspruch zu der Spontaneität der Vernunft? Die Antwort lautet: Keineswegs. Auf solche Weise könnten nur die Denker argumentieren, die sich von Kant abgewandt hatten, und das kantische „Ding an sich" vollkommen eliminierten und nicht einsehen wollten, daß die transzendentale Philosophie Kants auf zwei Grundsteinen aufgebaut ist, und zwar auf dem „Ding an sich" und der „Spontaneität der Vernunft". In einer Verbindung des „Dings an sich" mit der „Spontaneität der 6

Nicolai Hartmann, I.e. S. 218 - 219. W. Ebenstein, Die rechtsphilosophische Schule der reinen Rechtslehre, 1938, S. 17 f. 7

§ 4. Einige Hauptmerkmale der kritischen Ontologie

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Vernunft" liegt der richtige Kern der Erkenntnistheorie Immanuel Kants. 8 Das haben sich besonders die Marburger Neokantianer und mit ihnen - auf dem Gebiet der Rechtstheorie - die Anhänger der Reinen Rechtslehre nicht vergegenwärtigt. Und doch ist in der scharfen Akzentierung des „Dings an sich" schon das Erfordernis einer sorgfältigen Berücksichtigung des „Objekts", des Materials, aller Schichten des realen Seins enthalten, das Erfordernis einer differenzierten Bedachtnahme auf die „Wirklichkeit", die Erkenntnis des intentionalen Charakters unseres Denkens und die Voraussetzung, daß das „Erfassen" eines „Objekts" nur unter der Voraussetzung möglich ist, daß das Ding gegeben ist. Bei kritischer Betrachtung ist es klar, daß die noetischen und die ontologischen Ausführungen nicht nur in keinem Widerspruch zueinander stehen, sondern im Gegenteil: es handelt sich um dieselbe, nur von verschiedenen Seiten zu beobachtete „Sache", obgleich die Noetik eine Wissenschaft von den materiellen Bedingungen unseres Erkennens und die Ontologie eine Wissenschaft vom Seienden, von seiner Struktur und seinen Kategorien ist. Es ist sinnlos, an der Realität der Welt zu zweifeln. Die Welt muß allerdings erkannt werden. Die Noetik (Erkenntnislehre) und die Ontologie haben eine gemeinsame Aufgabe: sie sollen den Aufbau der realen Welt mit allen seinen Seinsschichten erkennen, mag auch eine absolute Erfüllung dieser Aufgabe im Unendlichen liegen. Der relative Unterschied zwischen der Noetik und der Ontologie besteht in der Richtung des Interesses. Die Noetik ist gerade deshalb, weil sie die Bedingungen unserer Erkenntnis untersucht, auf jenes „Schleifen des Messers" orientiert und vergißt oft auf das Schneiden selbst. Die Ontologie ist wieder auf das „Erfassen" der Realität in ihrer Konkretheit orientiert und w i l l manchmal nur „schneiden" und vergißt, daß man mit einem stumpfen Messer nicht gut schneidet. Deswegen führt uns nur die Verbindung der Noetik und der Ontologie zum besseren Erkennen des Seins und seiner Schichten, vor allem auch der geistigen Schicht, wohin vor allem das Recht gehört. IV. Das Gesamtphänomen der Welt zeigt unzweifelhaft einen Schichtungscharakter. Das bedeutet, daß es nicht ausreicht, nur von einer einzigen Seinsschicht auszugehen. Man muß vielmehr den grandiosen Aufbau aller einzelnen Schichten der realen Welt beachten. In der Schichtung liegt die Eigenart (Haupteigenart) der Struktur der realen Welt. In der Tatsache, daß die Welt geschichtet ist, ist die gesetzliche Ordnung der Welt ausgedrückt. 9 Trotzdem wollte man das Gesamtphänomen der Schichtung der realen Welt nicht sehen und strebte danach, die Welt aus einem einzigen Zentralprinzip zu erklären. Manchmal war es die Erklärung, die ein einheitliches 8 9

Vladimir Kübel·, Grundfragen der Philosophie des Rechts, 1977, S. 27f. Nicolai Hartmann, Neue Wege der Ontologie, S. 246.

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2. Teil: Der Begriff der kritischen Ontologie

Bild der gesamten Welt geben sollte, von unten in der Richtung nach oben und versuchte mit den Kategorien der niederen Schicht die höheren Schichten des Seins zu begreifen, ein andermal von oben in der Richtung nach unten, d. h. die Kategorien der höheren Schichten des Seins wurden auf die niederen Schichten angewandt. Die alten Pythagoräer, die von den einfachsten Beobachtungen der Akustik (Verhältnis von Saitenlänge und Tonhöhe) und der Berechenbarkeit gewisser Bewegungen am Himmel ausgingen, kamen zu dem berühmten Satz, die Zahl sei das Prinzip der Dinge. Aber der kaum geborene Gedanke blieb dabei nicht stehen, er griff sofort über auf „alles Seiende", d.h. auf die ganze reale Welt: alles sollte in Zahlverhältnissen bestehen, auch das menschlich-seelische Sein, einschließlich der Tugend und der Gesetze des Staates. Aus der Entdeckung der mathematischen Kategorien im Kosmos wurde ohne weiteres ein universaler Mathematismus. 10 Nicolai Hartmann argumentiert weiter 1 1 , daß diese ungeheuerliche Grenzüberschreitung auch an den Naturtheorien haften blieb, die in der Neuzeit das mathematisch fundierte Weltbild zur Durchführung brachten. Und wenn ein heutiger Positivismus definiert „wirklich ist, was meßbar ist", so liegt dem Anspruch nach darin noch immer dieselbe Maßlosigkeit der Verallgemeinerung. In diesem Zusammenhang darf man auf die ganze philosophische Konzeption der sog. Uppsala Schule (Axel Hägerström, Lundstedt, Olivecrona, Alf Ross) aufmerksam machen. 12 Nicolai Hartmann beweist 13 , daß schon das Naturgeschehen und die materielle Dinglichkeit selbst weit davon entfernt sind, in Größenverhältnissen allein aufzugehen. In den Qualitäten, Abhängigkeiten und Gesetzlichkeiten, selbst soweit sie wirklich mathematisch aufgebaut sind, stecken doch stets neue Faktoren. Sie lassen sich nicht rein in Zahlen und Formeln auflösen. „Das ,rein mathematische' Verhältnis als solches ist ein leerlaufendes Verhältnis und steht windschief zur realen Welt". Um so weniger kann dieses „mathematische Begreifen" der realen Welt der Welt des Lebendigen gerecht sein. „Hier sinkt das Quantitative zu einem ganz untergeordneten, nur noch die Aufbauelemente mitbestimmenden Moment herab. Es verschwindet nicht ganz, aber das Eigentümliche des organischen Lebens, sein Novum dem Leblosen gegenüber, bleibt von ihm unberührt. Es hat andere, eigene Kategorien". Und je weiter man hinaufsteigt in die Regionen des seelischen und des geistigen Seins, um so mehr verschwindet der Einschlag des Quantitativen, und 10

Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, 1940, S. 87. Nicolai Hartmann, I.e. S. 87ff. 12 Z.B. W. A. Lundstedt, Die Unwissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft, 2 Bde., 1932 und 1936. 13 Nicolai Hartmann, I.e. S. 87 - 88. 11

§ 5. Erklärung niederer Seinsschichten durch höhere Seinsschichten

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um so auffallender w i r d das Mißverhältnis, das die Verallgemeinerung der mathematischen Prinzipien heraufbeschwört. „Der Anspruch, ein Concretum von der Seinshöhe geistigen Lebens mit so inhaltsarmen Kategorien zu bewältigen, sinkt zur Lächerlichkeit herab." 1 4 In der Philosophie begegnet man noch zwei anderen typischen Grenzübertretungen, zwei Grundversuchen, die Realität der ganzen Welt von einem einzigen zentralen Prinzip aus zu begreifen: einmal ist es der Geist, zum anderenmal die Materie. Im ersten Fall geht es um den sog. Idealismus (Spiritualismus), besonders der hegelschen Prägung, im zweiten Fall um den sog. Materialismus. § 5. Theorien, die niedere Seinsschichten durch Kategorien der höheren Seinsschichten oder der Idealität erklären I. Die hegelsche Auffassung der Geschichte, der Idealismus, Personalismus, Pantheismus, die Lehre von den Monaden und der Teleologismus sind Theorien, welche die niederen Seinsschichten mit Hilfe der Kategorien der höheren Seinsschichten erklären. So geht bei Hegel die Vernunftsmetaphysik des Idealismus in eine Metaphysik des Geistes über. 1 Träger des Geschichtsprozesses ist der „objektive Geist", ein Wesen höherer Ordnung über dem Einzelmenschen, eine allgemeine Geist-Substanz mit eigener Seinsweise und eigenem Leben. Die individuellen Geister verhalten sich zu ihm wie Akzidentien; nicht sie, sondern er in ihnen ist das Eigentliche, um das allein es geht. Die Individuen sind nur unvollständige Ausprägungen seines Wesens. Sie bestehen nie außerhalb seiner, sind ganz getragen von ihm. Sie können sich wohl verblendet von ihm „abscheiden", aber der „abgeschiedene Geist" ist totgeweiht. Hinter dieser Lehre steht die allgemeine Grundthese: der Geist ist alles. Er ist nach Hegel auch die Wahrheit des Geistlosen, des Materiellen, des Lebendigen - nur eben nicht in seiner eigentümlichen Gestalt. 2 Die Begriffe, in welche der Geist seinen eigenen Inhalt zerlegt, sind Kategorien der Wirklichkeit, und Aufgabe der Philosophie ist es, sie zu begreifen und als Momente einer einheitlichen Entwicklung zu erkennen, und zwar im dialektischen Dreitakt (These, Antithese, Synthese; positio, negatio, negatio 14

Nicolai Hartmann, I.e. S. 88. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, 1807; Wissenschaft der Logik, 1812ff.; Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 1817; Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821; zum folgenden Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 3. Aufl., S. 6 - 8; Wilhelm Windelband - Heinz Heimsoeth, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, 1935, S.515-519; Heinrich Cunow, Die Marxistische Geschichts-, Gesellschafts- und Staatstheorie, Grundzüge der Marxschen Soziologie, Bd. I, S. 224 - 244. 2 Nicolai Hartmann, I.e. S. 7. 1

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2. Teil: Der Begriff der kritischen Ontologie

negationis - duplex negatio affirmat), welcher das, was „aufgehoben" (= das Ergebnis der zweifachen negatio) wird, nicht vernichtet, sondern etwas neues schafft, etwas, was sich auf einer höheren Stufe befindet. „So ist das Aufgehobene ein zugleich Aufbewahrtes, das nur seine Unmittelbarkeit verloren hat, aber darum nicht vernichtet ist." 3 II. Die allgemeine Geist-Substanz ist nicht nur Träger, sondern auch Leiter des Weltprozesses. 4 Weltregierung ist die Vernunft. Der Plan des Geschichtsablaufes ist das Zusichkommen der Vernunft. „Der einzige Gedanke, den die Philosophie mitbringt, ist ... der einfache Gedanke der Vernunft, daß die Vernunft die Welt beherrsche, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei." 5 III. Für Hegel ist die Entwicklung kein Prozeß, in dem gewisse feste, stabile Gebilde auftreten würden, sondern es geht um unaufhörlich wechselnde Komplexe von Prozessen. Gewicht wird nicht auf das Ergebnis, sondern auf den Prozeß des Werdens selbst und auf dessen Erkenntnis gelegt. Der Prozeß selbst ist das Wesentliche der Geschichte. Er ist in das Resultat nur aufgehoben. Im Ganzen gesehen müssen Prozeß und Resultat inhaltlich zusammenfallen. „Im so verstandenen Prozeß geht zwar ein einheitlicher ,Weltgeist' durch die Vielheit der geschichtlichen Gestalten. Aber da er sich in diesen entfalten muß, so zerfällt er in die Vielheit der ,Volksgeister'. Und damit treibt er verschiedene ,Prinzipien' oder Grundideen geschichtlichen Geistes hervor. Die einzelnen Volksgeister haben jeder sein eigenes ,Prinzip', das zu realisieren ihre Aufgabe in der Welt ist." 6 Wie andere Theoretiker der Geschichte, besonders Herder, vertritt auch Hegel die Ansicht, daß jedes Volk trotz aller Zusammenhänge mit anderen Völkern sein eigenes Geistesleben lebt; bei Hegel ist allerdings der Volksgeist eine besondere Manifestation des Weltgeistes. Dem entspricht die Periodizität in der Entwicklung eines Volksgeistes in Jugend, Höhe und Alter. Die Jugend eines Volkes, die Zeit harten Emporringens, ist nach Hegel das glückhafte Zeitalter in seiner Geschichte. Hier ist das Individuum noch ganz geborgen im halbunbewußten Gemeingeiste. Je mehr es dem der Reife und dem Alter zugeht, um so mehr tritt das Individuum hervor, fühlt sich als selbständiges, scheidet sich damit ab vom Ganzen. Das ist der Anfang der Auflösung. Die Mittel der Selbstverwirklichung des Geistes sind die privaten Leidenschaften der Individuen, welche nur „Werkzeuge und Mittel des Weltgeistes seinen Zweck zu vollbringen", sind. 7 3 Hegel, I.e. S. 104. Zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e. S. 7. 5 Hegel, Philosophie der Geschichte, Ausg. Reclam, S. 42. 6 Hegel, Philosophie der Geschichte, S. 93f.; Nicolai Hartmann, I.e. S. 8 - 9.

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§ 5. Erklärung niederer Seinsschichten durch höhere S e i n s s c h i c h t e n 2 9

„Die Vernunft bedient sich ihrer, sie überlistet in ihnen den Menschen von innen heraus; sie macht es, daß er im Verfolgen der persönlichen Zwecke jederzeit zugleich ein anderes betreibt und verwirklichen hilft, die Realisation des gemeinsamen Prinzips. Das ist die ,List der Vernunft' in der Geschichte. Der Mensch dient dem Prinzip, ohne es zu wissen. Seine Moralität aber ist es, eben dieses auch wissend und aus freier Selbstbestimmung um des Prinzips willen zu tun." 8 Und weiters: 9 „ I m allgemeinen weiß weder der Einzelne noch die Menge, was das eigentliche ,Gewollte' in ihrem Wollen und Streben ist. Alles Große aber in der Geschichte geschieht dort, wo es ins Bewußtsein rückt und mit freiem Einsatz der Person verfolgt wird. Darum ist es wichtig, daß der Menge gesagt werde, was sie eigentlich und in Wirklichkeit ,will·. Das ist die Aufgabe und das Tun des geschichtlich großen Individuums. Die großen Männer der Geschichte sind nicht die, welche mit eigenen Ideen vor die Menge treten und sie etwa mitreißen zu dem, was sie nicht ,will'; sondern diejenigen, die der Menge zu sagen wissen, was sie ,in Wirklichkeit will'." IV. In der ganzen Hegeischen Lehre geht es evident um eine absolute Grenzüberschreitung „nach unten". Die höchsten Kategorien sollen für alle Schichten des realen Seins dominant werden. Aber nicht nur diese Hegeische Auffassung und Erklärung der ganzen Welt, sondern überhaupt jeder Idealismus, insofern er aus Kategorien des Subjekts, der Vernunft, des Geistes, des Bewußtseins die Struktur und die Seinsweise aller „Gegenstände", also der ganzen Welt verstanden wissen will, bedeutet die Vergewaltigung jener Seinsschichten, die auf einer niedrigeren Seinsstufe stehen. 10 Ähnliches gilt vom Personalismus, der alle Sachgebiete nach Analogie personaler Wesen zu verstehen sucht, oder vom Pantheismus, der die Gebilde der Natur bis zu den niedersten herab als Modifikationen eines göttlichen Urwesens sieht und damit die Kategorien dieses Urwesens (meist als allumfassende Vernunft verstanden) auf sie überträgt, oder von der Monadenlehre, wo wieder alle Substanzen, auch die Elemente der Materie, nach Art des seelischen Seins begriffen sind. Hier überall werden die Kategorien der höheren Schicht, der höheren Stufe des stufenförmigen Aufbaues der realen Welt, oder der idealen Welt überhaupt, in unrichtiger Weise auf die niederen Schichten des Seins angewendet. 7

Hegel, I.e. S. 61; Nicolai Hartmann, I.e. S. 8. Nicolai Hartmann, I.e. S. 8. 9 Nicolai Hartmann, I.e. S. 8 - 9. 10 Zum folgenden Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, 1940, S. 89 - 90. 8

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2. Teil: Der Begriff der kritischen Ontologie

Das ist die eine von den zwei möglichen Varianten der Grenzüberschreitung, einer der zwei Typen desselben Grundfehlers. Die zweite Variante, der zweite Typus desselben Fehlers, bilden die Lehren, welche im Gegenteil mit Hilfe der Kategorien der niederen Seinsschichten auch die höheren Seinsschichten erklären wollen; hier handelt es sich um eine Grenzüberschreitung von anderer Seite, um eine Überschreitung „nach oben". § 6. Theorien, die höhere Seinsschichten durch Kategorien der niederen Seinsschichten erklären I. Während die hegelsche Auffassung der Welt und ihrer Geschichte eine typische Grenzüberschreitung „nach unten" darstellt, ist die materialistische Weltanschauung ein typischer Repräsentant der Grenzüberschreitung „nach oben". 1 Das gilt für alle Richtungen des Materialismus ohne Unterschied, ob es sich um den Materialismus des Begründers der Atomistik Demokritos von Abdera (etwa 460 - 360), oder um den Materialismus der Stoiker, um den anthropologischen Materialismus der Aufklärung, um den problematischen Materialismus von Voltaire (1694 - 1778), den assertorischen Materialismus von Lammetrie (1709 - 1751) oder besonders um verschiedene Materialismen des 19. und 20. Jahrhunderts (siehe besonders den dialektischen und historischen Materialismus von Marx, Engels und Lenin, aber auch der ganzen Uppsala Schule) handelt. Methodik und Voraussetzungen der Naturwissenschaft des Anorganischen, speziell der Physik des 19. Jahrhunderts, werden hier auf die ganze Wirklichkeit, auf alle Schichten der realen Welt übertragen. Die für die anorganische Seinsschicht dominanten Kategorien gelten also ebenfalls für das organische, seelische, je auch für das geistige Sein. Alles Seiende ist, wenn nicht dem Stoff, so doch jedenfalls der Struktur nach, schlechthin homogen, wenn auch der dialektische und historische Materialismus sich der Eigenart höherer Schichten bewußt ist. Grundsätzlich können die Wesensverschiedenheiten im Erfahrungs- und Wirklichkeitszusammenhang nicht geduldet werden. Begreifen heißt kausal erklären. Der kausale Determinismus gilt für alle Seinsweisen, also auch für das organische, seelische und geistige Sein. Der kausale Determinismus ist eine wesensnotwendige Voraussetzung auch dann, wenn es sich um die Erkenntnis des Menschen, der Geschichte und des Rechts handelt. Die Freiheit des Willens ist nur die Erfindung einiger Metaphysiker und Theologen. Wissenschaftliche Erkenntnisse des Menschen und seiner Ordnungen (auch der Rechtsordnung) sind, sei es auf dem Wege der Psychologie oder der Soziologie oder sonstwie, Tatsachenerschließung durch Aufdeckung kausaler Relationen. Auch die Werte, Sinn oder Soll des Lebens und die Kulturge1 Zum folgenden Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 9 - 10; Wilhelm Windelband - Heinz Heimsoeth, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, Ausg. 1935, S. 572 f.

§ . Erklärung

erer Seinsschichten durch

staltungen behandelnden D i s z i p l i n e n s i n d z u

e e

Seinsschichten

31

Tatsachenwissenschaften

dieser A r t u m z u b i l d e n . Sonst h a b e n sie k e i n e n Platz i m Reiche der Wissenschaften. M i t Bezug auf das Recht

k a n n m a n dies b e i der philosophischen u n d

rechtsphilosophischen Uppsala 3

Schule ( A x e l H ä g e r s t r ö m 2 , Anders W i l h e l m

L u n d s t e d t , A l f Ross , Olivecrona 5 ) k l a r beobachten. Besonders u n d Lundstedt

4

Hägerström

erkennen als K a t e g o r i e n n u r den Raum, die Z e i t u n d die

K a u s a l i t ä t ; die Wissenschaft k a n n n u r m i t diesen K a t e g o r i e n arbeiten. Schon v o n diesem g r u n d s ä t z l i c h e n S t a n d p u n k t aus ist es k l a r , w i e es m i t den Rechtswissenschaften u n d besonders auch m i t der Rechtsphilosophie steht. D i e Unterschiede zwischen der höheren Seinsschicht u n d der niederen Seinsschicht, z.B. zwischen d e m geistigen u n d seelischen Sein oder z w i schen d e m seelischen u n d organischen Sein, oder zwischen d e m organischen u n d anorganischen (physisch-materiellen) Sein, s i n d n u r q u a n t i t a t i v e , k e i nesfalls q u a l i t a t i v e Unterschiede. D e r Geist ist die N a t u r . D i e N a t u r , die W i r k l i c h k e i t u n d die W e l t der E r f a h r u n g s i n d ein u n d dasselbe. Das g i l t m i t gewissen A b w e i c h u n g e n v o n a l l e n A r t e n des Materialismus. I I . E i n e wissenschaftlich f u n d i e r t e materialistische W e l t a n s c h a u u n g u n d Auffassung i h r e r Geschichte w u r d e v o n Karl Marx (1818 - 1883) 6 u n d Fried-

2 Axel Hägerströms Schriften: Der Staat und das Recht, Eine rechtsphilosophische Untersuchung (schwedisch), 1904; Kritische Punkte der Psychologie von Werten (schwedisch), 1910; Über die Wahrheit von moralischen Vorstellungen (schwedisch), 1911; Ist das geltende Recht ein Willensausdruck?, in: Festschrift für Vitalist Normström (schwedisch), 1916; Zur Frage des Begriffs des objektiven Rechts, I. (schwedisch), 1917; Das Naturrecht in der Strafrechtswissenschaft, in: Schwedische Juristische Zeitschrift (schwedisch), 1920; Der römische Obligationsbegriff i m Lichte der allgemeinen römischen Rechtsanschauung, 1927; Eine Kelsen Kritik, in: Litteris, 1928: Das magistratische ius in seinem Zusammenhang mit dem römischen Sakralrechte, 1929; Zur Frage des Begriffs des geltenden Rechts, in: Zeitschrift für Rechtswissenschaft (schwedisch), 1931; Kants Ethik i m Verhältnis zu seinem erkenntnistheoretischen Grundgedanken systematisch dargestellt, 1902; Das Prinzip der Wissenschaft, Eine logisch-erkenntnistheoretische Untersuchung, I, Die Realität, 1908; Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, 1929. 3 Anders Wilhelm Lundstedts Schriften: Gesellschaft und Rechtsordnung (schwedisch), 1921; Die Unwissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft, 2. Bd., 1932f.; Superstition or rationality i n action for peace? Arguments against founding a world peace on the common sense of justice, 1925; Legal Thinking Revised, My Views on Law, 1956. 4 Alf Ross' Schriften: Theorie der Rechtsquellen, 1929; K r i t i k der sogenannten praktischen Erkenntnis, Zugleich Prolegomena zu einer K r i t i k der Rechtswissenschaft, 1933; Towards a realistic jurisprudence, A Criticism of the Dualism in Law, 1946. 5 Olivecrona: Law as Fact, 2. Aufl. 1947, deutsch 1940. 6 Karl Marx ' Schriften: Das Kapital, 3 Bde., 1867ff.; Das Elend der Philosophie, 1947; Zur K r i t i k der politischen Ökonomie, 1859; Grundrisse der K r i t i k der politischen Ökonomie, 2 Bde, 1939, 1941, jetzt Berlini 1953; gemeinsam mit Engels, Das kommunistische Manifest, 1847; K r i t i k des Gothaier Programms, jetzt Berlin, 1955; Die heilige Familie und andere philosophische Frühschriften, jetzt Berlin, 1953; Die

32

2. Teil: Der Begriff der kritischen Ontologie

neh Engels (1820 - 1895) 7 ausgearbeitet. D i e philosophische G r u n d l a g e u n d die G r u n d s t r u k t u r der m a r x i s t i s c h e n W e l t a n s c h a u u n g s i n d der

dialektische

M a t e r i a l i s m u s u n d i n seiner A n w e n d u n g auf die gesellschaftlichen V e r h ä l t nisse der historische Der dialektische

Materialismus. Materialismus

ist die dialektische M e t h o d e v o n Heraklit

u n d Hegel, die auf den Materialismus

v o n Ludwig

Feuerbach

(1804 - 1872) 8

angewendet w u r d e . D e r dialektische

Materialismus

1. Das P r i m ä r e ist die Materie

bedeutet: u n d das Sekundäre der Geist, das B e w u ß t -

sein. „ E s ist n i c h t das Bewußtsein der Menschen, das i h r Sein, sondern u m g e k e h r t i h r gesellschaftliches Sein, das i h r Bewußtsein b e s t i m m t " . 9 2. A l l e s Geschehen i n der W e l t u n d i n der Gesellschaft erfolgt n a c h d e m bekannten Heraklit-hegelschen dialektischen Dreitakt

(These - A n t i -

these - Synthese usw.) u n d alles h ä n g t m i t a l l e m zusammen. Marx

selbst

b e t o n t f r e i l i c h v i e l m e h r den U n t e r s c h i e d zwischen seiner u n d der hegelschen dialektischen M e t h o d e . 1 0 M a r x h a t i n w a h r h a f t genialer Weise alle revolutionären

Elemente,

welche

in

der

Dialektik

enthalten

sind,

e r k a n n t , h a t alles Metaphysisch-ideale w e g p r ä p a r i e r t u n d die so r a t i o n a lisierte dialektische M e t h o d e auf die Feuerbachsche

materialistische

G r u n d l a g e angewendet.

deutsche Ideologie, jetzt Berlin, 1953; vgl. T.G. Masaryk, Otâzka sociâlni (Die soziale Frage), Ausg. 1936; derselbe, Die philosophischen und soziologischen Grundlagen des Marxismus, 1899; Karl Vorländer, Kant und Marx: ein Beitrag zur Philosophie des Sozialismus, 1911, S. 59ff.; Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 8ff.; Vladimir Kübel·, Prâvni filosofie X X . stoleti (Die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts), 1947, S. 19f.; F.V. Konstantinov, Zâklady marxistické filosofie (Die Grundlagen der marxistischen Philosophie), 1960; Heinrich Cunow, Die Marasche Geschichts-, Gesellschafts- und Staatstheorie I, 1920; Georg Klaus - Manfred Buhr, Philosophisches Wörterbuch, 2. Bd., 6. Aufl. 1969, S. 678f., 684f. 7 Friedrich Engels' Schriften: Die Lage der arbeitenden Klassen in England, 1845; Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, 1884; Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (sog. Anti-Dühring), 1878; Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, 1888; vgl. Karl Renner, Die Rechtsinstitute des Privatrechts und ihre soziale Funktion, 1929; E. Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, 1927; Anatol Rappaport, Die marxistische Rechtsauffassung, 1927; Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl., S. 18ff.; Mayer, Rechtsphilosophie, S. 13f.; Hans Kelsen, Allgemeine Rechtslehre im Lichte materialistischer Geschichtsauffassung, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 66. Bd., S. 449ff.; derselbe, The Communist Theory of Law, 1955. 8 Ludwig Feuerbach's Werke: Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, 1830; Philosophie und Christentum, 1839; Wesen des Christentums, 1841; Wesen der Religion, 1845; Theogonie, 1857; Ges. Werke, 10 Bde. 1846ff.; Neue Ausgabe von Bollin und Jodl, Stuttgart, 1905 ff. 9 Marx im Jahre 1839 im ersten Teil seines Werkes „Zur K r i t i k der politischen Ökonomie", im Vorwort. 10 Im Nachwort zur 2. Ausg. seines „Kapitals" (dat. am. 24. Jänner 1873).

§ . Erklärung

erer Seinsschichten durch

e e

Seinsschichten33

III. Der historische Materialismus, diese Wissenschaft von den allgemeinsten Gesetzen der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft 11 , ist die Anwendung des dialektischen Materialismus auf gesellschaftliche Erscheinungen, Verhältnisse, Beziehungen. Der historische Materialismus untersucht, zum Unterschied von speziellen Gesellschaftswissenschaften, nicht einzelne Seiten der gesellschaftlichen Beziehungen oder Erscheinungen (ökonomische, politische, rechtliche, ideologische), sondern die Gesellschaft, ihre Entwicklung, das gesellschaftliche Leben im Ganzen, im gesamten inneren Zusammenhang und in der wechselseitigen Wirkung seiner Seiten, Beziehungen und Prozesse 12. Im Jahr 1859 erschien ein Vorläufer des „Kapitals", das erste Heft des Werkes „Zur K r i t i k der politischen Ökonomie", in dessen Vorwort 1 3 die klassische, bis jetzt noch nicht überwundene Formulierung des historischen Materialismus enthalten ist. Die Grundlage der ganzen menschlichen Tätigkeit und der ganzen Entwicklung der menschlichen Beziehungen ist ein ständiges Lebensbedürfnis. Für die Deckung dieses Bedürfnisses ist die Produktion der materiellen Güter, diese entscheidende Bedingung des menschlichen Lebens notwendig. Der Mensch muß erzeugen, muß „produzieren". Dazu braucht er Mittel und Kräfte, mit denen er arbeitet. Die Art des Werkzeuges, die ausgenützten Naturkräfte und eigene Arbeitskraft des Menschen, also die „Produktionskräfte" und ihr Wachstum sind entscheidend. Ihr Wachstum ist die Quelle von Änderungen im Leben der Gesellschaft 14 . Die ProduktionsraitteZ bestimmen die Produktionsformen. Ein einfaches Werkzeug kann jeder besitzen, Maschinen kann nur der Kapitalist besitzen. Das Aufkommen der Maschine als Produktionsmittel zwingt also dem, der mit ihr arbeitet, ein Dienstverhältnis auf, das sein Leben von Grund aus umgestaltet. Mit der Produktionsîorm ändert sich die Lebensform. Die Produktionsform läßt ganze Klassen entstehen, gibt ihnen das soziale Verhältnis zu anderen Klassen und läßt den „Klassenkampf ' entstehen. So greift sie in entscheidender Weise in das soziale, rechtliche, politische, geistige Leben ein. Die Gesellschaftsform ist also weiter bestimmend für die „Ideologie", welche nach der Lehre des Marxismus die Fülle des geistigen Lebens mit allen seinen speziellen Gebieten (dem Recht, der Moral, dem Bewußtsein, der Kunst, der Religion, der Weltanschauungen) umfaßt. 11 Konstantinov, Zâklady marxistické filosofie (Die Grundlagen der marxistischen Philosophie), 1960, I.e. S. 376. 12 Konstantinov, I.e. S. 378. 13 L.c.; K. Marx, Zur K r i t i k der politischen Ökonomie, S. 18; vgl. Karl Vorländer, Kant und Marx, Ein Beitrag zur Philosophie des Sozialismus, S. 59. 14 Zum folgenden Lenin, Schriften, 29 S. 359; Konstantinov, I.e. S. 384f.; Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 9f.; Klaus - Buhr, I.e. S. 686f.

3 KubeS

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2. Teil: Der Begriff der kritischen Ontologie

Nicht der Geist bestimmt also das geschichtliche Sein, sondern das geschichtlich gewordene Sein - und letzten Endes das ökonomische bestimmt den Geist. Und nicht der Geist lenkt die Geschichte, sondern er wird in ihr gelenkt durch die wirtschaftlichen Mächte 15 . Ebenso wie der Hegelianismus, so identifiziert auch der Marxismus das Sollen und das Sein, wobei allerdings im Marxismus das Sein und besonders das wirtschaftliche Sein eine dominante Stellung bekommt. Das Sollen (bzw. das Bewußtsein überhaupt) ist durch das Sein bestimmt 16 . Hegel hat die Materie „vergeistigt" allerdings mit seinem unhaltbaren Panlogismus, Marx hat wieder den Geist „materialisiert". Wie wir schon erwähnt haben, besteht das gesellschaftliche Leben im Sinne der materialistischen Geschichtsauffassung aus zwei Schichten: aus dem Grundbau, aus der „realen Grundlage", welche durch die „ökonomische Struktur der Gesellschaft" gebildet ist, und aus dem „Überbau", wohin das Recht, die Moral, die Religion, die Philosophie, die Politik, einfach die „Ideologie" im weiten Sinne des Marxismus gehört 17 . Die „reale Grundlage" ist der bestimmende Faktor. Die materialistische Geschichtsauffassung begreift das gesellschaftliche Leben nicht wie einen stabilen Bau, sondern als einen stetig sehr erregten Prozeß 18 . Bei der Charakteristik des historischen Materialismus vergleicht Mayer die ökonomischen Verhältnisse mit einem Vulkan, der aus sich das Recht, die Politik usw. wie Lavaströme herauswirft und mit einer mächtigen, revolutionären Tat das Antlitz der Erde ändert. Die Ideen sind nur „reflexive" Wirkungen der ökonomischen Phänomene. Der Geist, die Ideologie, wirkt allerdings auch auf die reale Grundlage zurück und erweist sich als ein geschichtlicher Faktor - ein sekundärer zwar - , aber einmal entstanden, nicht ohne beträchtliche Stoßkraft. Am Beginn und auch in der Mitte der Entwicklung des dialektischen und historischen Materialismus haben Marx und Engels die bestimmende Bedeutung der realen Grundlage zu sehr betont, und es schien, daß sie die Bedeutung des Überbaues unterschätzten. Aber schon damals war die Bedeutung des Überbaues klar, denn der Klassenkampf selbst wurde im Namen dieser spezifischen Ideologie geführt. Besonders Engels 19 am Ende seiner wissenschaftlichen Tätigkeit und dann die großen Nachfolger wie Lenin, Stalin, Chrustchow und Breschnew gingen 15

Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 1. Aufl., S. 11. Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl., S. 19. 17 Vladimir Kübel·, Prâvnl filosofie X X . stoletl (Die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts), 1947, S. 19f. 18 Dazu Mayer, Rechtsphilosophie, S. 13 f. 16

§ 6. Erklärung höherer Seinsschichten durch niedere Seinsschichten

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noch weiter, bis zu einer Art der Wechselwirkung der realen Grundlage (der ökonomischen Struktur der Gesellschaft) und des Überbaus (des Rechts usw.). Trotzdem aber gilt für alle Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung, daß letzten Endes der bestimmende Faktor die w i r t schaftlichen Mächte sind. IV. Gewiß kann man nicht bestreiten, daß hinter dem Materialismus eine i n sich vollkommen berechtigte Theorie des materiellen Seins steht. 20 Für diese Theorie des materiellen Seins sind solche Kategorien wie Materie, Bewegung, Kraft, Energie wirklich maßgebend. Ein „Materialismus" wird aus dieser Theorie des materiellen Seins erst durch die Grenzüberschreitung, d.h. dann, wenn man organisches und seelisches Leben, oder gar Phänomene des Denkens und Wollens mit Kategorien der untersten Schicht des stufenförmigen Aufbaus der realen Welt erklären und bewältigen w i l l . 2 1 Und das ist begreifbar und geradezu selbstverständlich. Die Phänomene der höheren Schichten der Welt, der organischen, seelischen, und besonders geistigen Schicht, ist es unmöglich mit Hilfe der Kategorien des materiellen Seins, welche in ihrer Struktur viel einfacher sind, zu begreifen. Einer ähnlichen unrichtigen Auffassung begegnet man in jeder Art von Biologismus - einerlei ob er mehr organologisch oder evolutionistisch gefärbt ist - , ja sogar im Psychologismus 22. Hier handelt es sich freilich um Kategorien einer höheren Seinsschicht und um ihre Anwendung auf eine noch höhere Schicht des Seins, für welche diese Kategorien nicht mehr adäquat sind. Kategorien des Organischen können die Bewußtseinsvorgänge ebenso wenig meistern, wie Kategorien des Seelischen das Ethos, das Denken, die Erkenntnisfunktion, oder gar soziale, rechtliche und geschichtliche Verhältnisse meistern können. Erst zu der Wende des 19. und 20. Jahrhunderts hat ein gründliches Studium den Fehler des Psychologismus wirklich aufzudecken vermocht. In dieser Hinsicht sind besonders die Arbeiten von Rickert und Brentanoschülern wertvoll. Jedenfalls handelt es sich um eine typische Grenzüberschreitung, die im Grunde genommen dieselbe ist, wie die des Materialismus und Biologismus. In allen diesen Fällen beruht die Insuffizienz der angewandten Kategorien, die für die „niedere" Seinsschicht adäquat sind, in dem Umstand, daß diese Kategorien ontisch niedrigerer und strukturell inferiorer Art und daher nicht imstande sind, die kompliziertere Problematik der höheren Schichten des realen Seins zu meistern. 19 Zeitschrift „Der sozialistische Akademiker" vom 1. Oktober 1695, S. 351; Mehring, in: Anmerkungen zu seiner „Geschichte der deutschen Sozialdemokratie", 1. Ausg., S. 556f.; vgl. Vorländer, Kant und Marx, Ein Beitrag zur Philosophie des Sozialismus, 1911, S. 73. 20 Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, S. 88 f. 21 Nicolai Hartmann, I.e. S. 88. 22 Zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e. S. 88f.

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2. Teil: Der Begriff der kritischen Ontologie

V. Wenn w i r uns z.B. der Problematik des organischen Seins zuwenden, so sehen w i r 2 3 , daß sich hier zwei gegensätzliche Theorien bekämpfen: der Mechanismus und der Vitalismus. Der Mechanismus operiert mit der der niedrigsten Seinsschicht adäquaten Kategorie, mit der Kausalität, und w i l l alles „von unten" erklären. Im Gegensatz dazu operiert der Vitalismus mit der der höchsten Seinsschicht adäquaten Kategorie, nämlich mit der Teleologie, und w i l l alles „von oben" begreifen. Die dritte Möglichkeit ist die, daß das organische Sein sein eigenes Prinzip hat, welches weder Kausalität noch Teleologie ist. Im wesentlichen gilt dasselbe auch für das anthropologische Problem 24 . Ähnlich wie die Einheit der Welt wurde auch die Einheit höherer Gebilde, komplexer Phänomene, wie es der Mensch oder der Staat sind, von einem Prinzip aus, monistisch, und zwar entweder „von oben", oder „von unten" erklärt. So hat man im Menschen entweder ein Wesen der Vernunft gesehen und das Ganze des menschlichen Wesens von der Position des Geistes (der Freiheit) zu begreifen versucht, oder hat man im Menschen ein Naturwesen gesehen und das Ganze des menschlichen Wesens von der Grundlage seiner Naturverankerung zu begreifen versucht. Beim Begreifen der Welt und auch solcher komplexer Gebilde, wie der Mensch oder der Staat sind, herrscht eine allgemeine Tendenz, sie einseitig, monistisch, entweder „von oben" oder „von unten", zu begreifen, und zwar mit Hilfe von Kategorien, die diesen Phänomenen nicht adäquat sind. Überall herrscht ein altes Vorurteil, daß die Erklärung „von einem einzigen Prinzip" heraus die beste ist, da die Einfachheit Zeichen der Wahrheit ist 2 5 . Und doch ist z.B. der Mensch ein komplexes, ein geschichtetes Gebilde. Der Bau des Menschen besteht aus mehreren Schichten: aus dem organischen, seelischen und geistigen Sein. Die Abhängigkeit des geistigen und seelischen Seins von der niederen Seinsschicht gefährdet weder das seelische noch das geistige Sein. Und zwar aus dem Grunde, daß hier neue, dem seelischen oder geistigen Sein eigene Kategorien erscheinen, welche die Selbständigkeit und Autonomie dieser Seinsschichten garantieren. Die Dependenz ist hier überhaupt nur ein Teilphänomen und das Hauptgewicht der höheren Schicht besteht - wie man noch sehen w i r d - im Gesetz des Novums und im Gesetz der Freiheit. Das Wesen des Menschen kann man nur erklären, wenn man ihn als ein Ganzes des geschichteten Gebildes betrachtet. Den Menschen zu begreifen bedeutet, auch die Welt, in der er lebt und 23

Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 1. Aufl., S. 12. Nicolai Hartmann, I.e. S. 12; derselbe, Neue Wege der Ontologie, in: Gesamte Philosophie, hrsg. Nicolai Hartmann, S. 287 - 293. 25 Zum folgenden Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 1. Aufl., S. 13; derselbe, Neue Wege der Ontologie, S. 274f. 24

§ 7. Der stufenförmige Aufbau der realen Welt nach Nicolai Hartmann

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deren Glied er ist, zu begreifen, ebenso die Welt zu verstehen ist nur möglich, wenn man den Menschen versteht. VI. Man sieht also, daß man es in der Philosophie mit zwei gegensätzlichen Grundtypen des Begreifens und der Erklärung der Welt zu tun hat. Die Welt wird einmal „von oben", zum andernmal „von unten" erklärt. Für die erste Erklärung sind Vernunft, Geist, Idee, Gott, für die zweite Erklärung Materie, Naturgesetze, Kausalität maßgebend. Die Erklärung der höheren Seinsschichten mit Hilfe der Kategorien der niederen Seinsschichten oder gar der niedrigsten Seinsschicht verstößt gegen das Novum und die Freiheit der höheren Seinsschichten; sie ignoriert insbesondere die tiefe Kluft zwischen dem organischen und dem seelischen Sein, da von dieser Grenze ab die kategoriale Dependenz auf die Funktion einer „Grundlage" beschränkt ist. Die Erklärung der niederen Seinsschicht mit Hilfe der Kategorie der höheren Seinsschicht verstößt wieder - wie man sehen w i r d - gegen das Gesetz der Stärke und der Dependenz. Beide gegensätzlichen Richtungen wollen aber, daß eine einseitige, irreversible Abhängigkeit gelte, beide begreifen die Welt und das geschichtliche Sein, den Menschen, das Recht und den Staat rein monistisch, sie lassen nur eine Quelle der bestimmenden Mächte zu. Der Idealismus versucht alle Seinsschichten „von oben", der Materialismus „von unten" zu erklären, beide Richtungen versuchen es aber von einem einzigen, freilich entgegengesetzten Ende. Beide Erklärungsweisen begehen denselben tragischen Fehler, weil sie nicht der Wirklichkeit gerecht sind, nämlich daß die reale Welt aus vier Grundschichten des Seins besteht, daß es sich um einen besonderen hierarchischen Stufenbau handelt, daß dieser Stufenbau spezielle Gesetze, insbesondere das Gesetz der Stärke und das Gesetz der Freiheit beherrschen, und daß für jede von diesen Seinsschichten spezifische Kategorien, spezifische Determinationen gelten, daß jede Seinsschicht auf eigene Art trotz ihrer Abhängigkeit von niederer Seinsschicht - und gerade wegen dieser Abhängigkeit - frei ist, da die Freiheit nur in der Abhängigkeit existiert. § 7. Der stufenförmige Aufbau der realen Welt nach Nicolai Hartmann I. Nicolai Hartmann hat das Verdienst, daß er als erster systematisch, in ganzer Breite und Tiefe, und nicht auf einer idealistisch-spekulativ-metaphysischen Grundlage eine Lehre von den Schichten (Stufen) des realen Seins aufgebaut hat.

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2. Teil: Der Begriff der kritischen Ontologie

Es ist zwar wahr, daß man seit langem von der Schichtung der Welt wußte (Plotin, Scotus Eriugena, besonders aber Piaton, Aristoteles und verschiedene Systeme des Mittelalters). 1 Der Schichtengedanke tritt auch in den Vordergrund im Gegensatz von „Natur und Geist", wie die Tradition des deutschen Idealismus ihn festgehalten hat; in dieser Form beherrscht er bis heute die Einstellung der Wissenschaften in Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften. II. Die reale Welt ist nicht so einfach, daß sie in einem einzigen Gegensatzschema aufgehen könnte. Es wird sich auch zeigen, daß es nicht richtig ist, diese zwei Schichten in einem Gegensatz zueinander zu begreifen. Man wird erkennen, daß es nicht zwei, sondern vier Grundschichten der realen Welt gibt, daß diese Schichten keineswegs in einem Gegensatz stehen, sondern einen stufenförmigen Aufbau bilden, wobei die niedere Schicht des Seins immer ein tragendes Fundament für die höhere Seinsschicht ist, daß die höhere Schicht auf der niederen ruht, von ihr abhängig ist und trotzdem ihre eigene Autonomie hat. Es wird sich auch zeigen - und zwar im gewissen Widerspruch zu Hartmanns Lehre - , daß neben diesem vierstufigen Aufbau der realen Welt noch ein „Reich" der Idealität, vor allem ein Reich der Normideen existiert. In diesem Reich der Normideen ist das Sollen verankert. Der Gedanke der Normideen mit ihrem reinen Sollen folgt mit evidenter und absoluter Notwendigkeit aus der fundamentalsten Voraussetzung des Denkens überhaupt, der Philosophie und jeder Wissenschaft, und zwar aus der optimistischen geschichtlichen Einstellung zur Welt, aus der immerwährenden Tendenz zur Vollkommenheit (Piaton, Aurelius Augustinus, Kant, Herder und die materialistische Geschichtsauffassung), aus der grundlegenden Voraussetzung, daß es sich nicht nur bei den Individuen i m Durchschnitt um eine aufsteigende Tendenz auf dem unendlichen Weg zur Erreichung der Normideen und auch zur Erreichung der Normidee des Rechts handelt. Ohne diese Grundvoraussetzung ist jede menschliche, jede wissenschaftliche Tätigkeit undenkbar, ja widersinnig. Es wird sich auch zeigen, daß der einzige bekannte Vermittler dieser zwei Welten der Mensch als Subjekt und Person ist. Das Begreifen dieser Verbindung zweier Welten wird sich als sehr bedeutend für die Begründung der abgeleiteten Normativität gewisser Sphären des geistigen Seins, vor allem der rechtlichen Sphäre, erweisen; die ursprüngliche, reine Normativität findet man nur im Reich der Normideen, in der Welt der Idealität, in der idealen Welt. 1 Zum folgenden Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, 1940, S. 188ff, 191 f.

§ 7. Der stufenförmige Aufbau der realen Welt nach Nicolai H a r t m a n n 3 9

III. Nicolai Hartmann geht von der richtigen Beobachtung und Feststellung aus, daß das Gesamtphänomen der Welt klar den Schichtungscharakter aufweist. Niemand kann ernsthaft bezweifeln 2 , daß das organische Leben sich wesentlich von dem physisch-materiellen (anorganischen) Sein unterscheidet. Allerdings existiert dieses organische Leben nicht unabhängig vom anorganischen Sein, sondern beruht auf ihm als seiner Grundlage und die diese anorganische Grundlage beherrschenden Gesetze greifen tief in den Organismus ein. Das ist aber kein Hindernis für die Tatsache, daß der Organismus seine eigene Gesetzmäßigkeit habe, die sich keineswegs in den die anorganische Grundlage beherrschenden Gesetzen erschöpft. Ähnlich ist es, wenn es um das Verhältnis des seelischen zum organischen Sein (zum organischen Leben) geht, auch wenn man erkennen wird, daß die Zäsur zwischen dem organischen und seelischen Sein tiefer ist, als zwischen dem anorganischen und organischen Sein. Das seelische Sein ist - wie es die Phänomene des Bewußtseins beweisen - dem organischen Sein ganz unähnlich. Man muß aber mit Nachdruck betonen, daß das seelische Sein nur in Abhängigkeit vom organischen Sein existiert, und zwar in dem Sinne, daß es von diesem getragen wird. Auch das seelische Sein ist ein „getragenes Sein". Wir kennen kein seelisches Leben, das von dem Organismus nicht getragen wäre. Zugleich aber haben die psychologischen Untersuchungen klar bewiesen, daß in der seelischen Schicht eine spezifische, eigene Gesetzlichkeit herrscht. Das seelische Sein ist zwar ein getragenes Sein, aber trotz seiner Abhängigkeit vom organischen Sein ist es doch autonom. IV. Was die höchste Schicht des realen Seins, das geistige Sein betrifft 3 , ist es heute allgemein bekannt, daß das geistige Sein keineswegs im seelischen Sein und seinen Gesetzlichkeiten untergeht. Weder die logische Gesetzlichkeit, noch das besondere, was die Erkenntnis und das Wissen charakterisiert, kann psychologisch begriffen werden. Um so mehr gilt es, wenn es sich um die Sphäre des Rechts, der Moral, der Religion oder der Kunst handelt. Alle diese Gebiete ragen hoch über die Schicht der psychischen Phänomene und bilden eine Schicht des Seins eigener und höherer Art, mit deren Reichtum und Verschiedenheit die niederen Seinsschichten sich bei weitem nicht messen können. Es war eben der Kampf gegen den Psychologismus, der die Selbständigkeit und Eigengesetzlichkeit des geistigen Seins im Verhältnis zu den psychischen Akten und Prozessen bewiesen hat. Was man besonders betonen muß, ist die Tatsache, daß das geistige Sein ein reales Sein ist, daß es als die höchste Schicht in den stufenförmigen Auf2 3

Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 1. Aufl., S. 14. Nicolai Hartmann, I.e. S. 14; derselbe, Der Aufbau der realen Welt, S. 190.

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2. Teil: Der Begriff der kritischen Ontologie

bau der realen Welt gehört. Das wurde oft, ja regelmäßig vergessen. Das geistige Sein wurde aus dem realen Sein eliminiert und in die ideale Welt eingereiht; das geistige Sein war etwas irreales; Geist, Wert, Sollen, Norm - das alles wurde synonym benutzt und in die Welt der Idealität eingereiht. Klar kann man das an der Schule der Reinen Rechtslehre beobachten. Hans Kelsen unter dem Einfluß des Marburger Neokantianismus sah im Recht, ja auch im Staat nichts anderes, als Norm, Sollen, Geist und reihte das alles in die Welt der Idealität ein. Das wurde für diese Schule verhängnisvoll, da sie von diesem Grundfehler aus weder das Wesen des Rechts, noch das Wesen des Staates erfassen konnte. Hier überall spielte offenbar ein altes Vorurteil die entscheidende Rolle, daß nur das, was „dinglich" ist, real ist. 4 Es wurde übersehen, daß alles, was der Zeit unterliegt, z.B. eine gewisse Rechtsordnung, Realität besitzt, auch wenn es weder räumlich, noch materiell ist. Bei genauerer Betrachtung zeigt es sich, daß solche Gebiete des geistigen Lebens, wie das Recht, die Moral, das Wissen, die Sprache usw. ihren geschichtlich zeitlichen Ursprung und Untergang haben, daß diese Gebilde nicht mit idealen Normideen, zu denen sie zwar tendieren, identisch sind, und mit ihnen die Zeitlosigkeit nicht teilen, sondern in ihrer Zeit und nur im geschichtlich realen Leben des Volkes (der Nation, der internationalen Gemeinschaft) einer gewissen Epoche existieren. Dieses zeitliche Sein als „geltendes Recht", „lebende Sprache" usw. ist der Art und Stufe nach ein vollkommen anderes Sein als das Sein der Aktvollzüge selbst, obzwar es diese Aktvollzüge in den jeweilig lebenden Individuen zur Voraussetzung hat. Im Gebiet des geistigen Seins erscheint eine Reihe inhaltlich geformter Gebilde höherer Art, die alle etwas ganz besonderes im Verhältnis zu niederen Gebilden aufweisen. Das beginnt schon mit der bloßen Objektivität der geistigen Inhalte, welche in der Mitteilung schon die Grenzen des Subjekts transzendieren, sich also vom Substrat des Seelischen loslösen. Das gilt besonders von den Gebieten des gemeinsamen, geschichtlich tradierten, objektiven und objektivierten Geistes: vom rechtlichen und moralischen Bewußtsein, vom Recht, von der Moral, Sitte, Sprache, vom Leben des Volkes und des Staates. Hier überall sind es Sinngehalte besonderer Art; hinter ihnen stehen nicht weiter reduzierbare Sinnsubstrate. Aber auch beim geistigen Sein handelt es sich um eine Autonomie dieser höheren Seinsschicht im Verhältnis zum seelischen Sein, trotzdem und gerade deshalb, weil das geistige Sein vom seelischen Sein abhängig ist.

4 Zum folgenden Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, S. 197, 282f.; derselbe, Neue Wege der Ontologie, S. 216 f.

§ 8. Die kategoriale Mannigfaltigkeit im stufenförmigen Aufbau der Welt

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§ 8. Die kategoriale Mannigfaltigkeit im stufenförmigen Aufbau der Welt; das Gesetz der Stärke und das Gesetz des Novums I. Jede Seinsschicht im stufenförmigen Aufbau der realen Welt hat ihre eigenen Prinzipien, Gesetze, Kategorien, die nur ihr gehören, durch andere Kategorien nicht ersetzt werden können und auch auf andere Schichten der realen Welt nicht übertragbar sind. 1 Kategorien einer gewissen Seinsschicht können zwar weit in die Schichten des strukturellen höheren Seins eingreifen, können dort aber nicht Kategorien von bestimmender Bedeutung sein, welche dieser höheren Schicht adäquat wären. Solche Kategorien, auch wenn sie in die höhere Seinsschicht durchdringen, bilden nur untergeordnete Elemente in der höheren und reicheren Struktur dieser Kategorien, die eben die Eigenart dieser höheren Seinsschichten schaffen. Niemals läßt sich die Eigenart einer Schicht aus den Kategorien einer anderen Seinsschicht verstehen, und zwar weder aus denen der höheren, noch aus denen der niederen Seinsschicht. Zwischen einem gewissen „Concretum" und dessen Kategorien existiert ein Verhältnis fester Zugehörigkeit, in welchem die Kategorien die Holle einer Determination spielen. Es ist selbstverständlich, daß man, wenn die reale Welt ein stufenförmiger Aufbau der Seinsschichten ist, hier auch einen stufenförmigen Aufbau der Kategorien hat. Der Unterschied zwischen den Schichten des realen Seins ist grundlegend und prinzipiell und muß deswegen auch in seinen Kategorien enthalten sein. Das bedeutet freilich noch nicht, daß die Schichtung der Kategorien mit der Schichtung des realen Seins identisch sein muß, da vor allem auch Kategorien der Welt der Idealität sind und weiter auch Kategorien solcher Allgemeinheit existieren, daß sie nicht nur einer gewissen Seinsschicht zugehören. Jedenfalls aber ist das Reich der Kategorien, ähnlich wie die Welt der Seinsschichten, nicht monistisch angelegt, und gerade deshalb ist eine Erklärung der ganzen Welt von einem Prinzip oder einer Prinzipiengruppe aus unmöglich; alle Versuche in solcher Richtung endeten mit totalem Mißerfolg. II. Im Schichtenbau der Seinsschichten der realen Welt ist immer die höhere Schicht von der niederen getragen und deswegen hat keine Schicht des realen Seins - mit Ausnahme der niedrigsten Schicht des physischmateriellen Seins - ein selbständiges, sondern nur ein „aufruhendes Sein". Es handelt sich um eine durchgängige Abhängigkeit des Höheren vom Niederen: ohne materielle Natur kein Leben, ohne Leben kein Bewußtsein, ohne Bewußtsein keine geistige Welt. 2 1 Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 1. Aufl., S. 15ff.; derselbe, Der Aufbau der realen Welt, S. 92.

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2. Teil: Der Begriff der kritischen Ontologie

Die Richtung dieser Abhängigkeit läßt sich nicht umkehren; man kann nicht sagen: ohne Leben keine Materie, ohne Bewußtsein kein Leben usw.; die Tatsachen sprechen dagegen. Dem entspricht die Richtung der Dependenz im Kategorienreich: niedere Kategorien kehren in den höheren als Elemente wieder, die höheren stehen also in Abhängigkeit von den niederen, sie können deren Gefüge nicht durchbrechen, sondern nur überformen oder überbauen. In diesem Sinne sind die niederen Kategorien die stärkeren. Dieses „Gesetz der Stärke" ist das Grundgesetz der kategorialen Dependenz. III. Die niedere Seinsschicht ist für die höhere nur ein tragender Boden und die höhere Schicht ist in ihrer besonderen Gestaltung und Eigenart autonom. „Das Organische ist zwar getragen vom Materiellen, aber sein Formenreichtum und das Wunder der Lebendigkeit stammen nicht aus ihm, sondern treten als ein Novum hinzu. Ebenso ist das Seelische über dem Organischen, das Geistige über dem Seelischen ein Novum". „Dieses Novum, das mit jeder Schicht neu einsetzt, ist nichts anderes, als die Selbständigkeit oder Freiheit der höheren Kategorien über den niederen". Die niederen Kategorien sind zwar stärker (das Gesetz der Stärke), aber die höheren Kategorien sind über ihnen doch „frei" (das Gesetz der Freiheit). 3 IV. Das Gesetz der Stärke und das Gesetz der Freiheit bilden zusammen ein unlösliches, durchaus einheitliches Verhältnis, ja sie bilden im Grunde eine einzige kategoriale Dependenzgesetzlichkeit, welche den Schichtenbau der Welt von unten auf bis in seine Höhen beherrscht. 4 Diese Gesetzlichkeit drückt eine Synthese von Abhängigkeit und Autonomie aus. Was an diesem Gesamtphänomen des stufenförmigen Aufbaues der Welt das Beachtenswerteste ist und was fortwährend - bis zur Entdeckungstat von Nicolai Hartmann - außer Acht gelassen wurde, ist, daß keine totale Abhängigkeit im Stufenbau der Seinsschichten besteht, sondern daß hier zwar eine Abhängigkeit der höheren Schicht des realen Seins von der niederen, tragenden Schicht, aber eben keine totale besteht; der höheren Schicht bleibt immer ein breiter Raum von Freiheit für autonome kategoriale Formung. Was für die reale Welt gilt, wird auch für die Geschichte gelten, die sich i n ihr abspielte. 5 Das geschichtliche Sein ist mehrschichtig und zeigt dasselbe Grundverhältnis wie das der realen Welt, in der es sich entfaltet. 2 Zum folgenden Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 1. Aufl., S. 15 f. 3 Nicolai Hartmann, Kategorialgesetze, Philos. Anzeiger I, Heft 2,1926. 4 Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 1. Aufl., S. 15f. 5 Nicolai Hartmann, I.e. S. 17f.

§ 9. Die Verschiedenheit einzelner Seinsschichten

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V. Es handelt sich um eine Einheit in Mannigfaltigkeit, um eine Einheit i n der Dependenz und zugleich der Autonomie der höheren Seinsschicht; um eine Einheit der tragenden Fundamente und der auf ihnen ruhenden höheren Seinsschichten.6 Von Schicht zu Schicht findet man dasselbe Verhältnis des Aufruhens, der Bedingtheit „von unten" her, und doch zugleich der Selbständigkeit des Aufruhenden in seiner Eigenformheit und Eigengesetzlichkeit. Dieses Verhältnis ist die wirkliche, echte Einheit der realen Welt. Die Welt ist bei aller ihrer Verschiedenheit, Mannigfaltigkeit und Heterogenität einheitlich. Sie hat eine Einheit des Systems, aber das System ist ein System der Schichten (der Stufen). Der Aufbau der realen Welt ist stufenförmig.

§ 9. Die Verschiedenheit einzelner Seinsschichten; die Überformung und die Überbauung I. Die Beziehung einzelner Seinsschichten zueinander ist nicht gleich. Bei näherer Untersuchung zeigt es sich, daß die Beziehung zwischen der Schicht des organischen Seins und des physisch-materiellen Seins viel dichter, fester ist, die Kluft zwischen ihnen besser überbrückt ist, als die zwischen dem seelischen und dem geistigen Sein. Wenn man die Beziehung des Organischen zum Physisch-materiellen beobachtet, sieht man, daß der Organismus zwar nicht im materiellen Sein und in seinen Gesetzlichkeiten aufgeht, seine Gesetzlichkeiten aber in sich einschließt. 1 Der Organismus ist ein raum-körperliches Gebilde und hat seine Eigenschaften; seine Zellen bestehen aus Atomen. Der Organismus ist freilich noch mehr als das alles, aber es läßt das nicht hinter sich. Der Organismus behält dies für sich und formt aus diesen Elementen etwas höheres, er „überformt" es nur. Dieses Verhältnis der Überformung zeigt offensichtlich, wo seine Autonomie ist und wie es um eine Bindung auf die besondere Art der niederen Elemente, denen er die höhere Formung einprägt, geht. Die Gesetze, die Kategorien des physisch-materiellen Seins, bleiben in Geltung; sie greifen in den Organismus ein und werden nicht durch das Novum dieser Überformung negiert, da sie „stärker" sind. Es ist also klar, daß die Autonomie des organischen Seins sehr begrenzt ist. Das physisch-materielle Sein ist freilich ein tragendes Fundament für das organische Sein, das ein getragenes Sein ist. Das organische Sein besitzt eine gewisse Autonomie, die Gesetze der Stärke und der Freiheit gelten auch 6

Zum folgenden Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, S. 198 ff. Zum folgenden Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 1. Aufl., S. 57ff. 1

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hier voll; in das organische Sein aber gehen die Kategorien des physischmateriellen Seins über und bilden den „Stoff" der höheren Kategorien. Deshalb ist das Verhältnis zwischen diesen beiden Seinsschichten viel enger, fester und die Autonomie der höheren Seinsschicht (des organischen Seins) ist kleiner, als wenn es sich um das Verhältnis zwischen den höheren Seinsschichten handelt. II. Dieses Verhältnis ändert sich schon, wenn es um die Beziehung des seelischen zum organischen Sein geht. Auch hier findet man freilich das Grundverhältnis des „Tragens" und des „Aufruhens"; es geht aber um eine andere Art dieses „Tragens" und „Aufruhens". Das seelische Leben umfaßt in sich nicht den Organismus, die Organe und keineswegs seine Elemente; auch die Gesetze der Kategorien des organischen Seins sind keine Bausteine des seelischen Seins, des seelischen Lebens. Das seelische Sein ist nicht nur etwas mehr als das alles, es ist qualitativ etwas toto genere anderes. Beim Verhältnis des seelischen zum organischen Sein geht es nicht mehr um das Verhältnis der Überformung, sondern um das Verhältnis der Überbauung. Mit dieser bildlichen Bezeichnung soll ausgedrückt werden, daß im Verhältnis des seelischen zum organischen Sein nicht mehr alle Kategorien der niederen Seinsschichten erscheinen, daß es hier eine Sphäre der Gebilde aufhebt, die sich von den Grundkategorien der tragenden Schichten bereits emanzipiert haben. Dort, wo es sich nicht um eine „ Überformungsondern um eine „Überbauung" handelt, also um den Übergang vom organischen zum seelischen Sein und noch höher (beim Übergang des seelischen zum geistigen Sein), bilden die Kategorien der niederen Seinsschicht nicht mehr Bausteine für die höhere Formung, sondern diese Formung hat ihre eigenen Formen und Kategorien, welche man überhaupt nicht mit den Formen und Kategorien des niederen Seins vergleichen kann. Die Richtigkeit dieser Beobachtung und Feststellung kann man gerade in dem seelischen Sein demonstrieren. Hier bricht vor allem die Kategorie der Räumlichkeit zusammen und greift nicht in das seelische Sein ein. III. In noch höherem Maße gilt das, wenn w i r zur Frage des Verhältnisses der höchsten Schicht des realen Seins, des geistigen Seins, zu den niederen Seinsschichten, besonders zum unmittelbar tragenden Fundament, nämlich zum seelischen Sein kommen. Das, was man geschichtlich gegebenes Geistesniveau nennt, ist etwas dem seelischen Sein völlig heterogenes. Das Geistesniveau setzt sich nicht aus Subjekten zusammen, besteht nicht in der Summe der Bewußtseinsträger. Es geht - wie man noch zeigen wird - um ein Geist-Phänomen anderer Größenordnung, es geht um den geschichtlichen oder objektiven Geist.

§10. Fundamentalkategorien und besondere Typen der Determination

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Auch das Verhältnis des geistigen und des seelischen Seins ist ein Verhältnis der „ ÜberbauungNur so kann man die eigenartige Autonomie begreifen, die für das geistige Sein charakteristisch ist. Diese Autonomie ist gerade typisch für die Gesetzlichkeit des Rechts, der Moral, der Gemeinschaft, des künstlerischen Schaffens, der Erkenntnis. Jeder hat für sich sein seelisches Sein. Einen Gedanken aber, den die eine Person besitzt, kann man als denselben Gedanken denken, wenn man ihn erfaßt. Es geht zwar um einen anderen Gedankenakt, um einen Akt eines anderen Bewußtseins, aber es geht immer um einen und denselben Gedanken. Der Gedanke ist von Haus aus objektiv. Der Gedanke ist expansiv, der Gedanke verbindet, wo der Bewußtseinsvorgang isoliert. Ebenso ist die Situation, wenn es sich z.B. um rechtliche Anschauungen und um Werturteile überhaupt handelt. Alles das gehört in die Sphäre des Geistes, in die Schicht des geistigen Seins. Das Bewußtsein isoliert, der Geist aber verbindet. § 10. Fundamentalkategorien und besondere Typen der Determination in den Schichten der realen Welt I. Es gibt drei Gruppen von Fundamentalkategorien: 1. Die Gruppe der Modalkategorien nicht interessieren.

1

2

, die uns in diesem Zusammenhang

2. Die Gruppe von Elementarkategorien, die einen strukturellen Charakter haben und durchgehend paarweise, in Form zusammengehöriger Gegensatzglieder auftreten. Solche Gegensätze, wie Einheit und Mannigfaltigkeit, Form und Materie, Qualität und Quantität, Continuum und Discretum gehören hierher. Der Gegensatz von Struktur überhaupt und Modus muß auch als ein Grenzverhältnis dazu gerechnet werden, desgleichen Gegensätzlichkeit und Übergang, System und Glied, Determination und Dependenz. Ja selbst die Grundstruktur des kategorialen Seins überhaupt, das Verhältnis von Prinzip und Concretum, ist ein Elementargegensatz. 3. Die dritte Gruppe bilden die kategorialen Gesetze. Sie bezeichnen zugleich in ihrer strukturellen Art als „Gesetze" einen dritten Typus von Kategorien überhaupt - neben dem der „Modi" und dem der „Gegensätze".

1 Zum folgenden Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, S. 203 - 205; derselbe, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938. 2 Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938; derselbe, Der Aufbau der realen Welt, S. 412 - 419.

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Die kategorialen Gesetze sind also die Gesetze des Aufbaues der realen Welt und betreffen das Wesen der Kategorien; sie sind Prinzipien von Prinzipien. 3 Hier ist der Schwerpunkt der allgemeinen Kategorienlehre. II. Man muß sich vergegenwärtigen, daß jede Schicht des realen Seins besondere Formen der Determination aufweist. 4 Von allen Typen der Realdetermination - uns interessieren unmittelbar nur drei - sind nach Nicolai Hartmann 5 nur zwei, nach uns drei, zugänglich: der Kausalnexus im physischen und der Finalnexus und auch der normative (normologische) Nexus im geistigen Sein. Was den normativen Nexus betrifft, so tritt er in der realen Welt in seiner abgeleiteten Form auf, und zwar in einigen Sphären des geistigen Seins, besonders in den Sphären des Rechts, der Moral und der Sitte; in seiner reinen Form ist er nur in der idealen Welt, im Reich der Normideen gegeben. III. Die einfachste Form des Realnexus ist die Kausalität. Auf derselben Schichtenhöhe des stufenförmigen Aufbaues der realen Welt tritt neben die Kausalreihe als zweite Form der Determination die Wechselwirkung des Gleichzeitigen auf. Diese, in der Lehre des dialektischen Materialismus stark betonte Determinationsform besagt, daß die Kausalketten nicht isoliert nebeneinander, sondern nur in durchgehender Querverbundenheit miteinander ablaufen und sich gegenseitig beeinflussen. IV. In der Schicht des organischen Seins reichen diese Formen der Determination (die Kausalität und die Wechselwirkung des Gleichzeitigen) nicht mehr aus.6 „Zwar löst sich manches Rätsel am Lebensprozeß durch das Ineinandergreifen der Kausalfäden; aber die subtile Zweckmäßigkeit der Teilfunktionen füreinander, die Selbstregulation des Ganzen, sowie die Wiederbildung des Organismus von der Keimzelle aus zeigen den Typus eines noch anders gearteten Zusammenspieles, das vom Ganzen aus bestimmt ist." Diese Form der Determination sieht dem Finalnexus zum Verwechseln ähnlich, und man hat sie auch von altersher so verstanden und interpretiert. Nach der Meinung von Nicolai Hartmann darf man diese Interpretation nicht billigen, da das zwecksetzende Bewußtsein fehlt. Nicolai Hartmann - wie es scheint - unterscheidet nicht die Zwecktätigkeit und die bloße Zweckmäßigkeit. Nur bei der Zwecktätigkeit existiert und muß das zwecksetzende Bewußtsein existieren. Keineswegs aber bei bloßer Zweckmäßigkeit. Das war auch der Grund für die weitere Behauptung von 3 4 5 6

Zum folgenden Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, S.313-319. Nicolai Hartmann, I.e. S. 314. Nicolai Hartmann, I.e. S. 314. Nicolai Hartmann, I.e. S. 315.

§10. Fundamentalkategorien und besondere Typen der Determination

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Nicolai Hartmann, daß „die Wahrheit ist, daß w i r die wirkliche Form der Determination in diesen interorganischen Prozessen nicht kennen". Unserer Ansicht nach aber, auch wenn man hier in keinem Falle von einer Zwecktätigkeit sprechen kann, ist es möglich, hier die Kategorie der bloßen Zweckmäßigkeit anzuwenden, und diese Kategorie als Hilfsmittel zu benutzen. V. Ebenso dunkel und rätselhaft ist die Determination des seelischen Seins, d.h. der psychischen Akte, die Determinationsform, die ihr Aufkommen, ihren Ablauf und ihren gegenseitigen Zusammenhang betrifft. 7 Mit der psychischen Kausalität reichen w i r nicht aus. Schon in den einfachen seelischen Reaktionen sind andere Momente mitbestimmend. VI. Was das geistige Sein betrifft, sind w i r schon in der Ebene der Objektivität und des personalen Geistes. 8 Hier finden w i r schon eine für das geistige Sein typische Form der Determination, nämlich den Finalnexus. Diese Determinationsform ist für das ganze Gebiet des bewußten Tuns, einschließlich des moralischen und rechtlichen Wollens und Handelns, entscheidend. Bekannt ist der Streit zwischen denen, die der Meinung sind, daß die Finalität (Teleologie) nichts anderes sei als die umgekehrte Kausalität (Wilhelm Wundt, Hans Kelsen), und denen, welche die entgegengesetzte Ansicht vertreten, d.h. daß es sich um zwei verschiedene Beobachtungsweisen handelt (Stammler, EngliS), bzw. um zwei verschiedene reale Kategorien (Nicolai Hartmann). So sagt Wilhelm Wundt 9: „Sobald wir die Wirkung in der Vorstellung vorausnehmen, erscheint sie als Zweck, und die Ursache, welche die Wirkung herbeiführt, erscheint als das Mittel zu diesem Zweck. Wenn w i r von den Pumpwirkungen des Herzens zu der Bewegung des Blutes in den Gefäßen übergehen, so sind jene die Ursachen der letzteren; wenn w i r umgekehrt von der Blutbewegung in den Gefäßen auf die Herzaktion zurückgehen, so ist die erstere der Zweck, der durch die letztere erreicht wird." Damit ist auch Kelsen einverstanden 10 und bemerkt dazu, daß ebenso wie die teleologische Betrachtungsweise nicht nur bei der Vorstellung der Handlungen, die i n der 7

Nicolai Hartmann, I.e. S. 315. Nicolai Hartmann, Neue Wege der Ontologie, , in: Systematische Philosophie (Hrsg. N. Hartmann), S. 254; Karel Englié, Teleologie jako forma vëdeckého poznânl (Teleologie als die Form der wissenschaftlichen Erkenntnis); derselbe, Soustava nârodniho hospodâfstvi I (Das System von Volkswirtschaft I), S. 3 f , 7 f , 25f.; derselbe, Velkâ logika, Öls. 21, Òtvero odpovëdi na otâzku: Proö? (Große Logik, Nr. 21, Vier Antworten auf die Frage: „Warum"?), ëis. 28 Hospodârnost myâlenl (Nr. 28 Ökonomie des Denkens), noch nicht veröffentlicht; Vladimir KubeS, Prâvni filosofie X X . stoleti (Die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts), 1947, S. 132 - 139; Rudolf Stammler, Wirtschaft und Recht, 1896; derselbe, Theorie der Rechtswissenschaft, 2. Aufl., S. 449. 9 Wilhelm Wundt, Logik I, 3. Aufl., S. 631. 10 Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtstheorie, S. 63. 8

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Zukunft realisiert werden sollen, also bei den Willensakten, sondern auch bei allen organischen Naturprozessen, ist, so kann sie auf alle kausalen Prozesse erweitert werden. Und wieder führt mit Einklag die Argumentation von Wundt an, daß „die zusammengesetzte Kausalreihe ihr unterworfen werden kann, oder sie unter Umständen sogar erfordert". 11 Beide argumentieren 12 , daß kein Gebiet von Erscheinungen existiert, auf das neben dem Kausalprinzip nicht das Zweckprinzip angewandt werden könnte, auch wenn besondere Umstände uns ermuntern, bald dem einen, bald dem anderen Vorteil zu gehen; niemals schließen sich aber beide Prinzipien aus; und besonders ist die Anwendung des Zweckprinzips nur unter Voraussetzung gleichzeitiger Gültigkeit des Kausalprinzips möglich. Es ist zwar richtig, daß die Anwendung des Zweckprinzips nur unter der Voraussetzung gleichzeitiger Gültigkeit des Kausalprinzips möglich ist, und zwar soweit man das in der Weise versteht, wie es einmal Sigwart 13 formulierte, daß nämlich der Zweck den kausalen Begriff umfaßt, oder wie das klar Nicolai Hartmann ausdrückte 14 , daß von den drei Stadien, aus welchen der komplizierte Bau des Finalnexus besteht, d. h. aus der Festsetzung des Zweckes im voraus, der Wahl der Mittel und Verwirklichung des Zweckes durch die Mittel, dieses dritte Stadium, d. h. die Verwirklichung des Zwekkes durch die Mittel, ein kausales Stadium ist. Es ist aber ganz falsch zu meinen, daß überall dort, wo das Kausalprinzip angewendet wird, es auch möglich ist, das Finalprinzip (Teleologie) zu applizieren. So ist z.B. das teleologische Prinzip im Sinne der Zwecktätigkeit, welche eine adäquate Kategorie des geistigen Seins bildet, nicht anwendbar auf niedere Schichten des realen Seins, insbesondere auf das physisch-materielle Sein. Der gemeinsame Fehler von Wundt und Kelsen besteht in der Tatsache, daß sie nicht wußten, daß das teleologische Prinzip nur dort maßgebend ist, wo eine Zwecktätigkeit, ein Bewußtsein und eine Möglichkeit sich einzusetzen besteht, nur dort, wo es sich um einen Menschen als Person handelt, nur dort, wo w i r mit der Ebene der Objektivität und des Geistes zu tun haben, nur dort, wo eine bewußte Handlung vorliegt. Das besitzt weder die Schicht des physisch-materiellen Seins, noch die Schicht des organischen Seins, und auch nicht die Schicht des seelischen Seins. Die teleologische Kategorie im Sinne der Zwecktätigkeit ist ausschließlich der Schicht des geistigen Seins eigen. Bei Kelsen steht im Hintergrund dieses Grundfehlers noch ein weiterer, nicht weniger tragischer Irrtum seiner ganzen Rechtstheorie - nämlich die Tatsache, daß Kelsen das Recht in das Reich der Idealität einreiht, obzwar 11 12 13 14

Wundt, I.e. S. 631 f. Wundt, I.e. S. 631 f.; Kelsen, I.e. S. 63. Sigwart, Logik II, S. 251. Nicolai Hartmann, Neue Wege der Ontologie, S. 250.

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alles, was der Zeit unterliegt, und die Rechtsordnung unterliegt ohne Zweifel der Kategorie der Zeit, weil sie entsteht, lebt und untergeht - in die reale Welt gehört. Das ist auch der Grund, warum Kelsen die Kausalität und die Finalität unter die explikative Methode stellt 1 5 , mit deren Hilfe die Welt des Seins erkannt werden soll, im Unterschied und Gegensatz zur Normativität, die der Welt des Sollens, wohin nach ihm auch das Recht gehört, adäquat ist. Zu denen, die die Selbständigkeit der Kategorie der Teleologie scharf betonen, gehört vor allem Rudolf Stammler. 16 Stammler w i l l ausdrücken, daß w i r die Inhalte unserer Vorstellungen entweder nach dem Prinzip der Kausalität (Ursache - Wirkung) oder nach dem Prinzip der Finalität (Mittel - Zweck) ordnen. Im Sinne von Kants K r i t i k der reinen Vernunft bedeutet, die Natur zu erkennen, sie in den Anschauungsformen und in den Formen der Vernunft, also - brachylogisch gesagt - nach dem Prinzip der Kausalität zu denken. Die Natur darf nach Kant nicht unter dem Gesichtspunkt des Zweckes gedacht und erklärt werden. Der Zweck ist für Kant keine Kategorie. Der teleologische Standpunkt ist keinesfalls für die Erkenntnis der Natur adäquat. Gleichzeitig aber stellt Kant fest, daß die unter dem Gesichtspunkt der kausalen Notwendigkeit seiende Theorie nicht imstande ist, die ganze Natur bis zum letzten Rest zu erklären. Das ist der Grund, warum Kant neben dem durch die Form der Naturwissenschaft bestimmten Prinzip noch ein weiteres Prinzip einführt, und zwar das Zweckprinzip, welches freilich keine konstitutive, sondern nur eine regulative Bedeutung hat. Unter dem Zweckprinzip kann man die Natur zwar nicht im wahren Sinn erkennen, aber w i r können sie doch unter ihm denken überall dort, wo das Kausalprinzip nicht hinreicht. Besonders bei der Erklärung des Organismus ist hier die Möglichkeit, dieses Hilfsmittel zu benutzen und zur Erklärung mit Hilfe des teleologischen Prinzips zu treten. Das teleologische Prinzip zeigt uns den Weg, auf dem dann das Erkenntnisprinzip der Kausalität schreitet. Was wir uns teleologisch erklärt haben, müssen w i r dann immer noch mit dem kausalen Prinzip streng wissenschaftlich erklären. Bei Kant ist das teleologische Prinzip nur ein Hilfsprinzip, ein heuristisches Prinzip; es ist keineswegs dem Kausalprinzip ebenbürtig. Ganz anders liegt die Sache bei Stammler. Für ihn sind beide Beobachtungsstandpunkte, d.h. der kausale Standpunkt und der teleologische is Kelsen, Le. S. S. 63f. Rudolf Stammler, Wirtschaft und Recht, 1896, 2. Aufl., 1906, 5. Aufl. 1924, S. 337f, 340, 344, 378 (zit. nach 2. Aufl.); derselbe, Die Lehre von dem richtigen Rechte, 1902, 2. Aufl. 1923; derselbe, Theorie der Rechtswissenschaft, 1911, 2. Aufl. 1923; derselbe, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 1922, 3. Aufl. 1928, vgl. Dohna. Rudolf Stammler zum 70. Geburtstag, Kant-Studien, Bd. X X X I , S. 3f.; Kubeè, Prâvnl filosofie X X . stoletl (Die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts), S. 26f. 16

4 KubeS

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Standpunkt vollkommen ebenbürtig. Der kausale Standpunkt ordnet die Bewußtseinsinhalte nach der Kategorie der Ursache und Wirkung; das ist der Standpunkt der Naturwissenschaften. Der teleologische Standpunkt ist i m Verhältnis zum kausalen Standpunkt ganz selbständig 17 und ordnet die Bewußtseinsinhalte in die Formen des Mittels und Zwecks. Ihm entspricht die Zweckwissenschaft, die mit den Willensakten zu tun hat, zuerst mit deren Bestimmung nach festen Begriffen, mittels welcher sie auf allgemein gültige Art und Weise geteilt werden können, und dann mit deren Gleichrichten nach der Idee des reinen Wollens 18 . Ähnlich wie Stammler sieht auch Karel Englië in der Teleologie einen Beobachtungsstandpunkt, einen noetischen Standpunkt. EngliS lehrt 1 9 , daß unsere Gedankengebilde von der Wirklichkeit durch die Beobachtungsart bedingt sind und daß w i r von derselben Wirklichkeit auch mehrere verschiedene Gedankeninhalte besitzen können - und zwar verschiedene mit Rücksicht auf die Beobachtungsart, auf den Beobachtungsstandpunkt (ontologisch-kausalen, teleologischen und normologischen). Schon hier kann man den Grundirrtum von EngliS feststellen: von derselben Wirklichkeit kann man nicht verschiedene Gedankeninhalte, und zwar je nachdem, welcher Beobachtungsstandpunkt angewendet wird, besitzen. So ist z.B. ausgeschlossen von der physisch-materiellen Wirklichkeit einen teleologischen oder normologischen Gedankeninhalt zu haben. Weder die Teleologie noch die Normativität sind Kategorien des physisch-materiellen (oder des organischen oder des seelischen) Seins. Ihre Anwendung auf diese Seinsschichten führt zum Unsinn. So z.B. das „berühmte" Dictum „Rosen sollen blühen" ist eine unsinnige Unmöglichkeit. Der Mangel an feiner und sorgfältiger Berücksichtigung des Materials ist charakteristisch ebenso für EngliS, auch wenn nicht in so großem Maß, wie für Kelsen und Weyr. Nach EngliS ist die Finalität „eine Art von Auslegung der Wirklichkeit, die w i r teleologisch denken" 20 . Auch diese Art von Auslegung ist - wie Engli§ feststellt - untrennbar verbunden mit der Art, wie w i r die Wirklichkeit beobachten und sie in unseren Begriffen denken. Wir interpretieren das eine Gewollte durch das zweite Gewollte. Das auslegende Gewollte wird dadurch das Mittel; das Gewollte, mit dessen Hilfe w i r auslegen, ist der Zweck. Diese Auslegung der teleologisch gedachten Wirklichkeit ist die 17

Rudolf Stammler, Lehrbuch, § 28, Anm. 5. Rudolf Stammler, I.e. § 28, Anm. 4. 19 Karel Englié , Velkâ logika, dil druh£, öis. 11, Ötvero odpovëdi na otâzku: Proö? (Große Logik, zweiter Teil, Nr. 11, vier Antworten auf die Frage: Warum?); vgl. KubeS, Prâvni filosofie X X . stoleti (Die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts), S. 134f. 20 EngliS, I.e. éis. 11, Ötvero odpovëdi na otâzku: Proö? III. Determinismus skuteènosti, b. Finalita (Vier Antworten auf die Frage: Warum? III. Der Determinismus der Wirklichkeit, b. Die Finalität). 18

§ 10. Fundamentalkategorien und besondere Typen der Determination

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Finalität, die Zweckmäßigkeit. Interessant ist die Englische Widerlegung 21 der irrigen Ansicht, die Wundt und Kelsen verteidigten, nämlich daß die Finalität eine umgekehrte Kausalität darstellt. Mit dieser EngliSschen Widerlegung der irrigen Ansicht, daß die Teleologie (Finalität) eine umgekehrte Kausalität darstellt, müssen wir sicher einverstanden sein. Nur eines vermissen wir in Engliè's Ausführungen. Er ist so stark im Banne seiner Dreiteilung der noetischen Standpunkte, daß auch er den „Gegenstand" nicht scharf genug sieht, Sonst müßte er betonen, daß gewisse Seinsschichten (die Schicht des physisch-materiellen Seins, des organischen Seins, ja auch die Schicht des seelischen Seins) keine Teleologie kennen; in diesen Schichten entbehrt man das Bewußtsein des Subjekts als Person. Wenn w i r bei der Erklärung eines Prozesses, z.B. eines organischen Prozesses, irgendein Subjekt hinzudenken, geht es offensichtlich um eine Fiktion, und wir sind dem Material, das wir begreifen und erklären wollen, nicht gerecht. Ebenso wie es nicht möglich ist, zu behaupten: „Rosen sollen blühen", weil die Kategorie der Normativität auf die Seinsschicht, in welche die Rosen gehören, überhaupt unanwendbar ist, so kann man nicht auf die Frage „Warum pumpt das Herz" mit einer Zweckerklärung: „Damit das Blut zirkuliere" antworten. Die Kategorie der Teleologie als Zwecktätigkeit ist auf das organische Sein unanwendbar. Erst Nicolai Hartmann löst die Frage, ob die Teleologie eine umgekehrte Kausalität ist, mit voller Begründung, und zwar im negativen Sinn. 22 Der Bau des Finalnexus, des teleologischen Nexus, ist viel komplizierter als der Bau des Kausalnexus. Den teleologischen (finalen) Nexus kann man - wie Nicolai Hartmann darlegt - in drei Etappen zerlegen: In der ersten Etappe geht es um das Vorsetzen des Zweckes durch das Subjekt, um das Überspringen des Zeitlaufs, um das nur dem Bewußtsein gegebene Vorauseilen und Sichhinwegsetzen über die Zeitordnung. Die zweite Etappe besteht in der rückläufigen, eigentlich finalen Bestimmung der Mittel durch den Zweck, beginnend mit dem letzten, dem Endzweck am nächsten stehenden Mittel, zurück bis zum ersten gegenwärtigen Mittel, an welchem das Subjekt ansetzt, wobei immer das vorhergehende (also im Rückgang nachfolgende) Glied das nachfolgende (im Rückgang vorhergehende) zum Zweck hat und von ihm bestimmt wird. In der dritten Etappe geht es um die Realisation des Zweckes, um sein reales Bewirktwerden durch die Reihe der Mittel, wobei das in der vorhergehenden rückläufigen Bestimmung durchgehende Verhältnis von Mittel und 21

S. 8f.

Engliè , Soustava nârodniho hospodäfstvl (System der Volkswirtschaft), Bd. I,

22 Nicolai Hartmann, Ethik, 2. Aufl. 1935, S. 174ff.; derselbe, Neue Wege der Ontologie, S. 254.

4'

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Zweck sich in ein ebenso durchgehendes, rechtläufig - kontinuierliches Verhältnis von Ursache und Wirkung umsetzt. Die ersten zwei Etappen spielen sich im Bewußtsein ab. Nur die dritte Etappe in diesem dreischichtigen Verhältnis hat den Charakter eines realen Prozesses, der in der äußeren Welt abläuft und eine volle kausale Struktur aufweist. Für den Finalnexus ist besonders die zweite Etappe charakteristisch, weil die Wahl der Mittel von dem vorausgesetzten Zweck zurück zum ersten Glied herausgeht, durch welches der Prozeß der Realisierung beginnt. Diese Rückdetermination der Mittel bewirkt, daß der Finalnexus vom Ende (vom Endzweck) bestimmt ist. In der dritten Etappe greift das Subjekt mit seiner Handlung in das kausale Weltgeschehen ein. Die kategoriale Form dieser dritten Etappe, aber nur dieser, hat also die Form der Kausalität. Das letzte Glied der zweiten Etappe ist das erste Glied der dritten Etappe; es ist das erste Mittel, dessen Anwendung in der Macht des Subjekts steht und von dem die Realisierung des im Bewußtseins vorausbestimmten Endzwecks ausgeht. Die Abhängigkeit der finalen (teleologischen) Reihe von der kausalen Reihe, die sich in dieser dritten Etappe geltend macht, ist für das Begreifen des Ganzen außerordentlich wichtig; nur in solcher Weise ist die Koexistenz der beiden Typen der Determination in der realen Welt möglich. Die finale Determination gerade aus dem Grund, weil der Prozeß der eigenen Realisation in der finalen Determination kausal ist. Der Eingriff eines der Zwecktätigkeit fähigen Wesens in die reale Welt, wo dieses Wesen steht, ist nur in einer kausal determinierten Welt möglich. Hier kann man klar den tragischen Fehler des Indeterminismus beobachten. In einer von der Determination und Gesetzlichkeit „befreiten" Welt, in einer Welt, wo alles ganz zufällig wäre, könnte überhaupt kein der Zwecktätigkeit mächtiges Wesen existieren, da es vollkommen unmöglich wäre, vorauszubestimmen, welche Ursachen als Mittel die als Zweck gewünschte Folge hervorrufen. Daher ist es klar, daß weder die Finalität eine umgekehrte Kausalität ist, da der Bau des Finalnexus viel reicher ist, wobei die erste und besonders die zweite Etappe gerade der Finalität eigen und der Kausalität ganz fremd sind, noch die Finalität und die Kausalität sich gegenseitig ausschließen, weil die kausale Kette eine nicht wegzudenkende (dritte) Etappe des Finalnexus ist. Die zweite Etappe des Finalnexus, die - im Unterschied zur ersten und dritten Etappe - gegen die Richtung des Zeitlaufes durchläuft, ist auch jene, die den Finalnexus fähig macht, die Form der Realisation des Zweckes und also auch des Sollens - der Zweck erscheint uns im normativen Blick als Sollen - zu sein. Im Sollen ist nämlich der Zielpunkt, der festgesetzte Zweck gegeben; die reale Tendenz zu ihm ist freilich erst gefordert. Und gerade nur die finale Determination kann das Sollen in das Sein überführen - ohne

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Unterschied, ob es sich um reines Sollen der Normideen oder um abgeleitetes Sollen der freilich schon realen Ideen (z.B. der realen Idee des Rechts oder der realen Idee der Moral) oder des geltenden Rechts (der lebendigen Moral) handelt. VII. Der Finalnexus (der teleologische Nexus) ist aber nicht die einzige Form der Determination des geistigen Seins. Es gibt hier noch andere Formen der Determination, von denen die interessanteste die normative (normologische) Determination ist. Wenn wir bis zum Kern der ganzen Problematik gehen, wohin freilich z.B. die Schule der Reinen Rechtslehre nicht vorgedrungen war - sie war mit der formalen Konstatierung von zwei „Welten", der Welt des Seins und der Welt des Sollens, und mit der nur formalen Auffassung des Sollens überhaupt zufrieden - , sehen wir, daß es sich hier um eine Determination durch die Normideen oder - wie das Nicolai Hartmann aussdrückt 23 - um eine Wertdetermination handelt. Normideen, deren Inbegriff - zusammen mit den rein formalen Beziehungen - die „Welt" der Idealität bildet, sind keine realen Mächte; Normideen bedeuten Sollen, eine Aufforderung im Verhältnis zum Menschen. Die Normideen bestimmen daher den Willen nicht mit einer Notwendigkeit, sondern nur als eine Aufforderung. Der Wille muß nicht dieser Aufforderung der Normideen folgen, dennoch aber kann er sie nicht aus der Welt schaffen. Der Mensch mit seinem Gefühl für die Normideen, der Mensch mit seinem „organ du coeur" (im Sinne Pascals), ist im Verhältnis zu ihnen sehr empfindsam, kann sie hören, ist fähig, ihre kategorische Stimme zu hören. Da der Mensch gleichzeitig des Wollens mächtig ist und den Inhalt des Wollens zu verwirklichen fähig ist, kann er sich für sie einsetzen. Die Normideen determinieren in der realen Welt nur indirekt, nur in dem Fall, daß sich der reale Wille für sie entscheidet. Das setzt aber eine weitere Form der Determination voraus, und zwar eine solche, die in der Willensentscheidung für oder gegen diese Aufforderung der Normideen enthalten ist. Sie besteht in der Selbstbestimmung oder in der Autonomie des Willens, und zwar nicht nur mit Rücksicht auf die bestimmenden Faktoren der realen Situation, sondern auch mit Rücksicht auf die Normideen und ihre Aufforderung. Es geht um das bekannte Problem der Willensfreiheit. Darunter versteht man die Bedingung, unter welcher das menschliche Wesen die Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit besitzt. Man verbindet freilich damit eine Vorstellung der Unbestimmtheit; es erscheint so, daß die Freiheit eine offene Alternative bedeutet. Das genügt allerdings nicht für das ethische Problem des Willens und Handelns. Der freie Wille ist nicht der unentschiedene, sondern gerade der „entscheidende". 24 In der Freiheit des Willens ist also ein positiv determinierendes 23 Zum folgenden vgl. Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, S. 315f.; derselbe, Neue Wege der Ontologie, S. 254f. 24 Nicolai Hartmann, Neue Wege der Ontologie, S. 254.

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2. Teil: Der Begriff der kritischen Ontologie

Moment enthalten, und gerade das entscheidende. Was sich ontologisch in der Willensfreiheit verbirgt, ist nichts geringeres, als eine neue, spezielle und offenbar höhere Form der Determination, wie Nicolai Hartmann feststellt. Das größte Problem überhaupt, das Problem der Willensfreiheit, ein Urproblem, welches mit verschiedensten Lösungsversuchen belastet ist, besteht nicht in der Frage, ob der Wille einen offenen Raum der Freiheit, einen von jeder Determination befreiten Raum besitzt, sondern in einer ganz anderen Frage, und zwar, wie die eigene Determination in dem Willen mit den niedrigeren Typen der Determination koexistieren kann. Wenn wir auf unsere Problematik der normativen Determination zurückkommen, erkennen wir, daß die Determination durch die Normideen ein vermittelndes Glied, welches der Mensch als Subjekt und Person mit seinem „organ du coeur" für die kategorische Stimme der Normideen ist, voraussetzt. Dieser Mensch als Subjekt und Person schafft Jahrtausende hindurch besondere Sphären des objektiven und objektivierten Geistes. Diese Sphären weisen kraft dieser Vermittlung eine besondere, abgeleitete Aufforderung, ein abgeleitetes Sollen auf. Mit solchem abgeleiteten Sollen haben wir gerade in den Systemen der Rechtsnormen, der Moralnormen und in den Systemen der Sitte zu tun. Überall hier stehen wir vor dem Sollen des Rechts, vor dem Sollen der Moral und vor dem Sollen der Sitte, vor einem Sollen, welches im Verhältnis zum reinen Sollen der Normideen, die der Welt der Idealität angehören, ein abgeleitetes Sollen darstellt. Dieses abgeleitete Sollen äußert sich in einigen Sphären des personalen, objektiven und objektivierten Geistes (Rechtsgeistes) und gehört der Welt der Realität an. Das ist der echte Kern der Normativität des Rechts (und auch der Moral und der Sitte) und er erlaubt uns, die besondere Normativität dieser Normenkomplexe zu entdecken und zu begreifen. Das reine Sollen ist nur der „Welt" der Idealität (dem „Reich" der Normideen) eigen. Das abgeleitete Sollen, das durch lange vermittelnde Tätigkeit der Menschen als Subjekte und Personen mit ihrem Gefühl für die kategorische Stimme der Normideen und mit ihrer Fähigkeit sie zu realisieren, entsteht, gehört in die Welt der Realität; in diesem Sinne darf man von der „normativen Kraft des Faktischen" (Georg Jellinek) sprechen. § 11. Grundsätze der kategorialen Gesetzlichkeit und die kategorialen Gesetze I. Es gibt vier Grundsätze der kategorialen Gesetzlichkeit:

1

1. Der Grundsatz der Geltung: Kategorien sind das, was sie sind, nur als Prinzipien von etwas; sie sind nichts ohne ihr Conkretum, wie dieses nichts ohne sie ist. 1

Zum folgenden Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, S. 412 ff., 418f.

§11. Grundsätze der kategorialen Gesetzlichkeit

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2. Der Grundsatz der Kohärenz: Kategorien bestehen nicht als einzelne für sich, sondern nur im Verbände der Kategorienschicht; sie sind durch ihn gebunden und mitbestimmt. 3. Der Grundsatz der Schichtung: Kategorien der niederen Schichten sind weitgehend in denen der höheren Schichten enthalten, aber nicht umgekehrt, diese in jenen. 4. Der Grundsatz der Dependenz: Abhängigkeit besteht nur einseitig als die der höheren Kategorien von den niederen; aber sie ist eine bloß partiale Abhängigkeit, sie läßt der Eigenständigkeit der höheren Kategorien einen weiten Spielraum. II. Im Rahmen des Grundsatzes der Geltung kennen w i r vier Grundsätze der Geltung: 2 1. Das Gesetz des Prinzips: das Sein einer Kategorie besteht in ihrem Prinzipsein. Daß etwas Prinzip einer Sache ist, bedeutet, daß es bestimmte Seiten der Sache determiniert, bzw. für sie „gilt". Die Kategorie hat kein anderes Sein als dieses ihr Prinzipsein „für" das Conkretum. 2. Das Gesetz der Schichtengeltung: die Determination, die von einer Kategorie ausgeht, ist in den Grenzen ihrer Geltung - also innerhalb der Seinsschicht, der sie zugehört - eine für alles Conkretum unverbrüchlich bindende. Es gibt von ihr keine Ausnahme und keine Macht außer oder neben ihr vermag sie aufzuheben. Allerdings gilt das nicht für die Kategorie der Normativität. Die Bedeutung dieses Gesetzes wird klar, wenn w i r in dieser Richtung die Kategorien auf der einen Seite mit den Normen, realen Ideen (z.B. mit der Idee des Rechts) oder idealen Normideen (z.B. mit der Normidee des Rechts) auf der anderen Seite vergleichen. Für die Normen, Ideen und Normideen gilt dieses Gesetz der Schichtengeltung nicht, obzwar auch diesen Normen, Ideen und Normideen der Charakter der Prinzipien eigen ist. Keinesfalls besitzen sie die Kraft und die Macht der unverbrüchlichen Determination; sie besitzen nur eine Striktheit der Forderung an sich, nicht aber eine Garantie, daß die Forderung erfüllt wird. Ihre Geltung ist zwar auch eine allgemeine, nicht aber eine durchaus determinierende. Weder die Normideen, noch die Ideen oder Normen können verhindern, daß in der realen Welt etwas Wertwidriges, das gegen die Forderung, gegen die Pflicht, verstößt, geschehe. Die Normideen, Ideen, Normen, sind keine reinen Kategorien. Ihre Geltung ist eine andere als die Geltung der „echten" Kategorien. Man kann klar beobachten, daß hier andere Mächte in bestimmbarer Weise in das Seinsgebiet eingreifen. Die Richtung der Normideen (Ideen, Normen) kreuzt sich mit natürlichen Neigungen, also mit einer Determination anderer 2

Zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e. S. 419f.

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Art. Im menschlichen Wesen realisiert sich direkt der Widerstreit zweier Determinationen. Wenn die Normideen (Ideen, Normen) die Geltung von Kategorien besäßen, wäre ein solcher Widerstreit unmöglich. Dann hätte allerdings der Mensch keine Freiheit. Die kategoriale Geltung - mit Ausnahme der Normativität - ist eine strikte, unverbrüchliche Geltung. Sie bedeutet eine Determination, gegen welche keine irdische Macht etwas zu tun imstande ist. Die Kategorien einer bestimmten Seinsschicht beherrschen alles, was zu einer Seinsschicht gehört. Darin besteht ihre Schichtengeltung. Diese Striktheit der Geltung ist jene, die w i r in den „Gesetzen" der Mathematik und der anorganischen Natur kennen. 3. Das Gesetz der Schichtenzugehörigkeit: die unverbrüchliche Geltung einer Kategorie besteht nur am Conkretum der ihr zugehörigen Seinsschicht. Außerhalb der Schicht kann sie - soweit sie überhaupt besteht nur eine beschränkte und modifizierte sein. Dieses dritte Geltungsgesetz besagt somit, daß es eine feste Zugehörigkeit der Kategorien zu bestimmten Seinsschichten gibt. 3 4. Das Gesetz der Schichtendetermination: am Conkretum ist durch die Kategorien seiner Schicht alles Prinzipielle nicht nur unverbrüchlich, sondern auch vollständig determiniert. Das Conkretum der Schicht ist also durch sie auch kategorial saturiert und bedarf keiner anderweitigen Bestimmung. 4 III. Der Grundsatz der kategorialen Kohärenz besagt, daß jede Kategorie durch den Verband der ganzen Kategorienschicht gebunden und inhaltlich mitbestimmt ist, also kein Bestehen außer ihm hat. 5 Darin sind vier Momente enthalten, die sich gesondert formulieren lassen: a) die Gemeinsamkeit der Geltung, b) die inhaltliche Zusammengehörigkeit, c) der Totalitätscharakter des Schichtungsverbandes, d) das inhaltliche Mitbestimmtsein der Einzelkategorie durch ihn. Diesen vier Momenten entsprechen die vier Gesetze der kategorialen Kohärenz: 1. Das Gesetz der Verbundenheit: die Kategorien einer Seinsschicht determinieren das Conkretum nicht isoliert, jede für sich, sondern nur gemeinsam, in Verbundenheit; zusammen bilden sie eine Determinationseinheit. 3 4 5

Nicolai Hartmann, I.e. S. 428. Nicolai Hartmann, I.e. S. 429f. Zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e. S. 432ff.

§11. Grundsätze der kategorialen Gesetzlichkeit

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2. Das Gesetz der Schichteneinheit: die Kategorien einer Schicht bilden auch in sich selbst eine unlösliche Einheit. Die einzelne Kategorie besteht zu Recht nur, sofern die anderen zurecht bestehen. Ihre Verbundenheit in der Determination wurzelt in ihrer eigenen inhaltlichen Verflochtenheit. Es gibt keine isolierten Kategorien. 3. Das Gesetz der Schichtenganzheit: die Einheit einer Kategorienschicht ist keine Summe ihrer Elemente, sondern eine unteilbare Ganzheit, die das Prius vor den Elementen hat. Die Schichtenganzheit besteht in der Wechselbedingtheit ihrer Glieder. 4. Das Gesetz der Implikation: die Ganzheit der Schicht kehrt an jedem Gliede wieder. Jede einzelne Kategorie impliziert die übrigen Kategorien gleicher Schicht. Jede einzelne hat ihr Eigenwesen ebensowohl außer sich in den anderen Kategorien wie in sich selbst; die Kohärenz der Schicht aber ist ebensowohl an jedem Glied als auch am Ganzen vollständig vorhanden. Ein schönes Beispiel der Kohärenz haben w i r - wie wir noch näher sehen werden - auf der Höhe des personalen Geistes 6. Hier handelt es sich um die gegenseitige Bedingtheit von Bewußtsein der Normideen, Freiheit, Einsatzkraft, Vorsehung und Zwecktätigkeit. Freiheit ohne Vorsehung ist gegenstandslos, denn nur das Zukünftige steht der Aktivität offen; Vorsehung ohne Zwecktätigkeit ist ohnmächtig gegen das erschaute Anrückende; Zwecktätigkeit ohne Normideenbewußtsein ist inhaltslos, denn erst das Normideengefühl sagt dem Menschen, was er sich zum Zwecke setzen soll. Und alles dieses ohne Einsatzkraft wäre wiederum zur Untätigkeit verurteilt. Erst zusammen bilden diese kategorialen Grundmomente des personalen Geistes ein Aktgefüge, das wirklich aktionsfähig ist. Gemeinsam machen sie die Grundlage des moralischen (und auch juristischen) Wesens aus. IV. Der Grundsatz der kategorialen Schichtung lautet: Kategorien der niederen Seinsschichten sind weitgehend in den höheren enthalten, aber nicht umgekehrt diese in jenen. Die Schichtung der Kategorien hat also eine von Grund aus andere Form, als die Kohärenz. Die Implikation ist durchaus einseitig; nur die höheren Kategorien setzen niedere voraus, nicht die niederen höhere. Das Grundverhältnis - wie es der Grundsatz der Schichtung ausspricht läßt sich in vier, eine einheitliche und komplexe Gesetzlichkeit ausmachende Schichtungsgesetze auseinanderlegen: 1. Das Gesetz der Wiederkehr: niedere Kategorien kehren in den höheren Schichten als Teilmomente höherer Kategorien fortlaufend wieder. Es 6

Nicolai Hartmann, I.e. S. 457.

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2. Teil: Der Begriff der kritischen Ontologie

gibt Kategorien, die, einmal in einer Schicht aufgetaucht, nach oben zu nicht mehr verschwinden, sondern immer auftauchen. Die Gesamtlinie einer solchen Wiederkehr hat die Form eines ununterbrochenen Hindurchgehens durch die höheren Schichten. Die kategoriale Wiederkehr ist aber irreversibel: nie tauchen die höheren Kategorien in den niederen wieder auf. 2. Das Gesetz der Abwandlung: die kategorialen Elemente wandeln sich bei ihrer Wiederkehr in den höheren Schichten mannigfaltig ab. Die besondere Stellung, die ihnen in der Kohärenz der höheren Schichten zufällt, gibt ihnen von Schicht zu Schicht eine neue Überformung. Was sich erhält, ist nur das Element selbst. An ihm als solchem ist die Abwandlung akzidentell. Im Aufbau der realen Welt ist sie ebenso wesentlich wie die Erhaltung. 3. Das Gesetz des Novums: auf Grund der Wiederkehr ist jede höhere Kategorie aus einer Mannigfaltigkeit niederer Elemente zusammengesetzt. Aber sie geht niemals in deren Summe auf. Sie ist stets noch etwas darüber hinaus: sie enthält ein spezifisches Novum, d.h. ein kategoriales Moment, das mit ihr neu auftritt, das also weder in den niederen Elementen noch in deren Synthese enthalten ist und sich auch in sie nicht auflösen läßt. Schon die Eigenstruktur des Elementen-Verbandes in ihr ist ein Novum. Es können aber auch neue, eigenartige Elemente hinzutreten. Das Novum der höheren Kategorien ist es, was in der Wiederkehr der Elemente deren Hervor- und Zurücktreten, sowie ihre Abwandlung bestimmt. 4. Das Gesetz der Schichtendistanz: Wiederkehr und Abwandlung schreiten nicht kontinuierlich fort, sondern in Sprüngen. Diese Sprünge sind allen durchgehenden Linien kategorialer Wiederkehr und Abwandlung gemeinsam. Sie bilden an der Gesamtheit solcher Linien einheitliche Einschnitte. Auf diese Weise ergibt sich eine einzige Vertikalgliederung für alle Abwandlung durch die Höhendistanz der sich überlagernden Schichten. In diesem einheitlichen Stufenreich hat jede höhere Schicht der niederen gegenüber auch ein gemeinsames Novum: sie enthält die abgewandelte Schichtenkohärenz der niederen und taucht selbst mit der ihrigen abgewandelt in der nächst höheren auf. Sie verhält sich also entsprechend den Kohärenzgesetzen - in ihrer Gesamtheit nicht anders, als die einzelnen Kategorien. Es ist interessant, dieses inhaltliche Verhältnis der Kategorienschichtung auf der einen Seite mit der logischen Pyramide (oder mit dem stufenförmigen Aufbau der Ideen der Weltanschauung, bzw. der juristischen Weltanschauung, oder auch mit dem stufenförmigen Aufbau der Rechtsordnung selbst) zu vergleichen.

§11. Grundsätze der kategorialen Gesetzlichkeit

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Im inhaltlichen Verhältnis der Kategorienschichtung ist das ontisch „höhere" Gebilde das inhaltlich reichere und komplexere, das dem Bau und der inneren Organisation nach überlegene. 7 Im kategorialen Schichtungsverhältnis ist das „niedere" das einfachere und ist als Element im Höheren enthalten. Die logische Pyramide - oder die Pyramide einzelner Ideen der (juristischen) Weltanschauung, oder die Pyramide der Rechtsordnung - setzt dagegen die allgemeineren und einfacheren Begriffe (Ideen, Normen) als die „höheren", die spezielleren und reicheren als die „niederen". Im logischen Verhältnis - oder im Verhältnis einzelner Ideen, welche die Weltanschauung bzw. die rechtliche Weltanschauung bilden, oder im Verhältnis der den hierarchischen Bau der Rechtsordnung bildenden Normen - ist also das „niedere" das komplexere und enthält das Höhere als Element in sich. Das Gesetz der Wiederkehr, das im Verhältnis einzelner Seinsschichten gilt, behauptet nicht, daß alle niederen Kategorien in den höheren wiederkehren, sondern nur, daß einige wiederkehren. 8 Auch das geistige Sein kann nicht ohne seelisches Leben bestehen. Daraus folgt aber keineswegs, daß die psychischen Vorgänge auch in den inhaltlichen Zusammenhängen des Geisteslebens wiederkehrten. Also: es kehren nicht alle niederen Kategorien wieder, aber viele. Wir stehen daher vor der Frage, welche es sind. Und wenn sich das generell nicht beantworten lassen sollte, so muß man doch zeigen, woran sie kenntlich werden. Die wiederkehrenden Kategorien sind nämlich das verbindende Moment im Aufbau der realen Welt. Durch alle Schichten hin kehren die Fundamentalkategorien. Etwas Ähnliches kann man an vielen Kategorien der niederen Seinsschichten beobachten. Hierher gehören z.B. solche Kategorien, wie die Zeit, der Prozeß (das Werden), der Kausalnexus und die Wechselwirkung. Was die Kategorien der Zeit und des Prozesses betrifft, so ist ihr Hindurchgehen ohne weiteres einsichtig. Es gibt nicht nur physische Prozesse, sondern auch organische, ja das Leben selbst ist ein Prozeß. Aber auch die seelischen Prozesse, das Tun des Menschen, sein Reagieren, sein Streben, Handeln, sein Erleben und Erfahren hat Prozeßcharakter. Schließlich erweist auch das geistige Sein Prozeßcharakter: das politische, soziale, geschichtliche Geschehen, die großen geistigen Bewegungen, der Wandel der Anschauungen, der Wandel der Weltanschauung (der rechtlichen Weltanschauung) selbst. Alle diese verschiedenen Typen des Prozesses sind zeit-

7 8

Nicolai Hartmann, I.e. S. 478f. Nicolai Hartmann, I.e. S. 481 - 485.

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2. Teil: Der Begriff der kritischen Ontologie

lieh, laufen alle in einer und derselben Realzeit ab, setzen also die Zeit voraus. Die Zeit und das Werden sind allem Realen gemeinsam. Und doch ist das Gesetz der Wiederkehr nicht ein allgemeines. Es gibt viele Kategorien, die keine durchgehende Wiederkehr haben, sondern nur eine begrenzte. Es gibt solche, die durch mehrere Schichten gehen, dann aber brechen; es gibt auch solche, die nur in die nächste Stufe hineinragen. Das kann man klar an der Kategorie des Raumes beobachten. „Die Räumlichkeit als dimensionales System beherrscht zusammen mit der Zeitlichkeit die ganze Mannigfaltigkeit der Gestalt - und die Prozeßformen der Natur, sowohl der unbelebten als auch der belebten. Aber während die Zeitlichkeit auch das seelische und geistige Sein mit umfaßt, bricht die Räumlichkeit mit dem Organischen ab. Die psychische Innenwelt, die Akte und Inhalte des Bewußtseins, Gedanke, Urteil, Gesinnung, Wille sind unräumlich. Ihre Mannigfaltigkeit hat neben der Zeit ganz andere Dimensionen, die sie mit Dingen und Dingprozessen unvergleichbar machen." Und in noch größerem Maß gilt das für die großen Inhaltsgebiete des objektiven und objektivierten Geistes, für das Recht, die Moral usw. Die Einwendung, daß das Bewußtsein doch nur an ein leiblich - organisches Wesen gebunden vorkommt, oder daß geschichtlicher Gemeingeist doch an die lebenden Individuen gebunden bleibt, die ihrerseits auch ein räumlich-organisches Sein haben, wäre ganz falsch. „Das ist zwar wahr sagt Nicolai Hartmann - , aber es ist nur der Ausdruck einer Bedingtheit des Unräumlichen durch das Räumliche. Es bedeutet nicht, daß seelisches und geistiges Leben, weil sie an räumlich-körperhafte Vorbedingungen gebunden sind, auch in sich selbst räumlich-körperhaft wären. Sie sind und bleiben vielmehr deswegen doch etwas ganz anderes, das sich über der räumlich-materiellen Welt erhebt und dabei deren kategoriale Geformtheit hinter sich läßt." An der Grenzscheide des organischen und des seelischen Seins bricht nicht nur die Räumlichkeit ab, sondern noch sehr viel anderes, was mit ihr unlöslich zusammenhängt. So bricht hier die materielle Substanz ab. Auch die physische Naturgesetzlichkeit durchzieht zwar als Grundlage ebenfalls das Organische und wird hier von höherer Gesetzlichkeit überformt, aber beide Gesetzlichkeiten brechen an den Grenzen des Organischen ab, und vom Seelischen aufwärts setzt ein ganz anderer Typus von Gesetzlichkeit ein. Nicolai Hartmann ist der Ansicht, daß auch innerhalb der Stufen des geistigen Seins gleichfalls die Wiederkehr der Kategorien begrenzt ist. „So versagen z.B. die Gesetze der Logik schon sehr beträchtlich im Reiche des Ethos, das ihnen andere entgegensetzt."

§11. Grundsätze der kategorialen Gesetzlichkeit

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Das Überlagerungsverhältnis der Kategorienschicht ist offenbar nicht überall dasselbe.9 Wir haben schon erkannt, daß es Einschnitte zwischen den Schichten gibt, über die hinweg alle Kategorien wiederkehren - so beim Übergang des physisch-materiellen und des organischen Seins. Es gibt aber auch Einschnitte, über die hinweg ganze Gruppen von Kategorien nicht wiederkehren - beim Übergang des organischen und des seelischen Seins und beim Übergang des seelischen und geistigen Seins. Schon daraus muß man den Schluß ziehen, daß die Art der Einschnitte selbst eine verschiedene ist. Eine grundlegende Grenzscheide gibt es an dem Einschnitt zwischen organischem und seelischem Sein. Die räumlichen Formen und die raumzeitlichen Prozesse des Organischen gehen nicht als „Materie" in das Seelenleben ein, sie werden nicht von den physischen Akten und Inhalten „überformt". Es geht nicht um eine „Überformung", sondern um einen „Überbau", der das Material der niederen Stufe hinter sich läßt. Seine Inhalte sind aus anderem Stoff geformt. Die seelische Welt ist keine Überformung organischer Elemente, wiewohl ihr Bestehen durch diese bedingt ist. Es geht hier um eine ganz andere Bedingtheit. „Das Verhältnis der seelischen Innenwelt zum Organischen und zum ganzen Stufenreich der Natur ist kein Überformungsverhältnis, sondern ein Überbauungsverhältnis." Der Unterschied von Überformung und Überbauung im stufenförmigen Aufbau der realen Welt ist ein grundlegender. Wir sehen, wie genau er auf die Grenzen der Wiederkehr im Verhältnis der Kategorien zutrifft. „Gerade die Grenzscheide des Organischen und des Seelischen, an der das Überformungsverhältnis abreißt, ist auch die Grenze, an der die Räumlichkeit, die materielle Substanz, die Naturgesetzlichkeit, das mathematische Verhältnis u. a. m. endgültig aufhören. Bis hierher kehren die niederen Kategorien alle in den höheren wieder; von hier ab aber bleibt ein wesentlicher Bestand von ihnen zurück, und wenn man von den Fundamentalkategorien absieht, gehen nur wenige von ihnen in den Verband der höheren Kategorienschichten über. " Jetzt ist es sehr wichtig, sich die Verhältnisse zwischen dem seelischen und dem geistigen Sein zu vergegenwärtigen. Oberhalb des seelischen Seins gibt es aller Wahrscheinlichkeit nach keine reinen Überformungsverhältnisse mehr. 10 Die psychischen Akte sind nicht Elemente, sondern Träger der geistigen Gehalte. Diese geistigen Gehalte treten von vornherein in einer gewissen Ablösbarkeit von ihnen auf. Darin besteht wesentlich ihre Objektivität, ihre Unabhängigkeit vom einzelnen Träger, ihre Mittelbarkeit und die Gemeinsamkeit der übergreifenden geistigen Sphäre. Das geistige Sein steht 9 10

Zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e. S.485-488. Zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e. S. 487 - 489.

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2. Teil: Der Begriff der kritischen Ontologie

trotz engster Verbundenheit mit dem seelischen Sein nicht im Überformungsverhältnis zu ihm, sondern in einem Überbauungsverhältnis. Wenn wir das Verhältnis des objektiven Geistes zum personalen Geist - es geht schon um ein Verhältnis innerhalb des geistigen Seins selbst - untersuchen, so sehen wir, daß die wichtigsten Kategonen des personalen Geistes, wie Bewußtsein, Wille, Vorsehung, Zwecktätigkeit, Freiheit, nicht auf den objektiven Geist ohne weiteres übergehen. Es gibt kein Gemeinbewußtsein im eigentlichen Sinn des Wortes über dem Bewußtsein der Individuen, und weil Wille, Aktivität, Freiheit an ein konkretes Bewußtsein gebunden sind, so kehren auch sie am Gemeingeist nicht wieder. An ihrer Stelle stehen die gemeinsamen Tendenzen, Interessen, Erfordernisse und mancherlei anderes. Aber Entscheidung, Initiative und Aktivität liegen nicht bei der Menge, sondern stets beim personalen Geiste, der i n Gestalt einzelner Individuen die Führung übernimmt. Aus diesen Beispielen geht hervor, daß das Überbauungsverhältnis im Aufbau der realen Welt nicht auf die Grenzscheide zwischen dem organischen und seelischen Sein beschränkt ist. Das Überbauungsverhältnis tritt höher hinauf noch mehrfach auf, und zwar nicht bloß an Schichtengrenzen selbst, sondern auch innerhalb der Schichten am Verhältnis der besonderen „Sphären". „Überhaupt scheint es, daß im ganzen Schichtenbau der Welt die niederen Stufen durch Überformen, die höheren aber vorwiegend - ob ganz, das läßt sich einstweilen nicht entscheiden - durch Überbau miteinander verbunden sind." Die Form der Überlagerung im Schichtenbau der Welt ist daher keine einheitliche. Bei der einen Form (bei der Überformung) geht die ganze kategoriale Struktur der niederen mit in die der höheren über. Bei der anderen (bei der Überbauung) ist dem nicht so. Die zweite Form w i r k t wie ein Filter: sie läßt nur bestimmte Kategorien durch in die höhere Schicht, die übrigen scheidet sie aus. Das Einsetzen des „Überbaus" ist ein solches des Heterogenen, das die niederen Gebilde zwar voraussetzt, aber nicht in sich aufnimmt. Die Kategorien, die über die Grenzscheide hinweg in Kraft bleiben, sind nicht spezifische Kategorien von Gebilden, die nur als Elemente in höhere Formung eingehen können, sondern von vornherein Prinzipien mit allgemeiner Geltung. Ohne das Gesetz der Wiederkehr gäbe es keinen angebbaren Zusammenhang zwischen Materie und Leben, Leben und Bewußtsein, seelischem A k t und geistiger Schöpfung. Die Einheit der realen Welt ist die Einheit einer Ordnung und eines Zusammenhanges.11 Die Form ihrer Ordnung ist die Schichtung, die ihres Zusammenhanges die kategoriale Wiederkehr.

§11. Grundsätze der kategorialen Gesetzlichkeit

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Klar sichtbare Grenzen der Wiederkehr kann man dort feststellen, wo die Überformung nicht mehr existiert und durch das Überbauungsverhältnis ersetzt ist. 1 2 Das beobachten w i r an der Grenzscheide des organischen und des seelischen Seins und an der Grenzscheide des seelischen und geistigen Seins. Wir haben aber noch höher hinauf eine ähnliche Grenzscheide, die durch die Mitte des geistigen Seins führt und den personalen Geist von dem objektiven Geist trennt. Das geschichtliche Leben des objektiven Geistes ist nicht aus den geistigen Aktvollzügen geschaffen, sondern „ruht" nur auf ihnen wie auf seiner Grundlage. Die Sprache, das Recht, die Moral, die Sitte, die Wissenschaft, erschöpfen sich nicht in irgendeinem Bewußtsein, sondern der Einzelne übernimmt sie aus der gemeinsamen geistigen Sphäre, in welche er hineinwächst, und tradiert sie weiter. Er bringt seinen Beitrag zum geschichtlichen Prozeß des objektiven Geistes, aber er schafft nicht seine Sprache, seine Sitte, Moral, sein Recht oder seine Wissenschaft. Gleichzeitig beobachten w i r aber, 13 daß gewisse Kategorien an gewissen Grenzscheiden der einzelnen Schichten des realen Seins verschwinden und nicht in die höhere Schicht des Seins eindringen. Das, was in Wirklichkeit im Wesen der höheren Schicht affirmativ ist, besteht nicht in dem Umstand, daß niedere Kategorien wegfallen, sondern in der Tatsache, daß neue, höhere Kategorien erscheinen. Eben dies drückt das vierte Schichtungsgesetz - das Gesetz des Novums aus. Das Gesetz der Wiederkehr und das Gesetz des Novums bilden gemeinsam den Formtypus der kategorialen Schichtung. Jedes von ihnen ist der Ausdruck einer Seite in der Beziehung der Seinsschichten; von der Wiederkehr ist der Zusammenhang der Schichten abhängig; von dem Novum ist wieder ihre Unterschiedlichkeit abhängig. Das geistige Leben ist uns nur als durch die niedere Seinsschicht des seelischen Seins getragenes Leben gegeben.14 Das geistige Leben ist nämlich an das Bewußtsein der lebendigen Individuen gebunden, und auch wenn es als objektiver Geist weit die Grenzen des Bewußtseins transzendiert, bleibt es doch an die derzeitigen Bewußtseinsträger, d. h. an die Menschen gebunden, ruht auf ihnen; und auch wenn sie untergehen, lebt er weiter von anderen Individuen getragen. Und wenn w i r um eine Schicht im Schichtenbau der realen Welt nach unten herabsteigen, dann sehen wir, daß kein Bewußtsein ohne organischen Träger existiert, und wenn w i r noch weiter nach unten gehen, stellen w i r fest, daß kein organisches Leben existiert, welches nicht 11

Nicolai Hartmann, I.e. S. 492f. Zum folgenden Nicolai Hartmann, Neue Wege der Ontologie, in: Systematische Philosophie (hrsg. N. Hartmann), S. 260f. 13 Zum folgenden Nicolai Hartmann, Neue Wege der Ontologie, S.261-263. 14 Zum folgenden Nicolai Hartmann, Neue Wege der Ontologie, S. 264 - 275. 12

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2. Teil: Der Begriff der kritischen Ontologie

an einen Ausschnitt der anorganischen Natur mit Licht, Luft, Wasser und anderen Materialen gebunden wäre. Dieses Verhältnis des „Aufruhens" und des „Getragenseins" existiert also in allen Schichten des realen Seins, hängt nicht von einzelnen Kategorien ab und findet deshalb nicht dort die Grenzen, wo es nicht mehr um das Überformungsverhältnis, sondern um das Überbauungsverhältnis geht. Das höhere Sein hängt vom niederen Sein entweder so ab, daß es um ein Funktionsgebilde der Materie geht; w i r haben dann ein Verhältnis der Überformung. Oder es geht um ein Verhältnis des bloßen Tragens und Getragenseins und in diesem Fall haben w i r ein Verhältnis des Überbaues, wo das niedere Sein die Funktion der bloßen Grundlage hat, auf welcher die höhere Schicht einfach ruht. Beide Verhältnisse stehen aber in keinem Widerstreit mit der Selbständigkeit der höheren Form. Der Unterschied besteht nur in der Tatsache, daß die Funktion der Grundlage im Aufbau der realen Welt allgemeineren Charakter aufweist. Diese Funktion ist eine grundlegende, wenn wir eine kategoriale Gesetzmäßigkeit der Dependenz ausarbeiten wollen. Die niederen Kategorien sind „stärker" nicht nur, weil sie den Stoff für höhere Kategorien - wenn auch nur teilweise - bilden, sondern unabhängig davon, ob sie in die höhere Seinsschicht eindringen, ihre Grundlage, ihr Fundament bestimmen. Besonders klar kann man das an den höheren Gebilden, an Menschen, an der Gesellschaft, an der Geschichte beobachten. Diese Gebilde selbst sind geschichtete Gebilde und innerhalb dieser Gebilde ist - ebenso wie im Ganzen der realen Welt - der Geist durch das Bewußtsein, das Bewußtsein durch den Organismus, der Organismus durch das physisch-materielle Sein getragen. V. Auf dieser Grundlage formuliert Nicolai Hartmann die Gesetze der Dependenz in folgender Weise: 15 1. Das Gesetz der Stärke: die niederen Kategorien sind die stärkeren, die höheren die schwächeren; darum gibt es im Schichtenbau nur die Abhängigkeit der höheren von den niederen, nicht die der niederen von den höheren. Stärke und Höhe der Kategorien stehen im umgekehrten Verhältnis zueinander. 2. Das Gesetz der Indifferenz: 16 die Kategorien der niederen Schicht sind zwar ein Fundament für die höhere Schicht, sind aber im Verhältnis zu dieser höheren Schicht indifferent. Das niedere Sein ist gleichgültig gegen seine Überformung und Überbauung durch ein höheres; es setzt ihr 15

529. 16

Nicolai Hartmann, I.e. S. 265f.; derselbe, Der Aufbau der realen Welt, S. 518 Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, S. 529 - 538.

§11. Grundsätze der kategorialen Gesetzlichkeit

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keinen Widerstand entgegen, aber es verlangt oder involiert sie auch von sich aus nicht. Es hat in sich keine „Bestimmung" zum höheren Sein. Die niederen Kategorien haben Schichtenselbständigkeit gegen die höheren; sie determinieren zwar in gewissen Grenzen die höheren mit, aber dieses Determinieren ist ihnen als solchen durchaus äußerlich. Sie bestehen zurecht, auch wenn keine höhere Kategorienschicht sich über ihnen erhebt, in der sie wiederkehren oder Bedingungen im Sinne des Seinsfundaments sind. Kurz, die niederen Kategorien verhalten sich „indifferent" gegen die höheren - trotz deren Abhängigkeit von ihnen. Es geht um das Gesetz der Selbständigkeit der Schichten oder um das Gesetz der Indifferenz. 3. Das Gesetz der Materie: 11 nur in bestimmter Hinsicht ist das Höhere vom Niederen abhängig: entweder als Überformung des Niederen, wobei es selbst dessen kategoriale Struktur als Aufbauelement in sich aufnimmt, oder als Überbau, der des niederen Seins nur als eines tragenden Fundamentes bedarf. Die niederen Kategorien bestimmen die höhere Seinsschicht entweder als „Materie" oder als Seinsfundament. Sie begrenzen daher nur den Raum der Freiheit der höheren Kategorien, bestimmen aber nicht ihre höhere Form und ihre Besonderheit. 4. Das Gesetz der Freiheit: 18 es bleibt an jeder Schichtendistanz Spielraum für höhere Formung „oberhalb" der niederen. Dieser Spielraum ist das freie Feld möglicher Autonomie einer höheren Seinsschicht. Das Novum der höheren Kategorienschicht ist im Verhältnis zur niederen Schicht durchaus „frei". Trotz aller Abhängigkeit behält die höhere Schicht ihre Autonomie. Die übergeordnete Struktur dessen, was höher ist, hat freilich keinen Raum der Freiheit innerhalb des Niederen, sondern „über" dem Niederen. Von diesen Gesetzen der kategorialen Dependenz benehmen sich das erste und das vierte Gesetz, das Gesetz der Stärke und das Gesetz der Freiheit, im Verhältnis zueinander ähnlich, wie im Rahmen der Gesetze der Schichtung das Gesetz der Wiederkehr und das Gesetz des Novums 19 . Die Autonomie der höheren Schicht im Verhältnis zur niederen ist offenbar eine Funktion der neuen, höheren Kategorien, welche in höherer Schicht erscheinen. Die „Freiheit" drückt nur etwas anderes aus, nämlich daß „oberhalb" der niederen Seinsschicht ein Raum der Freiheit für eine höhere und inhaltlich reichere Formung neuer Art existiert. Das ist keineswegs etwas Selbstverständliches. Wie w i r schon erkannt haben, erscheinen in der höheren Seinsschicht nicht alle, sondern nur einige niedere Kategorien. 17 18 19

Nicolai Hartmann, I.e. S. 539 - 544. Nicolai Hartmann, I.e. S. 544 - 552. Nicolai Hartmann, Neue Wege der Ontologie, S. 266 - 269.

5 KubeS

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2. Teil: Der Begriff der kritischen Ontologie

Auch dort, wo es nicht um ein Verhältnis der Überformung, sondern um eines der Überbauung geht, also um ein Verhältnis, wo die niedere Seinsschicht die höhere nur trägt, ist die ontische Abhängigkeit durchaus einseitig und irreversibel. Das ist im zweiten Gesetz der Dependenz, im Gesetz der Selbständigkeit der Schichten, oder im Gesetz der Indifferenz, scharf ausgedrückt. Im Sinne dieses Gesetzes bildet zwar die niedere Seinsschicht eine Grundlage für die höhere Seinsschicht, ihre eigene Existenz besteht aber nicht in der Tatsache, daß sie die höhere Seinsschicht trägt, bzw. sich „indifferent" gegen sie verhält; sie ist nicht ein Mittel für sie zu irgendeinem Zweck, wie irrigerweise alle teleologischen Systeme von Aristoteles bis Hegel meinten; ihr gemeinsamer Fehler war der, daß sie das Gesetz der Stärke invertierten. Im Gegenteil, nur die höhere Schicht kann ohne die niedere nicht existieren. Diese Indifferenz bedeutet also eine totale Selbständigkeit der niederen Schicht im Verhältnis zu höheren Schichten. Die anorganische Natur existiert unabhängig und ist vollkommen gleichgültig dazu, ob ein Leben über ihr existiert oder nicht. Auch das Leben in unzähligen niederen Arten existiert ohne Gewissen. Das Bewußtsein existiert am Beginn der Menschheit ohne Geist. Das Gesetz der Stärke ist ein wahrhaft kategoriales Grundgesetz. Mit dem Gesetz der Materie ist es nicht mehr so einfach, da nicht alles niedere Sein Materie des höheren Seins bildet. 2 0 Wenn es sich um einen Überbau handelt, ist das niedere Sein nur bloßes tragendes Fundament und geht inhaltlich nicht in die höhere Form des Seins über; deswegen kehren nicht alle niederen Kategorien in der höheren Seinsschicht wieder. Im Gesetz der Materie geht es nur um die Feststellung, auf welche Momente der höheren Seinsschicht sich die kategoriale Dependenz eigentlich bezieht. In Wirklichkeit bezieht sich nämlich die Dependenz immer nur auf einige wenige Momente der höheren Form des Seins und bildet nur einen dünnen Faden der Abhängigkeit, und das auch dann, wenn alle niederen Kategorien wirken. Wenn die niedere Schicht nur Fundament für höhere Seinsschicht ist, wie es bei dem Überbauungsverhältnis der Fall ist, dann bezieht sich die Abhängigkeit nur auf die Existenz der niederen Schicht. Die höhere Seinsschicht ist dann keineswegs durch die Struktur der niederen Seinsschicht bedingt, sondern durch die bloße Existenz dieser niederen Seinsschicht. Das Gewissen und der Geist sind zwar durch das tragende Fundament bedingt, da sie nicht frei schweben können, sondern nur so existieren, daß sie auf dem Organismus aufruhen. Strukturell aber sind sie nicht an Formen und Prozesse des Organismus gebunden, weil sie diese Formen und Prozesse in sich als seine Elemente nicht annehmen. Aus diesem 20

Zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e. S. 269 - 271.

§11. Grundsätze der kategorialen Gesetzlichkeit

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Grund ist kein besonderes kategoriales Gesetz der „Grundlage" oder des Aufruhens nötig. Das Gesetz der Materie spielt bei komplex geschichteten Gebilden, wie z.B. beim Staat oder überhaupt bei juristischen Personen, und nicht in letzter Reihe beim Menschen selbst, eine bedeutende Rolle. Mit Hilfe dieses Gesetzes kann man die Verbindung einzelner Schichten des realen Seins, aus welchen diese komplexen und geschichteten Gebilde bestehen, besser begreifen. Das vierte Gesetz der Dependenz, das Gesetz der Freiheit, hat besonders mit dem Faktor der Unabhängigkeit in der Abhängigkeit zu tun. Dieser Faktor ist - neben der Erkenntnis, daß die niederen Kategorien die „stärkeren" sind - der bedeutendste von allen Gesetzen der Dependenz. Das Gesetz der Freiheit drückt nämlich aus, daß die höhere Seinsschicht ohne Rücksicht auf ihre Abhängigkeit von der niederen Seinsschicht doch selbständig ist. Die Freiheit in der Abhängigkeit bedeutet keinen Widerspruch. Alle echte Freiheit ist eine Freiheit „von etwas und im Gegensatz zu etwas". Dieses etwas muß den Charakter einer Bindung besitzen, „gegen" welche sich die Freiheit durchsetzt. Sonst wäre die Freiheit bloße Unverbundenheit, sie wäre also etwas Negatives. Der eigentliche Sinn der Freiheit ist das Übergewicht im Verhältnis zu etwas anderem. Dieses Übergewicht ist in der kategorialen Freiheit geradezu die Hauptsache. Die niederen Kategorien stehen im Übergewicht nur, was die Stärke betrifft (das Gesetz der Stärke), sind aber ärmer, was die Struktur betrifft; sie lassen ganz ohne Entscheidung, ob sich etwas über ihnen befindet oder nicht. Denn „oberhalb" ihrer sind jene selben „stärkeren" Kategorien entweder nur Materie der Überformung oder gar nur Seinsfundament des Aufruhens. 21 Die höheren Kategorien vermögen „gegen" die niederen zwar nichts, „ m i t " ihnen aber alles, was nur immer an höherer Gestaltung sie aufbringen. Sie sind und bleiben zwar bei aller Autonomie in einer gewissen Abhängigkeit von ihnen, aber sie sind „frei" i n ihrer Abhängigkeit. Es ist ein Irrtum zu meinen, Abhängigkeit hebe alle Selbständigkeit auf. 22 Dieser Irrtum stammt - wie Nicolai Hartmann feststellt - aus dem deterministischen Vorurteil einer veralteten Metaphysik. Freiheit ist gerade die Selbständigkeit in der Abhängigkeit, Independenz in der Dependenz. Die höhere Formung hat ihren Spielraum nicht „ i n " der niederen, also nicht auf ihrer Seinshöhe, sondern „über" ihr. „Oberhalb" der niederen Seinsschicht haben die höheren Kategorien einen unbegrenzten Spielraum. 21 22

5'

Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, S. 548. Nicolai Hartmann, I.e. S. 546.

Dritter Teil

Das geistige Sein § 12. Zur Problematik des geistigen Seins; einige Erklärungsversuche I. Hier wird uns die höchste Schicht in dem stufenförmigen Aufbau der realen Welt, die Schicht des geistigen Seins, interessieren. Und dies aus dem Grunde, daß der Gegenstand unserer Untersuchung, nämlich das Recht, im überwiegenden Maße in das geistige Sein gehört. Auch der Staat gehört ähnlich wie das Recht - überwiegend in das geistige Sein, auch wenn er ein komplexes und mehr geschichtetes Gebilde ist. Auch die Personen im rechtlichen Sinn, ohne Unterschied, ob es sich um juristische Personen oder um physische Personen (Menschen) handelt, sind komplexe und mehr geschichtete Gebilde, die mit ihrem Kopf in das geistige Sein gehören. Das geistige Sein steht also im Mittelpunkt unseres Interesses. Wir stehen vor der Frage, was das geistige Sein oder - in einer anderen Terminologie der Geist überhaupt ist. II. Nicolai Hartmann, der der Problematik des geistigen Seins größte Aufmerksamkeit widmete, wendet gegen die Hegeische Auffassung des Geistes ein 1 , daß der Geist zwar „das höchste" (in der realen Welt) ist, aber daß dies noch keineswegs bedeutet, daß er als eine Vollkommenheit begriffen werden soll. Uns interessiert weder der göttliche Geist, an den Aristoteles dachte, noch der Hegeische absolute Geist. Unser Geist ist der, den wir kennen, er ist der unsrige, der endliche, der empirische Geist. Dieser Geist hat seine Geschichte und sein Schicksal. Dieser empirische Geist ist zweifellos nicht vollkommen. III. Oft - besonders in den älteren Theorien - findet man 2 die Behauptung, der Geist sei Vernunft. Gegen diese Auffassung kann man mit Recht einwenden, daß man vom Geist viel mehr weiß, als von der Vernunft selbst; 1 2

Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 3. Aufl., S. 5Iff. Zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e. S. 53f.

§1.

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des geistigen Seins

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man kann also viel eher noch Vernunft durch Geist als Geist durch Vernunft bestimmen. IV. Auch die anthropologische Bestimmung des Geistes, nach der der Geist das spezifisch Menschliche im Menschen ist, und zwar im Gegensatz zum Materiellen, Organischen, Seelischen in ihm, ist unzureichend, auch wenn bzw. gerade deswegen, daß man hier schließlich zur geistigen Seite des Menschen rekuriert; so bewegen w i r uns nämlich im Kreise 3 . Unzutreffend ist auch der Versuch der „Lebensphilosophie" den Geist als Leben zu begreifen; dabei denkt man stillschweigend an das „geistige" Leben und daher geht es um eine Bestimmung „idem per idem". In der Auffassung des Psychologismus und gewissermaßen auch verschiedener idealistischen Theorien ist der Geist das Bewußtsein. Wie Nicolai Hartmann mit Hecht bemerkt 4 , das Bewußtsein gehöre irgendwie zum Geiste - wenn schon nicht alles geistige Sein Bewußtsein ist. Es gibt auch ein sehr ungeistiges Bewußtsein, wie wir es bei den höheren Tieren beobachten. Der Geist ist nicht aus dem Bewußtsein zu verstehen. Geistiges Sein ist keine psychologische Angelegenheit. In den Tendenzen des Psychologismus lag es, das Logische, die Erkenntnis, das große Gebiet des Ethos, des künstlerischen Schaffens, des Glaubens, des Rechts (wie z.B. Petrazycki) als seelisches Sein zu verstehen und aus psychologischer Gesetzlichkeit zu erklären. Aber auch die allgemeine Metaphysik des „Unbewußten" ist unhaltbar. 5 Das geistige Sein, ob bewußt oder nicht bewußt, erhebt sich über das Bewußtsein. Es ist die ontisch höhere Sphäre. Das Bewußtsein ist nur ein schmaler Streifen zwischen dem geistigen Sein und dem unbewußt Seelischen. Ebensowenig befriedigt Scheler's Konstruktion des geistigen Lebens als eines „Aktvollzugs", wo statt der Rationalität die Aktseite des geistigen Lebens hervorgehoben wird. Nach Scheler ist die „Person" Vollzieher der Akte. Ist nun etwa die Person nicht Geist? - fragt Nicolai Hartmann. 6 Offenbar doch erst recht. Also ist sie auch „ i m Vollzuge". Dann aber w i r d sie selbst von einem Vollzieher vollzogen. Im Vollzugsbegriff selbst muß der Fehler stecken. Er läßt sich offenbar nicht von den Akten auf den Geist übertragen. „Dann aber ist es - so Hartmann - auch falsch, daß der Geist in den Akten besteht, in denen er sich auslebt. Er geht offenbar nicht darin auf. Es geht nicht an, den Vollzieher der Akte selbst unter das Schema des Aktes zu subsumieren. Man w i r d umgekehrt das Wesen der Person als etwas Pri3

Zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e. 1. Aufl., S. 47f.; 3. Aufl., S. 55. Zum folgenden Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 3. Aufl., S. 48f. 5 Nicolai Hartmann, I.e. S. 49 - 51. 6 Nicolai Hartmann, I.e. S. 57. 4

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3. Teil: Das geistige Sein

märes, nicht durch Vollzug charakterisierbares zu verstehen haben. Dann w i r d es fruchtbar für den Begriff des Geistes. Denn was Personalität ist, läßt sich deskriptiv an Phänomenen - zumal den ethischen - erfassen." § 13. Ausgangspunkte für die Erklärung des geistigen Seins I. Bei der Erklärung des geistigen Seins muß man sich folgendes vergegenwärtigen: 1 1. Wenn w i r vom Geist sprechen, haben wir es ausschließlich mit dem Geist in den Grenzen unserer Erfahrung zu tun, mit dem, was allein w i r kennen und nachweisen können, dem „empirischen"Geist. „Wir haben uns an den Menschen und sein Geistesleben zu halten, wie es sich in der Mannigfaltigkeit seiner Erscheinungsformen darbietet." 2. Aller Geist, dem wir im Erfahrungsfeld begegnen, ist zeitlich gebunden. Der empirische Geist ist ein realer Geist. Hier kann man schon andeuten, in welchem Hauptpunkt w i r von Hartmann's Standpunkt abweichen. Hartmann begreift richtig den Geist als etwas, was Realität besitzt, weil es Zeitlichkeit inne hat, weil es also der Kategorie der Zeit unterliegt. Richtig ist es auch, gegen die Welt der Realität die „Welt" der Idealität zu stellen, wohin - nach unserer Auffassung - die Normideen (die Normidee der Wahrheit und Richtigkeit, die Normidee der Sittlichkeit, die Normidee des Rechts, die Normidee des Schönen - mit der Normidee des Guten, der konkreten Menschlichkeit an der Spitze) gehören. Hartmann selbst stellt allerdings gegen die Welt der Realität die Welt der Werte. Auch wenn w i r die große Belastung und Unklarheit des Termins „Wert" beiseite lassen, müssen w i r zwei Dinge scharf unterscheiden: erstens die der „Welt" der Idealität angehörenden Normideen, welche mit den Hartmannschen Werten korrespondieren, ewig und absolut sind und ein „schwebendes Sein" aufweisen, und zweitens die realen Ideen; einige von ihnen korrespondieren mit den oben angeführten Normideen - die reale Idee der Wahrheit und Richtigkeit, die reale Idee der Moral, die reale Idee des Rechts, die reale Idee des Schönen mit der realen Idee der konkreten Menschlichkeit an der Spitze, - andere, welche reale Konkretisierungen dieser führenden Ideen bedeuten, wie z.B. die reale Idee der Familie und Ehe, die reale Idee der Schuld und Haftung, die reale Idee der Demokratie, bzw. des Sozialismus, die reale Idee des Staates usw. nicht mehr. Die realen Ideen sind freilich nicht ewig, sondern sie entstehen, leben und gehen unter. Sie unterliegen der Kategorie der Zeit; diese realen Ideen gehören in das geistige Sein. 1 Zum folgenden Nicolai Hartmann, S. 59 - 66.

Das Problem des geistigen Seins, 3. Aufl.,

§13. Ausgangspunkte für die Erklärung des geistigen Seins

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3. Es gibt, soweit unsere Erfahrung reicht, keinen „schwebenden Geist". Aller Geist, den w i r kennen, ist „aufruhender Geist". So hängt er unaufhebbar mit der Schichtung der realen Welt und mit den kategorialen Gesetzen zusammen. „Wir kennen kein geistiges Sein, das nicht von dem seelischen Sein getragen wäre, und da das seelische Sein schon vom Organischen getragen ist, so geht die Schichtung des Realen weiter bis zum Materiellen." II. Dieses Verhältnis des Getragenseins und des Aufruhens ist eine durchgehende ontische Abhängigkeit, von der w i r in der Welt, wie sie ist, keine Ausnahme finden. Sie tangiert nicht die Autonomie der höheren Schicht, also auch nicht die der höchsten, des geistigen Seins. Die Autonomie ist allerdings keine Abgelöstheit. Die Bedingtheit von unten her wird nicht durch Eigenart und Eigengesetzlichkeit des Geistes durchbrochen. Die Meinung aber, das geistige Sein müsse, weil sein Bestehen in der Welt vom niederen Sein her bedingt und getragen ist, als eine Folge aus ihm angesehen werden, und aus ihm „erklärt" werden können, ist unrichtig. III. Alle diese „Ismen" begreifen den Geist zu Unrecht als gewisses Compositum. Die Geistesphänomene sind etwas Hochkomplexes, sie bilden aber kein bloßes Compositum. Man findet in ihnen stets spezifisch geistige Komponenten, die sich in keiner Weise auf Seinsformen ungeistiger Art reduzieren und aus ihnen allein verstehen lassen. „Furcht, Hoffnung, Vertrauen, Denken lassen sich genauso wenig in psychische wie in materielle Elemente zerlegen. Erst recht nicht die höheren Einheiten des Geisteslebens, Person, Gemeinschaft, geschichtlicher Geist", 2 und freilich auch nicht das Recht. Man kann gewiß nicht bestreiten, daß der Geist im „Aufruhen" wohl gewisse Bestimmtheiten des niederen Seins aufnehmen muß; er kann sie nicht aufheben, weil er von Gebilden getragen ist, die in ihnen gefangen sind (so die Zeitlichkeit, Endlichkeit, Zerstörbarkeit u.a.m.). Die niederen Kategorien erweisen sich auch an ihm als die „stärkeren". Aber damit ist ihre Bedeutung für den Geist auch erschöpft. Der Geist ist keineswegs bloße Komplexion „aus" diesen niederen Kategorien. Es gibt stets Momente seiner eigenen Sphäre, und gerade diese machen das Eigentümliche an ihm aus. In ihnen liegt das kategoriale Novum des geistigen Seins, seine ontische Autonomie. Der Geist weist ohne Rücksicht darauf, daß er auf der niederen Seinsschicht (auf dem seelischen Sein) aufruht, den Charakter der vollsten Eigengesetzlichkeit auf. Den Geist aus niederen Seinsschichten zu erklären, ist ein Ding der Unmöglichkeit. 3 2 3

Dazu und zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e. S. 61 f. Nicolai Hartmann, I.e. S. 62.

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3. Teil: Das geistige Sein

Das geistige Sein ist - ganz ähnlich wie das seelische oder das organische Sein - „getragenes" und zugleich „autonomes" Sein. Es weist also einen Doppelcharakter als den ontologischen Ausdruck für seine Stellung im stufenförmigen Aufbau der realen Welt auf. 4 Autonomie bedeutet keine Abgelöstheit. In der Wirklichkeit gehen immer Abhängigkeit und Autonomie zusammen. Die konkreten Fälle sind immer so beschaffen, daß unaufhebbare Determiniertheit nach einer bestimmten Seite oder Richtung der Freiheit nach anderer Seite Spielraum läßt. Das höhere Gebilde ist das Abhängige und zugleich in der Abhängigkeit eminent Selbständige. „Der Fehler ist, daß man immer geneigt ist, das autonome Gebilde als »schwebendes' ohne ,Aufruhen' zu verstehen, das Abhängige aber als »zerlegbar' in die Faktoren, von denen es abhängt. Auf beiderlei Weise verfehlt man das Wesen des Geistes. Für dieses ist gerade das Aufruhen der unzerlegbar autonomen Struktur charakteristisch." In der realen Welt handelt es sich nicht um eine Alternative von „Gott oder Materie", sondern um einen mannigfaltig gegliederten Stufenbau der Seinsschichten, in dem es von Schicht zu Schicht ein sehr eigentümliches Ineinandergreifen von Abhängigkeit und Eigentümlichkeit gibt. In diesem stufenförmigen Aufbau der realen Welt gibt es keine „Allmacht" einer Seinsschicht - weder einer höheren, noch einer niederen. Die Gesetze der Materie sind Alleinherrscher nur in ihrem Reich; darüber hinaus sind sie nur tragendes Fundament; sie beherrschen das Getragene nicht. 5

§ 14. Die drei Grundformen des geistigen Seins (der personale, der objektive und der objektivierte Geist) und die Einheit des Geistes I. Im Sinne der kritischen Ontologie und besonders der Auffassung des geistigen Seins bei Nicolai Hartmann, von dessen Lehre w i r bei der Feststellung, wohin das Recht mit seinem Wesen gehört, ausgehen, ist es notwendig, in der höchsten Schicht der realen Welt, in der geistigen Seinsschicht, den persönlichen Geist, den objektiven Geist und den objektivierten Geist zu unterscheiden. 1 Den personalen Geist kennen w i r nur in uns, in den menschlichen Individuen. Der persönliche Geist ist der Geist eines Einzelmenschen. Nur der persönliche Geist kann lieben und hassen, nur er hat ein Ethos, trägt Verantwortung, Zurechnung, Schuld und auch Verdienst. Nur der persönliche 4

Zum folgenden Nicolai Hartmann, 1. e. S. 62 ff. Nicolai Hartmann, I.e. S. 65f. 1 Zum folgenden Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 3. Aufl., S. 45ff., 7Iff., 88ff., lOlff., 124ff., 175ff., 406ff. 5

§1.

ede

r u n d e s

geistigen Seins

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Geist hat Bewußtsein, Voraussicht, Willen, Selbstbewußtsein; nur er ist imstande vorauszubestimmen, nur er ist der Zwecktätigkeit (der Teleologie) mächtig, nur er hat das Gefühl für Normideen, nur er hat „organ du coeur" (in Pascals Sinne), nur er ist fähig, die kategorische Pflicht der Normideen, obgleich nicht im vollen Maße, zu verwirklichen, in die reale Welt zu überführen. Und das alles im primären und eigentlichen, nicht im übertragenen Sinne. Der personale Geist ist ein lebendiger und teilt diese Lebendigkeit mit dem objektiven Geist, wenn es sich auch bei beiden um eine verschiedene Form und Seinsart dieser Lebendigkeit handelt. Der personale Geist ist ein lebendiger, realer Geist. II. Der objektive Geist ist vom persönlichen Geist verschieden. Es geht um ein Phänomen anderer Größenordnung. Der objektive Geist ist weder Subjekt oder Person, noch Akt, Bewußtsein, Selbstbewußtsein. Der objektive Geist ist etwas, was schon real vorhanden ist, etwas, in das der Mensch mit seinem persönlichen Geist hineinwächst, etwas, das er als schon fertiges, aber trotzdem sich fortwährend änderndes vorfindet, etwas, das den geschichtlichen Änderungen unterliegt. Nur der objektive Geist ist Geschichtsträger im strengen und primären Sinn; nur er ist es, der eigentlich „Geschichte hat". Nur er ist überindividuell-gemeinsamer und doch zugleich realer Geist; zugleich ist er lebendig. Die Zeitlichkeit und Vergänglichkeit teilt er, wie mit allem Lebendigen und auch dem Geistlosen, so auch mit dem lebendigen personalen Geist. Sein Leben bewegt sich nur in einem anderen Tempo. Alles, was w i r unter die breite Bezeichnung „Geisteswissenschaften" subsumieren, hat in erster Linie den objektiven Geist zu seinem Thema. Nur zur vorläufigen Klärung, was man unter dem objektiven Geist zu verstehen hat, darf man anführen, daß in den objektiven Geist das Rechtsempfinden (Rechtsüberzeugung, Rechtsbewußtsein) des Volkes der betreffenden Rechtsgemeinschaft, das moralische und künstlerische Empfinden, die Sprache, das politische Leben, der Glaube und das Wissen gehören. Wir sprechen vom Volksgeist und auch vom Geist des Hellenismus, der Renaissance usw. Der objektive Geist ist der Geist eines lebendigen Volkes oder einer ganzen Gruppe von Völkern. Er ist durch den Körper des Volkes (der Völker) getragen; Völker, Staaten, Menschheit als solche sind freilich selbst nicht etwa Geist. Aber ohne Geist wäre das Geschehen, welches sich in ihnen und über sie abspielt, keine Geschichte. Der Geist hat freilich seine Geschichte. Beim objektiven Geist geht es immer um etwas Konkretes, auch wenn wir ihn ohne weiteres nicht erfassen können. Der objektive Geist ist nicht etwa mit einzelnen Individuen identisch; jedes von diesen Individuen hat doch seine Eigenart.

3. Teil: Das geistige Sein

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Der objektive Geist hat seine geschichtliche Realität, hat sein Sein in gewisser Zeit, ist mit seiner Existenz an die Zeit gebunden. Auch der objektive Geist gehört der realen Welt an, hat kein „schwebendes" Sein; es geht also um nichts, was dieser Welt transzendent wäre. Der objektive Geist ebenso wie der personale Geist hat seine Existenz, seine Individualität, seine eigene kategoriale Form der Identität, welche immer von ihm geschaffen werden muß, hat seine Zeitlichkeit und Endlichkeit. III. Der objektivierte Geist ist ein Geist, der in gesetzgeberischen, literarischen, künstlerischen, einfach in den Produkten des geistigen Schaffens enthalten ist. Zuerst möchte ich die Stellung von Nicolai Hartmann zum objektivierten Geist anfûhrèn, der ich allerdings nicht ohne weiteres zustimmen kann. Hartmann sagt 2 : „Da nun der geistige Gehält der ,Werke' - in Schrift oder in künstlerischer Form festgehalten - über den Strom realen geschichtlichen Lebens erhoben, gleichsam in die Idealität erhoben, dasteht, und in dieser seiner Erhobenheit dem Wandel des lebenden Geistes in der Geschichte standhält, so läßt sich von ihm sagen, daß er auch der Realität überhoben ist; wie denn das im geschaffenen Werk Dargestellte eben nur dargestellt und nicht realisiert ist, auch nicht als real vorgetäuscht ist. Man darf also weiter sagen: nur der personale und der objektive Geist sind realer Geist, der objektivierte ist es nicht; und was an den geformten Werken real ist, das ist nicht ihr geistiger Gehalt, sondern nur die geformte ,Materie', i n der er festgehalten ist (die Schrift, der Stein mit seiner Raumform). Realität also hat nur der ,lebende' Geist, der dem Leben enthobene und in einer Materie fixierte ist durchaus irrealer Geist" Meiner Ansicht nach ist diese ganze Argumentation Nicolai Hartmanns nicht richtig. Auch der objektivierte Geist ist ein realer Geist. Der Fehler Hartmanns besteht darin, daß er den „geistigen Inhalt" des Werkes (z.B. eines Kodexes), also die „hintere Seite", von dem Material selbst, in oder auf welchem der geistige Inhalt enthalten ist, trennt. Und gerade das ist unrichtig. Der objektivierte Geist ist nicht nur der „geistige Inhalt", die „hintere Seite", der „Hintergrund" des Werkes, sondern das Ganze des Werkes, also die „hintere" und die „vordere" Seite (der „Vordergrund") zusammen und in einer Einheit. Die „hintere Seite" (der „Hintergrund") und die „vordere Seite" (der „Vordergrund") eines Werkes zusammen und als eine Einheit — das ist der objektivierte Geist. Die Richtigkeit meiner Argumentation geht nebenbei auch aus weiteren Ausführungen von Nicolai Hartmann selbst hervor. Er schreibt 3 : „Selbst2 3

Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 72 (von mir unterstrichen). Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 72f.

§14. Die drei Grundformen des geistigen Seins

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verständlich gibt es nicht dreierlei Geist nebeneinander, oder gar unabhängig voneinander. Es gibt nur das eine, einheitliche geistige Sein, ungeteilt und unteilbar. In dieser Einheit ist die dreierlei Seinsform des Geistes immer schon enthalten, ineinander verwoben und durchaus untrennbar. Es handelt sich nicht um Teile eines Ganzen, oder um Glieder eines Gefüges, geschweige denn um Bausteine oder Elemente. Eher paßt schon das Bild von den verschiedenen Seiten' eines und desselben Gebildes. Aber auch das ist ein hinkender Vergleich. Es sind drei Grundkategorien desselben geistigen Seins. Und das ist es, was mit dem Ausdruck ,Seinsformen' gemeint ist." Also: auch der objektivierte Geist ist ein Bestandteil, eine Grundkategorie, eine Seinsform des Geistes, des geistigen Seins, welches i n vollstem Sinne des Wortes real ist. Das alles zusammen stellt sich als eine Einheit des realen Seins vor. Und auch unmittelbar folgende Ausführungen Hartmanns scheinen meine Auffassung von der Realität des objektivierten Geistes zu bestätigen: „Nur der objektivierte Geist aber ragt ins Zeitlose hinein, und damit ins Ideelle und Übergeschichtliche. Sein Verhältnis zur Zeit und zur Geschichte ist ein anderes. 4 Seine Schicksale sind die des Ideenhaften und an sich Zeitlosen im zeitlichen Prozeß." 5 Später werde ich versuchen, diese meine Argumentation, die für die Auffassung des Wesens des Rechts ungemein wichtig und geradezu grundlegend ist, weiter auszuführen. IV. Es existiert also ein einheitliches geistiges Sein, und erst in dieser Einheit ist die dreifache Form des Seins des Geistes enthalten. Diese Einheit ist untrennbar; es handelt sich nicht etwa um etwaige Glieder eines Gebildes, und auch nicht um etwaige Bausteine oder Elemente, sondern es geht um ein besonderes Verhältnis der wechselseitigen Ergänzung, wo die eine Form auf die andere verwiesen ist. Alle Akzentierung nur einer Form des Geistes - des persönlichen oder des objektiven oder des objektivierten Geistes - führt auf Abwege. 6 Der personale und der objektive Geist sind gewiß voll lebendig; sie beide zusammen machen den „lebenden Geist" aus. Mit dieser gemeinsamen Seinsform wurde ihnen von Nicolai Hartmann der Seinsmodus der Realität zugesprochen. Realität ist weder Wirklichkeit, noch die Gegebenheit, noch Dinglichkeit. 7 4

Wieder „zur Zeit"; Aber doch handelt von mir unterstrichen. 6 Nicolai Hartmann, 7 Nicolai Hartmann, 5

Nicolai Hartmann, I.e. S. 73f. es sich um ein Verhältnis des objektivierten Geistes zur Zeit; I.e. S. 74. Das Problem des geistigen Seins, 3. Aufl., S. 81.

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3. Teil: Das geistige Sein

Die neue, kritische Ontologie zeigt daher, daß das geistige Sein ein reales Sein ist und daß die Realität keineswegs mit der Materialität identisch ist. 8 Die wirklichen Merkmale der Realität sind keineswegs an die Kategorien des Raumes und der Materie gebunden, sondern an die Kategorien der Zeit und der Individualität. Die kritische Ontologie zeigt, daß der Raum und die Zeit ontologisch nicht gleichwertig sind, sondern daß die Zeit eine fundamentalere Kategorie ist als der Raum. Alles Reale unterliegt der Kategorie der Zeit. Und wieder müssen wir zu der fundamentalen Frage zurückkehren, ob der objektivierte Geist (Rechtsgeist) ein reales oder irreales Sein aufweist. Hartmann schreibt 9 : „Der personale und der objektive Geist haben die Lebendigkeit gemeinsam, wie verschieden auch deren Form und Seinsweise in ihnen sein mag. Der objektive und objektivierte Geist dagegen haben dieses gemeinsam, daß sie überpersönlich und überindividuell sind. Einzelgeist ist nur der personale; nicht lebendiger Geist ist nur der objektivierte. Jenen kennen wir in uns menschlichen Individuen, diesen in den Produkten geistigen Schaffens, in geformten Gebilden und „Werken", die als solche natürlich nicht leben und Wandel haben, sondern »fixierter' geistiger Gehalt sind." Wir müssen folgendes einwenden: Dieser „fixierte" geistige Gehalt ist nur bis zu einem gewissen Maß aus dem Strom des realen Lebens herausgehoben. Es wird sich zeigen, daß der objektivierte Geist (Rechtsgeist) an der Realität vor allem in zweifacher Art teilnimmt: Erstens ist er in einem Material (in der Schrift, im Marmor) „inkorporiert" und teilt mit ihm das Schicksal. Zweitens ist er mit seiner ganzen Existenz auf den „wahrnehmenden" personalen Geist, auf den Menschen, der selbst ein komplexes und mehrschichtiges Gebilde ist, verwiesen. Und weiters: Es ist zwar vollkommen richtig, daß der objektivierte Geist ins Zeitlose hineinragt, und damit ins Ideelle und Übergeschichtliche, aber es geht um eine Tendenz zur betreffenden Normidee. Ansonsten ist es interessant, daß Hartmann selbst sagt, 10 daß Schicksale des objektivierten Geistes im zeitlichen Geschichtsprozeß verlaufen. Und endlich: Nach Hartmanns Feststellung selbst ist es gleichgültig, ob man auf den Widerstand des Eisens oder den der bestehenden Satzung, also der bestehenden Rechtsordnung stößt, immer handelt es sich um „dieselbe Realität des Widerstehens." n Diese Dreigliedrigkeit und doch Einheit des geistigen Seins ist mit voller Klarheit an dem Phänomen des Rechtlichen bemerkbar. Das Recht - wie sich zeigen w i r d - gehört vor allem in das geistige Sein, und zwar in jene 8

Nicolai Hartmann, Neue Wege der Ontologie, S.217-219. Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 3. Aufl., S. 72. 10 Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 73. 11 Siehe oben.

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§15. Der Geist und die Normideen

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Sphäre des geistigen Seins, für welche die sog. abgeleitete Normativität charakteristisch ist. Das Recht (die Rechtsordnung) ist eine Art des objektivierten Geistes, ist objektivierter Rechtsgeist, der durch das Rechtsbewußtsein, durch die Rechtsüberzeugung, durch das Rechtsempfinden des Volkes der betreffenden Gemeinschaft, also durch den objektiven Geist (Rechtsgeist) getragen ist und ihn gegenseitig auch trägt. Dieser objektive Rechtsgeist trägt wieder und zugleich ist er auch durch das Rechtsbewußtsein der einzelnen konkreten Menschen als Subjekte und Personen mit ihrem Selbstbewußtsein, Voraussetzung, Vorausbestimmung, Zwecktätigkeit, mit ihren „organ du coeur" für die Stimme der idealen Normideen und realen Ideen und mit ihrer Fähigkeit, diese kategorische Stimme in die Welt der Realität zu überführen, mit ihrer Freiheit des Willens und Verantwortlichkeit - kurz durch ihren personalen Geist getragen. V. Das ganze geistige Sein hat vor allem mit dem seelischen Sein die Zeitlichkeit gemeinsam. Diese Zeitlichkeit verbindet auch den Geist mit geistlosem Sein. 12 Die Zeitlichkeit ist ein gemeinsames Verbindungsmittel für alle Schichten des realen Seins. Nur die Zeit und in deren Rahmen der Prozeßcharakter konstituieren die Einheit der realen Welt. Die Prozessualität ist die an der Seinsform selbst wiederkehrende Zeitlichkeit. 1 3 Der Raum ist keine Realkategorie des Geistes, wohl aber seine Anschauungskategorie, wie Nicolai Hartmann feststellt. 14

§ 15. Der Geist und die Normideen; die Herrschaft des Geistes und seine Abhängigkeit I. Die mächtige Abneigung gegen die Verwendung des Begriffes „Geist" überhaupt, gegen jedes Operieren mit ihm, die immer noch bei manchen philosophischen und rechtsphilosophischen, sowie bei soziologischen und rechtssoziologischen Richtungen merkbar ist, hat ihren Hauptgrund in der Tatsache, daß sich die Mehrzahl der philosophischen Richtungen bei ihren Betrachtungen über den Geist auf den Boden der Metaphysik, Mystik, Religion stellte. Das geistige Sein, der Geist, wurde nicht als eine Schicht des realen Seins, nämlich als das höchste Stockwerk des hierarchischen Aufbaues der realen Welt angesehen, sondern als etwas „aus der anderen Welt". Noch im X X . Jahrhundert wird der Geist mit reinen Wesenheiten oder - in 12 Zum folgenden Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 3. Aufl., S. 85 ff. 13 Nicolai Hartmann, l.c.,1. Aufl., S. 76. 14 Zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 93ff.

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3. Teil: Das geistige Sein

unserer Terminologie - mit den Normideen, die freilich nicht in die reale Welt, sondern in das Reich der Idealität gehören, identifiziert. So z.B. sahen die Schule der Reinen Rechtslehre (die normative Theorie), besonders beide Hauptvertreter und Begründer dieser Schule Hans Kelsen und Franz Weyr, im Recht einen Inbegriff von Normen und in der Norm erblickten sie das reine Sollen, den Wert, den Geist, was alles nach ihrer Meinung in das Reich der Idealität gehört. II. Das ist ganz unrichtig. Der Geist, das geistige Sein, wohin überwiegend das Recht gehört, ist etwas Reales; das Leben des Geistes ist ein reales, zeitliches Leben und zwar im Unterschied zum idealen, zeitlosen, ewigen „Sein" der Normideen. Später kommen w i r zur Klärung der großen Frage, was Normideen überhaupt sind, zur Frage, ob es einen Sinn hat mit ihnen zu arbeiten. Hier genügt es vorläufig nur folgendes anzudeuten: Alles, was „positiv" ist, hat eine notwendige, immanente Tendenz zur Vollkommenheit, zur Idealität. Im Unterschied zu Nicolai Hartmann bin ich der festen Überzeugung, daß w i r von der grundlegendsten Voraussetzung ausgehen müssen, daß es nicht nur bei den Individuen im Durchschnitt um eine aufsteigende Tendenz auf dem unendlichen Weg zur Erreichung der Vollkommenheit geht, sondern auch im geschichtlichen Ausblick, mit Rücksicht auf die Menschheit als ein Ganzes. Nicolai Hartmann ist der Ansicht, 1 daß es nicht möglich ist, durch ein Studium der Phänomene festzustellen, ob sich die Menschheit auf dem Wege zur Vollkommenheit oder - anders ausgedrückt - zu den Normideen bewegt. Ich habe schon einmal angeführt 2 , daß Nicolai Hartmann in dieser Formulierung selbstverständlich Recht hat; durch das Studium der Phänomene kann man diese Frage nicht mit einem stichhaltigen Grund beantworten. Hier handelt es sich aber nicht um eine Frage des Studiums der Phänomene, sondern um die fundamentalste Voraussetzung der Philosophie und jeder Wissenschaft überhaupt. Ich versuchte zu zeigen, daß jede wissenschaftliche Tätigkeit ohne diese Voraussetzung undenkbar, ja widersinnig wäre. Widersinnig wäre das ganze menschliche Streben, widersinnig wäre das ganze menschliche Leben. Die immerwährende Tendenz zur Vollkommenheit finden w i r nicht nur in der Platonischen Utopie, sondern auch in der, auf dem sehr nüchtern realistischen Boden gewachsenen Vertragstheorie von Epikur. 3 Aber auch Aurelius Augustinus hat den Gedanken der Tendenz zur Vollkommenheit, den Gedanken des Aufstieges als das Durchdringen und die Ausbreitung des 1

Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 1. Aufl., 1933. Vladimir KubeS, Grundfragen der Philosophie des Rechts, 1977, S. 33 ff. 3 Zum folgenden Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 3. Aufl., S. 3 ff. 2

§ 16. Zum personalen Geist; die Person und ihre Entscheidung

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Reiches Gottes auf Erden gezeichnet. Denselben Gedanken finden w i r in Herders Idee eines universalen Entfaltungsprozesses, in Kants Idee des moralischen Endzweckes, in seiner Idee des Hindrängens zur „Freiheit unter äußeren Gesetzen", sowie in den spekulativen Systemen des deutschen Idealismus des ersten Drittels des X I X . Jahrhunderts (Fichte, Schelling, Hegel). Fichte sieht 4 im weiteren Lauf der Weltgeschichte ein Zeitalter der beginnenden Rechtfertigung und Heiligung heraufkommen, an dessen Schwelle er sein eigenes philosophisches Wirken erblickt. Als letzte Epoche steht dann bei ihm die vollkommene Synthese dessen da, was vom Anbeginn im Grunde eins war, die Synthese von Freiheit und Vernunft, das goldene Zeitalter der Zukunft, die vollendete Rechtfertigung und Heiligung. - Nach Hegel gibt es realgeschichtlich nur den stetigen und innerlich notwendigen Gang des objektiven Geistes.5 Aber auch der materialistischen Geschichtsauffassung, nach der die w i r t schaftlichen Mächte die entscheidende Rolle spielen, liegt der optimistische Zug der Tendenz zur Vollkommenheit zugrunde. III. In dieser fundamentalsten und zugleich notwendigen Voraussetzung der immanenten Tendenz des Menschen und der Menschheit zur Vollkommenheit, zu den Normideen, ist auch die Freiheit des Willens verankert. Im weiteren Verlauf der Arbeit werden w i r auch zu diesem Grundproblem des menschlichen Denkens Stellung nehmen. Dabei wird es sich auch zeigen, daß die Willensfreiheit nur i n der Abhängigkeit existiert und existieren kann. In diesen zwei Grundvoraussetzungen - in der Grundvoraussetzung der ewigen Tendenz zur Vollkommenheit (zu den Normideen) und in weiterer Grundvoraussetzung der Freiheit des Willens - ist die ganze Gegebenheit des Sollens und überhaupt die Konstruktion zweier Welten (der realen und der idealen Welt) begründet.

§ 16. Zum personalen Geist; die Person und ihre Entscheidung I. Der personale Geist ist in die Aktualität des Lebenszusammenhanges einbezogen; er handelt und leidet, er wartet und fürchtet, sorgt sich und hofft, schafft und ringt. 1 Trotz der Mannigfaltigkeit dieser Akte und Beziehungen, geht es doch um eine Einheit des geistigen Einzelwesens, die wir im Leben als „Person" bezeichnen. 4

S. 5. 5

Fichte, Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, 1806; Nicolai Hartmann,

I.e.

Vgl. Nicolai Hartmann, I.e. S. 9. Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 1. Aufl., S. 107 - 109, 114 116, 3. Aufl., S. 124ff., 132ff. 1

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3. Teil: Das geistige Sein

Wir unterscheiden sie dadurch von der Sache, dem Organismus, dem Seelenleben und dem Bewußtsein. „Unter Personen verstehen w i r die menschlichen Individuen, sofern sie als handelnde, redende, wollende und strebende, als Vertreter ihrer Meinungen, Einsichten, Vorurteile, als Wesen mit Ansprüchen und Rechten, Gesinnungen und Wertungen irgendwie Stellung nehmen." 2 II. Der Mensch steht dem Menschen nicht als Subjekt, sondern als Person gegenüber. Wohl ist er Subjekt und hat fremde Subjektivität gegen sich. Aber die Person ist weit mehr; sie ist eine gewisse Ganzheit, ist ein geistiges Wesen, das sich immer dazu durcharbeiten muß, was es in Wahrheit ist. Das personale Wesen ist Mitschöpfer der Welt. Das ständige, nie abgeschlossene, spontane Sich-selbst-Konstituieren oder Sich-selbst-Vollziehen ist ein erster positiver Zug am Wesen der Personalität, als Realkategorie des geistigen Seins. Weitere Züge ergeben sich, wenn man das Verhältnis der Person zu ihrem Lebensspielraum ins Auge faßt. Es ist die Ethik, die es fast in allen ihren Problemen mit der Person als solcher zu tun hat. Das Leben der Person ist eine einzige, ununterbrochene Kette von Situationen, in denen sie sich durchfinden muß. Zwischen Situation und Person besteht ein charakteristisches Verhältnis: die Person sucht die Situation nicht aus, sie „gerät" in sie und die Situation zwingt die Person zur Entscheidung. Die Situation sagt dem Menschen aber nicht, wie er sich entscheiden soll. Sie läßt ihm Spielraum, so oder so zu handeln. Freiheit hat also der Mensch, wie er sich entscheidet, nicht aber darin, ob er sich überhaupt entscheiden will. Er ist von der Situation zur Entscheidung und also zur Freiheit geradezu gezwungen.

§ 17. Die Fähigkeit zur Vorsehung, zur Initiative und zur Zwecktätigkeit; ein erster Kontakt des Geistes mit dem „Reich" der Normideen; ein erster Zugang zur Freiheit des Willens I. Der Mensch als geistlich-leibliches Wesen ist zwar durchaus raumzeitlich lokalisiert und kann aus dem Zeitpunkt, in dem er jeweilig steht, nicht heraus, und im Räume genießt er nur die begrenzte Bewegungsfreiheit, die ihm die Leiblichkeit läßt, aber im Gegensatz dazu hat er eine andere Art der Beweglichkeit, die er im Anschauungsraum und in der Anschauungszeit hat; diese Beweglichkeit bezieht sich auf dasselbe reale Raumzeitfeld der 2

Nicolai Hartmann, 1. c.

§ 17. Die Fähigkeit zur Vorsehung, zur Initiative und zur Zwecktätigkeit

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Welt, aber ist in ihm keine Realbeweglichkeit. 1 In dieser Möglichkeit, sich von der Beschränktheit des leiblichen Sich-Hingebens abzulösen, in dieser Möglichkeit, ohne Rücksicht auf die Realität „sich zu bewegen", in dieser Freiheit besteht die Fähigkeit des Menschen, den realen Zeitprozeß in Gedanken vorzugreifen. Er lebt in der Vorausschau von dem Zeiger der Realzeit her, er ist der „ Vorsehung" fähig, wenn auch in äußerst begrenztem Umfang, da er ungefähr nur das Maß an Vorsehung hat, das er braucht, und das er erträgt. Aber auch dieses geringe Maß an Fähigkeit der Vorsehung ist von entscheidender Bedeutung für seine Stellung als Person in der Welt, denn von dieser Fähigkeit hängt alle seine Aktivität, alle Initiative, alles menschliche Handeln, Eingreifen in das Geschehen, jede schöpferische Arbeit ab. Das Eingreifen des Menschen, all sein Handeln ist nichts anderes, als daß er seine Initiative mit einschiebt unter die Realfaktoren und die Gesamtresultante des Geschehens damit verschiebt. Vorsehung ist der archimedische Punkt, an dem der Geist einsetzt, die Welt zu bewegen. II. Vorsehung ist freilich nur Voraussetzung möglicher Initiative, nicht selbst schon Initiative. 2 Vorsehung öffnet der Initiative nur das Feld. Der Mensch ist das Wesen, das eigentliche Initiative hat, das schaffend ist, das im Vorblick auch vorbestimmt und das von ihm Vorbestimmte in den Grenzen seiner Kraft auch durchzusetzen vermag. Erst so ist der Mensch wollendes und handelndes Wesen. Die Aktivität des Menschen als geistiges Wesen hat eine ganz eigene kategoriale Form, die der Zwecktätigkeit. Die Zwecktätigkeit setzt ein mit der Vorsetzung und Verformung des Zweckes, greift damit dem kausalen Lauf der Dinge vor. Der Mensch setzt den Zweck vor (das erste Stadium des teleologischen Nexus). Dann sucht er in seinem Bewußtsein rückwärts die Mittel - die Rückdetermination der Mittel, und zwar bis auf das erste herab, das unmittelbar in seiner Macht steht (das zweite Stadium des teleologischen Nexus). Erst dann setzt als ein drittes Stadium die Verwirklichung des Zweckes ein, die als Realprozeß dieselbe Reihe der Mittel durchläuft, nur umgekehrt, mit dem ersten beginnend. Die beiden ersten Stadien spielen sich rein im Bewußtsein ab, wobei die Beweglichkeit in der Anschauungszeit sowohl das Vorgreifen als auch die Rückdetermination der Mittel ermöglicht. Erst der Realprozeß im dritten Stadium ist an den Zeitfluß gebunden. Hier gerade nutzt der Mensch die kausalen Determinationen für die Verwirklichung seines Zweckes in der realen Welt aus. 1 Dazu und zum folgenden Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 1. Aufl., S. 129 - 131, 3. Aufl., S. 149 - 152. 2 Zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e., 1. Aufl., S. 131 - 141, 3. Aufl., S. 152ff.

6 KubeS

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3. Teil: Das geistige Sein

Die Fähigkeit der Zwecktätigkeit, welche der Mensch als Person hat, bedeutet eine Möglichkeit für den Menschen, determinierend in die reale Welt einzugreifen, eine Möglichkeit dem laufenden Realgeschehen eine Komponente einzufügen, die ganz die ihrige ist. Hier liegt der Kern der Machtstellung der Person in der realen Welt - in dieser Möglichkeit und Fähigkeit des Einschaltens ihrer eigenen Komponente in das laufende reale Geschehen. Die Macht, die der Mensch als geistiges Wesen, als Person ausübt, besteht nicht in seinem Stärkersein. Seine Überlegenheit besteht im Ausnützen vorhandener Mächte, die ohne ihn sich blind auswirken. „Der Mensch kann, was die Naturwesen nicht können: Zwecke setzen und Mittel für sie seligieren. So übt er eine Lenkung aus, mit der er die Naturmächte gleichsam ,überlistet'". Das ist die berühmte Hegeische „List der Vernunft", den neutralen Naturprozeß vor seine Zwecke zu spannen. Der Geist ändert nichts an der unveränderbaren Gesetzmäßigkeit der Vernunft- und willenlosen Natur, aber er weiß diese Gesetzmäßigkeit für seine Zwecke auszunützen. Die Naturkraft arbeitet zwar nach wie vor in der ihr eigenen Weise und Gesetzlichkeit, aber sie bringt etwas hervor,, was keineswegs in ihrem Wirkungskreise lag. In dieser ,List' liegt die Macht der Vernunft über das Vernunftlose, des Geistes über das Geistlose. III. Der personale Geist steht aber auch in gewisser Beziehung zu den realen Ideen (der Idee der Humanität, der Idee der Moral, der Idee des Rechts, der Idee des Schönen und der Idee der Wahrheit und Richtigkeit) und der idealen Normideen (der Normidee des Guten, der Normidee der Sittlichkeit, der Normidee des Rechts, der Normidee des Schönen und der Normidee der Wahrheit und Richtigkeit). Der Geist ist nicht nur der Vorsehung, Vorausbestimmung und Zwecktätigkeit fähig, sondern er besitzt ein besonderes „organ du coeur " (Pascal), ein besonderes Gefühl für die Ideen und Normideen; der Geist besitzt die Fähigkeit, sich ihren Inhalt und ihre kategorische Stimme bis zu einem gewissen Grad zu vergegenwärtigen und in die Realität zu überführen. Das Grundgesetz des personalen Geistes in seiner Beziehung zu den Normideen lautet: 3 Die Normideen „existieren" unabhängig davon, ob der Geist sie sich vergegenwärtigt. Das Bewußtsein von Normideen hängt vom „Sein" dieser Normideen ab, nicht umgekehrt. Die Normideen vollkommen zu erreichen und deren Inhalt restlos zu erfassen, ist dem Menschen als Menschen abgesprochen. Nur die ewige, immanente, wesensnotwendige Tendenz und Annäherung zu ihnen ist ihm gegeben. Wenn wir der Begrenzung an die 3 Nicolai Hartmann, I.e., 1. Aufl., S. 135f., 3. Aufl., S. 156f.; vgl. derselbe, Ethik, Kap. 1 4 - 1 7 ; Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik I., 3. Aufl. 1928.

§ 17. Die Fähigkeit zur Vorsehung, zur Initiative und zur Zwecktätigkeit

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Phänomene treu bleiben, können w i r nicht anders, als den Gipfelpunkt alles menschlichen Strebens in der Normidee des Guten (der konkreten Menschlichkeit) zu sehen. Der Mensch als geistiges Wesen ist mit seinem Erstreben immer schon an empfundenes Normideenvollsein gebunden. Er kann nur wünschen, was ihm wünschenswert, erstreben, was ihm erstrebenswert, erscheint. Insoweit hat der Geist gegen sein Normideengefühl keine Freiheit. Alle Aktivität der Person ist wert-, ideen-, normideenbedingt. Weil die kategoriale Form aller Aktivität des Menschen die Zwecktätigkeit ist und weil der Mensch für seinen Zweck nichts anderes stellen kann, als was er als ein Wertvolles empfindet, und weil dieses Wertvolle für den Menschen durch sein Gefühl für die realen Ideen und letztlich - im letzten Glied und im letzten Durchdenken - für die idealen Normideen bestimmt ist, sehen wir, daß das Wertgefühl oder das Gefühl für Ideen und Normideen das ist, was entscheidet, welche Zwecke der Mensch setzt. Die Zwecktätigkeit selbst ist durchaus wertindifferent; erst die Ideen und letzten Endes die Normideen und das Gefühl des personalen Geistes für sie geben uns den relevanten Inhalt dieser durch den personalen Geist festgesetzten Zwecke. Nur der Mensch als sittliche Person mit seinem „organ du coeur", mit seinem Gefühl für die Normideen, ist Vermittler zweier Welten, der realen Welt mit ihrem stufenförmigen Aufbau der einzelnen Seinsschichten (von der untersten Schicht des physisch-materiellen Seins über das organische Sein, das seelische Sein bis zum geistigen Sein, wohin die realen, durch die nie aufhörende Tätigkeit der personalen Geister geformten Ideen gehören) und der idealen „Welt", des „Reiches der Normideen". Dieses Gefühl für die Normideen hat die Form des inneren Vernehmens. Das lebendige geistig personale menschliche Wesen, das selbst in die reale Welt gehört und ein komplexes, mehrschichtiges Gebilde von besonderer Einheit und Ganzheit ist, ist infolge seines „organ du coeur", seines Gefühls für die Normideen, der einzige Vermittler, der imstande ist, das Rufen der Normideen in die reale Welt zu überführen. Nur der personale Geist steht offen für das reine Sollen der Normideen. Da die Normideen in einer determinierenden Art und Weise - allerdings nur so, daß die Freiheit des Willens des Menschen unberührt bleibt - in die Aktivität des Menschen eingreifen, da sie seiner Zwecktätigkeit die Zwecke geben, greifen sie durch ihn in das Gestalten der realen Welt ein. Sie allein, ohne diesen Vermittler - ohne den Menschen mit seinem personalen Geist - wären dessen nicht fähig; sie sind nämlich keine realen Mächte, sie entbehren das, was für die Naturgesetze typisch ist; die Naturgesetze beherrschen nämlich alles ausnahmslos, was unter ihrer Macht steht. Die Normideen sind „Wesenheiten", sie sagen nur, was „sein soll" ; das bloße Sollen an und für sich ist nicht imstande die Dinge 6*

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3. Teil: Das geistige Sein

in Bewegung zu setzen. Dazu ist eben ein Vermittlungsglied nötig, und ein solcher Vermittler ist gerade der Mensch. Die Stellung des Menschen ist ganz einzig dastehend. Der Mensch ist daher gleichzeitig Bürger zweier Welten, und seine Bestimmung ist es, sie durch seine Fähigkeit der Vorsehung, Vorausbestimmung, des Vernehmens des Sollens der Normideen und der Zwecktätigkeit zu verbinden. Gerade durch seine Zwecktätigkeit überbrückt der Mensch die Kluft zwischen der Welt des realen Seins und der Welt der idealen Normideen. Die Stellung des Menschen als des einzigen uns bekannten Vermittlers zwischen zwei Welten, des Menschen, der mit seinen Seinsgrundlagen in der realen Determination verankert ist, aber zugleich in seinem „Vernehmen" der Normideen eine andere, aus dem Sollen dieser Normideen sich ergebende Determination empfängt, ist unermeßlich würdig und verantwortlich. Hierin ist das Ethos des Menschen begründet. Den Zusammenstoß beider Determinanten, der realen und der idealen, empfindet der Mensch als einen sittlichen und rechtlichen Konflikt, und es liegt an ihm, diesen Konflikt immer von neuem zu lösen. Konflikte dieser Art kennt nur das Gebiet des Geistes. Im Reiche der Normideen kann ein solcher Konflikt nicht existieren, weil es hier unbedingt, schon begrifflich notwendig ist, immer zum Ausgleich, zur Synthese zu gelangen. Alle Normideen entspringen letzten Endes aus einer einzigen, höchsten Normidee (der Normidee des Guten, der konkreten Menschlichkeit) und betonen nur die eine oder die andere Seite dieser höchsten Normidee. Nur der Geist lebt in einem Konflikt, nur in ihm stoßen zwei Determinanten aufeinander, die reale und die ideale, und nur der Mensch als geistigsittliches Wesen ist berufen, diesen Konflikt zu lösen, was nur in der Weise möglich ist, daß der personale Geist die Kraft besitzt, sich selbständig zu entscheiden. Die Fähigkeit, das Machtwort zu sagen, die Fähigkeit, sich zu entscheiden, die Fähigkeit, mit seinem Einsatz dem, was die Normideen fordern, entweder Realität zu verleihen oder es abzulehnen, das ist die Freiheit des Menschen. IV. Vorsehung, Vorbestimmung, Zwecktätigkeit und Einvernehmen der Normideen - das alles mündet in die eigene, innerliche spontane Fähigkeit des Entscheidens selbst, mündet in die positiv verstandene Freiheit des Willens. „Sie ist nicht bloße Freiheit der Handlung, denn die hängt an äußeren Faktoren; auch nicht Freiheit im Sinne des ,Dürfens'..., denn in ihrer Macht gerade steht es, das Dürfen zu überschreiten. Es ist die hinter alledem stehende, schon in der Gesinnung ansetzende Freiheit der Intention oder

§ 17. Die Fähigkeit zur Vorsehung, zur Initiative und zur Zwecktätigkeit

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Initiative selbst." 4 Nur eine solche Freiheit ist ein Novum gegenüber allen jenen kategorialen Momenten der Person und tritt zu ihnen als zentrale Grundkategorie noch hinzu. Nur ein freies Wesen ist der Verantwortung und der Zurechnung fähig, kann Schuld und Verdienst haben, „gut" oder „böse", ein moralisches und rechtliches Wesen sein. Es wird sich später noch zeigen, daß eine ganze Reihe von sittlichen und rechtlichen Phänomenen zur Freiheit des Willens hinführt. Nicolai Hartmann bezeichnet die sittliche Freiheit als ein tiefes metaphysisches Rätsel und weist auf den unendlichen Streit der philosophischen Theorien um sie hin. Zugleich warnt 5 er mit vollem Recht davor, das Problem auf die beliebte Alternative von Determinismus und Indeterminismus hinauszuspielen. „Denn sittliche Freiheit ist nicht Unbestimmtheit, sondern eine Bestimmtheit des Willens eigener Art." Bei der späteren Erörterung dieses Problems werden wir versuchen zu zeigen, daß eine positiv verstandene Freiheit des Willens existiert, daß dieses Problem aus ontologischer Sicht eine neue Lösung findet, daß Freiheit des Willens nur in der Abhängigkeit möglich ist, daß sittliche und rechtliche Phänomene entscheidend für sie sprechen. Aber noch mehr: Es wird sich zeigen, daß die Freiheit des Willens eine unbedingte, notwendige, nicht wegzudenkende Voraussetzung jeder Wissenschaft, jedes Denkens, jeder menschlichen Tätigkeit und des ganzen menschlichen Lebens überhaupt ist - mit der Grundvoraussetzung des unendlichen Annäherns an die Normideen, zur Vollkommenheit. Gerade in diesen zwei Grundvoraussetzungen (in der Idee des unendlichen Annäherns an Normideen und in der positiv verstandenen Freiheit des Willens in der Abhängigkeit) ist das Sollen, das reine Sollen verankert. V. Man kann das auch so ausdrücken, daß 1. die Idee des Fortschrittes Normideen,

auf dem unendlichen Weg zur Erreichung der

2. die positiv verstandene Freiheit des Willens in der Abhängigkeit, 3. das reine Sollen der Normideen, eine dialektisch-synthetische Einheit bilden und das Wesen und den Sinn des menschlichen Daseins darstellen. Der Mensch kann und darf sich nicht diesen zentralen Kernpunkt seiner Menschheit absprechen lassen, wenn er sich selbst nicht negieren will.

4 Dazu und zum folgenden Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 3. Aufl., S. 162ff. 5 Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 163f., Anm. 1.

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3. Teil: Das geistige Sein

Es geht also um fünf Merkmale des sittlichen und rechtlichen Wesens: um Vorsehung (Provenienz), um Vorbestimmung (Prädestination), um Zwecktätigkeit (Teleologie), um das Bewußtsein und Einvernehmen von Normideen und um die positiv verstandene Freiheit des Willens. Der Mensch als Person hat allerdings nur ein solches Maß dieser fünf Merkmale, welches er noch ertragen kann. So ist die Freiheit nicht nur Freiheit zum Guten, sondern auch zum Bösen. Jedenfalls ist aber eine solche Freiheit ein erstaunliches, unendliches Geschenk und zugleich eine schreckliche Gefahr: der Mensch ist durch sie in seinem innersten Wesen, das aber gerade in ihr besteht, bedroht.

§18. Der objektive Geist und der Volksgeist; ein erster Zugang zum Wesen des Rechts (und des Staates) I. Wenn w i r die philosophische Literatur, welche die Problematik des objektiven Geistes zu lösen versucht, aus der Vogelperspektive beobachten, können wir grundsätzlich zwei Grundauffassungen vom objektiven Geist feststellen: die Hegeische spekulativ-metaphysische Auffassung auf der einen Seite und die Hartmannsche streng wissenschaftliche, die Phänomene berücksichtigende und alle spekulativ-metaphysischen Elemente ausschließende Auffassung auf der anderen Seite. Der Begriff des „Geistes" bzw. des „gemeinen Geistes", kommt schon bei Montesquieu vor 1 : „Plusieurs choses gouvernent les hommes: le climat, la religion, les lois, les maximes du gouvernement, les exemples des choses passées, les moeurs, les manières; d'où i l se forme un esprit général qui en résulte." Bei „gemeinem Geist" im Sinne Montesquieus handelt es sich nicht um eine spekulativ-metaphysische Konstruktion, sondern sein „esprit général" ist etwas, was empirisch bedingt ist. Der Entdecker des objektiven Geistes war allerdings Hegel. Bei ihm erschien das Wort „Volksgeist" zum erstenmal schon im Jahr 1789 in einer nicht veröffentlichten Arbeit „Volksreligion und Christentum" 2 . Hier und auch noch in der Hegeischen Abhandlung vom Naturrecht aus dem Jahr 18033 geht es um einen empirischen und analytischen Begriff, der eine Kette von Ursachen und Folgen darstellt. II. Die ersten Spuren der Entdeckung des objektiven Geistes kann man in Hegels „Phänomenologie" erblicken. Eine wirklich „Hegeische" Auffassung des objektiven Geistes erscheint freilich erst in seiner „Rechtsphilosophie" 1 2 3

Montesquieu, De l'esprit des lois, 1748, Livre X I X , chap. IV. Alf Ross, Theorie der Rechtsquellen S. 148f., in Anm. 58. Alf Ross, I.e. S. 149, in Anm.

§18. Der objektive Geist und der Volksgeist

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(1820). Hier meint Hegel schon den überindividuellen, geschichtlich lebenden Geist; gerade für den so aufgefaßten Geist prägte er den Terminus „objektiver Geist" 4 . In ihm erblickte er den eigentlichen Geschichtsträger, den Schöpfer von Recht und Moral, Gemeinschaftsorganisation und Staat, Bildung, Zivilisation und Kultur. Leider hat er seine ganze Auffassung des objektiven Geistes mit seiner typisch spekulativen Metaphysik verdunkelt. Als metaphysische Konstruktion muß man alle diejenigen Züge bezeichnen, die den Boden des empirisch Aufweisbaren verlassen - also vor allem alle die Ausführungen, die von der Geist-Substanz handeln oder sie voraussetzen. Die Hegeische These, daß der objektive Geist „alles" sei, ist ganz und gar unbeweisbar. Weder ist der Geist alles, noch kann er in der Welt vor dem Bewußtsein, das immer individuell ist, auftreten. Der Geist ist ontisch sekundär. Der Geist ist am meisten bedingt, und zwar deshalb, weil er das Höchste ist. Der Geist als objektiver wie als personaler ist ein getragener Geist. Er ist getragen, er ruht auf den niederen Schichten des stufenförmigen Aufbaus des realen Seins. Nicolai Hartmann meint in seiner Polemik gegen die Hegeische Auffassung, daß es sehr fragwürdig und unwahrscheinlich ist, daß die Geschichte einen Endzweck habe. Unserer Meinung nach - und zwar im Widerspruch zur Auffassung von Nicolai Hartmann - ist es unbedingt notwendig von der Grundvoraussetzung auszugehen, daß die Idee des Fortschrittes i n der Geschichte eine nicht wegzudenkende Bedingung des Sinnes des ganzen menschlichen Lebens darstellt. Ähnlich wie die Normideen für uns gegeben sind, ist auch der Fortschritt in der Geschichte für uns gegeben. Sonst wäre alles - Freude und Schmerz, Arbeit und Nichtstun, Wissenschaft und Kunst - sinnlos. Das darf eben nicht sein, und zwar aus dem einfachen Grunde: w i r wollen doch leben, das heißt: sinnvoll leben. Wo der Mensch allerdings in der Geschichte keine Zwecke verfolgt, da hat die Geschichte aller menschlichen Erfahrung nach keine Zwecke. Auch die berühmte Hegeische „List der Vernunft" darf nicht auf einer spekulativ-metaphysischen Grundlage interpretiert werden. In dieser Idee und das muß man zugestehen - ist ein wichtiges Gesetz des objektiven Geistes enthalten, und zwar daß nur eine solche Gemeinschaftsform sich geschichtlich halten und entwickeln kann, deren Interessenrichtung in gleicher Richtung, wie die der Individuen verläuft. Diese Gleichläufigkeit zeigt sich dann darin, daß die „Leidenschaft" des Einzelnen die gemeinsame Sache betreiben kann, ohne sie zu bezwecken, ja ohne darum zu wissen, daß sie es tut. 4 Zum folgenden Nicolai Hartmann, S. 170 - 176, 3. Aufl., S. 198ff.

Das Problem des geistigen Seins, 1. Aufl.,

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3. Teil: Das geistige Sein

Es ist zwar wahr, daß der Einzelne im objektiven Geist verwurzelt ist, aber es ist falsch zu meinen, daß niemand über den jeweilig lebenden objektiven Geist hinauswachsen könne. Solche Einzelpersonen existierten und existieren und erfüllen eine geschichtliche Aufgabe, in dem sie die Kraft haben, die Menge nachzuziehen. Auch wenn man an den Phänomenen die Richtigkeit von Hegels These vom Weltgericht, daß sich das Beste erhalten wird und das weniger Gute sinkt und vergeht, also die These von dem unendlichen, aber immer weiterführenden Weg zur Erreichung der Normideen (optimistische Weltkonzeption) nicht beweisen kann, ist es eine unbedingte Notwendigkeit von dieser Grundvoraussetzung auszugehen, da sonst alles sinnlos wäre - die Moral, das Recht, die Wissenschaft, das ganze Leben. Es ist allerdings - andererseits - notwendig, der Argumentation von Nicolai Hartmann zuzustimmen, daß es sich nämlich um einen grundsätzlichen Irrtum Hegels handle, wenn er den geschichtlichen Wert der Ideologien nach dem Grad der geschichtlichen Verwirklichung allein bemesse. Es gibt das, aus der Tiefe des objektiven Geistes geborene Bewußtsein der Normideen, ihres Sollens - im Gegensatz zum jeweilig Seienden. Dieses primäre Sollen der Normideen wird mittels der vermittelnden Tätigkeit des Menschen als Subjekt und Person mit dessen fünf Attributen, besonders mittels seiner Zwecktätigkeit im Laufe von Tausenden von Jahren in die Welt der Realität überführt, wo sich dann die großen Bereiche der abgeleiteten Normativität bilden. Dieses abgeleitete Sollen kann allerdings seine innere Wahrheit haben, auch wo es nicht den Boden findet, sich geschichtlich durchzusetzen. III. Unter dem Einfluß der spekulativ-metaphysischen Hegeischen Philosophie steht auch die Lehre der Historischen Schule Savignys vom „ Volksgeistobzwar sich dieser Terminus nicht direkt bei Savigny 5, dem anerkannten Begründer und Führer dieser Schule (auch wenn Savigny seine Vorgänger in dem Engländer Edmund Burke, Ende des 18. Jahrhunderts, und in Gustav Hugo 6 hatte), da er vom organischen Wachstum des Rechts spricht, findet, sondern bei dem berühmten Systematiker der historischen Rechtsschule Puchta 7. Letzten Endes ist freilich der „Volksgeist" ein 5 Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814, 3. Aufl., 1840; derselbe, Über den Zweck dieser Zeitschrift, zum folgenden Geschichtliche Rechtswissenschaft, Bd. I, 1815; derselbe, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1,1840. 6 Vgl. Lundstedt, Die Unwissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft, S. 152, Anm. 1. 7 Georg Friedrich Puchta, Das Gewohnheitsrecht, T e i l l , 1828, Teil II, 1837; derselbe, Cursus der Institutionen, 10. Aufl. 1893, §§ 6, 10, 11, 15, 33; derselbe, Pandekten, 9. Aufl. 1863; derselbe, Vorlesungen über das heutige römische Recht, Bd. I, 5. Aufl. 1862; derselbe, Enzyklopädie als Einleitung zu Institutionen, Vorlesungen, 1825, S. 12.

§ 18. Der objektive Geist und der Volksgeist

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Grundpfeiler der ganzen rechtshistorischen Schule und weist manche verwandten Züge mit dem objektiven Geist auf. Puchta lehrt, daß der Volkswille, den die Menschen als Glieder dieser Verbindung haben, eine natürliche Quelle des Staates und seiner Verfassung ist; der Volksgeist bildet den Staat ebenso wie das Recht. Das Wesen des Rechts erblickt die historische Rechtsschule im allgemeinen Rechtsbewußtsein, in dem Volksbewußtsein, im sog. „ Volksgeistwie er sich in verschiedenen Zeitepochen und bei verschiedenen Völkern bildet. In diesem Volksgeist lebt das Recht, ebenso wie die Moral und Sprache in ihm leben.8 IV. Auch nach Puchtas Meinung 9 besteht das Recht im Inhalt des Rechtsbewußtseins des Volkes. In seinem Werk „Das Gewohnheitsrecht" lehrt er, daß das Recht nationalen Charakter aufweist, daß es vom Volksgeist hervorgebracht wird, wie dieser sich in der Rechtsüberzeugung des Volkes manifestiert. 10 Puchta führt an, daß in späteren Zeiten das Rechtsbewußtsein immer mehr auf einen engen Kreis, d.h. auf die fachgebildeten Juristen übergeht. „So geschieht es, ... daß auf natürlichem Wege die Juristen das Organ werden, in welchem sich die gemeinen nationellen Rechtsansichten aussprechen, und die gemeinsame Überzeugung des Juristenstandes dieselbe Stellung, wie die Überzeugung der Glieder der Nation überhaupt, einnimmt." 1 1 Im Rahmen des „Juristenrechts" im weiteren Sinne muß man daher zwei Teile unterscheiden: einen Teil, der eine Weiterbildung des primitiven Gewohnheitsrechts ist, das auf dem unmittelbaren, natürlichen Produktionsweg entstanden ist, indem der Volksgeist hier durch die Juristen als die natürlichen Repräsentanten des Volkes wirkt; und einen zweiten Teil, der durch die Wissenschaft als künstliches Medium entstanden ist: das „Juristenrecht" im engeren Sinne, besser das „Recht der Wissenschaft". Die Mehrheit der kritischen Stimmen gegen die Grundauffassung der historischen Rechtsschule vom Ursprung des Rechts aus dem Volksgeiste geht von der zentralen Erwägung aus, daß sich hier die historische Rechtsschule um eine kausal-naturwissenschaftliche Erklärung bemüht und der Prozeß der Entstehung des Rechts dieser kausalen Gesetzmäßigkeit unterstellt wird 1 2 . Diese K r i t i k ist m.E. nicht richtig. Alf Ross hat überzeugend 8 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1840, S. 8ff. 9 Puchta, Das Gewohnheitsrecht II, 1837, S. 125; derselbe, Cursus der Institutionen I, 8. Aufl. 1875, S. 19; derselbe, Enzyklopädie als Einleitung zu Institutionen, Vorlesungen, 1825, S. 12. 10 Dazu und zum folgenden Puchta, Das Gewohnheitsrecht I, S. 9f., 78f., 143f.; Alf Ross, Theorie der Rechtsquellen, S. 133 f. 11 Puchta, I.e. I I S . 19f. 12 Rudolf Stammler, Über die Methode der geschichtlichen Rechtstheorie, Festgabe zum Windelbands Doktorjubiläum, 1888; dazu und zum folgenden Alf Ross, I.e. S. 142 f., 153 f.

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3. Teil: Das geistige Sein

gezeigt, daß die einzige vernünftige Auslegung der Lehre der rechtshistorischen Schule die ist, daß sie ein organischer Teil der deutschen, von der Naturphilosophie und der idealistischen Geschichtsphilosophie durchdrungenen Romantik von Schelling, Herder und Hegel ist. Diese Schule durch die Brille eines naturwissenschaftlichen Positivismus, Evolutionismus, bzw. der Soziologie, durch die Brille von Darwin und Comte sehen zu wollen, bedeutet, daß man der rechtshistorischen Rechtsschule nicht gerecht ist. Dieser Beobachtungsstandpunkt bleibt immer transzendent und wird nie eine immanente K r i t i k bedeuten. Der Begriff des Volksgeistes im Sinne der rechtshistorischen Rechtsschule bedeutet ein spirituelles Prinzip, eine geistig absolute Größe, die sich im Volksleben und besonders im Rechtsleben entfaltet und offenbart. Wenn Savigny vom „organischen Wachstum des Rechts" spricht, so kann man keineswegs in dieser Analogie vielleicht ein Bild von dem kausalnaturwissenschaftlichen Entstehen des Rechts verstehen, sondern man muß sich vergegenwärtigen, daß das Organische für die Romantik das Lebensbeseelte war, das Irreduktible, das, was von einer besonderen „psychischen Kraft", der „Lebenskraft" getragen wird. 1 3 Es handelt sich also um ein Symbol der tiefen „Lebendigkeit" der Geschichte, ihres spirituellen, gesetzmäßig-irreduktiblen Charakters. Bei Puchta - ganz im Geiste der Naturphilosophie des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts - waltet im Recht, ebenso wie in der Natur, ein Prinzip, das sich mit steigendem Bewußtsein in steigenden Potenzen entfaltet 14 . Ebenso wie der Geist in der anorganischen Welt schlummert, in der organischen Welt erwacht und erst im Menschen zum vollen Bewußtsein gelangt, so gelangt auch der Volksgeist durch das nichtorganisierte, primitive Gewohnheitsrecht zu den höheren organisierten Stufen, dem „Juristenrecht" und dem „Gesetzrecht". Und doch ist es dieselbe Macht, die das Ganze durchdringt und in ihm waltet: i n der Natur ist es die „Weltseele" und im Recht der „Volksgeist". Der Sinn des schönen Symbols vom organischen Wachstum des Rechts (Savigny) 15 ist der, daß der Gesetzgeber als Individuum in der einzelnen Handlung frei ist, aber das Gesamtergebnis, der Gang des ganzen Dramas notwendig ist. Daher kann der Gesetzgeber entweder seine Sendung erfüllen, d.h. das organische Wachstum des Rechts durch seine Mitarbeit fördern, oder er w i r d vom Schicksal hinweggefegt. Der Gesetzgeber ist mit einem Gärtner vergleichbar: er kann das organische Wachstum der Blume schützen und fördern, aber wehe ihm, wenn er eingreifen w i l l und willkürlich das Wachstum zu ändern versucht; sein Werk wird unter seiner Hand verfallen. 13

Vgl. Alf Ross, Theorie der Rechtsquellen, S. 154. Zum folgenden Alf Ross, I.e. S. 154f. 15 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1,1840, S. 40; vgl. Alf Ross, I.e. S. 158f. 14

§18. Der objektive Geist und der Volksgeist

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Gegen die ganze Konstruktion des Volksgeistes in der Auffassung der historischen Rechtsschule stellte sich in Deutschland selbst eine Reihe von Denkern - freilich mit Einwendungen, die nicht das Wesen der ganzen Problematik sahen und noch dazu oft auch die wahrhaft genialen Stellungnahmen dieser Schule negierten. In dem gut geschriebenen Buch „Theorie und Methodik des bürgerlichen Rechts" aus dem Jahre 1848 z.B. wird zwar von Schmid 16 zugestanden, daß der Volksgeist auf den Inhalt des Rechts wirke, zugleich aber wird bestritten, daß das, was von dieser Macht bestimmt wird, Geltung als Recht habe; denn, so wird betont, - „es müssen erst noch die formellen Bedingungen der Gültigkeit hinzukommen." Allmählich beginnt man den „Volksgeist" als die höchste Quelle des Rechts abzulehnen 17 und sobald sich die soziologisch-juristische Betrachtungsweise durchsetzt, wird der Begriff des Volksgeistes als Ausdruck eines kausalen Komplexes begriffen. Von diesem Standpunkt aus mußte freilich der Begriff des Volksgeistes im Sinne einer absoluten „ersten Ursache" als etwas Widersinniges erscheinen, weil er im wesentlichen Widerspruch zum Prinzip der Kausalität steht 18 . Der Begriff des Volksgeistes hatte aber ein zähes Leben. Steinthal, durch Hegel beeinflußt, zusammen mit dem Herbertianer Lazarus, sah in ihm einen Grundbegriff der Völkerpsychologie. Hier näherte sich freilich dieser Begriff am meisten dem, was Montesquieu unter ihm verstand; er war also ein bildlicher Ausdruck für einen Komplex von gemeinsamen empirischen Faktoren, welche ein Glied im kausalen Nexus bilden, und dieses als ein solches die Folge der vorausgehenden Ursache und die Ursache einer weiteren Folge ist. Wilhelm Wundt 19 benutzt den Begriff des Volksgeistes als Ausdruck für die selbständige Bedeutung der sozialen Koexistenz, des Faktums, daß sich die völkerpsychologischen Beziehungen nicht ohne die selbständige Bedeutung der sozialen Koexistenz erklären und nicht auf die individualpsychologischen reduzieren lassen. Mit metaphysischer Färbung erscheint der „kollektive Geist" bei Jerusalem 20. In der Rechtstheorie begegnet man dem Volksgeist bei Stier-Somlo 21, 16

Reinhold Schmid, Theorie und Methodik des bürgerlichen Rechts, 1848, S. 224. Zum folgenden vgl. auch Alf Ross, I.e. S. 177f. 18 Vgl. Wilhelm Arnold, Recht und Wirtschaft nach geschichtlicher Ansicht, 1863, S. 27; Reinhold Schmid, Theorie und Methodik des bürgerlichen Rechts, 1848, S. 170, 173, 175, 223; Rudolf Stammler, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung, 3. Aufl., S. 57. 19 Wilhelm Wundt, Über Ziele und Wege der Völkerpsychologie, Philosophische Studien, Bd. IV, 1888, S. 1 f.; vgl. Alf Ross, I.e. Anm. 20. 20 Franz W. Jerusalem, Soziologie des Rechts, 1925; vgl. Alf Ross, I.e. S. 177, Anm. 20. 21 Fritz Stier-Somlo, Die Volksüberzeugung als Rechtsquelle (Vortrag), 1900, S. 22. 17

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3. Teil: Das geistige Sein

Josef Kohler 22, Paul Oertmann 23 und dem Neohegelianer Julius Binder Verwandte Züge mit dem Volksgeist weisen auch Saleilles 25 „Volksüberzeugung" oder Duguits 26 „conscience collective des individues" auf.

24

V. Allen Versuchen gegenüber, dem objektiven Geist eine metaphysische Unterlage zu geben, ist es notwendig, mit allem Nachdruck bei der Untersuchung der Problematik des objektiven Geistes am Grundgesetz der philosophischen Methode überhaupt festzuhalten: 27 „Es muß beim Gegebenen einsetzen und von ihm aus erst die Wege weiteren Vordringens finden, wie sich die Möglichkeit dazu bietet." Gründliche Untersuchungen von Nicolai Hartmann 28 haben gezeigt, daß „der objektive Geist weder eine Substanz hinter dem Geistesleben einer Menschengemeinschaft noch auch eine bloße Summe der Individuen" ist; „er ist" - so betont Hartmann weiter, - „auch weder ein bloßer Typus des geistig Gemeinsamen noch ein bloßes- Geistesprodukt. Sondern er ist das Geistesleben in seiner Ganzheit, wie es geschichtlich in einer jeweilig bestehenden, durch Zeitgenossenschaft und Lebensgemeinschaft verbundenen Menschengruppe sich herausbildet, entwickelt, zur Höhe gelangt und niedergeht." Mit einer anderen Formulierung, die in Hartmanns großem Werk „Der Aufbau der realen Welt" 2 9 enthalten ist, kann man sagen, daß der objektive Geist nichts anderes ist, als „die gleichartige Geformtheit alles individuellen Denkens und Auffassens innerhalb eines Volkes (oder auch einer Völkergruppe) in geschichtlich gleicher Zeit. Es ist geistige Geformtheit, die nicht von Individuum zu Individuum, wohl aber von Zeitalter zu Zeitalter wechselt. Objektiver Geist ist für den Einzelnen eine relativ feste Basis, in geschichtlichen Zeitmaßen aber ist er beweglich. "

22 23 24 25

1902. 26

Josef Kohler, Enzyklopädie der Rechtswissenschaft I, 1915. Paul Oertmann, Volksrecht und Gesetzesrecht (Vortrag), 1898, S. 26. Julius Binder, Philosophie des Rechts, 1925, S. 963, 1030, 1041, 1047. R. Saleilles, Ecole historique et droit naturel, Rev. trimestrielle de droit civil, I,

Leon Duguit, L'Etat, le droit objectif et la loi positive, Paris, 1901. Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 1. Aufl., S. 177f.; 3. Aufl., S. 206. 28 Zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e., 1. Aufl., S. 177f.; 3. Aufl., S. 205ff. 29 Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, 1940, S. 21. 27

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§19. Der objektive Geist und die Gemeinschaft der Individuen

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§ 19. Der objektive Geist und die Gemeinschaft der Individuen; ein zweiter Zugang zum Wesen des Rechts (und des Staates) I. Der objektive Geist kann offenbar nur in einer gewissen Gemeinschaft der Individuen leben. Wir stehen also vor allem bei einer Vorfrage, wie das Verhältnis des objektiven Geistes, der ein geschichtlich lebender Gemeingeist ist, zur Gemeinschaft der Individuen zu verstehen ist. Der objektive Geist ist etwas anderes, als die Gemeinschaft der Individuen selbst, die ein Kollektivum ist. Trotzdem kann der objektive Geist nur an und in einer Gemeinschaft von Individuen leben und besteht nur in ihr und mit ihr. 1 Der objektive Geist prägt sich in bestimmte Formen (sg. Objektivationen des objektiven Geistes), die er im Fortleben dauernd umprägt; und sobald diese Objektivationen (als objektivierter Geist) sich von ihm ablösen, sind sie nicht mehr die seinen, sondern als objektivierter Geist (im Unterschied zum objektiven Geist) etwas anderes als der jeweilige objektive Geist. Der objektivierte Geist ist die Objektivation dessen, was der objektive Geist darstellte in dem Augenblick, in welchem sich diese Objektivationen von ihm ablösten. Wenn wir das Verhältnis des objektiven Geistes zum objektivierten Geist am Beispiel des Rechts zum besseren Eindringen in die ganze Problematik veranschaulichen, können wir sagen: der objektive Rechtsgeist ist das rechtliche Bewußtsein, die rechtliche Überzeugung, das rechtliche Empfinden des Volkes der betreffenden Rechtsgemeinschaft. Der objektive Rechtsgeist prägt sich selbst in bestimmte Formen (in rechtliche Objektivationen, in den objektivierten Rechtsgeist, also in Gesetze, Verordnungen usw.), die er im Fortleben dauernd umprägt. Sobald sich diese Objektivationen von ihm ablösen und aus dem objektiven Rechtsgeist heraustreten, leben sie ihr eigenes Leben - als objektivierter Rechtsgeist. II. Wenn wir jetzt zum objektiven Geist zurückkehren, beobachten wir, daß er nur im Kollektivum einer Gemeinschaft von Individuen bestehen kann. Das Kollektivum aber bedarf wieder der Formung durch den objektiven Geist. Zum wirklichen geistigen Leben gehört die Formung, welche der objektive Geist dem Leben der Gemeinschaft als einem kollektiven Verband von Individuen gibt. Nur wenn das Kollektivum durch den objektiven Geist geformt wird, kann es ein Grundpfeiler für seine höheren Stockwerke werden, eine Grundlage aller höheren Gestaltungen des Geistes sein. 1 Dazu Nicolai Hartmann, 3. Aufl., S. 206ff.

Das Problem des geistigen Seins, 1. Aufl., S. 177 ff.,

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3. Teil: Das geistige Sein

Das Material, das der Geist formiert, sind ebensosehr ungeistige wie geistige Elemente. Die Formung selbst aber ist immer Schöpfung des Geistes. „So ist es mit den Eigentums-, Tausch- und Handelsverhältnissen, so mit der Beschaffung der Produktion des Lebensnotwendigen, mit Wirtschaftsform und Wirtschaftsregulation aller Art. So ist es mit dem Gewohnheitsrecht im Verkehr, mit den gültigen Anschauungen von Billigkeit, Schicklichkeit, Pflichten und Freiheiten des Einzelnen, der Familie, der Verbände. So schließlich ist es mit den Formen des Zusammenschlusses zu einem größeren, aktionsfähigen Ganzen und dessen Einrichtungen, mit dem Staat und seinen Organen." Hier überall wird das Material durch den Geist formiert. Die Formungen dieser Gebiete bilden die Grundschicht des objektiven Geistes, über der die eigentlichen, rein geistigen Domänen seines Schaffens sich erst erheben können. Sie sind eben Formen der Gemeinschaft als solcher. Hier haben w i r es mit den inhaltlichen Gebieten des objektiven Geistes zu tun, welcher lebendig seine Geschichte hat, wobei der Einzelne in ihn einfach hineingezogen wird. Der Zusammenschluß der Individuen selbst wird nicht erst von dem Geiste geschaffen. „Der Geist vielmehr übernimmt den Zusammenschluß von der niederen Seinsschicht, dem organischen Leben. Und nur die Überformung zum höheren Gebilde, zur aktionsfähigen Einheit und Ganzheit, ist sein Werk." 2 III. Warum spricht man von der „ Überformung"? Aus dem Grund, weil es nicht der Geist ist, der diesen Zusammenschluß etwa aus dem Nichts schaffen würde. Der Geist übernimmt diesen Zusammenschluß der Individuen vielmehr schon als etwas Fertiges, und zwar vom organischen Leben. Das Gefüge des Aufruhens des Geistes auf dem seelischen und organischen Sein ist für den Geist eine Dauereinrichtung. 3 Lebenden objektiven Geist gibt es nur getragen von einem lebenden Volkskörper, genau so wie den persönlichen Geist nur getragen vom lebendigen Leibe. Ein Volk aber ist Stammesgemeinschaft. Nicht der Geist also erdenkt oder erschafft erst die Gemeinschaft als solche. Er übernimmt im Gegenteil die Gemeinschaft aus der Sphäre des organischen Lebens. „Sie besteht vor ihm, und als geschichtlich erwachender Geist findet er sie als die ihn schon tragende vor. Sie ist als solche nicht Geisteskategorie, sondern Vitalkategorie." Deswegen ist es notwendig, alle die Lehren abzulehnen, nach denen der Zusammenschluß der Individuen erst durch den Geist, konkret durch das Rechtliche geschaffen wird - im Sinne des bekannten Dictums: Ubi societas, ibi ius, und wie es sich die alten Vertragstheorien 4 vorstellten, welche lehr2 3

Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 3. Aufl., S. 207. Zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 209f.

§19. Der objektive Geist und die Gemeinschaft der Individuen

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ten, daß der Geist das betreffende Kollektivum erst bilde. Auch das Tier lebt immer in einer Lebensgemeinschaft seiner Art; also schon die Herde als Lebensform, sowie alle ihr verwandten Bildungen unter den höheren Tieren, sind Formen organischer Lebensgemeinschaft. Nur bei den Menschen wird diese ungeistige Gemeinschaft organischen Charakters durch den Geist (durch das Rechtliche, durch die Moral, durch die Sitte) zum höheren Gebilde, zur Einheit und Ganzheit, die aktionsfähig ist, überformt. Der Geist erfaßt die menschliche Gemeinschaft und gestaltet sie in etwas anderes um, wie das tierische Leben es nicht kennt. Dieses andere ist eben das Gemeinwesen. Der Staat wird also nicht von der Natur geschaffen, sondern vom Geiste. Der Staat ist die Formung, die der lebende geschichtliche Geist dem gewordenen Kollektivum, an dem er besteht, gibt. Der Staat ist also die Formung, die der Rechtsgeist dem Kollektivum gibt, in dem er besteht. In diesem Zusammenhang ist es zweckmäßig, die Meinung von Nicolai Hartmann anzuführen, wenn er schreibt: 5 „Für diese Auffassung von Recht und Staat als Selbstgestaltung eines lebenden geschichtlichen Geistes ist es also keineswegs erforderlich, ein hypothetisches Vorstadium der Rechtslosigkeit und der Gemeinschaftslosigkeit anzunehmen. Die Theorie vom bellum omnium contra omnes ist nicht der Schlüssel zum Verständnis der Gemeinschaftsordnung. Sie ist ebenso überflüssig wie unwahrscheinlich. Ein anderes wäre es, sie modifiziert auf das Verhältnis kleiner Stammesgemeinschaften untereinander zu beziehen, aus deren Konkurrenz erst größere, geschichtlich relevante Gemeinwesen durch Zusammenschluß entstanden sein dürften, wobei es dann einerlei bleibt, inwieweit Überlegenheit und Unterwerfung oder gütliche Vereinigung den Entwicklungsgang bestimmen mag. In jedem Falle aber handelt es sich dann um etwas ganz anderes. Denn die Träger eines solchen bellum omnium sind keine Einzelpersonen mehr, sondern schon Kollektivgebilde." Dieser Überformungsprozeß der Lebensgemeinschaft durch den Geist und speziell durch den Rechtsgeist erzeugt das Phänomen des staatlichen Lebens, die Grundschicht des objektiven Geistes. Sogleich muß man sich freilich vergegenwärtigen, daß der Staat als solcher - ähnlich wie das Recht - ein komplexes, mehrschichtiges Gebilde ist und nicht ausschließlich der Schicht des geistigen Seins angehört, sondern auch dem physisch-materiellen Sein (er ist ein geographisch-räumliches Gebilde), dem organischen und auch dem seelischen Sein angehört, weil er ein Kollektivum von Personen 4 Nicht aber Rousseaus Lehre vom „Contrat social", die man nicht begreifen darf i n dem Sinne, daß es sich um eine Beschreibung eines Faktums handelt, sondern es geht hier um Festsetzung einer Idee. 5 Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 211f.

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3. Teil: Das geistige Sein

ist. Nicolai Hartmann meint, 6 daß das nicht mehr vom Recht gelte. Gewiß, diese Seiten treten beim Recht nicht so scharf auf, wie beim Staat. Trotzdem gehören aber die Menschen-Personen, und ein Gebiet auch zum Recht. Es wird sich später zeigen, daß der Unterschied zwischen dem Recht als solchem und dem Staat, bzw. der Völkergemeinschaft, letzten Endes nur in der Akzentuierung dieser beiden Elemente besteht. Auch der Staat als solcher gehört in die Schicht des geistigen Seins, und das vor allem durch sein Recht, welches überwiegend in die geistige Schicht gehört. Dorthin gehört der Staat auch mit seiner Politik im weitesten Sinn, die niemals nur Sache des Einzelnen ist, auch wenn sie der einzelne Machthaber betreibt, da ein solcher Machthaber schließlich die Politik aller und auch des Staates betreiben muß. IV. Eigene Gebiete des objektiven Geistes sind rechtliche Anschauungen, herrschende Moral, Sitte, Wirtschaft, Sprache, der vorwaltende Typus der Einstellung und Gesinnung, der tonangebende Geschmack, die Richtung der Kunst und des künstlerischen Verstehens, der Stand der Erkenntnis und Wissenschaft, die herrschende Weltanschauung, sowie die herrschende rechtliche Weltanschauung, Religion, Philosophie. Das Recht als solches und das werden w i r später beweisen - ist kein objektiver Geist, bzw. kein Gebiet des objektiven Geistes, wie Nicolai Hartmann meint 7 , sondern es ist vor allem objektivierter Geist, oder ein Gebiet des objektivierten Geistes, es ist objektivierter Rechtsgeist. Aber nicht nur das! Das Recht ist ein komplexes, mehrschichtiges Gebilde und greift - schon wegen seines den integrierenden Bestandteil des Rechts bildenden organisierten Zwanges - in alle niederen Seinsschichten ein. § 20. Das Verhältnis des objektiven Geistes zum personalen Geist; ein dritter Zugang zum Wesen des Rechts (und des Staates) I. Es handelt sich um ein „sygnallagmatisches", wechselseitiges Verhältnis des objektiven und des personalen Geistes, welches in der Tatsache besteht, daß der objektie Geist den personalen Geist trägt und durch ihn getragen wird. Der objektive Geist ist eine tragende Grundlage der personalen Spontaneität und der schöpferischen Kraft. 1 In jedem menschlichen Leben ist es zuerst der objektive Geist, der das Individuum formt. Das Individuum wächst allmählich in ihn hinein, bis es seine Höhe erreicht. Erst nach der Erreichung dieser Höhe hat das Individuum eine gewisse Freiheit der geisti6 7 1

NicolarHartraann, I.e., 3. Aufl., S. 212. Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 213. Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 1. Aufl., S. 189 - 209.

§ 20. Das Verhältnis des objektiven Geistes zum personalen Geist

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gen Initiative. Auch wenn dieser freie Raum ziemlich groß ist, ist er doch gering im Vergleich zu dem, was der Einzelne vom objektiven Geist übernimmt, wenn er die Sprache, die Sitte, die Moral oder die Rechtsanschauungen usw. übernimmt. Was das gegenseitige Tragen des objektiven Geistes durch den personalen Geist betrifft, ist es notwendig, sich zu vergegenwärtigen, daß es gerade Individuen sind, die lebendige, aber wechselnde Träger des objektiven Geistes sind; es ist ihr Einsatz, welcher den objektiven Geist bewegt, und ihn vorweg treibt; doch ist aber die Bewegung nur seine Bewegung, nur Bewegung des objektiven Geistes, nicht Bewegung dieser Individuen selbst. Und so sehen wir, daß es in allen Sphären des Geistes um dasselbe Verhältnis des objektiven Geistes und des personalen Geistes geht. Der objektive Geist trägt den personalen und ist wechselseitig durch ihn getragen. Allerdings ist die Tragfähigkeit des objektiven Geistes immer die größere, wie man das z.B. an der Sprache, Bildung, am Wissen und an der Erkenntnis, am rechtlichen und moralischen Fühlen beobachten kann. II. Auch auf dem Gebiet der Moral und der praktischen Art und Lebensführung überhaupt ist es ähnlich. Nur der Weg des Hineinwachsens des Individuum ist hier ein anderer, und zwar deswegen, weil die Form des Übergebens und Übernehmens eine andere ist. 2 „Sie kann weder die der inneren Nachahmung sein, wie bei der Sprache, denn das Ethos verlangt Entscheidung und Einsatz der Person; noch auch kann sie einfach die der Belehrung sein, denn die Belehrung muß nicht nur die Einsicht, sondern auch das sittliche Empfinden überzeugen. Ja, sie muß dieses Empfinden allererst erwecken. Sich überzeugen von moralischer Gültigkeit und Verbindlichkeit ist etwas grundsätzlich anderes, als sich überzeugen von Errungenschaften der Erkenntnis und Wissenschaft." Die moralische Gültigkeit hat den Charakter einer an den Menschen gestellten Anforderung, eines Sollens. Wer mit Belehrung über solche Gültigkeit vor den anderen hintritt, setzt voraus, daß der andere diese Anforderung anerkenne und gutheiße und sich selbst ihr unterordne. Das aber setzt wieder voraus, daß der Andere diese Anforderung wirklich als seine Pflicht empfinden wird. Und wiederum als Pflicht empfinden kann er sie nur, wenn er die Normidee, bzw. die Idee oder die Norm, um die es hier geht, wenigstens dunkel fühlt. Freilich kann man sich auch einfach der Autorität fügen. Aber das bloße sich Fügen ist nicht moralisches Verhalten. 3 Freilich hat der objektive Geist mannigfaltige Wege, das Individuum zu umfassen und zu sich hinaufzuziehen. Der objektive Geist nicht nur als gel2 Zum folgenden Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 3. Aufl., S. 227 ff. 3 Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 228.

7 KubeS

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3. Teil: Das geistige Sein

tende Moral, sondern auch als Rechtsbewußtsein, Rechtsüberzeugung, einfach als objektiver Rechtsgeist, ist ja nicht ein Inbegriff von fixen Vorschriften, sondern Geformtheit des sittlichen, bzw. rechtlichen Empfindens im Leben der Menschen. Und da die Situationen, in die der Einzelne gerät, nicht nur durch das sittliche, sondern auch durch das rechtliche Empfinden der Beteiligten - durch ihre stillschweigenden Voraussetzungen und Erwartungen, ihre selbstverständlichen Anforderungen und Normideen, - bzw. Ideen-, bzw. Wertungsreaktionen - schon jederzeit mitbestimmt sind, so kann man auch sagen4: es ist der objektive Geist als bestehende Moral und auch als Rechtsgeist, der die Lebenssituationen der Einzelnen mit gestaltet und durch sie hindurch im Anwachsen der moralischen und rechtlichen Erfahrung auch die Erweckung des Bewußtseins der Normideen, bzw. der Ideen (der Normidee der Sittlichkeit und der Idee der Moral und auch der Normidee und der Idee des Rechts) bestimmt. So kehrt das alte Bild des Grundverhältnisses auch hier wieder. 5 Es ist dasselbe Hineinwachsen, Übernehmen und Heimischwerden der Einzelnen im objektiven Geist. Der Unterschied des Weges hat seinen Hintergrund in der Besonderheit der Rolle, die das moralische und rechtliche Empfinden im Gesamtgeist einer Zeit spielt. Der objektive Geist der betreffenden Epoche steht in sehr mitbestimmender Weise hinter der Formung des personalen Geistes, speziell des personalen Moralgeistes und des personalen Rechtsgeistes. Allerdings ist es der Einzelne, der will, entscheidet und handelt, aber der objektive Geist bestimmt ihn mit und hält ihn in festgesetzten Grenzen. Verantwortung und die hinter ihr stehende Freiheit der Entscheidung sind freilich durchaus Sache des Einzelnen. Auf der anderen Seite mündet alles, was der Einzelne aus seiner persönlichen Verantwortung und Freiheit der Entscheidung, besonders in moralischer und rechtlicher Sphäre, aus seinem persönlichen Ethos im weitesten Sinn des Wortes tut und im Tun aus ihm herausstellt, wieder zurück in den gemeinsamen objektiven Geist, besonders in den objektiven Moralgeist und Rechtsgeist der Zeit. So ist hier der Einzelne ohne es vielleicht zu durchschauen, ein mitbewegendes Element in der Gesamtbewegung des objektiven Geistes. III. Wie schon angedeutet, ist dieses Grundverhältnis des personalen und objektiven Geistes, das in der Tatsache besteht, daß der eine Geist den anderen trägt und gegenseitig von ihm getragen ist, auf dem Gebiete des Rechts sehr auffallend. Nur hier tritt in auffallender Weise auch der objektivierte Geist hervor. Wir werden sehen, daß die geltende Rechtsordnung objektivierter Rechtsgeist ist. Dieser objektivierte Rechtsgeist trägt wieder den objektiven und personalen Rechtsgeist und wird gleichzeitig und wechselseitig von ihnen getragen. 4 5

Vgl. Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 229. Zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 231 ff.

§ 20. Das Verhältnis des objektiven Geistes zum personalen Geist

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Die geltende Rechtsordnung als gewisse Kodifikation, d. h. als Objektivation des objektiven Rechtsgeistes (d.h. des Rechtsbewußtseins, der Rechtsüberzeugung, des Rechtsempfindens der betreffenden Gemeinschaft) ist ein gewisser, ungemein bedeutender Bestandteil des objektivierten Geistes. Man spricht folgerichtig vom objektivierten Rechtsgeist. Er ist freilich, wie gerade gesagt wurde, getragen durch den objektiven Rechtsgeist (welchen er gleichzeitig trägt), ohne welche Grundlage er sich nicht lange Zeit erhalten könnte. Dieser objektive Rechtsgeist, dieses Rechtsempfinden des Volkes, beruht wieder auf den realen Empfindungen und Auffassungen von Gerechtigkeit, Rechtssicherheit, Zweckmäßigkeit und Freiheit des konkreten Menschen, beruht auf dem personalen Rechtsgeist. Das geltende Recht als objektivierter Rechtsgeist ist daher durch den objektiven Rechtsgeist und durch die personalen Geister getragen und trägt sie zugleich gegenseitig. In gewisser Zuspitzung kann man sagen: das geltende Recht besitzt seine lebendige Kraft nur so lange, bis es - im Ganzen genommen - den herrschenden Vorstellungen von Gerechtigkeit usw. entspricht. Die Rechtsordnung, welche beim Leben durch Gewalt aufrechterhalten wird, ist in ihren Grundlagen selbst untergraben und muß sich letzten Endes ändern, entweder in legaler oder in revolutionärer Weise - um wieder im Einklang mit dem Rechtsempfinden des Volkes der betreffenden Rechtsgemeinschaft zu sein.6 IV. Zu jedem Geist einer gewissen Zeit gehört ein bestimmtes soziales und rechtliches Leben, eine bestimmte politische Tendenz, eine bestimmte geltende Moral, Weltanschauung, ein bestimmter Glaube, Geschmack, Lebensstil, eine bestimmte Kunst, Bildung, Sprache usw. 7 Alle diese Gebiete aber bilden durch einen inneren Zusammenhang in jedem Augenblick eine ganz bestimmte Einheit des objektiven Geistes. So z.B. existiert keine gesellschaftliche Norm, keine Moral, kein Recht, zu denen nicht eine gewisse Weltanschauung, Bildimg, Technik, mindestens grundsätzlich gehörten. Der objektive Geist ist in seinem ganzen Wesen expansiv und sein Durchdringen und seine Formung kann man mit keinen künstlichen Mitteln aufhalten. Der objektive Geist ist keine Substanz und auch kein Geist neben dem menschlichen Geist. Der objektive Geist ist das, was in vielen Individuen lebt, sich tradiert, von uns allen übernommen und weiter gegeben wird. Es existiert aber noch ein anderer, zweiter Grundzug des objektiven Geistes.8 Es handelt sich um eine typische Weise der Einheit, die der objektive Geist aufweist. Der objektive Geist und seine inhaltliche Ganzheit sind in keinem menschlichen Bewußtsein beisammen und trotzdem sind sie da und 6 7 8

τ

Vgl. Nicolai Hartmann, I.e., 1. Aufl., S. 204. Zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e., 1. Aufl., S. 221 f. Zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e., 1. Aufl., S. 223f.

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3. Teil: Das geistige Sein

werden als existierend zur Kenntnis genommen und respektiert. Der objektive Geist ist eine Ganzheit anderer Art, eine inhaltliche Ganzheit.

§ 21. Über die Macht des objektiven Geistes und die Problematik des Verhältnisses des Rechts, der Macht und der Revolution; ein vierter Zugang zum Wesen des Rechts (und des Staates) I. Die Teilnahme des Einzelnen an allen Errungenschaften des objektiven Geistes ist regelmäßig zwar von einer bestimmten Grundbedeutung, trotzdem ist sie aber eine sehr beschränkte, ja armselige. 1 Das kann man auch auf solchen wichtigen Gebieten des objektiven Geistes beobachten, wie es die Gebiete des rechtlichen, staatlichen, sozialen und politischen Lebens sind. Ja, auch der aktiv im öffentlichen Leben Stehende, dem man die Überschau am ehesten sollte zutrauen dürfen, hat sie in Wirklichkeit nicht. Auch im Wissen und Empfinden des führenden Staatsmannes geht das wirkliche politische Leben nicht auf. Und dennoch gibt es hier die einheitliche Ganzheit des objektiven Geistes, die zwar in keinem personalen Geiste beisammen ist, aber als empfundene und Alle betreffende Gesamtlage und Gesamttendenz beisammen ist. II. Dieses Phänomen finden w i r in besonderer Zuspitzung auf dem rechtlichen Gebiet. 2 Hier schafft sich der objektive Geist eine besondere Organisation, mit welcher er sich gegen die gegen ihn gerichtete Initiative des Einzelnen zur Wehr setzt. Diese Organisation ist auch äußerlich mit der Macht ausgestattet, die gegen den Einzelnen vorgeht. Man sieht, daß hier der objektive Geist, und man kann schon sagen der objektive Rechtsgeist, besondere Instanzen, besondere Organe, Gerichte usw. mit besonderem Verfahren schafft und so den Eingriffen der Einzelnen Widerstand leistet, wenn sich die Eingriffe gegen den objektiven, bzw. objektivierten Geist (Rechtsgeist) richten. Diese Organisation ist mit einer Macht ausgestattet, die gegen ein solches Individuum eingreift. Der Einzelne erlebt dann den Widerstand des geltenden Rechts in Form einer Entscheidung des betreffenden Organs, Gerichts, und bzw. auch in Form einer Exekution oder Strafe. Hier erscheint in sehr deutlicher Art die Macht des objektiven und objektivierten Geistes (Rechtsgeistes). Die rechtliche Macht ist keineswegs nur etwas Äußerliches. Das „Recht" ohne Macht ist kein Recht. Die Macht gehört immanent zum Wesen des Rechts, ist sein essentieller Bestandteil. 1 Dazu und zum folgenden Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 1. Aufl., S. 228, 233 - 241; 3. Aufl., S. 264ff., 272ff.; Vladimir KubeS, Recht und Revolution, Österr. Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht, 30, 1979, S. 257 ff. 2 Zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e., 1. Aufl., S. 235 - 240, 3. Aufl., S. 274 - 280.

§2.

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Das Recht ohne Macht ist ein „Begriff", der - brachylogisch ausgedrückt an einem inneren Widerspruch leidet, da man mit den Worten „ohne Macht" den Inhalt dessen, was dem Recht immanent und in essentieller Weise eigen ist, negiert. Recht ohne Macht ist ein Nonsens. Das Recht mit seinem immanenten und essentiellen Bestandteil, d.h. mit seiner Macht, setzt sich gegen den Einzelnen zur Wehr, der gegen die Rechtsordnung handelt, ebenso wie es auf der anderen Seite den Einzelnen in Grenzen seiner rechtlichen Freiheit vor fremder Privatinitiative schützt und das alles eben durch diese Macht. Mit Recht stellt Nicolai Hartmann fest, 3 daß man, wenn man fragt, was diese Macht eigentlich ist, hier nicht auf geltendes Recht rekurrieren kann, denn eben das Gelten des Rechts setzt ja schon die Macht voraus. Diese Frage kann man auch nicht so beantworten, daß w i r zur Verfassung des Staats rekurrieren, da auch ein solcher Rekurs nichts anderes bedeutet als das Argumentieren mit dem „geltenden Recht", weil die staatliche Verfassung an der Spitze der staatlichen Rechtsordnung steht. Man kann auch nicht sinnvoll die Frage weiter hinausschieben und z.B. mit der besonderen geschichtlichen Entwicklung, mit Umständen, die einer Gruppe die Macht in die Hand spielten, argumentieren, da man aus dem, was tatsächlich ist, aus dem Sein, nicht auf das Sollen urteilen kann. Mit alledem kommen w i r nicht zum Kern der ganzen Sache. Die Macht, die nicht auf dem Recht beruht, ist eine unrechtliche, ja eine rechtswidrige, ist bloße Gewalt. Das Recht, das nicht auf der Macht fußt, ist kein Recht. Geht es um einen „circulus vitiosus", da die Macht auf dem Recht, das Recht aber wiederum auf der Macht beruhen solle? Es geht um ein altes Problem des Verhältnisses von Recht und Macht. Dieses Problem wurde in einzelnen Theorien des Rechts und des Staates sehr verschiedentlich gelöst. Von den Anhängern des dialektischen Denkens in der Philosophie und Rechtsphilosophie wurde dieses Problem in dem Sinne beantwortet, daß das Verhältnis der Begriffe „Recht" und „Macht" überhaupt nicht durch eine logische Analyse lösbar ist, auch wenn man mit ihr hier - wie überall anfangen muß; die dialektischen Relationen bedeuten kein Minus, sondern ein Plus mit Rücksicht auf die Analyse selbst.4 Der Gegensatz zwischen der „idealdogmatischen" und „soziologischen" Betrachtung des Rechts, der regelmäßig verabsolutiert wird, zwingt direkt zu seiner synthetischen Überwindung. Keinem geltenden Recht darf die Absicht fremd sein, daß sich 3

Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 274f. Jonas Cohn, Theorie der Dialektik, Formenlehre der Philosophie, 1923; vgl. Siegfried Marek, Dialektisches Denken in der Philosophie der Gegenwart, SeparatAbdruck aus „Logos", Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur, Bd. XV, 1926, Heft 1, S. 24. 4

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3. Teil: Das geistige Sein

dieses Recht durchsetze. Auf der anderen Seite muß wiederum jede Macht in die Gemeinschaft derer, die ihr untergeordnet sind, eintreten, wobei diese Gemeinschaft direkt zur rechtlichen Normierung tendiert. Wenn man argumentiert man dialektisch weiter - die Frage nach der Berechtigung formallegitim festgesetzten Rechts stellt, das von der Willkür unterschieden werden soll, stößt man schließlich auf faktisch bestimmte Umstände, auf die faktische Macht, die imstande ist, die Rechtssicherheit zu garantieren. Wenn w i r den rechtlichen Anspruch dessen, was inhaltlich richtig ist, vielleicht auch des revolutionären Rechts, analysieren, so wird für diesen Inhalt wieder das Verhältnis einer nur den soziologischen Realitäten entsprechenden Machtteilung maßgebend. In diesem Verhältnis von Recht und Macht sieht man einen besonderen Typus, der im Gegensatz zweier Begriffe, die um ein „strittiges Gebiet" kämpfen, beruht. Cohn spricht hier von „bipolarer" Dialektik - im Unterschied zu „unipolarer" Dialektik - d.i. von einem solchen Typus, wo sich ein einheitliches Gebilde in zwei korrelative Pole mit ihrer „concordia discors" spaltet; z.B. bei der Beobachtung eines Kunstwerkes mit dem Gegensatz von „formalistischer" und „inhaltlicher" Richtung. Es ist aber notwendig, noch weiter zu gehen, als es die dialektische Betrachtungsweise tut, und zu fragen, wo das Recht (mit der Macht, die sein immanenter und essentieller Bestandteil ist) und die Macht (als dieser immanente Bestandteil des Rechts) ihren eigenen Kern haben. In dieser Richtung muß man zuerst folgendes sagen: Jede bestehende Macht ist getragen von der Gemeinschaft, in der und über die sie herrscht. 5 Der Machthaber steht nicht auf sich selbst, sondern auf der Gemeinschaft. Als Einzelner hat er überhaupt keine Macht. Macht hat er nur als Vertreter des „ Willens" der Gemeinschaft. Es ist geliehene Macht. Wenn er diese Verbindung verliert, so hat er ausgespielt. Auf der anderen Seite muß man fragen: Besteht das Recht in nichts anderem, als in einer Formel, in der Satzung, in den Gesetzen? Dort, wo solche Bestimmungen nicht dem „Willen" der Gemeinschaft, dem Rechtsbewußtsein, dem Rechtsempfinden, der Rechtsüberzeugung der betreffenden Gemeinschaft, prägnanter gesagt: dem objektiven Rechtsgeist entsprechen, wird sich eine solche Rechtsordnung, d.h. der betreffende objektivierte Rechtsgeist, nicht mehr lange Zeit in „Geltung und Wirksamkeit" halten. Die Macht, die ein immanenter und essentieller Bestandteil des geltenden Rechts ist, ist dadurch keine andere als diejenige, die im objektiven Rechtsgeist enthalten ist, die im gemeinsamen „Rechtswillen", Rechtsbewußtsein, in der Rechtsüberzeugung, in dem gemeinsamen Rechtsgefühl lebendig ist. Nicolai Hartmann drückt diesen Kerngedanken in folgender Weise aus: „Sie (sc die Macht) ist in der Wurzel identisch mit dem Inkraftsein des Rechts in 5

Dazu und zum fügenden Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 274 - 276.

§2.

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den Menschen selbst, oder wenn man so w i l l mit dem gemeinsamen Bewußtsein, daß die äußere Geltung und Handhabung der Satzung Ausdruck innerer Geltung ist. Das Recht ist so von der Zustimmung im Rechtswillen getragen, sofern dieser nicht Privatsache des Einzelnen, sondern ein gleichgeformter in den Einzelnen ist. Und eben dieser im Grunde gleichgeformte Wille ist die Quelle der Macht, mit der es sich durchsetzt." Diese innere Gleichgeformtheit der Einzelnen ist dort, wo sie eine Menschengruppe, ein Volk beherrscht, nichts anderes als der geschichtlich lebende objektive Geist, und speziell objektiver Rechtsgeist als ein Teil des allgemeinen objektiven Geistes. Es ist belanglos, ob w i r diese Gleichgeformtheit als die des Rechtsbewußtseins oder der Rechtsüberzeugung, oder des Rechtsempfindens, des Rechtsgefühls oder des Rechtswillens bezeichnen. Alles das sind nur Hilfsbezeichnungen, die nur im bildlichen Sinn benutzt sind, und die aus einer anderen Seinsschicht oder mindestens aus einer anderen Seinsphäre „ausgeliehen" und daher gewissermaßen schief sind. In der Schicht des objektiven geistigen Seins kann es sich um kein eigentliches „Bewußtsein", um „Empfinden", „Gefühl", „Überzeugung", noch um „Wollen" handeln. Eher könnte man von gemeinsamer Tendenz sprechen. Der objektive Geist (Rechtsgeist) ist es, der die Macht als den immanenten und wesentlichen Bestandteil des Rechts und das Recht, zu dessen Wesen die Macht gehört, vereinigt. Es ist notwendig, scharf zu betonen - und das in gewissem Widerspruch zur Formulierung dieser Frage von Nicolai Hartmann, der doch an einigen Stellen das Recht und die Macht nebeneinander legt - daß das Recht, sowie die Idee und die Normidee des Rechts, schon immanent, in ihrem innersten Wesen, die Macht beinhalten. III. Der objektive (und objektivierte) Geist spricht - wenn es sich um das rechtliche Gebiet handelt - im Gesetz und in abstrakten Rechtsnormen allgemein und in konkreten Rechtsnormen, z.B. im Urteil des zuständigen Gerichtes, für den besonderen Fall. Nur wenn und solange das Verhältnis der abstrakten, z.B. der gesetzlichen Norm, bzw. der konkreten, wie etwa der richterlichen Rechtsnorm zum geschichtlich objektiven Geist lebendig, positiv ist, sind diese abstrakten, bzw. konkreten Rechtsnormen „gerecht", werden als rechtliche Normen gefühlt. Ohne den lebendigen objektiven Geist (Rechtsgeist), in dem sie verankert sind, würden sich diese abstrakten und konkreten Rechtsnormen i n einer Luftleere bewegen und als ungerecht gefühlt werden. Ohne den objektiven Geist (Rechtsgeist) würden sie nur ein Ausdruck der nackten Macht sein, die letzten Endes keine rechtliche Macht ist. Ohne den objektiven Rechtsgeist würden sie nur ein Ausdruck der „Gewalt" sein und der, welcher von solcher Gewalt betroffen wäre, würde sich als vergewaltigt fühlen.

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3. Teil: Das geistige Sein

Dann hätten freilich solche Rechtsnormen, die sich nicht auf den objektiven Rechtsgeist stützen, diesen Geist gegen sich; sie werden im Widerstreit mit dem „Rechtswillen" sein und das würde letztlich ihren Untergang bedeuten. Das Recht und die Macht, als ein immanenter und wesentlicher Bestandteil des Rechts, haben eine- und dieselbe Quelle, haben dieselbe innere Gültigkeit, die der objektive Geist darstellt. Die innere Geltung des Rechts ist mit der Macht, die das Recht über die Menschen ausübt, identisch. Die Rechtsordnung eines Staates ist daher vor allem ein Bestandteil des objektivierten Geistes. Diesen Bestandteil haben w i r als den Rechtsgeist bezeichnet. Dieser objektivierte Rechtsgeist ist aber ein Ausdruck, eine Objektivation des objektiven Geistes (des Rechtsgeistes, des Rechts willens, des Rechtsbewußtseins des Volkes der betreffenden Gemeinschaft). Dieser objektive Rechtsgeist als der bedeutendste Bestandteil, als die wichtigste Sphäre des objektiven Geistes, ist wieder getragen durch die personalen Rechtsgeister, d. h. durch die Gefühle einzelner Menschen über die Gerechtigkeit, Sicherheit, Zweckmäßigkeit und Freiheit des konkreten Menschen. Die Geltung des Rechts ist so im geistigen Sein verankert, und zwar in allen seinen drei Formen, besonders allerdings im objektiven Geist. Dieses objektive geistige Sein, auch wenn man dorthin die herrschende Weltanschauung als ein offenes System einzelner Ideen mit der realen Idee des Rechts an der Spitze einreiht, ist aber keineswegs die letzte Quelle und der letzte Grund der Geltung des Rechts. Diese Urgrundlage bildet erst die Normidee des Rechts, die durch die Vermittlung des Menschen als Subjekt und Person mit dem „organ du coeur" (Pascal) für die kategorische Stimme der Normideen, mit der Vorsehung, Vorausbestimmung, mit der Fähigkeit sich einzusetzen, mit der Zwecktätigkeit und Freiheit des Willens, in die reale Welt, wenn auch nicht vollkommen, überführt wird. Schrittweise - in solcher Art und Weise - werden durch die Tätigkeit einer langen Reihe von Generationen besondere Gebiete des objektiven (und dann auch des objektivierten) Geistes mit abgeleiteter Normativität und konkret mit rechtlicher abgeleiteter Normativität gebildet. IV. Nicolai Hartmann bemerkt, 6 daß - ebenso wie es nicht notwendig ist, ein wissentliches Wollen der einzelnen Rechtsbestimmungen im Willen der Einzelnen vorauszusetzen - es auch nicht notwendig ist, etwas solches wie eine „volonté générale", die etwas besonderes neben oder hinter dem Willen der Einzelnen wäre, vorauszusetzen. Es handelt sich um eine Vorstellung, die von Grund aus irrig ist. Man denkt, daß zuerst ein privater Wille da ist, welcher in jedem ein inhaltlich anderer ist und auch den Menschen in eine Nicolai Hartmann, I.e., . Aufl., S. 2 f .

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andere Richtung orientiert. Gerade das aber ist unrichtig. Der Einzelne wächst schon im voraus in gemeinsame Zustände, Bedürfnisse hinein und diese sind durchaus die seinigen; im Maße seines Begreif ens ist seine Willensrichtung unbedingt in die gemeinsame Richtung gepreßt. Die Sache ist vielmehr so: Es existiert überhaupt kein Wollen der Einzelnen, das im Augenblick, wo es erscheint und bewußt wird, nicht gewisse, dem Inhalt und der Richtung nach gemeinsame Grundzüge aufweisen würde. Ebenso existiert kein Rechtsbewußtsein der Einzelnen, das nicht schon bei seinem Entstehen eine gemeinsame Grundlage beinhaltet. Das, was auf dieser Grundlage und in dieser Richtung gemeinsam ist, ist gerade das Phänomen des objektiven Geistes. Im Falle, daß man unter dem Begriff „volonté générale" gerade dieses Phänomen verstünde, wäre es freilich möglich, mit diesem Terminus weiter zu operieren. Allerdings wäre das nicht gerade zweckmäßig, weil dieser Terminus „volonté générale" schon geschichtlich sehr belastet ist und eine andere Bedeutung aufweist. Das, was an der Tendenz oder Grundlage gemeinsam ist, ist - als solches ein beweisbares Phänomen und darf nicht mit Bedeutungen verwechselt werden, die regelmäßig mit dem Terminus „volonté générale" verbunden werden. Die Macht der Tendenz besteht ganz einfach in der Gemeinschaft selbst und keine andere primäre Macht als diese existiert in der Sphäre des Rechts und des Staates. Der Einzelwille besitzt freilich im Verhältnis zu dieser Macht noch einen breiten Raum der Freiheit. Der Wille des Einzelnen kann auch ganz aus der gemeinsamen Tendenz ausfallen. Dann ist es ein isolierter Wille und mit Rücksicht auf diese Isoliertheit ist er auch ohnmächtig. Wir dürfen auch nicht die gemeinsame, gemeinschaftliche Tendenz etwa als „den Willen aller" („volonté de tous") interpretieren. Denn wenn man auch vom Willen des Einzelnen absieht, existiert immer eine Divergenz der Gruppen. In dieser Divergenz aber existiert immer irgendwo im Hintergrund eine Tendenz zur Unifizierung und zum Ausgleich. Und im schwankenden Gleichgewicht dieser Möglichkeiten erscheint immer eine gewisse Resultante, welche die überwiegende Tendenz darstellt. Dasselbe gilt vom Machtträger oder von einer Gruppe, welche die Macht besitzt. In einem gewissen Raum der Freiheit kann sich die in ihren Repräsentanten realisierte Macht von der gemeinschaftlichen Tendenz ablösen und sich auch gegen sie stellen. Aber der Machtträger kann nicht verhindern, daß sich die Tendenz gegen ihn stellt. Auf die Dauer kann niemand dieser gemeinschaftlichen Tendenz widersprechen. Die Macht des Machtträgers ist eine geliehene Macht. Derselbe objektive Geist, den ein solcher Machtträger vergewaltigt, ist doch die einzige Quelle der Macht dieses Machtträgers. Die von ihrer Quelle abgelöste und künstlich verselbständigte Macht ist geschichtlich zum Tode verurteilt.

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3. Teil: Das geistige Sein

V. Die verselbständigte Macht braucht nicht die des Machtträgers sein; es kann die formale Macht des überlebten Rechts, besonders der Verfassung sein.7 In einem solchen Fall hat die geltende Rechtsordnung mit ihrer Verfassung den objektiven Geist, die lebendige Quelle staatlicher Rechtsordnung gegen sich. In dem Augenblick, da diese Tendenz des objektiven Geistes zu kämpfen und die verselbständigte Macht zu stürzen beginnt, haben w i r es mit dem Phänomen der Revolution zu tun. Der lebendige objektive Geist ist es, der versucht, sich eine neue Form, eine Objektivation zu geben, eine neue Objektivation, die ihm entsprechen würde, die im Einklang mit seiner ganzen Entwicklung wäre. Jetzt stehen w i r vor einer schwierigen Frage: Die geltende Rechtsordnung ist offenbar die, welche sich in der Gemeinschaft im Durchschnitt durchsetzt. Da geht man aber gegen eine solche Rechtsordnung; der Sinn der Revolution besteht gerade in dem Versuch, die bestehende Rechtsordnung zu stürzen. Das entscheidende Problem lautet: was bildet den Titel, den Rechtstitel zu solcher Tat? Was verleiht der Revolution die Legitimität? Es ist zu billig so zu argumentieren, daß die Revolution ein metajuristisches und metanormatives Phänomen darstellt und daß der Jurist nur mit der geltenden Rechtsordnung arbeitet und nur von ihr ausgehen soll und kann. Gewiß, der „immanente" Jurist, der nur die geltende Rechtsordnung interpretiert und anwendet, tut nur das. Aber der Umfang des rechtlichen Interesses geht viel weiter. In die Sphäre seines Interesses fällt und muß auch die Problematik der Revolution fallen. 8 Was „legitimiert" also die Revolution und verleiht der durch Revolution installierten Rechtsordnung den Rechtschavaktev? Offenbar kommen wir mit einem Rekurs zum bloß „idealem Recht", zu einer Form eines Naturrechtes, nicht aus. Das „ideale Recht", das „Naturrecht", ist nämlich ein „Recht" ohne Macht und daher Non-Recht. Im Wesen besteht die Revolution in der Tatsache, daß hier Macht gegen Macht steht. Auf so eine Weise kann man aber die Frage nicht mit Erfolg lösen. Die Problematik kann man daher weder negieren noch mit Hilfe einer Fiktion der naturrechtlichen Doktrinen lösen (sc. in dem Sinne, daß hinter dem positiven Recht ein Naturrecht existiert). Eine wirkliche Lösung besteht auch nicht in eventuellem Rekurs auf das Völkerrecht und sein zentrales Prinzip der Faktizität, nach dem nur die Staatsregierung als Regierung im rechtlichen Sinne und nur der Staat als ein Subjekt der völkerrechtlichen Gemeinschaft anerkannt wird, wenn die 7

Zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e., 1. Aufl., S. 239f. Vladimir Kubes, Recht und Revolution, Vortrag gehalten im Mai 1979 an der Universität Innsbruck (ÖZ f.ö.R. und Völkerrecht, 1979, S. 257 ff.), und das dort angeführte Schrifttum. 8

§2.

e d i a t

des objektiven Geistes

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betroffene Macht ihre Befehle im Durchschnitt auf dem Staatsgebiet durchzusetzen imstande ist. Das wäre nämlich immer noch eine bloß formalistische und äußerliche Lösung, die zwar im Rahmen der immanentrechtlichen Betrachtung und beim Primat des Völkerrechts richtig ist, aber es ist klar, daß es sich um keine „innere", wirklich rechtsphilosophische, d.h. bis zum Kern der ganzen Problematik gehende Lösung handelt. Und noch mehr! Auch gegen das geltende Völkerrecht kann man mit einer Revolution vorgehen. Die Lösung ist nur dann möglich, wenn w i r uns folgerichtig vergegenwärtigen, daß das Recht und die Macht keine unterschiedlichen Faktoren sind, sondern daß zum Wesen des Rechts gerade die Macht gehört. Und weiters: man muß sich auch entschieden klar machen, daß das Recht mit seinem immanenten und integrierenden Bestandteil, «d. h. mit der Macht, eine gemeinsame Quelle im objektiven Rechtsgeist, in jener Grundtendenz des lebendigen objektiven Geistes besitzt. Der objektive Geist - wie w i r noch näher sehen werden - ist durch sein ganzes Wesen zur Objektivation getrieben. Konkret: das Rechtsbewußtsein, das Rechtsgefühl des Volkes der betreffenden Gemeinschaft, mündet in den objektivierten Rechtsgeist ein, d.h. in Gesetze, Verordnungen, Urteile usw. Der objektive Geist lebt und entwickelt sich weiter. Das bedeutet, daß sich im Prozeß der weiteren Entwicklung das Rechtsbewußtsein ändert. Es ändert sich der objektive Geist. Der objektivierte Geist bleibt aber konserviert; durch seine Objektivation ist er bis zu einem gewissen Maß der Zeit und daher der Änderung entkommen. Gesetze und Verordnungen als bedeutendste Bestandteile des objektivierten Geistes bleiben dieselben und werden gerade daher in Beziehung zum lebendigen objektiven Rechtsgeist veraltet und hören auf, ein Ausdruck des gleichzeitigen Rechtsempfindens zu sein. Wenn der objektive Rechtsgeist seine neue Objektivation auf dem „legalen", „friedlichen" Wege nicht verwirklicht, was bedeutet, daß sich die objektivierten Gebilde, wie Gesetze, Verordnungen usw. nicht im Einklang mit ihm befinden, dann entsteht begreiflicherweise eine Diskrepanz zwischen dem objektiven Rechtsgeist und dem objektivierten Rechtsgeist, der veraltet ist, eine Diskrepanz zwischen dem Rechtsempfinden des Volkes und den geltenden Gesetzen. Die Spannung steigert sich immer mehr, bis man zum Phänomen der Revolution kommt. Auf diesem Wege der Revolution wird dann die Harmonie zwischen dem objektiven und dem objektivierten Rechtsgeist wieder hergestellt. Der objektive Rechtsgeist hebt seine Objektivationen aus früheren Zeiten auf und gibt sich neue Objektivationen, d.h. neue Gesetze und andere Rechtsnormen. Die geltende Rechtsordnung hat den Grund ihrer Geltung zuerst im objektiven Rechtsgeist. Der objektive Geist ist infolge seines Schaffens und sich Umbildens durch die Ideen und Normideen ein entscheidender Faktor. Auch

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3. Teil: Das geistige Sein

die Revolution hat in ihm ihre innere Begründung und nur er verleiht ihr die Legitimation. Das ist der Grund, warum man mit vollem Recht von dem „Recht der Revolution" sprechen darf. Die Revolution steht im Recht, wenn sie den objektiven Geist (Rechtsgeist) hinter sich hat. Es ist der lebendige objektive Geist, der fortwährend bestrebt ist, sich eine neue Form zu geben, eine Form, die ihm entspräche und im Einklang mit seiner Entwicklung wäre. Bei genauerer Betrachtung erscheinen uns die Situationen in geradezu paradoxer Zuspitzung. Der Führer der Revolution geht gegen die bestehende Rechtsordnung und die bestehende Macht vor. Wenn er keinen Erfolg erreichen wird, so bleibt die existierende Rechtsordnung in Geltung und Wirksamkeit und ein solcher Revolutionsführer erscheint als Hochverräter. Und umgekehrt: setzt er sich durch, so wird die bis jetzt existierende Rechtsordnung fallen, mit neuer Macht kommt ein neues Recht - wobei es gleichgültig ist, ob es zu mehr oder weniger Änderungen kommt - und der Revolutionsführer wird - brachylogisch ausgedrückt - ein legitimer Gesetz- . geber dieses neuen Rechtes sein. Nicolai Hartmann 9 und mit ihm alle, welche dieses Problem in seiner Tiefe sehen, stellen hier folgende Frage auf: Was entscheidet hier? Ist das einzig eine Frage von Erfolg und Mißerfolg, also letzten Endes eine Frage äußerer Umstände und Zufälligkeiten? Das würde heißen, daß das Recht und das Unrecht zu einer Frage des Zufalls wird. Der Widerstreit und Widersinn, der hierin liegt, ist - wie Nicolai Hartmann betont - unlösbar, solange man das Recht und die Macht voneinander trennt und als selbständige Faktoren gegeneinander ausspielt. Nur wenn man weiß, daß hinter dem Recht und der Macht als ihr immanenter und integrierender Bestandteil der objektive Geist (der objektive Rechtsgeist) steht, kann man diese Problematik mit Erfolg lösen. Es ist dabei selbstverständlich, daß in jedem politischen Umschwünge der Zufall eine große Rolle spielt. „Aber es ist doch nicht so, daß er allein entscheidet. Wo in einem Staatswesen die Zustände unhaltbar geworden sind, da ruht der Geist der Revolution nicht, bis das Neue sich durchsetzt, auch wenn der Ansturm wieder und wieder abgeschlagen wird. Wo aber der Zustand gesund ist und nur eine Gruppe von Unzufriedenen den Umsturz anstrebt, da kann sich das Neue, auch wo es siegt, nicht halten; es muß der alten Ordnung wieder weichen. Blickt man auf geschichtliche Augenblickslagen hin, so läßt sich da freilich manches Gegenbeispiel anführen. Blickt man aber auf die Entwicklungen im Großen hin, so wird man die Regel bestätigt finden." 1 0 9 10

Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 278f. Nicolai Hartmann, I.e.

§22. Die Individualität des objektiven Geistes

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Was entscheidet? Die Notwendigkeit, deutlich zu erkennen, welche die wirklich existierende Tendenz des lebendigen objektiven Geistes ist, und dann in dieser Richtung richtig zu entscheiden. Nur derjenige Revolutionsführer kann Erfolg haben, der zuerst auf wissenschaftlicher Grundlage erkennt und letzten Endes mit Hilfe einer genialen Intuition zum Schluß kommt, was die wirklich bestehende Tendenz des objektiven Geistes und speziell des Rechtsgeistes ist. Ob der Revolutionsführer Hochverräter oder Gesetzgeber mit legitimer Macht wird, darüber entscheidet die Richtung, in welche der lebendige Geist und Rechtsgeist, der lebendige Sozial- und Rechtswille, zur Zeit wirklich tendiert. Wenn der Revolutionsführer diesen lebendigen Sozial- und Rechtswillen zu erkennen, zu erfassen und ihn mit geeigneten Mitteln anzuwenden fähig ist, dann w i r d er siegen und w i r d legitimer Gesetzgeber sein. Im negativen Fall fällt er und wird nach der „alten" Rechtsordnung wegen Hochverrat verurteilt werden. Im ersten Fall ist die Revolution „ i m Recht"; im zweiten Fall bedeutet die Revolution ein Unrecht. VI. Nicht nur auf dem rechtlichen, sondern auch auf moralischem Gebiet, wenn auch nicht so sichtbar und konkret, und besonders im Glauben und in der Weltanschauung (rechtlicher Weltanschauung) tritt der Machtcharakter des objektiven Geistes in Erscheinung 11 . Besonders tritt dies dort auf, wo der Neuerer dem Zeitgeist neue Ideen verkündet. Nur dann, wenn mindestens im Keime das Neue im objektiven Geist der Zeit beinhaltet ist, hat der Neuerer Hoffnung auf Erfolg. Sonst wenn er seine Zeit überholt - w i r d er vielleicht ein Märtyrer seiner Ideen, denen der objektive Geist noch nicht gewachsen ist, werden. „Das Gesetz der Wahrheit, das er vielleicht für sich hat, hilft ihm nicht. Es ist nicht das Gesetz des geschichtlichen Geistes. Der Geist hat sein Eigengesetz, seinen eigenen Rhythmus des Wandels.,Seine' Wahrheit kann nur werden, wozu er reif und geöffnet ist. Und das Gewicht seiner Stellungnahme ist keine rein passive Macht, sondern eine solche mit eigener Bewegungstendenz." § 22. Die Individualität des objektiven Geistes, seine Eigengesetzlichkeit und sein Leben; ein Zugang zur rechtlichen Geltung I. Der objektive Geist ist eine Einheit und Ganzheit eigener Art 1 , ist in allen Formen eine aufweisbare reale Macht, eine Macht nicht nur im Leben des Individuums, sondern auch eine Macht nach außen gegen den fremden 11 Vgl. dazu und zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e., 1. Aufl., S. 240f., 3. Aufl., S. 279f. 1 Zum folgenden Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 1. Aufl., S. 241 - 253, 3. Aufl., S. 281 - 295.

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3. Teil: Das geistige Sein

Geist, der mit ihm i n Gleichzeitigkeit koexistiert. Diese reale Macht des objektiven Geistes ist dem personalen Geist wie dem fremden objektiven Geist gleich fühlbar. Was besonders hervorgehoben werden muß, ist, daß der objektive Geist als geschichtlich realer, wirklicher und lebendiger, jederzeit selbst wiederum - i n allen seinen Gestalten - Individualität hat. Diese seine Individualität steht in keinem Gegensatz zur Allgemeinheit, die ihm eigen ist und durch die er sich den einzelnen personalen Geistern gegenüber kennzeichnet. Diese Individualität des objektiven Geistes ist seine Individualität und fällt nicht mit der Individualität einzelner Personen, bzw. personaler Geister zusammen. Der objektive Geist ist so ein Einmaliges und Einziges, das seine eigene Größenordnung und seine eigene Seinsweise hat. Der objektive Geist, so wie die ganze Schicht des geistigen Seins, ist ein reales Sein, und alles Reale ist individuell. Das gilt vom dinglichen Realen, ebenso wie vom geistigen Realen. So hat jedes Volk seinen eigenen objektiven Geist, der für ihn typisch ist. Er „ist" in bestimmter Zeit, er ist an das organische Stammesleben eines bestimmten Volkes gebunden und verschwindet mit ihm, wenn es zugrunde geht. Der objektive Geist hat seinen Ursprung, seine Entwicklung und seinen Untergang. Das uns schon bekannte Verhältnis der Abhängigkeit und der Autonomie ist ein ontologisches Grundverhältnis nicht nur zwischen einzelnen Seinsschichten, sondern zeigt sich auch am Verhältnis der verschiedenen Größenordnung innerhalb der einen und derselben Schicht des realen Seins, so z.B. am Verhältnis des personalen und objektiven Geistes. II. Das Eigenleben des objektiven Geistes ist nicht nur vom organischen Leben der Art „Mensch", nicht nur vom Stammesleben des einzelnen Volkes, von dessen äußeren Lebensbedingungen, von geographischen, ökonomischen und vielen anderen Faktoren abhängig, sondern auch vom Leben der Individuen, die selbst geistige Wesen sind. 2 Man darf das Leben des objektiven Geistes als ein solches verstehen, das sich aus dem mannigfaltigen Geistesleben der Einzelpersonen integriert. Diese Integration ist aber keine bloße Summe, sondern ein Gebilde eigener Art mit Eigengesetzlichkeit. Das Leben des objektiven Geistes erweist eine Form der „Superexistenz". Das Leben des objektiven Geistes ist ein dem Leben der Individuen sich überlagerndes, von ihnen getragenes und insofern durchaus abhängiges, nichtsdestoweniger aber sie umfassendes und überformendes Leben höherer Ordnung. Es ist nicht ein Leben „hinter" den Individuen, sondern eines, das „ i n " ihnen als einer ständig wechselnden und sich auffühlenden Vielheit abläuft. Sein Leben ist vom Leben der Perso2

Dazu und zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 287ff.

§22. Die Individualität des objektiven Geistes

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nen getragen und bedingt; seine geschichtliche Bewegung geht nicht ohne deren Einsatz und Initiative vor sich. Der objektive Geist tritt stets auch dem Individuum als eine inhaltliche Geformtheit und als Macht entgegen und nimmt seinerseits das Individuum in seine Formen auf, formt das Individuum von Jugend an innerlich durch, indem er es in seine geprägte Gestalt hineinwachsen läßt. Daraus folgt, daß hier die Superexistenz besonders scharf ausgeprägt ist. Im Leben des objektiven Geistes haben w i r es mit einem Überformungsphänomen von einzigartiger Größe und Kraft zu tun. Das getragene und superexistierende Gebilde des objektiven Geistes erhält und entwickelt sich selbst, indem es den tragenden Elementen gegenüber zu einer sie überformenden und beherrschenden Macht wird. Die Eigengesetzlichkeit des objektiven Geistes und seiner Entwicklung kann man sehen, wenn man das Leben der Völker beobachtet. I n der Frühzeit der Existenz der Völker herrscht ein bestimmter Typus von Moral, von Recht, von Staatsform, von Lebensstil vor. In der Reife- und Höhezeit der Existenz der Völker ist die Mannigfaltigkeit völkisch-geistiger Eigenart eine unvergleichlich größere. In der Zeit des Niederganges schließlich verschwindet diese Mannigfaltigkeit, jene verschiedenen Gebiete (Recht, Moral usw.) werden wieder ähnlicher und einfacher, während die Individuen einander immer unähnlicher werden; der objektive Geist löst sich auf und der Individualismus setzt in allen seinen überwucherten Formen ein. Der innere Zusammenhang - trotz begrifflicher Verschiedenheit - zwischen dem Recht und der Moral (aber auch der Sitte, der ganzen Politik und dem herrschenden Lebensstil) ist auch aus weiteren ontologischen Ausführungen Nicolai Hartmanns ersichtlich, der feststellt 3 , daß es überflüssig erscheinen könnte, hierbei von innerer Eigengesetzlichkeit des objektiven Geistes zu sprechen, wenn es sich nur um die Geistes-„Formen" oder -„Typen" handelte - wenn als bestehendes Recht nichts als ein System von Normen bestimmter Qualität (Hartmann spricht von einem „Kodex von Bestimmungen"), als geltende Moral nur ein System von Normen (anderer Qualität), als politische Tendenz nur ein Typus nationaler Aktion und Reaktion, als herrschender Lebensstil nur ein Gemisch von Konventionen wäre. Das ist aber nicht der Fall. A l l dieses zusammen (geltendes Recht, geltende Moral, geltende Sitte, bestehende Politik usw.) ist die lebendige und sich selbsttätig abwandelnde Gestalt des geistigen Lebens selbst. III. Nicolai Hartmann begreift das „Gelten des Rechts" in der Weise, daß es nichts anderes ist, als daß es den Rechtswillen oder das Rechtsempfinden der Lebenden als ein gemeinsames ausdrückt; oder, was dasselbe ist, daß es 3

Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 293f.

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3. Teil: Das geistige Sein

innerlich, in ihrem Verstehen und Urteilen, Macht über sie hat. „Nur inhaltlich läßt sich das geltende Recht als ein Inbegriff getroffener Bestimmungen fassen; seine Seinsweise in der Geschichte ist etwas anderes: das Lebendigsein der Gesetze im gemeinsamen Rechtswillen und -Empfinden der Menschen. Das ,Leben' der Gesetze in den Menschen ist insofern identisch mit deren Leben nach ihnen; wobei letzteres freilich nicht strikte Erfüllung bedeutet, denn es gibt auch Übertretung. Aber auch in der Übertretung bleibt doch dieses bestehen, daß sie Recht und Unrecht im Sinne dieser Gesetze verstehen, empfinden und beurteilen." 4 Auch die weiteren Ausführungen von Nicolai Hartmann sind für die Lösung der Problematik der rechtlichen Geltung von großer Bedeutung. Er schreibt: „Daß die Einzelnen den ganzen Kodex nicht kennen, geschweige denn den Sinn der einzelnen Bestimmungen erschöpfen, tut dem keinen Abbruch. Das ist nur das Nichtaufgehen des objektiven Geistes im Einzelbewußtsein. Gegebenenfalls lernt der Einzelne das Recht schrittweise kennen, wächst hinein; und im Maße seines Hineinwachsens versteht er und empfindet im Sinne des Gesetzes. Wo aber wirklich die Menschen nicht mehr im Sinne des Gesetzes Recht und Unrecht empfinden, da ist sein Leben bereits unterhöhlt, sein Gelten ein äußerliches. Und das ist dann der Anstoß seiner geschichtlichen Bewegung, seiner Umbildung von innen heraus. Die Umbildung aber ist gerade die Dynamik seines geschichtlichen Lebensprozesses. Und da sie durch die Änderung der Lebensverhältnisse nur den Anlaß erfährt, die Rechtsschöpfung in ihr aber eine immer neue und eigene ist, so darf die Dynamik ihrer geschichtlichen Bewegung bei aller Abhängigkeit als eine autonome gelten". 5 Das große Problem der rechtlichen Geltung wird später erörtert werden. Dieses Problem ist doch eins von den Grundproblemen jeder Rechtsphilosophie. Dort werden w i r zuerst zeigen, daß man streng zwischen vier Sorten von rechtlicher Geltung unterscheiden muß: zwischen der Geltung der einzelnen Rechtsnorm, der Geltung des Rechts (der Rechtsordnung) als eines Ganzen, der Geltung der realen Idee des Rechts und schließlich der Geltung der idealen Normidee des Rechts. Hartmanns Ausführungen über das Gelten des Rechts betreffen offenbar nur die Geltung des Rechts als eines Ganzen. Und gerade hier ist es notwendig, Hartmanns Ausführungen gewissermaßen zu korrigieren, und zwar im strengeren Durchdenken seiner eigenen Lehre. Man muß nämlich von dem Standpunkt 6 ausgehen, daß die Geltung des Rechts (der Rechtsordnung) als eines Ganzen seine Exequierbarkeit und 4

Nicolai Hartmann, 1. c. Nicolai Hartmann, I.e. 6 Diesen Standpunkt habe ich ausdrücklich schon im Jahre 1938 in meinem Buch „Nemoznost plnëni a prâvni norma" („Die Unmöglichkeit der Leistung und die Rechtsnorm") vertreten. 5

§ 22. Die Individualität des objektiven Geistes

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Faktizität im Durchschnitt bedeutet. Die Faktizität im Durchschnitt braucht noch nicht mit dem Rechtswillen, Rechtsbewußtsein, Rechtsempfinden der Menschen der betreffenden Rechtsgemeinschaft identisch zu sein. Der personale und objektive Rechtsgeist ist von seinem innersten Wesen aus zu den Objektivationen getrieben, also - konkret und in unserer Problematik - zur Schaffimg von Gesetzen und anderen Rechtsnormen. Diese Gesetze usw., als jede Objektivation, bilden für den personalen und objektiven Geist eine Fessel, durch welche dieser Geist so lange gebunden ist, bis er sie zerreißt und sich eine neue Objektivation gibt, welche ihm entspricht. Das kann auf dem friedlichen Weg (durch verfassungsrechtliche Änderung) oder auf dem jWeg der Revolution vor sich gehen; zur Revolution kommt es dann, wenn die Fessel standhält, widersteht und wenn es zum vollkommenen Widerstreit zwischen dem personalen und objektiven Rechtsgeist auf der einen Seite und dem objektivierten Rechtsgeist auf der anderen Seite kommt. Daraus folgt, daß das Recht (die Rechtsordnung) so lange gilt (in Geltung steht), bis es auf legalem oder revolutionärem Weg aufgehoben wird, bis es also die Fesseln des objektivierten Rechtsgeistes, d.h. nicht mehr entsprechender Gesetze, zerreißt. Im geschichtlichen Blick entscheidet der objektive Rechtsgeist. Hier hat Nicolai Hartmann Recht und gerade das ist der Kern seiner Lehre. Aber bis zu dem Moment, in welchem der objektive Geist seine Fessel zerreißt, gilt mindestens grundsätzlich - das bestehende, alte Recht. So lange bilden die nicht mehr entsprechenden Gesetze die geltende Rechtsordnung - freilich unter der Grundvoraussetzung ihrer Exequierbarkeit und Faktizität im Durchschnitt und mit Ausnahme der Rechtsnormen contra humanitatem. Gerade in dieser Feststellung besteht - wenn die Geltung der Rechtsordnung im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit steht - der nicht unbedeutende Unterschied zwischen der Auffassung Nicolai Hartmanns und der meinigen. Wenn w i r letzten Endes zum objektiven und personalen Rechtsgeist rekurrieren, bedeutet das noch nicht, daß wie w i r schon angedeutet haben, die Einzelnen vielleicht alle Gesetze, den Sinn aller einzelnen Rechtsbestimmungen kennen müßte. Der objektive Geist und der Rechtsgeist i n seiner Fülle „erscheint" nicht im einzelnen Bewußtsein des Individuums. Der Einzelne lernt schrittweise und mit großem Bemühen die bestehende Rechtsordnung zu erlernen oder sie mindestens zu „fühlen". Wenn es aber schließlich zu einer Diskrepanz zwischen dem geltenden „positiven" Recht und dem Rechtsbewußtsein kommt, dann existieren nur die zwei oben angedeuteten Wege, diese Diskrepanz abzuschaffen und wieder zur Harmonie zu gelangen.

8 Kube§

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3. Teil: Das geistige Sein

IV. Anders ist es - und zwar im Unterschied zur Meinung von Nicolai Hartmann - mit den anderen Gesetzen des geistigen Lebens. Besonders klar kann man das an der geltenden Moral beobachten. Hier gibt es selten - sagt Nicolai Hartmann - 7 die explizite Zusammenfassung der Normen der geltenden Moral, selten kommt es zur Objektivation. Meiner Ansicht nach kann es - wenn man das Wesen der Moral vor Augen hat - überhaupt nicht zur Objektivation kommen. Die Moral ist - trotz ihrer Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit - etwas so innerliches, daß jede Objektivation ihre Wesen zerstören müßte. Und gerade diese reine „Innerlichkeit" der Moral ist der Grund dafür, warum auf dem Gebiet der Moral zu keiner Objektivation im wahren Sinne kommen kann. Es existiert grundsätzlich nur ein objektiver Moralgeist. § 23. Der Geschichtsprozeß und die Ideen; die Realität des geistigen Seins, insbesondere des Rechts; der Geist und das Bewußtsein I. Die Idee als gemeinsames Richtungsbewußtsein der Individuen ist eine bewegende Macht im Lebensprozeß des objektiven Geistes.1 Die Ideen gehören in das geistige Sein, daher in die reale Welt. Dadurch unterscheiden sich die Ideen von den Normideen, die in die Welt der Idealität gehören, absolut und ewig sind und das reine Sollen enthalten. Die (realen) Ideen sind derzeitige Vorstellungen von den Normideen und reale Konkretisationen derjenigen Inhalte, wie sie sich die betreffende Zeitepoche und die in ihr lebenden Menschen, von ihren Vorstellungen gemacht hatten - auf dem unendlichen Weg zur Erreichung der Normideen selbst. In solcher Weise ist z.B. die (reale) Idee des Rechts die derzeitige Vorstellung vom Inhalt der Normidee des Rechts, dieser dialektischen Synthese von Gerechtigkeit, Sicherheit, Zweckmäßigkeit und Freiheit des konkreten Menschen. II. An den (realen) Ideen hängt ein Einschlag teleologischen Gerichtetseins im Geschichtsprozeß. Dieses Gerichtetsein der Ideen ist eine unter anderen Mächten i n der Geschichte. Jedenfalls ist die Macht der Ideen eine geschichtlich-geistige Realität im Gesamtprozeß. Ideen sind diejenigen Mächte im Leben des objektiven Geistes, an denen seine Autonomie - in aller Abhängigkeit - greifbar ist. 7

Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 294f. Zum folgenden vgl. Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 1. Aufl., S. 254 - 266, 3. Aufl., S. 295 - 316. 1

§23. Der Gesehiehtsprozeß und die Ideen

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Der Gesamtprozeß ist stets zugleich von unten (von nicht geistigen Mächten) und von oben (von geistigen Mächten) her bestimmt. Er ist heteronom und autonom zugleich. Es ist klar, daß der historische Materialismus (die materialistische Geschichtsauffassung) recht hat, wenn er die Kraft der materiellen, in erster Reihe der wirtschaftlichen Faktoren hervorhebt und lehrt, daß die wirtschaftliche Struktur die reale Grundlage bildet. Freilich hat Engels selbst gegen Ende seines Lebens darauf aufmerksam gemacht, daß man dabei nicht auf den großen Einfluß der Ideen vergessen darf, und zum Phänomen der gegenseitigen und wechselseitigen Wirkung dieser beiden Faktoren gekommen ist - besonders im rückwirkenden Reflex des Überbaues (der ideologischen Faktoren, des Rechts, der Moral, der Politik, der Religion usw.) auf die reale Grundlage. Deshalb ist es falsch, die Bedeutung der materiellen, vitalen, wirtschaftlichen Faktoren zu ignorieren und nur die Bedeutung der Ideen zu betonen. Ebenso wäre es freilich unrichtig, die Bedeutung der Ideen zu unterschätzen. „Denn die Idee, einmal erschaut, fasziniert den Blick." 2 Deshalb muß man sich fortwährend vergegenwärtigen, daß die Ideologien einer gewissen Zeit weder von den materiellen, wirtschaftlichen Bedingungen unabhängig, noch von ihnen allein abhängig sind. Aus diesem Grunde haben weder die Theorien des vulgären Materialismus noch die idealistischen Gesellschaftstheorien recht. Der objektive Geist ist kein bloßer Inbegriff individueller Geister, obschon er auf deren Gemeinschaft beruht. Die Bewegung des objektiven Geistes i n der Geschichte ist keine Gesamtheit privater geistiger Bewegtheit, obgleich sie diese als Elemente enthält. Die Dynamik geschichtlichen Geisteslebens ist nicht einfach ein Getriebensein, weder durch Umstände allein, noch durch individuelles Bedürfnis und Initiative allein, obgleich beide jederzeit wirksame Faktoren sind. 3 Zwei heterogene Eigengesetzlichkeiten des Geistes stehen einander hier stets gegenüber: die Eigengesetzlichkeit der Person und die Eigengesetzlichkeit des Gemeinsamen. Erst das Ineinandergreifen beider macht die volle Autonomie des lebenden Geistes aus. Beide Eigengesetzlichkeiten determinieren nämlich nur partial und lassen einander dadurch Spielraum. III. Aus den bisherigen Ausführungen geht klar hervor, daß das geistige Sein (der Geist) nicht in das „Reich" der Idealität, sondern in die Welt der Realität gehört. Der objektive Geist kennzeichnet sich - wie alles Reale durch die Zeitlichkeit, Zerstörbarkeit, Individualität, Wirksamkeit, durch die empirische Gegebenheit. Der objektive Geist ist in demselben Sinne 2 3

8'

Nicolai Hartmann, 1. c. Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 301.

3. Teil: Das geistige Sein

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geschichtlich wirklich, wie sichtbare Dinge naturwirklich sind. Überall hier hört man den durch die Vitalisten und Positivisten geäußerten Einwand: Wie kann das geistig Gemeinsame, wie kann die bestehende Gemeinschaftsform ein Dasein besitzen? Wir sehen sie doch nirgendwo als ein Ganzes. Als ob die Ganzheit - wie Nicolai Hartmann treffend betont 4 - nur von der Tatsache abhängen würde, daß w i r sie sehen. Ebenso könnten wir dem Sonnensystem das Dasein absprechen, da wir es als ein Ganzes auch nicht sehen. Dasselbe gilt vom geschichtlichen Sein eines gewissen Rechtsempfindens und Rechtsbegreifens i n einem gewissen Augenblick und gewissen Volk, von gewisser Moral, Kunst, Sprache, von gewissem Lebensstil. Man muß mit dem Dictum von Nicolai Hartmann einverstanden sein, daß mit dem Vorurteil jedes Positivismus abzurechnen ist, daß nur das, was man fassen kann, nur das, was eine Substanz hat, daß nur das Element Existenz hat. Demgegenüber muß man mit aller Strenge und Folgerichtigkeit an der sich auf Phänomene stützenden Feststellung festhalten, daß das, was eine komplexe Ganzheit höherer Ordnung ist, welche auf Elementen ruht, genau so viel Existenz besitzt. Jede echte Ganzheit ist eine getragene superexistierende Ganzheit, welche nicht weniger echte Existenz ist als ihre Subsistenz. Die Superexistenz ist zugleich in allen Gebieten der Gemeinschaft der Individuen ebenso fundamental wie die Subsistenz. Das Individuum ist nämlich niemals vor der Gemeinschaft da, kein einzelnes tierisches Exemplar vor der Gattung, die Person ist keinesfalls vor der Koexistenz der Personen, der personale Geist vor dem objektiven Geist. Überall und immer kennen w i r nur beides zusammen in einem Gebilde. Die Ganzheit auf dem Gebiet des Geistes ist weder bloße Koexistenz, noch einfache Gleichgeformtheit, sondern ein bewegendes Leben der geistigen Form in koexistierenden Individuen. Alles Leben ist ein formbildender Prozeß. Das gilt auch vom organischen Leben. Im organischen Sein wird die gleiche Form in der Reproduktion von Individuen gebildet. Etwaige Abweichung ist bloße Variation und eine Vermischung vom Kernplasma führt im ganzen wieder zur Grundform. Der Wechsel im Artgebilde selbst verwirklicht sich nur in kosmischen Zeitperioden. Anders ist es im geistigen Ganzheitsprozeß. Hier w i r d die Form nicht geerbt. Schon bei der Tradition unterliegt sie einem Wechsel. Die neue Generation schafft Neues, indem sie das alte übernimmt. Das Element der persönlichen Autonomie, der Zielsetzung, des Wollens und Einsetzens für den festgesetzten Zweck ist immer in den Triebkräften des Gesamtprozesses enthalten. Der Prozeß selbst ist ein aktiver Faktor. Das ist gerade das, was die besondere Lebensdynamik ausmacht. 4

Nicolai Hartmann, 1. c.

§23. Der Geschichtsprozeß und die Ideen

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Freilich ist der objektive Geist eine Macht besonderer Art und hat sein eigenes Leben über den einzelnen Personen, und zwar ein Leben mit eigener, autonomer Dynamik. IV. Wo immer sonst man den realen Geist antrifft, hat er die Form des Bewußtseins und der Personalität 5. Von der Seinsform des Menschen her erscheint uns das ganz selbstverständlich, daß man ein Gebilde, das weder Bewußtsein noch Person ist, gar nicht für ein geistiges halten würde. Wie aber steht es mit dem objektiven Geist? Der objektive Geist ist doch weder Bewußtsein noch Person. Trotzdem ist er Geist, aber in anderer Seinsform. Es ist unbestreitbar, daß es sich hier um einen modus deficiens handelt. Gerade das ist es, was am objektiven Geist irritiert und was bewirkt, daß seine Gegebenheit unglaublich scheint. Gerade in diesem Punkt muß man umlernen. Von der Grundlage des personalen Geistes, der in den Kategorien des Bewußtseins und der Personalität verankert ist, kann man die ganze Reihe der betreffenden Phänomene überhaupt nicht verstehen. Diese Phänomene zeigen nämlich ein geistiges Sein ohne eigenes Bewußtsein und ohne eigene Personalität. Das erscheint uns ganz unmöglich, wenn w i r vom menschlich subjektiven, vom personalen Geiste ausgehen. Auf der Ebene der Personen gibt es nur den personalen Geist; hier spielt sich alle Entfaltung geistigen Seins zwischen Geburt und Tod des Individuums ab. Der objektive Geist aber ist gerade an Leben und Tod der Personen nicht gebunden. Sein Leben läuft in anderen Zeitmaßen ab. Dasselbe gilt vom Bewußtsein, das in jedem Individuum neu entsteht und mit ihm vergeht. Jeder hat sein eigenes Bewußtsein für sich; das Bewußtsein ist unvertauschbar und unübertragbar. Niemand kann mit seinem Bewußtsein dem anderen in das seine eindringen. Das Bewußtsein isoliert die Menschen. Der Geist aber als solcher ist den Menschen gemeinsam, und niemand hat Geist schlechterdings für sich. Der geistige Inhalt ist an sich objektiv, wandert frei von Bewußtsein zu Bewußtsein. Der Geist verbindet die Menschen. Der Geist als solcher ist aber überhaupt nicht Bewußtsein. Er kann Bewußtsein haben, aber er hat es nicht notwendigerweise, genau so wenig, wie er notwendigerweise Personalität hat. V. Das Bewußtsein erhebt sich über dem organischen Sein, ruht auf ihm in ähnlicher Weise, wie das organische Sein dem physisch-materiellen Sein aufruht. Trotzdem gibt es aber hier einen fundamentalen Unterschied. Das Bewußtsein hat in sich als sein kategoriales Element weder die Seinsform 5

Zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 303ff., 311 f.

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3. Teil: Das geistige Sein

des Organismus, noch die Materialität und Räumlichkeit. Die Wiederkehr dieser Kategorien bricht schon hier vollkommen ab. Alle materialistischen Versuche, die seelischen Phänomene mit den Kategorien der Materialität und der Räumlichkeit zu bewältigen, bleiben erfolglos. Das Bewußtsein ist nämlich eine Seinsform, die das Organische nicht überformt, sondern überbaut. Dasselbe gilt, wenn es sich um das Verhältnis des Bewußtseins und des objektiven Geistes handelt. Hier ist die Sachlage dadurch erschwert, daß neben der Seinsform des Bewußtseins auch die Seinsform der Personalität steht, die selbst bereits eine solche des Geistes ist. Dem personalen Geist ist das Bewußtsein durchaus eigentümlich, auch wenn er darin nicht aufgeht. Dem objektiven Geist dagegen ist das Bewußtsein nicht eigentümlich. Der objektive Geist ist wesentlich etwas anderes, als Bewußtsein und Person; der objektive Geist überformt das Bewußtsein und die Person nicht, sondern er überbaut sie und läßt sie als Kategorien hinter sich. Es existiert kein allgemeines Bewußtsein über dem Bewußtsein des Menschen und es existiert keine allgemeine Personalität über der menschlichen Person. Das Bewußtsein des Menschen und die menschliche Person sind ausschließlich die des Einzelnen. Es gibt wohl ein „Bewußtsein" des objektiven Geistes, aber es ist kein höheres Gemeinbewußtsein über dem der Individuen. „Das Bewußtsein des objektiven Geistes besteht nicht in ihm, sondern in uns, den Einzelpersonen. Wir eben sind Subjekte, bewußte Wesen. Es ist also nicht das seinige, sondern das unsrige." „Es gibt kein adäquates Bewußtsein des objektiven Geistes. Es ist sein inneres Schicksal, weder direkt an sich selber noch mittelbar in uns ein Bewußtsein seiner selbst haben zu können, das inhaltlich ihm genügte, - also das, was er an sich ist, voll und ganz für sich sein zu können." 6 Das ist das Eigentümliche des geistigen Seins, daß es nicht nur nicht mit dem Bewußtsein zusammenfällt, sondern überhaupt nicht an Seinsform und Grenzen des Bewußtseins gebunden ist. Ohne Substanzcharakter bleibt der objektive Geist an das Bewußtsein der Menschen angewiesen, die er umfaßt. Und dieses Bewußtsein ist inadäquat. VI. Das bestehende Recht ist nicht ein Rechtsbewußtsein i n den geltenden Gesetzen oder über ihnen, und erst recht nicht über dem Rechtsbewußtsein der Einzelmenschen, wie Nicolai Hartmann mit Recht feststellt. 7 Das bestehende Recht ist aber nicht - wie Nicolai Hartmann meint - 8 „das Gültig- und Anerkanntsein der Gesetze im Rechtsbewußtsein der Menschen selbst, in ihrem Rechtswillen und Rechtsempfinden." Das ist kein 6 7 8

Nicolai Hartmann, I.e. Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 313f. Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 313.

§23. Der Gesehiehtsprozeß und die Ideen

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objektivierter Rechtsgeist - und gerade die Rechtsordnung ist eine Objektivation des objektiven Rechtsgeistes, ist ein objektivierter Rechtsgeist, wie wir noch später sehen werden. Es ist zwar richtig, daß die Individuen ein Rechtsbewußtsein haben, aber es besteht nicht nur im Wissen um die objektiv für alle geltenden Gesetze. Das Rechtsbewußtsein ist mehr als dieses. Passives Wissen wäre zu wenig. Der objektive Geist entwickelt sich fortwährend und weiß nicht nur, er schafft Neues. Gerade deswegen kommt es zur Diskrepanz zwischen ihm, dem objektiven Rechtsgeist, und der noch geltenden Rechtsordnung, also dem objektivierten Rechtsgeist. In keinem Falle freilich geht es um ein Bewußtsein höherer Ordnung und auch nicht um ein Bewußtsein, das in jedem Individuum dem Rechtsgebiet in seiner ganzen Breite und Tiefe adäquat wäre. Der objektive Geist, und mit ihm der objektive Rechtsgeist, ist eine empirische Gegebenheit, die an keine Konstruktion eines Bewußtseins und einer Personalität höherer Ordnung geknüpit ist. In diesem Sinne sind alle idealistischen Bewußtseinstheorien im Unrecht. Nur der Mensch ist Person. Der objektive Geist ist kein vergrößerter Mensch. Der Mensch ist ein Geist, aber ein subjektiver Personalgeist. Das Rechtsbewußtsein ist daher kein „Überbewußtsein", das über dem Rechtsbewußtsein des Einzelnen wäre. Das hat klar z.B. schon der große französische Rechtsdenker Léon Duguit erkannt. Immer muß man aber das Rechtsbewußtsein (die Rechtsüberzeugung, das Rechtsempfinden) des Volkes der betreffenden Rechtsgemeinschaft auf der einen Seite und das geltende Recht (die geltende Rechtsordnung) auf der anderen Seite klar unterscheiden. Das Rechtsbewußtsein ist der objektive Rechtsgeist; die geltende Rechtsordnung ist der objektivierte Rechtsgeist. Was den objektiven Rechtsgeist betrifft, so haben zwar die einzelnen Individuen und nur sie ein Rechtsbewußtsein, das allerdings dem „ganzen" Rechtsbewußtsein nicht adäquat ist; das Rechtsbewußtsein des Einzelnen kann nicht die ganze rechtliche Sphäre umfassen. Das Rechtsbewußtsein ist kein Bewußtsein „höherer Ordnung". Das Rechtsbewußtsein, das in der betreffenden Rechtsgemeinschaft besteht, ist mit soziologischen (rechtssoziologischen) Methoden und Techniken feststellbar. Das Rechtsbewußtsein ist eine empirische Gegebenheit. VII. Den objektiven Geist, und daher auch den objektiven Rechtsgeist oder den objektiven Moralgeist, stellen wir in unserer Erfahrung und in unseren Erlebnissen fest nicht als etwas, was vielleicht zu unserem eigenem Bewußtsein gehöre, sondern als etwas, was real außer uns steht. Wir stellen ihn im Erfahren und Erleben nicht als etwas dem eigenen Bewußtsein Zuge-

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3. Teil: Das geistige Sein

höriges, sondern als ein ihm Gegenüberstehendes, als eine Macht, mit der wir uns auseinandersetzen müssen, die wir erkennen oder verkehren können, wie andere Realobjekte. 9 Auf der anderen Seite sind wir selbst in unserem Bewußtseintypus von ihm durchzogen und durchformt. Schon Hegel hat gesehen, daß der objektive Geist als solcher ein unvollständiger Geist ist. Es fehlt ihm das Fürsichsein, das er nicht haben kann, weil er kein Bewußtsein hat. Deswegen bleibt der objektive Geist an die Ergänzung durch den personalen Geist angewiesen. Es muß sich das Bewußtsein, zu dem er als superexistierender nicht gelangen kann, vom personalen Geiste „leihen". Beim objektiven Geist geht es um einen echten „modus deficiens", um eine Form der ontischen Unselbständigkeit, um stetiges Angewiesensein des objektiven Geistes auf den personalen Geist. Nur das Individuum hat Bewußtsein, Personalität, Subjektivität. Nur der Einzelne ist ein verantwortliches Wesen, nur er hat Willen, Initiative und die Kraft zur Entscheidung. Das alles hängt im Bewußtsein. Der Ausgleich liegt darin, daß beide Seinsformen des lebenden Geistes, d.h. des personalen und des objektiven Geistes, gar nicht isoliert vorkommen. Beide Seinsformen existieren nur zusammen, in Wechselbezogenheit und Wechselbedingtheit, als Gefüge. Ein persönlicher Geist ohne objektiven Geist wäre arm, inhaltslos, leer; alles Inhaltliche in ihm baut sich im Übernehmen auf. Ein objektiver Geist ohne persönlichen Geist wäre bewußtlos. Beide sind durch ihr eigenes Wesen aneinander gefesselt. § 24. Der Modus deficiens des objektiven Geistes und die Problematik der Führung im Staat I. Der objektive Geist hat also kein Bewußtsein. Es gibt hier zwar ein Bewußtsein von ihm, aber nicht in ihm, sondern nur in uns. Das kann man mit besonderer Schärfe und Dringlichkeit dort beobachten, wo es sich um Bildung, Formung, und Führung der Gemeinschaft auf dem Gebiet des sozialen Lebens, des Staates und der Politik handelt. 1 Ein bestehendes Gemeinwesen w i l l „regiert" sein, es bedarf von Augenblick zu Augenblick der leitenden Hand, der Führung. Der Staat muß regieren, er muß eingreifen und entscheiden. Der Staat als solcher aber hat kein Bewußtsein und gerade das alles (Erkenntnis der Sachlage, Voraussicht, Entscheidung, Führung) ist spezifische Sache des Bewußtseins. Wie also soll der Staat, der kein Bewußtsein hat, überhaupt handeln? Der objektive Geist, 9

Dazu und zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 317ff. Zum folgenden Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 1. Aufl., S. 275 - 347, 3. Aufl., S. 320 - 405. 1

§24. Der Modus defieiens des objektiven Geistes

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der in einem Volke lebt, dem also die Funktionen der Voraussicht, Entscheidung, Führung von Rechts wegen zufallen müßten, ist dazu außerstande. Es würde daher eines leitenden Bewußtseins höherer Ordnung dringendst bedürfen. „Da aber der objektive Geist ein solches nicht hat, der Staat aber keine Stunde ohne lebendes Bewußtsein leben kann, so schafft er sich für den modus defieiens eine Art Ersatz: er sucht sich und findet das stellvertretende Bewußtsein - und zwar dort, wo allein es zu finden ist, bei der menschlichen Einzelperson. Er greift damit zu einem Surrogat. Aber er hat keine Wahl." 2 Das ist der Grund, warum der objektive Geist in der Staatsgemeinschaft den Einzelnen als das repräsentierende Individuum an die leere Stelle des leitenden Bewußtseins erhebt. Der Einzelne besitzt dann die Macht nicht als solcher, sondern als Repräsentant. Seine Macht ist verliehene Macht und existiert nur für die Zeit, für welche sie verliehen wird. Es ist grundsätzlich gleichgültig, ob das in patriarchalischer oder parlamentarischer Form geschieht, oder in einer anderen Form. Es ist - von diesem Standpunkt gesehen - gleichgültig, ob der König oder der einzelne Staatsmann oder eine aus wenigen Köpfen zusammengesetzte Regierung führend auftritt. „Immer aber ist es die Macht und die Verantwortung, die das repräsentierende Bewußtsein trägt. Und eben darin besteht seine Funktion, den Staat wissend und handelnd zu repräsentieren. " 3 Immer ist und bleibt als Quelle der Macht der betreffende objektive Geist. Der Machthaber, der durch die Erbfolge, Wahl oder durch Usurpation in die repräsentierende Stellung kam, ist und bleibt vom objektiven Geist getragen. „Er kann sich nur in Einzelheiten von seiner Gesamttendenz entfernen, nicht im Ganzen, und nicht auf die Dauer. Denn nur Bewußtsein, Initiative, Aktionsfähigkeit ist es, was das repräsentierende Individuum dem objektiven Geiste verleiht; die bestehenden Bedürfnisse, Nöte, Tendenzen kann es nicht ändern. Die verliehene Macht zwingt es in ihren Dienst. Und dieser Zwang ist kein bloß moralischer. Er ist ein höchst realer .. .". 4 II. Hier kann man den Unterschied zwischen dem staatlich-politischen Leben und jeder anderen Art des Geisteslebens beobachten. Nur der Staat kann nicht ohne führendes Bewußtsein, ohne die Initiative und Aktionsfähigkeit - wenigstens im Großen nicht, nicht den ganzen lebenden Geist und das Schicksal betreffend - bestehen. Nur im Staate (und in der Völkergemeinschaft) geht es um konstitutive Führung des stellvertretenden Bewußtseins, in dem Wissen, Vollmacht und Verantwortlichkeit sich vereinigen. 2 3 4

Nicolai Hartmann, I.e. Nicolai Hartmann, 1. c. Dazu und zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 322ff.

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3. Teil: Das geistige Sein

Trotzdem aber bleibt der Schluß, den Nicolai Hartmann aus diesen Feststellungen zieht, sehr fragwürdig, nämlich daß im Allgemeinen der Satz gilt, daß schlechte Führung immer noch besser ist als keine, sofern es nur eine wirkliche und in der Macht stehende ist. Denselben Gedanken drückt das bekannte Dictum Zacharias von der bevorzugten Stellung der Idee der Sicherheit, deren Begründung im „ne conturbaretur ordo" besteht. Man darf nicht vergessen, daß der Weg aus einer ungerechten und unfreien Ordnung zu einer gerechten und freien Ordnung praktisch nur über das Chaos möglich ist. Und dann: die bevorzugte Stellung der Idee der Sicherheit führt am Ende zu dauerndem Sklaventum. Im staatlich-politischen Leben tritt also besonders scharf der modus deficiens des objektiven Geistes hervor. Der Staat und die Völkergemeinschaft bedürfen des personalen Geistes in einem anderen Sinne, als z.B. Kunst und Wissenschaft seiner bedürfen. Für Kunst und Wissenschaft genügt die Einzelperson als tragendes und integrierend bemessendes Moment. Der Staat bedarf ihrer als des leitenden und handelnden Prinzips. III. Das menschliche Bewußtsein ist allerdings dem objektiven Geist nicht adäquat. Es geht um einen Ersatz für das fehlende Gemeinbewußtsein. Das geliehene Bewußtsein ist notwendig inadäquat. Der persönliche Geist ist den Anforderungen des objektiven mindestens grundsätzlich nicht gewachsen. Das menschliche Bewußtsein macht freilich keineswegs aus dem Staate selbst ein wissentlich handelndes Wesen, macht aus ihm keine „Gesamtperson" in dem Sinn, wie der Mensch Person ist. Auch die Macht einer Regierung ist eine verliehene Macht. Das „Verleihen" ist kein zeitlich einmaliger Akt, sondern es geht um etwas Dauerndes, um das wirkliche Zutrauen der Staatsbürger zu ihrer Regierung. „Darum ist die Macht selbst eine wirkliche und wohlbegründete nur, solange dieses Zutrauen besteht." 5 In zwei Richtungen fehlt dem Menschen die Kraft, der vom objektiven Geist erhobene zu sein: nach der intellektuellen Seite (er besitzt nicht die nötige Weisheit) und nach der moralischen Seite (dem Ethos nach). Es gibt auch keinen menschlichen Willen, der dauernd und ganz in reiner Hingebung an den Staat, an Amt und Aufgabe aufgehen könnte. Dazu tritt regelmäßig eine Problematik der Parteizugehörigkeit. Und noch eine andere, nicht geringe Gefahr besteht, und zwar die Gefahr einer absoluten Macht. Niemand, kein führender Staatsmann, kann dieser Gefahr der absoluten Macht entgehen. 5

Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 324ff.

§ 24. Der Modus defieiens des objektiven Geistes

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In diesem Zusammenhang erhebt sich die Frage: Könnte der objektive Geist einen besseren Ersatz für das fehlende Bewußtsein in der alten antischen Idee einer „Herrschaft der Besten" haben, deren Sinn sich durch die entstellte Bedeutung von „Aristokratie" gar nicht wiedergeben läßt, 6 und welche Idee dem Platonischen Staatsideal, nach dem die herrschenden die Weisen sein sollen, zugrunde liegt? Wenn man erwägt, daß die Weisheit dieser Weisen in der Schau der „Idee des Guten" verankert ist und von ihr her ein innerlich apriorisches Erkennen dessen gewährleisten soll, was im Staate „gerecht" ist, kann man sehen, daß es sich um eine Form höherer Erleuchtung handelt, die den Einzelnen über sich hinaus auf die Höhe des objektiv Erforderlichen heben soll. Dieser Idee begegnet man - ohne philosophischen Hintergrund - auf religiöser Unterlage in den theokratischen Verfassungen. Der Herrschende tritt hier als Sprecher übermenschlicher Weisheit auf. „Und daß diese nicht als die seinige, sondern als die der Gottheit verstanden wird, beweist nur um so schlagender, daß in ihr die Idee eines adäquaten Bewußtseins steckt." 7 Aus diesen Ausführungen, d.h. aus dem Wesen des objektiven Geistes, aus der Tatsache, daß der Staat kein eigenes Bewußtsein besitzt, aber notwendigerweise ein vertretendes Bewußtsein in Individuen haben muß, geht hervor, daß dieses stellvertretende repräsentierende Bewußtsein des Einzelnen - des führenden Politikers - wenn er sich erhalten soll, gewisse Eigenschaften haben muß. Anders ausgedrückt: der wirkliche Politiker - in menschlichen Grenzen - ist derjenige, der das Feingefühl hat, es aufzuspüren und in einer Form auszusprechen, die der Menge verständlich ist. 8 In jedem Fall aber kann der Mensch das fehlende Bewußtsein des objektiven Geistes nur annähernd und auf kurze Sicht ersetzen. Man sieht also, daß weder der personale Geist, noch der objektive Geist das politische Führertum übernehmen kann. Der personale Geist ist zwar Bewußtsein, aber nicht das Bewußtsein des objektiven Geistes. Der objektive Geist ist wiederum das Leben des Gemeingeistes, aber nicht Bewußtsein. IV. Der objektive Geist enthält große Gefahr in sich. Man überschätzt leicht seine Bedeutung und hält ihn für das allein Wahre und Wesentliche im Geistesleben.9 Das klassische Beispiel einer solchen Überschätzung findet man beim Entdecker des objektiven Geistes selbst, bei Hegel, der das ausschließliche Gewicht auf den objektiven Geist legte und alles andere unterdrückte. 6 7 8 9

Dazu und zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 331 f. Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 332. Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 333. Nicolai Hartmann, I.e., 1. Aufl., S. 290 - 347, 3. Aufl., S. 338 - 405.

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3. Teil: Das geistige Sein

Folgen dieser Erbschaft sind in der neohegelianischen Philosophie des X X . Jahrhunderts feststellbar. Wir haben erkannt, daß der Gedanke der „Geist-Substanz" unhaltbar ist. An Stelle des Substanzgedankens muß man die Hartmannsche Kategorie der „getragenen Superexistenz" annehmen. Der objektive Geist als „aufruhende" und sich dem Individuum „überbauende" Ganzheit ist etwas ganz anderes, als er bei Hegel war. Bei ihm war der objektive Geist das die Individuen Unterbauende. In der geschichtlichen Wirklichkeit und Erfahrung unterliegt der objektive Geist mannigfachsten Einflüssen von unten her. In der geschichtlichen Wirklichkeit und Erfahrung ist die Grundtendenz des objektiven Geistes von Mächten durchkreuzt, die nicht aus ihm stammen, ihn aber dennoch von innen heraus mit Irrung bedrohen. Wie der Einzelmensch ist auch der objektive Geist jederzeit von innen her moralisch gefährdet; seine Freiheit ist wesensgemäß Freiheit zum Guten und zum Bösen, das Untermenschliche in ihm sorgt dafür, daß der Geist nicht allein herrscht. Jetzt aber entsteht die sehr schwierige Grundfrage, wie der objektive Geist diese Problematik beherrschen kann, wenn ihm ein adäquates Bewußtsein, welches die Führung übernehmen könnte, fehlt. Alle Bindung an ein Ziel ist an ein Bewußtsein gebunden. Gibt es aber nur das individuelle Bewußtsein, und ist dieses dem objektiven Geist inadäquat, so muß auch alle Bindung an Ziele inadäquat sein. V. Von wo kommt also die unentbehrliche Lösung? Was das Kriterium, das im Prinzip der Majorität liegt, betrifft, 1 0 muß man zuerst darauf aufmerksam machen, daß das unaufhebbare Hecht der Majorität in der Berechtigung des Anspruches wurzelt, daß jeder Staatsbürger sein Interesse im Staate, direkt oder indirekt, vertrete. Allerdings ist eine Garant tie dafür, daß der Einzelne sein wirkliches Interesse im Staate auch nur erkenne, mit der Berechtigung eines solchen Anspruches noch nicht gegeben. Trotzdem ist die Herrschaft der Majoritäten der einzige richtige Weg. Aber wo bleibt in der Herrschaft der Majoritäten das Echte und Eigentliche des objektiven Geistes? Es ist selbstverständlich, daß die Majoritäten nicht mit einem Schlage ihrem idealen Wesen gerecht werden können. Mit Recht fragt Nicolai Hartmann: „Wer wollte da vorgreifend pessimistisch urteilen. Die Geschichte der Majoritäten als bestimmter Mächte im Staate ist noch sehr jung. Die Majoritäten müssen geschichtlich an ihre Aufgabe heranwachsen, müssen 10

354.

Zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e., 1. Aufl., S. 295 - 299, 3. Aufl., S. 344 -

§24. Der Modus defieiens des objektiven Geistes

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durch Erfahrung, durch ihre Irrtümer und Schicksale, klug und vernünftig werden." Ihre Idee werden sie allerdings nie vollkommen erreichen. Unser ganzes Leben, unser ganzes Denken und Tun ist aber die immerwährende Tendenz, auf dem unendlichen Weg zur Erreichung der Vollkommenheit, zur Erreichung der Normideen einen Schritt weiter zu machen. Und weiters: Eine Majorität hat stets die individuelle Initiative des führenden Politikers neben sich. Dieser führende Politiker ist freilich kein Remedium der Verirrung des objektiven Geistes, aber immerhin ist er eine Person mit Bewußtsein und als solche das Gegenstück zur vielköpfigen Menge. Dieser führende Politiker als wirklicher Staatsmann, der mehr als die Menge sieht und sich in seiner Funktion erhalten will, muß jederzeit Mittel finden, die Menge für Ziele zu gewinnen, die sie noch nicht sieht, die aber im höheren Verstände gerade die ihrigen sind. Die Menge muß ihre Ziele als die echten und eigenen begreifen. Der führende Politiker und Staatsmann kann das, sofern er die Menge bei ihren apriori bewußten Interessen, welche allerdings die partikulären sind, zu fassen weiß. Anders kann sein Werk nicht Bestand haben. Recht w i r d ihm die Menge nur geben, wenn sie sich in einem faßbar gewordenen Sinn recht geführt sieht. VI. Im objektiven Geist begegnet man auch der antinomischen Problematik der „öffentlichen Meinung". Die öffentliche Meinung tritt mit dem Anspruch auf, über alles ein Urteil zu haben. 11 Und da sie es nicht haben kann, da sie beeinflußbar, suggerierbar im höchsten Maße ist, so steckt in ihrem Wesen selbst eine Antinomie. In der öffentlichen Meinung ist immer sowohl das Eigentliche als auch das Uneigentliche des objektiven Geistes enthalten und zwar in einer Form der Vermengtheit, die es nicht gestattet, eines vom anderen zu unterscheiden. „Das Wissen um dieses Verhältnis ist sehr alt. Verachtung der Menge in ihren Stimmungen und Leidenschaften finden w i r in allen großen Kulturen. Daneben aber steht das Gegenteil: wo alles menschliche Ermessen versagt, nimmt man die Zuflucht zu vox populi - in der stillen Überzeugung, daß in ihr die vox dei spreche, die Stimme einer höheren, parteilosen Gerechtigkeit. Es ist die Überzeugung, daß das Rechtsempfinden gerade des gemeinen Mannes im Grunde unbeirrbar ist. So ist das Phänomen durch widersprechende Wesenszüge in sich gespaltet. Es ist ein dialektisches Phänomen." Hier interessiert uns die Frage, wo liegt in der öffentlichen Meinung das Kriterium des Echten und Unechten. 12

11 12

Zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 350 - 354. Zum folgenden besonders Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 368ff.

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3. Teil: Das geistige Sein

Die öffentliche Meinung hat kein Kriterium des Echten und Wahren in sich. Trotzdem aber gibt es zu allen Zeiten ein lebendiges Gefühl dessen, daß irgendwo im Hintergrund der öffentlichen Meinung etwas steht, was das Eigentliche und Echte ist. Geschichtlich ist bekannt, daß w i r in der Retrospektive zu unterscheiden wissen, was im objektiven Geiste einer gewissen Zeit das Echte bzw. Unechte war. Das Unechte vergeht, während das Echte bestehen bleibt. Im Hinblick darauf ist die Weltgeschichte tatsächlich das, was Hegel in ihr erblickte, - das „Weltgericht". Uns allerdings geht es um ein Kriterium des heutigen Tages, um das, wo und ob überhaupt ein Bewußtsein des Unechten seinen Ursprung nimmt. „Wer mitten drin steht in seiner Gegenwart, kann nicht abwarten, was spätere Geschlechter mühelos sehen werden. Er muß als Jetziger und Darinstehender die Symptome greifen können." 1 3 Bei seinem Versuch um Lösung dieser Kardinalfrage, stellt Nicolai Hartmann fest, 14 daß so gefaßt die Frage auf dieselbe Schwierigkeit stößt, die überhaupt die Grundaporie im Wesen des objektiven Geistes ist. Der Kern dieser Schwierigkeit liegt in der Tatsache, daß es kein adäquates Kriterium des objektiven Geistes gibt. Weder der Versuch einer Lösung im Sinne des personalen Geistes, also einer individualistischen Lösung (das Ideal der „Weisen") in der Spätantike, die Sorge um die Einzelseele im Christentum, oder Martin Heideggers Lösung, indem er von den Momenten des Einzelnen in sich selbst ausgehen läßt, noch der Versuch einer Lösung im Sinne des objektiven Geistes, also einer "objektiven" Lösung (die Lösung Hegels und seiner Nachfolger) sind befriedigend. Weder beim Individuum noch beim objektiven Geiste selbst ist ein Kriterium des Echten direkt gegeben, wie Nicolai Hartmann mit Recht feststellt. Eine absolute Lösung ist dem Menschen als solchem abgesprochen. Wichtig ist aber die Tendenz zur absoluten, echten Lösung. Die Garantie für ein Annähern zur Vollkommenheit, zu Normideen, deren Erreichung im Unendlichen liegt, beruht beim personalen Geist (bei seinem Bewußtsein, Gewissen, Ethos), teils bei einer Sphäre des objektiven Geistes, und zwar bei der Erkenntnis und besonders beim Phänomen der Wissenschaft. 15 Die Wissenschaft hat alle Grundzüge des objektiven Geistes an sich: das Nichtaufgehen in einem Kopf, die Gemeinschaft des Inhalts und des jeweiligen Problemstandes, das Hineinwachsen des Einzelnen i n sie und seine nachfolgende Mitarbeit in ihr, die Geschichtlichkeit ihrer Fortbildung. Sicher, es gibt manche Irrtümer in der Wissenschaft. Aber es gibt nicht und kann begreiflicherweise kein wissentliches Festhalten an dem Irrtum 13 14 15

Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 371. Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 371 ff. Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 376; vgl. auch 1. Aufl., S. 322 - 347.

§24. Der Modus defieiens des objektiven Geistes

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aus der Initiative der Erkenntnis und Wissenschaft selbst geben. Im Wesen der Wissenschaft liegt es, den eingesehenen Irrtum abzutun. „Was wir unser ,Wissen' nennen, ist gewiß zu allen Zeiten ein Gemisch von Erkenntnis und Irrtum. Aber der Irrtum ist nicht Fälschung; er ist nicht unechtes Für-WahrNehmen, sondern echtes. D.h. man kann das Phänomen des Irrtums in der Wissenschaft und im Gesamtfortgang der Erkenntnis überhaupt nicht als ein geistig Unechtes bezeichnen." 16 Der objektive Geist besitzt daher in der Erkenntnis und besonders i n der Wissenschaft eine Domäne, die dem Unechten, bzw. Falschen nicht zugänglich ist. Hier also könnte so etwas wie eine Instanz der K r i t i k liegen, und zwar auch für die anderen Geistesgebiete. Die Wissenschaft als solche hat nämlich in jedem Augenblick, auch inmitten ihrer Irrtümer und Einseitigkeiten, eine eindeutige Tendenz zu den Normideen der Wahrheit und Richtigkeit. Diese Tendenz kann der Wissenschaft zwar die Wahrheit selbst nicht garantieren, wohl aber die Richtung auf sie hin im Ganzen der geschichtlichen Fortbewegung. Die Garantie dafür ist der Halt an der Sache. 17 Die Bewegung des objektiven Geistes in der Wissenschaft unterliegt einem eigenen Gesetz, dem w i r in keinem anderen Gebiet begegnen. Die Wissenschaft kann zwar in Einzelheiten von Irrtum zu Irrtum gelangen, schreitet aber trotzdem in ihrer Gesamtresultante unumstößlich in der Richtung zur Wahrheit - und zwar unabhängig davon, ob sie in einer bestimmten Frage zur Wahrheit gelangt oder nicht, d.h. sich der Normidee der Wahrheit annähert oder nicht. Dazu kommt noch etwas hinzu: Die Wissenschaft in allen ihren Gebieten hat die Tendenz zur Klarheit, logischen Struktur und damit zur Erhebung des Erkannten in die volle Objektivität. Wenn es im Wesen der Wissenschaft liegt, daß sie die Tendenz zur Wahrheit und Richtigkeit besitzt, und daher dazu, das Echte vom Unechten zu unterscheiden, drängt sich gerade der Gedanke auf, man dürfe von der Wissenschaft erwarten, daß geradere fähig sei, im objektiven Geiste das Echte vom Unechten zu unterscheiden und den richtigen Kern des objektiven Geistes zu demonstrieren. Damit würde allerdings der Wissenschaft die überhaupt wichtigste Sendung zugeteilt. Dieses Gesetz der Wissenschaft hat aber seine Kehrseite. Die Expansivität und Universalität hat ihre Grenze in der Fassungskraft der Mitlebenden. In der Wissenschaft wird uns nichts geschenkt. „Wohl liegt ihr erarbeitetes Gut vor aller Augen. Aber nicht jedes Auge kann es sehen. Das Sehen aber wird nicht geschenkt. Ein Jeder kann es nur selbst vollziehen." 18 16 17 18

Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 379. Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 393ff. Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 397.

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3. Teil: Das geistige Sein

Die Härte dieses Gesetzes der Wissenschaft ist freilich nur Härte gegen den Einzelmenschen, keineswegs gegen den objektiven Geist, der gerade so erst zu seiner Reinheit gelangt. In der Wissenschaft könnte man also das finden, was der Mensch so notwendig braucht: eine Instanz, die das hinter allem Getriebe der Uneigentlichkeit stehende Gewissen des objektiven Geistes ausmachte und gleichsam ein ständiger Mahner zum eigenen wahren Wesen wäre, seine Rücklenkung zu sich selbst aus der Verfälschung 19 . Dem steht aber leider ein anderes Moment entgegen, das alle großen Hoffnungen auf ein bescheidenes Maß zurückdrängt. Dieses Moment besteht darin, daß der Prozeß der Wissenschaft langsam vor sich geht und nicht imstande ist, mit der Aktualität der großen geschichtlichen Lebensfragen von Recht, Staat und Ethos Schritt zu halten. Was in dem Prozeß der Wissenschaft erarbeitet wird, kann wohl das Vergangene erleuchten, aber nicht dem Kommenden voranleuchten und uns in genügender Weise belehren. Die Wissenschaft kommt regelmäßig mit zu großer Verspätung, als daß sie die Problematik des heutigen Tages beherrschen könnte. Die Wissenschaft ist dazu noch ein Spätprodukt der Kulturen und beginnt sich in einem Volke erst dann auszubreiten, wenn dieses seinen geschichtlichen Lauf in der Hauptsache vollendet hat. Das ist - wie Nicolai Hartmann sagt - der Sinn des Hegeischen Wortes von der „Eule der Minerva", die erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug beginnt. Gegen die pessimistische Stellung zu der Rolle der Wissenschaft als einer wirklichen Instanz im objektiven und personalen Geist, kann man im Einklang mit Nicolai Hartmann einwenden, daß man aus dem Dargelegten doch nicht schließen darf, daß es sich hier um ein allgemeines Gesetz handelt. Es ist auch möglich, daß im Großen gesehen die Menschheit geschichtlich noch jung ist, und da wissenschaftliche Dinge sich besser als manches geistige Gut tradieren können, das Verhältnis sich einmal umkehren könnte und die Wissenschaft auf politisch-sozialem, rechtlichem und staatlichem Gebiete führend würde. Letzten Endes ist dieser letztgenannte Gedanke schon bestätigt; man kann gewiß Piatons Republik, fast alle Naturrechtsdoktrinen und auch die Kantsche Konstruktion der Idee des ewigen Friedens anführen. Der praktische Widerhall aller dieser Lehren war aber doch sehr gering. Trotzdem findet man eine Lehre, eine Philosophie, eine generelle Wissenschaft, die einen ungemeinen Widerhall und eine Geltendmachung im konkreten Leben vieler europäischen und auch nicht europäischen Staaten gefunden hat, wobei die Anzahl dieser Staaten fortwährend wächst. Man denke an die marxistische, bzw. marxistisch-leninistische Philosophie. Der historische Versuch, 19

Dazu und zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 401, 403ff.

§ 25. Der objektivierte Geist und die Formen der Objektivation

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die Philosophie in der Wirklichkeit folgerichtig und mit aller Energie zu realisieren, stellt eine Bestätigung der Erkenntnis dar, daß es doch möglich ist, in der Wissenschaft selbst - die Philosophie ist Wissenschaft per eminentiam - die führende Instanz im Leben der Menschheit zu finden. Wenn Nicolai Hartmann feststellt, 20 daß erst die ausgereiften Früchte darüber belehren können, ob die Doktrin Fähigkeit oder Unfähigkeit zu konkreter Gestaltung rechtsstaatlichen Lebens erweist, dann geht schließlich auch er von dem richtigen marxistischen Leitgedanken aus, daß das Kriterium der Wahrheit in der Praxis liegt. Man kann mit der Hartmannschen Schlußfolgerung vollkommen einverstanden sein, es sei nicht ausgeschlossen, daß einmal die Wissenschaft mit dem laufenden rechtlichen, staatlichen, politischen Leben Schritt halten und der Mensch durch sie in die Lage kommen wird, den Geschichtsprozeß in ganz anderem Maßstabe prospektiv zu dirigieren, als das bei gegebener Sachlage möglich ist.

§ 25. Der objektivierte Geist und die Formen der Objektivation I. Der Geist existiert noch in dritter Grundgestalt. 1 Neben dem personalen und objektiven Geist kennen wir noch den objektivierten Geist. Man sagt, daß der personale Geist mit dem objektiven Geist den lebenden geschichtlichen Geist ausmacht, der ständig Gebilde eigener Art hervortreibt, in denen er sich eine greifbare, von ihm selbst unterschiedene „Objektivität" gibt, d.h. „sich objektiviert Diese Gebilde sind etwas anderes als der lebende geschichtliche Geist selbst (der personale und objektive Geist). Sie haften grundsätzlich nicht an dem lebenden geschichtlichen Geist als einem Träger. Der lebende geschichtliche Geist hat sie aus sich „herausgestellt" und gewissermaßen (nicht ausnahmslos) aus der Bewegtheit eines Wandeins „entlassen". Diese Gebilde sind relativ selbständig geworden. Der derzeitige lebende geschichtliche Geist gab ihnen Bestand gegen sich selbst, indem er sie von sich ablöste, und dem kommenden lebendigen geschichtlichen Geist, wie er sich in der Zukunft bilden wird, übergab. Gleichzeitig aber bleibt der lebende geschichtliche Geist der Zeit, in welcher es zur Objektivation kam, in seiner Objektivation, in dem objektivierten Geist, inhaltlich bestehen und so in ihm fixiert und gleichwohl späteren Zeiten erkennbar. 20

Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 404. Zum folgenden Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 1. Aufl.. S. 360ff., 3. Aufl., S. 406ff. 1

9 KubeS

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3. Teil: Das geistige Sein

II. Diesen Prozeß der Objektivation kann man an dem Phänomen des Rechts in klassischer Art demonstrieren. Das Rechtsempfinden, die Rechtsüberzeugung, das Rechtsbewußtsein der einzelnen Menschen und der betreffenden Volksgemeinschaft (der personale und der objektive Rechtsgeist) gewisser Zeit objektiviert sich in den Gesetzen und anderen „positiven" Rechtsnormen, kurz ausgedrückt: in „positivem Recht"; wir haben den objektivierten Rechtsgeist vor uns. Ähnlich ist es mit den Gebilden des Schrifttums und der Kunst. Und auch das Wissen einer bestimmten Zeit objektiviert sich im System der Wissenschaft, das in Wort und Schrift festgehalten wird. Objektivationen solcher Art (geschriebene Gesetze, Verordnungen, Urteile, Rechtsgeschäfte, literarische und künstlerische Werke, wissenschaftliche Handbücher) haften zunächst noch am lebenden Geiste, sind immer noch Ausformung eines noch dastehenden Rechtsempfindens, Kunstbegreifens, wissenschaftlichen Begreifens, stehen in vollem Einklang zum objektiven Geist (Rechtsgeist). Der personale und objektive Geist bleibt aber nicht stehen, er lebt weiter und ändert sich - da das Leben fortwährende Änderung ist - unaufhaltsam. Das rechtliche Empfinden und Begreifen ebenso wie das literarische, künstlerische Empfinden und auch der Stand des wirklichen Wissens modifizieren sich fortwährend. Was bleibt in solcher ununterbrochenen Abwandlung von dem Inhalt des ursprünglichen rechtlichen, literarischen usw. Empfindens, was vom ursprünglichen Wissen übrig? Das was davon in die dauernde Form des Wortes, des Steines usw. geprägt und aufgezeichnet wurde. Aus solchen Fixierungen ist es dann späteren Geschlechtern erkennbar als das Recht (die Rechtsordnung), als das Schrifttum, die Kunst und Wissenschaft der vergangenen Zeit. In der Objektivation überdauert es den damaligen personalen und objektiven Geist (Rechtsgeist), dessen Schöpfung es einmal war. Das ist das Gesetz des geschichtlichen Prozesses des geistigen Seins. Sicher ist, daß der personale und objektive Geist als lebender Geist dem Gesetz alles Lebendigen unterliegt und dem Tode verfällt. Der objektive Geist weicht auch im ununterbrochenem Wandel, ohne den sichtbaren Untergang von Völkern und Kulturen, dem anderen objektiven Geist. Das alles ist klar und wahr. Mit der weiteren Argumentation von Nicolai Hartmann kann man aber nicht mehr ausnahmslos einverstanden sein. Hartmann meint, daß das Geschaffene, also der objektivierte Geist seinen Schöpfer überdauert. Auch das ist noch richtig, nicht fehlerfrei ist aber schon die nachfolgende Argumentation: 2 Der objektivierte Geist lebt nicht, stirbt nicht mit dem Lebendigen. Er ist kein Reales, hat auch nicht die Härte des Realen an sich, er fällt nicht der Zerstörung anheim, die seinen Schöpfer ereilt. 2

Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 409.

§ 25. Der objektivierte Geist und die Formen der Objektivation

131

Es wurde schon mehrmals angedeutet und beim objektivierten Rechtsgeist w i r d es noch weiter erwiesen, daß eine solche Ansicht nicht richtig ist, weil sie den Phänomenen widerspricht. Zum objektivierten Geist (Rechtsgeist) gehört neben der rein geistigen hinteren Seite (dem Hintergrund), auch die vordere Seite (der Vordergrund) - die Schrift, der Stein usw. - und gerade diese vordere Seite kann zerstört werden. Wir werden aber noch sehen, daß das nicht der einzige Grund für unsere abweichende, ja gegensätzliche Behauptung ist, nämlich die, daß auch der objektivierte Geist sein Leben sui generis lebt und daher real ist. Es wird sich zeigen, warum und inwiefern das Gebiet der Objektivationen keineswegs ein Gebiet des Irrealen, ein Gebiet des Überzeitlichen darstellt. Auch bei Objektivationen geht es um gewisse Bedingtheit durch die Zeit, also auch durch die Realität. Diese Bedingtheit ist gewiß eine andere als die des personalen und objektiven Geistes, des sog. lebenden geschichtlichen Geistes, der selbst und als ein Ganzes etwas reales ist und die Zeit seines Lebens zu überschreiten nicht imstande ist. Die Objektivation als solche hat keine bestimmte Lebenszeit. Es ist interessant zu beobachten, daß Nicolai Hartmann selbst in seinen weiteren Ausführungen letzten Endes denselben Gedanken verfolgt, wenn er sagt: 3 „Es w i r d noch zu zeigen sein, inwiefern die Sphäre, i n die das geistige Gut hier erhoben ist, keineswegs ohne weiteres eine solche der Überzeitlichkeit ist. Sichtbar ist das schon daran, daß auch die Objektivation der Vernichtimg anheimfallen kann. Schrifttum kann unwiederbringlich verloren gehen, ein Kunstwerk kann zerbrechen. Es fehlt nicht an Bedingtheit durch Zeitlichkeit und Realität. Dennoch ist diese Bedingtheit eine andere als die des lebenden Geistes, der selbst und als ganzer ein geschichtlich Reales ist und seine Lebenszeit nicht überschreiten kann. Die Objektivation als solche hat keine bestimmte Lebenszeit, denn sie ist kein Lebendiges. Nur um dieses Phänomen handelt es sich von der Hand. Und es ist merkwürdig genug, auch wenn man seine Einschränkung von vornherein im Auge hat." III. Objektivationen existieren gewiß in allen Gebieten - meiner Ansicht nach mit einziger Ausnahme der Moral im eigentlichsten Sinne des Wortes, deren innerstes Wesen gegen jede Objektivation steht - und zwar schon im lebendigen Geist selbst. Der objektivierte Geist mit selbständiger Seinsform ist aber nur eine in einem dauerndem Material fixierte Objektivation, wobei unter „Dauer" nur und ganz speziell das Hinausdauern über den lebenden Geist, der diese Schöpfungen geschaffen hat, verstanden wird. Weiter muß man auch davon ausgehen, daß nur ein solcher geistiger Inhalt i n Betracht kommt, der dem lebenden Geist als bedeutend erscheint. Es tritt hier offenbar ein Bewußtsein der Bedeutungsschwere hervor. 3

9-

Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 410.

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3. Teil: Das geistige Sein

Mit Rücksicht auf diese zwei Einschränkungen (dauerndes Material und das Bewußtsein der Bedeutungsschwere) kann man mit Nicolai Hartmann feststellen, daß es Objektivationen zwar auf allen Gebieten schon im lebenden Geiste selbst gibt, aber objektivierter Geist in selbständiger Seinsform nur die in einem dauerndem Material fixierte Objektivation ist. Es gibt eine ganze Reihe von solchen Gebilden des objektivierten Geistes. Vor allem sind es verschiedene Rechtskodexe, was wohl im Vordergrund unseres Interesses steht, aber auch verschiedendste Produkte des literarischen und wissenschaftlichen Schrifttums, Kunstwerke u.a.m. Hieher gehören auch irgendwie fixierte philosophische Weltanschauungen.

§ 26. Der spezielle Modus des Seins des objektivierten Geistes I. Mit dem Worte ist mehr gegeben als das Wort, mit dem Bilde mehr als das Bild. 1 Aus dem Wort und Bild spricht zu uns ein geistiges Gut, das als solches mit dem Wort und Bild nicht identisch, dennoch aber jederzeit in ihnen wieder erkennbar ist. Es besteht kein Zweifel, daß es hier geschichtlich überall mehr als Schriftzeichen, Bild oder Marmor in einem Schutt gibt. Schon die Griechen haben erkannt, daß das „Lesen" ein „Wiedererkennen" ist. In diesem Ausdruck wird plastisch das ganze Rätsel greifbar, welches in der Seinsweise des objektivierten Geistes verborgen ist. Das geistige Gut als Gehalt der Objektivation besteht fort und Schrift und Stein sind nur Mittel dieses Fortbestehens. Aber diese Mittel würden nicht zureichen, wenn ihnen nicht das Wiedererkennen eines lebenden Geistes entgegenkäme. Gerade das Wiedererkennen ist die Gegenleistung. II. Der objektivierte Geist braucht in seiner besonderen Seinsweise zweierlei: erstens die Äußerung im dauernden Material, und zweitens muß der gegenwärtige lebende Geist in dem betreffenden Gebilde das geistige Gut des objektivierten Geistes „wiedererkennen". Dieses Angewiesensein auf den lebenden Geist ist dem objektivierten Geist wesentlich. Das Dauern des objektivierten Geistes bleibt auf die Gegenleistung des Wiedererkennens des objektiven Geistes angewiesen. Wie ist es, wenn z.B. ein alter Rechtskodex oder eine Statue eines berühmten Künstlers tausend Jahre hindurch unter den Ruinen verborgen und daher dem zeitgenössischen lebenden Geist unbekannt sind? Dieses Material, in dem das geistige Gut ausgedrückt und fixiert ist, existiert sicher; aber „existiert" auch binnen dieser Zeit dasjenige geistige Gut als solches, 1

Dazu und zum folgenden Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 1. Aufl., S. 361 - 365, 3. Aufl., S. 421 - 428.

§ 26. Der spezielle Modus des Seins des objektivierten Geistes

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wenn es doch zu seiner besonderen Seins weise wesensnotwendig das „Wiedererkennen" von Seiten des gegenwärtigen lebenden Geistes erfordert? Um diese Frage beantworten zu können, ist es notwendig, sich mit aller Aufmerksamkeit die besondere Seinsweise des objektivierten Geistes vor Augen zu halten und sich jener Grundeigenschaft allen geistigen Inhalts („Gutes") zu erinnern, und zwar seiner Ablösbarkeit vom Subjekt. III. Jeder geistige Gehalt ist, einmal objektiv erfaßt und geprägt, seinem Sinne nach gewissermaßen in die Sphäre des Überzeitlichen erhoben. Besonders klar kann man dieses Phänomen an der Rechtsordnung beobachten, die als ein System von Objektivationen technisch hoher Qualität hervortritt. Hier überall sieht man, daß die Objektivation stets an ein Gebilde gebunden ist, das als solches nicht geistiger Gehalt ist, sondern ein sinnlich wahrnehmbares, dingliches, reales Gebilde, kurz „Rechtsgebilde". Die Objektivation besteht wesentlich in der Bindung des geistigen Gehalts an ein solches Realgebilde. In jeder Objektivation findet man daher dieses Realgebilde, als eine sinnlich zugängliche Basis, und einen geistigen Inhalt, der sich in diesem Realgebilde objektiviert. Es geht um ein allgemeines Gesetz der Objektivation, welches lautet: „Aller objektivierter Geist, als Gesamtgebilde verstanden, ist seinem Wesen nach zweischichtig, ein Doppelgebilde; und die beiden Schichten in ihm sind von heterogener Seinsweise. Die sinnlich reale Schicht existiert unabhängig vom auffassenden Geiste, der geistige Gehalt aber, der in ihr fixiert ist - die Hintergrundschicht des Gesamtgebildes - existiert immer nur ,für' einen auffassenden Geist." 2 Man kann daher bei aller Objektivation von einem „Vordergrund", von einer vorderen Seite, und von einem „Hintergrund", von einer hinteren Seite sprechen. Die vordere Seite (Vordergrund) ist die sinnfällige Schicht, ein selbständiges, ontisch an sich seiendes Realgebilde, aber nicht an sich, was geistig wäre. Die hintere Seite (der Hintergrund) dagegen ist der eigentliche geistige Gehalt, dasjenige, worum es in der Objektivation eigentlich geht, aber dieser geistige Inhalt hat keine selbständige Seinsweise, sondern ist stets nur „für" einen wiedererkennenden, lebenden Geist da. In aller Objektivation besteht die hintere Seite, die Hintergrundschicht, der Hintergrund, nur auf Grund einer Wechselbeziehung zum lebenden (personalen und objektiven) Geist. 2

Dazu und zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 425f.

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3. Teil: Das geistige Sein

Die Heterogenität dieser zwei Schichten des objektivierten Geistes, d.h. der vorderen Schicht (des Vordergrundes) und der hinteren Schicht (des Hintergrundes), verhindert aber keineswegs den engsten Zusammenhang. Der objektivierte Geist als solcher ist also eine komplexe dialektische Einheit, die sich aus jenem realen Vordergrund und „irrealen" Hintergrund zusammensetzt und als ein Ganzes in die reale Welt gehört. IV. Das Realgebilde selbst ist stets ein sinnlich-dingliches Etwas. 3 Objektivierter Geist ist freilich, wie es sich gezeigt hat, stets und in allen seinen Besonderungen an ein Realgebilde gebunden. Dieses Realgebilde als etwas Ungeistiges nimmt den geistigen Inhalt aus dem objektiven Geist heraus, und damit auch aus dem immerwährenden Wandel und Wechsel, dem der lebende objektive Geist unterliegt; in solcher Weise erhält das Realgebilde den betreffenden Inhalt des derzeitigen objektiven Geistes für die Zukunft. Diese Tatsache ist der Grund dafür, daß es gerade mit dieser Art der Erhaltung zusammenhängt, daß der objektivierte Geist keineswegs unmittelbar ins Überzeitliche und Übergeschichtliche erhoben wird. 4 Das alles gilt, wie wir später noch näher sehen werden, auch für das Phänomen des Rechts. Hier aber tritt noch ein weiteres Moment hinzu, und zwar vor allem mit Rücksicht auf die besondere Art der Geltung der Rechtsordnung als eines Ganzen. Überdies wird uns nicht nur die Frage der speziellen Seinsweise der „geltenden" Rechtsordnung als eines Ganzen interessieren, sondern auch der „Rechtsordnung", die nicht mehr „ i n Geltung" steht. V. Man muß sich aber weiters des Gesetzes erinnern, 5 daß der Geist niemals und in keiner seiner Seinsform als „schwebender" oder abgelöster vorkommt, daß er vielmehr immer und nur als „aufruhender" oder getragener Geist existieren kann. Nicolai Hartmann hebt mit Recht hervor, daß dieses Gesetz ein allgemeines Seinsgesetz des Geistes überhaupt ist und auch den objektivierten Geist betrifft. Wenn sich aber ein geistiger Gehalt vom lebenden Geist ablöst, fixiert und als gewisse Objektivation verselbständigt, wenn man es also mit dem objektivierten Geist zu tun hat, so scheint es, daß das geistige Sein unmittelbar auf dem physisch-materiellen Sein beruht, nämlich jener „geistige" Inhalt, jener „Hintergrund" des objektivierten Geistes auf, bzw. in dem Realgebilde (in der Schrift, im Stein usw.). Dieses Realgebilde ist durch den lebenden Geist in solcher Weise geformt, daß ein gewisser geistiger Inhalt in ihm unmittelbar erscheinen kann. 3 4 5

Zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e., 1. Aufl., S. 383ff.; 3. Aufl., S. 447ff. Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 448. Zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e., 1. Aufl., S. 384ff., 3. Aufl., S. 448ff.

§26. Der spezielle Modus des Seins des objektivierten Geistes

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Es scheint daher, daß bei objektiviertem Geist die Schichtenfolge gebrochen ist. Auf dem Dinglichen ruht unmittelbar das geistige Sein auf, das in ihm objektiviert ist. Der „Geist" ist gleichsam im materiellen Realgebilde eingefangen und festgehalten. Und doch kann man von keinem Gebrochen der Schichtenfolge beim objektivierten Geist sprechen. Bei ihm hat man es nämlich noch mit einem dritten Faktor zu tun. 6 Es geht um einen speziellen Modus der Selbständigkeit im Sein des objektivierten Geistes. Dieses Sein ist ein selbständiges nur im Sinne des Abgelöstseins und des Herausgestelltseins, keineswegs aber im Sinne der Unabhängigkeit vom lebenden Geist überhaupt. Das Verhältnis zwischen der vorderen Seite (dem Vordergrund) und der hinteren Seite (dem Hintergrund) der Objektivation hat sich auf der ganzen Linie als ein Erscheinungsverhältnis erwiesen: im sinnlich zugänglichen Realgebilde „erscheint" ein anderes, der „mitgegebene Geist". Weil es aber ein Erscheinungsverhältnis ist, so kann es nur in Funktion treten, wo noch ein Drittes vorhanden ist, dasjenige, „dem" der mitgegebene Geist erscheint und „für das" er da ist. Dieses Dritte ist eben der jetzt dastehende, gleichzeitige lebende Geist selbst. Nur er kann jenen geistigen Inhalt auffassen und wiedererkennen. Dieser lebende objektive und personale Geist ist der dritte Faktor, auf den das Sein des objektivierten Geistes jederzeit angewiesen ist und ohne den es gar nicht zustande kommt. So besteht z.B. ein schriftlich niedergelegter Gesetzkodex, der einst in der Geschichte eines Volkes geltendes Recht war, nicht nur in den Schriftzeichen auf dem Pergament, sondern stets vermittelt „durch" diese Schriftzeichen für einen lebenden und im Lesen wiedererkennenden Geist. Bei genauerer Betrachtung zeigt es sich also, daß der objektivierte Geist nicht nur aus den zwei Schichten besteht, d. h. aus dem Hintergrund und aus dem Vordergrund. Es zeigt sich, daß die zwei Grundschichten mitsamt ihrer Heterogenität der Seinsweise das ganze Verhältnis noch nicht zustande bringen. Es geht nämlich um ein dreigliedriges Verhältnis: zu jenem Realgebilde und zu jenem geistigen Inhalt gehört noch der besonders geartete lebende Geist, dem der „mitgegebene" Geist als ein in Wort, Schrift oder Stein festgehaltener erscheinen kann. Daher handelt es sich beim objektivierten Geist überhaupt nicht darum, daß die Schichtenfolge vielleicht gestört würde, nämlich, daß hier geistiger Inhalt unmittelbar auf dem materiell-dinglichen Sein aufruht. Hier ist als vermittelndes Glied der lebende Geist eingeschaltet und mit ihm gleichzeitig der ganze Bau des realen Seins, der den lebenden Geist trägt, d.h. das seelische, organische und (wiederum) das materiell-physische Sein. Der 6

Zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e., 1. Aufl., S. 386 - 390, 3. Aufl., S. 450 - 456.

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3. Teil: Das geistige Sein

spontane Einsatz des ausfassenden Geistes ist gleichsam zwischen das tragende Realbild und den getragenen Geist als verbindende Funktion eingerückt. „Denn nur ,ihm' erscheint der geistige Gehalt der Objektivation." 7 Der Unterschied der Seinsweise des objektivierten Geistes von der des lebenden stellt sich nunmehr so dar: Im lebenden sind die ontischen Zwischenstufen die rechten Unterlagen seines realen Daseins und als solche kann man sie auch direkt aufweisen, wo immer der lebende Geist Gegenstand einer Betrachtung wird. Im objektivierten Geiste dagegen, welcher nur für den lebenden Geist dasteht und im Gegenstandsein für eine Betrachtung besteht, sind die ontischen Zwischenstufen in der Art des Betrachtens enthalten und daher gleichsam in die Betrachtung als solche hinein verschwunden. So wird der Schein erweckt, als ob der geistige Inhalt des objektivierten Geistes, also der erscheinende Geist, unmittelbar der geformten Materie (der Schrift, dem Stein usw.) auf ruht. Es zeigt sich also, daß der objektivierte Geist nach zwei Seiten auf den lebenden Geist bezogen und von ihm abhängig ist. Der objektivierte Geist ist ursprünglich auf den lebenden objektiven Geist, der ihn geschaffen hat, auf den schaffenden Geist, und dann auf den Geist, der ihn wiederfindet und wiedererkennt, angewiesen. An den ersten lebenden Geist ist der objektivierte Geist mit seiner Entstehung gebunden, an den zweiten lebenden Geist mit seinem Fortbestehen, bzw. Wiedererstehen (im Falle daß z.B. der Rechtskodex oder eine Statue lange Zeit verschüttet sind und dann wieder entdeckt werden). Jene erste Gebundenheit löst sich im Wandel des lebenden Geistes auf, und bleibt dann ein für allemal aufgehoben. Die zweite Gebundenheit bewegt sich in eben diesem Wandel fort, oder sie setzt in ihm wieder und wieder ein. „Wo auch sie verloren geht, da geht mit ihr zugleich der objektivierte Geist verloren." Wenn wir die bisherigen Ergebnisse zusammenfassen, stellen w i r fest 8 : 1. Der objektivierte Geist setzt den objektiven Geist, der ihn als seinen Inhalt, sein Gut erarbeitete und schuf, voraus. 2. Der objektivierte Geist hat sich durch seine Bindung an ein sinnliches Realgebilde vom objektiven Geist abgelöst. 3. In dieser Ablösung bleibt aber doch der objektivierte Geist auf den lebenden Geist dauernd angewiesen.

7

Dazu und zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 452ff. Dazu und zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e., 1. Aufl., S. 391 ff., 3. Aufl., S. 456ff. 8

§27. Der objektivierte Geist und die Normideen

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§ 27. Der objektivierte Geist und die Normideen I. Wenn der „Hintergrund" des objektivierten Geistes als etwas „Überzeitliches" erscheint, gehört nicht der ganze objektivierte Geist oder mindestens sein „Hintergrund" in das Reich der Idealität, in das Reich der Normideen? Diese Frage muß man negativ beantworten. Das Reich der Normideen ist durch folgende Merkmale charakterisiert: 1. Durch absolute Überzeitlichkeit und Übergeschichtlichkeit. 1 2. Dadurch, daß es rein für sich ohne jede Bindung an etwas Reales besteht und ohne den Anhalt eines Realen - ja sogar in einem gewissen Gegensatz zu ihm - rein in sich selbst erfaßt werden kann. 3. Dadurch, daß das ideale Sein keineswegs bloß „für" jemanden, sondern an sich besteht. Das ideale Sein ist auf keine Gegenleistung des lebenden Geistes angewiesen. Gerade hier liegt der Grund sowohl für die Überzeitlichkeit des idealen Seins, als auch für seine Unabhängigkeit von Realgebilden irgendwelcher Art. II. Keines von diesen drei charakteristischen Merkmalen von Normideen kommt beim objektivierten Geist vor. Auf den ersten Blick könnte es scheinen, daß man auch beim objektivierten Geist von der Überzeitlichkeit und Übergeschichtlichkeit sprechen kann. Bei näherer Untersuchung aber zeigt es sich, daß dies keinesfalls so ist. Jene Überzeitlichkeit, bzw. Übergeschichtlichkeit, die mit dem Charakter eines Rechtskodexes oder eines künstlerischen Werkes verbunden ist, ist nichts anderes als „sich erscheinende" Überzeitlichkeit seines Hintergrundes. Nur dieser „Hintergrund" ist über die Zeit gewissermaßen erhoben, nicht aber der objektivierte Geist als solcher, also der Hintergrund und das Realgebilde, beide zusammen und als eine Einheit. Der Hintergrund ist und bleibt an das Realgebilde gebunden. Der Hintergrund - und jetzt kann man schon sagen: der objektivierte Geist als ein Ganzes - ist andererseits an den jeweiligen lebenden (objektiven und personalen) Geist gebunden. Der objektivierte Geist ist also zweiseitig getragen. Und mit diesem jeweiligen lebenden Geist, mit dem Wandel dieses objektiven und personalen Geistes, wandelt oder ändert sich auch der objektivierte Geist. So haben w i r es z.B. bei der Interpretation eines Rechtskodexes immer und von neuem mit dieser Tatsache zu tun (vgl. die bekannte „Heterogonie der Zwecke" im Sinne von Wilhelm Wundt)! Das geschichtliche Dasein hat z.B. ein Rechtskodex oder ein Kunstwerk nur, wenn das Realgebilde, in welches der geistige Inhalt, der Hintergrund „inkorporiert" 1 Dazu und zum folgenden Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 1. Aufl., S. 393f., 3. Aufl., S. 458ff.

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3. Teil: Das geistige Sein

ist, da ist, und ferner, wenn der geistige Inhalt durch den lebenden Geist mit Verständnis eingeschaut, begriffen, wiedererkannt wird. Das Festhalten erscheint eben im Wiederfinden dem lebenden Geist als zeitlos. Offenbar ist es etwas anderes, ob etwas als ein Zeitloses und Ewiges erscheint, oder ob seine Erscheinung selbst ewige Erscheinung ist. Nur das erstere treffen w i r beim objektivierten Geist an, während die Normideen mit ihrem ganzen Wesen überzeitlich und ewig sind. 2 III. Jene Überzeitlichkeit, die im objektivierten Geist erscheint, und die Zeitbedingtheit durch den gleichzeitigen lebenden Geist, auch wenn w i r von der Möglichkeit absehen, daß das Realgebilde, in dem der geistige Inhalt enthalten ist, zerstört sein kann, ergänzen sich wechselseitig sehr gut und genau. Das entspricht der Schichtung des objektivierten Geistes, wo nur der Vordergrund Ansichsein, der Hintergrund aber nur Erscheinungscharakter hat. Diese Ausführungen treffen auf Objektivation jeder Art zu. So unterliegt z.B. alles geistige Gut, das sich im Schrifttum erhält (also aller Hintergrund), es mag sich um einen Rechtskodex oder um ein literarisches Werk handeln, demselben Gesetz: das geistige Gut (der Hintergrund) ist rein inhaltlich und isoliert betrachtet ein Zeitloses, und es erscheint auch dem wiedererkennenden Geiste als Zeitloses; aber es erscheint nicht in aller Zeit, sondern nur unter bestimmten Umständen. „Die Erhaltung der Schrift und das geschichtliche Vorhandensein des verstehenden Geistes sind stets Bedingungen des Erscheinens." 3 Der Staub sinkt nicht auf das erscheinende Geistige, was als solches nicht veraltert; es verharrt in derselben „irrealen" Zeitlosigkeit wie z.B. die ewig jungen Gestalten Homers. 4 Sein Erscheinen als solches bleibt freilich zeitgebunden, geschichtlich bedingt, dem Zufall und dem Wandel des lebenden Geistes preisgegeben. „Aus dem Flusse ist der Hintergrund des objektivierten Geistes nur im Sinne seiner erscheinenden Gegenständlichkeit »herausgehoben4 ; nur an dieser hängt die erscheinende Idealität und Überzeitlichkeit, sie ,erscheint mit'." 5 Dagegen ist er mit seinem Erscheinen und Verschwinden selbst an den Wandel des lebenden Geistes gebunden. Dieser Wandel greift in den Gehalt des Hintergrundes, des geistigen Inhalts selbst, ein, indem das, was erscheint, die Überprägung der Auffassung, des selektiven Verstehens 2 Dazu und zum folgenden Nicolai Hartmann, S. 47Iff. 3 Zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e., 1. Aufl., 4 Nicolai Hartmann, I.e., 1. Aufl., S. 408, 3. Aufl., 5 Dazu und zum folgenden Nicolai Hartmann, S. 483 ff.

I.e., 1. Aufl., S. 403ff., 3. Aufl., S. 405, 3. Aufl., S. 473. S. 477. I.e., 1. Aufl., S. 413f., 3. Aufl.,

§27. Der objektivierte Geist und die Normideen

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erfährt. Bei jeder späteren Interpretation eines Rechtskodexes z.B. kann man das klar feststellen. Jeder Interpret ist in seinem ökonomischen, politischen, kulturellen, rechtlichen Milieu verankert. Er kann grundsätzlich nur vom Boden dieses Milieus aus das Gesetzeswerk interpretieren. Mit dem Wandel dieses Milieus ändert sich auch die Interpretation. So kann man z.B. aus der Funktion A eines Rechtsinstitutes bis zur Funktion nicht nur B, sondern geradezu zur Funktion „non-A" gelangen. Der objektivierte Geist hat also trotz seiner erscheinenden Idealität in doppelter Hinsicht sein reales, geschichtliches Schicksal im Wandel des lebenden (objektiven und personalen) Geistes. Seine Seinsweise ist aller inhaltlichen Abgelöstheit und Herausgehobenheit seines geistigen Inhaltes, seines Hintergrundes zum Trotz eine noch weit mehr bedingte und „getragene" als die des objektiven Geistes; es ist neben allem anderen Getragensein auch noch ein von diesem selbst mitgetragenes Sein. „Nichtsdestoweniger aber hat sie auch über ihn eine gewisse bewegende Macht, der objektivierte Gehalt wirkt auf ihn zurück. Es bestätigt sich darin der ontologische Grundsatz, daß die Abhängigkeit als solche der Autonomie nicht Eintrag tut. Die Selbständigkeit des objektivierten Geistes ist die der getragenen Autonomie." 6 Die Rechtsordnungen alter Gemeinschaften mit hoher Rechtskultur und Rechtstradition, philosophische Systeme und Kunstwerke des Altertums haben - immer von neuem - einen großen Einf luß auf den lebenden Geist der späteren Zeiten. IV. Aus diesen Ausführungen geht hervor, daß der objektivierte Geist (sein Hintergrund und sein Vordergrund - beide als eine Einheit) etwas ganz anderes ist als die Normideen. Der objektivierte Geist hat keines von den drei Grundmerkmalen, die für Normideen charakteristisch sind. Der objektivierte Geist als solcher ist weder überzeitlich noch übergeschichtlich. Das komplexe Gebilde des objektivierten Geistes ist zeitlich und geschichtlich sehr bedingt. Der geistige Inhalt (der Hintergrund) kann nicht an und für sich existieren; er ist immer an das Realgebilde gebunden. Demgegenüber sind die Normideen ohne jede Rücksicht auf die reale Welt da, wenn auch nicht ohne Beziehung zu ihr. Der objektivierte Geist ist auf die Gegenleistung verwiesen; er ist hier nur „für" den lebenden (objektiven und personalen) Geist, „für" sein Wiedererkennen. Anders ist es bei den Normideen, die für sich da sind.

6

Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 484.

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3. Teil: Das geistige Sein

§ 28. Die Dialektik im Verhältnis des objektivierten, objektiven und personalen Geistes I. Wir haben erkannt, daß nicht nur der objektivierte Geist vom objektiven und personalen Geist, von seinem Wiedererkennen abhängig ist, sondern daß auch der Hintergrund, der geistige Inhalt, der den Kern des objektivierten Geistes bildet, auf den objektiven und personalen Geist zurück wirkt. 1 Der objektivierte Geist bewegt durch die Kraft seiner Anforderung den lebenden Geist zu sich hin und kehrt so in ihn zurück. Dadurch geht freilich von eben dieser Kraft zugleich ein beträchtlicher Teil verloren. Es ändert sich also nicht nur der gedankliche Inhalt (das gedankliche Gut) bei seiner Wiederkehr, beim Wiedererkennen durch den objektiven und personalen Geist, sondern auch in einem Kunstwerk unterliegt der Hintergrund des objektivierten Geistes der geschichtlichen Änderung, die seinen Inhalt betrifft; auch hier entspricht nicht die Änderung aus dem objektivierten Geiste, sondern aus der Änderung des lebenden (objektiven und personalen) Geistes. Ähnliche Gedanken drückt auch Wilhelm Wundts Gesetz der Heterogonie der Zwecke, besonders in seiner Anwendung auf das Problem der Interpretation aus.2 Das Gesetz ist ein Produkt, eine Objektivation des lebenden (objektiven und objektivierten) Geistes und zwar der Zeit, in welcher es entstanden war. Im weiteren Verlauf der Zeit ändert sich diese Objektivation als solche keinesfalls, freilich unter der Voraussetzung, daß es nicht zur Modifikation oder Derogation des alten Gesetzes kommt. Fortwährend aber ändert sich der lebende Geist. Der Interpret von heutzutage ist im jetzigen, heutigen lebenden Geist verankert und von diesem aus interpretiert er das alte Gesetz. Das hat zur Folge, daß das Endergebnis der heutigen Interpretation vom Ergebnis der Interpretation der Entstehung des Gesetzes abweichen kann und abweichen wird. II. Der objektive und personale Geist ist daher in jeder Hinsicht eine Voraussetzung des objektivierten Geistes und bestimmt ihn inhaltlich. Dennoch beeinträchtigt diese Abhängigkeit dieses objektivierten Geistes keineswegs seine kategoriale Eigenart. Das getragene Sein ist - wie Nicolai Hartmann betont - ein anderes Sein, als das tragende Sein und behält in der Seinsabhängigkeit durchaus seine kategoriale Selbständigkeit „ i n " seiner Dependenz, hat seine Eigengesetzlichkeit „über" der Fremdgesetzlichkeit seiner 1 Dazu und zum folgenden Nicolai Hartmann , Das Problem des geistigen Seins, 1. Aufl., S. 418 - 444, 3. Aufl., S. 489 - 516. 2 Vladimir Kubeè, Smlouvy proti dobr^m mravum (Verträge gegen die guten Sitten), 1933, S. 72.

§ 28. Die Dialektik des objektivierten, objektiven und personalen Geistes

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Bedingungen. Man muß nochmals hervorheben, daß in diesem Verhältnis auch der tragende Faktor durch den objektivierten Geist betroffen und beeinflußt ist (das Gesetz der Rückwirkung). III. Die Gesamtsituation kann man zusammenfassend in folgender Weise ausdrücken 3 : 1. Der objektive und personale Geist stellt in der Objektivation das erarbeitete geistige Gut (den geistigen Inhalt mit dem Vordergrund) aus sich heraus, stellt es gleichsam neben sich hin, enthebt es dem eigenen Lebensprozeß und damit zugleich der eigenen Wandlung und dem eigenen Untergang. 2. Aber der objektive und personale Geist kann dieses geistige Gut nur von seiner jeweiligen Gestalt losreißen, nicht aber vom Fortgang geistigen Lebens überhaupt - in anderen Gestalten; die eigentümliche Seinsweise der Objektivation zieht ihm die Grenze vor. 3. Das Leben des objektiven und personalen Geistes geht weiter und der objektive und personale Geist wandeln sich fortwährend. Der objektivierte Geist (sein geistiges Gut) fällt auf den objektiven und personalen Geist zurück und findet ihn schon in veränderter Gestalt vor. Das objektivierte geistige Sein hat kein Sein ohne den lebenden Geist; seine „Idealität" ist eine bloß erscheinende „Idealität". Das geistige Gut kann sich in seiner Verhaftung an das geistlose Sein des Realgebildes (die Buchstaben, den Stein usw.) nicht verselbständigen. „Das Herausgestelltsein ist kein stabiler Zustand, in dem es ,für sich4 bestünde; es besteht nach wie vor, wenn überhaupt, so nur für ihn, den lebenden Geist. Daher sein Zurückfallen auf ihn. Der Geist, herausgeschleudert aus dem ,Leben4 des Geistes, ponderiert immer wieder zu ihm. 4 4 4 4. Weil aber der objektivierte Geist auf einen veränderten objektiven und personalen Geist zurückfällt, so wirkt er in diesem wie ein eigener Faktor neben dem laufenden Strom seines Lebens. Der objektivierte Geist wirkt auch manchmal wie ein Fremdkörper im objektiven und personalen Geist, wie eine Last, die getragen oder abgeschüttelt werden muß, so wie z.B. wenn es sich um einen veralteten und heute nicht mehr entsprechenden Kodex handelt, der im Widerspruch zu dem lebenden Volksempfinden steht. Dann ringt der lebende Geist mit dem objektivierten Geist und entledigt sich seines entweder auf dem „legalen 44 oder „illegalen 44 Wege. IV. Der objektive und personale Geist hält nur das fest, was er braucht, wirft ab, was ihn beschwert. 5 An Objektivationen erhält sich in ihm nur das, 3 4

Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 519f. Nicolai Hartmann, l.c: S. 519 f.

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3. Teil: Das geistige Sein

dessen Gehalt genügend Gewicht hat und was mit ihm in einem Verhältnis der Adäquatheit steht. Der objektive und personale Geist hat Verständnis nur für das, was für ihn wertvoll und bedeutend ist. „Aber auch in dieser Auslese noch bildet das objektivierte Gut eine größere Masse, als er auf die Dauer tragen kann. Damit setzt ein Konflikt ein, der zu weiterem Abwerfen führt oder aber sein Leben hemmt." Diesen Konflikt zwischen dem lebenden und dem objektivierten Geist kann man auf allen Gebieten beobachten. So stellt z.B. das positive Recht (die Rechtsordnung) den objektivierten Rechtsgeist dar und ist eine Objektivation des objektiven Rechtsgeistes. Als Objektivation hat der objektive Rechtsgeist seinen Inhalt aus sich herausgestellt, und ihm die Autorität über sich verliehen. Die geltenden Gesetze (Verfassungsgesetze und gewöhnliche Gesetze), aber auch Regierungsverordnungen, Ministerialverordnungen, Entscheidungen niederer Instanzen, Urteile, Rechtsgeschäfte usw.) sind Objektivationen. I n allen diesen Objektivationsformen hat der objektivierte Rechtsgeist eine gewisse Eigenkraft, die nicht mit dem objektiven Rechtsgeist identisch ist. Das Rechtsempfinden, dieser objektive Rechtsgeist, ist dem Wandel unterworfen, geht immer weiter, entwickelt sich fortwährend wie alles Lebendige, und dabei herrscht über ihn wie eine Fessel eine festgelegte Rechtsobjektivation. Letzten Endes kann sich das lebendige Rechtsempfinden in einem krassen Gegensatz zu seiner Rechtsobjektivation, zu dem objektivierten Rechtsgeist (zum Gesetz usw.) befinden. Ist dieser Gegensatz aber einmal eingetreten, so hat der objektive Rechtsgeist (das jetzt bestehende lebendige Rechtsempfinden) das geschriebene Gesetz und bzw. auch weitere Rechtsnormen (diese objektivierten Rechtsgebilde, diesen objektivierten Rechtsgeist, der noch Macht über den objektiven Rechtsgeist hat) gegen sich. Der objektive und personale Rechtsgeist hat sich in seine eigene Objektivation gefangen und muß sich entweder fügen, was freilich sein Fortschreiten und überhaupt sein innerstes Wesen zu negieren bedeutete, oder die Fessel in „legaler" Weise (nach Bestimmungen des objektivierten Geistes selbst) oder auf dem Wege der Revolution zerreißen. Das Phänomen der Fesselung, Verbundenheit des lebenden Geistes durch den objektivierten Geist ist geradezu in klassischer Form auf dem rechtlichen Geist bemerkbar: das lebendige Rechtsempfinden (der objektive Rechtsgeist) auf der einen Seite und das geschriebene Recht (Gesetzesrecht oder Gewohnheitsrecht - beide als objektivierter Rechtsgeist) auf der anderen Seite. Das Recht ist also, und zwar immer, eine Objektivation (eben des rechtlichen Empfindens). Die Moral ist keine Objektivation, sondern sie ist das moralische Empfinden selbst. 5

Dazu und zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e., 1. Aufl., S. 446 - 452, 3. Aufl., S.522 - 530.

§ 28. Die Dialektik des objektivierten, objektiven und personalen Geistes

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V. Wenn man das Phänomen der Fesselung beobachtet, so kann man einige allgemeine Schlüsse ziehen: 6 1. Der objektive und der personale Geist fesseln in ihren Objektivationen nicht nur sich selbst in ihrer Jeweiligkeit, sondern auch ihre Zukunft. Auch den künftigen objektiven und personalen Geist binden sie mit ihren Objektivationen und halten ihn präsumptiv auf ihrer jeweiligen Höhe. Die Objektivation ist dank ihrer eigentümlichen Seinsweise selbst schon die Form der Determination. 2. Der objektive und personale Geist aber, der vom Schaffen des früheren Geistes mitbetroffen ist, ist dieser Determination nicht wehrlos ausgeliefert. Vielmehr ist trotz ihrer Determinationskraft die Objektivation selbst dem jeweiligen objektiven und personalen Geist ausgeliefert, und zwar gerade wegen der dauernden Änderung des lebenden Geistes, wegen des Wandels seiner Auffassung. Lebender (objektiver und personaler) Geist ist als solcher niemals wehrlos. Mit seinem gestaltenden Schaffen begegnet er dem Geschaffenen, der Objektivation. Der jeweilige objektive und personale Geist lebt nicht nur in der Auswertung des Übernommenen, sondern auch im ständigen Kampfe mit ihm. Er sucht die aufgelegten Fesseln abzuschütteln, welche er überall dort empfindet, wo er sich unter ihnen gewandelt hat und im Schaffen eines Neuen begriffen ist. 3. In solcher Weise gibt es im objektiven und personalen Geist eine revolutionäre Tendenz gegen alle Objektivationen, gegen alles ihm Anhaftende und Auflastende, soweit es nicht mehr sein selbstgewolltes Geschaffenes ist. Es ist geradezu die Tatsache der Fesselung, welche diese revolutionäre Tendenz hervorruft. Gerade das ist die Dialektik des ganzen Verhältnisses des lebenden (objektiven und personalen) und des objektivierten Geistes. Indem der objektivierte Geist selbst den objektiven und personalen Geist fesselt, wiegelt er ihn zugleich gegen sich auf. „Indem er ihn determiniert und seine Freiheit einschränkt, ruft er ihn vielmehr zu Freiheit wach." 7 Und es ist in diesem Zusammenhang wichtig zu bemerken, daß die Regel „lex posterior derogat legi priori" keine bloß positive Rechtsregei ist, und auch keine nur rechtslogische, sondern gerade eine rechtsontologische. Im Widerstreit einer lebendigen und einer „leblosen" Macht ist auf die Dauer die erster e stets überlegen. Das was neu ist, z.B. das neue Gesetz als Ausdruck und Schöpfung des derzeitigen objektiven Rechtsgeistes, ist ontologisch immer das Stärkere als das Alte, z.B. das alte Gesetz. Gerade aus diesem Grund her ist das alte Gesetz derogiert und das neue Gesetz tritt in Geltung. Eine evtl. positivrechtliche Regel, daß im Streite des Alten mit dem Neuen, das Alte gelten 6 7

Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 530f. Nicolai Hartmann, I.e., 530f.

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3. Teil: Das geistige Sein

wird, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Keine Macht hat die Kraft, die Entwicklung und den Fortschritt zu negieren. Das Leben hat eigene Energien, die im Anstoß frei sind und dann mit eigener Entfaltung einsetzen. „Auch das liegt in der Seinsweise des objektivierten Geistes begründet. Ohne den lebenden Geist ist er leblos, ein Nichts. Nur in ihm und ,für' ihn ist er etwas. Das Leben, zu dem er in seiner Rückkehr erwacht, ist geliehenes Leben geliehen von eben demjenigen Geiste, in den er zurückkehrt, den er fesselt und den er gegen sich aufruht. Die Anhängigkeit läßt sich nicht umkehren. Darum muß auf die Dauer der lebende Geist über den objektivierten geschichtlich obsiegen - es sei nun mit ihm oder gegen ihn, ihn aufnehmend und umgestaltend oder ihn abschüttelnd." 8 In Wahrheit vollzieht sich ständig auf allen Geistesgebieten etwas wie eine stille Revolution. Die immer fortlaufende Änderung auf dem Gebiete der Gesetzgebung, die Änderung der Rechtsordnung im prozessualen Wege der Rechtsordnung selbst, also in einer Weise, welche die Rechtsordnung selbst für seine Änderung vorschreibt, ist eine solche stille Revolution auf dem rechtlichen Gebiet. Man ist gewöhnt, nur dann von einer Revolution zu sprechen, wenn es um die großen, geschichtlich greifbaren Revolutionen des Geistes geht. Was das rechtliche Gebiet betrifft, handelt es sich dann um eine solche „echte" Revolution, wenn die Diskrepanz zwischen dem existierenden Rechtsstand, zwischen dem objektivierten Rechtsgeist und dem jeweiligen Rechtsempfinden des Volkes, dem objektiven Rechtsgeist sehr groß ist, und die jeweiligen Machthaber sich keineswegs zur Änderung der existierenden Rechtsordnung im Wege dieser Rechtsordnung selbst bewegen lassen, und wenn dann in dieser Situation das Volk ohne Rücksicht auf die bestehende Rechtsordnung sich eine neue, dem derzeitigen objektiven Rechtsgeist entsprechende Rechtsordnung gibt. Gerade in diesem Sinne spricht man z.B. von der Großen französischen Revolution, von der Oktoberrevolution usw. Der objektive und personale Geist ist seinem Wesen nach revolutionär, und zwar gerade deshalb, weil der objektivierte Geist seinem Wesen nach konservativ und tyrannisch ist. „Jener ist der ewige Neuerer, weil seine Lebens- und Existenzform die der stetigen Selbsterneuerung ist; dieses ist das ewig konservative Prinzip in der Geschichte des lebenden Geistes, weil er neben ihm ein eigenes ,Leben' nicht hat und aus sich selbst heraus keine Erneuerung erfahren kann." 9 VI. Das Phänomen der Fesselung des objektiven und personalen Geistes durch den objektivierten Geist und der aus ihr resultierenden revolutionären Tendenz des lebenden Geistes macht nicht das ganze Verhältnis von lebendem und objektiviertem Geist aus. 10 8 9

Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 531. Nicolai Hartmann, I.e., 3. Aufl., S. 532.

§ 29. Abgeleitete Normativität einiger Sphären des geistigen Seins

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Das Grundphänomen, i n dem dieses Phänomen der Fesselung und der revolutionären Tendenz nur ein Moment bildet, bleibt unverkennbar. Das einmal errungene geistige Gut kann durch die Vermittlung der Objektivation dem objektiven und personalen Geiste erhalten bleiben und ihm zugute kommen. Der objektivierte Geist erfährt allerdings vom empfangenden objektiven und personalen Geiste eine Rückwirkung. Dieser Prozeß kann als die Wiederverflüssigung des objektivierten Geistes bezeichnet werden. Gerade dieser Prozeß ist das komplementäre Phänomen der Fesselung. Er bedeutet die natürliche Auflösung der Fessel. Hier beweist der objektive und personale Geist seine Lebendigkeit am erstarrten objektivierten Geiste als Überlegenheit über ihn. VII. Im Verhältnis des objektivierten Geistes und des lebenden (objektiven und personalen) Geistes gibt es noch ein weiteres Moment, 11 das ein ausgleichender Faktor bei dem Phänomen der Fesselung ist. Objektivation ist, rein als solche verstanden, auch Befreiung des lebenden Geistes, und zwar schon im Prozeß der Objektivation selbst. Das kann man freilich nur von der Position des lebenden Geistes aus beobachten, der als schaffender die Objektivation erzeugt und formt. Denn dieser lebende Geist eben ist es, der darin das Seinige aus sich herausstellt und hinter sich läßt. In solcher Weise befreit er sich gleichzeitig davon. „Aller lebende Geist bedarf andauernd der Befreiung von sich selbst." 12 Das geschieht eben durch die Objektivationen, in denen der objektive Geist seine Formen greifbar für die Individuen aus sich herausstellt. Der objektive Geist befreit sich hier. Der objektivierte Geist ist auf einer Seite geistiges Gut, von dem der lebende Geist zehrt, auf dem er baut und welches ihm also auch zugute kommt. Auf der anderen Seite bedeutet der objektivierte Geist eine Fessel für den lebenden Geist, mit welcher der lebende Geist ringt. Das Aufnehmen des objektivierten Geistes durch und in den objektiven und personalen Geist ist zugleich sein Ringen mit ihm. § 29. Abgeleitete Normativität einiger Sphären des geistigen Seins, insbesondere der rechtlichen Sphäre I. Phänomene der realen Schicht des geistigen Seins zeigen klar, daß es gewisse Sphären des personalen, objektiven und objektivierten Geistes gibt, die nachweisbar den Charakter von Forderungen, vom Sollen, den normativen Charakter aufweisen. Besonders klar sieht man das auf zwei typischen 10 Dazu und zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e., 1. Aufl., S. 458ff., 3. Aufl., S. 538 ff. 11 Zum folgenden Nicolai Hartmann, I.e., 1. Aufl., S. 461 - 465, 3. Aufl., S. 541 ff. 12 Nicolai Hartmann, 1. c.

10 KubeS

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3. Teil: Das geistige Sein

Gebieten des geistigen Seins, nämlich auf dem Gebiet des Rechts und dem der Moral. Dieser Sollenscharakter war auch Grund dafür, daß einige rechtsphilosophischen und rechtstheoretischen Schulen das Recht ohne weiteres in die Sphäre des reinen Sollens, der reinen Normativität, und damit in das Reich der Idealität einreihten. Dadurch gerieten sie freilich in eine Sackgasse, besonders wenn sie die Grundfrage der Geltung des Rechts zu lösen hatten. Auf der einen Seite reihten sie das Recht in das überzeitliche Reich der Idealität ein, und auf der anderen Seite zeigen die Phänomene selbst i n überzeugender Art und Weise, daß einzelne Rechtsordnungen entstehen, dauern und untergehen. In dieser Situation befindet sich immer noch z.B. die Schule der Reinen Rechtslehre und trotz allen großen Bemühungen und logizisierenden Geschicklichkeit seiner führenden Darsteller war diese Schule nicht imstande, die Zentralfrage der Geltung mit Erfolg zu lösen. Und dies gerade aus dem Grunde, weil das Recht (positive Rechtsordnung) keinesfalls in das Reich der Idealität, sondern in den stufenförmigen Aufbau der realen Welt gehört. Wenn wir zur richtigen Erkenntnis von der Realität des Rechts (und auch von der Realität der Moral) gelangen, dann sind w i r freilich imstande, die Frage des Entstehens und Untergangs, und die ganze Frage der Geltung des Rechts (sowie der Moral) ohne Schwierigkeit zu lösen; gleichzeitig allerdings stehen w i r vor der Aufgabe, die Normativität gewisser Sphären (Gebiete) des geistigen Seins, besonders der rechtlichen Sphäre, zu erklären. II. Es geht um ein Problem der grundlegendsten Bedeutung, welches mit Erfolg nur dann lösbar ist, wenn wir es in die Gesamtproblematik des Verhältnisses der realen Welt zur Welt der Idealität, in erster Linie zum Reich der Normideen, einreihen und uns die Rolle und Funktion dessen vergegenwärtigen, der zwischen diesen zwei Welten, der Welt der Realität und der Welt der Idealität, ein Vermittler ist. Den stufenförmigen Aufbau der realen Welt und die Eigenart der höchsten Schicht dieses Aufbaues haben w i r schon in unseren vorangehenden Ausführungen kennengelernt. Ebenso haben w i r in aller Kürze die Problematik der Welt der Idealität, wohin die Normidee des Rechts gehört, berücksichtigt. Wir haben auch mehrmals von dem Vermittler zwischen diesen zwei Welten gesprochen. Hier werden wir die bisherigen Ergebnisse benützen und teilweise die zukünftigen Ergebnisse antizipieren, um schon hier die Lösung der Problematik der Normativität einiger Sphären des geistigen Seins zu demonstrieren.

§ 29. Abgeleitete Normativität einiger Sphären des geistigen Seins

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III. Wie kann man das Phänomen erklären, daß das Recht, die Rechtsordnung (und auch ζ. B. die Moral), den Charakter des Sollens, der Normativität aufweist? Durch das reine Sollen charakterisieren sich nur die Normideen, einschließlich der Normidee des Rechts (dieser dialektischen Synthese der Idee der Gerechtigkeit, Sicherheit, Zweckmäßigkeit und Freiheit des konkreten Menschen) und auch der Normidee der Sittlichkeit. Die reale Welt als solche gehört in den Problemkreis des Seins, keineswegs des reinen Sollens. Und doch wird die Aufforderung der Normideen, und konkret der Normidee des Rechts (und auch der Normidee der Moral, der Normidee des Schönen, der Normidee der Wahrheit und Richtigkeit), dieses Sollen, irgendwie in die Welt der Realität, und zwar gerade in die höchste und am meisten komplexe Schicht der realen Welt, in das geistige Sein überführt, wo sich dann durch eine über Tausende von Jahren dauernde vermittelnde Tätigkeit der Menschen als Subjekte und Personen besondere Sphären (Gebiete) der abgeleiteten Normativität bilden. Der einzige bekannte Vermittler des Sollens (der Normativität) aus der Welt der Idealität in die reale Welt ist der Mensch als Subjekt und Person, mit seinem personalen Geist, mit seinem Bewußtsein, mit seiner Vorsehung, mit seinem „organ du coeur" für die kategorische Stimme und Aufforderung der Normideen, mit seinem freien Willen, mit seiner Teleologie (Zwecktätigkeit), mit seiner Fähigkeit, das Sollen der Normideen in der realen Welt bis zu einem gewissen Grad zu verwirklichen. Der personale Geist mit seinen fünf Attributen, mit seiner Autonomie trotz seiner Dependenz (und gerade wegen dieser) von den niederen Schichten der realen Welt und mit seiner Freiheit im Verhältnis zu den Normideen sich zu entscheiden, d.h. ihrer kategorisch imperativen Stimme, ihrem inhaltlichen Sollen entweder zu gehorchen oder nicht, überführt das Sollen aus der Welt der Idealität in das geistige Sein und bildet in solcher Weise schrittweise besondere Sphären der abgeleiteten Normativität des personalen, objektiven und objektivierten Geistes. Das abgeleitete Sollen des rechtlichen und moralischen Empfindens des Einzelnen (des personalen Geistes), die Phänomene des rechtlichen und moralischen Empfindens (der Überzeugung) des Volkes der betreffenden Gemeinschaft (des objektiven Geistes), das Phänomen des Sollens einer Rechtsordnung (des objektivierten Geistes-Rechtsgeistes) sind ausschlaggebende und zureichende Beweise. Es handelt sich allerdings um eine abgeleitete Normativität, die von der reinen Normativität, vom reinen Sollen der Normideen, und speziell der Normidee des Rechts, abgeleitet ist. So sehen wir, daß sich durch die Vermittlung des personalen Geistes besondere Sphären der abgeleiteten Normativität, besonders des Recht10-

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3. Teil: Das geistige Sein

lichen und des Moralischen in der Realität, in der Schicht des realen geistigen Seins, bilden. So bilden sich auch große Sphären des objektiven Geistes, die mit der abgeleiteten Normativität ausgestattet sind. Der reale Geist ist, dank seiner Verbindung durch den Menschen mit der Welt der Idealität die echte Wiege und Quelle des Rechts und der Moral und ihrer abgeleiteten Normativität. Das ist der eigentliche, echte Grund, warum Gesetze und andere Rechtsnormen im Verhältnis zu Rechtssubjekten als Sollen hervortreten. Es geht freilich nicht um reines, sondern um abgeleitetes Sollen. In vollem Maße begegnen w i r dieser abgeleiteten Normativität auf dem rechtlichen und moralischen Gebiet. Doch schon hier gibt es den bekannten Unterschied zwischen dem Recht und der Moral, und zwar aus dem Grunde, daß wir in der rechtlichen Sphäre mit personalem, objektiven und objektiviertem Geist zu tun haben, während w i r in der moralischen Sphäre nur mit dem personalen und objektiven Moralgeist arbeiten können, weil eine objektivierte Moral - wie w i r schon dargetan haben - ein Ding der Unmöglichkeit ist. Bei lebendem (personalem und objektivem) Rechtsgeist geht es um primär abgeleitete Normativität. Beim objektivierten Rechtsgeist handelt es sich um sekundär abgeleitete Normativität, die durch die Tätigkeit der Objektivation des objektiven Rechtsgeistes entsteht. Anders ist es bei der Moral. Nicht nur deshalb, weil hier das Sollen, die Normativität, dem Menschen als Vermittler nicht die Normidee des Rechts, sondern die der Sittlichkeit gibt, sondern auch aus dem Grunde, daß bei der Moral nicht mehr eine „objektivierte" Moral in Frage kommen kann. Daher kommt auf dem moralischen Gebiet nur das primär abgeleitete Sollen, die primär abgeleitete Normativität in Frage, keineswegs aber die sekundär abgeleitete Normativität. Das Sollen ist nicht nur der Normidee des Rechts und der Normidee der Sittlichkeit eigen, sondern auch - wie schon angedeutet wurde - der Normidee der Wahrheit und Richtigkeit und der Normidee des Schönen (und allerdings auch der dialektischen Synthese aller dieser vier Normideen, d.h. der Normidee des Guten - der konkreten Menschlichkeit). Und eben das ist der innere Grund, warum z.B. in der Logik oder Ästhetik mit vollem Recht Schulen hervortreten, die den normativen Charakter dieser wissenschaftlichen Disziplinen betonen.

§30. Das Problem der Willensfreiheit

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§ 30. Das Problem der Willensfreiheit im Lichte der kritischen Ontologie I. Der menschliche Geist ist unaufhörlich, immer von Neuem, getrieben, eines der schwierigsten Probleme, vielleicht das schwierigste Problem des menschlichen Denkens überhaupt, das Problem der Freiheit des Willens, zu lösen. Ist der Wille des Menschen frei? Ist es wahr, daß die Fähigkeit zum Guten und Bösen nur ein Mensch mit freiem Willen haben kann? Ist es wahr, daß das Sollen, die Pflicht, die Norm, die Schuld, die Verantwortung und Zurechenbarkeit die Willensfreiheit unbedingt voraussetzen? Ist es wahr, daß erst die Willensfreiheit die Initiative des Menschen ermöglicht, sich über blindes Naturgeschehen zu erheben? Offensichtlich stehen w i r vor der ersten Grundfrage: Ist es wirklich wahr, daß die Frage der Willensfreiheit von präjudizieller Bedeutung überhaupt ist, da im verneinenden Fall der Sinn des menschlichen Lebens negiert wäre? Diese erste Grundfrage beantworten die einen im bejahenden, die.anderen im negativen Sinne; die dritten schließlich meinen, daß dem Begriff der Willensfreiheit in Wirklichkeit nichts entspricht, es aber für die Praxis um eine höchstnotwendige Fiktion geht. Die zweite Grundfrage, bzw. Aufgabe, besteht in der Notwendigkeit den Inhalt des Begriffes der Willensfreiheit möglichst genau zu bestimmen. Was alles bedeutet die Willensfreiheit? Freiheit des Willèns im Verhältnis zur Freiheit der Handlung, Freiheit des Willens im Verhältnis zur „äußeren" und „inneren" Freiheit, Freiheit des Willens im Vergleich zur rechtlichen Freiheit, und vor allem Freiheit des Willens in Beziehung zum Kausalgesetz, Freiheit des Willens in ihrer Beziehung zur teleologischen Bestimmung alles Geschehens im Weltall, Freiheit des Willens im Verhältnis zur göttlichen Allwissenheit, Voraussehbarkeit und Allmacht; schließlich Freiheit des Willens im Verhältnis zu Normideen (Ideen, Werten, Normen) - das alles steht im Vordergrund eines dringlichen Interesses. Die dritte Grundfrage ist die Frage nach der Lösung des Verhältnisses der Willensfreiheit speziell zum Kausalgesetz, das - wie es scheint - die ganze reale Welt beherrscht. Im modernen Zeitalter sieht man gerade in dieser Frage den Kern der ganzen Problematik. Wir werden sehen, ob mit Recht. Die vierte Grundfrage ist die Frage der Lösung des Verhältnisses der Willensfreiheit zu Normideen, Werten, zur Welt der Idealität, zur Welt des reinen Sollens.

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3. Teil: Das geistige Sein

II. Die erste Grundfrage, d.h. nach der grundlegenden, präjudiziellen Bedeutung der Willensfreiheit, habe ich an anderer Stelle i n bejahender Weise beantwortet. 1 Es genügt hier festzustellen, daß das Sollen, die Pflicht, die Norm, die Verantwortung, die Zurechenbarkeit und auch die Schuld in einer restlos durch die Kausalgesetzlichkeit beherrschten Welt undenkbar und unmöglich sind. Das ist nicht nur so bei Pflichten, Normen, bei Verantwortung und Schuld im moralischen, sondern auch im rechtlichen Sinne. Letzten Endes muß auch das Recht im personalen und objektiven Geist verankert sein, und damit - durch die Vermittlung des Menschen als Subjekt und Person - in den Normideen, besonders in der Normidee des Rechts und in der höchsten Normidee überhaupt, in der Normidee des Guten (der konkreten Menschlichkeit). III. Die zweite Grundfrage, d.h. nach der Bestimmung des Inhaltes des Begriffes der Willensfreiheit, wurde im Sinne der Lehre von Nicolai Hartmann von uns folgendermaßen gelöst: Negativ betrachtet, deckt sich die Willensfreiheit nicht mit der Handlungsfreiheit. Die Handlungsfreiheit betrifft nur die Durchführung des Willens, nicht die Richtungsangabe selbst, ist daher nicht Freiheit des Willens selbst, sondern nur Freiheit der Verwirklichung des Willens. Ebenso deckt sich nicht die Willensfreiheit mit der „äußeren Freiheit", womit gemeint ist, frei vom Gang des äußeren Geschehens, von Umständen, Situationen und realen Möglichkeiten zu sein. Die Willensfreiheit kann sich nur im Rahmen des real Gegebenen und über dieser Grundlage befinden. Die Willensfreiheit darf aber auch nicht mit der „inneren Freiheit" identifiziert werden. Bei dieser „inneren Freiheit" handelt es sich um eine Art der Abhängigkeit von Empfindungen, Motiven, Affekten und von seelischen Möglichkeiten jeder Art (der psychologische Begriff der Willensfreiheit). Auch das innere Geschehen ist auf seine Art determiniert und diese innere Situation ist in jedem Augenblick gegeben und jeder wirkliche Wille fließt aus ihr. Nur an ein Wollen in solcher inneren Situation und an das, was durch dieses Wollen bestimmt ist, denkt man, und der Mensch muß mit einer solchen Situation rechnen. Aber er soll diese innere Situation ebenso wie die äußere beherrschen; er soll in ihr Schöpfer sein. Seine Freiheit kann daher nur in der Tatsache bestehen, daß der Mensch neben ihr noch andere Determinanten hat, welche er aus sich selbst in die innere Situation (ebenso wie in die äußere) hineinträgt, aus sich selbst auf die Schale der Alternative, in die er innerlich und äußerlich gestellt ist, wirft. Daraus ergibt sich - und damit kommen w i r teilweise schon zur positiven Festlegung des Begriffes der Willensfreiheit - , daß die Willensfreiheit in 1

Vladimir KubeS, Ο svobodë vule (Über die Willensfreiheit), noch nicht veröffentlicht.

§30. Das Problem der Willensfreiheit

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einem besonderen positiven Bestimmtsein in der Determination des eigenen Willens selbst, in der Autonomie des Willens besteht. Die Willensfreiheit ist auch nicht Freiheit des Dütfens, ist nicht rechtliche Freiheit, sondern des Könnens. Die Willensfreiheit beginnt erst mit der Fähigkeit, die Grenzen des Erlaubten zu überschreiten. In moderner Zeit versteht man unter der Willensfreiheit die Freiheit vom kausalen Gesetz, auch wenn in dieser Feststellung nur die Hälfte des Kerns der ganzen Problematik enthalten ist. Unter Willensfreiheit versteht man ferner - und das ist die zweite Hälfte der Problematik - die Freiheit den Werten, Ideen und letzten Endes den Normideen gegenüber. Die Schlüsselfrage sehen w i r weder in der Willensfreiheit von dem teleologischen Bestimmtsein alles Geschehens im Weltall, noch in der Willensfreiheit der göttlichen Allwissenheit, Vorsehung und A l l macht gegenüber. Wir beschränken uns daher nur auf die Problematik des Verhältnisses der Willensfreiheit zum kausalen Gesetz einerseits und zu den Normideen andererseits. IV. Der kausale Determinismus läßt ohne Begrenzung die Kategorie der Kausalität nicht nur in der Seinsschicht der anorganischen Natur, sondern auch in der Seinsschicht der organischen Natur gelten, ja sie kommt auch in den Seinsschichten des seelischen und geistigen Seins in Frage. Gegen diese Auffassung des kausalen Determinismus ist es zwar möglich, mit Hinweis auf einige Vertreter der Quantentheorie wie W. Heisenberg, 2 A. Eddington, 3 A. Welzel 4 so zu argumentieren, daß es sich bei der Kausalität um keine perfekte Determinierung (im Sinne: wenn A, so absolut notwendig B), sondern nur um eine Wahrscheinlichkeit handelt, daß nach Tatbestand A der Tatbestand Β folgen wird, und daß es möglich ist, daß in den elementaren Naturprozessen einige Plätze der Freiheit existieren, wo eben die Willensfreiheit sich geltend machen kann. Nach Ansicht von Max Planck 5 hat das Kausalgesetz in seiner Anwendung auch auf die Welt der Atome definitiv versagt. Hans Kelsen selbst stellt fest: 6 "The law of nature ... is not inviolable. True exception to a law of nature describing physical reality has the character of probability only, not of absolute necessity, as assumed be the older philosophy of nature." Kelsen beruft sich auf William A. Robson:1 2 W. Heisenberg, Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft, 1935; Anton Fischer, Die philosophischen Grundlagen der wissenschaftlichen Erkenntnis, 1947, S. 188. 3 A. Eddington, The Nature of the Physical World, 1929; Anton Fischer, 1. c. S. 188. 4 A. Welzel, Philosophie als Weg, 1939; Anton Fischer, I.e. S. 188. 5 Max Planck, Wege zur philosophischen Erkenntnis, 1933; Anton Fischer, I.e. S. 189. 6 Hans Kelsen, General Theory of Law and State, S. 46.

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3. Teil: Das geistige Sein

"Men of science no longer claim for natural laws the inexorable, immutable, and the objective validity they were formerly seemed to posses." Reinhold Zippelius 8 führt Worte des weisen Lichtenberg an, der in den Jahren 1742 - 1799 lebte: „Wir wissen mit weit mehr Deutlichkeit, daß unser Wille frei ist, als daß alles, was geschieht, eine Ursache haben muß. Könnte man also nicht einmal das Argument umkehren und sagen: Unsere Begriffe von Ursache und Wirkung müssen sehr unrichtig sein, weil unser Wille nicht frei sein könnte, wenn sie richtig wären?" Auf Grund dieser Ausführungen könnten w i r vielleicht die Meinung vertreten, daß das Hindernis, das im Kausalprinzip steckt, beseitigt ist. Das Kausalprinzip, die Kausalität, die Kausalgesetze, und der ganze kausale „Determinismus" könnten dann nicht bedeuten, daß hier eine Welt der Notwendigkeit, eine Welt des absoluten, exakten, unbedingten Zusammenhanges zwischen Ursache und Folge besteht, daß der Satz „Wenn A, so ist (folgt) B" bedeutet, daß „metaphysisch" notwendig Β nach A folgen muß, sondern daß es sich bloß um ein Erkenntnisinstrument handelt; in der Kausalität kann man also kein Prinzip erblicken, daß mit absoluter Notwendigkeit alles, was von dieser Welt ist, unbedingt ist und keine Ausnahme, und daher auch nicht die Willensfreiheit zuläßt. V. Bei gründlicher Untersuchung zeigt es sich aber, daß eine Leugnung der Geltung des Kausalprinzips im Gegenteil die Leugnung der Willensfreiheit selbst bedeuten würde. Die Willensfreiheit bedeutet nämlich auch, daß der Mensch für seinen festgesetzten Zweck die Kausalität auszunützen imstande ist, und zwar so, daß er zuerst in seinem Gedanken das Endziel festlegt und von diesem Zweck aus die Mittel rückwärts determiniert; danach aber nimmt der Finalnexus kausale Form an; in der Realisation des Zweckes funktionieren die Mittel als Ursachen, der Zweck als Wirkung. 9 Darin spiegelt sich deutlich das kategoriale Grundgesetz: Der Finalnexus ist vom Kausalnexus abhängig, er kann nur einsetzen, wo dieser schon besteht. „Ein aktives Wollen und Handeln, dessen kategoriale Struktur eben eine finale ist, wird überhaupt erst möglich in einer Welt, welche durchgehend kausal determiniert ist. u „Die rückläufige Determination (das zweite Glied im Finalnexus) hat also die rechtläufige Kausaldetermination schon zur Voraussetzung; sie hat vorsehend diese schon im Auge. Die Selektion der Mittel in ihr ist schon von Haus aus eine Selektion der Ursachen - nämlich der Ursachen einer gewollten (bezweckten) Handlung." Ein freier Wille mit finaler Wirkungsweise ist überhaupt nur in einer kausal determinierten Welt möglich. 7 William A. Robson, Civilisation and the Growth of Law, 1935, S. 340; vgl. Hans Kelsen, I.e. S. 46 in Anm. 8 Reinhold Zippelius, Das Wesen des Rechts, 2. Aufl., S. 164. 9 Dazu und zum folgenden Nicolai Hartmann, Ethik, 2. Aufl., 1935, S. 608.

§30. Das Problem der Willensfreiheit

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Und gerade Nicolai Hartmann hat auf der Grundlage seiner kritischen Ontologie erkannt, 10 daß der Kausalnexus gar nicht im antithetischen Verhältnis zum freien Willen steht. Der Kausalnexus ist kein Hindernis, sondern positive Vorbedingung. „Er ist der niedere Determinationstypus, über dem allein sich der höhere erheben kann." „ I n einer nicht durchgehend kausal determinierten Welt ist nicht nur die Teleologie des ,freien' Willens, sondern überhaupt alle Teleologie - einerlei ob die einer göttlich absoluten, oder die einer menschlich beschränkten Vorsehung - eine Unmöglichkeit." Der Kausalnexus ist zwar notwendige Bedingung für den Finalnexus, aber bloß materielle Bedingung. Der Kausalnexus steht der Zwecksetzung jederzeit offen und fügt sich ihr widerstandslos, soweit sie die in ihm gegebenen Ursachenkomplexe als Mittel zu „benutzen" versteht. 11 Man sieht also, daß es nötig ist, von dem Begreifen der Kausalität als einer notwendigen, keine Ausnahmen zulassenden Verkettung von Ursachen und Folgen auszugehen. Das Problem der Willensfreiheit erscheint - ohne Beeinträchtigung seiner grundlegenden Bedeutung für den Sinn des menschlichen Lebens überhaupt - als ein Teilproblem der breiteren und zentralen Problematik des Verhältnisses der Dependenz und Autonomie, wie dieses Verhältnis immer von Neuem auf jeder Seinsschicht des stufenförmigen Aufbaues der realen Welt auftaucht. Der zentrale Punkt liegt im Gedanken und in der Tatsache, daß w i r es nur mit der Selbständigkeit in der Abhängigkeit zu tun haben. Die höheren Kategorien, d.h. diejenigen, die in höheren Seinsschichten dominant sind, sind zwar durch die niederen Kategorien, entweder der Materie nach oder nur was ihr Fundament betrifft, bedingt und sind daher die schwächeren, aber sie sind in ihren höheren Schichten, in ihrem Novum den niederen Kategorien gegenüber „frei"; sie sind autonom. Ihren Spielraum der Freiheit haben sie nicht in dem „Niederen", sondern „über" ihm. Es handelt sich um die kategoriale Freiheit des Höheren; es geht um die Independenz in der Dependenz; es geht darum, daß in dem stufenförmigen Aufbau der realen Schichten der Welt eine strukturelle Übermacht dessen existiert, was Höheres ist, über dem, was niederes und für sein Gebiet auch Stärkeres ist. Bei jeder Seinsschicht bleibt immer ein Raum der Freiheit für die höhere Formung „über" der niederen Schicht. Dieser Raum der Freiheit ist ein freies Feld der kategorial möglichen Autonomie der höheren Seinsschicht. In diesem kategorialen Überrest, in diesem Novum des Höheren, besteht das kategoriale Moment der Freiheit. Der Geist gewinnt in solcher Weise eine Macht über gewisse Naturkräfte seiner Umgebung dadurch, daß er lernt, ihre eigene Gesetzmäßigkeit zu begreifen, sich ihr akkomodiert und 10 11

Nicolai Hartmann, I.e. S. 609. Nicolai Hartmann, I.e. S. 609.

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3. Teil: Das geistige Sein

sie ausnutzt. Das haben richtig Friedrich Engels und mit ihm der ganze Marxismus und dann der Marxismus-Leninismus erkannt und Folgerungen daraus gezogen. Die Willensfreiheit des Menschen ist nur dann möglich, wenn die Autonomie des höheren Gebildes, der höheren Seinsschicht, der Determination des niederen Gebildes, der niederen Seinsschicht gegenüber existiert. Die Willensfreiheit hängt vor allem von dem kategorialen Verhältnis der Dependenz und der Autonomie ab, wie es von einer Seinsschicht zur anderen wiederkehrt. Wir haben mit der Schichtung von Determinationstypen zu tun. In jeder Seinsschicht gibt es eine entscheidende Determination, aber in jeder Seinsschicht eine andere. Die niedere Determination ist zwar die stärkere, aber nur als ein untergeordnetes Moment, das als Material durch einen höheren Nexus überformt ist, welches ein kategoriales Novum darstellt und als Novum der niederen Determination gegenüber „frei" ist. Der kausale Nexus, eine dominante Kategorie des physisch-materiellen Seins, ist fähig, eine fremde Determination in sich aufzunehmen ohne seine eigene Struktur zu verlieren. Die Unverbrüchlichkeit des kausalen Nexus bedeutet keineswegs, daß das, was in ihn eingeht, schon vorausbestimmt ist und daß der Prozeß sich nicht lenken läßt. Sobald eine neue Komponente in den Zusammenhang des kausalen Nexus eingeht, muß sich seine Gesamtwirkung ändern. Der Kausalnexus leistet keinen Widerstand, daß die neue Komponente in ihn eingeht, und ist zu ihrem Ursprung gleichgültig. Die Willensfreiheit, als spezielles Beispiel der kategorialen Freiheit, ist Autonomie in der Determination gewisser personaler Akte „über" der Determination der seelischen Prozesse. Jede reale, vom Willen ausgehende Determination, hat die Form des Finalnexus, des teleologischen Nexus. Dieser Nexus überformt den Kausalnexus. Die Willensfreiheit kann nicht ohne Zwecktätigkeit bestehen. Die Willensfreiheit bedeutet daher vor allem Autonomie den niederen Determinationen und daher auch der kausalen Determination gegenüber, insofern sie den Willen mitbestimmen. Die Form dieser ersten Autonomie ist die der positiven Freiheit. In der Willensfreiheit haben w i r nicht nur mit dieser ersten Autonomie zu tun. Die Willensfreiheit stellt ein komplexes Verhältnis von insgesamt drei Autonomien dar. Jetzt wird es um die zweite Autonomie gehen, d. h. um eine Autonomie dem Sollen gegenüber, ohne Unterschied, ob es sich um ein primär abgeleitetes Sollen von realen Ideen oder um ein sekundär abgeleitetes Sollen von Rechtsnormen, oder in letzter Instanz - um ein reines Sollen der Normideen (besonders der Normidee des Rechts und der Normidee der Sittlichkeit) handelt.

§30. Das Problem der Willensfreiheit

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Es geht um die vierte Grundfrage: um das Verhältnis des Willens zum Sollen, zum abgeleiteten und zum reinen Sollen. Die Freiheit des Willens muß nicht nur Freiheit dem kausalen Nexus der Naturgesetzlichkeit gegenüber (die positive Freiheit), sondern kann auch Freiheit den Normideen, Ideen und Normen gegenüber bedeuten. Der Wille muß einen Freiheitsraum gerade diesen Prinzipien gegenüber besitzen, durch welche er bestimmt sein soll, um moralischer und rechtlicher Wille zu sein. Neben der kausalen Naturgesetzlichkeit existiert nämlich noch eine weitere Gesetzlichkeit, eine weitere Determination - Gesetzlichkeit und Determination durch das Sollen der Normideen, Ideen und Normen. Diese Determination bestimmt den realen Willen, der sich dieser Determination nur unvollkommen unterwirft, da die Gesetzlichkeit des Sollens keine Unzerbrechlichkeit des Kausalen kennt, und die Person fähig ist, sich gegen die Gesetzlichkeit des Sollens zu stellen, also gegen das Sollen zu handeln. Diese Determination ist grundsätzlich eine andere als die kausale Determination; sie gilt nicht ausnahmslos, sie bestimmt nicht mit absoluter Notwendigkeit. Der Mensch kann, muß aber nicht nach dem kategorischen, reinen Sollen der Normideen, ebenso wie nach deren Abglanz, nach dem abgeleiteten Sollen der Ideen und Normen handeln. Der Mensch als Subjekt und Person mit seinem „organ du coeur" ist daher im Verhältnis zu den Normideen (Ideen, Werten, Normen) frei. Das ist nur so möglich, daß der Mensch noch eine dritte Art von Determination in sich aufbewahrt, die er von sich aus auf die Waage der ethischen und auch der rechtlichen Wirklichkeit wirft. Es handelt sich um die personale Determinante, von welcher gerade wesentlich die Willensfreiheit abhängt. Der Wille ist nur insofern überkausal determiniert, und steht unter den Normideen des Sollens (was keine ausnahmslose Determination ist), wenn er neben diesen Normideen auch durch eine eigene, personale Determinante bestimmt ist. Hier geht es um „Freiheit über dem Gesetz." Erst auf der Grundlage der personalen Willensentscheidung der realen Person (des Menschen) kann die Normidee (Idee, Norm) eine Determinante der Person werden. Wie w i r schon erkannt haben, herrschen die Normideen, Ideen und Normen als Zwecke keineswegs ohne Einsatz der Person für sie. Nur der Mensch mit seinem Gefühl für sie, mit der Gegebenheit zu ihnen tendieren zu können, und mit seiner Zwecktätigkeit ist ein Vermittler zwischen ihnen und der realen Welt und der Vollstrecker ihren Sollens in dieser realen Welt.

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3. Teil: Das geistige Sein

VI. Die „grande question" (Leibniz) der Willensfreiheit des konkreten Menschen, eine Grundfrage, die letzten Endes in eine freudige oder tragische Feststellung einmündet, ob das menschliche Leben überhaupt einen Sinn hat - in eine tragische Feststellung, wenn w i r zur Verneinung der Willensfreiheit gelangen, oder in eine freudige, wenn w i r zur Überzeugung gelangen, daß der Mensch die Willensfreiheit besitzt - , ist jetzt mit der Feststellung der Möglichkeit ihrer Lösung skizziert. Ich kenne kein anderes Problem, das wichtiger und gleichzeitig schwieriger zu lösen wäre. Es geht um die Wurzel des menschlichen Daseins. Es ist begreiflich und voll begründet, daß die Grundfrage immer vom Neuen gestellt wird. Erst die kritische Ontologie hat uns die Möglichkeit einer Lösung gebracht. Auch wenn ich nicht alle Thesen der Hartmannschen Lehre übernehmen kann, im besonderen nicht seine Wertlehre, und auch in anderen Fragen zu anderen Perspektiven und Ansichten gelange, war es trotzdem Nicolai Hartmann, der den Weg zeigte und selbst auf diesem Wege kein kleineres Stück weiterging als vor ihm Heraklit, Piaton und Aristoteles, Thomas von Aquino, Spinoza und Leibniz, Hume und Kant, Hegel und Marx, Nelson, Lask und Scheler. Ontologisch gesehen, ist die Willensfreiheit der bedeutendste Fall im Verhältnis der Seinsschichten der realen Welt, der bedeutendste Fall der Independenz, der Autonomie in der Dependenz. Der Kausalnexus empfängt ohne Wiederstand außerkausale Determinanten, empfängt Determination für fremde Zwecke. Der Finalnexus, wie schon gesagt wurde, überformt den Kausalnexus. Es geht um Freiheit im positiven Sinne, um Freiheit des individuellen, wissenden Willens. Es handelt sich um Freiheit der Naturgesetzlichkeit, der kausalen Verkettung gegenüber. Es handelt sich um die Möglichkeit, in diese kausale Verkettung positiv einzugreifen, die Gesetzmäßigkeit der Kausalität für den eigenen Zweck auszunützen, ihr „sich anzupassen" und sie zu „überlisten." VII. Die Phänomene der Verantwortung, der Zurechenbarkeit, des Bewußtseins der Schuld, des Gewissensvorwurfes, der Verzweiflung des gewissenhaft Suchenden zwischen Alternativen, wie zu entscheiden, wenn diese oder jene Entscheidung den Schmerz des Anderen zur Folge haben würde, das alles ist ein empirischer und triftiger Grund, daß es die Willensfreiheit des Menschen als eine reale Macht gibt. Und noch mehr! Es existiert ein Urerlebnis des Sollens, ein Urerlebnis des kategorischen „Imperativs", und - wie Untersuchungen zeigen, die Immanuel Kant und nach ihm eine Reihe weiterer Denker durchgeführt haben, wie Hermann Ullrici 12 oder Deussenu oder Rudolf Launu, und wie die phänome-

§30. Das Problem der Willensfreiheit

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nologischen Untersuchungen beweisen, man kann nicht bestreiten, daß w i r Erlebnisse einer Nötigung besitzen, in denen von Seiten des eigenen Ichs her der Charakter des Sollens erteilt wird, Erlebnisse, in denen w i r uns als Menschen bewußt sind der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit dem, was uns befiehlt, das betreffende Handeln durchzuführen oder es zu unterlassen. Im Erlebnis der autonomen Nötigung fühlen wir uns als befreit von (äußeren und inneren) Einflüssen, und unser Handeln erscheint uns als Erfüllung einer Pflicht. Das autonome Erlebnis des Sollens ist die letzte Urgegebenheit, der kardinale Punkt, ist das, was dem menschlichen Leben den Sinn und die Fülle gibt 1 5 . Dabei darf man nicht vergessen, daß diese Urerlebnisse ein empirischer Ausdruck der Normideen mit der Normidee des Guten an der Spitze sind und daß der eigentliche Kern des Sollens gerade in ihnen zum Ausdruck kommt. Diese Urerlebnisse des Sollens sind die empirische Bestätigung, die Verifikation der absoluten Normidee des Guten und der in ihr enthaltenen Normideen der Sittlichkeit, des Rechts, des Schönen und der Wahrheit und Richtigkeit. VIII. Neben der kausalen Determination, welche durch die „Freiheit in positiver Vernunft", durch die ontologische Möglichkeit der Teleologie und durch das Einschalten der Kausalität für den durch den Menschen festgesetzten Zweck beherrscht ist, haben w i r - wie bereits gezeigt wurde - noch eine axiologische Determination, eine Determination durch die Normideen, Ideen und Normen. Diese zweite Determination ist grundsätzlich eine andere, als die kausale; sie ist nicht ausnahmslos absolut, nicht durch Notwendigkeit bestimmt. Wir haben schon angedeutet, daß es um die Frage der persönlichen Entscheidung geht, ob es zur Determination durch die Normideen, Ideen, Nor12 Nach Ullrici (Gott und Mensch II. Grundzüge der praktischen Philosophie, Naturrecht, Ethik und Ästhetik, 1873, S. 100ff.; vgl. Johann Sauter, Die philosophischen Grundlagen des Naturrechts, S. 111) ist es notwendig vom sittlichen Erlebnis des grundlegenden Gefühls des Sollens auszugehen. Dieses Gefühl ist von der menschlichen Natur nicht zu trennen und nach Ullrici (I.e. S. 507) handelt es sich um einen „evidenten" Beweis des metaphysischen Ursprungs des menschlichen Ethos, ebensowie um einen Beweis des metaphysischen Ziels. 13 Paul Deussen, Allgemeine Geschichte der Philosophie, 2 Bde., 1866, Neuausgabe 1896. 14 Rudolf Laun, Recht und Sittlichkeit, 3. Aufl., S. 41 f. 15 Es ist daher nicht möglich der von Alf Ross (Kritik der sogenannten praktischen Erkenntnis, S. 280ff.) vertretenen Ansicht beizustimmen, wenn er eine negative Stellung zum Sollen überhaupt hat; offensichtlich unter dem Einfluß von Hägerström und Lundstedt geht er davon aus, daß man nur in einer von Kausalität beherrschten Welt zu objektiven Erkenntnissen kommen kann. Er sieht überhaupt nicht den stufenförmigen realen Aufbau der Welt und die abgeleitete Normativität gewisser Sphären des geistigen Seins.

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3. Teil: Das geistige Sein

men, kommt oder nicht. Der Wille des Menschen hat den Normideen usw. gegenüber eine „Freiheit in negativer VernunftIm Menschen, und nur in ihm, ist also eine dritte Determinante gegeben, welche der Determination durch die Normideen gegenüber ein kategoriales Novum darstellt. Was diese dritte Determinante wirklich ist, kann man nicht restlos bestimmen, wie Nicolai Hartmann und mit ihm Reinhold Zippelius 16 feststellen. Diese dritte Determinante kann prinzipiell im gegenständlichen Bereich nicht entdeckt werden. Die Freiheit ist nicht gegenständlich, sondern nur im Vollzug faßbar. Die Freiheit erweist sich „durch meine Tat", daß trotz aller Überlegungen, auf denen die Entscheidung fußt, der Entschluß als solcher „erst im Sprunge ist" und daß ich mir der Freiheit nur im Existieren gewiß bin, nicht im Betrachten, sondern im Vollziehen 17 . „Niemals ... ist ein Akt auch ein Gegenstand; denn es gehört zum Wesen des Seins von Akten, nur im Vollzug selbst erlebt und in Reflexion gegeben zu sein 18 ." Der Mensch handelt zwar - psychologisch gesehen - immer nach dem Prinzip des Qualminimums. Das bedeutet aber keineswegs, daß sein Handeln mit Notwendigkeit kausal determiniert wird, daß er nicht wollen (und dann auch handeln) kann, wie er w i l l (und dann auch handelt). Der Mensch steht unter Normen, realen Ideen und in letzter Instanz unter Normideen. Er steht aber unter ihnen nicht passiv als ihr Diener und bloßer Vollstrecker. Im Gegenteil! Er hat immer die Möglichkeit eyner Wahl: Ihrer Stimme zu folgen oder nichi, und lieber ßich von „niederen" Werten, von seinen Neigungen beherrschen zu lassen. Im Menschen existiert eine „geheimnisvolle" dritte Determinante, der Kern seiner Willensfreiheit, die es ihm ermöglicht, sich frei zu entscheiden. Der Mensch handelt freilich immer nach dem Prinzip des Qualminismums, aber für den Einen bedeutet dieses Prinzip, nach dem absoluten Sollen der Normideen zu handeln und vielleicht sein eigenes Leben für die Rettung des Lebens des Anderen einzusetzen, auch wenn die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs ihm minimal erscheint und auch ist. Auch wenn man nicht einverstanden sein kann mit der These Arthur Schoppenhauers, daß in der Möglichkeit der Verneinung des Willens zum Leben, das allerhöchste und zugleich das letzte Stadium der Entwicklung zu sehen ist, und auch wenn w i r nicht die Meinung von Max Scheler 19 teilen können, daß das, was aus einem Menschen den wahren Menschen macht, das Prinzip ist, welches gerade dem Leben widerstrebt, muß man doch mit August Messer 20 einver16 17 18

VIA. 19

20

Reinhold Zippelius, Das Wesen des Rechts, 2. Aufl., 1969, S. 166ff. K. Jaspers, Philosophie, Buch 2, Kap. 6; Reinhold Zippelius, I.e. S. 168. Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 2. Teil, Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 1928. August Messer, Psychologie, 5. Aufl., 1934.

§ 30. Das Problem der Willensfreiheit

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standen sein, daß es gerade der Geist ist, der es dem Menschen ermöglicht, sich bis zu einem gewissen Maß vom „Leben" loszulösen und sich von den Fesseln und der Abhängigkeit vom Organischen, also vom „Leben" zu befreien. Der Mensch ist „der ewige Protestant gegen bloße Wirklichkeit". „Der Mensch kann, aus seinem freien Willen, der Tyrannei der vitalen Bedürfnisse entgehen." 21 Der Mensch gehört keineswegs ausschließlich der biologischen Sphäre an; es ist nicht möglich, alle seine Äußerungen restlos durch die Tendenz, sich selbst und seine Gattung zu erhalten, zu erklären. Beispiele, obgleich nicht häufige, bilden triftige Beweise. Das Handeln eines Menschen, der sein Leben opfert, um das Leben eines Kindes zu retten, geht hinter die biologische Sphäre. Das „wirkliche Menschliche" liegt irgendwo tiefer als das, was uns die biologische „Zweckmäßigkeit" darbietet. Das „typisch Menschliche" ist das Urerlebnis der Pflicht, das Urerlebnis des Sollens. Dieses Urerlebnis hat nur der Mensch. Gerade das, als zweite Determinante, sowie auch seine Fähigkeit, das Sollen der Normideen zu befolgen oder nicht, als seine dritte Determinante, ist gerade das spezifisch menschliche; es ist das, wodurch sich der Mensch von anderen Geschöpfen unterscheidet und über die biologische Sphäre erhebt. Der Mensch lebt in der Gesellschaft, lebt von einer Reihe von erlebten „Werten", „Ideen" umgeben. Es handelt sich um reale „Werte", „Ideen", wie sie sich durch die lange Entwicklung in der Gesellschaft, in welcher der Mensch lebt, gebildet haben. Alle diese „Werte", „Ideen", unter denen der handelnde Mensch steht, weisen dem Menschen gegenüber einen gewissen Pflichtdruck, eine gewisse Nötigung auf; der Mensch muß sich mit ihnen täglich irgendwie auseinandersetzen. Der Mensch lebt im objektiven geistigen Sein, wo er das abgeleitete Sollen, besonders i n der moralischen und rechtlichen Sphäre, findet. Er kann im Einverständnis mit ihm oder gegen dieses Sollen handeln. Immer handelt er - psychologisch gesehen - nach dem Prinzip des Qualminimums. Wenn er diese Pflichten erfüllt, handelt es sich um einen, im moralischen oder rechtlichen Sinne richtig handelnden Menschen. Wir haben es mit einem „moralischen", „gerechten", rechtlich handelnden Menschen zu tun. A l l dieses „primär" oder „sekundär" abgeleitetes Sollen stammt von den Normideen ab. Dieses Sollen, das rein und absolut ist, ist nicht bloß formal, sondern es hat den Inhalt der i n Frage kommenden Normidee. Die ganze Konstruktion der Welt der Idealität hat nichts mit etwaigem „Idealismus" zu tun. Man kann Anhänger der idealistischen oder fnaterialistischen Weltanschauung sein, immer spricht die eine ebenso wie die andere Gesellschaft von einer „Weltanschauung" und muß auch von ihr sprechen 21

D. Katz, Animals and Man, 1937; vgl. Anton Fischer, Die philosophischen Grundlagen der wissenschaftlichen Erkenntnis, 1947, S. 215f.

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3. Teil: Das geistige Sein

wenn sie nicht untergehen will; sie spricht von Ideen und auch von Pflichten, von einer unendlichen Menge von moralischen und rechtlichen, oder wenn man w i l l - auch von Klassenpflichten usw. Die Pflicht als solche ist ohne Normideen undenkbar. Der ganze Prozeß der Kultur, das ganze Kulturgeschehen, ist nichts anderes als Erfüllung oder Verletzung von Pflichten; immer aber geht es um Versuche, die von neuem unternommen werden, das im Unendlichen liegende Ziel, nämlich die Normideen, zu erreichen und mit ihnen zusammenzufließen. Gerade diese, von neuem unternommenen Versuche bringen die Menschheit - trotz mancher Rückschläge - immer um einen Schritt weiter und höher, näher zum reinen Sollen der Normideen, wenn auch die Erreichung dieser im Unendlichen liegt. Sonst würde der Mensch als Mensch nicht existieren können; er würde ein vollkommenes Wesen sein, bei welchem von Willensfreiheit zu sprechen schon sinnlos wäre. Diese, sich immer wiederholenden Versuche, wie sie durch die Geschichte der Menschheit und ihrer Kulturen gehen, stellen jene dauernde Spannung vor, jenes Bemühen, jene ewige Tendenz, die der Menschheit den Fortschritt ermöglicht. Sie nicht erkennen zu wollen, würde bedeuten, den Sinn des Lebens zu verneinen. Die Gegebenheit von Normideen und das Vermögen des Menschen, seine Fähigkeit, ihnen zu folgen oder gegen sie zu handeln, das ist die Willensfreiheit des Menschen, und zugleich der Sinn dessen, wodurch und warum w i r leben.

Vierter

Teil

Eine Erklärung des Wesens des Rechts und weiterer Grundfragen auf der Grundlage der kritischen Ontologie § 31. Klarstellung der Gesamtproblematik des Wesens des Rechts, der Idee, der Normidee und des Begriffs des Rechts I. In den bisherigen Ausführungen haben w i r uns in aller Kürze mit den Grundlagen der kritischen Ontologie vertraut gemacht. Jetzt wollen w i r zeigen, wie die Grundfragen und Grundprobleme des Rechts im Lichte dieser kritischen Ontologie gelöst werden können. Die Kardinalfrage der ganzen Problematik ist die nach dem Wesen des Rechts. Wir werden sehen, daß sich dessen, was die Bezeichnung „Wesen des Rechts" trägt, zu bemächtigen, nur unter der Voraussetzung möglich ist, wenn wir die Beziehung der Rechtsrealität zur realen Idee des Rechts und schließlich zur Normidee des Rechts begreifen. II. Was versteht man unter dem Wesen des Rechts? 1 Vor allem kann man „negativ" sagen, daß das Wesen des Rechts weder mit dem Begriff des Rechts, noch mit der Idee, bzw. mit der Normidee des Rechts gleichgesetzt werden kann. Der Begriff des Rechts, also die begriffliche Feststellung des Phänomens des Rechts, ist freilich an das Wesen des Rechts gebunden, setzt es voraus; der Begriff des Rechts bedeutet letzten Endes nichts anderes als die gedankliche Erfassung und adäquate Äußerung dessen, wozu wir bei der Untersuchung des Wesens des Rechts gelangt sind. Beim Begriff des Rechts abstrahiert man freilich von der Feststellung des Ortes in dem hierarchischen Aufbau der realen Welt, wohin das Recht als Phänomen gehört. Das Wesen des Rechts ist der eigentliche Kern des Phänomens des Rechts; es ist das, „was einem Gegenstand (sc. dem Phänomen des Rechts) notwendig zukommen muß, wenn er ein Gegenstand dieser Art soll sein können". 2 Es handelt sich dabei in erster Linie um die Frage, ob das Phänomen des Rechts in die Welt der Realität oder in die Welt der Idealität gehört, um die 1 2

Vladimir Kubeê, Grundfragen der Philosophie des Rechts, 1977, S. 24f. Edmund Husserl, Erfahrung und Urteil, Absch. III.

11 KubeS

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

Erkenntnis dieser beiden Welten und ihrer Beziehung, bei der der Mensch als Subjekt und Person der einzige Vermittler ist. Ferner handelt es sich um die genaue Bestimmung des Ortes innerhalb der realen Welt (für den Fall, daß das Recht in die reale Welt gehört), d.h. in welche Schicht oder Schichten des stufenförmigen Aufbaues der realen Welt das rechtliche Sein gehört. Weiters ist es notwendig, die für diese Schicht (Schichten) adäquaten Kategorien zu bestimmen. Ähnlich muß man die Beziehimg der realen Seinsschichten und deren Kategorien zur Welt der Idealität, insbesondere zur Normidee des Rechts klären. III. Die Normidee des Rechts ist die Quintessenz des rechtlichen Gedankens überhaupt; sie ist das reine Sollen an sich; sie beinhaltet, wozu alle „positiven" Rechtsordnungen tendieren und tendieren müssen, um überhaupt als Rechtsordnungen hervortreten zu können; sie ist das bindende Element und der Richtpunkt aller „positiven" Rechtsordnungen aller Zeiten. Es wird sich zeigen, daß dieser eigentlichste und reinste rechtliche Gedanke als Normidee des Rechts hervortritt und in einer Reihe mit den Normideen der Sittlichkeit, des Schönen, der Wahrheit und Richtigkeit steht. Alle diese Normideen stehen unter der höchsten Normidee des Guten (der konkreten Menschlichkeit), deren einzelne immanente Bestandteile sie sind. Die Normidee des Rechts ist nicht identisch mit der Idee des Rechts. Die Normidee des Rechts gehört in die Welt der Idealität und stellt sich, wie schon mehrmals angedeutet wurde, als reines Sollen dar. Die Idee des Rechts hingegen gehört in die Welt der Realität, zählt zur obersten Schicht der realen Welt, gehört nämlich in das geistige Sein, ist also ein reales Gebilde. Inhaltlich gesehen, stellt die Idee des Rechts das dar, was der Normidee des Rechts in der realen Welt entspricht. IV. Daher ist es notwendig und auch zweckmäßig, die Untersuchung des Wesens des Rechts, die Untersuchung der Normidee des Rechts und die Untersuchung des Begriffs des Rechts streng zu unterscheiden. Während w i r bei der Lösung des Wesens des Rechts und auch der Idee des Rechts einzelne Schichten der realen Welt, besonders die Schicht des geistigen Seins (und ihre Beziehung zur Welt der Idealität) untersuchen, werden w i r uns bei der Untersuchung der Normidee des Rechts in der Welt der Idealität, im Reich der Normideen bewegen und schon in den Fragenkomplex der Axiologie eingreifen. Bei der Bestimmung des Begriffs des Rechts ist es erforderlich, alle Ergebnisse und Schlußfolgerungen, zu denen w i r bei den Untersuchungen des

§31. Klarstellung der Gesamtproblematik

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Wesens des Rechts, der realen Idee des Rechts und der idealen Normidee des Rechts gelangt sind, auszunützen. Bei dem Streben um eine Definition des Rechts, um begriffliches Erfassen des Rechts überwiegen freilich die Betrachtungen rechtslogischen Charakters, auch wenn die ontologischen Ausführungen in jedem Fall präjudiziell sind. V. Nicht nur im rechtsphilosophischen, sondern auch im allgemeinen philosophischen Schrifttum gibt es so viele verschiedenartigste und oft konträre Ansichten, daß es nötig ist, die Grundlage der Lösung dieser Fragen zu beleuchten. Es wäre freilich ganz unrichtig zu meinen, daß man einfach alles, wozu sich das philosophische Denken während seiner geschichtlichen Entwicklung durchgearbeitet hatte, negieren oder ignorieren darf. Im Gegenteil! Es ist notwendig, all das beste, was uns die Genien des philosophischen Denkens hinterlassen haben, zu berücksichtigen. Es w i r d sich zeigen, daß schon die Philosophie des „Dunklen von Ephesos", des wahren Begründers der Dialektik, Heraklit, und besonders die des erstaunlichen Piaton und des Aristoteles immer noch sehr lebendig und aktuell sind, und ferner, daß es unmöglich ist, die Erbschaft des Begründers der transzendentalen (kritischen) Philosophie, Immanuel Kant, und der Mehrheit der neokantischen (neokritischen) Denker beiseite zu lassen, die - wenn auch meistens sehr einseitig - nach einer „Modernisierung" des Kantischen Systems strebten, aber doch manches sehr Wertvolle hinterließen. Gleichzeitig wird es nötig sein, das Gedankensystem des dialektischen und historischen Materialismus, dann die neofriesianische Lehre von Leonard Nelsen und einzelne phänomenologische Richtungen von unserem Gesichtswinkel aus zu berücksichtigen. Die wertvollste Hilfe bringt uns allerdings die moderne, kritische Ontologie und Ethik von Nicolai Hartmann, sowie auch die Lehren von Gustav Radbruch und Alfred Verdross. Keinesfalls wird es um einen Eklektizismus gehen, sondern um den Versuch, eine neue, schöpferische Synthese des rechtsphilosophischen Denkens zu entfalten, die eine geeignete Grundlage für die Lösung der grundlegenden und besonders heutzutage brennenden rechtsphilosophischen Fragen wäre, Fragen, welche nicht nur vom theoretischen Standpunkt ungemein wichtig, ja entscheidend sind, sondern auch eine schicksalsschwere Bedeutung für das Leben jedes konkreten Menschen haben. Auch hier bestätigt sich einwandfrei das Dictum, daß Theorie und Praxis die Vorder- und Rückseite derselben Sache sind.

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

§ 32. Eine Einführung in die Frage nach dem Wesen des Rechts zum Unterschied von der Frage nach dem Wesen des Staates, der Gesellschaft und der Gemeinschaft I. Vor allem w i r d es darum gehen, nach gründlicher Untersuchung des Phänomens des Rechts zu bestimmen, ob das Recht mit seinem Wesen in die reale Welt oder i n die ideale Welt (in das Reich der Normideen, in das Reich des reinen Sollens) gehört. Wenn das Recht in die reale Welt gehört, und das zu beweisen w i r d eine der Hauptaufgaben dieser Arbeit sein, dann wirft sich die weitere Frage auf, in welche Seinsschicht der realen Welt das Recht mit seinem Wesen gehört. Es ist klar, daß es notwendig ist, sorgfältig die einzelnen Seinsschichten und besonders ihr Verhältnis zueinander, sowie die Kategorien, welche diese Seinsschichten beherrschen und für die betreffende Seinsschicht dominant sind, zu bestimmen. Größtenteils wurde das schon in den vorangehenden Ausführungen geleistet; es hat sich gezeigt, daß grundsätzlich (nicht ausnahmslos) ontologische und noetische Kategorien korrespondieren. Die Normativität, und zwar die sekundär abgeleitete Normativität des Rechts ist nur auf der Grundlage des Verhältnisses der geistigen Seinsschicht, wohin in erster Linie das Recht gehört - das Recht greift freilich auch in die weiteren Seinsschichten der realen Welt ein - , zu den Normideen, besonders zur Normidee des Rechts, gegeben. II. Der Versuch, das Wesen des Rechts zu erfassen, würde mißlingen, wenn wir nicht die vergleichende Analyse eines anderen, fast immer mit dem Problem des Wesens des Rechts auftretenden Problems durchführten. Es handelt sich um die bekannte Frage nach dem Wesen des Staates. Das Verhältnis von Recht und Staat - das ist die alte und immer von Neuem auftauchende Frage, die die Rechtsdenker aller Zeiten beschäftigt. Dabei stößt man auf eine ganze Fülle von oft sehr widerstreitenden Ansichten. Es wird daher nötig sein, nicht nur das Wesen des Rechts, d. h. seine entsprechende Einreihung in die reale, bzw. ideale Welt zu bestimmen, sondern auch eine ontologische Analyse des Wesens des Staates durchzuführen und zu bestimmen, ob der Staat in die reale Welt (und in welche von ihren Seinsschichten) oder in die ideale Welt gehört. Wir werden zur interessanten Feststellung kommen: während das Recht ein Phänomen ist, welcher zwar allen Seinsschichten der realen Welt angehört, trotzdem aber das größte Gewicht auf das geistige Sein gelegt wird, ist der Staat zwar auch ein mehrgliedriges, komplexes, mit seinem Wesen allen Seinsschichten der realen Welt angehörendes Gebilde, aber bei ihm das Gewicht gleichmäßig auf allen Seinsschichten liegt.

§33. Ein Abriß der Problematik der Normidee des Rechts

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III. Damit wird aber die uns in diesem Zusammenhang interessierende Problematik keineswegs in ihrer Ganzheit gelöst. Mit dem Problem des Staates taucht nämlich auch das Problem der Gesellschaft und der Gemeinschaft auf. Der Staat und die Gesellschaft - was für eine Menge von Meinungen, die nicht nur eine „theoretisch-trockene" Bedeutung haben, sondern auch für das konkrete Leben uns aller ungemein wichtig sind. Es ist also notwendig, eine kurze Analyse des Wesens der Gesellschaft, besonders im Verhältnis zum Wesen des Staates und zum Wesen des Rechtes durchzuführen. Das bedeutet, daß wir wieder vor eine weitere Aufgabe gestellt sind, in der Struktur der realen, bzw. der idealen Welt den Platz zu finden, wohin die Gesellschaft gehört. In diesem Zusammenhang wird es notwendig sein, auch den Begriff und das Wesen der Gemeinschaft zu berücksichtigen, weil viele Autoren einen Unterschied zwischen der „Gesellschaft" und der „Gemeinschaft" machen.

§ 33. Ein Abriß der Problematik der Normidee des Rechts I. Aus der Demonstration und Analyse verschiedener Ansichten über das Wesen des Rechts, des Staates, der Gesellschaft und der Gemeinschaft wird es sich zeigen, daß das Typische und Eigenartige, das der „rechtlichen" Komponente des objektivierten, bzw. objektiven Geistes den Charakter der abgeleiteten Normativität gibt, die Wirkung der Normidee des Rechts auf das geistige Sein ist. Wir werden vor das sehr schwierige Problem gestellt sein, diese ideale, von der realen Welt unterschiedliche Welt, vor allem das Reich der Normideen, zwar in aller Kürze, aber doch zu analysieren, und dabei nicht in die „Metaphysik" zu verfallen, die für manche Doktrinen des Naturrechts typisch ist. Vor allem geht es um die streng wissenschaftliche Begründung der „Existenz" dieser idealen Welt und der „Natur" dieser Normideen. Ferner müssen w i r begründen, daß auch die Normidee des Rechts ein vollwertiges Glied des Reiches der Normideen ist. Es wird sich auch um den Inhalt dieser Normidee des Rechts handeln. Besonders müssen w i r erklären, ob die Normidee des Rechts nur die Idee der Gerechtigkeit bildet, oder ob die Normidee des Rechts aus einer dialektischen Synthese von mehreren Ideen besteht; in Betracht kommen - wie w i r schon wissen - die Idee der Rechtssicherheit, der Zweckmäßigkeit und der Freiheit des konkreten Menschen.

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

II. Im Vordergrund unseres Interesses w i r d freilich wieder die Verbindung dieser zwei „Welten" stehen. Uns hat schon das vermittelnde Glied dieser Verbindung interessiert. Es ist der Mensch als Subjekt und Person, mit seinem „organ du coeur", seinem Gefühl für die Normideen, seiner Fähigkeit, die kategorische Stimme des inhaltlichen Sollens dieser Normidee „wahrzunehmen" und sie unter den Kategorien der Normativität und der Teleologie als der Zwecktätigkeit in die reale Welt zu überführen und das Kausalgesetz in seine Dienste einzuspannen. Mit dem eminent wichtigen Grundproblem der Freiheit des Willens, die hier eine entscheidende Rolle spielt, sind w i r schon bekannt geworden. Die Willensfreiheit, das Sollen, das Verhältnis des Sollens zum Sein, der Zweck, die Zwecktätigkeit im Unterschied zur bloßen Zweckmäßigkeit, das Problem der Werte, der Normen, der realen Ideen und der idealen Normideen, das Verhältnis der sog. kognitiven (rechtlichen kognitiven) zur volitiven (rechtlich volitiven) Sphäre und Tätigkeit - das alles ist für die Lösung unserer zentralen Frage nach dem Wesen des Rechts entscheidend. III. Der Inhalt der Normidee des Rechts bedeutet eine Konzentration alles dessen, was das reinste und eigentlichste am Recht und am Rechtsdenken ist. Die Normidee des Rechts teilt das, was der ganzen idealen Welt gemeinsam ist, mit und zwar das Schicksal eines immerdauernden Kampfes um eigenes Ausharren, um eigene Existenz. Es wird sich zeigen, daß es viele, oft gegensätzliche Richtungen gibt, welche aber alle Hand in Hand die Welt der Idealität, und schon aus diesem Grunde, auch die Normidee des Rechts negieren. Es sind dies nicht nur naturalistisch, auf die Kategorien des Raumes, der Zeit und der Kausalität orientierte Richtungen (z.B. die UppsalaSchule), aber auch alle möglicher „positivistischen" Richtungen, und mit ihnen - trotz ihrer „Normativität" - auch die Schule der Reinen Rechtslehre. Im Lager derer aber, die lehren, daß man neben dem Begriff des Rechts auch noch mit der Normidee (Idee) des Rechts arbeiten muß, besteht eine große Meinungsverschiedenheit, was den Inhalt dieser Normideen, ihre Natur und Funktion betrifft. Die einen orientieren den Begriff des Rechts an der Rechtsidee, die anderen behaupten im Gegensatz dazu, daß sich die Rechtsidee aus dem Begriff des Rechts ergibt. Was den Inhalt der Rechtsidee betrifft, sehen viele die Idee des Rechts in der Gerechtigkeit, wobei ein Streit über den Begriff der Gerechtigkeit herrscht. Die anderen sehen den Inhalt der Idee des Rechts in der Sicherheit oder in der Idee der öffentlichen Ordnung, in der Idee des Gemeinwohls oder in der Idee der Zweckmäßigkeit; und wiederum andere in der Idee der Freiheit oder Gleichheit oder in verschiedenen Kombinationen dieser einzelnen Ideen.

§ 34. Ein Abriß der Problematik der rechtlichen Geltung

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Ebenso ist die Natur der Normidee des Rechts sehr umstritten. Was überhaupt ist die Welt der Idealität? Hat sie eine objektive, wissenschaftlich zu erfassende „Existenz"? Und nicht weniger unklar ist die Funktion der Normidee des Rechts, ihr Verhältnis zum Phänomen des Rechts. Ist diese Funktion bloß eine regulative oder auch eine konstitutive? Das ist einstweilen nur die Andeutung einer Reihe von Problemen, die mit der Frage der Normidee des Rechts verbunden sind.

§ 34. Ein Abriß der Problematik der rechtlichen Geltung und der Verbindlichkeit I. Was bedeutet „rechtliche Geltung"? Was bedeutet „rechtliche Verbindlichkeit"? Besteht zwischen der Geltung einer Norm und der Verbindlichkeit einer Norm ein Unterschied oder geht es bloß um Synonyma? Ist das geltende Recht schon dadurch, daß es wirksam ist, auch für die Subjekte verbindlich? Und warum, aus welchem Grunde? Was ist überhaupt der Grund der rechtlichen Geltung? Das sind Fragen, die uns in diesem Zusammenhang interessieren und auf welche die Rechtsphilosophie in verschiedenster Weise Antwort gibt. Es gibt hier eine Reihe von entgegengesetzten Meinungen über die rechtliche Geltung, mag es sich um die historisch-soziologische Auffassung (und diese wieder in Form der Macht- oder Anerkennungstheorien), um manche „philosophischen" oder „juristischen" Auffassungen handeln. II. Schon hier ist es zweckmäßig anzudeuten, daß im Hintergrund aller Meinungsverschiedenheiten der Umstand liegt, daß man nicht unterscheidet zwischen a) der Geltung des Rechts (der Rechtsordnung) als eines Ganzen, b) der Geltung der einzelnen Rechtsnorm, c) der Geltung der realen Idee des Rechts und d) der Geltung der Normidee des Rechts. Die Mehrzahl von heftigen Streitigkeiten ist gerade dadurch verursacht, daß das Schrifttum noch nicht zur Unterscheidung von vier Arten der rechtlichen Geltung gelangt ist. Gleichzeitig wird es sich zeigen, daß die Geltung einer Norm dasselbe wie die Verbindlichkeit einer Norm bedeutet. Die Lösung dieser ganzen Problematik ist nur unter der Voraussetzung möglich, daß wir zuerst das Zentralproblem des Wesens des Rechts und der Normidee des Rechts lösen werden, was freilich wieder nur so möglich ist, wenn w i r beweisen, daß neben der realen Welt eine andere, zweite „Welt" ist, die Welt der Idealität, und daß als Vermittler dieser zwei Welten der Mensch als Subjekt und Person mit seinen fünf Attributen steht; und

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

schließlich, daß ohne gründliche (schon durchgeführte) Analyse des stufenförmigen Aufbaues der realen Welt und Einreihung des Phänomens des Rechts in die Seinsschichten, besonders i n die Schicht des geistigen Seins, und ohne Klarlegung der abgeleiteten Normativität einiger Sphären des personalen, objektiven und objektivierten Geistes, jeder Versuch einer Lösung der rechtsphilosophischen Grundfragen, und besonders der nach der rechtlichen Geltung, scheitern würde. Wenn wir die Grundfrage nach dem Wesen des Rechts und der Normidee des Rechts klarlegen, ist die Lösung der rechtlichen Geltung leicht. Und man kann wieder auf der Grundlage der Lösung dieses Problems die Richtigkeit der Lösung der zentralen Problematik des Wesens des Rechts und der Normidee des Rechts verifizieren. § 35. Ein Überblick über einzelne Erklärungsversuche des Wesens des Rechts I. Ontologie und Noetik des Rechts haben ein gemeinsames Ziel: das Wesen des Rechts am adäquatesten zu erfassen. Jeder Rechtsdenker sieht es als seine Aufgabe und Pflicht an, sich irgendwie zu dieser zentralen Frage zu äußern. Das ist auch der Grund, warum w i r einer ungeheuren Zahl von verschiedensten Ansichten und Konstruktionen begegnen. Trotzdem aber - von der Vogelperspektive aus gesehen und zum Zweck einer vorläufigen Orientation - ist es möglich, alle diese Anschauungen und Konstruktionen so zu reihen, daß w i r ein annäherndes Bild bekommen, welches uns ermöglicht, uns besser in dieser Problematik zu orientieren. Zuerst stellen w i r beide, an entgegengesetzten Polen liegende Idealtypen dar: den rechten und den linken Idealtypus. II. Der linke Idealtypus ist durch solche Denker repräsentiert, die das Recht mit Hilfe von Kategorien erkennen wollen, welche den niederen Seinsschichten eigen sind als der Seinsschicht, wohin vor allem (nicht ausnahmslos) das Recht mit seinem Wesen gehört. Die Darsteller dieses linken Idealtypus versuchen das Wesen des Rechts mit Hilfe von Kategorien, die für die anorganische Natur (für das physisch-materielle Sein) dominant sind, vor allem mit den Kategorien des Raumes, der Zeit und der Kausalität, zu erklären. Hierher gehören nicht nur die rechtssoziologische Schule (Kornfeld, Ehrlich), sondern auch die Uppsala-Schule (Hägerström, Lundstedt, Olivecrona, Alf Ross) und sogar auch z.B. Sander, ein ursprünglicher Anhänger der Schule der Reinen Rechtslehre. Die von Grund aus unrichtige Vorstellung, daß die Wissenschaft, um Wissenschaft zu sein - wenn man von der Logik und Mathematik abstrahiert - unter dem Gesichtspunkt der Kau-

§35. Ein Überblick über einzelne Erklärungsversuche

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salität arbeiten muß, trägt die Schuld, daß diese Richtungen der Rechtswissenschaft den Charakter einer Naturwissenschaft ergeben, was freilich zu einem totalen Mißerfolg führt. III. Auf der anderen Seite - als der rechte Idealtypus - stehen diejenigen Lehren, die das Recht i n die Welt der Idealität einreihen; dabei ist nicht uninteressant, daß hier in einer Reihe solche Gegner stehen, wie einige Vertreter der naturrechtlichen Doktrinen (z.B. Rudolf Laun) und die Schule der Reinen Rechtslehre mit Hans Kelsen und Franz Weyer an der Spitze. Die Welt der Idealität wird freilich von beiden philosophischen Richtungen anders vorgestellt, da die Doktrin des Naturrechts die Idealität inhaltlich auffaßt, während die Reine Rechtslehre nur das formale Sollen sieht. Für beide Richtungen aber ist das Recht ein Sollen und gehört in die ideale Welt. Sofort aber entsteht für beide Richtungen ein unüberwindliches Hindernis, welches für alle „idealen" Auffassungen des Wesens des Rechts typisch ist, nämlich, daß das, was in die ideale Welt gehört, zeitlos ist, während das Recht entsteht, lebt und vergeht. In diese „ideale" Gruppe muß man auch z.B. Immanuel Kant ebenso wie den ersten Neokantianer auf dem Boden der Rechtsphilosophie, Rudolf Stammler, einreihen. Hierher gehört aber auch eine andere philosophische Schule, die auf ganz anderen Positionen steht. Es geht um die hegelianische und neohegelianische Rechtsphilosophie. Diese Rechtsphilosophie ist geradezu der Prototyp aller Bestrebungen, welche die ganze reale Welt und auch das Recht mit Hilfe von Kategorien der reinen Idealität erklären wollen. Hierher gehören neben Hegel die bekannten Neohegelianer des X X . Jahrhunderts Julius Binder (in der letzten Phase seiner Entwicklung) und auch Karl Larenz der dreißiger Jahre. IV. Zwischen diesen beiden Gegenpolen, dem linken Idealtypus und dem rechten Idealtypus, liegt eine große Zahl verschiedener Konstruktionen, die sich um irgendeine Vermittlung beider gegensätzlichen Grundauffassungen bemühen (sog. vermittelnde Lösungen). Es handelt sich um verschiedene Mischtypen. Hierher gehört besonders die rechtsphilosophische Schule, die auf der süddeutschen (badenischen, heidelbergischen) neokantischen Richtung (Wilhelm Windelband, Heinrich Rickert, Emil Lask) aufgebaut ist und das Wesen des Rechts als eine Kulturerscheinung sui generis begreift (Gustav Radbruch, gewissermaßen auch Julius Binder in seiner zweiten, durch sein Werk „Philosophie des Rechts" aus dem Jahre 1925 gekennzeichneten Entwicklungsetappe). Alle diese sicher tief begründeten Konstruktionen sind durch ihre wertphilosophische Position und die Beziehung dieser Werte zur realen Welt gekennzeichnet; der stufenförmige Aufbau der realen

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

Welt, wohin das Recht mit seinem Wesen gehört, und überhaupt die ganze Auffassung der kritischen Ontologie ist ihnen noch unbekannt. Die Auffassungen, die auf verschiedenen phänomenologischen Richtungen aufgebaut sind, müssen hier auch berücksichtigt werden. Die Grundlage aller dieser Auffassungen ist die Phänomenologie, die am Anfang des X X . Jahrhunderts von Edmund Husserl begründet wurde. Es handelt sich besonders um die rechtsphilosophische objektivistisch-realistische phänomenologische Richtung (Adolf Reinach), um die rechtsphilosophische transzendental-phänomenologische Richtung von Felix Kaufmann und Fritz Schreier und um die rechtsphilosophische existenzialistische Richtung von Gerhart Husserl. Allerdings ist es hier nicht ganz klar, wohin eigentlich diese Richtungen gehören, schon mit Hinsicht auf ihre Terminologie und ihre ganz speziellen Lösungen des Wesens des Rechts. Schließlich werden wir die Auffassungen behandeln, die schon gewissermaßen auf der kritischen Ontologie von Nicolai Hartmann aufgebaut sind; es geht besonders um die Auffassimg von Heinrich Henkel.

§ 36. Erklärung des Wesens des Rechts mit Hilfe der Kategorien der niederen Seinsschichten I. Vorläufer dieser Konzeption war gewissermaßen schon Epikur (341 270 v.u.Z.) mit seiner materialistischen Weltanschauung, mit seinem utilitaristischen Prinzip, daß nicht nur in der Moral, sondern auch im Recht herrschen soll, mit der ersten Formulierung der Lehre vom Gesellschaftsvertrag, mit seiner Priorität des zeitlich ersten Rechtspositivisten, weiters Pyrrhon (365 - 275 v.u.Z.), besonders aber Kameades (214 - 129 v.u.Z.) mit seiner Verneinung der Gerechtigkeit und des Sollens überhaupt, und viele andere. 1 II. Lösungen, die das Wesen des Rechts mit Hilfe der Kategorien der physisch-materiellen Natur zu finden versuchen, begegnet man in der Neuzeit bei dem naturalistischen Positivismus, der schon im Jahre 1847 von J. H. Kirchmann in seiner berühmt gewordenen Abhandlung „Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz" vertreten wurde, und scharf am Übergang vom 19. in das 20. Jahrhundert und zu Beginn dieses Jahrhunderts von den Vertretern der 1 Giorgio del Vecchio, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, S. 45f.; Bohuâ Tomsa, Idea spravedlnosti a prâva ν fecké filosofii (Die Idee der Gerechtigkeit und des Rechts in der griechischen Philosophie), 1923, S. 167ff.; Johann Sauter, Die philosophischen Grundlagen des Naturrechts, 1932, S. 205f.; Adolf Lasson, System der Rechtsphilosophie, S. 67 ff.

§36. Erklärung mit Hilfe der niederen Seinsschichten

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rechtssoziologischen Schule, Ignaz Kornfeld 2 und Eugen Ehrlich 3, hervorgehoben wurde. Man spricht auch vom soziologischen Positivismus. 4 Ähnlich wie die Aufgabe der Rechtsphilosophie auf die Untersuchung dieser unserer Welt der Erfahrung nach den Naturgesetzen reduziert wird, wobei das Naturgesetz das ganze Feld der Welt beherrscht, so handelt auch die Rechtssoziologie, die von den Vertretern dieser Richtung als die eigentliche und einzige Rechtswissenschaft aufgefaßt wird, nicht von „Worten", sondern von Tatsachen. Wissenschaft und Naturwissenschaft sind ein und dasselbe, und der einzige Weg zur Erkenntnis sind unsere Sinne. 5 Alles Normative und Teleologische muß vom Recht und von Rechtsbetrachtungen ausgeschlossen werden. Daß dies ein Ding der Unmöglichkeit ist, geht schon aus den Ausführungen von Kornfeld selbst hervor. Richtig bemerkt Alf Ross6, daß hier von einer Folgerichtigkeit keine Rede sein kann. Auf der einen Seite erkennt Kornfeld als seinen Ausgangspunkt nur die Kausalität an, auf der anderen Seite begreift er die Rechtsnormen als „die dem Zweck der Selbstbehauptung gesellschaftlichen Lebens dienenden Regeln." 7 Auch Eugen Ehrlich 8 führt das Recht auf das „nicht normative" Sein über. Die Rechtswissenschaft ist ein Teil der Soziologie. In der Vorrede zu seiner „Grundlegung der Soziologie des Rechts" sagt er, daß der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung zu allen Zeiten weder in der Gesetzgebung noch in der Jurisprudenz oder in der Rechtssprechung liege, sondern in der Gesellschaft selbst. Ehrlich ist noch weniger konsequent als Kornfeld. Für die sogenannten „Entscheidungsnormen", die durch Gesetzgebung, durch die Wissenschaft, oder die Praxis ausgebildet sind, erkennt er den normativen Charakter an. 9 2 Ignaz Kornfeld, Soziale Machtverhältnisse, 1911; derselbe, Allgemeine Rechtslehre und Jurisprudenz, 1920. 3 Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913, 3. Aufl., 1967, derselbe, Die juristische Logik, 2. Aufl., 1925; vgl. Manfred Rehbinder, Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich, 1967. 4 Walter Ott, Der Rechtspositivismus. Kritische Würdigung auf der Grundlage eines juristischen Pragmatismus, 1976, S. 25, 27, 75ff. 5 Ignaz Kornfeld, Allgemeine Rechtslehre und Jinisprudenz, 1920, S. 66; vgl. Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, S. 38; vgl. dazu und zum folgenden Alf Ross, Theorie der Rechtsquellen, S. 219 ff. 6 Alf Ross, I.e. S. 221; vgl. auch Reinhold Zippelius, Das Wesen des Rechts. Eine Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1969, S. 15ff. 7 Ignaz Kornfeld, Soziale Machtverhältnisse, S. 73. 8 Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913, S. 4, 68f., 368, 376ff., 393, 405, 3. Aufl., 1967; derselbe, Recht und Leben. Gesammelte Schriften zur Rechtstatsachenforschung und zur Freirechtslehre, Schriftenreihe des Instituts für Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung der Freien Universität Berlin, Nr. 7, 1967; M. Rehbinder, Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich, Schriftenreihe usw., Nr. 6,1967; Walter Ott, I.e. S. 75ff. 9 Vgl. Alf Ross, I.e. S. 224.

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

Auf der anderen Seite aber weist das Gewohnheitsrecht in seiner Auffassung einen ausschließlich faktischen Charakter auf. Die ganze Zusammenfassung dieser zwei heterogenen Momente desselben Phänomens, sc. des Rechts, bleibt bei ihm unerklärt. Aus den für den Forscher unmittelbar beobachteten, konkreten Übungen, Herrschafts- und Besitzverhältnissen, Verträgen, Satzungen und letztwilligen Anordnungen ergeben sich nach Ehrlichs Meinung die Regeln des Handelns, die das Verhalten der Menschen in der Gesellschaft bestimmen. 10 „Unmittelbar sind daher für die rechtliche Ordnung in der Gesellschaft nur die Tatsachen, nicht die Rechtssätze maßgebend, nach denen die Gerichte entscheiden, oder die staatlichen Behörden vorgehen." 11 Soziologisch ist Ehrlichs Lehre - wie Walter Ott richtig betont 1 2 - nur in dem Sinne, daß er den Ursprung aller Rechtsnormen letztlich in der gesellschaftlichen Realität sucht, indem er von „tatsächlich Geübten" ausgeht. Darüber hinaus ergänzt Ehrlich jedoch seine Lehre mit psychologischen und auch normativen Überlegungen. III. Die folgerichtigsten, aber auch mit schwersten Fehlern belasteten Vertreter jener Richtung, die das Recht mit Hilfe von Kategorien der niedersten Seinsschicht, d. h. des physisch-materiellen Seins, mit den Kategorien des Raumes, der Zeit und der Kausalität, zu erklären versuchen, sind die prominenten Denker der sog. Uppsala- Schule: Axel Hägerström und sein großer Bewunderer Anders Wilhelm Lundstedt 13 weiters K. Olivecrona, 14 und Alf Ross.15 Jede Wissenschaft, daher auch die Rechtswissenschaft, darf nach dieser Konzeption, um wirkliche Wissenschaft zu sein, nur mit diesen Kategorien arbeiten. Und trotzdem ist es evident, daß alles Bemühen, das Wesen des Rechts mit Hilfe von Kategorien des Raumes, der Zeit und der Kausalität zu erklären, eine vollkommene Vergewaltigung des Rechts bedeutet. Wir wissen zwar schon, daß die Kategorien der Zeit und des Pro10

Vgl. Walter Ott, I.e. S. 76. Eugen Ehrlich, I.e. S. 155. 12 Walter Ott, 1. e. S. 78. 13 Anders Wilhelm Lundstedt, Die Unwissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft, 1. Band, Die falschen Vorstellungen von objektivem Recht und subjektiven Rechten, 1932; vgl. Schenk, Die Unwissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft, ZöR 14 (1934), S. 145ff.; Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1963, S. 196 ff. 14 K. Olivecrona, Om lagen ock staten, Kobenhavn-Lund, 1940, (zit. nach H.H. Vogel, Der skandinavische Rechtsrealismus, Arbeiten und Rechtsvergleichungen Nr. 56, 1972, S. 43, und nach Walter Ott, Der Rechtspositivismus, 1976, S. 68f.); derselbe, Law as fact, 1939, 2. Aufl., 1971; derselbe, Realisme and Idealisme, Law Review 26, 1951, S. 120ff. 15 Alf Ross, On Law and Justice, 1958; derselbe, Towards a Realistic Jurisprudence. A Criticism of the Dualism in Law, Copenhagen, 1946; derselbe, Legal norms and norms of chess, Österr. ZöR 8, 1958, S. 477ff.; vgl. Hans Kelsen, Eine „realistische" und die Reine Rechtslehre, Österr. ZöR 10, 1959/60, S. Iff. 11

§ 36. Erklärung mit Hilfe der niederen Seinsschichten

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zesses (des Werdens) durch alle Seinsschichten der realen Welt hindurchgehen und auch für die geistige Seinsschicht, wohin das Recht überwiegend gehört, maßgebend sind. Demgegenüber müssen w i r betonen, daß die dominanten Kategorien des Rechts doch die Kategorien der Normativität und der Teleologie sind. In allen Schriften von Hägerström und Lundstedt sieht man eine unversöhnlich kämpferische Stellungnahme gegen jeden Versuch, wissenschaftliche Theorien auf etwas zu gründen, wofür nicht zeitliche und räumliche Erfahrungsdaten vorhanden sind. Es gilt die Maxime, wonach jede Erkenntnis von etwas eine Erkenntnis in unserer zeitlichen und räumlichen Erfahrungswelt sein muß. 16 Hägerströms Ausführungen wollen zwar von Kant ausgehen, laufen aber darauf hinaus, daß Kants Auffassung und Lösung ethischer und rechtsphilosophischer Probleme phantastische Ergebnisse gezeigt habe. Hägerström bemüht sich, den Standpunkt von Kant, wonach jede Erkenntnis von etwas in unserer zeitlichen und räumlichen Erfahrungswelt Wahrnehmbarem auszugehen habe, auch und zwar ausnahmslos auf die Betrachtungen des Rechts anzuwenden. Hägerström und mit ihm Lundstedt sind fest überzeugt, daß der gesamte Grund, auf dem die bisherige Rechtswissenschaft aufbaut, aus einer kompakten metaphysischen Masse besteht. Ganz im Geiste der Ausführungen von Hägerström kommt Lundstedt zur unglaublichen Feststellung, daß „die landläufigen Anschauungen der Rechtswissenschaft i n allen Stücken und von Grund aus irrational sind und zu allem hin am verhängnisvollsten aller Fehler kranken, nämlich an der Verwechslung von Ursache und Wirkung" 1 7 . Den Grundausgangspunkt von Hägerström und Lundstedt 18 kann man klar an ihrer Stellungnahme zum Begriff der Pflicht demonstrieren, wie ihn Axel Hägerström in seiner Arbeit „Zur Frage des Begriffes des objektiven Rechts" 19 dargelegt hatte und wie ihn Lundstedt zusammenfaßt. 20 Hägerström und Lundstedt wollen zeigen, „daß die Jurisprudenz ständig die vermeintlichen Befehle des Staatswillens mit Pflichten verwechselt, die von ihr als ein objektiv bestimmtes Attribut der Handlung aufgefaßt werden und keineswegs nur als ein Ausdruck dafür, daß die Handlung befohlen ist." Sie sind überzeugt, „daß der Begriff Pflicht selbst im Sinne von etwas Objektivem ein theoretisch sinnloser Begriff ist und daß i n der Pflichtvorstellung 16

Lundstedt, I.e. S. S. 17ff. Lundstedt, S. 20. 18 Lundstedt, I.e. S. 29ff. 19 Hägerström, T i l l frägan om den objektiva rättens begrepp, 1917 (schwedisch); derselbe, Der römische Obligationsbegriff im Lichte der allgemeinen römischen Rechtsanschauung 1927; derselbe, Inquiries into the Nature of Law and Morals, hrsg. Karl Olivecrona, 1953. 20 Zum folgenden Lundstedt, I.e. S. 229f. 17

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

immer der Gedanke an ein ,Du sollst' liegt. Dieses ,Du sollst 4 , selbst nichts anderes als ein Befehlsausdruck, wird infolge seiner Assoziation als eine objektive Bestimmtheit der Handlung selbst aufgefaßt. Daß sich eine solche Sinnlosigkeit i m allgemeinen Bewußtsein festsetzen konnte und halten kann, beruht darauf, daß dieses ,Du sollst' in seiner Verknüpfimg mit der Handlung auf das Gefühlsleben wirkt, wodurch jede logische Reflexion über den Sachverhalt gehemmt w i r d " 2 1 . Kurz gesagt: Ausschließlich realpsychologische Untersuchung und diese wiederum nur auf Grund der Kategorien von Raum, Zeit und Kausalität, stellt ein wissenschaftliches Vorgehen dar; alles andere ist bloße Phantasie. Olivecrona kritisiert heftig den Begriff des geltenden Rechts der traditionellen Rechtslehre. Er schreibt 22 : „Jeder Versuch, mit wissenschaftlicher Grundlage zu behaupten, daß die Rechtsordnung bindende Kraft auf andere Weise habe, als daß sie faktisch einen Druck auf die Menschen ausübe, ist zum Mißerfolg verurteilt. Ein solcher Versuch kann nur zu Widersprüchen und anderen Fehlern führen. Hier verläuft deshalb die Grenzlinie zwischen Realismus und Metaphysik, zwischen wissenschaftlicher Methode und Mystizismus bei der Erklärung der Rechtsordnung. Halten wir uns an die Tatsachen, haben w i r lediglich mit der Idee einer bindenden Kraft zu tun. Sie ist eine psychologische Realität, die bedeutungsvoll genug ist. Das ist aber auch alles." An diesen Ausführungen von Olivecrona kann man klar sehen, daß nach der Auffassung der Uppsala- Schule eine Tätigkeit nur dann wissenschaftlich ist, wenn sie sich mit in Raum und Zeit Feststellbarem befaßt 23 . Das Recht kann nur in Imperativisch wirkenden, tatsächlichen Vorstellungen festgestellt werden. Auch die Rechtstheorie von Alf Ross w i l l eine „realistische", d.h. eine empirische Theorie sein. 24 Die Rechtswissenschaft ist für ihn ein bloßer Zweig der Psychologie und Soziologie. 25 Ihre Sätze über Rechtsnormen müssen Seinsurteile sein, die dem Verifikationsverfahren unterstehen; 26 sie sind keine Sollenssätze, die weder wahr noch falsch sein können. Der Satz schreibt nichts vor, sondern er schreibt etwas. Er steht grammatikalisch gesehen im Imperativ, semantisch dagegen im Indikativ. 21 21

Lundstedt, I.e. S. 230. K. Olivecrona, Om lagen ock staten, S. 19f.; H.H. Vogel, Der skandinavische Rechtsrealismus, 1972, S. 43; Walter Ott, Der Rechtspositivismus, S. 68f. 2 3 H.H. Vogel, I.e. S. 61; Walter Ott, I.e. S. 69. 24 Alf Ross, On Law and Justice, 1958, S. I X f . 25 Alf Ross, Towards a Realistic Jurisprudence, 1946, S. 78; vgl. Walter Ott, I.e. S. 70. 26 Alf Ross, Le. S. 6ff.; Walter Ott, I.e. S. 70. 27 Walter Ott, I.e. S. 70 und die dort zit. Lit. 22

§ 36. Erklärung mit Hilfe der niederen Seinsschichten

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Dann ist es freilich selbstverständlich, daß auch der Begriff der Geltung im Sinne einer objektiven Soll-Geltung von Alf Ross scharf kritisiert und verworfen wird. Solche Geltung ist nach Meinung von Alf Ross nichts objektiv Faßbares, sondern nur ein sinnloses Wort: "... validity in the sense of a category or sphere of existence co-ordinated w i t h reality is nonsense in the literal meaning of the world! " 2 8 Sein Bestreben geht dahin, den Begriff der Geltung mit Ausdrücken über empirisch nachweisbare Fakten umzudeuten. 29 Auch die Geltung des Rechts oder der Rechtsnorm ist bei ihm nichts Normatives, sondern etwas rein Tatsächliches, nämlich eine psychophysische Wirklichkeit. Daß eine Rechtsnorm „gilt", bedeutet nichts anderes, als daß sie von den Richtern als bindend empfunden und daher angewendet wird. 3 0 Als Verifikationskriterium gilt für Ross die Beobachtung des Verhaltens der Gerichte. Aus der Beobachtung dieses Verhaltens soll erschlossen werden können, ob eine bestimmte Form gültig oder ungültig ist. In der Tief e der ganzen Auffassung des Wesens des Rechts im Sinne von Alf Ross liegt der Umstand, daß er weder die Realität des geistigen Seins, noch die abgeleitete Normativität einiger Sphären der geistigen Seinsschicht, insbesondere des Rechts und der Moral, kennt. Hägerström, Lundstedt, Olivecrona und Alf Ross sehen daher die reale Welt nicht als einen stufenförmigen Aufbau von einzelnen Seinsschichten, wobei das höhere Sein trotz seiner Abhängigkeit von dem niederen Sein, und gerade deswegen, autonom ist und immer neue, höhere, spezifische und für das höhere Sein dominante Kategorien aufweist, sondern sie - in ihrer angeblich wissenschaftlichen, räumlich-, zeitlich- und kausalmonistischen Befangenheit - die ganze reale Welt in eine einzige Seinsschicht niederdrücken. Gerade hierin liegt der tragische Fehler dieser ganzen Lehre, die mit solcher Heftigkeit das ganze rechtliche Denken aller Zeiten deklassieren wollte. IV. Der Uppsala-Schule steht Theodor Geiger 31 nahe. Das Recht und die soziale Ordnimg überhaupt begreift er „als Faktizitäten, als Wirklichkeitszusammenhänge.," 32 Auch er w i l l - ähnlich wie Hägerström und Lundstedt 28

Alf Ross, Towards a Realistic Jurisprudence, S. 77. Alf Ross, On Law and Justice, S. I X ; Walter Ott, I.e. S. 70. 30 Alf Ross, I.e. S. 18; Walter Ott, I.e. S. 71. 31 Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts. Soziologische Texte Nr. 20, hrsg. v. P. Trappe, 2. Aufl., 1972; vgl. C. Eickel, Kritische Theorie und Rechtssoziologie. Ein Beispiel positivistischer Rechtssoziologie im Licht der kritischen Theorie betrachtet: Theodor Geigers „Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts", in: W. Naucke / P. Trappe (Hrsg.): Rechtssoziologie und Rechtspraxis, 1970, S. 29ff.; zum folgenden die treffende Darstellung der Geigers Auffassung von Walter Ott, I.e. S. 81-86. 32 Theodor Geiger, I.e. S. 44. 29

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- „metaphysisch-ideologisch geladene Vorstellungskomplexe wie Norm, Geltung, Pflicht, Rechtsanspruch usw., auf die durch sie verfälschten Tatsachenzusammenhänge hin analysieren und diese in Termini der wahrnehmbaren Wirklichkeit auffassen." 33 Geiger teilt mit der Uppsala-Schule den „theoretischen Wertnihilismus". Es klingt zumindest erschütternd, wenn man liest, daß „Gut und Schlecht" völlig imaginäre Begriffe sind, jeder empirischen Fassung ihres vermeintlichen Inhaltes unzugänglich und deshalb, für ein rationales Weltbild wenigstens, nicht-existent." 3 4 V. Aber schon die Analytical Jurisprudence John Austins (1790 - 1859) 35 versuchte die Pflicht nicht normativ, sondern als Tatsache zu begreifen. Eine Pflicht ist für Austin nichts anderes als die Kehrseite eines Befehls. Der Befehl ist der Angelpunkt der ganzen Auffassung von John Austin und auch ein Schlüssel zum Verständnis der Wissenschaften vom Recht und von der Moral. 3 6 Unter dem Recht („law") im weiteren Sinn versteht Austin die von einem Mächtigeren einem ihm Untergeordneten gegebenen Befehle, die mit Sanktionen ausgestattet sind. Das positive Recht ist ein Inbegriff der von der höchsten politischen Instanz (sovereign) einer unabhängigen politischen Gesellschaft den Untertanen gesetzten Verhaltensregeln: "Of the laws or rules set by man to man, some are established by political superiors, sovereign and subject: by persons exercising supreme and subordinate government, in independent nations, or independent political societies." 37 Ein Befehl ist Ausdruck eines Wunsches des Befehlenden. Beim Rechtsbefehl tritt noch ein weiteres Merkmal hinzu, daß die sich äußernde Person bei Ungehorsam des Adressaten dem Wunsch durch Hinzufügung eines Übels Nachdruck zu verschaffen vermag. 38 Wenn jemand dem Übel von Seiten einer anderen Person unterworfen ist, falls er dem Wunsch dieser Person nicht entspricht, bedeutet dies, daß er verpflichtet ist, dem Befehl zu gehorchen 39 . John Austin identifiziert daher jeden mit einer Zwangsdrohung ver33

Theodor Geiger, I.e. S. 40; Walter Ott, I.e. S. 81. Theodor Geiger, I.e. S. 299; Walter Ott, I.e. S. 81f.; vgl. auch R. Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens, 1904 (und dazu Geiger, I.e. S. 92ff.). 35 John Austin, The Province of Jurisprudence Determined, 1837, ed. by. H.L.A. Hart, 1954; derselbe, Lectures on Jurisprudence or the Philosophy of Positive Law I and II, ed. R. Campbell, 3. Aufl., 1869; vgl. W. Löwenhaupt, Politischer Utilitarismus und bürgerliches Rechtsdenken. John Austin (1790 - 1859) und die „Philosophie des positiven Rechts", Schriften zur Rechtstheorie Nr. 28, 1972; Walter Ott, I.e. S. 25f., 34 ff., 195 ff. 36 John Austin, Lectures on Jurisprudence or the Philosophy of Positive Law I, S. 90. 37 John Austin, I.e. I S. 88f. 38 John Austin, I.e. I S. 91. 39 John Austin, I.e. I S. 91. 34

§36. Erklärung mit Hilfe der niederen Seinsschichten

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sehenen Befehl mit der Pflicht, oder - besser gesagt - die Pflicht ist nichts anderes als die Möglichkeit eines Übels im Falle des Ungehorsams gegenüber dem Befehl. 40 Austin faßt also - wie Walter Ott richtig betont 4 1 - den Pflichtbegriff rein empirisch, und überhaupt nicht normativ auf. Weil das positive Recht in Befehlen besteht, ist dementsprechend das Wesen des Rechts für ihn, ebenfalls eine Tatsache, keineswegs ein Sollen. Je größer das mit dem Befehl verbundene Übel ist, desto größer sind die Kraft der Verpflichtung und die Chance, daß der Befehl befolgt wird. 4 2 Die Rechtsnormen sind daher im Sinne der Auffassimg von John Austin nichts anderes als sanktionierte Befehle oder Imperative. 43 Man sieht daher, daß die ganze analytische Hechtstheorie von John Austin, auf welchen von philosophischer Seite den größten Einfluß der Utilitarismus von J. Bentham hatte, das Wesen des Rechts verflachte und nur in der Ebene der bloßen Tatsachen sah. Für das Sollen hatte Austin kein Verständnis.

VI. Nicht viel besser steht es mit der amerikanischen Realistischen Schule. Für sie ist das Recht kein Inbegriff von Rechtsregeln, kein Sollen, sondern eine Wirklichkeit im Sinne bloßer Tatsächlichkeit. „Es ist das w i r k liche Verhalten bestimmter Menschen, besonders das der Justizbeamten, ganz speziell das der Richter, die das Recht durch ihre Entscheidungen schaffen, die eben darum das Recht ausmachen." 44 So gebraucht schon Bingham 45 den Ausdruck „Recht" im Sinne von „Folgen äußerer Tatsachen und ihrer bestimmten gesetzlichen Wirkungen mittels der konkreten Handlung des staatlichen Apparates." Nach K. N. Llewellyn 46 ist das Recht das, was die Beamten in Rechtsstreiten tun ("What these officials do about disputes is, to my mind, the law itself"). Trotzdem aber sah er, daß das Wort „Regel" auch einen normativen Sinn hat („prescriptive rules" oder „ought-rules"). 47 40 H. Eckmann, Rechtspositivismus und sprachanalytische Philosophie. Der Begriff des Rechts in der Rechtstheorie H.L.A. Harts, Schriften zur Rechtstheorie Nr. 15, 1969, S. 30; Walter Ott, I.e. S. 39. 41 Walter Ott, I.e. S. 39, Anm. 39. 42 John Austin, I.e. I S. 92f. 43 St. Jorgensen, Recht und Gesellschaft, 1971, S. 11. 44 Vgl. H. Kantorowicz, Rationalistische Bemerkung über Realismus, in: Rechtswissenschaft und Soziologie, Ausgewählte Schriften zur Wissenschaftslehre, 1962, S. 105; Walter Ott, I.e. S. 86ff. 45 Bingham, What is law, Mich. L.R. 11,1912,109. Ν 29 (zit. nach Kantorowicz und Ott). 46 K . L . Llewellyn, The Bramble Bush, 2. Aufl., 1951, S. 8. 47 K.L. Llewellyn, A Realistic Jurisprudence - The Next Step, Col. L.R. 30, 1930, S. 439; M. Rehbinder, Einführung in die Rechtssoziologie, S. 55; Walter Ott, I.e. S. 88, Anm. 337.

12 Kubeä

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J. Frank ist der Meinung, 48 daß das Recht aus Entscheidungen, nicht aus Regeln besteht: "The law ... consists of decisions, not of rules. If so, whenever a judge decides a case he is making law." Der berühmte Justice Ο. W. Holmes versteht 49 - wenn auch nur „brachylogisch" - unter Recht die Prophezeiung dessen, was die Gerichte tatsächlich tun werden: "If you want to know the law and nothing else, you must look at it as a bad man ... we shall find that he does not care two straws for the axioms or deductions, but that he does want to know what the Massachusetts or English Courts are likely to do in fact ... The prophecies of what courts will do in fact, and nothing more pretentious, are what I mean by the law!"

VII. Aus ähnlichen Gründen müssen w i r auch den Versuch von Fritz Sander 50 abweisen, der in einer heftigen Polemik mit seinem Lehrer Hans Kelsen die Rechtsnormen aus der Welt des Sollens in die Welt des Seins überführen wollte, wodurch die Rechtslehre „eine Theorie der Rechtserfahrung" sein sollte. Die „Norm" und das „Sollen" bezeichnet er als eine Fiktion der Praxis, als eine Illusion, die gewisses Handeln unterstützt. 51 Das Recht ist für ihn eine Summe von tatsachenfeststellenden Existenzialurteilen; er stellt fest, daß „alle diese Urteile schlichte Tatsachenfeststellungen sind, Aussagen über individuelles (raumzeitliches) Dasein," und daß „nicht das kleinste Element einer Norm, eines Sollens, eines Wertes ... i n diesen Urteilen des Rechts aufzufinden" ist. 5 2 Sander glaubt, alle Kennzeichen der Existenzialurteile in den Urteilen des Rechts auffinden zu können. „Die Urteile des Rechts (die Rechtssätze) sind auf die Beschreibung der Wirklichkeit gerichtet, als eine Angabe, wie die rechtserheblichen Tatsachen sich verhalten. 5 3 " Er identifiziert also - wie Julius Moor mit Recht feststellt 54 - die Funktion des Rechts sozusagen vollständig mit der Funktion der tatsachenfeststellenden Erkenntnis. - Mit Recht bemerkt dazu Alfred Verdross 55 , daß Sander hier überall die Worte von Immanuel Kant 56 ignoriert: „Eine bloß

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J. Frank, Law and the Modern Mind, 6. Aufl., 1949, S. 128. O.W. Holmes, The Path of the Law, in: Collected Legal Papers, 1921, S. 171ff. 50 Fritz Sander, Der Begriff der Rechtserfahrung, Logos XI, S. 280f.; derselbe, Archiv f. öff. Recht, N.F.X. 1926, S. 193f.; derselbe, Kelsens Rechtstheorie, Kampfschrift wider die normative Jurisprudenz, 1923, S. 108ff. si Fritz Sander, Archiv f. öff. Recht, N.F.X. 1926, S. 193. 52 Fritz Sander, Kampfschrift, S. 108. " Fritz Sander, I.e. S. 132. 54 Julius Moór, Das Logische im Recht, Revue internationale de la Theorie du droit Π, 1927/1928, S. 187. 55 Alfred Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, 1926, S. 2. 56 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797,1. Kants-Werke, Ausg. E, Cassirer VII, S. 31. 49

§36. Erklärung mit Hilfe der niederen Seinsschichten

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empirische Rechtslehre ist (wie der hölzerne Kopf in Phädros Fabel) ein Kopf, der schön sein mag, nur schade, daß er kein Gehirn hat." Die Unklarheit und Unhaltbarkeit der ganzen Konzeption von Fritz Sander gipfelt in seinem umfangreichen Werk „Allgemeine Gesellschaftslehre 57 ." Als „Sollen" bezeichnet er hier 5 8 „jede durch besonderen Anspruch begründete Lage, welche die Gesamtheit jener Allgemeinen enthält, die als grundlegende Bedingungen dafür in Betracht kommen, daß ein dem beanspruchten Verhalten entgegengesetztes Verhalten des Anspruchsadressaten von besonderer Seele erfahren und diese Erfahrung die wirkende Bedingung für eine ungünstige Verschiebung des den Anspruchsadressaten betreffenden Interessengesamtzustandes abgeben würden." Auch dem Worte „Pflicht" ist „sein wahrer Sinn zurückzugeben, nämlich jener Sinn, welchen auch das Wort,Sollen' hat, das eine durch Anspruch begründete besondere Lage bezeichnet. Die Worte ,Pflicht' und ,Sollen' haben also einen und denselben Sinn, es gibt aber weder eine »sittliche Pflicht', noch ein ,sittliches Sollen', da jener, der sich ,aus Pflicht', ,wegen eines Sollens' i n besonderer Weise verhält, sich niemals ,sittlich' verhält, vielmehr die Absicht hat, durch sein Verhalten eine Verschlechterung des ihn selbst betreffenden Interessengesamtzustandes zu verhindern. 59 " Diese Auszüge genügen, um die vollkommene Verworrenheit der ganzen Konstruktion von Fritz Sander zu demonstrieren. In diesem Rahmen fallen vollkommen auch Sanders Ausführungen über den ,Staat' 60 und das ,Recht'. 61 VIII. Aber auch die psychologische Richtung in der Rechtsphilosophie begeht eine ähnliche Vergewaltigung des Wesens des Rechts, wenn sie versucht, mit Hilfe von Kategorien der niederen Seinsschicht, die Phänomene des höchsten (sc. geistigen) Seins zu erklären. Hier findet man den Fehler, daß die Darsteller dieser „rechtspsychologischen" Richtung das Recht in die seelische Seinsschicht einreihen und es mit der Kategorie der Kausalität, die in der niedersten Seinsschicht dominant ist, begreifen wollen. So meint z.B. Henri Rolin, 62 daß eine nichtscholastische Wissenschaft ausschließlich studiert, was »existence phénoménale" hat. Diese „existence

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Fritz Sander, Allgemeine Gesellschaftslehre, Jena 1930. Fritz Sander, I.e. S. 351 f. 59 Fritz Sander, I.e. S. 379. 60 Fritz Sander, I.e. S. 511 f. 61 Fritz Sander, I.e. S. 542, 558. 62 Henri Rolin, Prolégomènes à la science du droit, Esquisse d'une sociologie juridique, 1911, S. 4. 58

12'

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

phénoménale" begreift er aber in sehr engem Sinne: „il'n'y a que des phénomènes psychologiques, vitaux, psychico-chimiques, méchaniques." Vor allem gehört aber hierher der große polnische Denker Leo Petrazycki, 63 der von der Annahme ausgeht, daß das Recht entweder ein materielles Ding ist oder eine psychische Tatsache. Da nun das Recht nicht mit unseren Sinneswerkzeugen wahrgenommen werden kann, so schließt er, daß es unmöglich ist, das Recht im Raum, in der Welt der Dinge zu suchen; es ist also ausgeschlossen, dort die Elemente zu suchen. Das rechtliche Phänomen existiert nicht, oder es ist ein Phänomen des Bewußtseins 64 . Wieder versucht er aber mit Hilfe von Kategorien der niederen Schicht das Wesen des Rechts, welches überwiegend in die höchste, geistige Seinsschicht gehört, zu erfassen. Einem ähnlichen Fehler begegnet man auch bei Arthur Baumgarten 65, wenn er jedes Sollen realpsychologisch begreift und die normative Wissenschaft auf eine kausale Wissenschaft reduziert. Schließlich aber blieb er, wie Heinrich gezeigt hatte 6 6 , dieser Auffassung nicht treu und mußte doch zur Normativität irgendwie rekurieren. Ebenfalls hierher gehören - wenigstens grundsätzlich - alle Theorien, die das Wesen des Rechts in dem „Willen" sehen wollen und das Recht vom „Willen" abhängig machen. Dieses Abgleiten des Rechts i n einen unangemessenen Kausalismus und Naturalismus beginnt - wie Kurt Reisdorf richtig feststellt 67 - mit der privatrechtlichen Willenstheorie und endet in schrankenloser Staats- und Gesetzwillkür. Das Wort „Wille" oder „Wollen", das zum Eckstein des Rechtssystems erwählt wird, ist vieldeutig und unsicher, so daß es unmöglich ist, auf solcher schwankenden Grundlage etwas Festes aufzubauen. Mit vollem Recht fragt Kurt Reisdorp 8, was ist - wenn man von der einzigen, für das Recht ungefährlichen Bedeutung „Wille" als der, die vom Rechte selbst gesetzt ist, indem es sagt, welche äußeren Verhalten als Wille

63 Leo Petrazycki, Die Fruchtverteilung beim Wechsel des Nutzungsberechtigten, 1892; derselbe, Die Lehre vom Einkommen, 2 Bd., 1893 u. 1895; derselbe, Über Motive des Handelns, 1907; derselbe, Einführung in das Studium des Rechts und der Moral, Prinzipien der emotionalen Psychologie (polnisch), 1930. 64 Zit. nach einem Referat von Alex Grauber (siehe auch seine „Une théorie psychologique du Droit, Revue trimestrielle de Droit civil, lO.e année, 1911; vgl. Alf Ross, Theorie der Rechtsquellen, 1929, S. 227. 65 Arthur Baumgarten, Die Wissenschaft von Recht und ihre Methode, Bd. III., S. 538f. 66 Henrich, Das Sollen als Grundlage der Rechtswissenschaft, S. 131; siehe auch Arthur Baumgarten, Grundzüge der juristischen Methodologie, 1939, S. 9 ff., 74ff. 67 Kurt Reisdorf, Die Grundlegung der Rechtswissenschaft, S. 75. es Kurt Reisdorf, I.e. S. 75f.

§36. Erklärung mit Hilf e der niederen Seinsschichten

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anzusehen seien, absieht - das nun für ein fragwürdiger Wille, der nicht vom Recht geschaffen sei, sondern der angeblich selber Recht schaffe? Er stellt richtig fest, daß der Wille zuvorderst naturhafter, psychologischer Wille, Energie, Gewalt ist, die innere und äußere Veränderungen verursacht. Aber - sehr oft - sieht man nicht nur das Naturhafte, blind Kausale. Man mischt in den Willen auch ein Minimum vom Logischen und Ethischen, ja auch vom Soziologischen und vom Juristischen. Man spricht dann vom Gemein-, Gesamt-, Gesellschafts-, Genossenschaftswillen. Richtig ist die Feststellung, daß man im Fetisch „Wille" je nach Bedürfnis das Widrigste zusammenbrauen kann. In diesem Zusammenhang sind auch diejenigen Lehren zu erwähnen, die in der Natur des Menschen das Wesen, die Quelle und auch das Maß des Rechts erblicken. So gewissermaßen der Homo-mensura-Satz des Begründers der sophistischen Philosophie Protagoras von Abdera (rund 485 411 v.u.Z.), daß die Natur des Menschen die Grundlage und das Maß des Rechtes ist, obzwar hier das ethische Apriori eine nicht untergeordnete Rolle spielt 69 . Thrasymachos stellt fest, daß jede Regierung solche Gesetze schafft, die der herrschenden Gruppe nützen; Kallikles sieht wieder die geschichtliche Wirklichkeit, daß die Machthaber von der These vom naturgegebenen Vorrecht des Stärkeren ausgehen und in solcher Weise das Volk vor den Wagen seiner Klasseninteressen einspannen. Hier kann man auch Baruch Spinoza (1632 - 1677) nennen und besonders Friedrich Nietzsche (1844 - 1900), der alle Wertschätzungen und damit die ganze Ethik und das Recht letztlich auf den Willen zur Macht reduziert 70 . Es w i r d etwas paradox, ja unglaublich wirken, daß in die Gruppe derer, die im „Willen" oder „Wollen" das wahrscheinliche Wesen des Rechts sehen, jetzt auch Hans Kelsen des Jahres 1965 gehört. Kelsen meint, daß Normen ein Sollen statuieren, und „da Sollen ein Korrelat vom Wollen ist, sind sie der Sinn von Willensakten und als solche weder wahr noch unwahr. 7 1 Kelsen steht hier unter dem Einfluß vom Christian Sigwart, den er auch zitiert und welcher ausdrücklich feststellt: „Sollen ist das Korrelat vom Wollen." 7 2

69

Dazu und zum folgenden Johann Sauter , I.e. S. 199f.; Reinhold Zippelius, Das Wesen des Rechts, 2. Aufl., 1969, S. 78f. Windelband - Heimsoeth, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, 1935, S. 62. 70 Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, hrsg. Stenzel, I I Nr. 164, 245, I I I Nr. 200, IV Nr. 297; Reinhold Zippelius, I.e. S. 78f. 71 Hans Kelsen, Recht und Logik, Forum, Österr. Monatsblätter für kulturelle Freiheit XII, 1965, S. 421 ff. 72 Christian Siqwart, Logik I, 3. Aufl., 1904, S. 18.

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

Kelsen setzt fort 7 3 , daß die Norm der Sinn eines auf das Verhalten anderer gerichteten Willensaktes ist; ihr Sinn ist ein Sollen; und dieses Sollen ist ein Korrelat des Wollens. Und jetzt kommt bei Kelsen der tragische Satz: „Kein Sollen, das eine Norm ist, ohne ein Wollen, dessen Sinn dieses Sollen ist. Keine Norm ohne einen normsetzenden Willen, d. h. keine Norm ohne eine normsetzende Autorität. Eine Norm gilt nur, wenn sie durch einen Willensakt gesetzt ist, wenn sie der Sinn eines Willensaktes ist. Darin liegt ihre Positivität. Und nur positive Normen, Normen die durch menschliche Willensakte, durch Gesetzgebung oder Gewohnheit, oder Staatsvertrag gesetzt sind, kommen für eine Ethik als Wissenschaft und für eine Rechtswissenschaft in Betracht. " Die ganze Argumentation Kelsens ist ein großes, von der Position des Begründers oder Mitbegründers der Schule der Reinen Rechtslehre unglaubliches MißVerständnis. Kelsen meint 7 4 , daß keine Norm ohne einen Willensakt möglich ist. Schon das ist unrichtig. Aber weiter: Er meint, daß die individuelle Norm „der Dieb Schulze soll ins Gefängnis gesetzt werden", nur der Sinn eines Willensaktes sein kann, und ein solcher Willensakt nicht im Wege einer logischen Schlußfolgerung, das ist, durch eine Den/coperation, erzielt werden kann. Auch dies ist unrichtig! Schon das Rekurieren auf den Willensakt ist unbegründet. Hier handelt es sich nicht um die Frage, ob der Richter tatsächlich den Dieb Schulze verurteilen wird, sondern ob es ihn verurteilen soll. Kelsen übersieht ganz und gar, daß auch Urteile mit der „Soll"-Kopula existieren. Mit dieser Problematik hat die weitere Behauptung Kelsens nichts gemeinsam, daß die individuelle Norm gilt nur, wenn sie durch den Willensakt des zuständigen Gerichtes gesetzt ist. Es gibt noch einen weiteren Grundfehler in der Kelsenschen Argumentation. Es ist unrichtig zu sagen, daß man „ i n der Frage nach der Anwendbarkeit von logischen Prinzipien auf positive Normen der Moral oder des Rechts ... von dem Willensa/ci, dessen Sinn sie sind, nicht absehen kann." IX. Wohin - was das Wesen des Rechts betrifft - die einzelnen Theorien des psychologischen Positivismus gehören, ist nicht leicht und mit voller Sicherheit zu beantworten. Wie Walter Ott treffend dargestellt hat 7 5 , stimmen die verschiedenen Varianten des psychologischen Positivismus darin überein, daß die Positivität des Rechts in bestimmten Gefühls- und Bewußtseinsinhalten erblickt wird. 73 74 75

Hans KeZsen, I.e. S. 422. Hans Kelsen, I.e. S. 496. Walter Ott, Der Rechtspositivismus, S. 56 ff.

§36. Erklärung mit Hilfe der niederen Seinsschichten

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So ging schon der vielleicht erste Vertreter der individuellen Anerkennungstheorie Carl Theodor Welcker 76 zwar von individuell-empirischen Voraussetzungen aus, trotzdem aber arbeitet er mit überindividuellen, materialen Wertgehalten, um dadurch zu einem objektiven, mit dem Sittengesetz verbundenen Rechtsgesetz zu gelangen 77 . Nach Ernst Rudolf Bierling 78, der alle Lehren ablehnt, welche die verpflichtende Kraft des Rechts auf ein vor dem Recht liegendes moralisches Prinzip oder auf irgendwelche sonstigen überpositiven Prinzipien gründen lassen 79 , genügen nicht die bloße Macht und der staatliche Zwang, um die verpflichtende kraft des Gesetzes zu begründen 80 . Recht ist nach Bierling „ i m allgemeinen alles, was Menschen, die in irgendwelcher Gemeinschaft miteinander leben, als Norm und Regel dieses Zusammenlebens wechselseitig anerkennen". 81 Das Recht muß von allen, die zum bestimmten Rechtskreis gehören, anerkannt werden, nicht nur von einer Mehrheit. Die verpflichtende Kraft der Rechtsnormen gegenüber einem Individuum erklärt sich daher daraus, daß dieses selbst ihnen zugestimmt hat 8 2 . Ein Vertreter der generellen Anerkennungstheorie Adolf Merkel 83 geht von einer Doppelnatur des Rechts aus 84 . Auf der einen Seite ist die vom Recht ausgehende Nötigung im allgemeinen ein Müssen d.h. „eine sinnliche Notwendigkeit zu einem entsprechenden Verhalten 85 ." In diesem Sinne besteht das Recht in materieller Macht 8 6 , d.h. das Recht hält physische Machtmittel bereit, durch welche die Erfüllung der Gebote, soweit dies möglich ist, erzwungen werden soll 8 7 . Andererseits betont Merkel, daß dem Recht auch eine moralische Dimension eigen ist, indem diejenigen, an welche die Gebote sich richten, sich moralisch genötigt sehen, ihnen zu gehorchen 88 . Das Recht w i r d der Unterstützung seitens des Pflichtgefühls der 76 Carl Theodor Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813; H. L. Schreiber, Der Begriff der Rechtspflicht. Quellenstudien zu seiner Geschichte, 1966, S. 85ff.; Walter Ott, I.e. S. 57f. 77 H.L. Schreiber, I.e. S. 90; Walter Ott, I.e. S. 58. 78 Ernst Rudolf Bierling, K r i t i k der juristischen Grundbegriffe, I, II, 1877 - 1883; derselbe, Juristische Prinzipienlehre I - V, 1894,1898, 1905,1911,1917. 79 Ernst Rudolf Bierling, K r i t i k der juristischen Grundbegriffe, I S. 19ff.; H.L. Schreiber, I.e. S. 91 f.; Walter Ott, I.e. S. 58. 80 H.L. Schreiber, I.e. S. 92; Walter Ott, I.e. S. 58. 81 Ernst Rudolf Bierling, Juristische Prinzipienlehre, I S. 19. 82 Ernst Rudolf Bierling, K r i t i k der juristischen Grundbegriffe, I S. 79. 83 Adolf Merkel, Elemente der allgemeinen Rechtslehre, in: Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiet der allgemeinen Rechtslehre und des Straf rechts, 1899, S. 577ff.; derselbe, Juristische Enzyklopädie, 5. Aufl., 1913. 84 Adolf Merkel, Juristische Enzyklopädie, § 46, S. 39. 85 Adolf Merkel, I.e. § 46, S. 39; Walter Ott, I.e. S. 63. 86 Adolf Merkel, Elemente der allgemeinen Rechtslehre, S. 588; Walter Ott, I.e. S. 63. 87 Adolf Merkel, Juristische Enzyklopädie, § 50, S. 42. 88 Adolf Merkel, I.e. § 46, S. 39.

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

Normadressaten teilhaftig. 89 Das Recht muß im Einklang mit den „herrschenden Überzeugungen" stehen. Dabei ist die Billigung durch die Rechtsunterworfenen nur im Bezug auf den obersten Imperativ „gehorche meinen Vorschriften", also in bezug auf die Rechtsordnung als Ganzes erforderlich 9 ^ X. Das „schwer zu erfassende Wesen des Rechtes" sucht mit besonderer Schärfe auch Georg Jellinek 91. Jellinek stellt fest, daß man die Natur des Rechts „als einer vom Menschen unabhängigen, in dem objektiven Wesen des Seienden gegründeten Macht" erforschen kann. 9 2 Dies sei aber eine metaphysische Spekulation und Georg Jellinek w i l l keineswegs den „transzendenten Wert menschlicher Institutionen" erkennen 93 . Jellinek faßt das Recht als „subjektive, d.h. innermenschliche Erscheinung" auf. Nach dieser psychologischen Methode ist das Recht „ein Teil der menschlichen Vorstellungen, es existiert in unseren Köpfen, und die nähere Bestimmung des Rechtes hat dahin zu gehen, welcher Teil unseres Bewußtseinsinhaltes als Recht zu bezeichnen ist." 9 4 Die Rechtsnormen - im Unterschied zu den Normen der Religion, der Sittlichkeit und der Sitte - sind Normen, die das äußere Verhalten der Menschen zueinander regeln, die von einer anerkannten äußeren Autorität ausgehen und deren Verbindlichkeit durch äußere Mächte garantiert ist. 9 5 Das Recht beruht auf einer psychologischen Tatsache, auf der Überzeugung von seiner Gültigkeit ,96 die empirisch gegeben ist. Die Umwandlung der zunächst faktischen Macht in rechtliche erfolgt durch einen rein innerlichen, in den Köpfen der Menschen sich vollziehenden Prozeß, durch die Vorstellung, „daß dieses Faktische normativer Art sei, daß es so sein solle, wie es ist. 9 7 " Es handelt sich um die berühmte „normative Kraft des Faktischen", die allerdings nur auf der Grundlage der abgeleiteten Normativität einiger Sphären des geistigen Seins zu begreifen möglich ist. Die maßgebende Überzeugung ist - nach Jellinek - die des „Durchschnitts eines Volkes." 9 8

89

S. 64. 90

91 92 93 94 95 96 97 98

Adolf Merkel, Elemente der allgemeinen Rechtslehre, S. 590; Walter Ott, I.e. Adolf Merkel, Juristische Enzyklopädie, § 80, S. 55; Walter Ott, I.e. S. 64f. Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 1914. Georg Jellinek, I.e. S. 332, zum folgenden Walter Ott, S. 65f. Georg Jellinek, I.e. S. 332. Georg Jellinek, I.e. S. 332. Georg Jellinek, I.e. S. 333. Georg Jellinek, I.e. S. 333f. Georg Jellinek, I.e. S. 342. Georg Jellinek, I.e. S. 334.

§36. Erklärung mit Hilfe der niederen Seinsschichten

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Aber auch die Theorien von Ernst BelingHans Nawiasky 100 und E. Riesler 101 gehören hierher. Diese Theorien gehen von der Voraussetzung aus, daß man nicht auf die Anerkennung durch den Einzelnen oder durch die Mehrheit der Rechtsgenossen abstellen soll, sondern auf die Vorstellungen der führenden, tonangebenden Schicht innerhalb eines Verbandes. Nach E. Riesler 102 ist maßgebend die Anerkennung durch „die zu nicht ganz ephemerer tatsächlicher Herrschaft gelangte Macht, der die Allgemeinheit... unterworfen ist." Innerhalb der räumlich abgegrenzten Gemeinschaft, die man Staat nennt, sei immer nur eine kleine Zahl von Menschen wirklich maßgebend 1 0 3 ; nur in den Wertungen dieser Schicht wurzle das Recht 104 . Diese Wertungen bilden den „realen Urgrund alles Rechts. 105 " XI. Schon in der ersten Periode Rudolf von Jherings (1818 - 1892) 106 Rechtsdenken werden diejenige Züge sichtbar, die dann in der zweiten bestimmend waren: die Abkehr von den ethischen Kategorien der idealistischen Philosophie und die Orientierung von der Denkweise der zeitgenössischen Naturwissenschaft 107 . „Wir gehen von der heutzutage herrschenden Auffassung des Rechts als eines objektiven Organismus der menschlichen Freiheit aus. 1 0 8 " Mit dem Bild des Organismus legt er dem Recht die Eigenschaften eines Naturprodukts. Er vergleicht auch das Recht mit einer „Maschine" 109. In seinem Werk „Der Zweck im Recht" stellt Jhering fest 1 1 0 : „Der Grundgedanke des gegenwärtigen Werkes besteht darin, daß der Zweck der Schöpfer des gesamten Rechts ist, daß es keinen Rechtssatz gibt, der nicht 99 Ernst Behling, Vom Positivismus zum Naturrecht und zurück, Festgabe für Philipp Heck, Max Rümelin und Arthur Benno Schmidt, 1931; zum folgenden Walter Ott, I.e. S. 66f. 100 Hans Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl., 1948. 101 E. Riesler, Der todgesagte Positivismus, in: W. Maihof er (Hrsg.): Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 1962, Neudruck 1966, S. 239ff. 102 E. Riesler, I.e. S. 242. 103 Hans Nawiasky, I.e. S. 18. 104 Ernst Beling, I.e. S. 11. 105 Ernst Beling, I.e. S. 15. 106 Rudolf von Ihering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 3. Bd., 1852ff., 6. Aufl., 1907; derselbe, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, 1885; derselbe, Der Kampf ums Recht, 1872, 19. Aufl., 1919, derselbe, Der Zweck im Recht, 2 Bde., 1877ff., 4. Aufl., 1904. 107 Zum folgenden Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, I.e. S. 3. Aufl., S. 22ff.; Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1960, 3. Aufl., 1975, S. 23 (zit. nach der 1. Aufl.); Erik Wolf, Große Rechtsdenker, S. 645f.; Reinhold Zippelius, Das Wesen des Rechts, 2. Aufl., 1969, S. 60f. 108 Rudolf von Jhering, Geist des römischen Rechts I, S. 12. 109 Rudolf von Jhering, I.e. I, S. 40f. 110 Rudolf von Jhering, Der Zweck im Recht I, S. VIII.

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

einem Zweck, das ist einem praktischen Motiv seinen Ursprung verdankt." Bald w i r d freilich der Zweck als bloße Tatsache, bald als psychische oder sozialpsychische Ursache, bald als innerer Sinn des Rechts aufgefaßt. 111 Jedenfalls hat Jhering das Schwergewicht vom Gesetzgeber als Person auf die Gesellschaft als die ihn bestimmende Größe, gleichsam als den wahren Akteur verlegt. 112 Das Recht ist ihm die staatliche Zwangsnorm im Dienste eines gesellschaftlichen Zwecks 113 . Was eine bestimmte menschliche Gesellschaft als für ihr Wohlergehen nützlich und lebenswichtig ansieht, das bestimmt allein ihr eigenes geschichtlich wechselndes „Glücksverlangen". 1 1 4 Damit hat Jhering die Maßstäbe des Rechts völlig relativiert. Er selbst bezeichnete seine Lehre als den „gesellschaftlichen Utilitarismus". 1 1 5 Die rechtlichen Gebote entstehen durch Interessenverlangen. Jherings Werk „Der Zweck im Recht", in der die pragmatische Jurisprudenz entwickelt wurde, bedeutet einen Vorläufer der bekannten Interessenjurisprudenz, deren Hauptvertreter Philipp Heck war 1 1 6 . Die Interessenjurisprudenz betrachtet das Recht als Interessenschutz, d.h. die Gesetzesgebote, die grundsätzlich das Recht ausmachen, sind „nicht nur darauf gerichtet, Interessen abzugrenzen, sondern sie sind selbst Interessenprodukte, wie alle anderen Aktivgebote." 1 1 7 Die Gesetze sind „die Resultanten der in jeder Rechtsgemeinschaft einander gegenübertretenden und um Anerkennung ringenden Interessen materieller, nationaler, religiöser und ethischer Richtung." Hecks methodologische Grundthese ist es, die „realen Interessen, welche das Gesetz verursacht, historisch zu erkennen und die erkannten Interessen in der Fallentscheidung zu berücksichtigen." 118 Das Schwergewicht wird von der Entscheidung des Gesetzgebers und von seinem psychologisch verstandenen Willen auf seine Motive und weiterhin auf die ihn motivierenden „Kausalfaktoren" verlegt 119 . Die Auffassung, daß für die Rechtsnormen jeweils bestimmte Interessen „kausal" seien, indem sie bei dem Gesetzgeber „Sollvorstellungen" zur Folge hätten, die sich in Gebote umsetzen, bezeichnet Heck als „genetische Interessentheorie." 120 Der Gesetzgeber w i l l „die miteinander ringenden i " Erik Wolf, I.e. S. 645f. 112 Rudolf von Jhering, I.e. I, S. 320; Karl Larenz, I.e. S. 46. 113 Rudolf von Jhering, I.e. I, S. 320. 114 Rudolf von Jhering, I.e. II, S. 204ff.; Karl Larenz, I.e. S. 47. 115 Rudolf von Jhering, I.e. II, 2. Aufl., S. 215. 116 Philipp Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, Arch. f. ziv. Praxis 112, S. 1; derselbe, Das Problem der Rechtsgewinnung, 1912; derselbe, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932. 117 Philipp Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, I.e. S. 17. 118 Philipp Heck, 1. e. S. 60. 119 Karl Larenz, I.e. S. 50. 120 Philipp Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, S. 73; Karl Larenz, I.e. S. 50.

§36. Erklärung mit Hilfe der niederen Seinsschichten

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Lebensinteressen gegeneinander abgrenzen." 121 Er falle daher über sie ein Werturteil, das seinerseits „auf die Vorstellung einer zu erstrebenden Ordnung, also auf ein soziales Ideal" zurückgehe. Die Entscheidung wirkt dann ihrerseits auf die beteiligten Interessen ein, sie hat eine „Interessenwirkung". 1 2 2 Mit der Einführung des Wertbegriffes ist freilich - wie Karl Larenz richtig hervorhebt 123 - die rein kausale Betrachtung des Rechts gewissermaßen verlassen. In diesem Zusammenhang kann man auch Rudolf Müller-Erzbach 124 anführen, der das Thema einer genetischen Interessenjurisprudenz zu einem umfassenden kausalen Rechtsdenken erweitert hat, das die Vielfalt der Faktoren aufdecken sollte, die im Leben mannigfach aufeinander einwirken und das Recht hervorgehen lassen. Die wichtigsten dieser Faktoren sind Interessen und solche Machtpositionen, die in der Lage sind, jene Interessen im Recht zur Geltung zu bringen. 125 Reinhold Zippelius kommt in seiner kritischen Stellungnahme zur Interessenjurisprudenz zum richtigen Schluß, 126 daß die Interessenjurisprudenz keine hinreichende Theorie über das Richtmaß liefert, nach dem hier die Interessen gegeneinander abzuwägen seien. Das Recht bildet sich in der Dialektik zwischen den natürlichen und soziologischen Vorgegebenheiten und den je für richtig erachteten Prinzipien ihrer Ordnung. Eine abstrahierende Betrachtung, die eines dieser Momente für das allein bewegende hält, führt, wie Zippelius richtig hervorhebt, notwendigerweise in Einseitigkeiten. Die Realien des Rechts weisen über sich hinaus auf die Problematik der Idee, bzw. Normidee des Rechts. 127 Hier kann man vielleicht auch Felix Somló 128 einreihen. Für ihn sind zwar die absoluten Normen keine Willensnormen, wohl aber die empirischen Normen, wohin auch die Rechtsnormen gehören. Der Begriff der Rechtsnorm als einer empirischen Norm setzt also den Begriff des Willens voraus. 129 Daraus folgt für ihn, daß die behauptete vollkommene Gegensätzlichkeit von Sein und Sollen, die Behauptung also, daß beide ursprüngliche Kategorien seien, die nicht auseinander abgeleitet werden könnten, wie es z.B. 121 122 123 124 125

S. 62. 126

127 128

1 29

Philipp Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, I.e. S. 41. Philipp Heck, I.e. S. 41; Karl Larenz, I.e. S. 51f. Karl Larenz, I.e. S. 52. Rudolf Müller-Erzbach, Die Rechtswissenschaft im Umbau, 1950. Dazu und zum folgenden Reinhold Zippelius, Das Wesen des Rechts, 2. Aufl., Reinhold Zippelius, I.e. S. 66f. Reinhold Zippelius, I.e. S. 67. Felix Somló, Juristische Grundlehre, 1917. Felix Somló, 1. e. S. 62.

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

Kitz, 130 Simmel 131 und Kelsen 132 behaupten, nur für das unmittelbar evidente Sollen gilt, das in den absoluten Normen (logischen, ethischen und ästhetischen Normen) zum Ausdruck gelangt, nicht aber auch für das Sollen, das bloß einer empirischen Norm entspricht. 133 Natürlich - sagt Somló - besteht auch der Begriff solcher Normen in einem Sollen, aber dieses Sollen bedeutet keinen unüberbrückbaren Gegensatz zum Begriffe des Seins, sondern ist vielmehr selbst ein Sein, wie das nach Ansicht von Somló Emge 134 richtig betont. XII. Eine Synthese von psychologischer, soziologischer und analytischer Betrachtungsweise stellt die Rechtstheorie von H. L. A. Hart dar. 1 3 5 Hart widmet sich gründlich den logisch-empirischen Strukturuntersuchungen des Rechts. 136 Es ist aber schwer, auf die Frage nach dem Wesen des Rechts bei Hart eine klare Antwort zu geben. Einige Züge seiner Theorie scheinen zu zeigen, daß er das Wesen des Rechts in etwas Tatsächlichem, überhaupt nicht in Normativem sieht. Nicht nur seine grundsätzliche (also nicht ausnahmslose) Anlehnung an die Philosophie von Bentham und die Rechtstheorie von Austin, die immer mit Nachdruck die Notwendigkeit betont, scharf zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es sein soll, zu unterscheiden, 137 aber auch seine scharfe Ablehnung einer Aufnahme naturrechtlicher Prinzipien in den Begriff des Rechts 138 könnten einen Beweis darstellen, daß Hart das Wesen des Rechts im Tatsächlichen erblickt. Auf der anderen Seite aber begegnet man konträren Behauptungen. Plötzlich sieht Hart, daß das Recht der Moral doch gewissermaßen entsprechen muß; diesen Gedanken entwickelt er in seiner Lehre vom „Mindestinhalt des 130

Kitz, Sein und Sollen, 1869, S. 74. Georg Simmel, Einleitung in die Moralwissenschaft, S. 8. 132 Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 1912, S. 7; derselbe, Die Rechtswissenschaft als Norm- oder als Kulturwissenschaft, Schmollers Jahrbuch, X L , 1916, S. 1181 ff. 133 Felix Somló, I.e. S. 62. 134 Emge, Über das Grunddogma des rechtsphilosophischen Relativismus, 1916, S. 33f. 135 H.L.A. Hart, The Concept of Law, 1961; derselbe, Der Begriff des Rechts, 1973; derselbe, Positivism and the Separation of Law and Morals, Harv. L.R. 71, 1957 1958, S. 593ff.; derselbe, Der Positivismus und die Trennung von Recht und Moral, in: H.L.A. Hart: Recht und Moral, Drei Aufsätze, 1971, S. 14ff.; derselbe, Definition and Theory in Jurisprudence, The Law Quarterly Review 70, 1954, S. 37ff.; derselbe, Punishment and Responsability, Essays in the Philosophy of Law, 1968; derselbe, Law, Liberty and Morality, 1963. 136 Zum folgenden besonders H. Eckmann, Rechtspositivismus und sprachanalytische Philosophie. Der Begriff des Rechts in der Rechtstheorie H. L. A. Harts, Schriften zur Rechtstheorie Nr. 15, 1969, S. 12ff.; Walter Ott, I.e. S. 89ff. M H.L.A. Hart, Recht und Moral, S. 16. 138 Walter Ott, I.e. S. 92. 131

§36. Erklärung mit Hilfe der niederen Seinsschichten

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Naturrechts" („minimum content of natural law"). 1 3 9 Damit erlangte auch Hart das Wohlwollen der Vertreter des „Neonaturrechts". 140 Hart geht hier von der Voraussetzung aus, daß die Menschen im allgemeinen den Wunsch haben zu leben. 141 Aus dieser Tatsache folgert er, daß eine Rechtsordnung nicht bestehen kann, wenn sie nicht das Leben wenigstens einiger Individuen schützt. 142 So ergeben sich aus der körperlichen Verwundbarkeit des Menschen („human vulnerability") das Körperverletzungs- und das Tötungsverbot, 143 aus der Tatsache, daß Nahrung, Kleidung und Obdach nicht in unbegrenztem Maße zur Verfügung stehen, ein Mindestmaß an Institutionalisierung und Schutz des Eigentums; 144 und die begrenzte Einsicht und Willensstärke des Menschen („limited understanding and strength of w i l l " ) machen Sanktionen erforderlich, um die Wirksamkeit des Rechts zu gewährleisten. 145 Man muß freilich hervorheben, daß Hart hier keinen Schluß vom Sein auf das Sollen zieht. 1 4 6 Was aus der Natur des Menschen folgt, ist nicht ein Sollen, sondern ein Sein, nämlich das tatsächliche Bestehen der erwähnten Regeln. 147 Nach den Kriterien von Kant ist es nicht erforderlich, daß ein Normensystem, um Recht zu sein, das Leben aller Menschen oder auch nur der meisten unter ihnen schützen muß. 1 4 8 Zur Existenz eines Rechtssystems genügt es, wenn die Bürger die Normen im großen und ganzen befolgen. 149 Man kann die Rechtstheorie von Hart als psychologisch-soziologischen Positivismus 150 oder als „Anerkennungs- und Befolgungstheorie des Rechts" 1 5 1 qualifizieren. XIII. Wegen ihrer materialistischen Grundauffassung muß man hier auch die marxistische Lehre anführen, obgleich die marxistisch-leninistische Theorie des Staates und des Rechts ganz besondere Züge aufweist. Von der Stellungnahme des folgerichtigen Marxisten aus versucht das Problem des Seins und Sollens der bekannte ungarische Rechtsphilosoph Vilmos Peschka zu lösen, 152 wobei dieser Versuch das Niveau der bekannten 1 39 H.L. A. Hart, Concept of Law, S. 189. 140 A. P. D'Entreves, Un noyau de bon sens, Revue internationale de Philosophie, 1963, S. 312ff .; W. A. Tumanow, Bürgerliche Rechtsideologie, 1975, S. 172. 1 41 H.L.A. Hart, I.e. S. 188. 142 H. Eckmann, I.e. S. 49; Walter Ott, I.e. S. 93. 143 H.L.A. Hart, I.e. S. 190. 1 44 H.L.A. Hart, I.e. S. 192. 145 H.L.A. Hart, I.e. S. 193. 146 H. Eckmann, I.e. S. 149. 147 Walter Ott, I.e. S. 93. 148 H. Eckmann, I.e. S. 46. 149 Walter Ott, I.e. S. 98. 1 50 Walter Ott , I.e. S. 98. 151 Η. Eckmann, I.e. S. 97. 152 Vilmos Peschka , Grundprobleme der modernen Rechtsphilosophie, 1974, S. 19 ff.

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marxistischen oder marxistisch-leninistischen Lösungen übersteigt. In der Rechtsnorm sieht er eine Spiegelung des wirklichen menschlichen Benehmens, und zwar einer besonderen Art, nicht in ihrer konkreten Einzigartigkeit, sondern in ihrer abstrakten Eigenart, in ihrer Typusartigkeit. Er stimmt mit Werner Maihof er überein, daß das Sollen im gewissen Sinne kein Gegensatz von Sein, sondern „ein über das gegenwärtige hinausweisendes, künftiges Sein" ist, 1 5 3 und meint, 1 5 4 daß das Sollen die Teleologie in die Erscheinungen hineinbringt. In dieser Richtung beruft er sich auf Georg Lukâcz, 1^ daß „... denn ohne ein Vorbild als Ziel anzunehmen, dieser Begriff (des Sollens) einem Werden gegenüber keinen Sinn habe." Peschka erblickt 1 5 6 das Wesen der Sollensstruktur in dem Umstand, daß „sich in ihr das seiend Gedachte, noch nicht Wirkliche, als das in der Zukunft zu verwirklichende Ziel ausdrückt. " Nach Peschka 157 haben also die Kategorien des Seins und des Sollens im Lichte der materialistischen Dialektik folgende Bedeutung: Auf der einen Seite ist das Sollen keine selbständige, eigene Welt der Erscheinungen; es gehört nur zur strukturellen Eigenschaft gewisser Erscheinungen und darunter auch des Rechtes, daß es etwas ist, das sich in der Zukunft verwirklichen soll, daß es eine Forderung ausdrückt. Auf der anderen Seite umfaßt das Sein im Zusammenhang mit diesem Sollen nicht alles Existierende in seiner Allgemeinheit, sondern nur die Wirklichkeit der menschlichen Handlungen, die im Recht mit dem Charakter des Sollens ausgedrückt sind, und die verwirklichten Rechtsverhältnisse. Peschka ist der Meinung, daß das Sein und das Sollen im dialektischen Verhältnis zueinander stehen. Das Wesen dieses Verhältnisses besteht in der Tatsache, daß das Sollen durch das Sein bestimmt ist und eine besondere Abbildung des Seins ist. Der Inhalt und die Form des Sollens sollen nach Peschka vom Sein herkommen. Das Sollen entnimmt aus dem Sein den seinen Inhalt, d. h. das menschliche Verhalten darstellenden Zweck. Das soll nichts anderes sein, als eine spezifische teleologische Äußerung, Abbildung des als Ursache auftretenden Gliedes des im Sein enthaltenen Kausalzusammenhangs. Der diesen Inhalt darstellende Zweck bekommt den Sollenscharakter infolge der spezifischen Formierung, die sich auch auf das Sein gründen soll. Der Inhalt des Sollens einer Rechtsnorm stammt also - nach Peschka vom Sein ab. Dieser Inhalt ist aber nicht in der objektiven Wirklichkeit 153 Werner Maihofer, Ideologie und Naturrecht, in: Ideologie und Recht, hrsg. W. Maihofer, 1969, S. 137. 154 Vilmos Peschka, I.e. S. 22. 155 Georg Lukâcz, Die Eigenart des Ästhetischen, 1963, Bd. II, S. 614. 156 Vilmos Peschka, I.e. S. 22. 157 Vilmos Peschka, I.e. S. 24.

§ 36. Erklärung mit Hilfe der niederen Seinsschichten

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unmittelbar gegeben. 158 Der Sollenscharakter, die Normativität der Rechtsnorm, wird durch das Sein in mehreren Richtungen bestimmt; nicht nur dadurch, daß die Situation, die Relation und die Arten des Verhaltens, die als der Sollenscharakter der Rechtsnorm sich manifestieren, besondere Abbildungen der objektiven Wirklichkeit sind, sondern auch dadurch, daß sogar die Normativität der Rechtsnorm durch gesellschaftliche Prozesse und Faktoren, die in der Welt des Seins auftreten, garantiert wird. Da aber der Zweck, die Aufgabe, die Bestimmung und die Funktion der Rechtsnorm in der Gesellschaft eine Regelung, eine Ausgestaltung des menschlichen Verhaltens und der gesellschaftlichen Verhältnisse sind, welche ebenfalls i n der Welt des Seins erscheinen, kann man mit Rücksicht auf die Rechtsnorm mit allgemeiner Gültigkeit feststellen, daβ zwischen dem Sein und dem Sollen eine gegenseitige, dialektische Beziehung existiert, in der schließlich das Sein ein entscheidendes, bestimmendes Element darstellt. 159 Die marxistische Rechtstheorie lehnt jede rechtsphilosophische Konzeption ab, die von dem Dualismus von Sein und Sollen, von ihrem antinomischen Gegensatz ausgeht und die bestreitet, daß das Sollen aus dem Sein abgeleitet werden kann. 1 6 0 Die marxistische Rechtstheorie betont die materielle Einheit der Welt, erkennt zwar den Sollenscharakter der Rechtsnormen, behauptet aber, dieses Sollen sei eine besondere Abbildung des Seins. Sie sieht die Rechtsnorm als eine besondere gesellschaftliche, die objektive Wirklichkeit abbildende Objektivation. Die Besonderheit dieser Objektivation drückt sich gerade in ihrer Normativität, in ihrem Sollenscharakter aus. 161 Das Wesen des Rechts ist nach Peschka etwas historisches, keinesfalls etwas Überzeitliches, Absolutes. 162 Aus den Ausführungen von Vilmos Peschka geht leider klar hervor, daß es weder ihm noch den anderen Vertretern dieser Richtung gelungen ist, die Grundproblematik des Verhältnisses von Sein und Sollen zu lösen. Die Lösimg - das muß man von neuem hervorheben - ist nur auf der Grundlage der kritischen Ontologie, auf der Erkenntnis des stufenförmigen Aufbaues der realen Welt, wohin das Recht gehört, und der Welt der Idealität, auf der Erkenntnis des vermittelnden Gliedes diese zwei „Welten", auf der Erkenntnis der abgeleiteten Normativität einiger Sphären der realen Welt, möglich. Sonst bleibt das alles und besonders die „Abstammung" des Sollens vom Sein ein Rätsel.

158 159 160 161 162

Vilmos Vilmos Vilmos Vilmos Vilmos

Peschka, Peschka, Peschka, Peschka, Peschka,

I.e. S. 59f. I.e. S. 62. I.e. S. 62. I.e. S. 62f. I.e. S. 229.

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Für die marxistisch-leninistische, dialektisch-materialistische Methode ist die Bewegung der menschlichen Erkenntnis von der Erscheinung zum Wesen eine Aufdeckung des Objekts in allen seinen Zusammenhängen und Vermittlungen. 163 Das Wesen des Rechts kann also nur durch das Begreifen seiner sozial-ökonomischen und klassenpolitischen Bedingtheit aufgedeckt werden. Schon P. I. Stutschka 164 definierte in den 20er Jahren das Recht als System oder Ordnung gesellschaftlicher Verhältnisse, die den Interessen der herrschenden Klasse entsprechen und die von der organisierten Kraft dieser Klasse geschützt werden. In dieser Definition wurden einerseits das Klassenwesen des Rechts, andererseits der untrennbare Zusammenhang des Rechts und des Staates als die wichtigsten Merkmale des Rechts betont. Der berühmte marxistische Rechtstheoretiker J. B. Paschukanis k r i t i sierte in seinem Buch „Allgemeine Rechtslehre und Marxismus", 1 6 5 mit dem sich auch Kelsen auseinandersetzte, das Bestreben Kelsens, sich „innerhalb der Grenzen des formellen, logischen Sinnes der Kategorie des Sollens zu halten," und ist zu dieser Schlußfolgerung gekommen: „Eine solche allgemeine Rechtstheorie, die nichts erläutert, die von vornherein den Tatsachen der Wirklichkeit, d. h. des gesellschaftlichen Lebens, den Rücken kehrt und mit Normen hantiert, ohne sich für deren Ursprung (eine metajuristische Frage?) noch für deren Zusammenhang mit irgendwelchen materiellen Belangen zu interessieren, kann freilich nur höchstens in dem Sinne auf den Namen Theorie Anspruch erheben, in dem man z.B. von einer Theorie des Schachspiels zu sprechen pflegt." 1 6 6 In der „Marxistisch-leninistischen Staats- und Rechtstheorie" wurde scharf hervorgehoben, 167 daß das Recht auf der Grundlage von Klassenunterschieden und -Widersprüchen entsteht; es drückt den Willen der ökonomisch und politisch herrschenden Klasse aus, dessen Inhalt in den materiellen Lebensbedingungen dieser Klasse wurzelt. Der Klassencharakter des Rechts besteht darin, daß in ihm nur der Wille jener Klasse zum Ausdruck kommt, die staatlich herrscht. Von neuem muß man hervorheben, daß im Sinne des historischen Materialismus das Recht in den sog. „Überbau" gehört und letzten Endes ein bloßer Reflex der ökonomischen Struktur der Gesellschaft ist. Das Recht ist 163 w . A . Tumanow, Bürgerliche Rechtsideologie, 1975, S. 299. 164 P. J. Stutschka, Ausgewählte Werke zur marxistisch-leninistischen Rechtstheorie, 1964, S. 295 (russisch); W.A. Tumanow, I.e. S. 221ff. 165 J.B. Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, 1929, S. 23f.; W.A. Tumanow, I.e. S. 206. 166 J. B. Paschukanis, I.e. S. 23f. 167 Koll.: Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie, Lehrbuch, Herausgeber: Institut für Theorie des Staates und des Rechts der Akademie der Wissenschaften der DDR, 1975, S. 67f.

§37. Erklärung mit Hilfe der Idealität

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seinem Wesen nach doch aber etwas qualitativ anderes, das mit den anderen Momenten des Überbaus und mit der ökonomischen Basis (mit der sog. „realen Grundlage") in Wechselwirkung steht. 168 Nicht ohne Interesse begegnet man der Feststellung von D. A. Kerimow, 169 daß das Kriterium für den Wert der Rechtsnorm nicht nur die Tatsache einer exakten und allseitigen Widerspiegelung der materiellen und geistigen Wirklichkeit in ihnen sein muß, sondern auch der Grad, in welchem diese Normen die von ihnen geregelten gesellschaftlichen Verhältnisse verändert haben. Α. M. Naschitz 170 stellt ausdrücklich fest: „Der Nihilismus in der Wertfrage ist eine der marxistischen Rechtsphilosophie vollkommen fremde Einstellung, wie sie auch der marxistischen Philosophie überhaupt fremd ist. Es muß anerkannt werden, daß Axiologiefragen für die marxistischen Rechtsphilosophen in viel zu geringem Maße ein »autonomer4 Gegenstand ihres Interesses waren. Dieser Fragenkreis war aber stets, wenn auch nicht ausdrücklich hervorgehoben, in ihren Forschungen mit einbegriffen sowie in den Lösungen, die sie verschiedenen Fragen der allgemeinen Theorie des Rechts gegeben haben." Auch W. A. Tumanow erkennt ausdrücklich an, 1 7 1 daß gerade dieser Umstand äußerst wesentlich ist. Er stellt fest, daß es für die Rechtswissenschaft wichtig ist, die Verkörperung und die Konkretisierung gesellschaftlicher Ideale und Werte im Recht, in seinen führenden Instituten und im Prozeß seiner Verwirklichung aufzuzeigen. Das bedeutet, daß die axiologische Seite der Frage gleichzeitig mit der Lösung des gegebenen Problems der allgemeinen Rechtstheorie betrachtet werden muß.

§ 37. Erklärung des Wesens des Rechts mit Hilfe der Kategorien der Idealität I. Hierher kann man schon griechische Philosophie und Rechtsphilosophie in ihren Anfängen einreihen, wie Johann Sauter, 1 Alfred Verdross, 2 168

Vgl. auch Reinhold Zippelius, Das Wesen des Rechts, 2. Aufl., 1969, S. 17. D. A. Kerimow, Kategorien der Dialektik und das Recht, These der Vorträge auf der Konferenz „Fragen der gegenwärtigen Entwicklung der sowjetischen Rechtswissenschaft", 1968, S. 9 (russ.); W.A. Tumanow, I.e. S. 294. 170 A.M. Naschitz, Wert- und Wertungsfrage im Recht, in: Revue roumaine des sciences sociales, Bd. 9, 1965, S. 4; vgl. W.A. Tumanow, I.e. S. 294 und die dort zit. Literatur. 171 W.A. Tumanow, I.e. S. 294. 1 Johann Sauter, Die philosophischen Grundlagen des Naturrechts. Untersuchungen zur Geschichte der Rechts- und Staatslehre, 1932, S. 5ff. 2 Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1963, S. Iff.; derselbe, Die Erfahrungsgrundlagen der archaischen Rechtsphilosophie, in: Legal Essays. Festschrift für Castberg, 1963, S. 207ff. 169

13 KubeS

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Bohuè Tomsa3 und andere 4 dargelegt haben. Schon bei Homer und Hesiod findet man solche Gedanken wie, daß die Welt durch Gesetze (nomoi) beherrscht ist, wobei die unvernünftige Natur durch das Gesetz der Gewalt (ßia), d. h. der kausalen Notwendigkeit beherrscht ist, während für Menschen das Gesetz des Rechts (diké) gilt, das zwar befolgt werden soll, aber Menschen gegen dieses Rechtsgesetz handeln können. 5 Das Leben nach der Rechtsordnung (nomos diké) entspricht dem Wesen des Rechts. Da das Sein im Recht zum Wesen des Menschen gehört, kann das Recht nicht aus den Befehlen der Willkür bestehen, sondern nur aus Normen, die dem Ethos, dem eigenen Wesen des Menschen, entsprechen. Solón 6 (um 600 v.u.Z.) mit seinem zentralen Gedanken von „Eunomie" (Schwester von Diké) - unter dem Namen Eunomie versteht er eine gut ausgeglichene Ordnung - hat in bedeutender Weise die Rechtslehre von Hesiod ergänzt: das Recht kann nämlich die Macht nicht entbehren, weil es sein Ziel, d.h. den Frieden und die Ordnung nur dann erreichen kann, wenn es fähig ist, sich gegen entgegengesetzte Kräfte durchzusetzen. Anaximandros von Milet (610 - 546 v.u.Z.) lehrt, daß gerade das Recht nicht nur das menschliche Leben umfaßt und bestimmt, sondern ein kosmisches Gesetz ist. Diké gehört zum Wesen aller Dinge 7 nicht nur im Staate, sondern im gesamten Sein gilt das Rechtsgesetz. Ähnliche Gedanken findet man bei Xenophon mit seiner Weisheit, oder bei Anaxagoras (7. Jahrh. v. u. Z.), nach dessen Meinung der Weltgeist den ganzen Kosmos geschaffen hat. II. Es wurde schon dargelegt, 8 daß von alters her die Grundfrage nach der „Natur" des Rechtes als Frage nach dem Wesen des „an sich" bestehenden Rechtes und dem es bedingenden Seinsgrund gestellt wurde.

3 BohuS Tomsa, Idea spravedlnosti a prâva ν f ecké filosofii (Die Idee der Gerechtigkeit und des Rechts in der griechischen Philosophie), 1923. 4 Hirzel, Themis, Diké und Verwandtes, 1907; Ehrenberg, Die Rechtsidee i m früheren Griechentum, 1923; Köstler, Die homerische Rechts- und Staatsordnimg, Zeitschrift für öffentliches Recht 23, 1944, S. 373ff.; Gigon, der Ursprung der griechischen Philosophie, 1945; Snell, Die Entdeckung des Geistes, 2. Aufl., 1948; Erik Wolf, Griechisches Rechtsdenken 1,1950, S. 19ff. 5 Dazu und zum folgenden Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., S. 2f., 4f.; Domseiff, Hesiods Werke und Tage und das Morgenland, Phüologus 91, N.F. 45, 1936, S. 317ff. 6 Jäger, Solons Eunomia, Sitzungsberichte der preußischen Akademie der Wissenschaften, Phil, historische Klasse, 1926, S. 69f.; Alfred Verdross, Grundlinien der antiken Rechts- und Staatsphilosophie, 2. Aufl., 1948, S. 23ff.; derselbe, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1963, S. 5f.; E.Wolf, Maß und Gerechtigkeit bei Solon, in: Gegenwartsprobleme des internationalen Rechts und der Rechtsphilosophie, Festschrift für Rudolf Laun, 1953, S. 449ff. 7 Jäger, Die Theologie der frühen griechischen Denker, 1953, S. 47; Alfred Verdross, I.e. S. 7f.

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Heraklit aus Ephesus, der „Dunkle" genannt (536 - 470 v.u.Z.), hat mit der Entdeckung des Logos nicht nur die intelligible Welt, sondern auch die Urnorm für das sittliche Verhalten entdeckt. 9 Dieser Logos ist für alle verbindlich. Alle menschlichen Gesetze müssen sich von ihm „nähren". Die positive Rechtsordnung ist für Heraklit eine Verwirklichung der Rechtsidee und das Volk darf sich nicht gegen sie auflehnen, sondern muß für sie kämpfen. Jeder Mensch hat die Möglichkeit der Einsicht in den Logos. Das Recht ist in das Weltbild eingereiht. Es ist also der „Logos" das Prinzip des Phänomens des Rechts. Ebenso wie Heraklit wollte auch Pythagoras (ungefähr 582 - 500 v.u.Z.), bzw. seine Schule, den Menschen aus den kausalen Zusammenhängen herausnehmen und ihn in die intelligible Welt einordnen. Die positive Rechtsordnung ist nur ein Abbild, eine Annäherung zu der Welt der Idealität. 1 0 Die i n der Noumenalwelt fundierte Normativität ist für ihn Richtmaß und Ziel aller menschlichen Sittlichkeit und Gesetzgebung. Die positive Gesetzgebung hat ihren materialen Ursprung nicht in der Übereinkunft, sondern in der vorgegebenen Ordnung, die ein ewiges Gesetz ist. Die Weltharmonie ist nichts anderes als ein anderer Ausdruck des Gedankens der Weltgerechtigkeit. Auch die menschliche Gerechtigkeit ist ein harmonisches Verhältnis. Das Prinzip der Harmonie und das Prinzip der Gleichheit erscheinen auch in der Funktion des Prinzips des Rechts. 11 Der Sinn des Rechts ist, „alles was gerecht ist, in eine Tat umzuwandeln." 12 III. Piatons (427 - 347 v.u.Z.) reines Sollen, seine Welt der Ideen, ist ein Heimatort des natürlichen Rechts, 13 des Rechts an sich. 1* Ganz im Sinne seines Höhlengleichnisses ist das positive Recht ein „Abbild", eine „Nachahmung" oder ein „Schatten" des Rechts an sich. Aus diesem Grunde fordert Piaton, der Gesetzgeber müsse immer zum Reich der Ideen aufblicken und nach ihnen das positive Recht gestalten. 15 An höchster Stelle der Tugenden steht die Gerechtigkeit. Die Idee des Rechts findet Piaton im unbedingten Sollen, in der Grundnorm. Wenn ich - nach Piaton - von einer Norm behaupte, daß sie eine Rechtsnorm ist, dann setze ich den Begriff des

8 Z.B. Johann Sauter, I.e. S. 3ff.; Vladimir Kübel·, Das Recht und die Zukunft der Gesellschaft, Weltkongreß für Rechts- und Sozialphilosophie, Sydney - Canberra, 14. - 21. August 1977, S. lOf. 9 Johann Sauter, I.e. S. 5ff. 10 Johann Sauter, I.e. S. 9f. 11 H. Ahrens, Das Naturrecht oder die Rechtsphilosophie, 1846, S. 382. 12 Jambliehos, XXX., 186. 13 Piaton, Politela VI, 501 B; derselbe, Gorgias 483 E. 14 Piaton, Phaidros 247 B; derselbe, Politela VII, 517 C. 15 Platon, Politikos, 297 C; 300 N; derselbe, Politela 501 D; vgl. Johann Sauter, I.e. S. 16f.

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„Rechts" fest. 16 Wenn ich dann Rechnung über die prädikative Bedeutung dieses „Recht-Seins" geben soll, so kann ich dies nicht analytisch - aus dem Rechtsatz (circulus vitiosus) - sondern nur synthetisch - durch Setzung einer übergeordneten Norm, dann durch Setzimg einer vorpositiven Norm und endlich durch Setzung der „Idee des Rechts" tun. 1 7 Hier ist in nuce der stufenförmige Aufbau des Rechts enthalten - allerdings mit einer Transzendierung der Positivität und einem Rekurs auf die Idee des Rechts. 18 Bei Anstoteles (384 - 322 v.u.Z.) hängt das Gerechte unmittelbar mit den höchsten Gesetzen der Weltordnung zusammen. 19 Weder das Recht noch die Moral sind von der Willkür der Menschen abhängig. 20 In scharfer Polemik mit der Epikurischen Auffassung des Rechts betont Cicero (106 - 43 v.u.Z.), daß das Recht aus dem tiefsten Wesen des Menschen stammt, daß ein originäres, von der Willkür des Menschen unabhängiges, unabänderliches und ewiges Recht existiert. Bei Thomas von Aquino (1227 - 1274) ist die lex naturalis ein Apriori der Vernunft, das positive Gesetz ist kein Gesetz der Willkür, sondern steht im inneren und wesentlichen Delegationszusammenhang mit dem Naturrecht; es muß aus ihm „abgeleitet" werden („derivari"). 2 1 G. W. Leibniz (1646 - 1716) reiht das Recht in die „ewige Wahrheiten" („vérités éternelles") ein, welche nicht auf der Erfahrung, sondern auf der Vernunft beruhen. „Ebenso wie die Gesetze der Geometrie müßten w i r auch die Gesetze des Rechts als notwendige bezeichnen, auch wenn w i r den Gott verneinen würden." „Juris et aequi elementa sunt decreta aeternae veritatis." 2 2 Auch Pufendorf (1632 - 1694) begreift das Recht als ein System der Wahrheiten der Vernunft. Das Recht kann nur im gesellschaftlichen Leben existieren. Das Naturrecht ist ewig (aeternum), allerdings nur im Rahmen der „existentiae", und zwar solange die Menschheit existieren wird. 2 3 16 Bohu§ Tomsa, Idea spravedlnosti a prâva ν fecké filosofii (Die Idee der Gerechtigkeit und des Rechts in der griechischen Philosophie). S. 44 ff. 17 Piaton, Menon 86 E ff. 18 Piaton, Phaidon 101 D; vgl. Johann Sauter, I.e. S. 21. 19 Vgl. Adolf Lasson, System der Rechtsphilosophie, S. 58f. 20 Vgl. Alfred Verdross, I.e. S. 42. 21 Thomas von Aquino, Summa I, II, qu. 94, 95; vgl. Johann Sauter, I.e. S. 74f. 22 G.W. Leibniz, Meditationes de cognitione, varitate et ideis, 1684; derselbe, Ars combinatoria, 1666; derselbe, Nova Methodus docendi discendique juris prudentiam, 1667; derselbe, De tribus iuris naturae et gentium gradibus, De iustitiae prineipiis, Vorwort zum Codex diplomaticus 1693; vgl. Trendelenburg, Bruchstücke im Leibnizens Nachlass zum Naturrechte, Hist. Beiträge zur Philosophie II, S. 257 f. (1855); derselbe, Das Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen in Leibnizens philosophischer Betrachtung und dessen Naturrecht, ibid. S. 233f.; vgl. Johann Sauter, I.e. S. 94ff.; Kuno Fischer, Gottfried Wilhelm Leibniz, Leben, Werke und Lehre, 4. Aufl., 1902, S. 3 f.; G.Hartmann, Leibniz als Jurist und Rechtsphilosoph, S. 24; WindelbandHeimsoeth, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, S. 335 f.

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Der große philosophische Denker Chnstian Wolff (1678 - 1754) bestimmt das Recht als das „sittliche Vermögen zu handeln" („facultas moralis agendi"). 24 Aus der Grundthese vom „nexus rerum" folgert er den bekannten Fundamentalsatz seiner Rechtslehre, daß alles Recht auf einer Verbindlichkeit beruht - ius oritur ex obligatione; obligatio prior est iure, et si nulla obligatio, nec ullum ius foret Wolff kehrt wieder zur metaphysischen Grundlage der „lex aeterna" zurück. Er nimmt die These an, das Naturrecht würde gelten, auch wenn es keinen Gott gäbe. 25 Der praktischen Vernunft ist der Drang angeboren, das Gute zu tun und das Böse zu meiden. Das ist zugleich der Inhalt des Naturgesetzes. 26 Die „natürliche Schwachheit" führt dazu, daß die Einzelnen ihre natürlichen Pflichten nicht erfüllen und gar auch andere an der Ausübung ihrer Pflichten und Rechte hindern. 27 Aus diesem Grunde muß zu der „inneren" eine „äußere" oder „bürgerliche Verbindlichkeit" hinzukommen - durch die positiven Gesetze, welche mit Zwangsgewalt ausgerüstet sind. 28 Für Jean Jacques Rousseau (1712 - 1778) beruht das Recht und die ganze Ordnung der Gesellschaft in dem Gesellschaftsvertrag. 29 Es handelt sich freilich um kein historisches Faktum, sondern um eine „Idee". Die zentrale Frage lautet für Rousseau: „Es ist erforderlich eine gesellschaftliche Form zu finden, die mit ganzer gemeinsamer Kraft die Person und das Eigentum jedes Mitgliedes schützt und verteidigt und in der jeder, obzwar er sich mit allen verbindet, doch nur sich selbst gehorcht und gleich frei bleibt wie früher." „Die Lösung besteht darin, daß jeder seine Person unter die höchste Führung des allgemeinen Willens („ volonté générale") stellt, an dessen Konstituierung selbst teilhaftig ist." IV. Bei Immanuel Kant (1724 - 1804),30 auf dessen praktische Philosophie gerade Rousseau einen entscheidenden Einfluß hatte, ist das Recht im 23 Pufendorf y lus naturae et gentium 1,1,1; II, 3, 9, 20, derselbe, Elementa Jurisprudentiae universalis; derselbe, De officio Hominis et Civis, Praef.; vgl. Johann Sauter, I.e. S. 114ff. 24 Christian Wolff, Jus naturae methodo scientifica pertractata, 8 Bd., 1740/48; vgl. Johann Sauter, I.e. S. 178ff. 25 Christian Wolff, Vernünftige Gedanken von der Menschen Tun und Lassen zur Beförderung ihrer Glückseligkeit, 1720, genannt: Moral, §§ 5, 21. 26 Christian Wolff, Moral, §§ 12,19. 27 Christian Wolff, Moral, § 64. 28 Christian Wolff, Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen zur Beförderung der Glückseligkeit des menschlichen Geschlechtes, 1721, 5. Aufl., 1740, genannt: Politik, §§ 341, 356, 401. 29 J. J. Rousseau, Contrat social, I, 3. 30 Immanuel Kants Werke: K r i t i k der reinen Vernunft, 2. Aufl., 1787, i n Ernst Cassirer, Immanuel Kants Werke Bd. III, 1922; K r i t i k der praktischen Vernunft, 1788, in: Ernst Cassirer, I.e. Bd. V, S. Iff.; K r i t i k der Urteilskraft, 2. Aufl., 1793, in: Ernst Cassirer, I.e. Bd. V, S. 233ff.; Die Metaphysik der Sitten in zwei Teilen, 1797, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Metaphysische Anfangsgründe der Tugend-

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Gedanken der transzendentalen Freiheit verankert. Das Recht ist ein Erfordernis der praktischen Vernunft und hat in ihr das Prinzip, welches a priori gilt; das Recht muß aus der allgemeinen vernünftigen Bestimmung des Menschen, welche die Bestimmung zur Freiheit ist, begriffen werden. Das Recht hat zur Aufgabe, die Bedingungen festzusetzen, unter welchen die Willkür des Einen mit der Freiheit des Anderen möglich ist, wobei man von dem Erfordernis der grundsätzlichen Gleichheit dieser Freiheiten ausgeht. Für Kant existiert nur eine Wirklichkeit, und zwar die Wirklichkeit der Natur, die durch die Anschauungsformen und Kategorien gesehene, ermöglichte, „geschaffene" Wirklichkeit. Diese Naturwirklichkeit ist das „Sein", und gegen sie steht bei ihm scharf das „Sollen", eine Idee, die nur „regulativ", nicht „konstitutiv" ist und der Wirklichkeit nicht immanent ist. Von diesem Standpunkt aus hatte Kant und konnte auch nicht kein Verständnis dafür haben, daß neben der Wirklichkeit der Natur (der anorganischen und organischen Natur) noch eine andere Wirklichkeit, ein anderes Sein besteht, und zwar das seelische und besonders das geisige, und zwar ein reales Sein, wohin überwiegend auch das Recht, das „empirische", „positive" Recht gehört. Kants Interesse galt vor allem der Gesetzgebimg des Verstandes und der Vernunft, ihn interessierte das moralische, bzw. ästhetische Urteil; die Kantsche Wirklichkeit wurde nur durch die Brille der Anschauungsformen und Kategorien, insbesondere durch die Brille der Kausalität gesehen. „Der naturwissenschaftliche Geist der Aufklärung hat seinem Blick jenes andere Reich der Wirklichkeit verhüllt, das Reich der Geschichte oder der Kultur, das nicht von den Naturkräften, sondern von den Ideen beherrscht ist.. . " 3 1 Es ist ihm nicht eingefallen, daß neben den die anorganische und organische Natur konstituierenden Kategorien auch andere Kategorien existieren könnten, die sich andere Realität, das seelische und geistige Sein, wohin das Recht als Phänomen, die Gesetze, Urteile, Rechtsgeschäfte gehören, bilden. Kant hat im Gegenteil hervorgehoben, daß die Wirklichkeit, auf die sich die sittlichen und ästhetischen Urteile beziehen, ausschließlich durch die Kategorien des theoretischen Verstandes konstituiert wird und Natur ist. Die Kategorien der Freiheit lassen keine Anwendung auf in der Anschauung gegebene Gegenstände zu. 3 2 „Das Recht kann lehre, in: Ernst Cassirer, I.e. Bd. V I I 1922; Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft w i r d auftreten können, 1783, in: Ernst Cassirer, I.e. Bd. IV 1922, S. Iff.; Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 2. Aufl., 1786, in: Ernst Cassirer, I.e. Bd. IV, S. 241 ff.; vgl. dazu besonders Julius Binder, Philosophie des Rechts, S. 60ff., 96ff.; Windelband-Heimsoeth, Die Geschichte der Philosophie, S. 469; Ernst Cassirer , Kants Leben und Lehre, S. 259; Vögelin, Das Sollen i m System Kants, Kelsens Festschrift, 1931, S. 151; Werner Maihof er; Ideologie und Recht, in: Ideologie und Recht, hrsg. W. Maihofer, 1969, S. 12 f. 31 Julius Binder, I.e. S. 61. 32 Immanuel Kant, Erste Einleitung in die K r i t i k der Urteilskraft, I.e. S. 192ff., 197ff., 199ff.; Julius Binder, I.e. S. 99.

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gar nicht erscheinen, sondern sein Begriff liegt im Verstände und stellet eine Beschaffenheit (die moralische) der Handlungen vor, die ihnen an sich selbst zukommt." 3 3 Die kritische Frage: Wie ist die Natur, die Naturwissenschaft möglich?, welche Kant mit solchem Nachdruck in Beziehung zur Welt der kausalen Notwendigkeit stellt, wendet er auf die reale Welt der Kultur überhaupt nicht an; er fragt nicht, wie ist die Realität der Kultur, die Kulturwissenschaft, die Geisteswissenschaft, die Rechtswissenschaft möglich. Kant deduziert nicht sein moralisches Prinzip als apriorische Bedingung der gegebenen Wissenschaft; das moralische Gesetz ist bei ihm „exponiert", nicht „deduziert". 3 4 Es ist klar, daß Kant das Wesen des Rechts in der Welt der Idealität findet. Nach Fichte existiert eine allgemein gültige verbindliche Grundlage des Rechtsverhältnisses überhaupt und diese Grundlage besteht im Wesen der Sache, nämlich im Wesen der Gemeinschaft vernünftiger Individuen überhaupt. 3 5 Auch bei Fichte ist der Ausgangspunkt für das Erkennen des Rechts die praktische Vernunft und die Freiheit. In seiner Schrift „System der Rechtslehre" geht Fichte von der zentralen Erkenntnis aus, daß man das Recht als faktische Bedingung der Sittlichkeit begreifen muß. Der Staat selbst kann die Verwirklichung der Freiheit garantieren. Zusammenfassend kann man zu den naturrechtlichen Doktrinen - in Übereinstimmung mit Alf Ross - 3 6 allerdings noch etwas bemerken: Es ist durchaus nicht so, daß man auf der einen Seite das positive Recht als eine soziale Faktizität und auf der anderen Seite das Naturrecht und die Moral als rationale Idealität darstellt. Es verhält sich ganz im Gegenteil so, daß positives Recht und Naturrecht zu einem Begriff, dem des Rechts vereinigt und verschmolzen werden. „Von der Naturrechtsdoktrin wird nämlich überhaupt keine prinzipielle Unterscheidung zwischen positivem und natürlichem Recht gemacht, wie w i r nun geeignet sind anzunehmen, sondern im Rechtsbegriffe verschmelzen und durchdringen sich Realität und Idealität. Das natürliche Recht ist im Gegensatz zur Moral nicht schlechthin reine Idealität, sondern enthält in sich potentiell seine Realität als positives Recht, d.h. eine gewisse Zwangsübung; während andererseits das positive 33

Immanuel Kant, K r i t i k der reinen Vernunft, I.e. S. 72. Immanuel Kant, K r i t i k der praktischen Vernunft, I.e. S. 53f.; Hermann Cohen, Kants Begründung der Ethik, 2. Aufl., S. 169f., 183f.; Haensel, Kants Lehre vom Widerstandsrecht, S. 3. 35 Fichte, Die Grundlage des Naturrechts, S.W. I I Rechtslehre, para 10f.; System der Rechtslehre S.W. S. 498f., 515, 540f.; Adolf Lasson, System der Rechtsphilosophie, S. lOOf.; Julius Binder, I.e. S. 378; Nicolai Hartmann, Die Philosophie des deutschen Idealismus, I. Teil, Fichte, Schelling und die Romantiker, S. 161 f. 36 Alf Ross, K r i t i k der sogenannten praktischen Erkenntnis. Zugleich Prolegomena zu einer K r i t i k der Rechtswissenschaft, 1933, S. 232f. 34

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

Recht durchaus keine schlechthin reine Positivität ist, d.h. reine Faktizität, sondern eine Manifestation des Gültigen im Wirklichen oder eine Realisation des Naturrechts. Prinzipiell ist es ein und dasselbe: Recht als Naturrecht und als positives Recht; beide werden durch das gleiche Ineinandergehen von Idealität und Realität charakterisiert. Daß trotzdem ein gewisser Unterschied zwischen dem positiven Recht und dem Naturrecht bestehen kann, beruht auf Störungen und unwesentlichen Faktoren, die das Naturrecht daran hindern, sich völlig als positives Recht zu realisieren. Bis zu einem gewissen Grade ist aber das positive Recht immer Inkarnation des Naturrechtes, sonst würde es überhaupt kein Recht sein, sondern einfach ein Faktum, ein Gewaltsphänomen." Dann müßte man freilich die Mehrheit der naturrechtlichen Theorien in die Gruppe der vermittelnden Lösungen des Wesens des Rechts einreihen, wenn ich nicht gerade an das Naturrecht in seiner absolut reinen Gestalt denke, welches Recht freilich in die Welt der Idealität gehört, wie man das z.B. beim großen rechtsphilosophischen Denker des X X . Jahrhunderts Rudolf Laun findet. V. Der erste Neokantianer auf dem Gebiet des Rechts, Rudolf Stammler, stellt fest: 37 „Das Recht ist weder ein Körper, ein im Raum befindlicher Gegenstand, noch eine Methode, um Wahrnehmungen wissenschaftlich zu bestimmen, noch auch eine Idee, die auf das Ganze der natürlichen Erfahrung ginge, so, daß daraus eine Anleitung für einzelne Aufgaben der Naturforschung zu gewinnen wäre. " Daher - meint Stammler - kann das Recht nur zu dem Bereich der Gedankenwelt gehören, den w i r als das Wollen, als das Bewußtsein von Zwecken kennen. Stammler unterscheidet nämlich alle Bewußtseinsinhalte in den Bereich der Wahrnehmung auf einer und in den Bereich des Wollens auf der anderen Seite; durch dieses Verfahren per exclusionem, durch diesen indirekten Beweis w i l l Stammler die Folgerung ziehen, daß das Recht „ein Wollen", und zwar „das unverletzbar selbstherrlich verbindende Wollen" ist. 3 8 Stammler glaubt folgendes beweisen zu können: 3 9 „Wenn jemand einen rechtlichen Anspruch erhebt, so nimmt er nicht etwas wahr, sondern w i l l etwas; wer einen Rechtsatz erläßt, der behauptet nicht eine Tatsache der Erfahrung, er verfolgt Zwecke; und falls w i r den 37 Rudolf Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, S. 69; vgl. Julius Binder, I.e. S. 763f.; vgl. auch weiters Stammlers Schriften: Wirtschaft und Recht, 1896, 5. Aufl., 1924; Die Lehre von dem richtigen Rechte, 1902, 2. Aufl., 1926; Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 1922, 3. Aufl., 1928; Rechtsphilosophische Abhandlungen und Vorträge, 1925; Rechtsphilosophie, in: Das gesamte deutsche Recht (hrsg. R. Stammler), 1931, S. 1 - 88. 38 Rudolf Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, I.e. S. 133; Julius Binder, S. 764; derselbe, Rechtsbegriff und Rechtsidee, S. 36ff.; vgl. Vladimir KubeS, Prâvnl filosofie X X . stoleti (Die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts), 1947, S. 26ff. 39 Rudolf Stammler, 1. c.

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Inhalt einer Rechtsordnung betrachten, so sehen w i r dort nicht körperliche Erscheinungen der Natur, sondern einen Inhalt von menschlichem Wollen. " Der Grundfehler dieser Stammlerschen Konstruktion liegt in der Tatsache, daß er den Bereich der Wahrnehmungen mit dem der körperlichen Gegenstände identifiziert und auf die Physik im eigentlichen Sinn beschränkt. 40 Und weiters: Der Stammlersche Begriff des „Wollens" ist so vieldeutig, daß es weder Stammler noch allen denen, die das Recht als Wollen begreifen, gelungen ist, diesen Begriff zu präzisieren. Hier überall handelt es sich um ein Beweisen dessen, was „obscurum" ist, „per obscurius". Mit seinem „Wollen" beabsichtigte er offenbar, die teleologische oder normative Erkenntnisform auszudrücken, bei der man den Gegenstand in den Formen von Mittel und Zweck oder von Pflicht betrachtet. Nur daß der Ausdruck „Wollen" sehr wenig passend ist, und unnützerweise der Grund für zahlreiche Polemiken gegen die ganze Stammlersche Auffassung war. Unter dem Wollen ist jeder geneigt, etwas zu verstehen, was sich erst in gewisser Form konstituieren muß, und zwar in der Form der Kausalität oder der Finalität oder der Normativität. Dem Neukantianer Stammler war die Konstruktion der Welt der Realität und der Welt der Idealität, ihre Verbindung und besonders der stufenförmige Aufbau der realen Welt und der Platz des Rechts in dieser Welt, sowie die abgeleitete Normativität einiger Sphären des personalen, objektiven und objektivierten Geistes ganz unbekannt. Bei Kant ist das teleologische Beobachtungsprinzip nur ein heuristisches, regulatives, ein Hilfsprinzip; es zeigt uns den Weg, auf welchem dann das echte Erkenntnisprinzip der Kausalität schreitet. Kant weiß nämlich, daß die unter dem Standpunkt der kausalen Notwendigkeit arbeitende Theorie nicht imstande ist, bis zum letzten Rest die ganze Wirklichkeit zu erklären. Keinesfalls aber ist das teleologische Prinzip dem Kausalprinzip gleichwertig. Ganz anders ist es bei Stammler. Bei ihm sind beide Standpunkte, der kausale und der teleologische oder normative, vollkommen gleichwertig. Der kausale Standpunkt ordnet Bewußtseinsinhalte nach den Kategorien von Ursache und Wirkung. Das ist der Standpunkt der Naturwissenschaft, welche Sinneseindrücke ordnet. Der teleologische oder normative Standpunkt ist ganz selbständig 41 und ordnet Bewußtseinsinhalte in den Formen von Mittel und Zweck, oder des Sollens; ihm entspricht die Zweckwissenschaft oder Normativwissenschaft, die mit den Wollensinhalten zu tun hat,

40 41

Julius Binder, I.e. S. 74. Rudolf Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, § 28, Anm. 3.

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zuerst mit deren Bestimmung nach festen Begriffen, dann mit ihrer Gleichrichtung nach der Idee des reinen Wollens. 42 Es ist lehrreich, sich mit der Stammlerschen Polemik gegen die Behauptung von Gierke 43 bekanntzumachen, daß reiner Wissenschaft nur die Frage nach dem Sein, nicht nach dem Sollen zugänglich ist. Stammler betont, daß das Wort „Sein" mehrere Bedeutungen hat: a) Das Sein gleicht dem Dasein, der Wahrnehmung. Man kann nicht behaupten, daß nur die eine wissenschaftliche Bearbeitung möglich ist. Die Vereinheitlichung äußerer Wahrnehmungen und die unserer Gedankenwelt ist keinesfalls ein- und dasselbe. - b) Das Sein gleicht sowohl dem Sein der Wahrnehmung, als auch dem Sein der Zweckinhalte. Die Wissenschaft über Wahrnehmungen hat keinen Vorrang vor der Wissenschaft über das Wollen. Die Dignität einer Wissenschaft bildet niemals den Stoff, sondern das einheitliche Ordnen als solches. - c) Das Sein gleicht der Gesetzlichkeit; es existiert das Sein der Wahrnehmung und das Sein des Wollens. Das Wollen, gesetzlich gleichgerichtet, heißt das Sollen. Es ist einfach unhaltbar, wenn man meint, daß über dieses Sollen keine wissenschaftliche Erkenntnis möglich ist. Auf der anderen Seite hat freilich Stammler die gleichlaufende Kantsche Unterscheidung zweier Welten, der Welt der Erscheinung, der Welt des Seins, und der Welt der Pflichten, der Welt des Sollens, nicht in genügender Weise gewürdigt. Es ist zwar richtig,- daß es bei Kant von der Erkenntnis nur im Gebiete des Seins zu sprechen möglich ist, und nicht im Bereich des Sollens. Alle unsere Erkenntnis beruht nur auf bestimmenden apriorischen Gründen, die Kant durch seine kritische Analyse des Inhalts unseres Bewußtseins in der K r i t i k der reinen theoretischen Vernunft fand, welche er „ K r i t i k der reinen Vernunft" nannte. In der K r i t i k der reinen praktischen Vernunft, welche „ K r i t i k der praktischen Vernunft" genannt wurde, hat Kant bestimmende apriorische Gründe für unsere Erkenntnis nicht mehr gefunden, sondern für unser Handeln. Aber doch konstruierte Kant klar und mit Nachdruck den Grundgegensatz zweier Welten - der Welt des Seins und der Welt des Sollens, der Pflichten, und hat klargemacht, wenn auch in damaliger typischer Terminologie, daß man, wenn man von einem Handeln sagt, es soll sein, damit meint, daß wir ein Erlebnis der Nötigimg haben, indem das eigene Ich jenem Handeln den Sollenscharakter erteilt, wie Voegelin in einer phänomenologischen Untersuchung der Kantischen Philosophie demonstrierte. 44 Das sollte Stammler bewegen, Kants praktisch-philosophische Ausführungen in die Sphäre der Erkenntnis zu überführen und 42

Rudolf Stammler, 1. c. Anm. 4. Otto von Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 1889, S. 3; Rudolf Stammler, I.e. Anm. 2. 44 Erich Voegelin, Das Sollen im System Kants, Gesellschaft, Staat und Recht, Untersuchungen zur Reinen Rechtslehre, Festschrift Hans Kelsen zum 50. Geburtstag gewidmet, hrsg. Alfred Verdross, 1931, S. 136f. 43

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das um so eher, als man beim Recht dem Begriff der Pflicht bei jedem Schritt begegnet. Stammler kennt neben der Kategorie der Kausalität nur die Kategorie der Teleologie, und nicht klar genug die Kategorie der Normativität. Seine teleologische Kategorie umwandelt sich allerdings unverkennbar i n die der Normativität, so z.B. wenn er das gesetzmäßig gleichgerichtete Wollenfür Sollen erklärt. Es ist daher einsichtig, daß es auch Stammler nicht gelungen ist, das Wesen des Rechts als eines Phänomens, das der realen Welt angehört und zur Welt der Idealität nur tendiert, zu erfassen. VI. Die rechtsphilosophische Richtung von Rudolf Laun ist an Kants „ K r i t i k der praktischen Vernunft" orientiert. Laun hat 4 5 auf Grund einer K r i t i k des Begriffs des hypothetischen Imperativs bei Kant der bisherigen Lehre von der Heteronomie des Rechtes die Lehre von der Autonomie des Rechtes - Autonomie im Sinne der Konischen Ethik verstanden - entgegengesetzt. „D.h.: während bis jetzt alle den letzten Grund der Verbindlichkeit des Rechtes in den Befehlen eines anderen als des Normadressaten, nämlich in den Geboten eines äußeren irdischen oder himmlischen Gesetzgebers, gesucht haben, behaupte ich: den Grund der Verbindlichkeit des Rechtes, wenn w i r dieses als Befehl, Norm, Imperativ und nicht bloß wirklichkeitswissenschaftlich, soziologisch, als tatsächliches Geschehen betrachten, trägt jeder Normadressat in seiner eigenen Brust, in seinem Gewissen und Rechtsgefühl. Von dem hier vertretenen Standpunkt aus kann man über die bisherige Praxis und Rechtswissenschaft wörtlich, wenn auch mit neuem Sinn, dasselbe sagen, was Kant im zweiten Abschnitt seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten über die vorkantische Ethik bemerkt: ,Man sah den Menschen durch seine Pflicht an Gesetze gebunden, man ließ es sich aber nicht einfallen, daß er nur seiner eigenen und dennoch allgemeinen Gesetzgebung unterworfen sei und daß er nur verbunden sei, seinem eigenen, dem Naturzwecke nach aber allgemein gesetzgebenden Willen gemäß zu handeln.' Mit anderen Worten, ich habe behauptet: wer in einer ihm obliegenden Rechtspflicht nicht nur ein bedingtes Müssen, einen angedrohten Zwang sieht, sondern ein: ,Ich soll', der ist selbst der Schöpfer dieses ,Ich soll" 1 . Für das Gebiet des Sollens hat Laun zu zeigen versucht: 46 der Verpflichtungsgrund sei das autonome Erlebnis des konkreten Sollens als letzte, nicht weiter ableitbare Urgegebenheit, ein Angelpunkt des Weltgeschehens, der Sein und Sollen zugleich ist. „Dieses Erlebnis ist dem Erkennen des Einzelnen unmittelbar gegeben, wie eine einfache Sinneswahrnehmung. Verpflichtungsgrund und Erkenntnisgrund fallen in dem einfachsten Urerleb45 46

Rudolf Laun, Recht und Sittlichkeit, 3. Aufl., S. 28f. Rudolf Laun, I.e. S. 41 f.

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

nis des konkreten Sollens zusammen. Über die Erkenntnis fremden Sollens ist damit noch nichts ausgesagt." Zum Problem des positiven Rechts bemerkt Laim: 4 7 „Wenn wir nun die Befehle, welche im Staat tatsächlich erlassen, befolgt und erzwungen werden, das positive Recht nennen und fragen, wodurch sich dieses tatsächliche Geschehen von demjenigen tatsächlichen Geschehen unterscheidet, das wir nicht Recht nennen, so lautet die Antwort: in den Werturteilen als Massenerscheinungen. Wenn ich sage, ein Satz ist »positiven Rechtes4, so meine ich unter Positivität die Tatsächlichkeit und unter Recht ein Sollen. Die Tatsächlichkeit ist jene des Befehlens und Gehorchens als Massenerscheinung. Das Wort Recht bedeutet ein an diese Tatsächlichkeit geknüpftes Werturteil. Aber was nur nach meinem individuellen subjektiven Gewissen und Rechtsgefühl richtig oder unrichtig ist, dürfte ich noch nicht als »positives Recht' bezeichnen. Die Verbindung der Worte positiv und Recht bedeutet, daß auch das Sollen, das Werturteil als Massenerscheinung vorausgesetzt wird. Die Werturteile der anderen sind für das einzelne autonom wertende Subjekt oder für den theoretischen Betrachter tatsächliche Gegebenheiten, w i r dürfen daher den Satz voll aufrechterhalten: Positivität ist Tatsächlichkeit. Der Begriff der Tatsächlichkeit, den wir Positivität nennen, bezieht sich auf eine zweifache Massenerscheinimg: erstens darauf, daß Massen tatsächlich gehorchen, zweitens darauf, daß sie zum großen Teil ihren Gehorsam nicht bloß als Müssen, sondern als Sollen erleben, daß sie auf Grund von autonomen Werturteilen, aus ,Pflicht', aus ,Rechtsgeführ, Rechtsempfinden', ,Rechtsbewußtsein', ,opinio necessitatis' gehorchen. Positives ,Recht' wird der Gehorsam der Massen dadurch, daß diese - im Gegensatz etwa zu den Opfern einer Räuberbande - zum großen Teil nicht bloß aus Zwang und Furcht, sondern aus Pflicht gehorchen; aber ,positives' Recht ist es eben doch nur dann, wenn es sehr viele sind, die, sei es aus Pflicht, sei es aus Zwang und Furcht oder aus anderen Beweggründen, tatsächlich gehorchen. Wie viele müssen tatsächlich gehorchen, und wie viele von diesen müssen aus Pflicht gehorchen oder den Gehorsam in ihrem autonomen Gewissen und Rechtsgefühl billigen, damit wir von einem »positiven Recht' sprechen dürfen? Die Beantwortung dieser beiden Fragen hängt von der Verteilung der Kräfte in jedem einzelnen Fall ab. Der tatsächliche Gehorsam muß zweifellos bei einer tragfähigen Mehrheit vorhanden sein. Schwindet der bisher geübte Gehorsam bei einem größeren Teil der Bevölkerung, z.B. im Fall einer siegreichen Revolution, eines gelungenen Staatsstreichs oder der Beseitigung der bisherigen Machthaber durch einen auswärtigen Eroberer, so ist die Befehlsgewalt der bisherigen Machthaber, ihre »Kompetenz', positives Recht zu erzeugen, erloschen. Neue positive Rechtssätze bilden sich durch Massengehorsam gegenûbèr neuen Organen. Auch im Völkerrecht 47

Rudolf Laun, I.e. S. 51 ff.

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machen w i r die Anerkennung einer neuen Staatsgewalt oder kriegführenden Partei davon abhängig, daß sie auf einem bestimmten Gebiet die Ruhe, Sicherheit und Ordnung in einem gewissen Grade aufrecht erhält, mit anderen Worten, daß sie hier den Gehorsam einer tragfähigen Mehrheit findet. I n allen Fällen sind Übergänge zwischen dem Vorhandensein und dem Fehlen einer tragfähigen Mehrheit möglich. Daher gibt es Grade der Positivität, wie in allen Fragen der Tatsächlichkeit: ,natura non facit saltum'". Und weiter: 4 8 „Kompetenzhoheit ist... die vom autonomen Gewissen und Rechtsgefühl bejahte, in die Welt des Sollens erhobene tatsächliche Macht bzw. unter analogen Voraussetzungen wie oben die nach positivem Recht einer Person oder Personenmehrheit zustehende Fähigkeit -, nur befehlen zu dürfen und niemand gehorchen zu müssen, mithin die Fähigkeit, die eigene Kompetenz und die aller anderen Organe zu regeln. " „Die Kompetenzhoheit ist das superiorem non recognoscere der mittelalterlichen Autoren. Aber nach der hier vertretenen Lehre entscheidet nicht der Träger der Macht, ob er superiorem recognoscit oder nicht, sondern das autonome Gewissen und Rechtsgefühl der Gehorchenden." Letzten Endes geht Rudolf Laun von der festen Überzeugung aus, 49 daß „das Recht nicht in papierenen Gesetzen und Verträgen, auch nicht in Zuchthaus- und Höllenstrafe ist. Das Recht ist die Sittlichkeit, das Recht ist in den Herzen der Menschen. " Was in den Erlebnissen des Sollens lebendig wird, ist - nach der Meinung von Rudolf Laun50 - nicht der Verstand, nicht logisch überprüfbare Denktätigkeit, die subsumiert, sondern ein nicht weiter ableitbares und überprüfbares und auf keine einfachere Form mehr zurückführbares Gefühl, welches uns in unserem Innenleben Befehle gibt oder Werturteile über Gut und Böse begründet. Es handelt sich um ein Urerlebnis, wenn auch verstandesmäßige Subsumption manchmal ein solches Urerlebnis herbeiführen kann. Dies Urerlebnis ist nach Laun zugleich Tatsache und Inhalt eines Sollens, es ist einer jener Angelpunkte des Weltganzen, in denen Sein und Sollen zusammenfallen. Erst nachfolgende Abstraktion unterscheidet „Sollen" und „Sein" und w i r müssen diese Trennung vornehmen, da ohne sie Klarheit unserer Erkenntnis über das Sollen, über Sittlichkeit und Recht nicht möglich ist. VII. Ein bedeutender Vertreter der Gruppe der Denker, die mit Hilfe der Kategorien der Idealität die ganze Welt, und daher auch das Recht zu erklären versuchen, ist Georg Wilhelm Friedrich Hegel. 51 Kant kannte nur die 48

Rudolf Laun, I.e. S. 57f. Rudolf Laun, I.e. S. 28. 50 Rudolf Laun, I.e. S. 66f. 51 Siehe besonders folgende Schriften von Hegel: Phänomenologie des Geistes, 1807; Wissenschaft der Logik, 1812-1816; Enzyklopädie der philosophischen Wis49

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Wirklichkeit der Natur und sah nicht die Welt der Kultur. Im Gegensatz dazu umfaßt das hegelsche System die ganze Wirklichkeit, die volle Wirklichkeit des Geistes. Hegel verhält sich - in gewisser Hinsicht - zu Kant, wie Aristoteles zu Platon. 52 Bei Piaton ist es der scharfe Gegensatz zwischen der Welt der Ideen und der Welt der Sinnlichkeit, der Welt der Erfahrung, die ein mattes Bild der ersteren ist. Bei Aristoteles geht es um die Immanenz der Ideen in der Welt; die Wirklichkeit ist bei ihm wesentlich Wirklichkeit der Idee; in diesem Sinne ist Hegel ein Aristoteliker. 53 In der heg eischen Philosophie und Rechtsphilosophie gibt es keinen Platz für einen Dualismus von Sein und Geltung; in der praktischen Philosophie kennt er keinen Unterschied zwischen dem Sein und Sollen, zwischen der empirischen Wirklichkeit des Willens und der sittlichen Idee; für Hegel ist die sittliche Idee in dieser empirischen Wirklichkeit wirklich. Hegel strebt überhaupt nicht nach einem idealen Naturrecht, ihn interessiert das empirische Recht, das er in seiner Vernünftigkeit erfassen will; es geht ihm darum, den Staat zu begreifen als „Wirklichkeit der sittlichen Idee" und die Geschichte als einen Prozeß, in dem sich verschiedene Ideen und in ihnen die ewige Vernunft, der Geist verwirklichen. 54 Was das eigentliche Wesen des Rechts angeht, führt Hegel an: 5 5 „Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige, und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht, und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite Natur, ist." Hegel erklärt alles, also auch das Recht, mit Hilfe von Kategorien der absoluten Idealität. In der Dunkelheit seiner Ausführungen ist freilich nicht genügend klar, ob er doch die Realität des Rechts nicht respektiert, auch wenn diese schließlich i n die absolute Idealität ausmündet, ebenso wie in ihr alles in dieser Welt seine Begründung hat. Auch der Hegelsche Geist partizipiert selbstverständlich an der Idealität. Die prominenten absoluten Idealisten der Neohegelianischen Richtung Julius Binder in seiner dritten und Karl Larenz in seiner ersten Entwicklungsetappe - nehmen ausdrücklich Rücksicht nicht nur auf die Idealität, sondern auch auf die Realität des Rechts. senschaften im Grundrisse, 1817; Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, 1821; Sämtliche Werke, 3. Aufl., Stuttgart 1952. 52 Zum folgenden Julius Binder, Philosophie des Rechts, S. 65 - 84; ÜberwegOesterreich, Die deutsche Philosophie des X I X . Jahrhunderts und der Gegenwart, 12. Aufl., S. 73 - 99. 53 Nicolai Hartmann, Aristoteles und Hegel, Beiträge zur Philosophie des deutschen Idealismus, III, S. Iff.; Julius Binder, I.e. S. 65f. 54 Hegel, Philosophie des Rechts, Vorrede, S. 7 - 15; Julius Binder, I.e. S. S. 66. 55 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. Johannes Hofmeister, 1956, § 4, S. 28.

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Vor allem ist es Julius Binder, der sich in seinem Werk „ Grundlegung zur Rechtsphilosophie" aus dem Jahre 1935 als ein reiner Neohegelianer darstellt. Schon vorher (im Jahre 1931) hat Binder mit Busse und Larenz eine „Einführung in Hegels Rechtsphilosophie" herausgegeben. Binder versucht - im Geiste des absoluten Idealismus - die Wirklichkeit der Natur und die Wirklichkeit des geistigen Lebens als eine Einheit zu begreifen. Trotzdem es sich um verschiedene Stufen und Formen handelt, bemüht er sich mit Hilfe und Anwendung der Hegeischen dialektischen Methode, die Natur als den verwirklichenden Geist und den Geist als Natur, die zu sich selbst kam, zu begreifen. Wesen der Wirklichkeit ist der Geist. Auf allen Stufen seiner Verwirklichung ist der Geist ein und dasselbe, sein Wesen ist die Entwicklung; so enthält die Natur in sich den Geist als ihr Gesetz und ihr Leben, der Geist die Natur als seine Voraussetzung. 56 Der Geist, der sich in der Wirklichkeit und als Wirklichkeit gestaltet, ist die Idee, die als ewiges „Sichselbstwerden" keine Norm oder ewige Aufgabe, sondern eine schöpferische Macht ist. Der Gegensatz von „Sein" und „Sollen" wird als ein „dialektischer" begriffen, 57 d.h. als ein Gegensatz, der sich selbst aufhebt, „Sein" und „Sollen" sind erkenntnis-theoretisch als „Momente" des Selbstbewußtseins zu erfassen, i n denen die Einheit sowohl als die Zweiheit desselben zum Ausdruck kommt. „Der Sinn des Rechtes - als der Norm des Gemeinschaftslebens - führt unmittelbar den Charakter der Normativität oder Verbindlichkeit mit sich, und sein ,Sein' ist weder ein physisches noch ein psychisches Sein, sondern jenes eigenartige Gegenständlich- und Wirklichsein des Sinnes, das den Bestand des Sinnwerkes ausmacht. Die Geltung des Rechtes ist so weder ein bloßes Sein, sei es im Sinne der materialistischen Psychologie und Soziologie oder der ontologischen Auffassung Husserls, noch ein bloßes Sollen im Sinne der Zeitlosigkeit und des Regresses auf eine ,Ursprungsnorm' im Sinne Kelsens, sondern Norm und Zeitwirklichkeit, Geltungsanspruch und Geltungs bestand, Idee und Positivität in einem. Das Recht ,gilt', sofern es positiv, sofern es eine Zeitwirklichkeit ist, die als solche einen überzeitlichen Sinn - die Idee des Rechtes - verwirklicht." 5 8 Nach der Meinung von Karl Larenz 59 ist Hegel derjenige Philosoph, der die Notwendigkeit der Positivität des Rechtes aus dem Wesen der Idee erwiesen und zugleich doch das positive Recht auf die Rechtsidee gegründet hat. Zuerst in dem Aufsatze über „die wissenschaftlichen Behandlungsarten 56 Karl Larenz, Rechts- und Staatsphilosophie der Gegenwart, 2. Aufl., 1935, S. 109. 57 Dazu und zum folgenden Karl Larenz, Das Problem der Rechtsgeltung, 1929, S. 22 ff. 58 Karl Larenz, I.e. S. 26. 59 Karl Larenz, I.e. S. 26f.

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des Naturrechts" aus dem Jahre 1802. Dort wendet sich Hegel - wie Larenz feststellt - gegen die Kantisch-Fichtesche Ethik, weil sie das Sittliche nur in der Form der Abstraktion, als das Sollen, und nicht zugleich in seiner konkreten Wirklichkeit, als den objektiven sittlichen Geist eines Volkes, als einen historische, individuelle Gestalt kennt. In Sitte und Recht hat sich nach Meinung Hegels, 60 Binders und Larenz der lebendige sittliche Geist eines Volkes objektiviert, denn „die sittliche Lebendigkeit des Volkes ist gerade darin, daß es eine Gestalt hat, in welcher die Bestimmtheit ist", aber „absolut mit der Allgemeinheit vereint und durch sie belebt." Es läßt sich nicht bestreiten, daß in dieser Hegeischen Konzeption viel Wertvolles für das Erfassen des Wesens des Rechts enthalten ist. Hegel ist doch der Entdecker des objektiven Geistes. Trotzdem aber ist die letzte Begründung des Wesens des Rechts bei ihm und seinen Nachfolgern „absolut idealistisch". In seiner Rechtsphilosophie bezeichnet Hegel die Rechtsidee als „das, was an sich Recht ist." Der Kern des ganzen Rechtes ist also letzten Endes rein idealistisch - in vollkommener Einheit mit der Hegelschen Philosophie. Die ganze Welt wird als ein System der Vernunft begriffen. 6 ! Die Hegelsche und auch die Neuhegelianische Auffassung des Rechts ist daher die, welche das Recht mit Hilfe der Kategorien der Idealität zu erklären versucht. VIII. Ein Darsteller der Lösung des Wesens des Rechts mit Hilfe der Kategorie der reinen Idealität ist der Begründer der Schule der reinen Rechtslehre Hans Kelsen (neben Franz Weyr). Dabei denke ich an den Kelsen der Jahre 1911 bis vielleicht 1940,62 keineswegs aber an den Kelsen des Jahres 1965,63 wo man nicht mehr von dem alten, berühmten Begründer oder Mitbegründer der weltbekannten Schule sprechen kann, sondern vielmehr von 60

Hegel, Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie, Ausgabe Lasson, S. 404. Wilhelm Windelband - Heinz Heimsoeth, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, 1935, S. 478. 62 Siehe insbesondere: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 1911, 2. Aufl., 1923; Die Rechtswissenschaft als Norm- oder als Kulturwissenschaft, Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, 40. Jahrgang, 1916, S. 1181 ff.; Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, 1920; Der soziologische und der juristische Staatsbegriff; Rechtswissenschaft und Recht, Zeitschrift für öffentliches Recht, 3. Bd., 1922, S. 103ff.; Allgemeine Staatslehre, 1923; Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, 1928; Juristischer Formalismus und reine Rechtslehre, Juristische Wochenschrift, 58. Jahrg., 1929, S. 1723ff.; Der Staat als Integration, 1930; Reine Rechtslehre, 1. Aufl., 1934. 63 Hans Kelsen, Recht und Logik, Forum, Österr. Monatsblätter für kulturelle Freiheit, XII. Jahrg., 1965, S. 421 ff., 495ff.; Recht hat Legaz y Lacambra, wenn er feststellt, daß Hans Kelsen schon früher, d. h. bei seinem Aufenthalt auf amerikanischem Boden „aufhörte ein Kelsenianer zu sein" (zit. nach J. Prevault, La doctrine juridique de Kelsen, 1965, S. 59, und nach W.A. Tumanow, Bürgerliche Rechtsideologie 1975, S. 183). 61

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einem Anti-Kelsen mit seiner durchaus unrichtigen und wahrhaft tragischen Behauptung: „Kein Sollen, das eine Norm ist, ohne ein Wollen, dessen Sinn dieses Sollen ist. Keine Norm ohne einen normsetzenden Willen, d.h. keine Norm ohne eine normsetzende Autorität." Da Sollen ein Korrelat von Wollen ist, wie Kelsen mehrmals in dieser unglücklichen Abhandlung betont, kommt man zum Schluß: kein Sollen ohne einen Imperator. Mit diesem „Anti-Kelsen" haben w i r an dieser Stelle freilich nicht zu tun. Hier arbeitet man mit dem echten Kelsen seiner besten Jahre. Schon die Ausgangsposition der reinen Rechtslehre leidet an zwei Grundfehlern. Im System dieser Lehre gelten nämlich folgende Gleichungen: 64 Natur Geist

= =

Wirklichkeit Wert

= =

Sein Sollen

Die erste Gleichung ist falsch aus dem Grunde, daß nicht nur das anorganische und organische Sein, sondern auch das seelische und geistige Sein in die reale Welt gehören. Die zweite Gleichung ist falsch aus dem Grunde, da der Geist (der personale, objektive und objektivierte Geist) unter den Begriff des realen Seins fällt; es geht um ein geistiges Sein, welches ein reales Sein ist. Das Sollen als primäres Sollen - und nur an dieses denkt Kelsen - gehört in die Welt der Idealität, wogegen der Geist ein reales Sein ist. Der Wert deckt sich weder mit dem Sollen, noch mit dem Geist. Man kann sich dann nicht wundern, wenn Adolf Menzel in einer Polemik mit Kelsens Auffassung des Rechts argumentiert: 65 „Was nicht der Welt des Seins angehört, ist ein Nicht-Existierendes, also ein Nichts". Wenn auch diese Behauptung in ihrer Allgemeinheit nicht richtig ist, demonstriert sie doch die Schwäche der Kelsenschen Ausgangsposition. Das Gebiet der Natur umfaßt nach Kelsen nicht nur physische Phänomene, sondern auch psychische, individuelle, soziale; für das alles ist freilich nach Kelsen die Kategorie der Kausalität dominant und adäquat. Die Soziologie und Psychologie erscheinen daher Kelsen als Naturwissenschaften, was allerdings unhaltbar ist. Auch der Kelsensche Begriff des Lebens ist an der naturwissenschaftlichen Kausalität orientiert und ist für ihn (ein) „Stück der kausalgesetzlichen Natur und demnach als Gegenstand der Biologie und Psychologie etwas wesentlich Anderseitiges als der zeit- und raumlose, unter Normgesetzlichkeit stehende Geist, der Bedeutungsgehalt, Sinngefüge ist." 6 6 64

S. 47.

W. Ebenstein, Die rechtsphilosophische Schule der reinen Rechtslehre, 1938,

65 Adolf Menzel, Kelsens allgemeine Staatslehre und die Soziologie, Jahrbuch für Soziologie, vol. II, 1926, S. 261. 66 Hans Kelsen, Der Staat als Integration, 1930, S. 23; W. Ebenstein, I.e. S. 48.

14 Kubeä

210

. e i l n e Erklärung des Wesens des Rechts

Alle diese Behauptungen sind ganz unhaltbar. Die Soziologie und die Psychologie sind keine rein naturwissenschaftlichen Disziplinen und man kommt nicht im entferntesten in ihnen mit der Kausalität als der einzigen Kategorie der Kausalität aus. Für das organische Sein ist die Kategorie der Kausalität weder typisch noch dominant. Der Geist und mit ihm das Recht sind keinesfalls zeitlos. Im Gegenteil! Der Geist und mit ihm das Recht entstehen, leben und gehen in der Zeit unter; sie sind reale Gebilde. Hier überall rächt sich für Kelsen und seine ganze Schule der Umstand, daß er das Recht i n eine Sphäre zeitloser Idealität piaziert und glaubt, daß er hier mit Erfolg den Husserlschen Dualismus von Noësis und Noëma, von natürlichem Akt und Bedeutung, von psychischem Vorgang und geistigem Gehalt benutzen kann. Diesen begrifflichen Dualismus von Noësis und Noëma hat Edmund Husserl in seinen „Logischen Untersuchungen" entwickelt und Kelsen verwendet diese Husserlsche Konstruktion, um mit ihrer Hilfe die Natur und das Recht unterscheiden zu können. 67 Wenn man einen Rechtstatbestand, etwa einen Parlamentsbeschluß, ein richterliches Urteil, ein Delikt usw. analysiert, so kann man daran - nach Kelsen - zwei Elemente unterscheiden. 68 Das eine ist ein in Zeit und Raum vor sich gehender äußerer Vorgang. Das andere der diesem Vorgang innewohnende spezifische Sinn. Weder der äußere Vorgang, noch der ihm beigelegte subjektive Sinn machen einen Akt zu einem Rechtsakt. 69 Der äußere Vorgang als ein in Raum und Zeit sich abspielendes Geschehen, als ein Stück Natur ist Gegenstand kausal-wissenschaftlicher und nicht normativer, rechtlicher Erkenntnis. Der subjektive Sinn kann, muß aber nicht mit dem objektiven Sinn des Aktes zusammenfallen. Was den äußeren Vorgang erst zu einem Rechtsakt macht, ist sein objektiver, spezifisch-juristischer Sinn. Diese rechtliche Bedeutung erhält dieser äußere Vorgang durch eine Norm, die sich auf ihn bezieht, so daß dieses äußere Geschehen nach dieser Norm gedeutet werden kann. Die Norm fungiert als Deutungsschema, als Selektionsprinzip. Hier entsteht die Frage, die man an Kelsen und seine ganze Schule stellen muß: ist durch diese Konstruktion das Wesen des Rechts wenigstens annähernd erfaßt? Bleibt man nicht mit dieser, von Husserl ausgeliehenen Konstruktion vom äußeren Akt, der sich in Raum und Zeit abspielt, und vom Sinne, der für das Ganze spezifisch ist, nur an der Oberfläche des Phänomens des Rechts haften, ja betont man hier nicht etwas, worin das Wesen des Rechts überhaupt nicht besteht? Und ist es vom Kelsenschen Ausgangspunkt selbst nicht eine Inkonsequenz, wenn er den Vorgang, wie die Rechts67

Zum folgenden William Ebenstein, I.e. S. 48. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 1934, S. 2ff.; derselbe, Rechtswissenschaft und Recht, S. 161; zum folgenden William Ebenstein, I.e. S. 48f. 69 Zum folgenden William Ebenstein, I.e. S. 50. 68

§ 37. Erklärung mit Hilfe der Idealität

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norm in der äußeren Welt entsteht, und den Sinn der schon fertigen Rechtsnorm nebeneinander stellt? Soll er nicht umgekehrt untersuchen, ob die schon fertige Rechtsnorm in die Sphäre des Sollens gehört, weiters was dieses Sollen überhaupt ist, und sich die Grundfrage stellen, ob das Recht doch nicht in die Welt der Idealität, sondern in die der Realität gehört. Auf alle diese Fragen gibt Kelsen keine triftige Antwort. Mit Hilfe von Husserls Dualismus Noësis und Noëma in Kelsens Anwendung auf die Problematik des Rechts wird das Wesen des Rechts nie erfaßt werden können. Im Gegenteil! Das einheitliche, wenn auch sehr komplexe Phänomen des Rechts spaltet sich in dieser Art auf merkwürdige Weise, wobei der erste „Teil", d.h. jener „äußere A k t " , als ein in Raum und Zeit sich abspielendes Geschehen, überhaupt keinen Bestandteil der schon fertigen Rechtsnorm und es handelt sich doch um sie - bildet, sondern einen Teil des Vorgangs (Prozesses), in dem die Rechtsnorm erst entsteht. Der zweite „Teil", jener „spezifische Sinn", ist etwas so unbestimmtes und von Kelsen nicht Erklärtes, da hier das Unbekannte (sc. das Wesen des Rechts) mit Hilfe von etwas noch unbekannteren (dem „spezifischen Sinn") zu erklären versucht wird. Ein weiteres Rätsel ist die Kelsensche Sphäre des Sollens. Kelsens rein „formalistisches" Erfassen des Sollens ist unhaltbar; von wo kommt sein „Sollen" wird nicht erklärt. Und noch weiter: Wie kann man überhaupt erklären, daß das Recht, das doch entsteht, lebt und untergeht, in die ideale Sphäre des zeitlosen Sollens gehören soll? Näher zur Lösung steht der berühmte Schüler von Kelsen Alfred Verdross, wenn er feststellt, 70 daß das Recht mit seinem Haupte über sich hinaus auf die Welt der Werte weist, aus der es erst seine normative Geltung herleiten kann; mit seinen Füßen dagegen steht es auf dem festen soziologischen Boden des tatsächlichen Verlaufes menschlicher Handlungen. Es w i r d sich zeigen, daß das Recht als Phänomen in die reale Welt gehört und daß es sich um eine „sekundär abgeleitete Normativität" handelt. Diese sekundär abgeleitete Normativität entsteht im Wege der Objektivationen des objektiven Rechtsgeistes. Das Recht ist in erster Reihe - nicht ausnahmslos, weil es auch in die niederen Seinsschichten eingreift - objektivierter Rechtsgeist. Der objektive Rechtsgeist ist mit der primär abgeleiteten Normativität ausgestattet, und zwar infolge der spezifischen Beziehung dieser Sphäre des realen geistigen Seins zur Welt der Idealität, zur Welt der

70 Alfred Verdross, Die allgemeinen Rechtsgrundsätze als Völkerrechtsquelle. Zugleich ein Beitrag zum Problem der Grundnorm des positiven Völkerrechts, Gesellschaft, Staat und Recht, Festschrift Hans Kelsen zum 50. Geburtstage gewidmet, hrsg. A. Verdross, 1931, S. 358; derselbe, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, 1926, S. 2 ff.

14*

. e i l n e Erklärung des Wesens des Rechts

212

Normideen, u n d besonders z u r N o r m i d e e des Rechts, die ein reines Sollen darstellt. H i e r h e r gehört auch der M i t b e g r ü n d e r der Schule der Reinen Rechtslehre Franz Weyr,

71

der einige G r u n d g e d a n k e n der k ü n f t i g e n „ n o r m a t i v e n Theo-

r i e " schon d r e i Jahre v o r d e m Erscheinen v o n Kelsens „ H a u p t p r o b l e m e der Staatsrechtslehre" v e r ö f f e n t l i c h t e . 7 2 A u c h er, so w i e seine Schüler u n d Anhänger, besonders Adolf Prochâzka™

u n d Zdenëk Neubauer 74

versuchten

das Wesen des Rechts m i t der Kategorie der I d e a l i t ä t z u erfassen. N a c h W e y r ist die W i r k l i c h k e i t eine ausschließlich n a t u r w i s e n s c h a f t l i c h kausale Kategorie u n d gegen diese W i r k l i c h k e i t stellt er als einen v o l l k o m m e n selbständigen Gegenstand - die N o r m . 7 5 „ D i e N o r m ,gilt' i n gleicher Weise w i e die N a t u r »ist'. D i e ,Geltung' i n der W e l t des Sollens ist also eine der ,Existenz' ( i m naturwissenschaftlichen Sinne, d.h. W i r k l i c h k e i t ) i n der W e l t des Seins v o l l k o m m e n adäquate begriffliche Kategorie. Nachweisen zu w o l l e n , daß die N o r m „ g i l t " , ist ebenso u n m ö g l i c h , j a streng genommen 71 Weyrs rechtsphilosophische Hauptschriften und Abhandlungen: Zâklady filosofie prâvni (Grundlagen der Rechtsphilosophie), 1920; Ο metodë sociologické (Über die soziologische Methode), 1927; Teorie prâva (Theorie des Rechts), 1936; Uvod do studia prâvnického (Einführung in das juristische Studium), 1946; La théorie normative, Vëdeckâ roéenka prâv. fak. M. univ. (Wissenschaftliches Jahrbuch der Juristischen Fakultät der Masaryk-Universität), 4. Bd., 1925, S. 3ff.; Ötyfi kapitoly ζ prâvni noetiky (Vier Kapitel aus der Rechtsnoetik), Òasopis pro prâvni a stâtni vëdu, 12 Bd. 1929, S. Iff.; Pojem positivnosti prâva (Der Begriff der Positivität des Rechts), Vëdeckâ roôenka, prâv. fak. M. univ. 10 Bd., 1931, S. 17ff.; Reine Rechtslehre und Verwaltungsrecht, Festschrift für Kelsen, 1931, S. 366 ff., La notion „Processus juridique" dans la théorie du droit, Studi filosofico - giuridici dedicati al Prof. Giorgio del Vecchio, 1931, 2. Bd., S. 414ff.; Natur und Norm, Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts, 6. Jahrg., 1931/32, S. 12ff.; Über zwei Hauptpunkte der Kelsenschen Staatsrechtslehre, Grünhuts Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart, 40 Bd. 1913, S. 175ff.; Rechtsphilosophie und Rechtswissenschaft, Zeitschrift für öffentliches Recht, 2 Bd., 1921, S. 671ff.; Die Rechtswissenschaft als Wissenschaft von Unterschieden, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 28 Bd., 1935, S. 364ff.; vgl. Vladimir Kübel·, Reine Rechtslehre und kritische Ontologie in der Tschechoslowakei, Österr. Zeitschrift für öffentliches Recht 25,1974, S. 305ff. 72 Franz Weyr, Pfispèvky k teorii nucen^ch svazkû (Beiträge zur Theorie der Zwangsverbände), 1908; derselbe, Zum Problem eines einheitlichen Rechtssystems, Archiv f. öff. Recht, 23 Bd. 1908, S. 529ff. 73 Adolf Prochâzka, Normativni teorie a tvorba prâva (Die normative Theorie und die Rechtsschöpfung), Festschrift für Englis, S. 436ff.; derselbe, Pfispëvek k nové konstrukci civilniho sporného procesu (Ein Beitrag zur neuen Konstruktion des strittigen Zivilprozesses), Vëdeckâ roöenka prâv. fak. M. u. X, S. 198ff.; derselbe, Tvorba prâva a jeho nalézâni (Rechtsschöpfung und Rechtsfindung), 1927; èalobni duvod (Der Klagegrund), 1932; De la norme juridique: Norme et ensemble de normes, Travaux du I X e congrès international de philosophie XII, 1937, Paris; derselbe, Norma a skutkovâ podstata (Norm und Tatbestand), Festschrift für Kailab, 1939, S. 245ff. 74 Zdenëk Neubauer, Pojem stâtniho ùzemi (Der Begriff des Staatsgebietes), 1933; derselbe, Problém vule ν poznâvâni normativnim a teleologickém (Das Problem des Willens in dem normativen und teleologischen Erkennen), Festschrift für Engli§, S. 422ff.; derselbe, Norm und Wille, Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts, 12. Jahrg., 1938, S. I f f . 75 Franz Weyr, Prâvni vëda a vëda ο prâvu (Die Rechtswissenschaft und die Wissenschaft vom Recht), Öasopis pro prâvni a stâtni vëdu XVIII, 1935, S. 84ff.

§37. Erklärung mit Hilfe der Idealität

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widersinnig, wie der Versuch eines Beweises, daß die Natur ,ist', d.h. existiert." 7 6 Die Eigenschaft der „Wirklichkeit" kann nie einer Norm als solcher zugesprochen werden, sondern nur der Vorstellung einer Norm im menschlichen Intellekt, also einem psychischen Faktum, welches gegebenenfalls als Motiv (Ursache) „ w i r k t " . 7 7 „Positivität der Norm in diesem Sinne, d.h. als Beziehung zwischen den beiden Welten des Seins und des Sollens gedacht, und Geltung der Norm im Sinne einer der kausalen Existenz analogen (aber nur analogen! ), normativen Existenz, dürfen nicht vermengt werden, da sonst der noetische Ausgangspunkt des kritischen Idealismus aufgegeben wäre." 7 8 Nach Adolf Prochâzka 79 ist die Norm (die Geltung) überhaupt nicht in der Zeit situiert, sondern nur ihr bedingter Tatbestand, also diejenige Leistung bzw. das menschliche Verhalten, das nach der Norm sein soll. Die Norm, bzw. die Geltung (das Sollen), ist ewig, besser gesagt, zeitlos: sie entsteht nicht, geht nicht unter und ändert sich nicht. Sie konkretisiert sich aber in den Leistungen, zu denen die Subjekte verpflichtet und welche durch die Zeit und den Raum determiniert sind. Zdenëk Neubauer ist der Meinung, 80 daß es trotz des noetischen Dualismus (Kausalität-Normativität), bzw. Trialismus (Kausalität-NormativitätTeleologie) notwendig ist, die Voraussetzung der Einheitlichkeit, bzw. der Identität des Erfahrungsobjekts zu akzeptieren, das wir durch verschiedene Erkenntnisstandpunkte erkennen. Er fragt nach einem Objekt, das vom kausalen, sowie auch vom normativen Standpunkt aus gesehen wird. Dieses Objekt sieht er nicht in der ganzen Welt, in der ganzen Natur, in der das Kausalgesetz herrscht, sondern nur in einem einzigen Ausschnitt aus dieser Welt, nämlich im menschlichen Willen. Der Wille ist nach Neubauer dasjenige Phänomen, das wir einmal kausal und zum zweitenmal normativ erkennen. Neubauer gelangt dann zur Vorstellung eines nicht persönlichen, reinen Wollens, das am besten durch den Ausdruck „Sollen" charakterisiert ist. „So bildet das Willensprodukt eine vom Subjekt jenes ursprünglichen Willens abstrahierte, d.h. also eine irgendwie entpersönlichte Vorstellung. Die menschliche Sprache schuf für derartige fixierte und eventuell verallgemeinerte Produkte des Willens keinen einheitlichen Ausdruck. Je nach dem 76 Franz Weyr, Natur und Norm, jetzt in: Rudolf Aladâr Métall (Hrsg.), 33 Beiträge zur Reinen Rechtslehre, 1974, S. 540 ff. 77 Franz Weyr, I.e. S. 541. 78 Franz Weyr, I.e. S. 541. 79 Adolf Prochâzka, Tvorba prâva a jeho nalézânl (Rechtsschöpfung und Rechtsfindung), S. 98f. 80 Zdenëk Neubauer, Problém vule ν poznâvânl normativnlm a teleologickém (Das Problem des Willens im normativen und teleologischen Erkennen), I.e. S. 422f.; derselbe, Pojem stâtniho ùzeml (Der Begriff des Staatsgebietes), S. 43ff.; vgl. Vladimir Kubes, Prâvni filosofie X X . stoletl (Die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts), S. 76.

214

. e i l n e Erklärung des Wesens des Rechts

verschiedenen Inhalt und der verschiedenen Anwendung sprechen w i r einmal von Entscheidung, Entschluß, Vorsatz, ein anderes Mal von Grundsatz, Prinzip, Maxime, wieder ein anderes Mal von einem Postulat, Imperativ, Norm (Gebot, Gesetz, Verordnung) usw. Alle diese Termini haben, wenn sie auch recht verschiedene Vorstellungen und Begriffe decken, das Gemeinsame, daß sie verschiedene Gattungen eines solchen fixierten, allenfalls verallgemeinerten und mehr oder weniger entpersönlichten Willensprodukt bezeichnen. Worin besteht der vollkommen entpersönlichte Willensinhalt im Bewußtsein des Menschen? In der Vorstellung dessen, was gewollt ist, begleitet von der Vorstellung eines unpersönlichen Strebens nach diesem gewollten Ergebnis. Dieses Streben ist allerdings schon vom psychologischen Wollen ganz verschieden. Es beruht nämlich in der Vorstellung, in der vom ursprünglichen, psychologischen Willensvorgang nur das Bewußtsein, auf etwas hinzuzielen, bleibt, bei vollständiger Außerachtlassung des wollenden Individuums und aller übrigen Faktoren des psychologischen Wollens (Intensität, Motive usw.). Und diese Vorstellung eines unpersönlichen, ,reinen' Wollens - soweit wir überhaupt noch vom Wollen sprechen können81 - erfaßt am passendsten der Ausdruck ,sollen' bzw. - in einem bestimmten Zusammenhang - der Begriff Pflicht. Wie w i r sehen, müssen wir vom psychologischen Phänomen Wille ausgehen, wenn w i r diese Vorstellung ,Sollen' psychologisch, also genetisch erklären wollen. Sobald dieses ,Sollen' zum Bestandteil des Urteils, daß etwas sein ,soll', wird, können w i r es auch rein logisch auffassen, und von diesem logischen Standpunkt aus zeigt sich dieses ,Sollen' als ein durchaus primäres, nicht abgeleitetes Gedankenelement, das w i r begrifflich weiter nicht zu bestimmen brauchen; etwa ungefähr so, wie die Mathematik die Einheit der natürlichen Zahlenreihe, die Geometrie den Punkt usw. nicht definiert. Für diese, d.h. die logische Anschauung ist dieses ,Sollen' ein grundlegender Formalbegriff, eine logische Kategorie, eine Form, die w i r mit jedem Inhalt ausfüllen können." 82 Realistischer sieht diese ganze Problematik der erste normative Theoretiker auf dem Boden des Zivilrechts Jaromir Sedlâèek .83 Als Zivilist steht er viel dringlicher vor der Hauptfrage der dogmatischen Rechtswissenschaft, und zwar vor dem Problem der Interpretation, als beide Begründer der 81

Von mir hervorgehoben. Das ist eben die Frage! Zdenék Neubauer, Norm und Wille, jetzt in: Rudolf Aladâr Metall, 33 Beiträge zur Reinen Rechtslehre, 1974, S. 293f. 83 Jaromir Sedlâèek , Obëanské prâvo ëeskoslovenské. Vâeobecné nauky (Das tschechoslowakische bürgerliche Recht, Allgemeine Lehren), 1931; derselbe, Interprétation et application de la règle du droit, Revue Internationale de la Théorie du Droit, 7. Jahrg. 1932/33, S. 180ff.; derselbe, Résumé du problème de la règle du droit, notamment du contrat, Vëdeckâ roëenka prâv. fak. M. u. (Wissenschaftliches Jahrbuch der juristischen Fakultät der Masaryk Universität), 4. Bd., 1925, S. 40ff.; derselbe, I l concetto realistico ed i l concetto normologico della norma giuridica, Rivista internazionale die filosofia del diritto, 13. Jahrg., 1933, S. 153ff. 82

§38. Vermittelnde Erklärungen des Wesens des Rechts

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Reinen Rechtslehre Hans Kelsen und Franz Weyr, deren Hauptfach das Verfassungsrecht war, wo das Problem der Interpretation doch nicht so scharf hervortritt, wie es im Privatrecht mit seiner Tausende von Jahren alten Tradition ist. Unter dem Einfluß von Kants kritischer Philosophie, deren großer Kenner gerade Sedlâèek war, besonders unter dem Einfluß der „ K r i t i k der Urteilskraft", wo Kant die Brücke zwischen der Welt des Seins und der Welt des Sollens auszubauen versuchte und diese Brücke in der Teleologie gefunden hat, findet auch Sedlâcek 84 den Ausgangspunkt bei der Lösung des Interpretationsproblems in der Teleologie. So kommt Sedlâëek zum Inhalt der Norm, und der Inhalt spielt in seiner ganzen Lehre eine bedeutende Rolle. Bei ihm kann man nicht mehr sagen, daß er das Wesen des Rechts als etwas erblickt, was in die Welt der reinen Idealität gehört. 85 § 38. Vermittelnde Erklärungen des Wesens des Rechts I. Zwischen beiden Gegenpolen, zwischen dem linken und rechten Idealtypus, d. h. zwischen denen, für welche das Recht nichts anderes ist als eine Wirklichkeit, die man in Raum, Zeit und nach dem Gesetz der Kausalität begreifen muß, und denen, die es in die Welt der Idealität einreihen, gibt es eine lange Reihe von Auffassungen, die zwischen diesen entgegengesetzten Idealtypen zu vermitteln versuchen. Hierher gehört vor allem die Auffassung der Südwestdeutschen, neukantischen rechtsphilosophischen Schule (Emil Lask, Gustav Radbruch u.a.m.). Den größten Einfluß auf sie hatte besonders die Philosophie von Wilhelm Windelband 1, Heinrich Rickert 2 und Emil Lask. 3 In der Abhandlung „Vom 84 Jaromir Sedlâèek, Obëanské prâvo ëeskoslovenské. VSeobecné nauky (Das tschechoslowakische bürgerliche Recht. Allgemeine Lehren), S. 25 ff. 85 In dieser Richtung, und zwar unter entscheidendem Einfluß von Jaromir Sedlâèek ging sein Schüler und Nachfolger Vladimir KubeS mit seiner Auffassung, daß das Recht ein Inbegriff (ein System) der Normen ist, die aus der hypothetischen höchsten Norm abgeleitet sind, durch besondere Organe festgesetzt sind und als ein Ganzes mit organisiertem Zwang und gewisser Faktizität sich auszeichnen (Smlouvy proti dobrym mravum - Verträge gegen die guten Sitten), 1933; derselbe, Nemoènost plnënl a prâvnl norma (Die Unmöglichkeit der Leistung und die Rechtsnorm), 1938; derselbe, Prâvnl filosofie X X . stoletl (Die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts), 1947, S. 50ff.; derselbe, Norma ν prâvnl vëdë (Die Norm in der Rechtswissenschaft), Sociologickâ revue VII, 1936, S. 182ff. 1 Wilhelm Windelband, Präludien 1884, 7. u. 8. Aufl., 1921; Geschichte und Naturwissenschaft, 1894, 3. Aufl., 1904; Über Willensfreiheit, 1904, 2. Aufl., 1905; Prinzipien der Logik, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 1912; Einleitung in die Philosophie, 1914, 2. Aufl., 1920. 2 Heinrich Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 1899, 6. u. 7. Aufl., 1936; Vom Begriff der Philosophie, Logos 1,1910; Allgemeine Grundlegung der Philosophie, System der Philosophie, 1,1921; Grundprobleme der Philosophie, Methodologie, Ontologie, Anthropologie, 1934; Die Logik des Prädikats und das Problem der Ontologie, Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaft, 1930/31. 3 Emil Lask, Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre, Gesammelte Schriften, Bd. II, hrsg. Eugen Herrigel, 1923; Die Lehre vom Urteil, ibid.; Rechtsphilosophie, Gesammelte Schriften Bd. I, 1923.

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. e i l n e Erklärung des Wesens des Rechts

Begriff der Philosophie" 4 und in seinem System5 unterscheidet Rickert drei Gebiete des Seins (im weiteren Sinne): 1. die Welt der Wirklichkeit, 2. das Reich der Werte, 3. das Reich der Bedeutungen (des Sinnes). Was das Reich der Werte betrifft, ist die Seinsweise der Werte die Art ihrer Geltung; es handelt sich um ein besonderes Reich. Aufgabe der Philosophie ist es, das Reich der Werte zu untersuchen. Die Philosophie soll aber noch beide Reiche, das Reich der Wirklichkeit und das Reich der Werte in gewisse Beziehung zueinander stellen. Dadurch kommt man zum dritten Reich, dem Reich des Sinnes (der Bedeutung), das ein verbindendes Mittelglied zwischen dem Reich der Wirklichkeit und dem der Werte bildet. Rickert findet es in Wertungsakten, die nur eine Stellungnahme zu den absoluten Werten bedeuten. Dieses Wesen der Wertung nennt Rickert „ihren Sinn". So entsteht das Reich des Sinnes als vermittelndes Glied zwischen dem Reich der Wirklichkeit und dem Reich der Werte. Der Sinn, den der Akt des Wertens hat, ist kein bloßes psychisches Sein, sondern zielt über dieses Sein zu Werten hin. Die Auslegung des Sinnes ist daher weder die Feststellung irgendeines Faktums, noch ein Verständnis des Wertes, sondern eine Stellungnahme des Subjekts mit Rücksicht auf die Bedeutung für den Wert, eine gewisse Beziehimg zu dem, was gilt. Während bei dem Marburger Neukantianismus, ebenso übrigens wie schon bei Kant, kein geeigneter Platz für die Geisteswissenschaften war, 6 kann man bei Rickert und bei der ganzen Südwestdeutschen Richtung große Anstrengungen beobachten, der Mannigfaltigkeit des kulturellen und geistigen Lebens gerecht zu werden. Die Südwestdeutsche Schule - ebenso übrigens wie der Marburger Neokantianismus - sind der grundlegenden Auffassung, daß der Ausgangspunkt, die Methode, den Gegenstand bestimmt. Wenn unsere Betrachtungsweise wertfrei und generalisierend ist, sehen wir in der Wirklichkeit die Natur mit ihren Naturgesetzen. Wenn unsere Betrachtung an das Besondere, Individualisierende, an das Wertbeziehende zielt, sehen w i r die Kultur. 7 Das entscheidende ist die Beziehung zu Werten. In der Auffassung des Südwestdeutschen Neokantianismus ist die Kulturwissenschaft eine Betrachtung der Wirklichkeit, die eine Beziehung zum Wert hat. 4

Heinrich Rickert, Vom Begriff der Philosophie, Logos I. Heinrich Rickert, System der Philosophie!; dazu Ueberweg-Österreich, Die deutsche Philosophie des X I X . Jahrhunderts und der Gegenwart, 12. Aufl., S. 458f. 6 Zum folgenden Aster, Philosophie der Gegenwart, S. 38 - 41. 7 Heinrich Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6. u. 7. Aufl., 1926, S. 55ff.; derselbe, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 5. Aufl., 1920; dazu Karl Larenz, Rechts- und Staatsphilosophie der Gegenwart, S. 6f.; Ueberweg-Österreich, I.e. S. 548f.; Franz Böhm, Die Philosophie Heinrich Rickerts, KantStudien X X X V I I I , 1933, S. 8f.; Alster, I.e. S. 38ff. 5

§38. Vermittelnde Erklärungen des Wesens des Rechts

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In dieser Südwestdeutschen neokantischen Philosophie ist die Rechtsphilosophie Emil Lasks 8 gegründet. Das Recht kann man entweder als einen realen Kulturfaktor, als soziales Geschehen beobachten, oder als einen Inbegriff von Bedeutungen (es handelt sich um sein „dogmatisches Wesen") untersuchen. 9 Lask stellt fest, 10 daß die Jurisprudenz - ebenso wie die Philosophie - als ihr Objekt nichts Existierendes hat, sondern nur das, was eine Bedeutung, einen Sinn hat, nicht das Sein, sondern das Sollen. 11 Während aber in der Philosophie dieser Sollenscharakter aus dem absoluten Wert stammt, für den keine empirische Autorität existiert, hat er in der Jurisprudenz seinen formalen Grund in der positiven Anordnung des gesellschaftlichen Willens der Gemeinschaft. Das Recht muß man 1 2 als das Reich reiner Bedeutungen begreifen, und sie von den realen Trägern, in denen es erscheint, unterscheiden, und das auch dort, wo wir an eine konkrete, in gewisser Zeit geltende Rechtsordnung denken. Lask ist überzeugt 13 , daß w i r mit dem Dualismus von Sein und Sollen, der Welt der Natur und der Welt der Normen, mit dem Dualismus von Wirklichkeit und Wert nicht auskommen, sondern daß es hier ein drittes Reich gibt, und zwar das Reich der Kultur. Der Begriff des Rechts ist als Wirklichkeit, die zur Idee des Rechts zielt, definiert. II. In diese Schule gehört auch der vornehme Rechtsphilosoph Gustav Radbruch. „Recht ist Kulturerscheinung, d.h. wertbezogene Realität ... Recht kann ungerecht sein ..., aber es ist Recht nur, weil es den Sinn hat, gerecht zu sein." 14 Das Recht ist eine Wirklichkeit, die den Sinn hat der Rechtsidee zu dienen. Die Idee des Rechts ist ein Wert, das Recht selbst eine Kulturerscheinung. 15 „Der Begriff des Rechts verhält sich zur Idee des Rechts wie das Sein zum Sollen. Recht ist eine Seinstatsache; dennoch läßt sich der Rechtsbegriff nicht induktiv empirisch aus den Rechtserscheinungen ableiten, denn dazu müßten diese Rechtserscheinungen zunächst als ,Rechts'erscheinungen erkannt sein. Der Rechtsbegriff ist also apriorischer Natur und kann nur deduktiv gewonnen werden. - Das Recht ist eine Kulturerscheinung, der Rechtsbegriff ein Kulturbegriff. Kulturbegriffe aber sind weder Wertbegriffe, noch sind sie reine Seinsbegriffe. Sie sind vielmehr ,wertbezogene' Begriffe". 16 „Recht (ist) der Inbegriff der Seinstatsachen, 8

Emil Lask, Rechtsphilosophie, Gesammelte Schriften, Bd. I, 1923, S. 275f.; vgl. Karl Larenz, I.e. S. 67f. 9 Emil Lask, I.e. S. 311 f. 10 Emil Lask, I.e. S. 314. 11 Dazu und zum folgenden Emil Lask, I.e. S. 314ff. 12 Emil Lask, i.e. S. 318. 13 Emil Lask, I.e. 14 Gustav Radbruch, Rechtsphüosophie, 6. Aufl., 1963, § 1, § 3. Nr. 9, Anhang 4, III. 15 Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl., 1932, S. 25. 16 Gustav Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1959, S. 33.

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

die den Sinn haben, Gerechtigkeit zu verwirklichen, gleichviel ob sie Gerechtigkeit erreicht oder verfehlt haben; Recht ist, was den Sinn hat, die Rechtsidee in die Wirklichkeit umzusetzen. Der Rechtsbegriff ist an der Rechtsidee orientiert. Die Rechtsidee geht dem Rechtsbegriff logisch voraus. " 1 6 a Das Recht muß - im Sinne der Lehre von Gustav Radbruch 17 - 1. eine Wirklichkeit sein, z.B. die empirische Gestalt eines Gesetzes oder einer Gewohnheit haben, also positiv sein; 2. sich als Verkörperung der Rechtsidee über die übrige Wirklichkeit wertend und fordernd erheben, also normativ sein; 3. als gewollte Verwirklichimg der Gerechtigkeit das menschliche Zusammenleben regeln, also sozialer Natur sein; 4. um der erstrebten Gerechtigkeit willen Gleichheit für alle setzen, die es angeht, also genereller Natur sein. - „So kann also das ,Recht' definiert werden als der Inbegriff genereller, positiver Normen für das soziale Leben." Dieser Schule zuzurechnen sind auch beide hervorragenden tschechischen Rechtsphilosophen Jaroslav Kailab 18 und BohuS Tomsa 19. Kailab stand unter dem philosophischen Einfluß von Wilhelm Windelband und besonders Heinrich Richert, aber auch die französische Philosophie, in erster Reihe Henri Bergson, ist in den Arbeiten Kallabs bemerkbar. Er geht von der bekannten Werttheorie aus und unterscheidet den Wert der Wahrheit als Bedingung der Erkenntnis, 20 den Wert der Schönheit als Bedingung des ästhetischen Einvernehmens und den Wert des Guten als Bedingung des objektiven Schaffens. Wirklichkeit ist für ihn ein Substrat der menschlichen Erfahrung (der Erlebnisse), das übrigbleibt, wenn w i r von den Erkenntnisformen abstrahieren. Die „Wirklichkeit" spielt bei Jaroslav Kailab eine ähnliche Rolle wie Kants „Ding an sich". Diese Wirklichkeit kann man erkennen, wenn man sie in den Formen der Erkenntnis denkt. Das, was ist, kann ich nur in der Form eines Urteils denken und ausdrücken. Das, was sein soll, kann ich nur in der Form der Norm denken und ausdrücken. Das Urteil ist die spezifische Form einer Antwort auf die Frage, was ist. Die Norm ist die spezifische Form einer Antwort auf die Frage, was sein soll. 16a

Gustav Radbruch, I.e. S. 34. Gustav Radbruch, I.e. S. 34. 18 Jaroslav Kailab, tJvod ve Studium metód prâvnick^ch, I, II. (Einführung in das Studium der juristischen Methoden I u. II., 1920 - 1921); derselbe, Prâvni vëda a vëda ο prâvu (Die Rechtswissenschaft und die Wissenschaft vom Recht), Öasopis pro prâvni a stâtni vëdu, XVIII, 1935, S. 32Iff.; derselbe, Nëkolik poznâmek k Weyrovu spisu Teorie prâva (Einige Bemerkungen zu Weyrs Schrift Theorie des Rechts), Casopis pro prâvni a stâtni vëdu, X X , 1937, S. 137ff. 19 Bohuä Tomsa, Moderni italskâ prâvni filosofie (Moderne italienische Rechtsphilosophie), 1921; derselbe, Die Idee der Gerechtigkeit und des Rechts in der griechischen Philosophie, 1923; derselbe, Nauka ο prâvnich vëdâch. Zâklady prâvni méthodologie (Die Lehre über die Rechtswissenschaften. Grundlagen der Rechtsmethodologie), 1946. 20 Jaroslav Kailab, Ûvod (Einführung) I, S. 60ff., 71ff., 74ff. 17

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Eine Erkenntnis vom Sollen kann ich nur in der Form der Norm ausdrücken, aber nicht jede Norm ist eine Erkenntnis über Sollen. Sie kann ein Ausdruck der Willkür, der Gewalt usw. sein. 21 Was der Norm den Sinn einer Norm gibt, ist also nicht die Form der Norm, sondern ihr Inhalt, nämlich daß es das Ergebnis einer Wahl zwischen möglichen Antworten auf die Frage, was sein soll, ist, und zwar einer Wahl, bei der es dem Erkennenden um Bildung einer allgemeingültigen Erkenntnis geht. Man kann die Norm zum Gegenstand unserer Erkenntnis machen; wir sagen von ihr, daß sie ist. Das ist, wenn es sich um Rechtsnormen handelt, Weyrs Wissenschaft vom Recht. Oder wir versuchen selbst eine Antwort zu geben auf die Frage, was sein soll, also eine objektive Norm zu bilden; das ist Kallabs Rechtswissenschaft. Während Weyr die Wissenschaft nach dem Gegenstand (WirklichkeitNorm) unterscheidet, macht Kailab die Teilung der Wissenschaften von den Formen abhängig, in denen w i r die Wirklichkeit erkennen (Urteil-Norm). Hier steht Kailab viel näher dem Kern der transzendentalen (kritischen) Philosophie, nach welcher der Gegenstand erst das Endergebnis des ganzen Erkenntnisprozesses ist. 2 2 Im Geiste der kritischen Philosophie führt Bohuë Tomsa 23 aus, daß eine Rechtserscheinung, z.B. ein Gesetz, damit wir es zum Gegenstand wissenschaftlichen Erkennens machen können, in irgendeiner Weise in unser Bewußtsein eintreten muß. Der Akt, durch welchen wir uns diese Rechtserscheinung vergegenwärtigen, ist ein psychisches Erlebnis. Wenn wir das Recht erkennen, führen wir dieses Erlebnis aus der psychologischen in die logische Sphäre ein, d. i. w i r bilden aus ihm Begriffe und Urteile. Der durch das Erlebnis repräsentierte Gegenstand, zu dem die Rechtswissenschaft herantritt, ist nur ein rohes Material, eine chaotische, logisch noch nicht beherrschte Vorstellung, die seine gedankliche Bearbeitung erfordert. Das Recht ist ein Gegenstand immaterieller Natur und daher unseren Sinnen unzugänglich; deswegen sind auch Vorstellungen von ihm anderer Art als z.B. Vorstellungen eines Baumes oder Steines. Heute freilich ist der Gegenstand der Rechtswissenschaft immer ein Konglomerat psychologischer und logischer Elemente, also ein Gegenstand, der gewissermaßen schon gedanklich bearbeitet ist 2 4 . III. Hier muß man auch Julius Binder in seiner ersten 25 und zweiten Entwicklungsperiode 26 anführen. Das Recht ist im Sinne seiner Auffassung 21 Jaroslav Kailab, Prâvnl vëda a vëda ο prâvu (Die Rechtswissenschaft und die Wissenschaft vom Recht), S. 337ff. 22 Immanuel Kant, K r i t i k der reinen Vernunft (hrsg. Cassirer), S. 615 f. 23 Bohuâ Tomsa, Nauka ο prâvnlch vëdâch (Die Lehre über die Rechtswissenschaften), S. 11 ff. 24 Bohus Tomsa, I.e. S. 13f. 25 Julius Binder, Rechtsbegriff und Rechtsidee, 1915, S. 58; vgl. Karl Larenz, Rechts- und Staatsphilosophie der Gegenwart, S. 98f.

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alles, was der apriorischen Norm des Rechts, d.h. der Rechtsidee teilhaftig ist 2 7 , wobei die Rechtsidee schon konstitutive Kategorie ist. In seiner „Philosophie des Rechts" hat er klar erkannt, daß nicht nur „die apriorische Bedingung aller Rechtswirklichkeit die Idee des Rechts sei", sondern auch daß es notwendig ist, diese Idee des Rechts als „eine der kategorischen Forderungen der praktischen Vernunft" zu begreifen, die in die Wirklichkeit gestaltend „eingreift". 2 8 Die Idee des Rechts ist für i h n 2 9 „eine kategorische Forderung an die Menschheit". „Sie schreibt einen bestimmten Zustand vor und ist insofern die Veranlassung, daß dieser Zustand hergestellt wird; sie ist insofern konstitutiv für die Wirklichkeit des Rechtes. Aber indem sie ihn vorschreibt, dient sie zugleich der Beantwortung der Frage, ob der vorhandene Zustand der Forderung entspricht; sie ist insofern normativ." Der Ausgangspunkt seiner philosophischen Betrachtung ist das Recht als empirische Gegebenheit, als Kulturphänomen. 30 Das Recht ist etwas Wirkliches. Binder demonstriert das Recht als Phänomen, indem er darauf hinweist, 31 „daß das Recht von uns allen als etwas Seiendes unmittelbar gewußt wird. Das Recht ist ein soziales Phänomen, das überall in einem geschichtlichen Prozeß auftritt und folglich nicht nur in der Gegenwart unter verschiedenen örtlichen Bedingungen und in verschiedenen Formen existiert, über die die empirische Rechtswissenschaft Aufschluß zu geben hat; sondern, wenn es in dieser Weise existiert, so hat es einen Ursprung und eine Geschichte gehabt: es hat sich in der Zeit gebildet, entwickelt; d.h. es hat sich zwar nicht, wie die Immanenzphilosophie die Sache auffassen würde, in seinen verschiedenen Gestalten die Idee des Rechts in immer reinerer Weise ,entwickelt'; aber jene seiner Gestalten, die es im Laufe der Geschichte angenommen hat, war bedingt durch die Rechtsidee und bedeutete einen Versuch, der Rechtsidee möglichst vollständig zu entsprechen." Wirklich im Binderschen Sinne ist „alles, dem wir in unserm Bewußtsein Gegenständlichkeit beilegen. Das ist nicht nur die Welt der physischen Körper, oder der psychischen Vorgänge; wirklich in diesem Sinne ist auch das weite Reich des Geistigen, der Bedeutungen. Man pflegt dieses freilich als das Gebiet der Idealität der Realität gegenüberzustellen; aber man hat dann nicht scharf genug unterschieden und den Begriff der Wirklichkeit nicht zu Ende gedacht. Es ist ein Unterschied in dem Bedeutungsgehalt von Realität 26

Julius Binder, Philosophie des Rechts, 1925. Julius Binder, Rechtsbegriff und Rechtsidee, S. 58. 28 Julius Binder, Philosophie des Rechts, S. LUI; Wilhelm Wundt, Julius Binder, Philosophie des Rechts, Logos XV, 1926, S. 372ff. 29 Julius Binder, I.e. S. 135. 30 Julius Binder, Le. S. 686. 31 Julius Binder, I.e. S. 686f. 27

§38. Vermittelnde Erklärungen des Wesens des Rechts

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und Idealität, auch was die Welt des Geistigen betrifft: die Sphäre der Idealität ist nicht die des Seienden, sondern die der Geltung; Realität aber hat nicht nur das Denken als Vorgang, sondern auch der Gedanke als Gedachtes, als durch das Denken Geschaffenes und durch seine Mitteilbarkeit im Worte, dem geflügelten Werkzeug des Gedankens' auch Fortwirkendes. Und so ist auch das Recht als ein Inbegriff von Gedachtem und Gewolltem und als eine Einheit von diesen beiden - da im Rechte das Gedachte gewollt und das Gewollte gedacht ist - ist also kurz das Noëma des Rechtes, um mich dieses Begriffes, der in der modernen Phänomenologie eine beträchtliche Rolle spielt, zu bedienen, etwas Wirkliches, das nicht nur bewirkt, sondern gerade in seiner Geistigkeit bestimmt und geeignet ist, weiter zu wirken, aufgenommen, verstanden und in seiner ideellen Bedingtheit begriffen zu werden und dadurch Motiv zu werden für weiteres Denken, weiteres Wollen und Handeln. Es kann uns also nicht zweifelhaft sein, daß das Recht im Sinne der Juristen als Inbegriff von Bedeutungen, von Noëmata, das Recht der Gesetzesnormen und Paragraphen, Wirklichkeit hat und eine Wissenschaft, die sich mit diesen Gegenständen beschäftigt, eine empirische Wissenschaft ist, insofern w i r diese Gegenstände erfahren können, insofern eine Erkenntnis dieser Bedeutungen, des geistigen Gehaltes des Rechtes, und die Bildung von Begriffen aus diesen Bedeutungen, möglich ist." 3 2 Und Binder argumentiert weiter: 3 3 „Wirklich ist die Norm als eine als seiend gewußte; wirklich ist sie als durch bestimmte Kräfte, die hier dem Bereich der Vernunft, der Freiheit angehören, geschaffen und auf die Vorstellung der Menschen einwirken; ihre Wirklichkeit in diesem theoretischen Sinn hat mit ihrer Wirksamkeit im teleologischen Sinne nichts zu tun. Das was wirklich ist i n dem Rechts- und Verkehrsleben der Menschen, das ist, daß Menschen von diesen Normen wissen, sich diesen Normen entsprechend oder widersprechend verhalten, daß Organe der staatlichen Gemeinschaft den in der Norm objektivierten Willen der Gemeinschaft durchsetzen und zu diesem Zwecke tätig werden usw. Das ist aber eine Wirklichkeit nur des sozialen Lebens, einer sinnvollen, teils auch sinnwidrigen Tätigkeit von Menschen, die von Rechtsnormen motiviert oder nicht motiviert werden nicht aber eine Wirklichkeit des Rechts, wenn w i r nicht die Wirklichkeit in einem dem soziologischen Positivismus jedenfalls fremden Sinn auffassen, ins metaphysische wenden wollen. Auch der Staat, dessen Wirklichkeit die im Volke verbundenen Menschen sind, steht zwar zur Rechtsordnung in der nächsten Beziehung - aber er ist nicht etwa die Wirklichkeit des Rechtes. Und wenn es demnach nicht angeht, die Rechtsnormen einerseits von der Wirklichkeit des Rechtes auszuschließen, sie sozusagen als etwas Vor-wirkliches zu betrachten, andererseits das soziale Leben in seiner Tatsächlich32 33

Julius Binder, I.e. S. 691 f. Julius Binder, I.e. S. 697f.

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keit als die Wirklichkeit des Rechtes oder ein Stück von ihr anzusehen - was bleibt uns dann übrig als der Schluß, daß das wirkliche Recht eben aus jenen Normen besteht; daß sie selbst Recht sind und nicht aus ihnen erst Recht gemacht werden soll; daß ihre rechtliche Wirklichkeit darin besteht, daß sie der Gemeinwille geschaffen hat, damit sie Regel dieses Lebens sind? Schließlich: was heißt denn das auch: Regel des sozialen Lebens? Alle Regel schließt den Normbegriîî in sich. Wenn das Recht als eine Regel tatsächlich beobachtet wird, so geschieht dies nicht im Sinne der Naturnotwendigkeit, wie die Planeten ihre Bahnen um die Sonne ziehen, sondern, als in der Sphäre der Freiheit und des Bewußtseins gelegen, i n der Weise, daß das beobachtete Verhalten als ein von der Norm gefordertes, gewolltes gewußt wird, so daß die Norm des Rechtes wirklich ist als fordernd den Menschen gegenübertretend und die Menschen in ihrem Verhalten nicht etwa die Norm, das Recht, verwirklichen, sondern nur ihr als der stets fordernden, stets Norm bleibenden, gehorchen oder entsprechen " Zusammenfassend kann man zu Binders Konzeption des Wesens des Rechts sagen, daß sie zweifellos viele wertvolle Erkenntnisse bringt. 3 4 Wertvoll ist die Erkenntnis der kulturellen (sozialen) Phänomenalität, d.h. der Realität des Rechts, sowie die Unterscheidung des Geistigen und der Idealität. Trotzdem ist es aber Binder nicht gelungen, das wahre Wesen des Rechts zu erarbeiten, da er keine genügende Kenntnis von dem stufenförmigen Aufbau der realen Welt besaß und sich nicht die verschiedenen Bestandteile des geistigen Seins und besonders das Verhältnis des objektivierten zum objektiven Rechtsgeist vergegenwärtigte. Binder sah auch nicht klar genug die Beziehung der Realität zu Normideen, besonders die Tätigkeit des vermittelnden Gliedes zwischen der realen und der idealen Welt. Das war auch der Grund, warum ihm die sekundär abgeleitete Normativität der Rechtsnormen (der Rechtsordnung, des objektivierten Rechtsgeistes) und die primär abgeleitete Normativität des Rechtsbewußtseins (des objektiven Rechtsgeistes) ein Rätsel blieb. Schließlich konnte er auch nicht klar genug sehen, daß das Recht zwar überwiegend in die höchste Seinsschicht der realen Welt gehört, aber auch in die niederen Seinsschichten eingreift und daher ein komplexes, mehrschichtiges Gebilde ist. IV. Der Grundgedanke, der alle Versuche, das Recht als ein Kultur-Sein zu begründen, beherrscht, ist, daß man auf der einen Seite richtig fühlt, daß das Recht wesentlich mehr ist als bloße Natur (siehe besonders die „normativen" Begriffe von Pflicht, Schuld usw.), auf der anderen Seite aber das Recht in das reine Sollen einzureihen, scheint unrichtig zu sein, da das Recht etwas positives, reales ist. 3 5 Das ist eben der Grund für eine Kompromiß34 Siehe aber auch Alf Ross, K r i t i k der sogenannten praktischen Erkenntnis, 1933, S. 421 ff. 35 Vgl. Alf Ross, Theorie der Rechtsquellen, 1929, S. 233 ff.

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lösung. Das Recht ist zwar ein Sein, aber ein Sein, das in einer Beziehung zum Sollen steht, ein Sein, das mit normativen Gesichtspunkten behaftet ist. In seiner K r i t i k sagt Alf Ross 36 : „Als Grundlage für diese Brücke zwischen Sein und Sollen dient der Kulturbegriff. Diese Doppeltheit in der Rechtsbetrachtung t r i t t . . . in der Weise hervor, daß sie das Recht als eine Realität ansehen, die bedeutet oder interpretiert wird." Auch wenn man bei einer kritischen Stellungnahme zur Auffassung der Kulturwirklichkeit und speziell des Rechtes durch die heidelbergsche neukantische Richtung keinesfalls mit dieser Konzeption einverstanden sein kann, muß man auf der anderen Seite feststellen, daß nicht nur die enge Auffassung des Seins, der Wirklichkeit, in Kelsens Sinne unhaltbar ist, aber auch die Lösung von Alf Ross, mit Hilfe einiger philosophischer Konstruktionen von Heinrich Rickert und Harald Höffding auf Grundlage „einer individualisierten Totalitätserkenntnis eines menschlichen Willenskomplexes" 3 7 die Doppelfunktion einer echten Norm im Sinne von Alf Ross (A soll sein - wenn nicht A, dann S; und wenn A, dann nicht S) zu konstruieren, vollkommen unklar ist. Auch die Behauptung, 38 „daß die rechtlichen Aussagen ihr Geltungssystem in einer Wirklichkeitserkenntnis einer kollektiven Willens- und Handlungstotalität finden", erhellt keineswegs seine Ausführungen. Ähnliches gilt von seinen weiteren Behauptungen, 39 daß „die Wirklichkeit des Rechtes in der durchgehenden Korrelation liegt. " V. Alfred Verdross hat schon in seinem Buch „Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft" aus dem Jahre 1926 - trotzdem er zu den hervorragendsten Darstellern der Schule der Reinen Rechtslehre gehörte - ausdrücklich festgestellt, 40 daß sich erfreulicherweise in den letzten Jahren ein entscheidender Umschwung im rechtsphilosophischen Denken bemerkbar macht, nämlich daß das positive Recht wieder auf einer überempirischen, objektiven Grundlage zu begründen notwendig erscheint. Er führt Radbruch, 4 1 Nelson, 42 Scheler, 43 Binder, 44 Nicolai Hartmann 4 5 und Le Fur 46 an 36

Alf Ross, I.e. S. 234. Alf Ross, I.e. S. 275. 38 Alf Ross, I.e. S. 280. 59 Alf Ross, 1. e. S. 281. 40 Alfred Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, 1926, S. 3; vgl. auch weitere Schriften und Abhandlungen von Verdross, besonders: Die Einheit des rechtlichen Weltbildes, 1923; Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1963; Zur Klärung des Rechtsbegriffes, J. Bl. 1950, S. 97ff.; Statistisches und dynamisches Naturrecht, 1971; vgl. Stephan V erosta, Alfred Verdross - Leben und Werke; Völkerrecht und rechtliches Weltbild, 1960; Vladimir Kubés, Das moderne Naturrecht und der Versuch um die rationale Bewältigung der rechtlich-volitiven Sphäre, Jur. Blätter 1980, S. 57ff. 41 Gustav Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1914. 42 Leonard Nelson, Rechtswissenschaft ohne Recht, 1917. 43 Max Scheler, Formalismus in der Ethik und die materielle Wertethik, 1921. 37

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und betont, daß die normative Geltung des positiven Rechtes in dem unmittelbar einsichtigen Gerechtigkeitswert des „suum cuique" wurzelt, so daß jene soziale Ordnung als Rechtsordnung auszusprechen ist, die grundsätzlich auf den Gerechtigkeitswert hin sinnbezogen ist. „Hierbei obwaltet, wie schon Piaton im ,Kriton' durchblicken läßt, zwischen der Gerechtigkeit und dem positiven Rechte ein analoges Verhältnis wie zwischen Gesetz und richterlichem Urteil. In beiden Fällen nämlich wird im Falle des inhaltlichen Widerspruches zwischen der höheren und der niederen Norm die Einheit der Ordnung durch den Grundsatz der Rechtskraft aufrechterhalten, der inhaltliche Widerstreit also in der Einheit des Systems aufgehoben. Daraus ergibt sich auch, daß sich das positive Recht von der Sittlichkeit, soweit sie überhaupt Regelung der Gemeinschaft ist, durch das Merkmal der dem Rechte eigenen Positivität abhebt." 47 Rechtsgemeinschaft ist nach Verdross 48 nur jene Gemeinschaft, die durch einen Kreis von Rechtsnormen als Einheit erfaßt und dadurch von anderen abgegrenzt wird. Erst die Einheit des Rechtes leistet die Einheit der Rechtsgemeinschaft. „Eine Rechtsgemeinschaft ist also keine Naturerscheinung, sondern eine Kulturerscheinung; sie ist kein Naturfaktum, sondern ein Kulturfaktum. Sie wird daher nicht durch Naturgesetze, sondern durch Rechtsgesetze, durch Rechtsnormen erzeugt." 49 Jede positive Rechtsordnung gilt nur unter Beziehung auf den tatsächlichen Handlungszusammenhang einer Rechtsgemeinschaft, da ihre Positivität gerade in ihrer stufenförmigen Erfüllung durch tatsächlich gesetzte Rechtsakte besteht, während jede Rechtsgemeinschaft nur der anschauliche, also raum-zeitliche Ausdruck eines Rechtsnormensystems ist, da jede einzelne Handlung erst durch dieses zur Rechtshandlung wird. 5 0 Daher ist das positive Recht „Macht", da es mit dem Verluste der „Macht", d.h. dann, wenn seine Effektivität endet, ebenfalls aufhört positives Recht zu sein. Verdross verweist dabei auf die wertvollen Ausführungen von Menzel. 51 Meiner Meinung nach ist gerade in diesen Ausführungen von Verdross der Kern der komplex-dialektischen Struktur des rechtlichen Phänomens richtig aufgefaßt. In seiner Abhandlung „Zur Klärung des Rechtsbegriffes" 52 hat Verdross zu zeigen versucht, daß das positive Recht Gegenstand verschiedener Wis44

Julius Binder, Philosophie des Rechts, 1925. Nicolai Hartmann, Ethik, 1926. 46 Le Fur, lus naturae et gentium, Sonderabdruck aus Niemayers Zeitschrift für internationales Recht, X X X I V , 1925, S. 12ff. 47 Alfred Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S. 3 f. 48 Alfred Verdross, I.e. S. 4. 49 Alfred Verdross, I.e. S. 4. 50 Alfred Verdross, I.e. S. 6f. si Adolf Menzel, Recht und Macht, Zeitschrift f. öff. Recht V, 1925, S. I f f . 45

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senschaften sein kann, daß jede dieser Betrachtungsweisen verschiedene Aspekte des Rechts untersucht und daß daher die Rechtsbegriffe der verschiedenen Betrachtungsweisen sich nicht decken. Zugleich aber hebt er hervor, daß sie einen gemeinsamen Kern aufweisen, welcher den verschiedenen Aspekten gemeinsam ist. Das ist sicher richtig! Trotzdem oder gerade deshalb, ist es aber notwendig, aus diesen durch verschiedene Betrachtungsweisen herausgearbeiteten „Rechtsbegriffen" im Wege einer komplex-dialektischen Bearbeitung einen einzigen, komplexen Begriff des Rechts und seines Wesens zu erfassen. Das Naturrecht ist für Verdross 53 kein Recht im juristischen Sinne, das mit sozialen Sanktionen verbunden wäre, sondern es besteht aus Grundsätzen, die vorgegeben und jedem positiven Recht aufgegeben sind und durch die Vernunft festgestellt werden können. Die Rechtsgrundsätze sind nach Verdross in den immanenten Wesenszügen des Menschen und seinen fundamentalen Zielen und Absichten begründet, wobei er vor allem von der Theorie ausgeht, die Victor Kraft zur Begründung der Moralnormen aufgestellt hat. 5 4 Nach Meinung von Alfred Verdross hat die Moral nur die Verpflichtungen zum Inhalt, während das Naturrecht jene sozialen Normen enthält, die auch Berechtigungen (subjektive Rechte) gegen andere Personen begründen. 55 Gegen diese Auffassung von Alfred Verdross wendet Ota Weinberger 56 ein, daß die These, daß die Moral nur verpflichtet und keine Rechte gibt, strittig ist. Nach Meinung von Weinberger ist es richtig, daß die Perspektive der moralischen Betrachtungen mit sich bringt, daß wir auf die moralischen Fragen Antworten in der Form „ich soll ..." bekommen. Es ist aber überhaupt nicht ausgeschlossen, daß die Antwort auch so lauten könnte: „ich soll fordern, beanspruchen ...". „Ich stelle mir Moral so vor, daß auch Moral der Mitmenschen erstrebt werden soll." - Weinberger übersieht hier aber, daß es auch in diesen Fällen doch nicht um ein moralisches Recht als solches, sondern um meine moralische Pflicht (ich soll fordern ...) geht. Das Naturrecht hat nach Verdross statischen Charakter, insoweit es um jene Grundsätze geht, welche aus dem Wesen des Menschen fließen. Es führt allerdings in der Geschichte immer gemäß der aktuellen Lebenssituation zu sekundären natürlichen Rechtsgrundsätzen, die Realisationsformen der primären Grundsätze unter gegebenen Bedingungen sind. Deshalb sind diese 52 Alfred Verdross, Zur Klärung des Rechtsbegriffes, J. Bl. 1950, S. 97ff.; derselbe, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., S. 207ff. 53 Alfred Verdross, Statisches und dynamisches Naturrecht, S. 44 ff. 54 Victor Kraft, Die Grundlegung der Erkenntnis und der Moral, 1968. 55 Alfred Verdross, Statisches und dynamisches Naturrecht, S. 44 f. 56 Ota Weinberger, Ist eine rationale Erkenntnis des Naturrechts möglich? Bemerkungen zur Wertlehre Victor Krafts und zur Naturrechtslehre von Alfred Verdross, Österr. Zeitschrift für öffentliches Recht, 23, 1972, S. 90, Anm. 1.

15 KubeS

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konkreten naturrechtlichen Normen dynamisch, Grundzüge konstant bleiben. 57

obzwar ihre höchsten

Verdross lehnt entschieden jeden Versuch ab, die naturrechtlichen Normen als solche zu ontologisieren. 58 Das Naturrecht ist kein objektives Normengebilde, sondern kann nur aus der menschlichen Natur festgestellt werden. Diese menschliche Natur ist uns gegeben, man kann sie empirisch erfassen. Mit großer Sympathie stellt Verdross fest, 59 daß nach dem zweiten Weltkrieg verschiedene Schriftsteller der westlichen Welt das Problem des Naturrechts neu aufgerollt haben. Er führt die weitere Entwicklung von Gustav Radbruch 60 an und stellt fest, daß die Frage aufgeworfen wird, ob das positive Recht einen beliebigen Inhalt haben kann, wie es der Rechtspositivismus behauptet, oder ob dem positiven Recht soziale Ordnungsprinzipien vorgegeben sind, wie es alle Vertreter des Naturrechts lehren. Verdross betont, 61 daß die neue Naturrechtslehre, die sowohl von der Wertphilosophie, wie von der Neuscholastik, aber auch von der modernen Anthropologie gespeist wird, die Ergebnisse anerkannt, die im Kampfe gegen die starren Naturrechtssysteme von Samuel Pufendorf bis Christian Wolff in Richtung der Dynamisierung des Rechtsdenkens von Vico, Hegel und Marx erkämpft wurden. Die neue Naturrechtslehre meint aber darüber hinaus, daß das Recht nicht einen beliebigen Inhalt haben kann, da es eine zwischenmenschliche Ordnimg ist und daher dem sozialen Wesen des Menschen angepaßt sein muß, das sowohl konstante wie variable Merkmale aufweist. Verdross beruft sich 62 auf die Lehren von Johannes Messner 63 und Victor Kraft ,64 die auf die konstanten Faktoren der Natur der Menschen hinweisen. So geht Messner von den allen Menschen gemeinsamen „existentiellen Zwecken" aus, wie Selbsterhaltung, Selbstvervollkommnung, Erziehung der Kinder, Ausweitung des Wissens, Sicherung des Friedens und der Ordnung. Kraft spricht von den Grundwertungen, die sich aus der Organisation des Menschen mit Notwendigkeit ergeben und die i n jeder Kulturstufe mindestens ansatzweise vorhanden sind. Dazu rechnet er alle Güter, die zur Befriedigung der elementaren Lebensbedürfnisse direkt oder indirekt not57

Alfred Verdross, I.e. S. 116. Alfred Verdross, I.e. S. 90. 59 Alfred Verdross, Dynamisches Naturrecht, Forum XII, 1965, S. 223 ff. 60 Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 4., nach dem Tode des Verfassers von Erik Wolf besorgte, 1950 erschienene Auflage, S. 336ff. 61 Alfred Verdross, I.e. S. 224. 62 Alfred Verdross, I.e. S. 224. 63 Johannes Messner, Naturrecht, 3. Aufl., 1958. 64 Victor Kraft, Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre, 2. Aufl., 1951; vgl. Vladimir Kübel·, Das moderne Naturrecht und der Versuch um die rationale Bewältigung der rechtlich-volitiven Sphäre, Juristische Blätter, 102. Jahrgang, 1980, S. 57 ff., besonders S. 59. 58

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wendig sind, aber auch jene Güter, die der Vervollkommnung des menschlichen Lebens dienen. Verdross zitiert auch den Grazer Philosophen Konstantin Radakovic, 65 der schon früher festgestellt hat, daß der Mensch ein Einzelwesen mit hoch entwickeltem Ich-Bewußtsein ist, das ein naturnotwendiges Verlangen nach freier Entfaltung seiner individuellen Anlagen hat und sich daher gegen ein System von Geboten auflehnt, das diese Entfaltung unterdrückt. Daher argumentiert Radakovic - kann das Recht keinen beliebigen Inhalt haben, sondern es muß den Grundtendenzen der menschlichen Natur Rechnung tragen. Auf diese unwandelbaren Grundlagen des Rechts - führt weiter Verdross an 6 6 - weist auch Pius XII. in seiner Weihnachtsbotschaft von 1942 hin: „Ausgangspunkt und Wesensziel des Gemeinschaftslebens bildet die Wahrung, Entfaltung und Vervollkommnung der menschlichen Persönlichkeit... Gewiß, die Lebensbedingungen wechseln im Laufe der Zeit, aber ... in jeder geschichtlichen Wendung und Wandlung bleibt das Ziel allen gesellschaftlichen Lebens dasselbe ... nämlich die Entfaltung der Persönlichkeitswerte des Menschen als Ebenbild Gottes." - Ähnliche Gedanken finden wir in den Rundschreiben Johannes XXIII., „Mater et magistra" und „Pacem in Terris " sowie in der Deklaration der Menschenrechte, die von der Generalversammlung der Vereinigten Nationen am 10. Dezember 1948 angenommen wurde. Dann argumentiert Verdross: 61 „Obgleich aber der Grundsatz der Achtung und des Schutzes der Würde des Menschen und der sich daraus ergebenden Folgerungen die unveränderliche Grundlage des Naturrechts bildet, so ist es doch nicht möglich, aus ihr einen allgemein gültigen und überzeitlichen Katalog von Menschenrechten abzuleiten, da jeder Mensch zwar an der allgemeinen Menschennatur Anteil hat, zugleich aber ein geschichtliches Wesen ist, das sich in der Zeit entwickelt und entfaltet. Daher kann ein zeitloses Naturrechtssystem nicht aufgestellt werden. Ebensowenig ist es möglich, die für eine bestimmte Zeit und eine bestimmte Kulturstufe passenden Normen aus den leitenden Grundsätzen im Wege von logischen Schlußf olgerungen abzuleiten. Aufgabe des Menschen ist es vielmehr, die zwischenmenschlichen Beziehungen im Wege der sozialen Kommunikation und Diskussion auf Grund der leitenden Prinzipien zu einer täglich menschenwürdigeren Harmonie zu gestalten. So ist zwar die Würde des Menschen dem positiven Recht vorgegeben, die Formulierung der konkreten Normen immer neu aufgegeben. Nur die Grundlage des Naturrechts ist statisch, sein kon65 Konstantin Radakovic, Grundzüge einer descriptiven Soziologie, 1929; derselbe, Recht und die menschliche Gemeinschaft, Österr. Zeitschrift für öffentliches Recht, 8, 1958, S. 367ff. 66 Alfred Verdross, I.e. S. 224. 67 Alfred Verdross, I.e. S. 224f.

15*

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kreter Inhalt aber ist dynamisch." „Die Entfaltung des spezifisch menschlichen Wesens ist aber schon in der biologischen Natur des Menschen verankert, wie die moderne Anthropologie, vor allem der Zoologe Otto Storch, 68 Adolf Portmann, 69 und Arnold Gehlen 70 dargetan haben. Sie haben gezeigt, daß der Mensch biologisch ein Mangelwesen ist, da er im Gegensatz zu den höchstentwickelten Tieren instinktarm, ohne natürliche Waffen und an keine bestimmte Umwelt gebunden, sondern weltoffen und wegen seiner langen Kindheitsphase viele Jahre hilflos ist. Er müßte daher zugrunde gehen, wenn nicht in seine biologische Natur eine vorausschauende und planende Intelligenz eingebettet wäre, durch die der Mensch befähigt wird, sie zu überschreiten, seine Umwelt zu beherrschen und so eine zweite, ihm lebensdienliche Natur: die Kultur hervorzubringen. Das kann er aber nur, indem er Organisationsformen zum Schutze gegen Feinde und gegen natürliche Gefahren schafft. Solche Organisationsformen beruhen jedoch auf bestimmten Rechtsgrundsätzen, die das Leben und andere wesentliche Güter der Gruppengenossen schützen und ihre gegenseitige Unterstützung regeln. 71 Durch diese aus der Organisation des Menschen sich ergebenden Institutionen w i r d der Nachweis erbracht, daß das soziale Bewußtsein stärker ist als die egoistischen und asozialen Triebe des Menschen, solange die Gemeinschaft ihre Ansprüche nicht überspannt. 72 Daher gehört das Recht mit bestimmten notwendigen Inhalten zur Natur des Menschen. Es ist Naturrecht. Es entspringt aber nicht unmittelbar aus der biologischen Natur des Menschen, sondern aus seiner planenden und kulturschaffenden Natur. Das Naturrecht ist daher ein im Wesen des Menschen verankertes Kulturrecht." Bekannt ist die Auseinandersetzung zwischen René Marcie und Alfred Verdross, 73 Alfred Verdross kritisierte nämlich die Grundauffassung von René Marcie, die den Auffassungen von Hesiod, Heraklit und Heidegger sehr nahe steht, daß ein präpositives Recht, ein Seinsrecht existiert, daß das Recht ein Bestandteil des schon vorausgegebenen Ganzen oder überhaupt schon das Ganze ist, innerhalb dessen alles ist. Verdross meint, daß man mit der „Natur des Menschen" als einem Urmaß zufrieden sein kann.

68 Otto Storch, Zoologische Grundlagen der Soziologie, Österr. Zeitschrift für öffentliches Recht, III., 1951, S. 358ff. 69 Adolf Portmann, Zoologie und das neue Bild der Menschen, 1962. 70 Arnold Gehlen, Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt, 6. Aufl., 1958. 71 Kern, Der Beginn der Weltgeschichte, 1953; Bodenheimer, Jurisprudence, 1962, S. 188 ff. 72 Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, S. 246. 73 Alfred Verdross, Die Rezension von Marcic's Rechtsphilosophie, Österr. Zeitschrift für öffentliches Recht, 1970, S. 443.

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VI. Meiner Meinung nach gehört in die Gruppe der vermittelnden Lösungen auch die Auffassung des bekannten Soziologen und Rechtssoziologen Max Weber. 1* Er unterscheidet streng zwischen juristischer, genauer rechtsdogmatischer, und soziologischer Betrachtungsweise: 75 „Die erstere fragt: was als Recht ideell gilt. Das w i l l sagen: welche Bedeutung, und dies wiederum heißt: welcher normative Sinn einem als Rechtsnorm auftretenden sprachlichen Gebilde logisch richtig erweise zukommen sollte. Die letztere dagegen fragt: was innerhalb einer Gemeinschaft faktisch und deswillen geschieht, weil die Chance besteht, daß am Gemeinschaftshandeln beteiligte Menschen ... bestimmte Ordnungen als geltend subjektiv ansehen und praktisch behandeln, also ihr eigenes Handeln an ihnen orientieren. - Darnach bestimmt sich auch die prinzipielle Beziehung zwischen Recht und Wirtschaft." Die ideelle Rechtsordnung der Rechtstheorie hat mit dem „Kosmos des faktischen wirtschaftlichen Handelns" direkt nichts zu tun, da beide in verschiedenen Ebenen liegen: „die eine in der des ideellen Geltenssollens, die andere in der des realen Geschehens."76 Schon hier sieht man klar, daß Max Weber nicht die reale, abgeleitete Normativität und die ideale, reine Normativität unterscheidet. Wirtschafts- und Rechtsordnung können - so stellt Max Weber weiter fest 77 - in höchst intimen Beziehungen zueinander stehen, wobei sich dabei allerdings - und das ist das Entscheidende - der Sinn des Wortes „Rechtsordnung" völlig ändert: es ist nicht mehr im juristischen Sinne eines Kosmos „logisch als ,richtig' erschließbarer Normen", sondern im soziologischen Sinne eines Komplexes „von faktischen Bestimmungsgründen realen menschlichen Handelns" zu verstehen. 78 Bei der Rechtsordnung tritt als spezifisches Merkmal der auf die Erzwingung eingestellte Menschenstab hinzu. Eine Ordnung soll dann Recht heißen, „wenn sie äußerlich garantiert ist durch die Chance (physischen oder psychischen) Zwanges durch ein auf Erzwingung der Innehaltung oder Ahndung der Verletzung gerichtetes Handeln eines eigens darauf eingestellten Stabes von Menschen." 79 74 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 2. Aufl., 1925, derselbe, Rechtssoziologie, aus dem Manuskript herausgegeben von Johannes Winkelmann, Soziologische Texte Nr. 2, 2. Aufl., 1967; M. Rehbinder, Max Webers Rechtssoziologie: Eine Bestandsaufnahme in: R. König - J. Winckelmann: Max Weber zum Gedächtnis, 1963, S. 340ff.; F. Loos, Zur Wert- und Rechtslehre Max Webers, 1970; Walter Ott, Der Rechtspositivismus, 1976, S. 78ff.; vgl. auch Max Weber, Gedächtnisschrift der Ludwig-Maximilians-Universität München zur 100. Wiederkehr seines Geburtstages 1964. (Hrsg. Karl Engisch, Bernhard Pf ister, Johannes Winckelmann), Berlin 1966, besonders Karl Engisch, Max Weber als Rechtsphilosoph und Rechtssoziologe, ibid., S. 67 ff. 75 Max Weber, Rechtssoziologie, S. 70. ™ Max Weber, I.e. S. 70. 77 Max Weber, Rechtssoziologie, S. 70; vgl. Walter Ott, I.e. S. 79. ™ Max Weber, I.e. S. 70. 79 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 17; vgl. Walter Ott, I.e. S. 80.

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Die Geltung des Rechts im soziologischen Sinne liegt für Weber in der Chance, d.h. der Wahrscheinlichkeit des Eintritts von psychischem oder physischem Zwang von Seiten eines eigens darauf eingestellten Zwangsapparates. 80 Es ist gewiß richtig, einzelne Betrachtungsweisen scharf voneinander zu unterscheiden. Aber die Herauspräparierung eines „juristischen" und eines „soziologischen" Begriffs des Rechts oder seines Wesens darf keinesfalls das letzte Wort, das Endergebnis der Untersuchung bedeuten. In diesem Moment ist es nämlich notwendig, zu einer komplex-dialektischen Ausarbeitimg des einzigen, komplex-dialektischen Begriffs des Rechts und dessen Wesens heranzutreten. VII. Der schweren Problematik des Erfassens des Wesens des Rechtes ist sich Edmund Mezger sehr gut bewußt 81 und bezeichnet diese Aufgabe als unlösbar; 82 zugleich aber stellt er fest, daß ihre Unlösbarkeit durch ihre Größe überstrahlt wird. Die Auffassung von Mezger ist die, daß „das Recht zugleich seiendes und ideales Sollen ist: in diesem Doppelcharakter des Geltungsproblems liegt die unendlich schwierige, oft fast verzweifelte Aufgabe einer erschöpfenden Theorie des Rechts beschlossen. Mag ihre rationale Lösung Menschenkraft übersteigen, an der Berechtigung und Unabweislichkeit der Aufgabe ändert dies nichts." 8 3 Mezger stellt fest, 84 daß sich die Rechtswirklichkeit, das „daseiende" Recht, als Gegenstand der Jurisprudenz zeigt, soweit sie die Rechtssätze als Sinngebilde unter dem Gesichtspunkt empirischer Zwecksideen zu erfassen bemüht ist. Er sagt weiter, daß eine teleologische Begriffsbildung hiemit durchaus verträglich, ja geboten ist, wenn auch in anderem Sinne als im Rahmen des Geltungsproblems. „Diese empirische Rechtswirklichkeit ist massenpsychologische Tatsächlichkeit; ihre Erkenntnis liegt durchaus innerhalb der Wirklichkeitsbetrachtung, idiographisch im Sinne Rickerts und nomothetisch im Sinne der Soziologie. Ein sinnvolles Sein erschließt sich ihr unter rein kognitiven Gesichtspunkten. Von einer Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft im Hinblick auf den stetigen und unaufhörlichen Wechsel der geschichtlich gegebenen, positiven Rechtssätze sprechen zu wollen, würde nur die naive Unfähigkeit dartun, den Gegenstand einer Wissenschaft in seinem Aufbau aus Stoff und Form erkenntniskritisch zu 80

Max Weber, Rechtsssoziologie, S. 71 ff.; vgl. Walter Ott, I.e. S. 80. Edmund Mezger, Recht und Erfahrung, Revue Internationale de la Théorie du Droit, II, 1927/28, S. 11 ff. 82 Edmund Mezger, I.e. S. 14 in fine. 83 Edmund Mezger, I.e. S. 13. 84 Edmund Mezger, I.e. S. 12f. 81

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erfassen. Dem tiefer dringenden Blick erschließt sich die unendliche Fülle der denkend geformten Rechtswirklichkeit als der in sich wertvolle Kosmos wissenschaftlicher Erkenntnis seienden Rechts." Dem Juristen wird nach Mezgers Meinung das Problem der Erfahrung neben dem Seinsproblem zum Geltungsproblem, weil er als „Gegenstand" seiner Wissenschaft verbindliches Recht sucht. „So wird ihm das seiende Sollen zugleich zum yidealerì Sollen im Recht." 85 Mezger stellt fest, daß die Rechtstheorie sich in unendlichem Mühen erschöpft hat, um das bloß seiende Sollen als solches zugleich als ideales Sollen zu erweisen. „Sie hat damit Unmögliches unternommen, denn aus dem bloßen Sein folgt niemals verbindliches Sollen. Existentialproblem und Geltungsproblem bedeutet im Gebiete des Rechts verschiedenes: bloßes Sein von Rechtssätzen, auch wenn ihnen volle Durchsetzbarkeit zukommt, ist äußere Macht, aber damit noch nicht Recht. Als Recht können sie nur durch eine Sollensnorm erwiesen werden. Hierbei erweist sich eine rein juristische Geltungstheorie als unhaltbar: die Geltung bestimmter Rechtssätze aus der bloßen Existenz anderer Rechtssätze ableiten zu wollen, führt stets zu den unlösbaren Fragen nach der juristischen Geltung des obersten Rechtssatzes und der nach Urzeugung des Rechts. Sie mag die Bedürfnisse immanenter Rechtslogik befriedigen, aber sie vermag die Frage nach der transzendentalen Rechtsgeltung nicht zu beantworten. Diese Beantwortung gelingt aber auch keiner soziologischen Geltungstheorie: denn aus der bloßen Faktizität soziologisch gesetzmäßigen Geschehens, mag es auch die Faktizität der Anerkennung seitens der Rechtsunterworfenen oder der ständigen Übung sein, folgt nirgends ohne weiteres schon ein Geltungsanspruch für bestehendes Recht." 86 Mit dieser Argumentation von Edmund Mezger muß man vollkommen einverstanden sein. Die einzige mögliche Lösung aber, und zwar auf Grund der kritischen Ontologie, auf Grund der Erkenntnis zweier Welten mit ihrer Verbindung durch den einzigen Vermittler, sowie die abgeleitete Normativität einziger Sphären des geistigen Seins, besonders der rechtlichen Sphäre, waren ihm fremd. Seine weitere Argumentation, und zwar die, daß das ideale Sollen letzthin im ethischen Sollen wurzelt, ist nicht einwandfrei. Wir müssen streng das reine Sollen der Normidee der Sittlichkeit und das reine Sollen der Normidee des Rechts unterscheiden. Erst in der höchsten Normidee des Guten (der konkreten Menschlichkeit) finden diese beiden Normideen ihre, für den Menschen im Unendlichen liegende Verbindung und Vereinheitlichung. Nach der Auffassung von Edmund Mezger wurzelt ideales Sollen also letzthin im ethischen und das heißt im autonomen Sollen. 87 „Geltendes Recht soll 85 86 87

Edmund Mezger, I.e. S. 13. Edmund Mezger, I.e. S. 13. Edmund Mezger, I.e. S. 14.

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also zugleich daseiendes und autonom gefordertes Sollen sein. Denn, wo dem Recht das Sein, die Existenz in der Wirklichkeit, die heteronome Macht sich durchzusetzen fehlt, da ist es ideale Forderung im ethischen Sinne, aber kein Recht im Sinne der Juristen; wo ihm aber bei äußerer Existenz die ethisch-autonome Anerkennung fehlt, da ist es bloße Macht, aber kein Recht." Das ist der Grund, warum ihm das Problem der Rechtserfahrung, die Frage, wie die Jurisprudenz aus ihren „Gegebenheiten" den „Gegenstand" ihrer Wissenschaft formt, in seiner ganzen Irrationalität und in seiner ganzen weltbewegenden Tiefe erscheint. Wo das Recht - so stellt Edmund Mezger fest - nur Erfahrung ist, da bleibt es bloßes Machtgebot; der Jurist mag sich dieser geschichtlich-soziologischen Gegebenheit beugen, in der Erkenntnis, daß diese Tatsächlichkeit ein unverzichtbares Lebenselement der rechtlichen Ordnung bedeutet. Zum Recht im tiefsten Sinne des Wortes wird das Machtgebot aber nur dort, wo es zugleich Teil hat am autonom verbindlichen Sollen. 88 VIII. Nach der Auffassung des hervorragenden ungarischen Rechtsphilosophen Julius Moór ist das Recht eine Verbindung der Idee und der Wirklichkeit. 8 9 „Wie die zur menschlichen Kultur gehörigen Erscheinungen im allgemeinen weder nackte Wirklichkeiten noch leblose Wertideen, sondern unzertrennbare Verflechtungen von Wirklichkeit und Wert: wertvolle Wirklichkeiten und verwirklichte, lebensbewegende Wertideen sind, so ist auch das Recht solch eine zweifältige - in die Welt der Tatsachen sowie in jene der Werte hineinreichende - Erscheinung. Wie ich dies schon anderweitig ausführlich auseinandergesetzt habe, bedeutet das Recht einerseits das große System der ein ideal bestehenden Normen und Regeln, andererseits aber das große System der sich an diese Normen knüpfenden menschlichen Handlungen. Diese zwei Bestandteile sind zum Begriffe des lebenden Rechts gleich unerläßlich. Eine der bedeutendsten rechtsphilosophischen Richtungen unserer Tage, Kelsens normative oder reine Rechtslehre irrt darin, daß sie im Recht nur pure Idealität und reine Normen sieht. Andererseits war es der Fehler der am Anfang des Jahrhunderts herrschenden soziologischen Auffassungen, daß sie das Recht als eine Massenerscheinung menschlicher Handlungen, als pures Faktum betrachteten. Das lebende Recht ist jedoch 88

Edmund Mezger, I.e. S. 14. Julius Moór, Macht, Recht, Moral. Ein Beitrag zur Bestimmung des Rechtsbegriffes. Acta Litterarum ac Scientiarum R. Univ. Hung. Fr. J. Sectio Juridico-Politica, Tom. I., Fase 1,1922; derselbe, Einführung in die Rechtsphilosophie (ungarisch) 1923, S. 158ff.; derselbe, Das Logische im Recht, Revue Internationale de la Théorie du Droit, II, 1927/28, S. 157ff.; derselbe, Der Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz, Festschrift für Franz Weyr II, 1939, S. 67ff., 70, wo er von drei Schichten spricht und zwar von der Schicht der bloßen Natur, von der psychophysischen Realität und von der geistigen Schicht; derselbe, Das Problem der Rechtsphilosophie (ungarisch), 1945. 89

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kein bloßes Normensystem; das römische Recht ist, obgleich sein Normensystem uns beinahe vollständig überliefert wurde, heutzutage dennoch kein lebendes Recht mehr, denn es fehlt das System der menschlichen Handlungen, welches einst die tatsächliche Geltung dieser Normen im wirklichen Leben bedeutete. Und das Recht bedeutet auch nicht eine bloße Masse menschlicher Handlungen, nicht pures Faktum, denn man könnte je jene menschliche Handlungen, in welchen das Recht zur tatsächlichen Geltung kommt, nicht von der Unmasse menschlicher Handlungen absondern, ohne sie auf das rechtliche Normensystem zu beziehen. Wir können darum behaupten, daß zum Begriffe des lebenden, gesetzten Rechts zwei Bestandteile nötig sind: das Normensystem der Regeln und das sich daranschließende System der menschlichen Handlungen." 90 Sicher muß man mit dieser Moórschen K r i t i k der Reinen Rechtslehre sowie der rechtssoziologischen Schule vollkommen einverstanden sein. Aber auch die eigene Lösung von Julius Moór ist nicht befriedigend, und zwar besonders aus Gründen, die schon Barna Horvâth 91 an sich ein großer Bewunderer des Werkes und der Persönlichkeit von Julius Moór, anführte. Wenn Moór zwei vollkommen disperate Standpunkte, und zwar die Kausalität und die Normativität, anerkennt, wie ist es dann möglich, das Phänomen des Rechts zu konstruieren, welches sich aus Elementen zusammensetzt, die nach seiner eigenen Auffassung ganz und gar unvereinbar sind? Julius Moór w i l l die Struktur des Phänomens des Rechts mit Hilfe von zwei unvereinbaren Gesichtspunkten erfassen, er verbindet diese Gesichtspunkte und baut daher die Gesamtstruktur des Phänomens des Rechts auf Grund von zwei Welten, die - nach seiner Meinung - nur in vollkommener Unabhängigkeit denkbar sind. Das Recht als Norm sollte räum- und zeitlos, ohne jede Möglichkeit einer Veränderung sein. Das Recht als Wirklichkeit muß sich aber in der Zeit befinden und der Änderung unterliegen. IX. In die Reihe der Darsteller der vermittelnden Lösungen gehört auch Günther Winkler. 92 I n einer scharfen, aber durchaus berechtigten Polemik 90

Julius Moór, Das Logische im Recht, I.e. S. 158f. Barna Horvâth, Die ungarische Rechtsphilosophie, S. 75; derselbe, Rechtssoziologie, 1934; derselbe, Macht, Recht und Verfahren, ARSP 30, 1936, S. 67ff.; derselbe, Recht und Wirtschaft, Österr. ZöR 3, 1951, S. 331 ff.; derselbe, Die Gerechtigkeit des Aristoteles, 1931, derselbe, Hegel und das Recht, ZöR 12, 1932, S. 52 ff. 92 Siehe besonders: Wertbetrachtung im Recht und ihre Grenzen, 1969; Freedom in Modern Democracy, Österr. Zeitschrift für öffentliches Recht XVIII, 1968, S. 426ff.; Das Recht - ein Instrument des Friedens? Sonderabdruck aus: Convivium iuris. Alexander Dordett zum 60. Geburtstag, 1976, S. 15ff.; Wissenschaftstheoretische Orientierungen, Sonderabdruck aus Forschungen aus Staat und Recht, Bd. 32: Rechtstheorie und Rechtsinformatik, S. Iff.; Das österreichische Konzept der Gewaltentrennung im Recht und Wirklichkeit, Der Staat, Bd. 6, 1967, S. 292ff.; Ein Beitrag zur Lehre vom Verwaltungsakt, 1956, S. 39ff.; Die absolute Nichtigkeit von Verwaltungsakten, 1960, S. 15ff.; Der Christ und die Rechtsordnung, Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft katholischer Verbände, 1958; derselbe, Sein und Sollen, Rechtstheorie, 10. Bd., S. 257ff., und Rechtstheorie, Beiheft 1, 1980, S. 177 ff. 91

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echts

mit einigen Grundauffassungen von Hans Kelsen, kommt er zu seinem Begriff des Rechts: 93 „Positives Recht ist ein durch eine anerkannte Rechtssetzungsautorität geschaffenes, formgebundenes, werthaftes und werterfülltes Sinngefüge von Sollvorschriften für Menschen einer bestimmten Gemeinschaft, charakterisiert durch Zwang." Positives Recht ist also ein System von Normen. Typisiertes mögliches menschliches Verhalten ist durch die Sollvorschriften aus der Fülle an sich möglichen menschlichen Verhaltens in objektiven Sinnbezügen oder Wertvorstellungen, Werten, abstrakt typisiert hervorgehoben und in einen verbindlichen formalen oder inhaltlichen Sinnzusammenhang gestellt. Daraus ergibt sich für Winkler zweierlei. Für eine transzendente Betrachtung, daß das positive Recht durch die Hervorhebung von Verhaltenstypen, -einheiten und Institutionen, im Hinblick auf objektive Sinnbezüge zu einer Verhaltensordnung als ein kultureller Wert erscheint. Für eine immanente Betrachtung ergibt sich aber, daß das Recht die Funktion der Bestimmung und der Bewertung menschlichen Verhaltens in sich trägt, im Hinblick auf die in ihm ausgedrückten objektiven Sinnbezüge oder Werte. Daher ergibt sich die Frage nach dem Recht sowohl als Wert, wie auch als Wertordnung. Die Aussage, daß das Recht ein Wert ist, sofern und weil es Ordnimg, Maß und Richtmaß ist, ist nach Winkler 94 dem Gegenstand im wesentlichen transzendent und extrasystematisch. „Gleichwohl liegt darin eine richtige und notwendige Einsicht, die dem Juristen für das Sinnverständnis vom positiven Recht als einem Kulturphänomen der Gegenwart von entscheidender Bedeutung i s t . . . Das Wissen darum i s t . . . für jede weitere Gegenstandsbetrachtung von außerordentlicher und wesentlicher Bedeutung, denn einer philosophischen Wertbetrachtung korrespondiert eine positivrechtliche und umgekehrt." Nach seinem Inhalt ist das positive Recht aber auch eine Wertordnung, 95 Die Sollvorschriften des positiven Rechts verkörpern nicht nur eine formale Struktur, sondern sie stehen auch als Träger von Werten oder objektiven Sinnbezügen zueinander in einem widerspruchsfreien System von mehreren Grundwertentscheidungen. Winkler zeigt, 96 daß die Rechtsordnung verschiedene Werte in sich birgt: gesetzte, verbindliche und bloß geschützte, vorausgesetzte. Wer das Recht beschreiben will, so wie es ist, also rechtsdogmatisch und rechtstheoretisch, der muß es als ein System gegebener Werte und Wertentscheidungen annehmen. 97 „Von Bedeutung für ein volles Rechtsverständnis ist daher nicht nur die Einsicht in das Recht als einen allgemeinen Wert der Ordnung, sondern ebenso die Einsicht in die Werte, die 93 94 95 96 97

Günther Günther Günther Günther Günther

Winkler, Winkler, Winkler, Winkler, Winkler,

Wertbetrachtung im Recht und ihre Grenzen, S. 37 f. I.e. S. 39f. I.e. S. 40. I.e. S. 42. I.e. S. 42.

§38. Vermittelnde Erklärungen des Wesens des Rechts

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das Recht beinhaltet. Daher implizieren diese Feststellungen für die rechtsimmanente Betrachtung die von Schwinge 98 so entsprechend hervorgehobene teleologische Auslegung als die einzig entsprechende Methode inhaltlicher Rechtsbetrachtung." X. Auch der bekannte Philosoph Karl Jaspers ist ein Vertreter einer vermittelnden Lösung der Frage nach dem Wesen des Rechts. Er schreibt: 99 „Das Recht ist überall in der Welt begründet auf einen politischen Willen, den politischen Willen der Selbstbehauptung der Ordnung eines Staatswesens. Deswegen hat das Recht zwei Quellen: diesen politischen Willen und die Idee der Gerechtigkeit... Wenn große Dinge erfahren werden, es sich um einen Wandel im Zustand eines Gemeinwesens handelt, dann wird in bezug auf die Gerechtigkeit gesprochen. Sonst wird durchwegs geredet von dem Recht als dem gesetzten Recht, daß dann absolut gelten soll." Letztlich kann man A. Ladischenskij anführen, da er - was die Teleologie betrifft - manche interessante Erkenntnisse beibringt. Das Seiende und das Sollende, Normen und Naturgesetze, stehen im Vordergrund des Interesses von A. Ladischenskij. 10° In seiner Abhandlung hat er drei Lösungen des Problems der Wechselbeziehungen des Seienden zu dem Sollenden erörtert: 1 0 1 1. Die Unterordnung des Seienden unter das Sollende (moralischer Standpunkt). 2. Die Unterordnung des Sollenden unter das Seiende (kausaler Standpunkt). 3. Die Trennung des Seienden vom Sollenden (kantianischer Standpunkt des methodologischen Pluralismus). Er stellt fest, daß man keinen von diesen Versuchen, die Wechselbeziehungen des Seienden zum Sollenden zu lösen, für gelungen erklären kann. 1 0 2 Dies bedeutet, daß diese Frage einer Revision bedarf und man anerkennen muß, daß sie rational nicht zu lösen ist. 1 0 3 Weder der scholastische, theologische, noch der naturwissenschaftliche, noch der kritische, gnoseologische, kantianische Rationalismus konnte dieses Problem lösen. Ladischenskij ist der Meinung, daß die Lösung des Problems nur im Begriffe der schöpferischen Kausalität zu suchen ist. 1 0 4 „Wenn wir mit der voraussetzungslosen Analyse der Erkenntnis beginnen, so müssen w i r vor allem konstatieren, daß unsere Existenz selbst, nicht nur als betrachtendes, sondern auch als wollendes Wesen, für uns völlig unzweifelhaft und obliga98 Erich Schwinge, Der Methodenstreit in der heutigen Rechtswissenschaft, 1930, und Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht, 1930; Günther Winkler, I.e. S. 43. 99 Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik? 1966, S. 19 f. 100 A. Ladischenskij, Normen und Naturgesetze. Das Sollende und das Seiende, Revue Internationale de la Théorie du Droit 1,1926/27, S. 240ff. 101 A. Ladischenskij, I.e. S. 240ff., 257. 102 A. Ladischenskij, I.e. S. 257. 103 A. Ladischenskij, I.e. S. 257. 104 A. Ladischenskij, I.e. S. 258.

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torisch wahrhaft ist. Dieses Bewußtsein erscheint als bewußter oder unbewußter Vorsatz jeglicher Philosophie und kann deshalb von keiner Philosophie abgelehnt werden. Wirklich, wenn w i r es ablehnen würden, so würden w i r dadurch auch diese Ablehnung selbst ablehnen, denn diese Negation stützt sich auf die unmittelbare Evidenz unseres denkenden und wollenden Ichs. Wir empfinden uns unmittelbar nicht nur als erkennendes, sondern auch als wollendes Subjekt. Nicht nur sum cogitans, wie schon Descartes behauptete, sondern auch - sum volens." 105 Ladischenskij stellt fest, 106 daß wir unmittelbar unsere Fähigkeit, neue Reihen kausaler Beziehungen zu binden, erkennen; mit Berufung auf L. M. Lopatin betont Ladischenskij, daß selbst der Begriff der Kausalität auf der Empfängnis der Fähigkeit entsteht, die Reihe der kausalen Beziehungen zu beginnen. Lopatin beweist in seinen „Positiven Aufgaben der Philosophie", daß wir, dank dem Willen, fähig sind, eine neue Reihe kausaler Beziehungen zu beginnen, daß in unserer Seele nicht die mechanistische, sondern die schöpferische Kausalität herrscht. 107 „Das Gefühl der Freiheit ist die Erkenntnis seiner selbst als Quelle neuer Tätigkeit. Die Freiheit erfassen w i r in ihr als Selbstbestimmung. Mit anderen Worten: sie selbst ist innere geistige Kausalität" (Lopatin). Dank dem Begriff der schöpferischen Kausalität löst sich - nach Meinung von A. Ladischenskij 108 - das Problem der Verantwortlichkeit. Das Sollende - argumentiert Ladischenskij 109 - kann nicht als das unbedingt sich Verwirklichende verstanden werden, denn sonst würde es sich vom Seienden nicht unterscheiden. Man kann es auch nicht als das kausal unbedingt sich Nichtverwirklichende betrachten, denn das Unmögliche ist auch nicht das Sollende. Folglich ist das Sollende weder das unbedingt sich Verwirklichende, noch das unbedingt sich nicht Verwirklichende. Es ist etwas Mögliches. Und deshalb setzt die Kategorie des Sollens die Kategorie der Möglichkeit voran. Doch nun können w i r gefragt werden, auf welche Weise die Kategorie der Möglichkeit mit der Kategorie der Gesetzmäßigkeit in Einklang gebracht werden kann. Man sagt uns, entweder sei die Möglichkeit der Ausdruck für unsere Unkenntnis der strengen kausalen Notwendigkeit, oder sie müsse eine solche leugnen." Ladischenskij kommt zum Schluß, 110 daß der Begriff der kausalen Notwendigkeit des unbedingten Eintritts oder Nichteintritts dieses oder jenes Ereignisses der äußerste Grenzbegriff (im Sinne der Rationalisierung), 105 106 107 108 109 110

A. A. A. A. A. A.

Ladischenskij, Ladischenskij, Ladischenskij, Ladischenskij, Ladischenskij, Ladischenskij,

I.e. I.e. I.e. I.e. I.e. I.e.

S. 258. S. 26Ó. S. 261. S. 261. S. 261 ff. S. 263.

§39. Der Weg im Schrifttum zur ontologischen Erfassung

237

Begriff der Möglichkeit, ist. Die kausale Notwendigkeit ist die maximale Notwendigkeit. Das Feststellen der Unvermeidlichkeit des Beginnens oder Nichtbeginnens eines Ereignisses ist im vollen Maße nicht erreichbar. Der andere äußerste Grenzbegriff (im Sinne des Rationalen) ist der Begriff der absoluten Zufälligkeit. Diese letztere kann in ihrem ursprünglichen Zustande ebensowenig konstatiert werden, wie die streng kausale Notwendigkeit des obligatorischen Beginnens oder Nichtbeginnens eines Ereignisses. Allerdings, alles Zufällige hat Grenzen seiner Möglichkeit. Nur in diesen Grenzen kann es sich vollziehen. Somit hat Ladischenskij festgestellt, 111 daß nur mit Hilfe der Kategorie der Möglichkeit die aktuelle Frage von den Wechselbeziehungen der normativen und kausalen Methode in der Soziologie zu lösen ist. Vom erörterten Standpunkt aus betrachtet stimmt das Sollende mit dem Seienden nicht überein, und darum wird das Sozialsollende als solches (d.h. nicht die Vorstellung vom Sozialsollenden, sondern das letztere selbst) nicht auf soziologischem Wege festgestellt. Anderseits ist die Feststellung des konkret Sollenden im sozialen Sinne dieses Wortes ohne die Kenntnis der Bedingungen und Tendenzen der Entwicklung des sozialen Lebens unmöglich. Nur mit Hilfe der Kategorie der Möglichkeit, nur in der Kombinierung der kausalen und normativen Methode, auf teleologischem Wege, kann das Sollende für das Seiende und nicht das vom Leben gelöste Sollende, das „Sollende an sich", festgestellt werden, konstatiert Ladischenskij. 112 § 39. Der Weg im Schrifttum zur ontologischen Erfassung des Wesens des Rechts I. Zu den „Rechtsontologen" kann man gewissermaßen schon die alten Denker des Griechentums zählen. Solon selbst war sich dieser Problematik bewußt, wenn er auf die Frage, ob er seinen Bürgern die denkbar besten Gesetze gegeben habe, antwortete: „Die besten schlechterdings nun freilich nicht, aber doch die besten, deren sie fähig sind." 1 In diesen Worten kann man auch die erste indirekte Argumentation mit der im zwanzigsten Jahrhundert so beliebten „Natur der Sache" sehen. Aber auch die naturrechtlichen Philosophen, die lehrten, daß das Recht ein kosmisches Gesetz ist (Anaximandros von Milet), oder für welche die „Weltharmonie" ein anderer Ausdruck des Gedankens der Weltgerechtigkeit war (Pythagoras), waren Vorläufer der jetzigen Konzeption der „Natur 111 112 1

A. Ladischenskij, I.e. S. 265f. A. Ladischenskij, I.e. S. 267. Vgl. Gustav Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1959, S. 22.

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der Sache" und in diesem Sinne auch der ontologischen Auffassung des Wesens des Rechts. Die römischen Juristen wollten „die Regel finden, die sich aus der Natur der Sache, aus der Natur der Lebensverhältnisse ergibt." 2 Nach der Lehre der Scholastik liegt in Sachverhalten ein Maß des Richtigen. Auch die bekannte Definition der „lex naturalis" von Christian Wölfl* kann man in diesem Zusammenhang zitieren: „Lex naturalis est quae rationem sufficientem in ipsa hominis rerumque essentia adque natura agnoscit." Auch hier handelt es sich um eine Theorie, die aus einem Sein den Maßstab der richtigen Ordnung entnimmt, wie etwa aus biologischen Gegebenheiten die Familienordnung, aus dem Geselligkeitstrieb des Menschen oder aus der Tatsache, daß sich in der Natur das vitalere Lebewesen durchsetzt, die Gemeinschaftsordnung. 4 Bekannt sind die Worte, mit denen Montesquieu sein berühmtes Werk „Esprit des lois" beginnt: „Les lois, dans la signification la plus étendue, sont les rapports nécessaires qui dérivent de la nature des choses" („Die Gesetze sind, im weitesten Sinne, die notwendigen Beziehungen, die sich aus der Natur der Sachen herleiten"). 5 In allgemeiner Formulierung hebt Schiller 6 in seinem Brief an Wilhelm Humboldt vom 9.11.1795 hervor Goethes „solide Manier, immer von dem Objekt das Gesetz zu empfangen und aus der Natur der Sache ihre Regeln abzuleiten." Heinrich Dernburg hat die ganze Problematik klar formuliert: 7 „Die Lebensverhältnisse tragen, wenn auch mehr oder weniger entwickelt, ihr Maß und ihre Ordnung in sich. Diese den Dingen innewohnende Ordnung nennt man Natur der Sache. Auf sie muß der denkende Jurist zurückgehen, wenn es an einer positiven Norm fehlt oder wenn dieselbe unvollständig oder unklar ist." Aber auch die Lehre von Emil Lask, dem genialsten, leider vorzeitig tragisch gestorbenen Neukantianer der heidelbergschen Richtung, von „ Stoff bestimmtheit der Idee" (jede Wertidee ist auf einen bestimmten Stoff hinge-

2 Fritz Schultz, Prinzipien des römischen Rechts, 1933, S. 24; Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl., S. 372. 3 Christian Wolff \ Philosophia practica, I § 135; vgl. Reinhold Zippelius, Das Wesen des Rechts, 2. Aufl., S. 72. 4 Reinhold Zippelius, I.e. S. 72f. 5 Montesquieu, Esprit des Lois, Kap. I, Anfang, β Vgl. Heinrich Henkel, I.e. S. 371. 7 Dernburg, Pandekten, 3. Aufl., Bd. I, § 38, S. 87, 5. Aufl., 1896, S. 87.

§ 39. Der Weg im Schrifttum zur ontologischen Erfassung

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richtet) 8 oder Génys Lehre von „donnés " und von der „nature des choses"9, deren Erkenntnis er mit der Betrachtung der Rechtszwecke verbindet, oder Hubers Lehre von „Realien der Gesetzgebung" 10 gehören hierher. Bockelmann hat in seinen Bemerkungen zu Adalbert Stifters Maxime stets das zu tun, „was die Dinge fordern", gezeigt, 11 daß diese Maxime folgendes bedeutet: „ I n jeder Situation, in jeder Konstellation von Tatsachen, menschlichen Strebungen und historischen Tendenzen liegt ein Maßstab des Richtigen verborgen, den es auszuhorchen gilt. Er ist den Dingen immanent, nicht transzendent." II. Sehr oft hat das Problem der „Natur der Sache" Gustav Radbruch behandelt. 12 Nach ihm bedeutet „Sache" in der Wendung „Natur der Sache" den Stoff, das Material des Rechts, die „Realien der Gesetzgebimg" im Sinne von Eugen Huber, kurz die natürlichen, sozialen und rechtlichen Zustände, welche der Gesetzgeber vorfindet und seiner Regelung unterwirft. 1 3 Unter „Natur der Sache" versteht Radbruch 14 das Wesen, den Sinn der Sache, den aus der Beschaffenheit des Lebensverhältnisses selbst zu entnehmenden objektiven Sinn. Die Geltung der Natur der Sache für den Gesetzgeber ist - wie Radbruch betont - 1 5 nicht nur durch die Forderung der Realisierbarkeit und durch die geschichtlichen Schranken der Ideenbildung gegründet, sondern auch durch das Wesen der Rechtsidee selbst. 16 Jede Wertidee ist für einen bestimmten Stoff und deshalb auch durch diesen Stoff bestimmt. „Wie die Idee des Künstlers von seinem Werk mitbestimmt ist durch den Stoff, in dem er es ausführen will, anders wenn er in Marmor, anders wenn er in Bronze arbeiten will, so ist jede Wertidee auf einem bestimmten Stoff hingeordnet (Emil Lask), so sind insbesondere die Rechtsideen wesensmäßig durch den Rechts8 Emil Lask, Lehre von der Bedeutungsdifferenzierung, Logik der Philosophie, S. 57f., 169f. 9 François Gény, Science et technique en droit privé positif I, S. 96f., Méthode d'interpretation, Bd. II, S. 88ff.; vgl. Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl., S. 7; Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1960, S. 309ff., 3. Aus., 1975 S. 406 ff. 10 Eugen Huber, Zeitschrift für Rechtsphilosophie, Bd. I, S. 39ff. 11 Bockelmann, in seinen Bemerkungen zu Stifters „Witiko", Festschrift für Niedermeyer, 1953, S. 23; vgl. Heinrich Henkel, I.e. S. 371f. 12 Gustav Radbruch, Rechtsidee und Rechtsstoff, in: Kant-Festschrift, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, 17. Bd., 1923/24, S. 343ff.; derselbe, Rechtsphilosophie, 3. Aufl., S. 19; derselbe, Festschrift für Franz Weyr, Bd. II, 1939; derselbe, Die Natur der Sache als juristische Denkform, Festschrift für Rudolf Laun, 1948, S. 157ff.; derselbe, Vorschule der Rechtsphilosophie, 2. Aufl., S. 20ff. 13 Dazu und zum folgenden Gustav Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, 2. Aufl., S. 21. 14 Gustav Radbruch, I.e. S. 22. 15 Gustav Radbruch, I.e. S. 23. 16 Gustav Radbruch, I.e. S. 23.

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

stoff bestimmt, durch den besonderen Volksgeist? kurz: durch die Natur der Sache („Stoffbestimmtheit der Idee")." 1 7 Nach Radbruchs Meinung 18 dient die Natur der Sache dazu, den schroffen Dualismus zwischen Wert und Wirklichkeit, zwischen Sollen und Sein etwas zu entspannen, aber nicht ihn aufzuheben. Nach Meinung von Werner Maihofer 19 kann die Natur der Sache ein „konkretes Naturrecht" begründen. In der „Natur der Sache" sieht er eine „neben dem Gesetz stehende außergesetzliche Rechtsquelle", deren rechtserzeugender Gehalt aus der „Sollensstruktur der sozialen Rollen und Lagen" entspringt. Diese kann nach Maihofers Meinung ermittelt werden „durch Analyse der natürlichen Erwartungen und Interessen, Forderungen und Pflichten in den die konkreten Lebensverhältnisse konstituierenden sozialen Rollen und Lagen." Wie Heinrich Henkel richtig hervorhebt, 20 erwächst danach bei Maihofer die Natur der Sache sogar zum Rang einer qualifizierten Rechtsquelle. Nach Meinung Maihof ers 21 läßt die den sozialen Rollen und Lagen innewohnende Natur der Sache nur deren „Sollensstruktur" erkennen, während die die Rechte und Verbindlichkeiten als allgemeines Verhaltensgesetz festsetzende und begrenzende Sollensnorm sich erst aus dem zusammenwirkenden Einsatz von Goldener Regel und Kategorischem Imperativ ergibt. Aus den Diskussionen um das konkrete Naturrecht, um das geschichtliche oder werdende Naturrecht, 22 stellt Maihofer fest, daß der Weg auf nichts anderes hinausführt als auf eine Analyse der konkreten Situationen und ihrer jeweiligen „Natur der Sache." 23 17

Gustav Radbruch, I.e. S. 23. Gustav Radbruch, I.e. S. 23. 19 Werner Maihofer, Recht und Sein, 1954; derselbe, Vom Sinn menschlicher Ordnung, 1956; derselbe, Naturrecht als Existenzrecht, 1963; derselbe, Rechtsstaat und menschliche Würde, 1968; derselbe, Ideologie und Recht, in: Ideologie und Recht, hrsg. W. Maihofer, 1969; derselbe, Demokratie und Sozialismus, 1968; derselbe, Die Natur der Sache, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 44, 1958, S. 145ff., S. 172ff.; jetzt auch in: Arthur Kaufmann, Die ontologische Begründung des Rechts, 1965, S. 52ff.; vgl. auch Max Gutzwiller, Zur Lehre von der „Natur der Sache", in: Arthur Kaufmann, Die ontologische Begründimg des Rechts, S. 14ff., S. 3Iff.; Norberto Bobbio, Über den Begriff der „Natur der Sache", ibid., S. 87ff.; Alessandro Baratta, Natur der Sache und Naturrecht, ibid., S. 104ff., 157ff.; Herbert Schambeck, Der Begriff der „Natur der Sache", ibid., S. 164ff.; Karl Engisch, Zur „Natur der Sache", ibid., S. 205ff.; Walter Reimers, Zum Begriff des Ordnungsgefüges i n Naturund Rechtswissenschaft, S. 340ff.; Walter Gustav Becher, Wirklichkeit und Recht, ibid., S. 566ff. 20 Heinrich Henkel, I.e. S. 384. 21 Heinrich Henkel, I.e. S. 385. 22 Werner Maihofer, Ideologie und Recht, I.e. S. 32; vgl. auch Werner Maihofer, Recht und Existenz, in: Vom Recht, Hannoversche Beiträge zur politischen Bildung, 1963, S. 161 ff., 175ffderselbe, Naturrecht als Existenzrecht, 1963, S. 37ff. 2 r a i , d i u n , .. . . 18

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Heinrich Henkel lehrt, 2 4 daß indem der Begriff „Natur der Sache" auf das den Seinsgegenständen immanente Wesenhafte und Sinnhafte hinweist, er geeignet ist, alle diejenigen Elemente zusammenzufassen, die bei den einzelnen rechtlichen Regelungsgegenständen als ein das Recht determinierender Faktor hervorgetreten sind: die in den „Sachen" wirksamen Gesetzlichkeiten, die in ihnen enthaltenen Strukturen, Sinngehalte, Sinn- und Wertbezüge sowie weiterhin alles nicht erschöpfend Aufzählbare, das zum bestimmenden Grund des Seinsgegenstandes oder Seinsverhältnisses gehört. „Damit gewinnt der Begriff ,Natur der Sache' eine spezifische Relevanz und eine spezifische Funktion für das Rechtsdenken und die Rechtsgewinnung: er wird zum Sammelbegriff aller Vorgegebenheiten des Rechts ..." Meiner Meinung nach drückt die ganze Argumentation zur „Natur der Sache" die richtige Tendenz aus, daß die ontologischen Untersuchungen Priorität haben müssen und daß die methodologischen, logischen und noetischen Untersuchungen etwas Aposteriorisches sind. Die Zuneigung zum Rechtsmaterial, zum „Rechtsobjekt", „Rechtsgegenstand" ist das Allerwichtigste. Sicher muß man mit den „Vorgegebenheiten", die verschiedener Art sind, immer arbeiten. Aber das, wovon im Sinne von Herbert Marcuse 25 Werner Maihof er spricht, und zwar, daß sich in der notwendigen geschichtlichen Entwicklung „auf eine noch völlig ungeklärte Weise" eine spezifische „Wertigkeit" der jeweiligen Situation, ihrer Träger und ihrer Lebensordnung konstituiert, ist meiner Ansicht nach nicht so rätselhaft, wie diese Denker meinen. Das Geheimnis löst sich, wenn man sich die abgeleitete Normativität einiger Sphären des realen geistigen Seins, besonders der rechtlichen Sphäre, vergegenwärtigt. Die Dinge und überhaupt die ganze Umwelt bilden sicher unüberschreitbare Grenzen für jede Normschöpfung. Aber das Normative legt der objektive und personale Geist (Rechtsgeist), der mit der abgeleiteten Normativität ausgestattet ist, in diese Dinge, Sachen, in die Umwelt, in die Lebensverhältnisse selbst hinein. III. Einen Vorläufer auf dem Wege zur kritisch-ontologischen Erfassung des Wesens des Rechts kann man in der Rechts- und Staatslehre Léon Duguits sehen.26 Grundlegend für Léon Duguit war seine konsequente und radikale Ablehnung jeglicher Metaphysik und metaphysischer Hypostasierung 27 . Duguits 24

Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl., S. 377. Herbert Marcuse, Zur Wahrheitsproblematik der soziologischen Methode, in: Ideologie, hrsg. Lenk, 1961, S. 215. 26 Léon Duguit, Traité de Droit Constitutionel, 2. Aufl., I, 1921, II, 1923, III, 1923; zum folgenden Ad. Menzel, Eine „realistische" Staatstheorie, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht I, 1914, S. 114ff., und besonders Josef L. Kunz, Die Rechts- und Staatslehre Léon Duguits, Revue Internationale de la Théorie du Droit, I, 1926/1927, S. 140ff., 204ff. 27 Léon Duguit, I.e. I I S. 51. 25

16 Kube§

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Methode war streng „realistisch" und diese Methode sollte ihm auch eine „realistische" Rechts- und Staatslehre geben. 28 Der realistischen Methode gemäß geht Léon Duguit von dem in Gesellschaft lebenden Menschen aus, der, ein bewußtes Wesen und ein Wesen, das nicht isoliert leben kann, schon deshalb einer „règle de conduite" unterworfen ist, deren Verletzung eine soziale Reaktion hervorruft, die organisiert werden kann. Diese „règle de conduite" ist die soziale Norm, welche von der Beobachtung der Fakten ausgeht („norme sociale, qui résulte des observations de fait"). 29 Aber diese Norm ist keine „loi de cause". Duguit schaltet die Kausalität aus und setzt an ihre Stelle den Zweck. Die Normen sind Zweckgesetze („lois de but"). Duguit sieht klar ein, daß eine Norm nicht aus der Faktizität abgeleitet werden kann, nicht auf ein soziales Faktum gegründet werden kann. Die Rechtswissenschaft zählt er zu den Normativwissenschaften („sciences normatives"). Die soziale Norm in der Auffassimg von Duguit 30 ist eine „règle qui s'impose aux hommes en fait" 31 d.h. sie ist noch keine Rechtsnorm. Sofort entsteht aber die Frage, wie eine solche „norme sociale" zur Rechtsnorm, zur „règle de droit" wird? Nach Duguit keineswegs durch die Promulgierung durch den Staat; denn - und hier kommt man, wie Josef L. Kunz betont, zu einer grundlegenden These der ganzen Rechts- und Staatslehre Léon Duguits - das Recht ist keine Schöpfung des Staats; das Recht existiert außerhalb des Staates, der Begriff des Rechts ist vollkommen unabhängig von dem Begriff des Staates; „le droit n'est pas une création de l'Etat; i l éxiste en dehors de l'Etat; le notion de droit est tout à fait indépendante de la notion d'Etat et la règle de droit s'impose à l'Etat comme elle s'impose aux individus; l'Etat est limité dans son action par une règle de droit, i l doit l'être et i l ne peut pas ne pas l'être". 3 2 Der Gesetzgeber wäre daher unfähig Recht zu setzen, wenn es nicht schon den Rechtscharakter hätte. Einen ähnlichen Gedanken drückt auch Fr. Darmstädter aus, 33 wenn er sagt, daß „die Gesetze gemacht werden, das Recht dagegen nicht. Das Recht wird nicht gemacht, sondern gefunden." Wie wird also bei Duguit die soziale Norm zur Rechtsnorm? Hier begegnet man den grundlegenden Begriffen, die schon auf die kritische Ontologie hinweisen, und zwar den Begriffen der „conscience de la masse des indivi28

Josef L. Kunz, I.e. S. 143f. Vgl. Josef L. Kunz, I.e. S. 144. 30 Léon Duguit, I.e. I S. 60. 31 Léon Duguit, Le. I S. 18. 32 Léon Duguit, I.e. I S. 33. 33 Fr. Darmstädter, Recht und Rechtsordnung, 1925; vgl. Josef L. Kunz, I.e. S. 145, Anm. 30. 29

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dus" und dem „sentiment de la justice". 3* Nach Duguit wird eine soziale Norm dadurch und mit dem Moment zur Rechtsnorm, wenn im Gewissen oder Bewußtsein („conscience") der Masse der Mitglieder das Gefühl („sentiment") erwächst, ständig gegen die Verletzung dieser Regel zü reagieren, das „sentiment de la nécessité de la sanction." Dieser Stand des Gewissens oder Bewußtseins („état de conscience") ist die eigentliche Rechtsquelle, die „source créatrice du droit"; er wird durch zwei Faktoren geformt, und zwar durch das „sentiment de la socialité" und durch das „sentiment de la justice", 35 Diese Gefühle sind keine „höheren Prinzipien" („principes supérieures"), sondern einfache Tatsachen („un fait"). Die Rechtsnorm ruht auf dem durch Beobachtimg konstatierten Faktum der sozialen Interdependenz. 36 Das Gesetz ist keine Rechtsquelle, sondern eine Weise der Konstatierung der Rechtsnorm („un mode de constatation de la règle de droit"). 3 7 Das Recht selbst ist „un produit spontané des consciences individuelles, s'inspirant à la fois du sentiment de la nécessité sociale et du sentiment de justice". 3 8 Das Recht entsteht also - wie Josef L. Kunz in der Darstellung der Rechtsund Staatslehre Léon Duguits besonders hervorhebt - 3 9 spontan im Geiste der Individuen. Ähnlich wie Nicolai Hartmann verwirft auch Léon Duguit jede Personifikation der Kollektivitäten, verwirft den „Kollektivwillen", der nichts sei als „une simple vue de l'esprit", „ne repondant à rien de réel et pouvant conduire à des conséquences dangereuses." Die Annahme eines solchen Kollektivwillens wäre wissenschaftlich nur dann gerechtfertigt, wenn sich seine Existenz durch direkte Beobachtung aufzeigen ließe. 40 Nur das Individuum besitzt einen bewußten Willen. 4 1 Duguit stellt ausdrücklich fest: 42 „Quand je dis qu'une norme juridique existe au moment, où la masse des individus composant une société donnée comprend que l'interdependance qui les unit serait gravement compromise si cette règle n'était pas sanctionnée et qu'en même temps cette masse d'individus a le sentiment qu'il est que cette sanction existe, j'entends par là que ce sont les individus pris séparément et personnellement qui ont cette conscience." 34 35 36 37 38 39 40 41 42

16'

Josef L. Kunz, 1.e. I S. 33. Josef L. Kunz, 1. c. S. 146. Léon Duguit, I.e. I I S. 70f. Léon Duguit, I.e. I S. 73; Josef L. Kunz, I.e. S. 148. Léon Duguit, I.e. I I S. 90. Josef L. Kunz, I.e. S. 148. Léon Duguit, I, S. 60, 65, 327. Léon Duguit, I.e. ΙΠ, S. 434f. Léon Duguit, Le. I S. 63.

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Hier überall ist Duguit sehr nahe der richtigen Auffassung, daß das Recht in dem objektiven Geist verankert ist und sich grundsätzlich als seine Objektivation, als objektivierter Rechtsgeist darstellt. Seine ganze Auffassung ist leider noch immer zu sehr psychologisch untermauert. Duguit kennt noch nicht den stufenförmigen Aufbau der realen Welt, und besonders nicht das geistige Sein, wohin sein „état de conscience" gehört. Der zweite Mangel der hochinteressanten Konzeption Duguits besteht darin, daß er aus Angst, nicht den Boden der Realität zu verlassen, nicht die Verbindung des geistigen Seins mit der Welt der Idealität, und besonders mit der Normidee des Rechts sieht. Duguit w i l l das Recht in einer psychologischen Faktizität verankern: „ i l y a toute une psychologie sociale à faire." Hier und überall bei der ganzen Konstruktion der „conscience de la masse" sehen w i r viele verwandte Züge mit einer anderen Theorie, deren Vertreter der Begründer der psychologischen holländischen Rechtsschule H. Krabbe, besonders mit seiner Lehre vom „Rechtsbewußtsein", war. 4 3 Auch dieser Rechtstheoretiker lehrt: „Das Recht wird nicht gemacht, sondern bezeugt. Es ist unrichtig zu sagen, daß die als Rechtsorgane fungierenden Personen Recht machen, sie bezeugen bloß, was nach ihrer Ansicht Recht ist ... Die im Rechtsbewußtsein der Volksgenossen tätige geistige Macht, kann durch eines Menschen Wort nicht entkräftet werden. Sie untergräbt, wo sie nicht formell durchbrechen kann, und der Wille des Gesetzgebers, auf Pergament gemahlt oder in steinerne Tafeln eingegraben, wird, wie die Geschichte aller Zeit beweist, zum leeren Schall, wenn er nicht wiederklingt in der Seele des Menschen." 44 Aber auch bei Karl Renner kann man gewisse Zeichen eines ontologischen Zugangs zum Recht sehen. So z.B. wenn er feststellt: 45 „Das, was rechtens sein soll, halten Schrift und Druck fest und rücken es aus dem verschwimmenden, bloß subjektiven Dasein im Bewußtsein des Einzelnen heraus in die Welt der Objekte. Schrift und Druck objektivieren auf diese Art Bewußtseinstatbestände, machen sie beständig und entziehen sie so dem Individuum, dessen Seelenregungen ja unendlich wandelbar sind. Das Recht erscheint als etwas Festgelegtes, Statuiertes, Gesetztes, als Gesetz." IV. Um die Verbindung Kelsens Reiner Rechtslehre, nach der das Recht seinen Heimatsort im Reich der Idealität hat, mit der Auffassung des Rechts 43 H. Krabbe, Die Lehre der Rechtssouveränität, 1906; derselbe, Die moderne Staatsidee, 1915; derselbe, Der „innere" Wert des Rechts, Revue Internationale de la Théorie du Droit, Annél, 1926/1927, S. 153ff.; derselbe, Kritische Darstellung der Staatslehre, 1930; vgl. auch R. Kranenburg, Positiefrecht en rechtsbewustsijn, 1912. 44 H. Krabbe, Die Lehre von der Rechtssouveränität, S. 161 f., 157; vgl. S.A. von Wien, Strömungen in der modernen niederländischen Rechtsphilosophie, Revue Internationale de la Théorie du Droit XII, S. 234f. 45 Karl Renner, Die Rechtsinstitute des Privatrechts und ihre soziale Funktion, 1928, S. 1; von mir unterstrichen.

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als eines Teils des objektiven, bzw. objektivierten Geistes, versucht sich Hans Herz.* 6 Herz ist nicht mit der Hartmannschen Auffassung einverstanden, 47 nach der das Recht als geltendes Recht wesentlich auch lebendiges Recht ist und als solches daher in der Sphäre des „objektiven Geistes" steht; er ist auch nicht einverstanden mit der Ansicht, daß das Recht primär als Rechtsbewußtsein, als wirkendes, dem „wirklichen Gerechtigkeitsempfinden der Menschen" gerecht werdendes Recht existiert; er lehnt auch die Feststellung Hartmann's ab, daß die Seinsweise des Rechts in der Geschichte „das Lebendigsein der Gesetze im gemeinsamen Rechtswillen und -empfinden der Menschen" ist. Herz fragt, 48 ob hiermit das eigentlich „Rechtliche" des Rechts getroffen ist, und antwortet auf die so gestellte Frage im negativen Sinn. Er behauptet richtig, daß das Recht in die Sphäre des objektivierten Geistes gehört. Seine weitere Behauptung aber, daß der objektivierte Geist in das Reich des „idealen Seins", in die Sphäre der „Wesenheiten", „Gestalten", „Geltungen" gehört und daß er kein „Epiphänomen" des objektiven Geistes sei, ist durchaus unrichtig. Nach der Meinung von Herz 49 findet sich in der Sphäre des objektivierten Geistes vielmehr das eigentlich „geistige Sein" idealen Charakters, wie logische, mathematische, ethische Sachverhalte und rechtliche Normen. „Dieses Sein ,überbaut', in wieder neuer Art und in sich selbst wieder differenzierter Weise, die Schichten des ,realen' Seins, so daß bei dieser Annahme ein durchgängiger Stufungs- und Schichtungscharakter der gesamten, reales und ideales Sein umfassenden Welt aufgewiesen wäre. Bei Hartmann scheint der Schichtungscharakter auf die reale Welt beschränkt zu sein, der dann unverbunden und unvermittelt das ideale Sein gegenübersteht. Bereits beim Problem des Kunstwerks aber, das dem ,objektivierten' Geist gehört, muß Hartmann das Vorhandensein eines ,Irrealen' zugeben, das im Realen für den objektiven Geist,erscheint'. Ebenso aber »erscheint' doch im realen Sinngebilde etwa die Wahrheit eines mathematischen Satzes, die auch Hartmann zufolge der Sphäre idealen Seins angehört. Inwieweit dabei eine mathematische Gesetzlichkeit von allem Realen losgelöst ist, sei dahingestellt. Gewiß ist sie ganz in sich selbst gültig, ohne irgendeinen Bezug auf reale Sachverhalte, in zeitloser Unabhängigkeit von ihnen. Aber zu ihrem Begriffenwerden wenigstens gehört wieder der reale Akt der Einsicht oder 46 Hans Herz, Das Recht im Stufenbau der Seinsschichten, Bemerkungen über das Verhältnis einer reinen Rechtslehre zu Nicolai Hartmanns Lehre vom Schichtenbau der Welt, Revue Internationale de la Théorie du Droit IX, 1935, S. 283ff.; derselbe, Recht und Realdialektik, I.e. XI, 1937, S. I f f . 47 Hans Herz, Das Recht im Stufenbau der Seinsschichten, I.e. S. 287. 48 Hans Herz, 1. c. S. 287f. 49 Hans Herz, I.e. S. 288f.

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Erkenntnis. Es mag zweifelhaft sein, ob das Sein eines solchen idealen Sachverhaltes ohne Bezug auf sein Er- und Gedachtwerden oder sonstwie sich vollziehendes ,Sein für uns' noch sinnvoll begriffen werden kann. Erscheint aber schon beim Sein der idealsten Gegenstände, der mathematischen und logischen Sachverhalte, der Charakter des absolut Losgelösten zweifelhaft, so ist es nicht wohl angängig, anderen, durchaus ,irreal' auftretenden Gegenständen den Charakter idealen Seins deshalb abzusprechen, weil ihnen »absolute Überzeitlichkeit', das Fehlen der ,Bindung an etwas Reales' usw. abgeht. Was dann das ,Irreale' an ihnen eigentlich sei, bleibt unklar ... Sieht man sie als der idealen Sphäre zugehörig an, so ergibt sich allerdings, daß auch mit ihr der Schichtungscharakter der Welt nicht aufhört, daß auch für sie die Gesetze der Dependenz und der Autonomie weiter gelten." „Es findet also eine weitere ,Überformung' der gesamten ,realen' Sphäre durch die Schicht des ,Idealen' statt, und zwar so, daß die verschiedenen Bereiche der Idealsphäre in mannigfacher Weise nebeneinander sich über der Realsphäre aufbauen, so daß manche idealen Gegenstände fast losgelöst dastehen, während andere in intensiver Weise mit Realem verknüpft sind. Diesen idealen Gegenständen aber ist allen gemeinsam ihr Charakter des ,Irrealen', der nicht mehr in Raum und Zeit befindlichen ,Gestalt' oder ,Wesenheit'. Diese Eigentümlichkeit, die als ,Novutti' gegenüber allem Realen hier auftritt, gibt der ganzen Schicht den Charakter der Idealität und verleiht ihr so gegenüber dem Unterbau realen Seins ihre ,Autonomie'", betont Herz. Das Recht ist nach Auffassung von Herz 50 seinem Wesen nach ein ,Sollen', es ist Norm bzw. Normsystem, und zwar in seiner spezifischen Wesenheit als Recht zum Unterschied von andersgearteten Normen: zwangandrohende Norm. Der ihm eigentümliche Charakter der Sollgeltung enthebt das Recht nach der Meinung von Herz der Sphäre der realen Wirklichkeit und ordnet es in die des idealen Seins ein. Andererseits aber ist das Recht nach der Ansicht von Herz 51 mit der Sphäre des Realen verbunden. Die Rechtsnorm wird hic et nunc geschaffen und sie kann in ihrer faktischen Geltung vergehen. Das Recht ist geltendes Recht nur, soweit es hic et nunc zu bestimmter Zeit, in bestimmtem Bereich und für bestimmte Menschen faktisch wirksam wird. 5 2 „Es hat zum Inhalt menschliches Verhalten, das es durch Androhung realen Zwanges in bestimmter Weise faktisch regeln will. Die Rechtsnorm bedarf also zum Existentwerden ganz bestimmter real-faktischer Voraussetzungen, die existentiell ihre tragende Grundlage bilden. Und doch ist sie ihrem Wesen nach, in ihrem idealen Sollenscharakter, durch diese ihre Seinsgrundlage nicht 50

Hans Herz, I.e. S. 291. Hans Herz, I.e. S. 291. 52 Hans Herz, I.e. S. 291. 51

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absolut determiniert, vielmehr tritt das ,Sollen4 als ein in der Sphäre realen Seins nicht auffindbarer, neuer Idealmodus hinzu; trotz ihrer faktischen Verwurzelung gehört die Norm der Sphäre idealen Seins an." 5 3 So sind - argumentiert Herz weiter - 5 4 die Erscheinungen des rechtlichen Bereiches Beispiele dafür, daß es Seinsstufen minderer Idealität gibt, die in dieser oder jener Art von Überbauimg mit der Realsphäre in Verbindung stehen. Durch ihr Wesen gehören also die Rechtserscheinungen nach Herz in die „Sphäre minderer Idealität". Von neuem untersucht Hans Herz die Problematik des Standortes des Rechts in der Welt des Seienden, und zwar in seiner Abhandlung „Recht und Realdialektik". 5 5 Er stellt wiederum fest, daß zwei Grundtypen philosophischer Einstellung, und zwar bereits seit dem Anfang allen Philosophierens bei den Griechen, das Recht in zweierlei grundverschiedener Weise aufgefaßt haben: Der Weg des Philosophierens, der, von Piaton bis zum Neukantianismus, einer mehr oder weniger „real" aufgefaßten Welt raumzeitlichen Seins die - sei es allein „wahrhaft seiend" gemeinte, sei es der ersteren nebengeordnete - Welt idealer „Wesenheiten", „Geltungen" usw. schroff gegenüberstellt, hat das Recht zumeist dem Bereich des idealen Seins zugewiesen und es so vom „realen Sein" als etwas „ganz anderes" scharf abgehoben. „Dadurch gelang es diesem Philosophieren, das dem Recht als Recht Eigentümliche, seinen Geltungscharakter, zu erfassen und unter Heraushebung des ihm spezifischen, es von anderen normativen Sphären, wie der Moral, unterscheidenden rechtlichen Geltens als »reine4, ihrer eigenen Gesetzlichkeit unterworfene Sphäre zu konstituieren. Dies geschah in radikaler Weise durch die philosophisch auf kantianischen Dualismus zurückgehende Rechtstheorie Kelsens." - Auf der anderen Seite steht der Weg des philosophischen Monismus, der von Aristoteles ausgehend über die Scholastik und Leibniz zu Hegel führt. „Für ihn baut sich die - sei es realistisch, sei es idealistisch aufgefaßte - Welt als, wenn auch geschichtete, Einheit auf, so daß sowohl die raumzeitlichen Gegenstände als auch die der Begriffe, Geltungen, Normen usw. in der gleichen einheitlichen Welt ihren Platz haben und in ihrer gegenseitigen dialektischen Abhängigkeit voneinander, in ihrem Ineinandergefügtsein, verstanden werden. Begriffe, Kategorien, Normen, Gesetzlichkeiten stehen nicht als getrennte Welt der Welt ,realer' Gegebenheiten gegenüber, sondern bilden erst zusammen mit ihr die bestehenden Strukturen des Seienden. Das Recht ist diesem Philosophieren zumeist ein Ausschnitt aus der Welt raumzeitlicher Gegebenheiten, in welches zwar Normatives mithinein verflochten ist, das aber seinem Wesen 53

Hans Herz, I.e. S. 291. 54 Hans Herz, I.e. S. 291. 55 Hans Herz, Recht und Realdialektik, Revue Internationale de la Théorie du Droit XI, 1937, S. I f f .

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

nach als etwas kausal Wirkendes, als psychologisches oder gesellschaftliches Phänomen aufgefaßt wird." Schon diese Einreihung aller möglichen Auffassungen vom Wesen des Rechts in diese zwei Idealtypen ist nicht zutreffend. Bei diesen zwei Gruppen handelt es sich keineswegs um zwei Idealtypen im Sinne der Lehre von Max Weber oder Fritz Schreier. Wenn Piaton den rechten Idealtypus darstellt, so stellen Aristoteles oder Hegel keineswegs den linken Idealtypus dar. Den linken Idealtypus stellen nämlich Vertreter solcher Auffassungen dar, die das Wesen des Rechts nur mit den Kategorien von Raum, Zeit und Kausalität begreifen wollen. Im Monismus oder Dualismus liegt nicht der Kern der ganzen Problematik, ja es ist nicht so sicher, ob man auch z.B. bei Aristoteles oder Hegel nicht von dem (dialektischen) Verhältnis von Sein und Sollen sprechen darf. Auch die Einreihung der Auffassung von Nicolai Hartmann, der in seinem Werk „Das Problem des geistigen Seins" zwar das Recht der Stufe des objektiven Geistes unrichtig zugewiesen hat, in die Gruppe des linken Idealtypus, also in die Gruppe der monistischen Auffassung, ist unrichtig, weil Hartmann den Unterschied zwischen Sein und Sollen voll anerkennt. Der Hintergrund dieser Einreihung der Lehre von Hartmann in den linken Idealtypus liegt in der Tatsache, daß Herz zu dem Ergebnis kommen will, daß der objektivierte Geist, wohin das Recht gehört, „eine Sphäre der minderen Idealität", aber doch der Idealität bildet. In seinen weiteren Ausführungen stellt Herz fest, daß beide entgegengesetzte Anschauungen je eine, aber auch nur eine wesentliche Seite des Rechtlichen erfaßt haben. 56 Und wiederum dient ihm als philosophischer Ausgangspunkt Hartmanns Lehre vom Schichtenbau der Welt. Dieser Lehre ist er aber nicht immer treu; ja es entsteht manchmal der Eindruck, daß er diese Lehre nicht voll verstanden hat. Er wiederholt seine vorherigen Ergebnisse und betont, daß das Recht infolge seines Normcharakters zwar der Schicht idealen Seins zugehört, daß es aber andererseits den Schichten des realen Seins „aufruht", daß es trotz der ihm als „neuer", höherer Stufe zukommenden „Autonomie" in weitem Maß von realfaktischen Kategorien „dependenzgesetzlich" bestimmt wird. Diese Feststellung von Herz ist falsch. Schon die Vorstellung, daß eine rätselhafte Schicht idealen Seins eine Fortsetzung in der Stufenreihe der realen Schichten des stufenförmigen Aufbaues der realen Welt darstellt, bedeutet eine vollkommene Verkennung der ganzen Konstruktion von Nicolai Hartmann, und ist unrichtig. Eine Sphäre der abgeleiteten Normativität, 56

Hans Herz, I.e. S. 2.

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eine Sphäre, die real ist und einen Bestandteil des realen geistigen Seins bildet, ist Herz vollkommen unbekannt. Sonst würde er einsehen, daß der Normcharakter als solcher keineswegs eine Einreihung des Rechts in die Schicht des idealen Seins erfordert. Irrtümlicherweise glaubt Herz, daß es ihm gelungen sei zu beweisen, daß es innerhalb des idealen Seins realitätsnähere Sphären und solche gibt, die der Einwirkung des Realen nur in ganz geringem Maß unterliegen und als beinahe vollkommen autonom erscheinen. „ Z u den ersteren, den Bereichen minderer Idealität, gehört auch das Recht." 57 Das Recht - so stellt Herz weiter fest - 5 8 unterliegt in besonders starkem Maß den Einwirkungen der realfaktischen Schichten. Er übersieht vollkommen, daß das Recht nicht in ideales, sondern in reales Sein gehört, und zwar in alle Schichten des realen Seins, obzwar es größtenteils in die geistige Schicht gehört. Herz führt weiter aus, 59 daß das Recht, sofern es die ihm wesentliche Eigentümlichkeit der Positivität besitzt, nur durch Rückgehen auf die faktische Rechtswirksamkeit in der Realsphäre zu charakterisieren ist. „Während der Sollenscharakter des Rechts, der es in die Sphäre idealer Gegenständlichkeit erhebt, nicht aus der Tatsache seiner Wirksamkeit abgeleitet werden kann, verknüpft das Erfordernis der Positivität das Recht mit der realen Sphäre und verleiht ihm so den Charakter minderer Idealität." Also trotz seiner Positivität gehört das Recht nicht in die reale Welt, sondern nach Meinung von Herz in die rätselhafte Sphäre „minderer Idealität Für Herz ergibt es sich somit, daß die Sphäre des Rechts auch ihrem quantitativen Umfang und ihrer charakteristischen Ausprägung nach abhängig von der Struktur der Realsphäre ist, von der sie „getragen" wird. 6 0 „Solange ... Rechtsregelung menschlichen Verhaltens erforderlich, Recht mithin vorhanden ist, solange hat die Sphäre des Rechtlichen die Struktur einer zwar weitgehend von realen Faktoren abhängigen, infolge ihres Sollenscharakters aber über die Schicht des Realen hinausgehobenen idealen Seinsschicht. So vermag sie als besonders einleuchtendes Beispiel dafür zu dienen, daß auch auf dieser Stufe des Seienden noch das Gesetz der Synthese von Abhängigkeit und Autonomie gilt, das dem Stufenbau der Welt das charakteristische Gepräge verleiht." 6 1 Die ganze Konstruktion einer Seinsstufe „minderer Idealität" ist vollkommen rätselhaft, unbegründet und unhaltbar.

« Hans Herz, 58 Hans Herz, 59 Hans Herz, 60 Hans Herz, β1 Hans Herz,

I.e. S. 2. I.e. S. 2. I.e. S. 5. I.e. S. 11 I.e. S. 11

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. e i l n e Erklärung des Wesens des Rechts

V. An die Ontologie Nicolai Hartmanns hat auch Welzel mit seiner K r i t i k der neukantischen Wissenschaftslehre gewissermaßen angeknüpft. 62 Die wissenschaftlichen Begriffe sind nach ihm nicht verschiedenartige Umformungen eines identischen wertfreien Materials, sondern Reproduktionen von Teilstücken eines komplexen ontischen Seins, das die gesetzlichen Strukturen und die Wertdifferenzen immanent in sich trägt und nicht erst von der Wissenschaft herangetragen bekommt. 63 Daraus folgt, daß „nicht die Methode den Erkenntnisgegenstand bestimmt, sondern daß sich umgekehrt die Methode wesensnotwendig nach dem Gegenstand als dem ontischen Seinsstück richten muß, das es zu erforschen g i l t " . 6 4 Statt das „Apriorische" als „formende Verstandestätigkeit" zu deuten, müsse es vielmehr als „die immanente sachliche Wesensstruktur" des Gegenständlichen selbst verstanden werden. 65 Auch der Jurist kann nicht mit seinen Begriffen frei schalten, sondern müsse sich bemühen, die ontologische Struktur desjenigen Wirklichen zu verstehen, um dessen rechtliche Erfassung es geht. Es handelt sich also - im Verhältnis zur ganzen neukantischen Philosophie und Rechtsphilosophie - um eine radikale Umkehr der Blickrichtung. Es wurde klar bestritten, daß die verschiedenen Weisen, in denen uns etwa die Dinge der leblosen Natur, organisches Leben, seelische Empfindungen und Erlebnisse, Geisteswerke usw. entgegentreten, nur auf einer unterschiedlichen Auffassungsweise des Betrachters beruhen; sie sind schon in der Seinsart, der „objektiven" Struktur dieser „Gegebenheiten" selbst begründet. 66 VI. Eihen nicht unbedeutenden Einfluß der kritischen Ontologie kann man auch bei Karl Larenz finden. 67 Das geltende Recht ist nach Larenz weder die im Dasein - als „allgemeine Handlungsweise" - verwirklichte Lebensordnimg selbst - sie ist Gegenstand einer „verstehenden", sich also nicht allein auf die kausalwissenschaftliche Methode beschränkenden Soziologie - , noch nur die Summe der Rechtssätze, das Normensystem für sich allein genommen, sondern ein Drittes, gleichsam in der Mitte stehendes: das Sinnganze der durch die Rechtsprechung „konkretisierten", d.h. inhaltlich näher bestimmten und auf die Lebensordnuhg bezogenen Rechtssätze mit Einschluß derjenigen, die erst die Rechtsprechung gefunden hat. „Es ist also das in der Anwendung 62 Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie im Strafrecht, 1935; vgl. Karl Larenz, Methodenlehre der Wissenschaft, 1. Aufl., 1960, S. 115.

63

Welzel, Le. S. 49. Welzel, I.e. S. 50. es Welzel, I.e. S. 44; Karl Larenz, I.e. S. 115. 66 Karl Larenz, I.e. S. 114. 64

67 Karl Làrenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1960, 3. Aufl., 1975, zit. nach der 1. Aufl.

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befindliche (nicht das von seiner Anwendung getrennt gedachte), durch Rechtswissenschaft und Rechtsprechung fortgebildete und ständig in der Fortbildung begriffene Ganze von Normen, Entscheidungsmaximen und als richtungweisend angesehenen Urteilen. Von 'diesem ,realen corpus juris' ... trifft zu, daß es ,die Zeitstruktur der Geschichtlichkeit' (Husserl) hat; seine ,Geltung' ist sein Dasein im Bewußtsein als ,objektiver Geist'. Als solcher ist es, wie Nicolai Hartmann gezeigt hat, die innere Macht des gemeinsamen sittlichen Geistes im Bewußtsein der Menschen selbst; es gilt so nicht kraft äußerer Anordnung, sondern kraft der gemeinsamen Überzeugung seiner Richtigkeit (im Öinne der Angemessenheit an die Rechtsidee), wobei sich diese Überzeugung wiederum auf die Autorität (nicht: die Zwangsgewalt) sowohl die des Gesetzgebers, wie der Gerichte und einer ,communis opinio doctorum' gegründet hat." 6 8 Larenz weist mit Nachdruck auf Nicolai Hartmanns „Schichtenlehre" hin. 6 9 Er sagt: 70 „Es gehört zur Eigenart des geistigen Seins, daß wir es als »sinnvoll' verstehen, daß es die Struktur eines Sinngébildes hat. Blieb dem Neukantianismus auch die eigentümliche Realitätsweise dieser Sinngebilde verborgen, da er sie lediglich als Produkte des - ,ordnenden' oder ,wertbeziehenden' - wissenschaftlichen Nachdenkens ansah, so hat er doch erkannt, daß dem Recht seinèm ,Sinne' nach der Anspruch auf »Richtigkeit' innewohnt, anders ausgedrückt, daß jeder Rechtssatz uild jedes Rechtsinstitut durch den ihm eigenen Sinn zugleich über sich hinausweist auf einen Gesamtsinn des Rechts, die ,Rechtsidee'. Freilich war er noch nicht imstande, dieses Sinn-a priori anders denn als einen formalen ,Richtpunkt' oder ,Wert' zu verstehen. Neben den abstrakt-allgemeinen Gattungsbegriff stellte er zwar den »historischen Individualbegriff', ohne jedoch zum inhaltlich erfüllten,Wesensbegriff' oder zum,konkret-allgemeinen Begriff' vorzudringen. Einmal auf den Unterschied aufmerksam geworden, der zwischen der Struktur des ,natürlichen' und des »geistigen' Seins besteht, mußten aber auch in der Begriffsbildung neue Wege beschritten werden. Nach alledem scheint eine Rückkehr sowohl 2ur ,formalen' Begriffsjurisprudenz, wie zur ,genetischen lnteressenjurisprudenz' und zu einer rein pragmatischen Rechtswissenschaft, zu einer lediglich psychologisch, soziologisch oder ,normlogisch' (formal-positivistisch) orientierten Methodenlehre als ausgeschlossen, solange nicht die wesentlichsten Erkenntnisse der neueren Rechtsphilosophie wieder preisgegeben werden." VII. Gewissermaßen selbständig stehen die an der Phänomenologie orientierten rechtsphilosophischen Richtungen (die objektivistisch realistische 88 Karl Larenz, I.e. S. 148. es Karl Larenz, I.e. S. 121. 70 Karl Larenz, 1. c. S. 121.

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Richtung von Adolf Reinach, die transzendental-phänomenologische Richtung von Felix Kaufmann und Fritz Schreier und die exist entialistische Richtung von Gerhart Husserl). 11 Die objektivistisch-realistische Richtung in der Phänomenologie ist die folgerichtige Weiterführung der durch die „Logischen Untersuchungen" von Edmund Husserl 72 begründeten phänomenologischen Philosophie. Adolf Reinach mit seiner Schrift „Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts" (1913) 73 war der erste, der die Phänomenologie auf das Recht angewandt hat. Er ist zur Auffassung gekommen, daß das Recht, die Rechtsbegriffe und einzelne rechtliche Gebilde nicht durch die normschaffenden Organe gebildet werden, sondern daß sie ein Sein haben, „so gut wie Zahlen, Bäume und Häuser, d.h. sie sind bewußtseins transzendent. 74 Sie sind nicht willkürlich, etwa von einem positiven Recht erfunden, sondern sind ihm vorgegeben und werden von ihm lediglich „benutzt". 7 5 Sie haben eine ihnen eigene Struktur, über die apriorische Aussagen möglich sind. Das positive Recht kann sie „ i n seine Sphäre übernehmen oder von ihnen abweichen, vermag aber „ihren Eigenbestand nicht zu berühren." 76 Und wie kann man sich des Wesens dieser rechtlichen Gebilde bemächtigen? Die Antwort ist typisch phänomenologisch: durch die Wesensschau, durch welche w i r von den rechtlichen Gebilden, die nach Reinach das Recht nicht schafft, sondern vorfindet, erfassen, „was streng notwendig von ihnen gilt", Zusammenhänge erkennen, die dem Wesen der Zahlen und geometrischen Gebilde analog sind. „Das So-Sein gründet hier im Wesen des SoSeienden." „Auch wo ich dem einzelnen rechtlichen Gebilde, das in irgendeiner Zeit real existiert, eine Prädikation zuerteile, kommt sie ihm nicht als diesem Einzelnen zu, sondern als einem Gebilde solcher Art. Damit ist aber gesagt, daß sie allem schlechthin zukommt, welches so geartet ist, und daß sie ihm als solchem notwendig zukommt, nicht etwa in irgendeinem

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Zum folgenden Aster, Die Philosophie der Gegenwart, 1936, S. 55 ff., 65ff., 70ff., 130ff.; Julius Binder, Philosophie des Rechts, 1925, S. 136ff.; Karl Larenz, Rechtsund Staatsphilosophie der Gegenwart, S. 59ff.; derselbe, Das Problem der Rechtsgeltung, S. 20ff.; derselbe, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1. Aufl., 1960, S. 115ff.; Vladimir Kübel·, Prâvni filosofie X X . stoleti (Die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts), 1947, S. 108ff. 72 Edmund Husserl, Logische Untersuchungen (I. Bd. „Prolegomena zur reinen Logik", II. Bd. „Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis", 1900/1901); vgl. auch besonders: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, und Formale und transzendentale Logik, 1929; Wilhelm Reyer, Einführung in die Phänomenologie, 1926. 73 Adolf Reinach, Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Sonderabdruck aus Husserls Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, 1913, Bd. I, Teil II, S. 685 - 847. 74 Adolf Reinach, I.e. S. 4. 75 Adolf Reinach, I.e. S. 7; vgl. Karl Larenz, I.e. S. 115. 76 Adolf Reinach, I.e. S. 6; vgl. Karl Larenz, I.e. S. 115.

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einzelnen Falle auch einmal nicht zukommen könnte. Daß ein Anspruch durch einen Akt des Verzichtes erlischt, gründet im Wesen den Anspruch als solchen und gilt daher notwendig und allgemein. Von den rechtlichen Gebilden gelten apriorische Sätze". 77 Und diese Sätze sind „streng formulierbar und evident einsichtig, unabhängig von allem erfassenden Bewußtsein, unabhängig auch von allen Dingen, von jedem positiven Recht, genau so wie die rechtlichen Gebilde, von denen sie gelten." Nach der Meinung von Reinach ist es geradezu sinnlos, „die rechtlichen Gebilde als Schöpfungen des positiven Rechts zu bezeichnen." Das Recht „erzeugt sie mit nichten." Darin tritt zunächst die ontologische Grundauffassung der Phänomenologie zutage, die in dem Ansichsein der ideellen Gebilde zum Ausdruck kommt: in dem „Satz an sich" der Logik, der gilt, auch wenn er in keinem Bewußtsein vorhanden und von keinem Menschen gesetzt ist, in dem Wesen der Dinge und den Wesenszusammenhängen, die in den synthetischen Sätzen a priori formuliert werden. 78 Wir sollten also erwarten, daß die Bestimmungen des positiven Rechts überhaupt nicht diesen „Wesensgesetzen" der rechtlichen Gebilde widersprechen können. Mit Überraschung stellen w i r aber fest, daß Reinach das Gegenteil behauptet. Er betont die volle Freiheit des positiven Rechts, von der „Wesensstruktur" eines Rechtsgebildes nach Belieben abzuweichen, ja sogar diese Wesenheiten selbst „ i n ihr Gegenteil zu verkehren". 79 Diesen unglaublichen Widerspruch seiner Lehre versucht Reinach durch die Behauptung wegzuschaffen, daß diese apriorischen „Wesensgesetze" auf einer Seite und die Regeln des positiven Rechts auf der anderen Seite verschiedener Natur sind. „Wesensgesetze" treten in der Form von Urteilen auf, die Aussagen über „Sachverhalte" sind. Die Regeln des positiven Rechts sind keine Urteile, sondern sie schreiben etwas vor. Die Rechtssätze sind also Bestimmungen, die als solche wegen ihrer besonderen Natur mit den Sätzen und Urteilen der reinen Rechtslehre überhaupt nicht in Konflikt geraten können. Denn nur Urteilssätze können wahr oder falsch sein; Bestimmungen stehen jenseits dieses Gegensatzes.80 Doch ist es Reinachs Meinung, daß die „Wesensstruktur" eines Rechtsgebildes den entsprechenden positivrechtlichen Erscheinungen irgendwie zugrunde liegt. 8 1

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Adolf Reinach, I.e. S. 5; vgl. Julius Binder, I.e. S. 151 f. Julius Binder, I.e. S. 150f. 79 Adolf Reinach, I.e. S. 6. 80 Adolf Reinach, I.e. S. 119; vgl. Julius Binder, I.e. S. 159. ei Vgl. Karl Larenz, I.e. S. 116. 78

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VIII. Die leibnizsche, bolzanische und husserlsche Idee von der „mathesis universalis" w i r d auch von Felix Kaufmann 82 vertreten. Was unsere Frage nach dem Wesen des Rechts betrifft, stellt sich Kaufmann scharf gegen die Idee einer absoluten Transzendenz der Werte. 83 Alle Wertbegriffe sind nach ihm auf „Seinsbegriffe" reduzierbar, d.h. durch sie definierbar; die „Werturteile" unterliegen - sofern sie sich nicht als Definitionen entpuppen - prinzipiell dem gleichen Verifizierungsverfahren wie die „Seinsurteile", wobei es freilich angesichts des meist sehr geringen Klarheitsgrades der wertenden Stellungnahme in der Regel gewöhnlich erst im Vollzug der rationalen Nachkonstruktion hervortritt, auf welche Art der Bewährung die Wertungen abgestellt sind. 84 Alles, was über „Werte" gesagt wurde, findet nach Kaufmanns Meinung seine Anwendung auf „Normen"; „denn eine Norm ist nichts anderes als die Aussage, daß ein (zukünftiges) Verhalten bestimmter Art wertvoll (richtig) sei." 85 Demgemäß sind Sollsätze nur insofern der Verifizierung zugänglich, als sie Angaben von Zielen enthalten, betont Kaufmann 86 und gibt dann einige Beispiele zur Erläuterung: 1. Du sollst den markierten Weg gehen, wenn du in einer Stunde nach Ν kommen willst. 2. Du sollst stets die Wahrheit sprechen, wenn du dir die Achtung deiner Kameraden bewahren willst. 3. Du sollst deinen Prozeßgegner nicht beschimpfen, wenn du eine empfindliche Strafe vermeiden willst. Was über das „Sollen" in der Verbindung „Du sollst" festgelegt ist, gilt auch für sein Auftreten in dem Zusammenhang „ich soll", stellt Kaufmann fest. 87 Seiner Meinimg nach bedeutet „ich soll in einer bestimmten Weise handeln" : „es ist richtig, daß ich i n dieser Weise handle" und diese „Richtigkeit" bedarf der Ergänzung durch die Angabe eines Zielbezugssystems. Kaufmann hat bei der Analyse der Wertbegriffe festgestellt, daß ihr Sinn mit dem Akzent, der auf dem Richtigkeitsmoment liegt, variiert. 8 8 „Dies gilt 82 Felix Kaufmann, Logik und Rechtswissenschaft, 1922; derselbe, Theorie der Rechtserfahrung oder reine Rechtslehre?, Zeitschrift für öffentliches Recht, ΙΠ, 1922/ 23, S. 236f.; derselbe, Die Kriterien des Rechts, 1924; derselbe, Die philosophischen Grundprobleme der Lehre von der Strafrechtsschuld, 1920; derselbe, Juristischer und soziologischer Rechtsbegriff, Gesellschaft, Staat und Recht, Kelsens Festschrift, 1931, S. 30f.; derselbe, Methodenlehre der Sozialwissenschaften, 1936. 83 Felix Kaufmann, Methodenlehre der Sozialwissenschaften, S. 104. 84 Felix Kaufmann, I.e. S. 105. 85 Felix Kaufmann, I.e. S. 169. 86 Felix Kaufmann, I.e. S. 170. 87 Felix Kaufmann, I.e. S. 170. 88 Felix Kaufmann, I.e. S. 174.

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nun im besonderen auch für den Normenbegriff. In den Grenzfällen nach der einen Seite hin bleibt das Richtigkeitsmoment fast ganz außer Betracht; man identifiziert ,Norm' mit,Befehl 4 ; in Grenzfällen nach der anderen Seite hin dagegen bildet es offenkundig den Sinnkern des Normbegriffes. Auf der einen Seite steht das blind befolgte Gebot, auf der anderen Seite die nach reiflicher Überlegung aufgestellte Richtschnur für eigenes Handeln, d.h. der auf Erwägungen über praktische Richtigkeit basierende Vorsatz, eigenes künftiges Handeln im Einklang mit gewissen Prinzipien zu halten. Man spricht hier - im Gegensatz zu den Fremdbefehlen, den heteronomen Normen - von autonomen Normen". 8 9 Nach Kaufmanns Meinung kann von einer arteigenen normativen Methode, die eine Scheidung zwischen „Normwissenschaften" und „Seinswissenschaften" rechtfertigen würde, keine Rede sei. 90 In einer K r i t i k der Auffassung von Felix Kaufmann kommt Barna Horvâth 91 zu der Feststellung, daß die „Selbständigkeit" des Seins gegen die „Unselbständigkeit" des Sollens ein bloßer Schein ist, der aus der „Massenhaftigkeit" des Realen entsteht und dessen Hypostase zum Ding sich führt. Es existiert kein triftiger Grund für die Verneinung der methodisch reinen Funktionalität des Seins zum Sein, des Sollens zum Sollen und für die Unterdrückung dieser Funktionalität durch die methodisch unterschiedene Funktionalität zwischen Sein und Sollen. Zwischen den Auffassungen von Felix Kaufmann und Adolf Reinach (und gewissermaßen immer noch unter dem Einfluß von Kelsens Reinen Rechtslehre) steht die Auffassung von Fritz Schreier. 92 Ähnlich wie Kaufmann geht auch er von der Logik als der allgemeinen formalen Wissenschaft aus. Er bemüht sich eine reine Rechtstheorie zu begründen, die apriorisch in dem Sinne wäre, daß sie nicht auf den Gegenstand, auf den sie angewendet werden sollte, Rücksicht nähme, sondern durch die direkte Beobachtung zu einem Sein gelangen würde, und noch dazu rein formal wäre. Die Wesensschau ist die Methode, durch welche man nach Schreier zum Wesen der Rechtsgebilde kommen soll. Die Rechtsnormen sind Gegenstände des Rechtsaktes, der intentional zum Recht tendiert; die Rechtssätze sind Bedeutungen, in denen die Rechtsnormen ausgedrückt sind. 93 Aufgabe der Phänomenologie ist es zu zeigen, was man von diesem Gegenstand des Rechtsaktes a priori sagen kann. Schreier behauptet im Einverständnis mit Reinach, daß die Rechtsnormen unabhängig sind von der Tatsache, ob der Gesetzgeber sie für sein Gebiet für gültig erklärt; die Gesetze werden nicht 89

Felix Kaufmann, I.e. S. 174. Felix Kaufmann, I.e. S. 175. 91 Barna Horvâth, Rechtssoziologie, 1934, S. 48. 92 Fritz Schreier, Grundbegriffe und Grundformen des Rechts, 1924; derselbe, Über die Lehre vom „Möglichen Recht", Logos XV, 1926, S. 364ff. 93 Fritz Schreier, Grundbegriffe und Grundformen des Rechts, S. 42 f. 90

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erfunden, sondern entdeckt, wie die mathematischen Gesetze.94 Das „Sein" der Rechtsnorm bedeutet nach Schreier nur, daß sie gedacht werden kann, nicht daß die Norm als ein Bestandteil des positiven Rechts gilt. Die Rechtsnorm ist ein irrealer Gegenstand, was bedeutet, daß sie durch keine Anschauung gegeben werden kann. 9 5 In diesem Zusammenhang ist es zweckmäßig, Schreiers Lehre vom „möglichen Recht" zu erwähnen. In der Idee des möglichen Rechts sehe ich neben der Konstruktion des hierarchischen Aufbaues der Rechtsordnung einen wirklich fruchtbaren Gedanken für die ganze Rechtstheorie. Diesem Gedanken des möglichen Rechts liegt als Grundlage eine interessante philosophische Betrachtung. 96 Für Immanuel Kant ist nur das möglich, was die Fähigkeit besitzt, in die Realität Eingang zu finden, d.h. sinnlich wahrnehmbar zu werden. 97 Nur so läßt sich der kantische Möglichkeitsbegriff in den Grundgedanken seiner Konzeption eingliedern. Möglich ist für Kant dasjenige, was wirklich werden kann. Für Schreier ist jene Fassung des Möglichkeitsbegriffes fruchtbarer, die Leibniz gewählt hat, in dem er unsere wirkliche Welt nur als einen Spezialfall der möglichen Welten ansah. Diesen Begriff der Möglichkeit hat Husserl restituiert: Das Wirkliche ist etwas, das auch anders sein könnte, es ist das Zufällige; immer können wir gedanklich eine bestimmte Raum- und Zeitstelle auch anders ausfüllen. „Aber in allem Wechsel bleiben Bestimmungen erhalten, die den Gegenstand erst zu einem so bestimmten machen; sie setzen jedem Versuch, sie anders zu denken, unüberwindlichen Widerstand entgegen. Diese Bestimmungen machen das Wesen des Gegenstandes aus, sie sind seine notwendigen Bestimmungen. Alles aber, was mit diesen Bestimmungen übereinstimmt, ist ein möglicher Gegenstand dieser bestimmten Art. So ist das Notwendige zugleich das Mögliche; die dem Gegenstande notwendig zukommenden Bestimmungen sind zugleich die Grenzen seiner Möglichkeit; die Wirklichkeit realisiert nur eine der Möglichkeiten, woraus sich ergibt, daß die Erkenntnis der Möglichkeiten der der Wirklichkeiten vorangeht. Zugespitzt könnte man also formulieren: Für Kant ist das Wirkliche, für Husserl das Notwendige, das Mögliche." Und jetzt folgen interessante Ausführungen: 98 „Die Einsicht in das Wesen und damit die Möglichkeiten eines Gegenstandes wird derart gewonnen, daß man frei phantasierend sich Gegenständlichkeiten der bestimmten Art vor94

Fritz Schreier, I.e. S. 45. Fritz Schreier, I.e. S. 45. 96 Fritz Schreier, Über die Lehre vom „Möglichen Recht", I.e. S. 364ff.; siehe auch Fritz Schreier, Grundbegriffe und Grundformen des Rechts, S. 85ff.; William Ebenstein, Die rechtsphilosophische Schule der reinen Rechtslehre, 1938, S. 27ff.; Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 44ff. 97 Fritz Schreier, Über die Lehre vom „Möglichen Recht", I.e. S. 376f. 98 Fritz Schreier, I.e. S. 368f. 95

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führt und sie denkt. Dieser Weg führt zur Erkenntnis, ohne daß dabei auch nur ein Blick auf die Erfahrung fallen würde; es handelt sich um rein apriorisches Denken. Dennoch ist dieses von den Fesseln der Wirklichkeit befreite Denken nicht grenzenlos im Fortgange. An irgendeiner Stelle trifft man auf Widerstand. Überschreitet man die Grenze, so haben die neuen Gegenstände keine ,Ähnlichkeit 4 mehr mit den früheren; man befindet sich in einer anderen Region, unter anderen Wesen." „Stellt sich uns z.B. eine Seite eines Raumdinges als Quadrat dar, so kann der Anblick der anderen Seite uns belehren, daß das Raumding ein Würfel oder eine Pyramide ist. Es ist dagegen auch bei der Kenntnis nur der einen Seite undenkbar, daß die Seitenflächen kugelig vorspringen, denn wir hätten sonst auch diese Seitenflächen wahrnehmen müssen. Es walten ihr also bestimmte Gesetze vor, die die Ausfüllung der Leerstellen dieses Raumdinges notwendig determinieren." 9 9 „Ganz so wie beim Raumding ist auch vorzusehen, um zur Erkenntnis des Wesens des Rechts zu gelangen. Man phantasiert Rechtsnormen, ohne daß man sich dabei an die historisch vorhandenen Rechtsnormen halten müßte. Auch hier stößt man endlich an Schranken, jenseits welcher ein Gebiet anderer Normen, anderer Gegenstände beginnt, als der Rechtsnormen. Ja, die Ähnlichkeit mit dem Raumding und seiner Erkenntnis geht sogar noch weiter. Auch die einzelnen Rechtsnormen sind ergänzungsbedürftig, weisen Leerstellen auf, die wesensnotwendig auszufüllen sind und für deren Ausfüllung ein gewisser Spielraum, aber nicht freie Willkür besteht. Ein Beispiel: Eine Rechtsnorm gestattet Zession von Forderungen, d.h. der Schuldner sei verpflichtet über Aufforderung seines Gläubigers an eine andere Person zu leisten, an die der alte Gläubiger seine Forderung übertragen hat. Damit eröffnet sich eine Leerstelle; man ist gezwungen zu fragen: Was geschieht, wenn der Schuldner nicht leistet? Wie gestalten sich dann die Beziehungen zwischen altem und neuem Gläubiger? Haftet der alte Gläubiger dem neuen für die Einbringlichkeit der Forderung und in welchem Maße? Es könnte sein, daß der alte Gläubiger nur bis zur Höhe der Zessionsvalute, des Entgelts für die Abtretung der Forderung haftet, oder bis zur vollen Höhe der Forderung oder verschieden je nach dem zwischen ihnen bestehenden Rechtsverhältnisse usw. Dadurch ist der Spielraum umschrieben. Vor allem aber ist jede Rechtsnorm insofern ergänzungsbedürftig, als sie einer Sanktion bedarf, einer Hilfsnorm für den Fall ihrer Nichtbefolgung; denn es gibt kein sanktionsloses Recht. So erwächst das System der Wesenslehre vom Recht," 100 Schreier betont, daß die einzelne, historisch gegebene positive Rechtsordnimg nur je eine der möglichen Regelungen heraushebt und verleiht ihr den 99

William Ebenstein, I.e. S. 27. 100 Fritz Schreier, I.e. S. 368; von mir unterstrichen.

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Charakter der Positivität. Daß eine Rechtsnorm positiv wird, ist in genau demselben Sinn Zufall, wie alles Wirkliche zufällig ist. Wie wir eine Raumstelle durch einen anderen Körper ausgefüllt denken können, können w i r uns auch denken, daß statt der zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Gebiet geltenden Rechtsnorm eine andere gilt. Vom Gesichtspunkt der Möglichkeitsbetrachtung erscheint z.B. auch der bedeutungsvolle Gegensatz zwischen lex lata, dessen, was geltendes Recht ist, und lex ferenda, dessen, was erst geltendes Recht werden soll, vollkommen relativisiert. Beide leges erscheinen auf gleicher Ebene; die lex lata streift ihren zufälligen Positivitätscharakter ab, nur ihr Wesensinhalt tritt neben die lex ferenda und bildet wie diese eine bloße Rechtsmöglichkeit. Geht man von der Wirklichkeits- zur Möglichkeitsforschung über, so verlieren die Typen ihre Starrheit und man erkennt, daß die Typen nur willkürlich herausgerissene Punkte einer kontinuierlichen Reihe sind, die die Gesamtheit der Möglichkeiten enthält. 1 0 1 „Die Reihe wird begrenzt von den ,Idealtypen'; dazwischen liegen die Mischtypen, die unmerklich ineinander übergehen. Sie hat gegenüber der zufälligen Ansammlung von Wirklichkeiten den unermeßlichen Vorzug der Vollständigkeit. Hat man in tüchtiger apriorischer Untersuchung die Idealtypen erfaßt, so gibt es keine soziale Erscheinung mehr, die nicht an irgendeiner Stelle der Reihe ihren Platz findet, die neue soziale Erscheinung zwingt nicht mehr zur Umbildung der Begriffe. Die Topik ist geschaffen. Wenn man will, mag man darin die Ersetzung von,Substanzbegriffen' durch ,Funktionsbegriffe' erblicken. " 1 0 2 IX. Ein Darsteller der existentialistischen Rechtsphilosophie ist Gerhart Husserl. 103 Im Sinne der Philosophie von Martin Heidegger 104 steht auch Gerhart Husserl vor der Aufgabe, 105 die Welt des Rechts aus der persönlichen Existenz des Menschen zu begreifen, alle Gegebenheiten des Rechts als spezifische Gebilde des „Seins-in-der Welt" zu begreifen. Auch er ist überzeugt, daß es „ein materiales Apriori" gibt. Die Gebilde des positiven Rechts sind „Verwirklichungen und Besonderungen apriorisch vorgezeichneter 101

Fritz Schreier, I.e. S. 368f. Fritz Schreier, I.e. S. 369. 103 Gerhart Husserl, Rechtskraft und Rechtsgeltung, 1925; derselbe, Recht und Welt, Ein Sonderabdruck aus der Festschrift für Edmund Husserl, 1929; derselbe, Die Frage nach dem Geltungsgrund des Rechts, ZRPhV, S. 153ff.; derselbe, Negatives Sollen, in: Festschrift für H. Pappenheim, 1931, S. 87ff.; derselbe, Der Rechtsgegenstand, 1933; derselbe, Recht und Zeit, 1955; zum folgenden besonders Karl Larenz, Rechts- und Staatsphilosophie der Gegenwart, S. 59ff.; derselbe, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1. Aufl., 1960, S. 116ff.; Vladimir Kübel·, Prâvnl filosofie X X . stoletl (Die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts), 1947, S. 128ff. 104 Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927. 105 Karl Larenz, Rechts- und Staatsphilosophie der Gegenwart, S. 60 ff. 102

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Möglichkeiten." 1 0 6 Die „idealen Rechtsgegenstände", die von der „Wesensanalyse" aufgezeigt werden, verhalten sich zu dem positiven als dem seienden Recht wie Möglichkeit und Wirklichkeit, oder „Sein-können" und Sein überhaupt. 107 Positives Recht kann zwar einen rechtlichen „Wesenssachverhalt" verschiedentlich „abwandeln", aber nicht sich schlechthin über ihn hinwegsetzen. 108 Die Rechtsnorm „gilt nicht als Erkenntnissatz, sondern als Willenssatz." Dagegen handelt es sich bei „Grundstrukturen jedes möglichen Rechts", die sich in einer gedanklichen Zurückführung der sich in der Wirklichkeit begegnenden Rechtsgebilde auf ihren zeitlosen „Sinneskern" enthüllen, nicht um „Verhaltensnormen höherer Stufe", sondern um „Rechtswahrheiten, die als solche keine normative Kraft besitzen." 109 Während es sich beim „Sinneskern" um einen Bereich „idealer" Gegenstände handelt, kommt den Normen des positiven Rechts nach Husserls Meinung durchaus Realität, nämlich die spezifische Seinsweise des geltenden Rechts zu. 1 1 0 Die Seinsweise des positiven Rechts ist seine Geltung. Rechtsgeltung ist „ein Sein eigener A r t " ; 1 1 1 sie ist „raumzeitlich gebunden", das „Erzeugnis historisch-einmaliger Willens Vorgänge" und „bleibt in die Zeitwirklichkeit, der sie entstammt, verwurzelt." 1 1 2 Das Recht ist, sofern es gilt, „innerhalb seines Geltungskreises ein Stück objektiver, d.h. dem Individualwillen als Norm widerstehender Sozialwirklichkeit. Diese ist nicht weniger (nur anders) wirklich als ein Naturding." 1 1 3 Es handelt sich - wie Larenz feststellt - 1 1 4 weder um reine „Faktizität" (im Sinne einer positivistischen Soziologie), noch um ein psychisches Sein, noch um eine Welt bloßer irrealer Bedeutungen. Vielmehr bezeichnet die „Geltung" des Rechts das eigentümliche Bestehen von etwas, das den Sinn hat, innerhalb seines „Geltungskreises" maßgebende Norm zu sein. Das Recht „hat die Zeitstruktur der Geschichtlichkeit", was bedeutet, daß es nicht nur in der geschichtlichen Zeit „entsteht" oder „vergeht", sondern daß es auch teilhat an dem Fluß der Geschichte - daß es sich mit der geschichtlichen Situation und mit den Menschen, für die es „gilt", auch ändern kann. 1 1 5 „Ungleich anderen menschlichen Erzeugnissen, etwa einem physischen Gebrauchsgegenstand, ist die Rechtsnorm (nachdem sie einmal da ist) von dem Verhalten der Menschen, die sie angeht, keineswegs unab106

Gerhart Husserl , Der Rechtsgegenstand, S. IV. Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 116. 108 Gerhart Husserl, Recht und Zeit, S. 14. 109 Gerhart Husserl, Rechtskraft und Rechtsgeltung, S. 8; derselbe, Recht und Zeit, S. 14; Karl Larenz, I.e. S. 116f. 110 Karl Larenz, I.e. S. 117. 111 Gerhart Husserl, Rechtskraft und Rechtsgeltung, S. 8. 112 Vgl. Karl Larenz, I.e. S. 117. 113 Gerhart Husserl, Rechtskraft und Rechtsgeltung, S. 11. 114 Karl Larenz, I.e. S. 118. 115 Vgl. Karl Larenz, I.e. S. 118. 107

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hängig." Die Rechtsnorm tritt in die geschichtliche Zeit ein. „Die Zeit steht nicht still und die Rechtsnorm geht sozusagen m i t . " 1 1 6 X. Die existentialistische Philosophie Martin Heideggers, genauer sein Werk „Sein und Z e i t " 1 1 7 , bildete auch die philosophische und rechtsphilosophische Grundlage für die Auffassung des Wesens des Rechts bei Werner Maihofer, 118 Heideggers ontologische Grundfrage nach dem Sein des Seienden wird bei Maihofer zur Frage nach dem Sein des Rechts. Die Antwort wird von Heideggers Grundexistential - (Existentialen sind parallel den dinghaften Kategorien, die Grundverfassungen des Menschen, des „Daseins") - des Inder· Welt-seins aus als „Analytik des Im-Recht-seins" gesucht. 119 Schon hier begegnet man einer Schwierigkeit. Wie Johannes Thyssen 120 und auch Vilmos Peschka 121 richtig bemerken, wurde von Heidegger nämlich die ganze „öffentliche Welt" zu einer Sache des „man" gemacht, das eigentliche Sein des Menschen nur im Selbst des Einzelnen gesehen, und damit wird auch das Recht zu einem „Adiaphoron", das für das eigentliche Sein des Menschen „auch nicht mehr mittelbar werthaft" ist. 1 2 2 Das ist auch der Grund, warum diese existentialistische Grundlage Heideggers nicht für das Recht passend ist. Maihofer w i l l einerseits auf dem existentialistischen Boden bleiben, andererseits muß er aber der Seite des Gemeinsamen, des Nichtindividuellen, Raum gewinnen. Das tut er durch ein zweites eigentliches Sein, das er das „Als-sein" nennt. Dies stellt er als zweites Existential neben das Existential des Selbst-seins. Damit allerdings überschreitet er die Grenzen der existentialen Philosophie. Nach Maihofer: „menschliches Dasein in der Welt ist nicht nur Sein als jenes unvergleichbar einzigartiges Selbst, sondern ebenso gleichursprünglich Sein in den aus der Welt her vorgezeichneten Bezügen jenes mit Anderen vergleichbaren und 116

Gerhart Husserl, Recht und Zeit, S. 23. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927; vgl. Vladimir Kubes, Prâvnl filosofie X X . stoletl (Die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts), 1947, S. 109,128ff.; Johannes Thyssen, Zur Rechtsphilosophie des Ais-Seins, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 43,1957, S. 87ff., jetzt auch in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Die ontologische Regründung des Rechts, 1965, S. 328ff.; vgl. auch Georg Cohn, Existenzialismus und Rechtswissenschaft, 1955, und dazu Hans Kelsen, Existenzialismus in der Rechtswissenschaft, ARSP 43,1957, und Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1963, S. 294f. 118 Werner Maihofer, Recht und Sein, Prolegomena zu einer Rechtsontologie, 1954; derselbe, Vom Sinn menschlicher Ordnung, 1956; zum folgenden besonders Johannes Thyssen, I.e. S. 328ff.; Vilmos Peschka, Grundprobleme der modernen Rechtsphilosophie, 1974, S. 192ff., 205ff.; Alfred Verdross, I.e. S. 233f. 119 Werner Maihofer, Recht und Sein, S. 15. 120 Johannes Thyssen, I.e. S. 329. 121 Vilmos Peschka, I.e. S. 205f. 122 Werner Maihofer, I.e. S. 22f. 117

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gleichartigen Seins, des Als-seins: des Seins als Mann und Frau, als Eltern und Kinder, als Eigentümer und Besitzer, als Käufer und Mieter, als Bürger und Nachbar, als ,Angehöriger' eines bestimmten Berufsstandes, einer Nationalität, einer Konfession, vergleichbar mit und unterscheidbar von Anderen." Die soziale Welt, in der das Individuum als soziale Person sein „Als-sein", seine soziale Existenz, verwirklicht, ist der Rechtsraum, ist die Welt des Rechts. Mit Recht macht Vilmos Peschka 123 aufmerksam, daß Maihofer zwar von der Existentialphilosophie Heideggers ausgeht, seine Konzeption schließlich aber doch zu ihr im Widerspruch steht, wenn er neben der eigenen Existenz des Individuums noch eine eigene gesellschaftliche Existenz bringt, wenn er neben dem „Selbst-sein" das „Als-sein", die Struktur des menschlichen Seins, die eine andere Existenz bestimmt, bildet, um so das gesellschaftliche Sein des Rechtes zu begründen. Maihofer stellt fest: 1 2 4 „Grund und Ziel allen Rechts i s t . . . die Eigentlichkeit des Aisseins, in der sich das Selbstsein in seinem Dasein mit Andern zu vollbringen hat." Gerade diese Auffassung betrachtet vom ontologischen Standpunkt auch Arthur Kaufmann als unbegründet: 125 „Denn Maihofer erklärt die Seinsart des Rechts aus der Seinsart des Menschen, also ein Seiendes aus anderem Seiendem, was aber, jedenfalls im Sinne Heideggers, keine Ontologie ist." Der Grund für Maihofers Irrtum sieht Arthur Kaufmann in der Tatsache, daß Maihofer die Grundfrage der Ontologie des Rechts nicht richtig formuliert. „Denn wenn man fragt: Warum ist Recht überhaupt?, hat es den Anschein, als ginge es in der Rechtsontologie primär darum, etwas über die Eigentümlichkeiten des Menschen in bezug auf seine Stellung zum Recht zu erfahren (Rechtsanthropologie). In Wirklichkeit aber hat, wie Maihofer selbst sagt, die Rechtsontologie die Aufgabe, die ,Seinsverfassung' des Rechts zu erforschen, 126 und nur im Rahmen dieser Aufgabe ist aus methodischen Gründen (analogia entis) auch die Natur des Menschen zu untersuchen." 1 2 7 Maihofer stellt die fundamentale ontologische Frage Heideggers „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?" 1 2 8 konkretisiert auf das Recht so: Warum ist überhaupt Recht und nicht vielmehr Nichts?" 1 2 9 Denn die erste Frage richtet sich in Wahrheit auf das Sein, denn 123

Vilmos Peschka, I.e. S. 192. Werner Maihofer, I.e. S. 125. 125 Arthur Kaufmann, Die ontologische Struktur des Rechts, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Die ontologische Begründung des Rechts, 1965, S. 490f. 126 Werner Maihofer, Recht und Sein, S. 66. 127 Arthur Kaufmann, I.e. S. 491. 128 Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, 1953, S. 1, 21,153; vgl. Vilmos Peschka, I.e. S. 231. 129 Werner Maihofer, I.e. S. 38. 124

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das Sein ist die Grundlage jedes „Seienden". Hingegen muß die rechtsontologische Frage Maihofers überhaupt nicht zum Sein gewissen „Seienden", zum Sein des Rechts führen; seine nächste Grundlage kann doch ein anderes „Seiendes" sein, wie es aus Maihof ers Feststellung hervorgeht, wenn er die Grundlage des Rechts in das Aissein gibt. Martin Heidegger sagt ausdrücklich: 130 „Der erste philosophische Schritt zum Verständnis des Seinsproblems besteht darin ... Seiendes als Seiendes nicht durch Rückführung auf anderes Seiendes in seiner Herkunft zu bestimmen..." XI. Aus diesem Grunde konstruiert Arthur Kaufmann als vermittelndes Moment, als eine wesentliche Kategorie der Ontologie des Rechts, den Unterschied zwischen der Existenz und der Essenz. Man ist der Meinung, daß für alle Ontologie, zumal auch für die Rechtsontologie, die Differenz von Essenz und Existenz die wesentliche ist, während die Differenz vom Sein und Seienden nur insofern von Bedeutung ist, als sie den transzendenten Hintergrund ontologischen Fragens aufleuchten läßt. 1 3 1 Der ontologische Unterschied von Wesen und Existenz des Rechts, von Naturrechtlichkeit und Positivität, ermöglicht ihm den Zugang zu den Grundfragen der Jurisprudenz. Arthur Kaufmann stellt sich richtig die Grundfrage: 132 „Was ist das Recht? Das heißt: Welche Wesensform, welche ontologische Struktur, welche Seinsverfassung hat diejenige Seiendheit, die w i r Recht nennen?" Er zeigt, 133 daß der Rechtspositivismus die Positivität als das einzig entscheidende Merkmal der Existenz und der Gültigkeit des Rechts erachtet. Allein auf das „Ita ius esto! " des Gesetzgebers soll es ankommen. „Ontologisch läßt sich das Wesen des Positivismus in Sartres klassische Formel kleiden: ,L'existence précède l'essence' 134 - die Existenz geht der Essenz voraus. Diese Aussage bezieht Sartre an sich nur auf den Menschen, aber sie gilt der Sache nach für den gesamten spezifisch menschlichen Bereich, also vor allem für die kulturellen Dinge und damit auch für das Recht. Nach Sartres Auffassung muß beim Menschen die Existenz der Essenz deshalb vorausgehen, weil das Wesen des Menschen nicht a priori festgelegt ist." 1 3 5 Arthur 130 Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 6; vgl. Vilmos Peschka, I.e. S. 193. 131 Arthur Kaufmann, Die ontologische Struktur des Rechts, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Die ontologische Begründung des Rechts, 1965, S. 470ff.; derselbe, Rechtsphilosophie im Wandel, Stationen eines Weges, 1972, S. l l f f . , 24ff., 35ff., 53ff., 71ff., 104ff., 135ff., 197ff., 272ff.; vgl. Hiroshi Noguchi, Naturrecht und Rechtsontologie, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), ibid., S. 454ff. 132 Arthur Kaufmann, I.e. S. 470. 133 Arthur Kaufmann, I.e. S. 471. 134 Jean Paul Sartre, L'existencialisme est un humanisme, Neue Aufl., 1959, S. 17, 21. 135 Arthur Kaufmann, I.e. S. 471 f.

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Kaufmann zeigt, 136 daß in diesem ontologischen Entwurf Sartres die Existenz so sehr der Essenz vorgeordnet ist, daß diese praktisch in jener aufgeht. „Ist das Wesen des Menschen seine Tat aus absoluter Freiheit, so ist sein Wesen eben nichts anderes als seine Existenz. Das Wesen w i r d also mit der Existenz letzten Endes identifiziert. 1 3 7 Das aber ist Materialismus, freilich ein Materialismus eigener Prägung. Sartres Materialismus besteht darin, daß er eine völlig leere absolute Freiheit der Welt des stofflichen Ansich gegenüberstellt. Das stoffliche Sein ist für ihn das wahre Sein." 1 3 8 Kaufmann irrt allerdings, wenn er den geistigen und den metaphysischen Gehalt des Rechts als etwas Identisches begreife (arg.: „Aber dem steht der geistige, der metaphysische Gehalt des Rechts entgegen" 139 ). Das geistige Sein, der Geist, ist nämlich etwas Reales und keinesfalls Metaphysisches. Kaufmann stellt aber richtig fest, 140 daß der Rechtspositivismus und die idealistische Naturrechtslehre etwas Richtiges über das Recht aussagen, daß sie aber insofern die ontologische Struktur des Rechts verfehlen, als sie jeweils eine Seite des Rechts für das Ganze ausgeben. Die einseitigen, monistischen Rechtsauffassungen müssen daher einer dualistischen oder genauer: einer polaren Rechtsauffassung weichen, argumentiert er weiter. 1 4 1 Nicht mehr fehlerfrei ist die weitere Auffassung von Arthur Kaufmann, daß nichts anderes in der Polarität von Naturrechtlichkeit und Positivität zum Ausdruck komme als das Verhältnis von Rechtsgültigkeit und Rechtswirksamkeit. 142 In der Gültigkeit (Geltung) des Rechts als eines Ganzen ist nämlich die Rechtswirksamkeit schon eingeschlossen. Den Kern der ganzen „ontologischen" Auffassung von Arthur Kaufmann findet man in seinen Ausführungen über den Unterschied zwischen Gesetz und Recht. 143 „Gesetz und Recht sind nicht dasselbe, und zwar sind sie nicht nur gelegentlich voneinander verschieden, sondern der Unterschied ist ein ontologischer. 144 Gesetz und Recht verhalten sich zueinander wie Potenz und Akt, wie Möglichkeit und Wirklichkeit. Das Gesetz ist noch nicht die volle Wirklichkeit des Rechts, es ist nur eine, freilich notwendige Stufe auf dem Wege zur Verwirklichung des Rechts. Das Gesetz ist eine allgemeine 136

Arthur Kaufmann, I.e. S. 472f. Vgl. H. Krings, Fragen und Aufgaben der Ontologie, 1954, S. 86 ff. 138 Arthur Kaufmann, I.e. S. 472f. 139 Arthur Kaufmann, I.e. S. 474. 140 Arthur Kaufmann, I.e. S. 477. 141 Arthur Kaufmann, I.e. S. 478. 142 Arthur Kaufmann, I.e. S. 478; dabei beruft sich Kaufmann auf W. Goldschmidt, Beziehungen zwischen Ontologie und Logik in der Rechtswissenschaft, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Neue Folge, Bd. III, 1950, S. 186ff. 143 Arthur Kaufmann, I.e. S. 502ff. 144 Siehe dazu eingehend Arthur Kaufmann, Gesetz und Recht, in: Existenz und Ordnung, Festschrift für Erich Wolf, 1962, S. 557ff.; derselbe, Die ontologische Struktur des Rechts, I.e. S. 502ff. 137

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Norm für eine Vielheit möglicher Fälle, das Recht dagegen entscheidet eine wirkliche Situation im Hier und Jetzt." 1 4 5 Die Phänomenologie des Gesetzes ergibt, wie Kaufmann betont, 1 4 6 daß es sich hierbei um einen Akt des „Setzens" handelt. Dem Gesetz kommt die Eigenschaft zu, daß es von einem Subjekt gesetzt worden ist: „Illud dicitur esse positivum quod ex voluntate ... procedit." 1 4 7 Nach Kaufmanns Meinung wurzelt das Gesetz in der Autorität eines Gesetzgebers. „Es entstammt nicht dem Sein, sondern es ist Ausfluß eines normgebenden Willens." 1* 8 - Gerade das ist aber nicht richtig. Das Gesetz wurzelt letztlich keinesfalls in der Autorität des Gesetzgebers und in seinem Willen, sondern in dem objektiven Rechtsgeist. Anders verhält es sich - nach Kaufmanns Meinung 1 4 9 - mit dem Recht. „Es wurzelt in der natürlichen Ordnung der Dinge. Es kommt nicht aus dem Willen einer Autorität, sondern es ist ursprünglich seinshaft, 150 Daß mit dem Sein zugleich auch das Recht gegeben ist, ist der älteste Gedanke des Abendlandes, den w i r besitzen. Denn eben dies besagt der Spruch des Anaximander: Alles, was ist, ist auch als Seiendes in Ordnung. 1 5 1 Wer das Sein denkt, denkt auch das Recht. 152 Es besteht nach Kaufmanns Meinung ein Ursprungszusammenhang zwischen Kosmos und Recht. „Das Recht ist die Ordnung des Seienden in seiner konkreten Fülle, und es ist daher selbst ganz und gar konkret. 153 Das Recht ist kein Bestand an Normen, kein abstraktes Schema für das richtige Handeln, es ist vielmehr das rechte Handeln selbst und die rechte Entscheidung in der konkreten Situation. Auch das ist ein alter Gedanke. Der Ausdruck ,Recht', sagt Thomas von Aquin, bezeichnet zunächst und eigentlich, ,die gerechte Sache selbst'. 154 Daraus ergibt sich ein Weiteres. Ist nämlich das Recht konkret, das heißt die Entscheidung für eine Ordnung zwischen mehreren in der konkreten Situation, dann nimmt es an 145 Arthur Kaufmann, I.e. S. 503; vgl. auch A.F. Utz, Kommentar zum 18. Bd. der deutschen Thomas-Ausgabe (Albertus-Magnus-Akademie), 1953, S. 401 ff., und M.E. Schmitt, Recht und Vernunft, 1955, passim; vgl. auch Arthur Kaufmann, Recht als Maß der Macht, in: Stimmen der Zeit, 163. Band, 1958/59, S. 22 ff. 146 Arthur Kaufmann, I.e. S. 503. 147 Thomas von Aquino, I.e. 2, II, 57, 2. 148 Arthur Kaufmann, I.e. S. 503. 149 Arthur Kaufmann, I.e. S. 503ff. 150 Siehe M.E. Schmitt, I.e. S. 19f., 33, 37; René Marcic, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, 1957, S. 123, 135, 160, 162; Erik Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, S. 156. 151 Dazu Erik Wolf, Der Ursprung des abendländischen Rechtsgedankens bei Anaximander und Heraklit, in: Symposion, Jahrbuch für Philosophie, Bd. I, S. 35ff. 152 Arthur Kaufmann, I.e. S. 504. 153 Siehe Utz, I.e. S. 402, 433ff.; M.E. Schmitt, I.e. S. 8, 20, 34f., 57, 76; Maihofer, Die Natur der Sache, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 44. Bd., 1958, S. 145ff., 173f.; Marcic, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, S. 125; Erik Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, S. 148. 154 Thomas von Aquino, I.e. 2, II, 57, 1.

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der Kontingenz und Veränderlichkeit alles Konkreten teil. Das Recht ist, wie schon gezeigt, seinem Wesen nach geschichtlich," 155 Recht und Naturrecht sind nach Kaufmanns Meinung 1 5 6 dasselbe. Auch das Naturrecht ist seinshaft, konkret und geschichtlich. „Was viele, insbesondere die noch im Idealismus steckengebliebenen Neuthomisten, als Naturrecht bezeichnen, nämlich die wenigen obersten, sehr abstrakten und daher allgemeingültigen und sich gleichbleibenden Prinzipien der Gerechtigkeit und der Sittlichkeit, 1 5 7 sind nicht Natur recht, sondern Naturgesetz. 158 Es wäre an der Zeit, daß endlich auch die Naturrechtslehre den Unterschied von Gesetz und Recht zur Kenntnis nähme. Die Grundprinzipien des Rechts sind nicht selbst auch Recht, aber sie sind für das Recht im echten Sinne des Wortes grundlegend." 159 Arthur Kaufmann betont, 1 6 0 daß alles Recht das Gesetz zur Voraussetzung hat. „Es kann keine Rechtsentscheidung geben ohne eine Norm, ohne einen Maßstab des Richtigen. Ontologisch hat das Recht den Vorrang, logisch ist dagegen das Gesetz das Primäre." - Meiner Meinung nach ist es nicht richtig, die ontologische und die logische Seite in solchem Sinn gegenüber zu stellen. Jedenfalls aber ist das Naturrecht als solches, ebenso wie die Grundprinzipien des Rechts, noch kein Recht. Nach Kaufmanns Meinung 1 6 1 kann keine Rechtsnorm nur aus der Rechtsidee und keine Rechtsentscheidung nur aus der Rechtsnorm gewonnen werden. „Sind die Rechtsidee und das Gesetz mithin nur die Möglichkeit von Recht, woraus erwächst dann aber seine volle Wirklichkeit? Darauf gibt es nur eine Antwort: aus den konkreten Lebensverhältnissen, die - nach Dernburgs klassischer Formulierung - ihr Maß und ihre Ordnung, wenn auch mehr oder weniger entwickelt, schon in sich tragen. 162 Wie das Gesetz nur konkretisiert werden kann mit Rücksicht auf die zu regelnden möglichen Lebenssachverhalte, so kann das Recht nur realisiert werden mit Rücksicht auf den zu entscheidenden wirklichen Lebenssachverhalt. Die Norm als ein Sollen kann gar nicht aus sich heraus reales Recht hervorbringen, es muß ein Seinshaftes hinzutreten. Erst wo Norm und konkreter Lebenssachverhalt, iss Arthur Kaufmann, I.e. S. 504. 156 Arthur Kaufmann, I.e. S. 504. 157 Zu dieser „begrifflichen Einengung des Naturrechts", wie sie in neuerer Zeit besonders für H. Coing typisch ist (Die obersten Grundsätze des Rechts. Ein Versuch zur Neubegründung des Naturrechts, 1947, und Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 151 ff.), siehe M.E. Schmitt, I.e. S. 39ff. 158 Ebenso M.E. Schmitt, I.e. S. 37, 47ff., 52. Siehe auch schon Arthur Kaufmann, Naturrecht und Geschichtlichkeit, S. 11 ff., und Das Schuldprinzip, S. 113ff. 159 Arthur Kaufmann, I.e. S. 504f. 160 Arthur Kaufmann, I.e. S. 505. 161 Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie im Wandel, Stationen eines Weges, 1972, S. 286f. 162 Dernburg, Pandekten, Bd. I, 5. Aufl., S. 87.

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Sollen und Sein, zueinander in Entsprechung treten, entsteht reales Recht. Oder kurz: Recht ist die Entsprechung von Sollen und Sem." 1 6 3 XII. Den Kern der „Heideggersehen" Stellung zum Recht kann man schwer besser erfassen, als es Antonio Villani getan h a t : 1 6 4 „Das Denken Heideggers über das Recht ist unmißverständlich und bestürzend zugleich. Läßt man gängige kritische Stellungnahmen außer acht und liest in Ruhe Sein und Zeit, so w i r d einem klar, daß viele Seiten dieses Werkes gleichsam selbstverständlich zu einer Analyse des ,Seins des Rechts' und des »Gesetzes' hinführen. Es zeichnen sich, und zwar erklärtermaßen, jene ,einleitenden', ,vorbereitenden Untersuchungen' ab, die darauf hinzielen, ,ein Forschen in die Tiefe' des ,konkreten Horizontes möglich zu machen, aus dem und im Hinblick auf den sich die Frage nach dem Recht erhebt'. Nachdem in den Kapiteln II, I I I und IV des ersten Abschnittes das ,In-der-Welt-sein' als ,Fundamentalstruktur des Daseins' »freigelegt' wurde, setzt mit den §§ 54 60 1 6 5 eine mehr unmittelbare und tiefgreifende Untersuchung des ,Seins des Rechts' ein. Diese Untersuchung mußte nach den Worten Heideggers zunächst und vor allen Dingen durchgeführt werden, weil ,das Dasein in der Welt in seiner ganzen Komplexität gesehen werden muß', was nur möglich ist durch eine phänomenale Abhebung seiner konstitutiven Momente' 166 ; zweitens weil ,der rechte Ansatz der Analytik des Daseins in der Auslegung dieser Verfassung besteht' 167 . Wenn Heidegger dann fortschreitet zu einer ,Abhebung des Seins des Rechtes', so muß man den Grund i n der Tatsache suchen, daß er ,das Recht' als konstitutives Moment des In-der-Welt-seins' und wesentlich als das, was ,das öffentliche Miteinander überhaupt' 1 6 8 regelt, anerkennt. Und dieser Abschnitt ist ernst zu nehmen. Die Rückwendung des späten Heidegger zu den Begriffen nomos und dike - im Schlußkapitel der Holzwege 169 und in der Einführung in die Metaphysik 170 - ist ein erneutes Zeichen dafür, daß das Problem des Rechts als ein zentrales betrachtet wurde und wird: diese Rückwendung hat ihre Wurzeln in der Erkenntnis, daß das Wort dike im Sagen vom Sein ein maßgebendes Zeugnis 163

Arthur Kaufmann, I.e. S. 287. Antonio Villani, Heidegger und das „Problem" des Rechts, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Die ontologische Begründung des Rechts, 1965, S. 350ff., 354ff. 165 Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927, 8. Aufl., 1957, S. 267 - 301. Tatsächlich wird die gedrängte Folge einer kompakten Gruppe vielfältiger und gelegentlich höchst komplexer Analysen, aus denen das Werk besteht, von der Ahnung geleitet, wie ungeheuer wichtig für ein besseres Erfassen gerade des „Problems der Bedeutung des Seins des Daseins" das „Ans-Licht-bringen" (das „Verstehen") der „Bedeutung des Problems des Rechts" sein könnte. 166 Martin Heidegger, I.e. S. 41, 53, 113. 167 Martin Heidegger, I.e. S. 53. 168 Martin Heidegger, I.e. S. 282. 169 Martin Heidegger, Holzwege, 1950, S. 295 - 343, vgl. auch S. 226ff. 170 Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, 1953, S. 122ff., vgl. auch S. 13, 27, 146. 164

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bleibt'. 1 7 1 Und doch - je mehr sich Heidegger der so erkannten Bedeutsamkeit und Eigentlichkeit des Rechts nähert, um so mehr verkehrt sich diese in eine negative Bedeutsamkeit, in eine ,uneigentliche' Eigentlichkeit. Gerade in dem als notwendig erachteten Abschnitt, der von einer Analyse der , Struktur des In-der-Welt-seins' zu einer Analyse seines ,konstitutiven Moments' - d.h. des ,Seins im Recht' - übergeht, verliert sich der Wert dieses ,Moments' und damit auch der Sinn des Rechts völlig." Meiner Ansicht nach müssen w i r vollkommen übereinstimmen mit der Feststellung Villanis, 112 daß das Ergebnis der Analysen Heideggers in der Tat verwirrend ist. Villani stellt besonders folgende Fragen: 173 Hat Heidegger hinreichend den zentralen Bereich gesehen, in dem die „Frage nach dem Recht", die er zu analysieren vorgibt, ihren Grund hat? Ist es ihm gelungen (um Begriffe zu gebrauchen, die ihm teuer sind) „ans Licht zu bringen, was das Geschehen (die Geschichte) des Problems des Rechts einschließt und verbirgt", „zu entbergen, was in der Frage nach dem Recht wirklich geschieht (und geschehen ist)"? Oder findet der Vorwurf der Gewaltsamkeit, der gegen seine Analysen mehrfach erhoben wurde, 1 7 4 gerade darin seine Rechtfertigung, daß er nicht immer imstande war, bei diesen Analysen das rechte Maß walten zu lassen? In dem Versuch, die Struktur des Miteinanderseins und des Rechts zu erfassen und zu begründen, geht Heidegger davon aus - wie Villani weiter betont 1 7 5 - , daß sie geprägt ist durch die Modi der „Gleichgültigkeit" und der „Freundheit" und des „Einander-nichts-angehens". „ I m Miteinandersein ,ruht ständig die Sorge um einen Unterschied gegen die Anderen, sei es auch nur, um dem Unterschied gegen sie auszugleichen, sei es, daß das eigene Dasein - gegen die Anderen zurückbleibend - im Verhältnis zu ihnen aufholen will, sei es, daß das Dasein im Vorrang über die Anderen darauf aus ist, sie niederzuhalten'. 176 Die Sorge geht immer um das, ,was man mit, für und gegen die Anderen ergriffen hat'." Vollkommen recht hat Villani mit seiner weiteren Feststellung, 177 daß von der ontologischen Charakterisierung der existentialen Sorge her gesehen, das Recht, der ganze Prozeß der Bildung der rechtlichen Erfahrung, nur ein Fremdkörper, ja ein Gegensatz zu dem konstitutiven Prozeß sein kann, in 171

Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, S. 127. Antonio Villani, I.e. S. 359. 173 Antonio Villani, I.e. S. 360f. 174 So z.B. von Ernst Cassirer in dem Diskussionsbeitrag: Kant und das Problem der Metaphysik, Bemerkungen zu Martin Heideggers Kant-Interpretation, KantStudien, 1931, S. Iff.; ferner G. Krüger, Der Maßstab der kantischen Kritik, KantStudien, 1935, S. 162ff.; R. Bultmann, Glaube und Verstehen, 1952, Bd. 2, bes. das Kapitel: Das Problem der Hermeneutik, S. 211 ff.; Antonio Villani, I.e. S. 360. 175 Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 121; Antonio Villani, I.e. S. 368f. 176 Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 126; vgl. Antonio Villani, I.e. S. 369. 177 Antonio Villani, I.e. S. 371 f. 172

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dem sich das Dasein befindet. „Die Kluft zwischen Recht und Existenz mußte Heidegger als unüberbrückbar erscheinen". „Das Recht ist nur im sozialen Raum real - es ist im eigentlichen Sinne sozial - , die Existenz dagegen vollzieht sich in der Einsamkeit. Das Recht ist verallgemeinernde Ordnung - eine Ordnung, die auf Grund allgemeiner Regeln erreichbar ist - , die Existenz ist unwiederholbar." 178 Die Feststellung Villanis 179 halte ich für begründet, daß das Recht nicht nur, wie Heidegger meint, ein Hindernis für die „existentiale Freiheit" ist, sondern auch - um mit Kant zu sprechen „die Bedingung der Möglichkeit der Freiheit" einschließt. 180 Mit Recht macht Villani auch darauf aufmerksam, 181 daß seit dem Erscheinen des ersten Teiles von „Sein und Zeit" das Denken Heideggers ohne Zweifel eine Wandlung durchgemacht hat. In seinem Werke „Sein und Zeit" war das eindrucksvollste das Bild des „Menschen", der, aller seinen Glaubensinhalte beraubt, ohne sichere Verbindung zu den kulturellen Werten, sich „geworfen" sieht in die „Angst" und „Sorge" „seiner" Existenz und, sich selbst überlassen, sein Dasein auf sich nimmt, entschlossen zu völliger Unabhängigkeit gegenüber „Tod" und „Nichts". Villani hebt mit Recht hervor, 182 daß seit mehr als zwanzig Jahren in den Schriften Heideggers andere Motive auftauchen: jetzt wird gesprochen vom „Sein" als „Wahrheit", als dem „Heiligen", in dem das „Dasein" eingeordnet und überwunden ist; der Mensch, der als „Hirte des Seins" eingesetzt ist, empfängt sein „Geworfensein" - als „Schicksal" - von diesem „Sein", in dessen „Nähe" er seine „Heimat" findet; und seine „beharrende Existenz" scheint nicht mehr in der äußersten Unsicherheit zeitlich abzulaufen, sondern erscheint „ i m Licht des Wahren", in dem der Mensch „ekstatisch innesteht". René Marcie beginnt 1 8 3 seine Abhandlung über Heideggers Philosophie vom Recht mit einem Zitat von Heidegger: „Nur sofern der Mensch, in der Wahrheit des Seins existierend, diesem gehört, kann aus dem Sein selbst die Zuweisung derjenigen Weisungen kommen, die für den Menschen Gesetz und Regel werden müssen." Der Leitspruch aus dem „Humanitätsbrief" 1 8 4 setzt fort: „Der nomos ist nicht nur Gesetz, sondern ursprünglicher die in der Schichtung des Seins geborgene Zuweisung ... Nur solche Fügung vermag zu tragen, unterzubinden. Anders bleibt alles Gesetz nur das Gemächte menschlicher Vernunft." Mit Recht sagt Marcie ,185 daß diese Auffassung von 178

Antonio Villani, I.e. S. 372. Antonio Villani , I.e. S. 375. 180 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, ed. Vorländer, 5. Aufl., 1945, S. 35; vgl. Antonio Villani, I.e. S. 375. 181 Antonio Villani, I.e. S. 389. 182 Antonio Villani, I.e. S. 389f. 183 René Marcie, Geschichte der Rechtsphilosophie, 1971, S. 334f. 184 Martin Heidegger, Wegmarken, S. 191. 185 René Marcie, I.e. S. 334. 179

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Heidegger an die ursprüngliche griechische Auffassung des Rechts, besonders an die von Hesiod und Heraklit erinnert. Auf die Frage, ob das Recht ausschließlich ein Werk des empirischen Menschen sei, antwortet Heidegger mit aller Entschiedenheit: Nein! Das Faktum der Macht kann nicht über die Existenz des Menschen entscheiden. Es gilt der unantastbare Kern des Rechts, der keinem Subjekt, auch nicht dem Gott zur Disposition steht. Jede Willensentscheidung, jede Entscheidung über Recht und Unrecht, gilt als eine ableitbare Entscheidung. Es existiert ein präpositives Recht, „ein Seinsrecht", das an sich gilt. Freilich aber w i l l Heidegger selbst von keiner Änderung seiner Anfangsposition wissen und im Gegenteil interpretiert er seine neuen Schriften als folgerichtige Entwicklung dessen, was in „Sein und Zeit" eingeleitet worden war. 1 8 6 Trotzdem aber kann man die neue Linie bei Martin Heidegger nicht bestreiten. Auf dieser neuen Linie bewegen sich die „Interpretationen" der Fragmente des Anaximander, Parmenides, Heraklit und Sophokles über die Begriffe dike und noraos. 187 „Wenn er nicht mehr unmittelbar versucht, ein Urteil über Wert und Sinn jener besonderen Seinsart des Daseins abzugeben, das das ,Im-Recht-sein' ist, sondern sich bemüht, es denjenigen »ausdrücken zu lassen, der dessen würdiger ist', wenn er sich als Deuter der Worte Anaximanders und Heraklits gibt, wenn er die ,wesentliche Forderung des Denkens' erfassen will, und zwar dadurch, daß er sich in die ,Fülle der geschichtlichen Erfahrung' versetzt und sich,aufmacht, den Stimmen zu lauschen, die zu Beginn der abendländischen Geschichte gesprochen haben', so ist der Grund darin zu suchen, daß er zu jenen wesentlichen Dingen' kommen will, die der »Subjektivität des auf sich selbst gestellten Denkens' verschlossen geblieben waren. Die »Überwindung' des Subjektivismus zeigt sich - beim späten Heidegger - als Bemühung, sich in die gänzlich entfaltete ,humanitas' des ,homo humanus' 1 8 8 hineinzuversetzen (in das, was im eigentlichen Sinne zum Menschen gehört, was ihm eigentlich ist), sie zeigt sich als Versuch, das zu erreichen, was eine Analyse des ,in sich selbst befangenen', ,nur mit sich selbst beschäftigten Daseins', 189 seltsamerweise, jedoch notwendig »vergessen' hatte." 1 9 0

186 Martin Heidegger, Zur Seinsfrage, S. 33; Einführung in die Metaphysik, S. 13 f., 18, 64, 133, 157; Brief über den Humanismus, S. 8, 12, 14f, 17, 21, 29, 30, 32f., 41; Antonio Villani, I.e. S. 390f. 187 Martin Heidegger, Holzwege, S. 226ff., 296ff.; Einführung in die Metaphysik, S. 122ff., 127ff.; vgl. Antonio Villani, I.e. S. 393. 188 Martin Heidegger, Brief über den Humanismus, S. 31; vgl. Antonio Villani, I.e. S. 393. 189 Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 191. 190 Antonio Villani, I.e. S. 393.

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Villani hebt mit Recht hervor, 1 9 1 daß Heidegger erkennt, daß die Begriffe dike und nomos, also das Recht im heutigen Sinne des Wortes, das Zentrum darstellen, um welches das griechische Denken kreist. Heraklit nennt die dike dort, „wo er Wesentliches über das Sein bestimmt." Für Parmenides ist dike „die Göttin, die die Schlüssel zu den Toren des Seienden verwahrt." Der Gebrauch des Wortes dike ist also „ i m Sagen von Sein ein maßgebender Zeuge". 1 9 2 Aber sofort verliert Heidegger den Kern der Sache; er erfaßt nicht den zentralen Sinn dieser Begriffe von dike und nomos, also das Wesen des Rechts, wie Villani richtig feststellt. 193 Der Sinn der Erfahrung des „ImRecht-seins", so wie er im vorsokratischen Denken sichtbar wird, besteht für Heidegger erklärt ermaßen in der erkannten „Notwendigkeit des Vergehens jeder Institution und jedes Gesetzes". Letzten Endes findet man bei Heidegger die gänzliche Unfähigkeit des „Im-Recht-seins", die „Uneigentlichkeit" des „In-der-Welt-seins" zu überwinden und zu bewältigen. 194 XIII. Eine besondere Form der Anwendung der Existenzphilosophie auf das Recht stellt die egologische Konzeption dar, die von Carlos Cossio, einem argentinischen Rechtsphilosophen, entwickelt wurde. 1 9 5 Allerdings hatten auch andere philosophischen Konstruktionen auf die Auffassung von Cossio einen großen Einfluß, besonders die Logik Edmund Husserls und die Reine Rechtslehre Hans Kelsens. Was den letzten betrifft, war Cossio ein Schüler Kelsens, aber schrittweise entfernte er sich immer mehr von der Wiener Schule, so daß jetzt die Auffassungen beider Rechtsphilosophen grundverschieden sind. 1 9 6 Cossio betrachtet die Freiheit als Sein des Menschen. Die metaphysische Freiheit der konkreten menschlichen Person ist Ausgangspunkt der ganzen Konzeption. Diese Freiheit bekundet sich in der Handlung, welche die erste Gegebenheit des Rechts ist. Das ist auch der Grund, warum die ganze Konzeption „Egologie" heißt, da dieser Name sich auf das ego bezieht, d.h. auf das Ich in seiner lebenden Handlungsweise. 191

Antonio Villani, I.e. S. 393f. Antonio Villani, I.e. S. 394. 193 Antonio Villani, I.e. S. 394. 194 Antonio Villani, I.e. S. 401. 195 Carlos Cossio, La teoria egológica del Derecho y el concepto juridico de libertad, 1944; derselbe, El Derecho en el Derecho judicial, 1945; Norma, Derecho y Filosofia, 1946; derselbe, Panorama de la teoria egológica del derecho, 1949; derselbe, Ciencia del Derecho y Sociologia juridica, 1950; derselbe, La intuition el pensamiento y el conocimiento juridicos, in: La Ley, Bd. 63, 1951; derselbe, Las posibilidades de la lògica juridica segunla Lògica de Husserl, 1951; derselbe, Teoria de la veridad juridica, 1954; derselbe, Los valores juridicos, Anuario de Filosofia del Derecho, 1956; dazu und zum folgenden Luis Legaz y Lacambra, Rechtsphilosophie, 1965, S. 181 ff. 196 Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 183. 192

§ 39. Der Weg im Schrifttum zur ontologischen Erfassung

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Das Recht ist ein egologischer Gegenstand; das Recht ist die Handlungsweise, die zur Erscheinung gewordene metaphysische Freiheit. Cossio unterscheidet nämlich folgende Gegenstände: ideale, natürliche, der Kultur angehörende und metaphysische. Die Kulturgegenstände, die real sind, sich auf einen Wert beziehen und der Erfahrung angehören, teilen sich wieder in zur Welt gehörende und in egologische Gegenstände. Die zur Welt gehörenden Gegenstände stellen das „objektivierte menschliche Leben" dar; die „egologischen" Gegenstände sind das menschliche Leben selbst, als lebendes und wirkendes Leben. Das Recht ist nach Cossio eine Handlungsweise und keine Norm. Die Norm ist das begriffliche Instrument, durch das man die Wirklichkeit des Rechts als Handlung erkennt. 197 Die Norm ist Begriff, nicht Gegenstand. Die Rechtsnorm kann nur Gegenstand der Rechtslogik, aber nicht Gegenstand der Rechtswissenschaft sein, deren Gegenstand das Recht selbst ist. Mit Hilfe von Heideggers Philosophie und Husserls Logik w i l l Cossio den Begriff eines „existentiellen Sollens" finden, womit er das Wesen der Freiheit ausdrückt, in der die Handlung, also auch das Recht, besteht. „Er geht der Verifikation-Beziehung zwischen der Intuition (von der Handlung) und der Bedeutung (dem normativen Begriff) auf den Grund und stellt sich die Frage nach dem ,intuitiven Selbstsein der Handlung', d.h. nach dem, was bei einer menschlichen Tat von ,derselben' Handlung zu sprechen erlaubt; er meint, daß dieses Selbstsein im ,Sich-selbst-denken' besteht, welches ,als programmatischer Ideenkomplex die Bereitschaft für etwas und für sein Gegenteil integriert, indem es zeigt, daß durch diese Integration die Handlung als ein existentielles Sollen und nicht als ein Sein gelebt wird.' D.h. die Norm integriert die Handlung, das normative Denken ist ein Teil der Handlung im allgemeinen. Deswegen sind die Gesetze verpflichtend', ohne daß sie - nach Cossio - Imperativisch sein müssen. Der Gesetzesbegriff integriert die Handlung des Untertanen; wenn der Begriff sich ändert, w i r d zum Teil eine neue Handlung als Gegenstand der Erkenntnis geschaffen. Aber die Gesetze sind so verpflichtend wie z.B. die Normen, die uns die Sprache durch ihre grammatische Struktur aufzwingt, wenn w i r etwas formulieren." „Die Menschen sind durch die bloße Tatsache, daß sie leben, verpflichtet, sich zu verstehen. Und die Gesetze geben eben dieses ,zum Gemeinschaftsleben gehörende Verständnis' wieder, das sich unmittelbar durch das Benehmen ausdrückt. Die Gesetze integrieren auch unsere Lage, sind Teil der Welt, in der w i r leben sollen; der Mensch spricht von Verpflichtung, jedesmal, wenn diese durch eine notwendige Möglichkeit gekennzeichnete

197

Dazu und zum folgenden Luis Legaz y Lacambra, 1. c. S. 183 ff.

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

Beziehung konkretisiert wird, mit der sich seine Freiheit und seine Lage verbinden." 1 9 8 Nach der Meinung von Legaz 199 liegt in der egologischen Theorie ein positiver Wert, obzwar seine Lehre noch durch sehr viele Elemente des Neukantianismus belastet ist, und das Problem besteht darin, ob die Logik Husserls, die so stark dem Idealismus verbunden ist, nicht dem existentialistischen Denken zu viel von seiner Kraft nimmt, auch wenn die Egologie glaubt, daß aus der Verbindung der beiden Faktoren die einzige Theorie entsteht, die mit dem Problem der Norm und mit der Tatsache fertig werden kann. Recht hat Legaz mit seiner Feststellung, 200 daß die Egologie nur die begriffliche Wirklichkeit der normativen Sätze als Denken des eigenen Handelns sieht, deren normativer Charakter sich in diesen „sich normativ denken müssen" erschöpft. XIV. Meiner Meinung nach bildet die existentialistische Philosophie, besonders die des „Sein und Zeit" von Martin Heidegger, keine geeignete Grundlage für das Erfassen des Wesens des Rechts. Zur existentialistischen Begründung des Rechts und auch der ganzen Rechtsphilosophie ist noch folgendes hinzuzufügen: Es ist wirklich schwer zu begreifen, warum einige Rechtsphilosophen gerade den Existentialismus zum philosophischen Ausgangspunkt und zur Grundlage ihres rechtsphilosophischen Systems gewählt haben. Aus allen bisherigen Ausführungen geht doch klar hervor, daß die ganze Grundkonzeption dieser philosophischen Richtung für das Erfassen des Rechts vollkommen ungenügend ist. Nach dem eigenen Eingeständnis eines der Vertreter der existentialistischen Philosophie O. F. Bollnow 201 entstand der Existentialismus „ i n der verzweifelten Zeit nach dem ersten Weltkrieg mit der ganzen damals über den Menschen hereinbrechenden Unsicherheit und trägt die Spuren dieser alles ergreifenden Erschütterung deutlich an sich." Der Existentialismus verdankt seinen „erneuten Durchbruch den noch viel tiefer in das gesamte Gefüge unseres Daseins eingreifenden Folgen des zweiten Weltkriegs und des nunmehr totalen geschichtlichen Zusammenbruchs unserer ganzen bisherigen geistigen Welt." Die ganze existentialistische Richtung ist im Grunde genommen ganz irrationalistisch, pessimistisch und vom Kern aus ungesund, d.h. für das 198

Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 184f. Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 185. 200 Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 185. 201 O.F. Bollnow, Existenzphilosophie, S. 126f.; dazu und zum folgenden Georg Klaus - Manfred Buhr, Philosophisches Wörterbuch, Bd. 1, 11. Aufl., 1975, S. 390ff. 199

§ 39. Der Weg im Schrifttum zur ontologischen Erfassung

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Leben des Menschen und damit auch für die Wissenschaft nicht tragbar. Die Vertreter dieser Philosophie geben vor, zum Begriff der Existenz durch ein sog. existentielles Erlebnis zu gelangen. Heidegger gibt als solches die Erfahrung des Todes (den „Vorlauf zum Tode"), Jean-Paul Sartre den Ekel (nausée), Jaspers die Brüchigkeit des Seins, das Scheitern des Menschen in den „Grenzsituationen" (Tod, Leiden, Schuld). Die Triebkraft des Erlebens der objektiven Realität ist vor allem die Angst. Durch die Angst wird der Mensch seiner endlichen Stellung im Weltganzen gewahr, d.h. durch die Angst erlebt er seine Ungeborgenheit, seine Geworfenheit, die Brüchigkeit seines Seins, das von Anfang durch den Tod bestimmt ist, dem er nicht entrinnen kann. Die Ratio ist im Existentialismus zu Gunsten der Irratio vollkommen abgewertet. Es ist unverständlich, warum gerade der Existentialismus von Rechtsphilosophen gewählt wurde. Schon der absolute Bruch mit der philosophischen Tradition sollte warnend wirken. Die Grundthese des Existentialismus lautet nämlich, daß die philosophische Entwicklung seit Piaton und Aristoteles in die Irre ging. Die philosophische Tradition muß deshalb ausgeschaltet werden; man muß an die philosophische Tradition mit einer „Destruktion" herangehen (Heidegger). Der Existentialismus kommt zur Schlußfolgerung, daß das menschliche Leben der Anfang des Totseins ist: „Der Tod ist eine Weise zu sein, die das Dasein übernimmt, sobald es i s t " 2 0 2 , oder „Dasein heißt: Hineingehaltenheit in das Nichts" 2 0 3 . Keineswegs sind aber mit dieser schroffen Ablehnung der Auffassung des Rechts durch die Existenzphilosophie einige sehr wichtige Ergebnisse gemeint, zu welchen Karl Jaspers gelangte 204 . Es ist gewiß richtig, daß das Recht eine Notwendigkeit des Lebens, die den Einsatz der Persönlichkeit fordert, bildet, da die Normen des Rechts nur lebendig bleiben, wenn sie von den Rechtsgenossen existentiell ergriffen werden. „Die Geltung von Form und Gesetz ... ist daher für den, der am Ursprung des Seins lebt, nicht äußerlich; ihre Befolgung ist nicht Formalismus, sondern die Sache selbst, deren Härte verlangt, daß sie nicht verletzt werden dürfen 2 0 5 ". Jaspers entwickelt aus dem Wesen des Menschen ein Naturrecht, welches ihm aber nur i n einer bestimmten geschichtlichen Gestalt erscheint. Sicher erlebt der

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Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 245. 203 Martin Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 32. 204 Karl Jaspers, Von der Wahrheit, 1947; derselbe, Philosophie, 2. Aufl., 1948; derselbe, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 1. Aufl., 1949, 2. Aufl., 1952; vgl. v. d. Heydte, Existenzphilosophie und Naturrecht, Stimmen der Zeit 143 (1948, 1949), S. 185ff.; Feehner, Rechtsphilosophie 1956, S. 223ff.; Hans Kelsen, Existenzialismus in der Rechtswissenschaft?, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 43,1957; Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1963, S. 328ff. 205 Karl Jaspers, Philosophie, S. 233. 18 KubeS

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Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

Mensch die Unbedingtheit des transzendentalen Sollens, dieses spreche aber zu uns nur in Chiffren 206 . XV. Man muß auch einige Andeutungen von Max Scheler 207 anführen. Scheler erblickt den letzten „phänomenalen Anknüpfungspunkt für alle, das Recht oder die Idee der Rechtsordnung betreffenden Untersuchungen in den Sachverhalten des Rechtseins oder TJnrechtseins", die aber selbst noch durch die Gerechtigkeitswerte fundiert sind. Die Gerechtigkeitswerte als besondere Qualität bilden jenen gegenständlichen Bereich, an den das Recht inhaltlich gebunden ist, wenn es überhaupt einen sinnvollen Gegenstand darstellt. „Die Idee des Rechtes knüpft hiebei an die Unrechtseinsverhalte an, nicht an das Rechtsein, so daß der Rechtsordnung gemäß alles ist, was nicht einen Unrechtseinsverhalt enthält." Niemals kann aber „bei genauer Reduktion die Rechtsordnimg sagen, was Recht ist, sondern nur was Unrecht i s t . " 2 0 8 Das Gesetz betrachtet Scheler nur als eine Technik zur Realisierung der Rechtsordnung. 209 XVI. Werner Goldschmidt untersucht, welche Seinsart dem Recht angemessen und wie es adäquat begrifflich zu erfassen ist. 2 1 0 Wenn Goldschmidt vom Recht als einer realen Gegebenheit spricht, stellt er fest: 2 1 1 „Das Recht ist weder metaphysisch wie Gott, noch physisch wie die Natur, noch ideal wie die Zahlen, sondern kultureller Art. Aber innerhalb der kulturellen Gegenstände muß man zwischen objektivierten kulturellen Dingen, wie z.B. einer Statue, und nur im Zusammenhang mit dem Menschen verständlichen Bezügen, dem menschlichen Verhalten, unterscheiden." Für Goldschmidt ist das Recht „ein in dauernder Bewegung sich befindender Vorgang." 2 1 2

206 Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Fischer Ausgabe 1956, S. 156ff.; Alfred Verdross, I.e. S. 232. 207 Max Scheler, Formalismus i n der Ethik und die materiale Wertethik, 1921, S. 212; vgl. Josef Dobretsberger, Die Begriffsbestimmung des Rechts in der Phänomenologischen Rechtsphilosophie, Zeitschrift für. öffentliches Recht, 6. Bd., 1927, S. 246ff., jetzt in: Rudolf Aladâr Métall , 33 Beiträge zur Reinen Rechtslehre, 1974, S. 47 ff. 2 8 Max Scheler, I.e. S. 212. 209 Max Scheler, I.e. S. 212. 210 Werner Goldschmidt, Beziehungen zwischen Ontologie und Logik in der Rechtswissenschaft, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Die ontologische Begründung des Rechts, 1965, S. 244ff. 211 Werner Goldschmidt, I.e. S. 249ff. 212 Werner Goldschmidt, I.e. S. 251.

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Gleichzeitig stellt er fest 2 1 3 , daß das Recht begrifflich in doppelter Weise erfaßt werden kann: von innen als Norm, von außen als Wahrscheinlichkeitsurteil. „ M i t dieser Betrachtung münden w i r in die Rechtslogik ein," sagt er. 2 1 4 XVII. Nach der Meinung von Ernst von Hippel 215 ist der Rechtsbereich vielschichtig. Der Bereich des Rechtlichen gründet zunächst in der Sphäre der Ideen, und zwar insbesondere der Rechtsidee (Gerechtigkeit), deren Sein seiner Qualität nach als das normative Geltung bezeichnet werden kann. Dieses Sein ist von Seiten des Erkennenden her erreichbar durch das Organ der moralischen Vernunft oder intellektuellen Anschauung. „Nur durch die Bezogenheit auf diese Seinssphäre kann im Bereich der äußeren Wirklichkeit menschliches Verhalten wie staatliche Satzung mit Grund das Prädikat Recht oder Unrecht erhalten und etwa geübter Zwang zu einem rechtlichen werden. Entsprechend ist es unmöglich, Recht nur empirisch aufzufinden, da es sich im äußeren Dasein wohl auswirkt, durch dieses aber nicht seine Qualität erhält. Indem endlich die moralische Weltenordnung rechtlich nicht nur in der Form allgemeiner Prinzipien in Frage kommt, sondern auch als Ausdruck der in der Zeit gestaltenden schöpferischen Weltenfreiheit, führt die konkrete Betätigung derselben rechtlich zur lex divina, wobei die übernatürliche Offenbarung dieses Willens zunächst diejenigen verpflichtet, die an sie glauben. Damit aber w i r d menschliche Souveränität, die nur als moralische betätigt eine rechtliche sein kann, und also menschliche Freiheit zuletzt überhöht und gebunden durch die Souveränität und Freiheit Gottes, wobei in der Endbildlichkeit des göttlichen Willens, wie der göttlichen Weisheit und Liebe zugleich das Ideal des Rechts und also die moralische Zukunft für den Menschen liegt." 2 1 6 XVIII. Auf der Grundlage des stufenförmigen Aufbaues der realen Welt bestimmt Erich Fechner die Stellung des Rechts in der Gesellschaft. 217 Er sieht die Grundlage des Rechts i n der gesellschaftlichen Sphäre. Die Welt der Gesellschaft ist aber nach ihm kein Bestandteil einer Schicht des realen Seins im Sinne Nicolai Hartmanns. „Es gibt keine »Schicht des sozialen Seins', die so von anderen Seinsschichten abgehoben ist, wie die organische 213

Werner Goldschmidt, I.e. S. 251. Siehe auch Werner Goldschmidt, Der Aufbau der juristischen Welt, Theorie der Austeilung, ihre Gerechtigkeit und ihre Normierung, 1963. 215 Ernst von Hippel, Zur Ontologie des Rechts, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Die ontologische Begründung des Rechts, 1965, S. 405ff., 421 f.; derselbe, Einführung i n die Rechtstheorie, 4. Aufl., 1955; derselbe, Geschichte der Staatsphilosophie, 2. Bd., 2. Aufl., 1958. 216 Ernst von Hippel, Zur Ontologie des Rechts, I.e. S. 421. 217 Erich Fechner, Rechtsphilosophie, 1. Aufl., 1956 (zit. nach der 1. Aufl.), S. 196; zum folgenden vgl. besonders Vilmos Peschka, Grundprobleme der modernen Rechtsphilosophie, 1974, S. 205 f. 214

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

von der anorganischen oder die organische von der Schicht des Seelischen." 218 Verschiedene Seinsschichten durchdringen und konstituieren das soziale Gebiet. Das Recht ist also nicht nur ein Teil der allesumfassenden Gesamtordnung, sondern gehört in das Gebiet des Sozialen, wo es seinen Platz in der Ordnung des Ganzen hat. „Das Recht ist Teilordnung einer Teilordnung. Es ist Teilordnung innerhalb der zwischenmenschlichen Ordnung, die ihrerseits zu der größeren Ordnung von Physis, dios, Psyche und Logos gehört." 2 1 9 Fechner betont, daß das Recht wesentlich ein Teil des Menschlich-Sozialen ist, in ihm und mit ihm gegeben ist. 2 2 0 Der Zusammenhang des Rechts mit den gesellschaftlichen Kräften ist zweierlei: die gesellschaftlichen Verhältnisse sind einerseits durch das Recht geformt, andererseits durch das Recht ausgedrückt. Das Recht selbst stellt den unmittelbaren Ausdruck des Sozialen dar. Die rechtlichen Formen sind im Wesen des Sozialen notwendig enthalten. 221 Daher kann der Mensch nicht den Inhalt des Rechts nach seinem Belieben formieren. Es gibt gewisse objektive Zusammenhänge, die im Prozeß der Schaffung des Rechts nicht gestört werden dürfen. In diesem Sinn ist das Recht für den Menschen etwas Gegebenes. Dieser Berührungspunkt zwischen dem Sozialen und dem Rechtlichen, der Umstand, daß das Recht ein Ausfluß der sozialen Macht ist, bedeutet aber keinesfalls, daß im Wege der Deduktion oder Analogie aus der objektiven Geformtheit und Regelmäßigkeit des Sozialen als seienden der Inhalt und die Form der Rechtserscheinungen abgeleitet werden kann. 2 2 2 „Wie die Begriffe und die Denkgesetze, werden auch die Rechtssätze insoweit nicht gebildet, sondern nachgebildet, nicht erfunden, sondern aufgefunden." 223 Fechner betont, daß das Recht nicht nur gegeben, sondern uns gleichzeitig aufgegeben ist, denn der Inhalt des Rechts wird neben den gesellschaftlichen und anderen bestimmenden Faktoren durch die aktive, schöpferische Tätigkeit des Menschen formiert und gleichzeitig der Freiheit des Menschen anvertraut. „Unbeschadet der Autorität der Gegebenheiten handelt es sich doch gleichzeitig um objektives Auf gegebensein. Darin liegt die Möglichkeit und Notwendigkeit des schöpferischen Anteils des Menschen am Recht." 2 2 4 Das wesentliche Merkmal des Rechts ist gerade diese Gegebenheit und Aufgegebenheit. „ I n dieser teilweisen Gegebenheit und teilweisen Aufgegebenheit liegt der eigentümliche Charakter des Rechts." 225 Im existentialen Erlebnis und in der Entscheidung der rechtlichen Situationen bildet sich das „Naturrecht" mit werdendem Inhalt. „ M i t jeder 218 219 220 221 222 223 224 225

Erich Erich Erich Erich Erich Erich Erich Erich

Fechner, Fechner, Fechner, Fechner, Fechner, Fechner, Fechner, Fechner,

I.e. I.e. I.e. I.e. I.e. I.e. I.e. I.e.

S. 197. S. 197. S. 202. S. 202. S. 195. S. 210. S. 212. S. 203.

§39. Der Weg im Schrifttum zur ontologischen Erfassung

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schöpferischen Entscheidung, die Neues entbirgt und damit Verpflichtendes schafft, wird ein Stück Naturrecht. Der Begriff eines vorgegebenen statischen Naturrechts wird damit abgelöst von einem werdenden Naturrecht, dessen Fülle in der Zukunft liegt." 2 2 6 Wenn auch das Anknüpfen an die kritische Ontologie Nicolai Hartmanns sicher richtig und zweckmäßig ist, bin ich der Meinung, daß die Lösung nicht in der Richtung, die uns Fechner zeigt, gehen kann. Auch seine Konstruktion eines „Naturrechts mit werdendem Inhalt" ist unsicher und unbestimmbar. 2 2 7 X I X . Helmut Coing geht vom Standpunkt einer philosophischen Anthropologie aus und ist vor allem durch Dilthey , Georg Simmel, Plessner und Max Scheler beeinflußt 228 . Er geht damit von der Anschauung aus, daß der Mensch, wie durch die Fähigkeit zu sachlicher Aufnahme und Erforschung der Welt, so auch durch die Befähigung, geistige Werte zu erfassen und zu verwirklichen, ausgezeichnet ist; der Mensch vermag seine vitale Energie auf solche Wertverwirklichung zu richten und hierin subjektiv wie objektiv den Sinn seines Lebens zu finden. Das Recht gehört nach Coing 229 der Welt der Geschichte an. Das Recht lebt, wie alles geschichtlich Gewordene, in vielfachen individuellen Gestaltungen. Es steht im Ganzen der Kultur, aber es hat auch - durch die eigentümlichen Grundtendenzen, denen es dient: Friede, Sicherheit und Gerechtigkeit durch Ordnung - seine eigene Stellung. 230 Positives Recht nennen w i r - wie Coing sagt 2 3 1 - die Friedensordnung, die in einer bestimmten sozialen Gruppe zu einer bestimmten Zeit Geltung besitzt. Das positive Recht ordnet das Zusammenleben der Menschen dieser Gruppe durch verbindliche Regeln; es wird von innerhalb dieser Gruppe bestehender Autorität getragen. In Wahrheit müssen positives Recht und Naturrecht in eins gesehen werden. Das positive Recht ist im ganzen doch der Versuch, eine gerechte und zweckmäßige Ordnung zu schaffen. Es kann daher niemals allein aus sich heraus verstanden werden; die Betrachtung der Grundsätze der Gerechtigkeit darf ebenso wenig ausgeschaltet werden wie diejenige der konkreten politischen und ökonomischen Kräfte, die in ihr wirksam sind. Nur auf der Grundlage einer Erkenntnis der Grundsätze der Gerechtigkeit, des Naturrechts also, wie es Coing entwickelt, kann der Gerechtigkeitsge226

Erich Fechner, I.e. S. 261. Vilmos Peschka, I.e. S. 205f. 228 Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 3. Aufl., 1976, S. 121; vgl. Georg Simmel, Vier metaphysische Kapitel; Plessner, Conditio Humana; Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos. 229 Helmut Coing, I.e. S. 169f. 230 Helmut Coing, I.e. S. 170. 23 * Helmut Coing, I.e. S. 261 f. 227

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

halt einer positiven Rechtsordnung verstanden und entwickelt werden. „Die Rechtsordnung ist...,geistiges Sein' und zwar ,objektiviertes' oder fixiertes Sein, d.h. ein in einem Text niedergelegter geistige Gehalt. Als solcher existiert sie ganz unabhängig davon, ob sie von bestimmten Personen in konkreten psychologischen Denkakten erfaßt, durchdacht und vollzogen w i r d . " 2 3 2 „Zur Eigenart des Rechtes als geistiges Sein ... gehört, daß es verbindliche Ordnung, daß es ,Sollen' ist, gehört mit anderen Worten sein Geltungsanspruch - genau so wie die Forderung nach Verwirklichung zum Wesen eines ethischen Wertes gehört. Diese Eigenart ist nicht weiter ableitbar. Der Neukantianismus hat insofern ganz richtig gesehen; denn im Grunde geht ja auch Kelsens Lehre von der Grundnorm, die der Rechtsordnung den Charakter des Sollens verleiht, nicht darüber hinaus festzustellen, daß das Recht eben ,gilt', und dies wesensmäßig und unabhängig von faktischer Anerkennung." 233 „Von diesem dem Recht als einer Art des geistigen Seins zukommenden wesensmäßigen Geltungsanspruch muß man aber auch darin hat der Neukantianismus richtig gesehen - die Fragen, ob und warum eine Rechtsnorm in der Wirklichkeit des geschichtlichen Lebens in Geltung steht, also die Frage nach der tatsächlichen Geltung und ihrem Grunde durchaus trennen. Diejenige Rechtsordnung gilt, für die - nach dem Worte Walter Burckhardts - ,eine entsprechende Organisation einsteht' 234 und bei der daher die Aussicht besteht, daß sie befolgt w i r d . " 2 3 5 „Fragt man dann nach dem Grunde dieser Geltung, so werden alle die Gesichtspunkte bedeutsam, auf die insbes. Franz Klein hingewiesen hat; sie zeigen uns, warum die Menschen den idealen Anspruch, den das Recht wesensmäßig erhebt, tatsächlich erfüllen." Coing hat Kleins Feststellungen nur noch die wichtige Beobachtimg der historischen Rechtsschule hinzugefügt, daß im Volke in der Regel nicht die einzelnen Rechtsnormen, sondern die ihnen zugrunde liegenden Grundwerte lebendig sind, wie sie sich in den modernen Demokratien etwa in den Grundrechtsteilen der Verfassungsurkunden niedergeschlagen haben. 236 „Freilich stehen Faktisches und Ideales, Geschichtliches und Wesensmäßiges bei der Rechtsnorm nun doch nicht beziehungslos nebeneinander, sondern sind in eigenartiger Weise verschlungen. Dies gilt übrigens auch für sonstige Wesenheiten objektivierten Geistes in gewisser Weise: denn ein Kunstwerk, eine Plastik, ein Werk der Architektur kann physisch zerstört werden und damit als geistiger Gehalt untergehen." 237 „Aber die Rechts«2 Helmut Coing , I.e. S. 287f. Helmut Coing , I.e. S. 288. 234 Walter Burckhardt, Die Organisation der Rechtsgemeinschaft, 1927, S. 177. 235 Helmut Coing, I.e. S. 288. 236 Helmut Coing, I.e. S. 288. 237 Hier zitiert Helmut Coing (I.e. S. 289) Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 2. Aufl., 1949, S. 448. 233

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norm kann ... ihren Charakter als geltendes Recht verlieren durch faktische Vorgänge, insb. durch vollständiges Aufhören der faktischen Anerkennimg. Wir sagen dann: sie ist desuet geworden. Oder sie ist durch erfolgreiche Revolution außer Kraft gesetzt. Der Verlust der „geschichtlichen" faktischen Geltung führt dann auch den Verlust der idealen herbei." „... man denke an die Wiederentdeckung des Corpus iuris Justinians im Mittelalter; aber zunächst bewirkt die Nichtmehranerkennung eine Veränderung in ihrem Charakter als geistiges Werk; sie nimmt ihr die Geltung." Auch nach der Meinung von Franz Klein, 238 der einen Einfluß auf Helmut Coing hatte, trägt das Rechtsbewußtsein das Recht. Allerdings ist es nach Kleins Meinung durch sittliche Wertvorstellungen und Gruppengeist bestimmt. Man kann beobachten, daß der Einfluß der kritischen Ontologie auf seine Lehre nur oberflächlich ist. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum es Coing nicht gelungen ist, das Wesen des Rechts zureichend zu erfassen, seine komplex-dialektische Struktur zu demonstrieren, seinen Platz in der realen Welt zu finden, die abgeleitete Normativität einiger Sphären des geistigen Seins, besonders des objektiven und objektivierten Rechtsgeistes darzutun und streng zwischen der Geltung der einzelnen Rechtsnorm, der Geltung des Rechts als eines Ganzen, der Geltung der realen Idee des Rechts und der Geltung der idealen Normidee des Rechts zu unterscheiden. X X . Luis Legaz y Lacambra stellt mit Recht fest, 239 daß das ontologische Problem das Eigentliche der Rechtsphilosophie ist. „Denn letzten Endes muß das Problem der Wirklichkeit des Rechtes gelöst werden: Was das Recht eigentlich sei". In einer Polemik mit Norbert Bobbio 240 für welchen die Rechtsphilosophie nur Bewertung und Methodologie und die Rechtsontologie keine Rechtsphilosophie, sondern allgemeine Rechtslehre ist, und auch in einer Polemik mit Carlos Cossio, 2* 1 für den das ontologische Problem der Philosophie der Rechtswissenschaft angehört, welche die einzig mögliche Rechtsphilosophie sein kann, da nur die Rechtswissenschaft auf gültige Weise sich mit dem Recht befassen kann, behauptet er, daß das Recht als soziale Wirklichkeit und diese als menschliche Wirklichkeit betrachtet werden muß. Nach Legaz ist es die letzte und eigentliche Aufgabe der Rechtsphilosophie, die „Seinsweise des Rechtes und seine Wertkomponenten aufzuweisen; deshalb untersucht sie seinen metaphysischen Sinn als Wirklichkeit des 238 Franz Klein, Die psychischen Quellen des Rechtsgehorsams und der Rechtsgeltung, Vorträge und Schriften zur Fortbildung des Rechts und der Juristen, Heft 1, 1912, S. 35f.; Klein wird ausdrücklich von Helmut Coing zitiert (I.e. S. 285f.). 239 Luis Legaz y Lacambra, Rechtsphilosophie, 1965, S. 42f. 240 Norberto Bobbio, Teoria della scienza giuridica, S. 13. 241

Carlos Cossio , Panorama de la Teoria egológica del Derecho, S. 58f.

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

menschlichen Lebens, welche in der Freiheit begründet ist, die sozialen Verhaltensformen schafft und das suum der Person in einer vernünftigen Ordnung des Zusammenlebens garantiert." 2 4 2 Die Rechtsphilosophie ist in der Auffassung von Legaz die Untersuchung des Rechtes in seiner Wirklichkeit, also des sogenannten Seins des Rechts. „Das bedeutet nicht, daß Wirklichkeit, ,das, was ist', das Sein ist, sondern das Sein vielmehr ist die Wirklichkeit, und das Sein des Rechtes ist das Sein der Rechts Wirklichkeit. Es handelt sich demnach um eine metaphysische und eine strikt ontologische Dimension des Problems." 243 Nach Legaz stellt das Recht eine Ordnung von Beziehungen des menschlichen Lebens dar. 2 4 4 „Es ist eine Lebensordnung, eine Anordnung von Lebensbeziehungen, die mit dem Leben entsteht, i n ihm wächst und sich entwickelt. Alle diese Behauptungen können selbstverständlich scheinen, aber es ist besser, ihren wirklichen Sinn zu erfassen. Deswegen muß man eine erste Einschränkung machen. Wenn Lerminier etwas unklar sagt, daß ,das Recht das Leben ist', müssen wir energisch einwenden, daß das Recht ,eine Form des Gesellschaftslebens' ist. Aber was ist ,Gesellschaftsleben', und wessen Leben ist es? Es ist notwendig, daß wir der Frage auf den Grund gehen. Am Anfang des Rechtes ist die Person. Des Menschen wegen gibt es das Recht, sagt Hermogenian" (D. 1.5,2). „Die Freiheit existiert nur in einem ens, das in der größten Fundamentalität seines Seins verwurzelt ist. Das ens fundamentale, Gott, ist nicht eine dem Wesen der Freiheit fremde Grenze, sondern diese Fundamentalität gibt dem Menschen sein Freisein. Ohne Bindung und ohne Bindendes wäre die Freiheit für den Menschen seine größte Ohnmacht und seine Grundverzweiflung." 245 „Deswegen ist der atheistische Existentialismus ohnmächtig und verzweifelt, besonders in der Form, die er sich mit größter Folgerichtigkeit bei J. P. Sartre ausgebildet h a t . " 2 4 6 In der Bindung und mit Gott ist seine Freiheit seine größte Macht, so daß er mit ihr seine eigene Person konstituiert, sein eigenes inneres und ihm innewohnendes Sein, das allem gegenübersteht, sogar seinem eigenen Leben. 247 Schon hier merkt man den großen Einfluß der Philosophie von Xavier Zubiri 248 „Das Sein des Menschen ist nicht sein Leben, sondern das Leben ist das Werkzeug, mit dem der Mensch sein Sein macht, das seine Person i s t . " 2 4 9 242

Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 44. Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 44; vgl. J. Marias, Introducción a la filosofia, S. 336ff., 349. 244 Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 249. 245 Luis Legaz y Lacambra, 1. c. S. 252. 246 Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 252, Anm. 16. 247 Xavier Zubiri, En torno al problema de Dios, in: Naturaleza, Historia, Dios, S. 456ff.; Luis Leqaz y Lacambra, I.e. S. 252, Anm. 16. 248 Xavier Zubiri, I.e.; siehe auch derselbe, El acontecer humano: Grecia y la pervivencia del pasado filosofico, in: Naturaleza, Historia, Dios, 1944, S. 40 ff. 249 Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 253. 243

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„Dem Sein des Menschen ist das Gegen-sein wesentlich, das ein Gegenetwas-sein ist und deswegen die Bindung voraussetzt. Der Mensch wendet sich gegen sich selbst in dem Maße, in dem er schon existiert. Weil er gebunden ist, ist der Mensch als Person in einem gewissen Sinne ein absolutes Subjekt, ein absolutes Relativ-sein: Es ist absolut, insofern es das seine ist, und relativ, insofern es erhalten, empfangen i s t . " 2 5 0 Die Person hat also eine wesentlich „soziale" Natur. Man bemerkt wieder den großen Einfluß von Zubiri, und auch von Ortega: 251 „Der Mensch erscheint nicht in seiner Einsamkeit (wenn auch seine letzte Wahrheit seine Einsamkeit ist): Der Mensch erscheint in der Gesellschaft als der Andere, der mit dem Einem wechselt als der Entsprechende. " Wie Legaz selbst feststellt, hatte diesen Gedanken Max Scheler auch in ethischen Termini ausgedrückt, als er von einer Solidarität der Personen sprach, durch die es eine Gemeinschuld und ein Gemeinverdienst gibt. 2 5 2 An ihnen hat jedes Individuum teil, und sie bestehen nicht in der Summe der individuellen Schuld und des individuellen Verdienstes, so daß jede Person nicht nur grundsätzlich für ihre eigene individuellen Akte verantwortlich ist, sondern auch für die aller anderen „mitverantwortlich". Daher kommt die Idee der Gemeinschaft der Personen. „Die zwischenmenschliche Bindung, der Umstand, daß schon in der Bedeutung des Begriffes Mensch ,ein Wechselseitig-für-einander-sein' liegt, wie Husserl sagt, 253 setzt die Tatsache voraus, auf die sich die Bindung gründet: Gott ist die ontologische Brücke, über die die Person sich gegenseitig als Personen in der Fülle und Authentität des persönlichen Lebens mitteilen, das eben durch den Bezug auf die Liebe zu Gott und zu den Menschen als Abbild Gottes definiert wird (und natürlich auch durch das Gegenstück zur Liebe, den Haß)." 2 5 4 Legaz hebt ausdrücklich hervor, daß man - im Unterschied zu Heidegger 255 - bei Ortega 256 noch den Begriff des „ Gesellschaftslebens" berücksichtigen muß, das in seinem Denken nicht mit der Existenz des Massenmenschen identisch ist.

250

Xavier Zubiri, En torno al problema de Dios, 1. e. S. 458; Luis Legaz y Lacambra, 1.e. S. 253. 251 J. Ortega y Gasset, El hombre y la gente, S. 133; vgl. Luis Legaz y Lacambra, 1. c. S. 253. 252 Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 2. Aufl., 1921, S. 517f. 253 Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, „Husserliana", I, S. 157f.; Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 254. 254 Max Scheler, Vom Ewigen im Menschen, 1921, 4. Aufl., 1954, Bd. I; Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 254. 255 Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1935, S. 126ff.; Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 254. 256 Ortega y Gasset, La rebelion de las masas, 1929; Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 255.

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Das Gesellschaftsleben - betont Legaz 257 - hat eine normative Struktur. Die Normen haben Werte zur Grundlage, die nicht nur allgemein nach Art des kategorischen Imperativs gelten, sondern die auch besondere Formen annehmen. „ I m Unterschied zum Recht kommt die Moral ihrem Wesen um so näher, je stärker sie sich in ihren Forderungen und Ansprüchen individualisiert. Nun sind die Normen im persönlichen Leben anders als im Gesellschaftsleben. Im persönlichen Leben steht das Subjekt den Normen als freies Wesen gegenüber; die Freiheit macht das Wesen des persönlichen Lebens aus, in ihm erheben die Normen ihre Ansprüche, und diese sind um so gebieterischer, als sie ohne die freie Anerkennung durch das Subjekt jeden Sinn für dieses verlieren. Ein zwangsweise moralisches Leben ist kein moralisches Leben, auch wenn die Vernunft für die Forderungen spricht, die man durch den Zwang verwirklichen will. Hingegen wird das Wesen des Gesellschaftslebens nicht durch die Freiheit, sondern durch die Norm gekennzeichnet. Es gibt Gesellschaftsleben, weil und insofern es soziale Normen gibt - Normen des ,man' - , die ihre Herrschaft aufzwingen, das persönliche Sein des Subjektes (notwendigerweise) entarten lassen, und darum muß das Subjekt mit dieser unabwendbaren »Entartung' rechnen, um i n seinem authentischen Leben seine echte persönliche Seinsart zu wahren." 2 5 8 „Das Soziale kann man, nach der grundlegenden Bestimmung von Ortega y Gasset, durch die Kennzeichen der Impersonalität, des äußeren Zwanges und der Irrationalität definieren." 259 Das Recht ist eine Vorschrift der Gesellschaft und nur im Gesellschaftsleben hat es Sinn, vom Recht zu sprechen. 260 Aber noch mehr: „Das Recht ist eine notwendige Form des Gesellschaftslebens, ebenso wie das Gesellschaftsleben eine unumgängliche Form der menschlichen Existenz ist. In dem Augenblick, in dem Menschen in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander stehen, gibt es auch Rechtsbeziehungen zwischen ihnen: ubi homo, ibi societas ; ubi societas, ibi ius , ergo ubi homo, ibi ius. Dies meint man, wenn man sagt, daß ein wesentliches Kennzeichen des Rechtes die Alterität ist, d. h., die Unterscheidung der Subjekte, 261 aber man muß hinzufügen, daß die Alterität nicht nur wechselseitige Verpflichtung bedeutet, sondern zunächst die Veränderung im Sinne des Sozialen. Wenn die Beziehungen zwischen den Subjekten nicht juristischen Charakter haben, weil besondere Umstände an Stelle des Rechts die rohe Gewalt und die zügellose Willkür der Mächtigen gesetzt haben, dann w i r d das Gesellschaftsleben unmöglich. Das sahen sehr deutlich die Vertreter der Theorie vom Gesellschaftsvertrag, die wie Spinoza und Hobbes dem 257

Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 262. Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 262. 259 Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 263. 258

260

Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 263. Dies erklärt, wie Legaz ausdrücklich betont (1. e. S. 263, Anm. 40), sehr gut Giorgio Del Vecchio, Filosofia del Derecho, S. 309ff., 333ff. 261

§ 39. Der Weg im Schrifttum zur ontologischen Erfassung

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Vertrag die Fähigkeit beimaßen, das Hecht, den Staat und die Gesellschaft zu schaffen, während im Naturzustand weder Staat noch Gesellschaftsleben möglich wären, weil eine Rechtsherrschaft fehlte. 262 Legaz stellt fest, 263 man könne, wenn man sagt, daß das Recht Form des Gesellschaftslebens ist, dabei entweder die Form oder das Leben betonen. In diesem Zusammenhang bemerkt Legaz, daß das erste Recaséns Siches machte, für den das Recht „objektiviertes menschliches Leben" ist, 2 6 4 d.h. das, was einige Philosophen im letzten Jahrhundert den objektiven Geist (Hegel) und andere Kultur (Windelband, Rickert) nannten. In diesem Zusammenhang zitiert Legaz auch die Auffassung von Nicolai Hartmann über den objektiven Geist. Das Leben hingegen w i r d im Sinne der egologischen Rechtsauffassung Carlos Cossios gesehen, für den das Recht „lebendes menschliches Leben" ist. Nach der Meinung von Legaz 265 finden w i r in der Rechtswirklichkeit folgende Elemente: 1. ein Gesamt von sozialen Lebensformen (Bräuchen), die, insofern sie „Geltung" haben, auf dem Leben des Menschen lasten und es in einer gewissen Dimension „ i n seiner Natur verändern", indem sie es ihrer Normgebung unterwerfen; 2. eine Gerechtigkeitsidee, von welcher diese normative soziale Wirklichkeit eine verwirklichte Ansicht oder Perspektive bildet und welcher diese Wirklichkeit „verpflichtenden Charakter" gibt; 3. eine Abgrenzung der Sphären des Zulässigen und des Obligatorischen; 4. eine „Heteronomie" oder „Autarkie" des normativen Systems, die sich technisch als seine Anwendung durch die richterlichen Organe zeigt; 5. ein System von „normativen Sätzen", die von der das Recht schaffenden Obrigkeit formuliert werden und die die „Legalität" darstellen. Das Vorhandensein eines solchen „Systems der Legalität", das gewisse Forderungen an die Strukturierung und an das Funktionieren der rechtlichen und staatlichen Ordnung stellt, zeichnet soziologisch besonders das Recht des modernen Staats aus und stellt deontologisch die ideale Forderung an jeden Staat dar, der sich als Rechtsstaat rechtfertigen will. Legaz kommt zur folgenden beschreibenden Definition des Rechtes: 266 „Es ist eine Form sozialen Lebens, in der sich eine bestimmte Ansicht von der Gerechtigkeit verwirklicht, welche die Bereiche des Erlaubten und der Pflicht durch ein mit autarkem Wert begabtes System der Legalität abgrenzt." Das Sein des Rechts ist ein historisches Sein, so wie der Mensch geschichtlich ist, durch den es existiert, und wie es das Leben ist, in dem es sich bildet 262 263 264 265 266

Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 264. Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 266. Recaséns Siches, Vida humana, sociedad y Derecho, 2. Aufl., 1945. Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 277. Luis Legaz y Lacambra, 1. c. S. 277.

4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

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und wurzelt. 2 6 7 Aber im Menschen und im Leben findet sich auch das, was jenseits der Geschichte ist. „Das Geschichtliche ist die Manifestation der Grundwirklichkeit, welche die Freiheit des Menschen ist, und das Recht ist geschichtlich, weil seine Quelle die Freiheit ist. Die Geschichtlichkeit des Rechtes hat den metaphysischen Sinn, der Ausdruck der konkreten Formen des Gesellschaftslebens zu sein, welche aus dem freien Fluß des persönlichen Lebens hervorgegangen sind." 2 6 8 In der Welt der freien Wesen - sagt Legaz 269 - wird die Ordnung von der Kategorie des Zweckes her bestimmt. „Jedes Sein ist ein ,Bestimmt-sein-zu ...' Aber nur der Mensch besitzt die Fähigkeit, sich seine Bestimmung als ,ZieF zu setzen. Allgemein sind alle Ziele, die sich der Mensch setzt (und in seiner Tätigkeit ist immer ein Ziel, wenn man auch nicht immer die ,Finalität 4 dieses Tätigseins sieht, d. h. seinen Zusammenhang mit anderen Handlungen, die zum Erlangen der Bestimmung angemessen scheinen), durch ein vorhergehendes Werturteil bestimmt. Das ,objektive' Maß dieses Wertes findet sich in der funktionalen Beziehung auf die Bestimmung, zu der der Mensch berufen ist. Aber eine Wertfreiheit in diesem Sinne löst die menschliche Handlung noch nicht aus dem ontologischen Bereich des Axiologischen, denn die Handlung kann nicht ohne (positiven oder negativen) Wert sein." „Der Rechtsordo ist mit der Moralordnung verbunden. Man kann sagen, daß er das Recht unter dem Gesichtspunkt der Finalität ist. Und ebenso kann man den Satz aufstellen, daß der Rechtsordo das Naturrecht in dem Maße ist, wie dieses das Gesamt der Prinzipien ist, die jedem Rechtssystem seine Form geben müssen, welches sich als auf die Idee der Ordnung gegründet rechtfertigen will. Der Rechtsordo in diesem Sinne ist nicht dasselbe, wie die von den Juristen so genannte »Rechtsordnung 4.270 Diese ist das Recht als normatives System einer politischen Gemeinschaft und meint besonders die soziologische Dimension der Wirksamkeit in der Organisation. Das Recht ist letztlich Freiheit, und deswegen ist der Rechtsordo die aufgegebene, die ideale Organisation der Freiheit. Hingegen ist die Rechtsordnung ein System der Beschränkungen der Freiheit und findet sein Gegengewicht in der Schöpfung so vieler anderen Sphären der Freiheit. Weil das Recht Freiheit ist, gilt der Grundsatz, daß juristisch alles erlaubt ist, was nicht juristisch verboten ist. Weil der Rechtsordo die ideale Organisation der Freiheit ist, sind in ihm jene Grundsätze enthalten, die gewissen Zugeständnissen und den entsprechenden Verboten Rechtssinn geben und 267

Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 280. Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 280. 269 Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 282. 270 Die Rechtsordnung ist die Wirklichkeit der organisierenden Réglementation, wie F. de Castro sagte: Derecho civil de Espagna, 2. Aufl., 1949, Bd. I, S. 57; vgl. L. Legaz, Libertad y orden juridico y politico, „Humanismo, Estado y Derecho", S. 143 ff. 268

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ihn anderen verweigern. Schließlich kennen w i r durch die Rechtsordnung mit Sicherheit das, was im einzelnen erlaubt und verboten ist, d.h. was w i r tun dürfen oder was w i r tun und lassen sollen. Die Rechtsordnung ist also das »System der Legalität', welches die mehr oder weniger vollkommene und ungefähre Anerkennung oder Ablehnung der Grundsätze des Rechtsordos darstellt. Wenn nun der Widerspruch zwischen beiden absolut wird, ist der Rechtscharakter der Rechtsordnung eo ipso nicht mehr vorhanden, weil sie dem Prinzip widerspricht, das ihr Rechtswert gibt. Die Legalität wird dann zum ,bloßen Schein' des Rechtes." 271 Das Naturrecht ist nach Legaz 272 die Projektion des moralischen Ordo oder besser der Forderungen dieses Ordo an die Gesellschaftsordnung. Legaz betont ausdrücklich, 273 daß das Recht seinem Wesen nach eine Form des Gesellschaftslebens ist; es ist ontologisch nicht an den Staat gebunden und sein Charakter einer Vorschrift hat nicht in einem Befehl des Staates seinen Ursprung. Der normative Satz bezeugt das Bestehen von Vorschriften, und sein Sein ist das einer logisch-begrifflichen Beschreibung einer Wirklichkeit, die darin besteht, Vorschrift zu Sein. 2 7 4 Der normative Satz stellt nur die Wirklichkeit der Norm dar und gibt ihre genauen Umrisse an, indem sie die verschiedenen Typen der „Tatsachenvoraussetzungen" oder Tatbestände und der „Strafen" festsetzt. Diese darstellende Funktion ist unabhängig davon, ob der normative Satz die Wirklichkeit der noch nicht als soziale Form des Lebens bestehenden Norm begrifflich vorwegnimmt oder ob er nur das wiedergibt, was schon eine normative Struktur des Gesellschaftslebens ist. Die Norm läßt als Form des Gesellschaftslebens nicht nur zu, daß sie in einem normativen Satz begrifflich gefaßt wird, sondern sie fordert es sogar. 275 Der Satz als begriffliche Struktur dient der Erkenntnis der normativen Wirklichkeit des Rechts. 276 „Das Recht besteht nicht in den normativen Sätzen als begrifflichen Strukturen, sondern durch diese Sätze (in der begrifflichlogischen Zergliederung, der sie von der Theorie der Rechtswissenschaft unterworfen werden) erkennt man vollkommen und genau die Normen des Rechts. Diese erlegen Pflichten auf, regeln das Verhalten, beschränken die Freiheit. Doch durch die normativen Sätze erkennen w i r mit aller Klarheit und Sicherheit (nicht nur mit der moralischen Sicherheit, die der ehrliche Mensch sucht, wenn er wissen will, was seine Pflicht ist) den genauen Umfang dessen, was man juristisch tun muß oder kann, ohne daß sich eine unerwünschte Rechtsfolge ergibt." 271 272 273 274 275 276

Luis Luis Luis Luis Luis Luis

Legaz Legaz Legaz Legaz Legaz Legaz

y y y y y y

Lacambra, Lacambra, Lacambra, Lacambra, Lacambra, Lacambra,

I.e. S. 283. I.e. S. 284. I.e. S. 361. I.e. S. 362. 1. c. S. 364. I.e. S. 365f.

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

Den Zwang als zum Wesen des Rechts gehörig anzusehen, setzt keine positivistische Haltung voraus. 277 Daß die Gesellschaft Zwang und Zuflucht ist, bedeutet, daß sie ihrem Wesen nach Macht ist, eine dem Individuum gegenüberstehende unangreifbare Macht; und ohne daß wir dabei an eine „Organisation" denken müssen, hat jede Gesellschaft ihre „öffentliche Macht"; und die Art ihres Wirkens entspricht der jeweiligen Dimension der kollektiven Existenz, stellt aber, durch ihr bloßes Vorhandensein, einen „Zwang" dar, betont Legaz 278 und beruft sich auf Ortega. 219 Selbst wenn diese Begriffe eng miteinander verbunden sind, muß man doch zwischen Rechtszwang, Rechtsgarantie und Rechtsstrafen unterscheiden. 2 8 0 „Der Zwangscharakter ist das Prinzip und die Strafe das Ergebnis, oder besser gesagt: Diese ist das Mittel, mit dem man droht, um ein Ergebnis zu erreichen, und der Zwangscharakter ist die Möglichkeit und Berechtigung (welche von der Rechtsordnung unabtrennbar ist, sofern diese den Wert der Eigenständigkeit hat), dieses Mittel zu gebrauchen. Der Begriff der Garantie ist weiter als der der Strafe. Garantie des Rechts ist jeder Faktor, der wirksames Mittel zum Schutze der Geltung des Rechts sein kann." 2 8 1 Die Rechtsphilosophie von Legaz ist sicher ein großes Werk mit erstaunlich reicher Gedankenfülle. Es ist lobenswert, daß die grundlegende Stellungnahme zum Problem des Rechts ontologisch fundiert ist. Keinesfalls aber wurde seine rechtsphilosophische Auffassung von der modernen, k r i t i schen Ontologie Nicolai Hartmanns entscheidend beeinflußt. Andere Philosophen hatten auf ihn einen wirklichen Einfluß, und zwar Ortega y Gasset und Xavier Zubrini. Das Wesen des Rechts ist bei ihm i n der katholischen naturrechtlichen Konzeption verankert. X X I . Nach René Marcie ist das Recht „ i n die Grundmauern der Existenz des Menschen gemeißelt. Das Dasein des Menschen trägt die Norm des Rechtes in sich, mit sich, wohin immer der Mensch sich begibt." 2 8 2 „Rechtsordnung ist die zureichende und notwendige Bedingung der Gesellschaft." 2 8 3 Jede positive Rechtsordnung setzt den Bestand von vorpositiven, metapositiven Normen voraus. 284 Marcie vertritt - wie er selbst feststellt 285 - eine strenge Rechtsontologie und erkennt im Recht als Ordnung und Norm ein Transzendental oder Qua277 278 279 280 281 282 283 284 285

Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 367. Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 370f. Ortega y Gasset, El hombre y la gente, S. 305 ff. Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 371. Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 371. René Marcie , Rechtsphilosphie, Eine Einführung, 1969, S. 19. René Marcie , I.e. S. 28. René Marcie , I.e. S. 54. René Marcie , I.e. S. 128.

§39. Der Weg im Schrifttum zur ontologischen Erfassung

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sitranszendental. „Das Recht läßt, dem Sein gleich, ähnlich dem Wahrsein, Gutsein, dem Einessein usf., jeglichen Gattungs- und Artbegriff weit hinter sich zurück. Es faßt sämtliches Seiende, greift auf alles Seiende über. Es kann nicht Gegenstand eines empirischen Begriffes sein, wie etwa Bleistifte, Kirchen, Häuser. Kants Sprache: Niemand kann das Recht unter einen Begriff, man kann es aber auf einen Begriff bringen. Ich deute nämlich die Seins- oder Weltwirklichkeit als Rechtswirklichkeit. Recht ist ein Zug des Seins (physei, natura). Nicht von Ungefähr lautet der erste Name, unter dem Sein vorkommt: „Diké" ... Die Tatsachenwirklichkeit w i r d von der normativen Rechtswirklichkeit, das faktische ,Sein' vom Rollen 4 hergedeutet. U b i esse, ubi ens, ibi ius." Das Recht ist für Marcic 286 die beständige Ordnung der Normen und ihrer Vollzugsakten, die das Zusammenleben der Menschen dadurch ermöglichen und erhalten, daß sie die Kollisionen im Handeln der Ordnungsgenossen verhindern und sie lösen. Das Recht muß man als zureichende und notwendige Bedingung erkennen, worunter alle Handlungen aller Ordnungsgenossen miteinander zusammenstimmen können. Das deontische Prinzip der Kompatibilität oder Soziabilität korrespondiert mit dem logischen Prinzip der Widerspruchsfreiheit. Nach Marcics Ansicht sollte die Frage nach der Geltung des Rechts systematisch, gedanklich-gesetzlich und zeitlich der Frage nach dem Wesen vorangehen. 287 - Meiner Meinung nach ist diese Ansicht Marcics nicht richtig. Das Wesen des Rechts bzw. die Frage nach dem Wesen des Rechts ist der Frage nach der Geltung des Rechts präjudiziell, oder schließt diese Frage schon in sich. Marcic sagt, 288 daß w i r gerne wissen möchten, warum das Recht gilt. In einer Analogie zur fundamental-ontologischen Frage Heideggers: „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts?", lautet unsere Frage: „Warum gilt überhaupt Rechtliches und nicht vielmehr Nichts?" Nach Marcics Meinung 2 8 9 ist der Grund, daß Rechtliches gilt, selbst eine Norm ist, und zwar eine Rechtsnorm, also: das Recht dergestalt, daß Recht sein eigener Grund ist. Richtig stellt Marcic fest 2 9 0 , daß Kelsen in seinem hohen Alter sich von seinem Ausgangspunkt abgewandt und zu einer Metaphysik des Willens zugeneigt hat: kein Imperativ ohne Imperator! Obzwar sich Kelsen weiter 286

René Marcic, I.e. S. 138. René Marcic, I.e. S. 142. 288 Martin Heidegger, Was ist Metaphysik? 1929, 9. Aufl., 1965; derselbe, Wegmarken, 1967, S. Iff.; René Marcic, I.e. S. 142. 289 René Marcic, I.e. S. 143; derselbe, Reine Rechtslehre und klassische Ontologie, Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht, XI, 1961, S. 395ff. 290 René Marcic, I.e. S. 143. 287

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

an den Normativismus halten will, antwortet er auf die Frage nach dem überhaupt letzten Grund der Geltung des Rechts: Wille! Marcie betont weiter, 2 9 1 daß, wie Franz Brentano, Edmund Husserl und die ganze Phänomenologie und auch Martin Heidegger zeigten, bekomme jede positive Untersuchung, jede positive Wissenschaft ihre Direktion von daher, wo unmittelbares Erkennen (Bochenski), wo Anschauung (intuitus) geschehe. So müsse die Rechtsphilosophie über den empirischen Bereich des Rechts forschen. Marcie lehrt, 2 9 2 daß das Recht einen Kosmos darstellt, welcher zumindest zwei Stufen hat: die Grundnorm als Bedingung und die Welt der bedingten Normen mit ihren Vollzugsakten als ihre Folge. Die Grundnorm stellt ein Kriterium dar: was mit ihr übereinstimmt, ist Recht, was außerhalb von ihr oder gegen sie ist, ist Non-Recht. Leibniz hat das in folgender Weise formuliert: 2 9 3 Das Recht ist nicht Recht, weil irgendein Subjekt - Gott, Fürst, oder überhaupt jemand - es so will; eher ist es so, daß der Ordnungsgeber es so will, weil das Recht es objektiv so fordert; weil der Ordnungsgeber gerecht ist. Das positive Recht setzt das Seinsrecht voraus, aber das Seinsrecht kann ohne das positive Recht nicht wirkungsvoll gelten 294 . Marcie hat folgendes Problem artikuliert: 2 9 5 „Kann wissenschaftlich einwandfrei das Verlangen, die Faktizität zu beachten, erfüllt und, begrifflich in derselben Ebene, die rechtsnormative Natur von Staat und Gesellschaft behauptet werden?" Das scheint ihm - und sicher mit Recht - die Schicksalsfrage zu sein: angesichts der Polarisierung des Verhältnisses, in dem juristischer und soziologischer Zug wider einander auffahren, zumal die Spannung, mit auflösender Wirkung, vom Reich der Theorie in den politischen Raum der A l l tagspraxis übergreift. „Erfaßt man wie Martin Buber, Werner Maihofer oder der Verfasser - drei Namen für viele - die menschliche Existenz begriffswesentlich als zwischenmenschliches Geschehen und versteht man wie Kant, Hegel, Widar Cesarini Sforza, Maihofer oder der Verfasser das Urmodell solcher Verhältnisse als Recht, so lautet die Formel kurz und bündig: ubi homo, ibi societas - und ubi societas, ibi ius, ebenso gilt umgekehrt: ubi ius, i b i 291

René Marcie, I.e. S. 145. René Marcie, I.e. S. 164. 293 René Marcie, I.e. S. 165. 294 René Marcie, I.e. S. 174; vgl. Martin Heidegger, Was ist Metaphysik, 5. Aufl., 1949, S. 41. 295 René Marcie, Rechtswirksamkeit und Rechtsbegründung, Versuch einer Antwort auf die Sinnfrage des Rechts im Zusammenhang mit der Geltungsfrage, Festschrift für Hans Kelsen zum 90. Geburtstag (Hrsg. Adolf J. Merkl, René Marcie, Alfred Verdross, Robert Walter), 1971, S. 85ff. 292

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societas, ibi homo. Das Recht ist die zureichende und notwendige Bedingung der menschenwürdigen Existenz 296." Marcic sagt 2 9 7 : „Zwischen Normativität und Faktizität: das ist die Abmessung der Existenz des Menschen. Glückt das Unterfangen, sind Fortbestand wie Entfaltung des Menschengeschlechts gewiß, wird das proprium opus humani generis totaliter accepti zu vollbringen sein, das da ist: actuare semper totam potentiam intellectus possibilis (Dante, Über den Weltstaat [de monarchia] I, 4., 1 - 3)." Marcic stellt hier die Sinnfrage des Rechts und zwar - wie er selbst feststellt 2 9 8 - anders als etwa Helmuth Coing, 299 Werner Maihofer 300 oder er selbst sonstwo. 301 Er stellt sie normstruktur-immanent, nicht normstrukturtranszendent, - etwa dahin, die Funktion der Rechtsnorm in der Gesellschaft zu untersuchen. Marcic versteht sie und behandelt sie nicht nur wie, vielmehr als ein der Strukturtheorie des Rechts eingefaltetes Problem. Freilich - so betont Marcic - kann er den Zusammenhang mit der transzendenten Sinnfrage nicht aus dem Auge lassen. An anderer Stelle 3 0 2 meint René Marcic, daß man Geltung - Verbindlichkeit - Wirksamkeit unterscheiden muß. Geltung ist der Ausdruck für die spezifische Seinsweise (modus essendi) der Norm. Ein Gesetz „ist" nicht, es „gilt". Es wird gefragt, ob eine bestimmte Norm einem bestimmten Normensystem angehört oder nicht, ob sie als Bedingtes ihrer Bedingung entspricht. Marcic setzt fort, daß auch gefragt wird, ob ein bestimmtes Normensystem als Ganzes dem Recht schlechthin, oder näherhin: etwa dem Völkerrecht, angehört oder nicht, ob es als Bedingtes seiner Bedingung entspricht. Nur die Grundnorm, als die Urbedingung, gilt - nach der Meinung von Marcic aus sich. Er glaubt, daß wie die Wahrheit, so auch die Geltung die Struktur der Entsprechung hat. „Sie meint ein Zusammenstimmen, und zwar: daß der eine Akt als der rangtiefere mit dem anderen als dem ranghöheren über-

296 Buber, Das Problem des Menschen, 1961, insb. S. 164; Maihofer, Vom Sinn menschlicher Ordnung, 1965; derselbe, Naturrecht als Existenzrecht, 1963; derselbe, Demokratie im Sozialismus, 1968; derselbe, Rechtsstaat und menschliche Würde; derselbe, Recht und Sein, 1954; derselbe, Ideologie und Naturrecht, in: Ideologie und Recht (Hrsg. W. Maihofer, 1969, S. 12Iff.; Cesarmi Sforza, Idee e problemi di filosofia giuridica, 1956; derselbe, Filosofia del diritto, 3. Aufl. 1958; René Marcic, Rechtsphilosophie, 1969; derselbe, Recht - Staat - Verfassung I, 1970; derselbe, Hegel und das Rechtsdenken, 1970; derselbe, Rechtswirksamkeit und Rechtsbegründung, I.e. S. 86,104. 297 René Marcic, Rechtswirksamkeit und Rechtsbegründung, I.e. S. 87. 298 René Marcic, I.e. S. 87. 299 Helmuth Coing, Vom Sinngehalt des Rechtes, in: Forum der Rechtsphilosophie, hrsg. v. E. Sauer, 1950, S. 77, abgedr. in: Die ontologische Begründung des Rechts (Hrsg. A. Kaufmann), 1965, S. 46. 300 Werner Maihofer, Vom Sinn menschlicher Ordnung, 1965. 301 302

René Marcic, Recht - Staat - Verfassung I, S. 81 ff. René Marcic, Recht - Staat - Verfassung I, S. 88.

19 Kube

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einstimmt. Grund..."

4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

Die Geltungsfrage ist die Frage nach dem Woher, nach dem

Nach der Meinung von Marcie 303 gilt die Norm zunächst, a priori, in jeder Hinsicht absolut und objektiv. Weder der Wille des Subjekts, das diese Norm setzt, des Normsetzers (Normgebers), noch der Wille des Subjekts, dessen Verhalten sie regelt, des Normadressaten, bedingt ihr Gelten; zudem gilt sie grundsätzlich zeit- und ortlos. Diese Behauptung Marcics von der Zeit- und Ortlosigkeit der Norm ist meiner Meinung nach nicht richtig. Nur die Normideen gelten zeit- und ortlos. Die Normen, und zwar nicht nur die rechtlichen Normen, sondern auch die Normen der Moral und der Sitte, sind reale Gebilde, und gelten in einer gewissen Zeit und an einem gewissen Ort. Hier ist Marcie der Auffassung Kelsens, aber auch der von Moór hörig. Was die Frage der Verbindlichkeit betrifft, stellt Marcie fest, 304 daß jede Norm, die gilt, bindet. Das ist sicher richtig. Marcie fährt aber fort: 3 0 5 „Der Umkehrschluß trifft nur beschränkt zu. Auch ein Gebilde, dem es, genaugenommen, an der Geltung gebricht, weil es der Frage nach der Systemzugehörigkeit nicht standhält, weshalb es sich denn auch in der Regel früher oder später als Scheinnorm zu erkennen gibt, bindet vorläufig, zeitweilig, bis zu seiner ,Entlarvung' und allfälligen Aufhebung (»Vernichtung'). Der ,Schein' tut im Leben des Rechts seine eigene erhebliche Wirkung; ihm fällt im Rechtssystem ein fester Stellenwert zu." Meiner Meinung nach ist diese Unterscheidung zwischen der Geltung einer Norm und ihrer Verbindlichkeit in dem Sinne einer Vorläufigkeit unbegründet. Ebenso könnte man auch bei der Geltung von einer Vorläufigkeit sprechen. Die Wirksamkeit schließlich antwortet - wie Marcie weiter feststellt 306 „auf die Frage, ob die Norm ihren Sinn erfüllt, ob sie, anders gewendet, durchs Ziel gegangen ist oder nicht." Den Begriff der Wirksamkeit unterscheidet Marcie vom Begriff der Positivität. Darunter versteht er „die Eigenschaft einer Norm, daß irgend ein Subjekt sie irgendwo irgendwann gesetzt h a t . " 3 0 7

303 René Marcie, I.e. S. 88; derselbe, Merkls ontologische Theorie der Rechtskraft, in: Festschrift für Adolf J. Merkl zum 80. Geburtstag, hrsg. v. M. Imboden, Fr. Koja, R. Marcie, Κ . Ringhofer, R.Walter, 1970, S. 223ff.; derselbe, Rechtsphilosophie, S. 119ff., 187, 265f., 337. 304 René Marcie, Rechtswirksamkeit und Rechtsbegründung, I.e. S. 88. 305 René Marcie, I.e. S. 88f. 306 René Marcie, I.e. S. 89. 307 René Marcie, I.e. S. 89.

§39. Der Weg im Schrifttum zur ontologischen Erfassung

Daß ungesetztes oder nicht als gesetzt gedachtes Recht, Naturrecht in sensu proprio, wirksam sein kann, davon weiß die Geschichte der Revolutionen ausgiebig zu berichten, sagt Marcic. 308 Man darf aber die Wirksamkeit mit der Realität, dem Problem der dem Recht eigenen Wirklichkeit, nicht in eins setzen. 309 „Die Normenwelt besitzt eine spezifische Realität, die sich freilich in einer ganz anderen Weise kundtut, als die Realität des griffigen Alltags. Eine geltende Norm gilt ,real', solange sie gilt: Warum beharrt jeder beatus possidens darauf, daß ihm nicht bloß die faktische, vielmehr die rechtliche ,Herrschaft über die Sache' zukomme? Die Realität der Normen als eines sogenannten ens ideale ist ein Thema für sich .. . " 3 1 0 Zu den ganzen Auffassungen von Marcic kann man folgendes einwenden: Die Realität der Normen hat nichts mit „ens ideale" zu tun. Die Rechtsnormen gehören nicht in die Welt der Idealität, wie Kelsen und mit ihm wahrscheinlich auch Marcic denken, sondern in die Welt der Realität und gehören von allem in den objektivierten Geist. Im Grunde genommen sind die Rechtsnormen, die ganze Rechtsordnung, also der objektivierte Rechtsgeist ebenso real, wie die niederen Seinsschichten der realen Welt real sind. Auch die Auffassung von der Wirksamkeit des Naturrechts mit Berufimg auf die Geschichte der Revolutionen hätte Marcic besser begründen können, wenn er sich die Problematik der Beziehung des objektiven zum objektivierten Rechtsgeist vergegenwärtigt hätte. Was die Problematik der Unterscheidung der Geltung und der Wirksamkeit des Rechts betrifft, sollte Marcic so argumentieren, daß das Merkmal der Wirksamkeit im Durchschnitt zur Geltung des Rechts als eines Ganzen gehört. Schließlich unterscheidet Marcic nicht genügend zwischen der Geltung der Rechtsordnung als eines Ganzen und der Geltung der einzelnen Rechtsnormen. Und weiter: Marcic hat sicher recht mit seiner Kritik an der Kelsenschen Auffassung des Verhältnisses von Sein und Sollen: „Die Aporie bleibt; denn Kelsen sieht keine Möglichkeit, Sein und Sollen als Einheit zu begreifen; er 308

René Marcic, I.e. S. 89. René Marcic, I.e. S. 89. 310 René Marcic, I.e. S. 89; derselbe, Einführimg in die Rechtsphilosophie, 1969, S. 17ff., 93ff., 118ff.; vgl. auch die früheren Arbeiten von René Marcic, Ansätze zu einer Fundamentalontologie des Rechts, Jur. Bl. 79, 1957, S. 149ff.; Die bedingte Natur des positiven Rechts, Österr. Juristenzeitung 1960, S. 178ff.; Reine Rechtslehre und klassische Rechtsontologie, Österr. ZöR 11, 1961, S. 375ff.; Das Naturrecht als Grundnorm oder Verfassung, ibid. 13,1963; Die Aktualität einer Naturrechtstheorie, Jur. Bl. 85, 1963, S. 507ff.; Gesetz und Recht, in: Festschrift für Erik Wolf; Existenz und Ordnimg, 1962, S. 357ff., und die K r i t i k von A. Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., S. 236ff. 309

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

beharrt darauf, daß das Sein der historisch-sozialen Wirklichkeit und das Sollen des Rechts einander logisch-formal ausschließen, obgleich er den normativen qua inhaltlichen, materialen Zusammenhang weder leugnet noch leugnen will, noch kann. Die crux steht! " 3 1 1 Marcics Lösung kann aber nicht befriedigen. 312 Seine Behauptung 313 , daß die Norm die Struktur des Zieles oder des Sinnes hat, daß sie auf das Endglied angelegt ist, woraufhin sie, vom Anfangsglied aus, sich spannt, und daß eine Norm nur unter der Bedingung, daß sie einen Sinn hat, gilt, welchen Sinn der Mensch, auf den sie gerichtet ist, versteht, bedeutet keinen Weg zur Lösung dieser Frage. Die einzige mögliche Lösung der Frage nach dem Verhältnis des Seins und Sollens muß von der Grundauffassung zweier Welten ausgehen, der Welt der Realität und der Welt der Idealität, mit deren einzigem Vermittler, welcher der Mensch als Subjekt und Person ist. So kommt man zur abgeleiteten Normativität einzelner Sphären des geistigen Seins, besonders zur primär abgeleiteten Normativität des objektiven Rechtsgeistes und zur sekundär abgeleiteten Normativität des objektivierten Rechtsgeistes. Es ist sicher, daß die Auffassung vom Wesen des Rechts bei Marcie sehr tief geht; er begreift das Recht, besser gesagt das Naturrecht, gerade als Seinsrecht. Es sieht so aus, daß das Recht bei Marcie , ebenso wie bei einigen, oben schon angeführten alten griechischen Philosophen den eigentlichsten Kern des ganzen Weltalls darstelle. Das ist aber eine „Metaphysik" des Rechts, welches sich keinesfalls auf die Phänomene stützen kann. 3 1 4 Jedenfalls muß man betonen, daß Marcie hier schon den wissenschaftlichen Boden verläßt. X X I I . In diesem Zusammenhang ist es erforderlich, auch die Konstruktion von Hans Ryffel 315 zu erwähnen. Zuerst ist hinsichtlich der Richtigkeit zu fragen, stellt Ryffel fest, 316 ob es so etwas wie wahrhafte Richtigkeit überhaupt gebe, und welches gegebenenfalls die Kriterien des Richtigen seien; in engster Verbindung damit sowie angesichts des offenkundigen Tatbestandes, daß sich die Richtigkeitsauffassungen wandeln, muß man die Frage stellen, was der Wandel der Richtigkeitsvorstellungen bedeutet, ob er zufällig oder in sich selbst sinnvoll, ja richtig ist. - Zweitens, und zwar in bezug 311

René Marcie , I.e. S. 94. Siehe dazu René Marcie, I.e. S. 94ff. 313 René Marcie, I.e. S. 99. 314 Alfred Verdross lehnt in seiner Rezension der „Rechtsphilosophie" von René Marcie (Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, 1970, S. 443) Marcic's Auffassung des Rechts als Seinsrechts ab. 315 Hans Ryffel, Rechts- und Staatsphilosophie, Philosophische Anthropologie des Politischen, 1969. 316 Hans Ryffel, I.e. S. 89f. 312

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auf die Wirklichkeit, ist zu fragen, welches ihre Struktur ist, insbesondere inwiefern sie sich von der Wirklichkeit im Sinne der Naturwissenschaften unterscheidet, und im besonderen, worin die Seinsweise der gegebenen Normen und Ordnungen besteht. - Drittens gibt es hier die Frage nach dem Verhältnis von Richtigkeit und Wirklichkeit, und zwar in der Weise, daß gefragt werden wird, ob und wie die Richtigkeit wohl selbst zur Wirklichkeit gehöre. Ryffel führt aus, 317 daß der Mensch als ein in das Ganze der Wirklichkeit eingefügtes Wirkliches erscheint, das die Frage nach der Richtigkeit stellt, allgemein und im besonderen in der Form richtiger und effektiver Normen, die nach den Voraussetzungen der Rechtsdogmatik das Kennzeichen der rechtlich-staatlichen Ordnung ist. „Ist das Richtige richtig, weil es schlechthin richtig ist..., oder ist es richtig, weil es als ein solches wirklich gesetzt wird, sei es von Menschen, sei es von Göttern? Beides scheint auf das Richtige, das die Menschen erfahren und in Anspruch nehmen, nicht zuzutreffen. Wir werden sehen, daß die aufgeworfenen Fragen in der Wurzel verwandt sind, weil der Mensch, wiewohl ein in der Wirklichkeit stehendes und in diese vielfältig verflochtenes Wesen, nur in der Bezogenheit auf das Richtige Bestand hat. Aus dem Wesen des Menschen ist aber das Wesen von Recht, Staat und Politik herzuleiten." 318 Ryffel stellt fest, 319 daß wie eh und je der Mensch Anlaß zu fragen hat, warum die rechtlich-staatliche Ordnung, in der er steht, verbindlich ist. Recht und Staat, beide stehen - wie Ryffel richtig betont 3 2 0 - in innigstem Bezug, sind Momente ein und desselben Sachverhaltes. Es geht um einen anthropologischen Grundsachverhalt, den er mit dem Ausdruck „politische Ordnung" des menschlichen Daseins belegt. „Politisch" hat hier den antiken Sinn, wonach der Mensch von Haus aus ein politisches Wesen, ein auf das Leben in der wirklich-maßgeblich konturierten Gemeinschaft angelegtes Wesen ist. Das menschliche Dasein ist ohne politische Ordnung im soeben angeführten Sinn undenkbar. Der Mensch bedarf solcher Normen, die den Bestand und die Entfaltung des gemeinschaftlichen Daseins ein für allemal wirklich-maßgeblich sicherstellen. Recht und Staat sind Erzeugnisse einer Stufe fortgeschrittener Potentialisierung der menschlichen Wirklichkeit. 3 2 1 Je mehr die Normen als Objektivationen aus dem aktuellen Vollzug herausgehoben werden, je mehr sie an Koordinationsfunktion leisten sollen, um so mehr nähern w i r uns nach der

317 318 319 320 321

Hans Hans Hans Hans Hans

Ryffel, Ryffel, Ryffel, Ryffel, Ryffel,

1. c. S. 89. I.e. S. 89f.; von mir unterstrichen. 1. c. S. 99. I.e. S. 162f. I.e. S. 166.

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Meinung Ryffels 322 dem Punkt, an dem sich das „Recht" im heutigen Sinne ausbildet. „Es besteht im Inbegriff der wirklich-maßgeblichen, d.h. derjenigen Normen, denen Effektivität und Anspruch auf Richtigkeit zukommt und die heute ausschließlich vom Staat gesetzt werden." Der Staat bekundet sich immer in der Form des Rechts, sofern w i r Staat und Recht sachgemäß, d.h. mittels Begriffen definieren, die auf zusammengehörige Sachstrukturen Bedacht nehmen. Das Handeln des Staates ist immer rechtliches Handeln, weil es wirklich-maßgebliches Handeln ist. 3 2 3 Recht und Staat bilden - wie Ryffel weiter sagt 3 2 4 - ein strukturiertes einheitliches Gefüge. „Sie sind weder juristische noch soziologische Tatbestände, sondern Aspekte eines einheitlichen anthropologischen Grundbefundes ..." Die rechtlich-staatliche Ordnung ist eine besondere, durch wirkliche Maßgeblichkeit gekennzeichnete Ausprägung des für die Praxis im ganzen konstitutiven Gefüges von Sein und Sollen. „Sie ist weder bloßes ,Sollen' noch bloßes ,Sein', sondern besteht in objektivierten gesollten Verhaltenspot entialitäten (Normen als generalisierten Handlungsanweisungen), die einerseits an unverwirklichter Richtigkeit, reinem Sollen, orientiert und andererseits, als Verhaltenspotentialitäten und außerdem als solche wirklich-maßgeblichen Charakters, notwendig auf wirkliche Verhalten bezogen und damit in das Ganze der Wirklichkeit eingebettet sind. Der objektive und der subjektive Pol des Richtigen und deren Verbindung in der Verwirklichung, die das praktische Verhalten in seiner vollen Ausprägung ausmachen, sind auch für die rechtlich-staatliche Ordnung maßgebend." 325 Aus Ryffels Ausführungen ergibt sich, daß das eigentliche Spezifikum des Rechts im Ganzen der vielfältigen Normen der Praxis die an Richtigkeit überhaupt orientierte wirkliche Maßgeblichkeit ist. Dagegen gibt es kein inhaltliches Kriterium. Die rechtliche Ordnung, das Recht, ist also nach der Auffassung von Ryffel: 326 „(1) ein auf einen bestimmten Bereich der gegebenen Wirklichkeit bezogener Inbegriff von objektivierten gesollten Verhaltensmöglichkeiten (Verhaltensanweisungen), zumeist in der generalisierten Form der Norm, die (2) letztlich an universalen (sittlichen) Direktiven ausgerichtet sind und aufgrund von Konkretisierungen dieser Direktiven sich praktische Richtigkeit anmaßen und eben im Hinblick auf diese Anmaßung den Adressaten (Rechtsgenossen, Regierenden und Beamten) als richtige zugemutet werden 322 323 324 325 326

Hans Hans Hans Hans Hans

Ryffel, Ryffel, Ryffel, Ryffel, Ryffel,

1.e. S. 167. 1. c. S. 170. 1. c. S. 172. 1. c. S. 180. 1. c. S. 188.

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und deshalb ihrem Sinne nach aus Einsicht und freiwillig zu befolgen sind, und die ferner (3) unter allen Umständen, in wirklichmaßgeblicher Weise, verwirklicht werden sollen und deshalb im äußersten Fall, wenn möglich und erforderlich, mit sog. Zwang direkt oder indirekt durchzusetzen sind." Die Orientierung am Richtigen gehört zum Wesen von Recht, Staat und Politik 321. Die häufige Trennung von „Rechtsbegriff" und „Rechtsidee" widerspricht - nach der Meinung von Ryffel 328 - dem anthropologischen Grundbefund; die „Rechtsidee" ist nämlich konstitutiv für den „Rechtsbegriff". Nach der Auffassung von Ryffel gehört also zum Wesen des Rechts w i r k l i che Maßgeblichkeit (Effektivität) und Anspruch auf Richtigkeit. „Eine Rechtsnorm gilt nur, ist nur dann positiv, wenn sie sowohl tatsächliche als auch normative Geltung besitzt. Es widerspricht dem Wesen des Rechts, wenn man tatsächliche und normative Geltung trennt; die beiden nur in der Abstraktion unterscheidbaren Geltungen sind unselbständige Aspekte der einen und unteilbaren positiven Geltung der Rechtsnorm." 329 Die wirklich-maßgebliche Ausgestaltung von Richtigem kommt nie zur Ruhe, kann sich immer neu in Normen kristallisieren, die wieder aufgelöst werden. „Die stets neu zusammenzuführenden Momente der Effektivität und der Richtigkeit können in kraftlose Norm und nackte Gewalt auseinanderbrechen. Obwohl das Recht das gesellschaftliche Dasein im ganzen in einer wirklich-maßgeblichen Weise konturieren und stabilisieren soll, sind seine Konturen vielfach unscharf und dem Risiko der Auflösung ausgesetzt." 3 3 0 Den Einfluß der Hartmannschen Lehre vom geistigen Sein kann man beobachten, wenn Ryffel schreibt, daß die Rechtsnormen in Verstehenszusammenhänge der jeweiligen Gruppen eingefügt sind und nur in diesem Verständnishorizont aufgefaßt werden können. 3 3 1 „Es ist dies der Verständnishorizont des jeweiligen objektiven Geistes. Gehen wir auf diesen Sachverhalt näher ein, wobei w i r die Termini objektiver und objektivierter Geist beibehalten wollen; doch sind sie im angegebenen Sinn, ohne irgendwelche spekulativen Nebenbedeutungen Hegelscher Observanz, zu verstehen." 332 „Als objektiver Geist sind die Normen gemeinsamer Besitz einer Gruppe von Menschen." 333 „Auch der in Artefakten fixierte, der objektivierte Geist, ist auf den in den einzelnen lebendigen objektiven Geist angewiesen. Nor327

Hans Ryffel, I.e. S. 205. Hans Ryffel, I.e. S. 205. 329 Hans Ryffel, 1. c. S. 372f. 33 Hans Ryffel, I.e. S. 379. 331 Hans Ryffel, I.e. S. 379f. 332 Hans Ryffel, I.e. S. 380. 333 Hans Ryffel, I.e. S. 380. 328

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men werden vor allem schriftlich fixiert, so Moralnormen in heiligen Schriften und Rechtsnormen in Gesetzbüchern." 334 Die Bedeutung von Rechtsnormen beruht letztlich auf dem jeweils herzustellenden Konsens der Rechtsgemeinschaft, der sich auf beiden Strecken zwar fraglos vollzieht, da und dort aber auseinanderbricht. „Zwar gibt es eine sinnvolle intersubjektiv ausweisbare Auseinandersetzung über das Richtige, die auf Verständigung abzielt. Aber letztlich bleibt doch nur der Verweis auf bestimmte Grundbedeutungen, die sich nicht weiter auflösen lassen, die man nur verständlich machen, verdeutlichen kann, indem man ihre Einbettung in die Grundrichtungen des menschlichen Daseins und seiner Entfaltung in gegebener Welt aufweist. Diese Grundbedeutungen sind aber stets historisch und kulturell geprägt. Der Mensch als geschichtliches, kulturelles und soziales Wesen steht stets in Traditionen, hinter die er nicht radikal zurückfragen kann ... Er ist in den historisch gewordenen Inbegriff von Bedeutungen und Sinnzusammenhängen (Kultur), den die Menschheit, zunächst in bestimmten Kulturräumen und heute in zunehmendem Maße im weltweiten Umfang, voraufbaut, eingefügt." 335 „Als ein Wesen der Möglichkeit ist der Mensch von vornherein ein sinnstiftendes Wesen, das aus dem Rahmen des immer schon gestifteten Sinnes nicht heraustreten kann." 3 3 6 „Es liegt im Wesen des Richtigen (der Werte) als gesollter Verhaltenspotentialität, daß es sich (formal gesehen) in eine Mannigfaltigkeit auseinanderlegt, die von stark aktualitätsverhaftetem und verhältnismäßig fixiertem, aus der Tradition übernommenem und fraglos ins Werk gesetztem Richtigen bis zu solchem Richtigen reicht, das als mögliches unter möglichem anderen Richtigen frei und bewußt ergriffen wird. Dies heißt... nicht, daß nur Eindeutiges oder gar absolut Richtiges erfaßt würde; vielmehr tritt auf der geistigen Stufe der Möglichkeitscharakter des Richtigen in Erscheinimg; die grundsätzliche Unhaltbarkeit von absolut Richtigem ergibt sich gerade auf der voll entfalteten Stufe des Geistes." 337 X X I I I . In seinem Buch „Das Wesen des Rechts" stellt Reinhold Zippelius folgende Fragen: 338 Ist das Recht als Summe lebendiger Institutionen zu begreifen? Oder als bloßes System von Normen? Haben solche Normen eine eigene Existenz, oder haben sie ihr Substrat in realen psychischen Vorgängen, so daß das Recht, genau besehen, nur „ i n den Köpfen der Menschen" existiert? Oder ist der Rechtsbegriff in der dialektischen Einheit idealen Sinngehalts und realen Handelns zu finden? 334 Hans Ryffel, I.e. S. 381. 335 Hans Ryffel, I.e. S. 382. 336 Hans Ryffel, I.e. S. 383. 337 Hans Ryffel, I.e. S. 319. 338 Reinhold Zippelius, Das Wesen des Rechts. Eine Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1969, S. 5.

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Er kommt zu dem Ergebnis, 339 daß lebendiges Recht nicht bloß abstrakter Sinngehalt ist, sondern eine gegenwärtig verwirklichte und wirksame Normenordnung. Objektive Sinngehalte sind solche, die identischer Inhalt verschiedener Bewußtseinsakte, auch verschiedener Menschen, sein können und zu jederzeitiger Erfassung verfügbar sind. Recht ist lebendiger, in Geltung stehender Sinngehalt. „Als solcher hat es eine dialektische Struktur: Es ist einerseits kein bloßer psychischer Tatbestand, sondern objektiver Sinngehalt, der gemeinsamer, identischer Bewußtseinsinhalt verschiedener Menschen sein kann. Aber es ist zugleich Sinngehalt, der zur Zeit,aktuell 4 ist (d. h. in Bewußtseinsakten vollzogen wird) und hierdurch das menschliche Verhalten in einer Gemeinschaft wirksam bestimmt 3 4 0 ." Sofort stellt er aber fest 341 , daß noch die Frage offen ist, in welcher Weise sich gerade die Rechtsnormen realisieren, m. a. W., welche Wirkungsmodalität den Rechtsnormen eigentümlich ist. Die Normen können doch auf mannigfache Weise verwirklicht werden: nicht nur in einer von der herrschenden Überzeugung getragenen Verhaltensweise, sondern auch dadurch, daß sie befolgt werden, weil hinter ihnen eine sichere Chance obrigkeitlicher Durchsetzung steht. Diese Frage der spezifischen Wirkungsmodalität der Rechtsnormen bildet den wesentlichen Gegenstand des Geltungsproblems. Der in einer Gemeinschaft herrschende Geist darf nicht 3 4 2 als bloße Integration subjektiver Bewußtseinsprozesse verstanden werden, sondern in ihm sind objektive Sinngehalte vorhanden, die „zum Bewußtsein kommen", überliefert werden und intersubjektiv als identische erfaßt werden können. Unter dem Einfluß von Hartmanns Lehre vom objektiven Geist, stellt Zippelius fest 3 4 3 : „Daß Normen in diesem Geltungsmodus als objektiver Geist stehen, bedeutet also: sie sind einerseits ,objektiver 4 Sinngehalt, der identischer Gegenstand verschiedener individueller Bewußtseine sein kann, und sind andererseits ein Sinngehalt, der zur Zeit in den Menschen ,aktuell 4 (d. h. in subjektiven Akten lebendig) ist, ein Sinngehalt, der in der Gemeinschaft von so vielen anerkannt wird, daß er in dieser herrscht. Diese allgemeine4 Anerkennung bedeutet übrigens nicht, daß die Normen aus höchstpersönlicher Gewissensentscheidung anerkannt sein müssen; es kann sich ebensowohl um ein unreflektiertes Übernehmen vorgefundener Anschauungen handeln. 44 Es scheint so, daß Zippelius hier und auch an anderen Stellen - ähnlich wie Nicolai Hartmann selbst - nicht klar sieht, daß das Recht als solches kein objektiver, sondern ein objektivierter Geist (Rechtsgeist) ist, wenn man hier schon absieht, daß das Recht auch in die niederen Seinsstufen eingreift. 339 340 341 342 343

Reinhold Reinhold Reinhold Reinhold Reinhold

Zippelius, Zippelius, Zippelius, Zippelius, Zippelius,

Le. I.e. I.e. I.e. I.e.

S. 31; S. 31; S. 31; S. 38; S. 38.

4. Aufl., 4. Aufl., 4. Aufl., 4. Aufl.,

S. 30. S. 30. S. 30f. S. 37.

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

Neben der moralischen Geltung einer Norm, d. h. ihrer Wirksamkeit im Gewissen, und ihrer Geltung als objektiver Geist, d. h. ihrer Anerkennimg i n der herrschenden Auffassung und ihrem Wirksamwerden in dem hieran orientierten Verhalten, steht - wie Zippelius ausdrücklich feststellt 344 - als dntte Geltungsmodalität die Chance ihrer obrigkeitlichen Durchsetzung und ihr Wirksamwerden in dem hieran orientierten Verhalten. Die Eigenart der Geltung des garantierten Rechts liegt nach Zippelius 345 darin, daß hinter ihm nicht äußerer Zwang schlechthin steht, sondern die Chance, durch organisiertes obrigkeitliches Handeln durchgesetzt zu werden. Hier steht Zippelius unter dem Einfluß von Max Weber 346 und Theodor Geiger 347, die er auch zitiert. Ein wesentliches Merkmal liegt also nach der Auffassung von Zippelius in der Technik der Durchsetzung dieser Normen. Auch dieser spezifische Geltungsmodus der garantierten Normen kann nicht rein normativ begriffen werden. 348 „Die sichere Chance, daß eine Norm durch obrigkeitliche Organe angewandt und durchgesetzt wird, ist ein soziologischer Tatbestand, der insbesondere bedingt ist durch das Faktum einer zuverlässig funktionierenden obrigkeitlichen Organisation." Diese spezifische Durchsetzbarkeit unterscheidet das garantierte Recht von allen anderen Normen. Unter dem Einfluß von Nicolai Hartmann lehrt Zippelius, 349 daß auch für die rechtssetzenden und die rechtsanwendenden Staatsorgane der Grundsatz gilt: „Quelle der Macht ist und bleibt der lebende objektive Geist, der Machthaber ist und bleibt getragen von ihm. Er kann sich nur in Einzelheiten von seiner Gesamttendenz entfernen, nicht im Ganzen und nicht auf die Dauer. Denn nur Bewußtsein, Initiative, Aktionsfähigkeit ist es, was das repräsentierende Individuum dem objektiven Geist verleiht . . . Die verliehene Macht zwingt es in ihren Dienst. Und dieser Zwang . . . ist ein höchst realer und unentrinnbarer." 3 5 0 Das Recht ist zwar auf bestimmte Materien, vor allem auf die sozialen Verhältnisse, hingeordnet, die sich im Inhalt der Rechtsnormen widerspiegeln, aber immer ist das Recht Ordnung dieser Verhältnisse und nicht deren bloßes Derivat. 3 5 1 Es besteht jene Abhängigkeit: Sollensnormen können sich nicht über Naturgegebenheiten hinwegsetzen, sondern müssen sich ihnen anpassen. 344 345 348

81.

Reinhold Zippelius, I.e. S. 40f.; 4. Aufl., S. 40. Reinhold Zippelius, I.e. S. 42; 4. Aufl., S. 42f. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., 1972,1. Kap. 1 § 6, II. Kap. 1

347 Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 2. Aufl., 1964, S. 68ff., 130ff. 348 Reinhold Zippelius, I.e. S. 42; 4. Aufl., S. 42f. 349 Reinhold Zippelius, I.e. S. 46; 4. Aufl., S. 46f. 350 Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, Kap. 35 b. 351 Reinhold Zippelius, I.e. S. 56f.; 4. Aufl., S. 56.

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Dem Inhalt nach können Gesetze sinnvollerweise also nur darauf hinzielen, die von ihnen vorgefundenen Verhältnisse auf dem angegebenen Wege zu ändern, oder sie zu fixieren, oder mit einer rechtlichen Sanktion zu versehen. 3 5 2 „Das Recht bildet sich also, aufs große Ganze gesehen, in der Dialektik zwischen den natürlichen und soziologischen Vorgegebenheiten und den je für richtig erachteten Prinzipien ihrer Ordnung. Eine abstrahierende Betrachtung, die eines dieser Momente für das allein bewegende hält, führt in Einseitigkeiten, die nicht die ganze Wirklichkeit erfassen. Die ,Realien' des Rechts weisen über sich hinaus auf das Problem der richtigen Ordnung, auf das Problem also der Gerechtigkeit." 353 XXIV. Der Einfluß der kritischen Ontologie von Nicolai Hartmann ist in der zweiten, völlig neubearbeiteten, im Jahre 1977 veröffentlichten Auflage des Werkes Heinrich Henkels „Einführung in die Rechtsphilosophie, Grundlagen des Rechts" stark bemerkbar. Das Recht erscheint ihm als „Objektivation des Gemeingeistes," 354 Der jeweilige geistige Gehalt erhält durch die in der Objektivation vor sich gehende Formgebung ein eigenes Sein; er wird dadurch zu einem wahrnehmbaren Gegenstand der Realwelt. 355 „Vom Schöpfer her gesehen löst sich der ihm vorschwebende geistige Inhalt durch die Objektivation als eine Entäußerung von ihm ab und wird ihm gegenüber selbständig. Das, was vorher noch unfaßbarer geistige Gehalt war, ist nimmehr zum Geistesgebilde geworden, das auch für andere als den Schöpfer erfaßbar und verstehbar i s t . " 3 5 6 Schon hier muß man eine Bemerkung hinzufügen. Der Inhalt des objektiven Geistes, und konkret gesagt der Inhalt des objektiven Rechtsgeistes, ist keineswegs etwas Unfaßbares und Unverstehbares. Auch dieser Inhalt ist etwas Reales, etwas Empirisches, das mit den rechtssoziologischen Methoden und Techniken festzustellen möglich ist. Die Rechtsetzimg ist nicht nur geistige Schöpfung, sondern auch Willenswerk. 3 5 7 „ I n der Bekundung, daß das gesetzte Recht als gelten-sollendes, von dem zu seiner Handhabung Beauftragten auf die Lebenssachverhalte anzuwendendes und von dem Rechtgenossen zu befolgendes Recht gewollt sei, vollzieht der rechtliche Normgeber nicht lediglich seinen eigenen Willen, sondern den rechtlichen Gemeinwillen, wobei dieser nicht im streng psychologischen Sinne, sondern als die im Gemeinwesen vorherrschende Wollensstrebung der Gemeinschaftsglieder zu verstehen i s t . " 3 5 8 - Meiner Meinung 352

Reinhold Zippelius, I.e. S. 58; 4. Aufl., S. 58f. Reinhold Zippelius, I.e. S. 67; 4. Aufl., S. 67. 554 Heinrich Henkel, I.e. S. 186ff. 35 5 Heinrich Henkel, I.e. S. 187. 356 Heinrich Henkel, I.e. S. 187. ss? Heinrich Henkel, I.e. S. 190. 358 Heinrich Henkel, I.e. S. 190f. 353

4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

nach ist diese doppelte Argumentation mit dem „Willen" etwas nicht genug Klares. Was ist die „Wollensstrebung" der Gemeinschaftsglieder? Henkel betrachtet das Recht als ein geschichtliches Gebilde. 359 Der Begriff „Geschichtlichkeit" ist in einem doppelten Sinn zu verstehen: im historischen und im ontologischen Sinn. 3 6 0 „Das erstere bedeutet, daß das Recht, wie alles Seiende in dieser irdischen Welt, in den Geschichtsablauf, in einen in der Zeit sich vollziehenden Geschehensablauf hineingestellt ist, der nicht von ewiger Dauer ist, sondern einen Anfang und ein Ende hat. Die Geschichtlichkeit im historischen Sinn bringt also für das Recht seine Zeitlichkeit und Endlichkeit zum Ausdruck. - Geschichtlichkeit im ontologischen Sinne bedeutet demgegenüber etwas anderes: eine innere Struktur des Rechts, die ihm die Bestimmung gibt, innerhalb der ihm gesetzten Zeitgrenze, seiner historischen Zeit, ,Geschichte zu haben', nämlich nicht im starren Sein zu verbleiben, sondern sich zu entwickeln, zu entfalten und zu verändern. Ontologische Geschichtlichkeit bedeutet also einen Seinsmodus des Rechts, nämlich seine Wandelbarkeit. " 361 Dazu muß man bemerken: Wenn etwas in der Zeit steht, so ist es schon begrifflich endlich. Die Endlichkeit ist schon in der Zeitlichkeit eingeschlossen. Wenn etwas in der Zeit steht, so ist es notwendigerweise wandelbar, es scheint also nicht notwendig zu sein, zwei Begriffe der Geschichtlichkeit zu konstruieren, und zwar eine Geschichtlichkeit im historischen und eine Geschichtlichkeit im ontologischen Sinn. Man muß vielmehr zu einem einzigen komplex-dialektischen Begriff der Geschichtlichkeit kommen. Die Rechtssätze des positiven Rechts haben als Sprach- und Begriffsgebilde nur das bedingte Sein objektivierter Geistesgebilde, d.h. sie kommen zum geistigen Leben nur, wenn sie aus der sie tragenden toten Materie (z.B. dem Pergament oder Papier) durch einen lebenden Geist sozusagen erweckt, von ihm aufgenommen und begriffen werden. 362 „Das besondere Charakteristikum der Rechtssätze liegt darin, daß sie als normative Regelungen zwischenmenschliche Beziehungen und Verhältnisse ordnen sollen. Aus diesem normativen Element der Rechtssätze ergibt sich für sie eine besondere Seinsweise: diejenige des Geltens. 363 „Das Recht zeigt sich hier in seiner Mehrdimensionalität, indem es einerseits einen in der Sozietät tatsächlich wirkenden Faktor darstellt, andererseits als normative Ordnung, als Sollensordnung, in Erscheinung tritt. Dementsprechend entfaltet sich auch der Begriff der Rechtsgeltung mehrdimensional: als faktische und normative Geltung." 3 6 4 359

Heinrich Henkel, I.e. S. 203. Heinrich Henkel, I.e. S. 203. sei Heinrich Henkel, I.e. S. 203. 362 Heinrich Henkel, I.e. S. 216. 363 Heinrich Henkel, I.e. S. 216. 360

§ 39. Der Weg im Schrifttum zur ontologischen Erfassung

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Und wieder scheint mir diese Trennung des einheitlichen Begriffs Geltung in eine „faktische" und in eine „normative" Geltung nicht begründet zu sein. Henkel versucht das Recht in den Schichtenaufbau der realen Welt einzuordnen. 365 „Recht bildet sich nicht und ist nicht zu verstehen in der Isolierung gegenüber dieser Ordnung (sc. der Seinsordnung dieser Welt), sondern nur im untrennbaren Zusammenhang mit ihr. Das Recht findet die verschiedenen Seinsbereiche, mit denen seine Regelung sich befaßt, weitgehend als bereits geordnet vor. Die Dinge und Zustände tragen Gesetzmäßigkeiten in sich, ihre Veränderungen verlaufen in vorgeordneten Bahnen. Wer Recht zu gestalten oder auch nur zu deuten hat, muß bemüht sein, diese in der Seinsordnung festgelegten Gesetzlichkeiten zunächst einmal aufzufinden, sie in ihrer eigenen Sinnhaftigkeit sowie in ihrer Bedeutsamkeit für das Recht zu erkennen, ihnen den sachgemäßen Einfluß auf die Rechtsregelung zuzugestehen, dabei den seinsgesetzlichen Sinn in die Rechtsordnung zu übertragen und auf diese Weise den natürlichen Regelungsplan fortzuführen und in der menschlichen Sozialordnung zur Vollendung zu bringen. Dies meinte Goethe, wenn er sagte: ,Alle Gesetze 366 sind Versuche, sich den Absichten der moralischen Weltordnung im Welt- und Lebenslaufe zu nähern.' 367 Das heißt: die Weltordnung ist in sinnhaften Gesetzlichkeiten festgelegt und auf Ziele hin angelegt, die der Mensch in der rechtlichen Regelung des Sozialbereiches zu berücksichtigen hat und denen er sich dadurch ,nähert 4 , daß er sie durch seine eigenen Regelungsversuche sinnvoll fortzuführen unternimmt."368 Und wieder einige Bemerkungen: Wenn man von der Einfügung des Rechts in die Seinsordnung der Welt spricht, so erwartet man vielmehr die Lösung der schwierigen Frage, wohin das Recht als Phänomen gehört, ob es nur in die höchste Schicht der realen Welt gehört und welche geistigen Sphären dann in Betracht kommen, oder ob es auch in die niederen Seinsschichten eingreift. Und weiters: Ich halte es nicht für richtig zu behaupten, daß alle Gesetze Versuche sind, sich den Absichten der moralischen Weltordnung im Weltund Lebenslaufe zu nähern, sondern meiner Meinung nach, sind alle Rechtsgesetze Versuche, sich der realen Rechtsidee und in letzter Reihe der idealen Normidee des Rechts, dieser Quintessenz des rechtlichen Denkens überhaupt, dieser dialektischen Synthese von Gerechtigkeit, Sicherheit, Freiheit des konkreten Menschen und Zweckmäßigkeit, zu nähern. 364

Heinrich Henkel, I.e. S. 216. 65 Heinrich Henkel, I.e. S. 220ff. 366 Gemeint sind die Rechtsgesetze. 367 Goethe, Maximen und Reflexionen, Artemis-Ausgabe Bd. 9, S. 610. 368 Heinrich Henkel, I.e. S. 223f. 3

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

Es ist richtig, wenn Henkel bei der Untersuchung der Vorgegebenheiten des Rechts 369 feststellt, daß die in diesem Zusammenhang gemeinten Vorgegebenheiten zum Teil ontologisch-anthropologische Vorgegebenheiten insofern sind, als sie dem menschlichen Verhalten und Zueinanderverhalten bestimmte Gesetzmäßigkeiten und Strukturen vorzeichnen. 370 Als solche behandelt er dann die ontologische Bedingtheit des Menschen, 371 die existentielle Struktur der menschlichen Gesellungsformen 372 und die sachlogische Struktur des Rechts. 373 Die sachlogischen Strukturen erscheinen ihm „als unverfügbare sche Grundlagen des Rechts." 374

apriori-

Auch die soziale Wertordnung ist eine Vorgegebenheit des Rechts, und zwar eine der kulturell-soziologischen Vorgegebenheiten. 375 „Recht" ist in der Auffassung von Henkel eine Regelung menschlicher Sozialbeziehungen nicht schon deshalb, weil sie eine Ordnung überhaupt herstellt, sondern an sie werden, um sie als „richtige" Regelung erscheinen zu lassen, zweifache Erwartungen geknüpft: 1. daß sie den Vorgegebenheiten entspreche, die sich von der Seins- und Wirklichkeitsseite her als „Natur der Sache" geltend machen, 2. daß sie auf eine Idee hin ausgerichtet sei, die er als Rechtsidee bezeichnet. 376 XXV. Zum Schluß dieses dem Weg zur ontologischen Begründung des Rechts gewidmeten Kapitels möchte ich noch an einige Grundgedanken der Rechtsphilosophie von Widar Cesarini Sforza und Alessandro Baratta aufmerksam machen. Alessandro Baratta bezieht sich bei der Behandlung des Problems der Natur der Sache und des Naturrechts 377 auf die Philosophie der rechtlichen Erfahrung von Widar Cesarini Sforza.™ Es handelt sich um den reifsten Ertrag der italienischen idealistischen Schule, auch wenn das Werk von Cesarini Sforza die Grenzen des orthodoxen Idealismus überschreitet, wie Baratta selbst anführt.

369

Heinrich Henkel, I.e. S. 227ff. Heinrich Henkel, I.e. S. 231. 371 Heinrich Henkel, I.e. S. 240ff. 372 Heinrich Henkel, I.e. S. 269ff. 373 Heinrich Henkel, I.e. S. 296ff. 374 Heinrich Henkel, I.e. S. 308. 375 Heinrich Henkel, I.e. S. 354. 376 Heinrich Henkel, i.e. S. 389. 377 Alessandro Baratta, Natur der Sache und Naturrecht, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Die ontologische Begründung des Rechts, 1965, S. 104ff. 378 Widar Cesarini Sforza, Idee e problemi di filosofia giuridica, 1956; derselbe, Filosofia del diritto, 3. Aufl., 1958. 370

§39. Der Weg im Schrifttum zur ontologischen Erfassung

Nach dieser Auffassung erschöpft sich das Recht, insofern es konkrete Wirklichkeit ist, keineswegs in der abstrakten Objektivität der Normen; es ist vielmehr „rechtliche Erfahrung", d.h. das Sich-Konstituieren und »Konkretisieren der Normen, das normative und normale Verhalten des Subjekts: also Tätigkeit und nicht „Faktum". Baratta ist der Meinimg, daß man der subjektivistischen Philosophie des italienischen Idealismus und vor allem Cesarini Sforza eine klare Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher und philosophischer Rechtsbetrachtung verdanken muß. Schon diese Feststellung ist nicht richtig, da die Philosophie Wissenschaft per eminentiam ist und man daher keinen Unterschied zwischen wissenschaftlicher und philosophischer Rechtsbetrachtung machen kann. Nach Meinung Barattas betrachtet freilich die Wissenschaft die Rechtsregel als ein Resultat und als eine „Gegebenheit" wie eine „natürliche" Wirklichkeit, die außerhalb des Subjekts vorhanden ist. Die Philosophie soll aber die Norm in ihren Sich-Konstituieren und -Konkretisieren im Verhalten des Subjekts betrachten. In solcher Weise existieren - nach Baratta - die Lücken im Formalobjekt der Rechtswissenschaft, nicht aber im Formalobjekt der Rechtsphilosophie, weil dieses das Subjekt selber i n seiner rechtlichen Erfahrung ist. 3 7 9 Meiner Ansicht nach ist eine solche Differenzierung unbegründet und die Unterscheidungsmerkmale scheinen willkürlich und unzweckmäßig gewählt zu sein. Auch die weitere Feststellung, 380 daß nur in der Wirklichkeit des Willensaktes die Norm als Norm existiert, bedeutet eine unzulässige Vermengung der Norm als solcher mit dem Wollen und erinnert an das unglückliche Dictum „keine Norm ohne Imperator". Baratta hebt hervor, 3 8 1 daß die idealistische Philosophie des italienischen Subjektivismus eine Voraussetzung und eine Methode der Geisteswissenschaften ist; sie hat die Tragweite und die Grenze des Vicoschen Satzes „verum ipsum factum", auf den sie zurückgreift. „Diese Grenze besteht darin, daß wir zwar die »Wahrheit dieser Welt' erkennen können, die von den Menschen geschaffen ist, indem w i r deren Prinzip ,in den Wandlungen unseres eigenen menschlichen Geistes' wiederfinden, aber nicht die »Wahrheit', und d.h. die Gegebenheit unserer eigenen Subjektivität, erkennen können, welche die Begründerin dieser Welt ist. Erkennt man diese Grenze der italienischen subjektivistischen Philosophie an, so erscheint sie als der Weg einer »Phänomenologie des Geistes', die in ihrem Anfang die Begrenzung des naturwissenschaftlichen, d.h. des phänomenalen Wissens, wiederholt, 379 380 381

Alessandro Baratta, I.e. S. 106. Alessandro Baratta, I.e. S. 107. Alessandro Baratta, I.e. S. 108f.

304

4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

indem sie sich in die Grenze des Humanismus von Groce und Gentile einschließt." „Heute stellen die letzte Entwicklung und die Krisis des absoluten Subjektivismus in Italien wieder eine Philosophie des Ganzen oder der Natur zur Debatte; also die Problematik der Wirklichkeit, die das Phänomen des Bewußtseins transzendiert und die daher das Bewußtsein wieder in seinem noumenalen Charakter begreift. Der subjektivistische Idealismus findet wieder als seine Grenze die Metaphysik, die Erkenntnis des Ganzen, welche die Aporien jeder Scheidung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften überwindet." Baratta führt weiter an, 3 8 2 daß die Theorien des Naturrechts und der Natur der Sache behaupten, das Sollen sei vom Sein abzuleiten statt vom Existierenden, d.h. vom geschichtlichen Subjekt, dem Dasein. Und demnach sind die einen wie die anderen naturalistisch, soweit sie ungeschichtlich sind, argumentiert Baratta weiter. Denn, statt im geistigen Prozeß das Sich-Konstituieren der Objektivität der Norm zu suchen, trachten sie danach, diese Objektivität als dem Subjekt selbst vorangehend und als außerhalb seiner bestehend zu begreifen, und sie suchen dementsprechend ein Naturgesetz zu konstituieren, welches vom Subjekt anerkannt und respektiert werden soll. Baratta vertritt die Ansicht, 3 8 3 daß die Natur der Sache als juristischer „Topos", 3 8 4 als Verfahren, das er als ein intuitiv-individualisierendes des Aufsuchens der Entscheidungsmaxime, d.h. als das der Rechtsfindung unter Ausgehen von der konkreten Individualität des Falles, bestimmt, auf die klassische Jurisprudenz zurückgeht und ein charakteristischer Zug der rechtlichen „virtus" der Römer ist; dazu ist sie auch ein zentrales Prinzip der angelsächsischen Tradition des „case law." In einer K r i t i k der Radbruchschen Lehre stellt Baratta fest: 385 „Unter den drei Begriffen: Faktum, Denken (oder Akt), Wert, ist der letztere überflüssig, der die große Schwierigkeit hervorbringt, in der sich die ganze Wertphilosophie bewegt. Nur dadurch, daß man den Wert in seinem dem Denken gegenüber selbständigen Vorhandensein wegdenkt, kann man seine Geschichtlichkeit verstehen. Und. nur so kann man auch die Dialektik verstehen, die der Wille, indem er sich auf einen Wert bezieht, der nicht mehr außerhalb seiner selbst ist, sondern mit seinem eigenen Akt zusammenfällt, mit dem Faktum aufrichtet. Das Problem der Überwindung der Trennung zwischen Sein und Sollen, zwischen Faktum und Wert, löst man nicht dadurch, daß man den Wert vom Denkakt abstrahiert, der ihn setzt: ist das Sollen mit dem Denkakt gleichgestellt, dann ist sein Bezug zum Sein der 382 383 384 385

Alessandro Baratta, I.e. S. 111. Alessandro Baratta, I.e. S. 116. Theodor Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 1953. Alessandro Baratta, I.e. S. 133f.

§ 39. Der Weg im Schrifttum zur ontologischen Erfassung

5

Objektivität oder des Faktums unmittelbar in seine rationale Notwendigkeit gesetzt. Tatsächlich erscheint das Sein der Objektivität oder des Faktums in bezug auf das Denken als das Resultat von dessen eigener Aktivität. Wenn man die Relation in ihren wesentlichen Momenten betrachtet: das Faktum und den Akt, erscheint der Bezug zwischen Sein und Sollen als ein in gewissem Sinne überflüssiges Problem. Denn die Wirklichkeit der menschlichen Welt gewinnt, wenn man das Faktum als Resultat des Denkaktes betrachtet, eine Homogenität, die es nicht erlaubt, in ihr als der Geschichte dieser zivilisierten, von den Menschen gemachten Welt zwei ontologisch getrennte Stockwerke zu unterscheiden, sondern vielmehr nur zwei Momente: jenes der Konkretheit, welches das des Sollens ist, und jenes der Abstraktheit und der Objektivität, welches das Moment des Faktums ist. Sein und Sollen, Faktum und Akt, Objektivität und Wert, bekommen so die Grenzbedeutung von zwei Weisen, die Geschichte zu betrachten: als geschehen und als geschehende." Für den italienischen Subjektivismus existieren - wie Baratta weiter betont 3 8 6 - Wert und Norm nur in dem Willensakt, der das Faktum normativ setzt und auslegt. Und deshalb gibt es seiner Meinung nach auch keine begriffliche Unterscheidung zwischen positivem Recht und Naturrecht, was die Fähigkeit betrifft, sei es des ersten (die positiven Institutionen) oder des letzteren (die in einer bestimmten Kultur bestehenden Gerechtigkeitsideale), vom geschichtlichen Subjekt in der Weise ausgelegt und belegt zu werden, daß sie nach und nach die Norm seines konkreten Handelns wird. Baratta beruft sich wieder 3 8 7 auf Cesarini Sforza, wenn er seine Worte zitiert: „Das Recht entsteht nicht mit dem Faktum, sondern durch die Qualifizierung des Faktums als Recht." 3 8 8 Baratta meint, daß in diesem Sinne Cesarini Sforza anläßlich seiner K r i t i k am Prinzip der Effektivität die alte Formel „ex facto ius oritur" mit einer sehr engen Auslegung rechtfertigen konnte, die für sich allein genommen geeignet erscheinen könnte, das Motto für das „konkrete Naturrecht" Maihofers zu bilden. „ I n diesem Sinne hütet sich die Philosophie der Rechtserfahrung des italienischen Subjektivismus, obwohl sie unter den Begriffen von Objektivität und Abstraktheit jede soziale, rechtliche und ideale Regel faßt..., gerade wegen ihres deskriptiven Realismus davor, die soziale Ebene mit der rechtlichen, die rechtliche mit der idealen zu verwechseln. Sie zeigt die ,normative' Natur dieses Faktums die aus allen normativen Fakten begreiflich ist, in seinem Werden und SichVerwirklichen, d.h. in der normativen und normalen Handlung des Subjekts, auf, dann aber zeigt sie, mehr realistisch denn programmatisch, wie 386

Alessandro Baratta, I.e. S. 152. Alessandro Baratta, I.e. S. 156f. 388 w i d a r Cesarini Sforza, Ex facto ius oritur, Studi in onore di G. Del Vecchio, I, 1930, S. 87 ff. 387

20 Kube

4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

innerhalb der konkreten Rechtserfahrung die Macht des Staates und die Wirkung der rechtlichen Qualifikation der Rechtsquellen eine geschichtlich erhebliche Unterscheidung zwischen der Ebene der legalen und der Ebene der außerlegalen Regeln bildet." Baratta vertritt die Ansicht, 3 8 9 daß der Akt das Faktum setzt als Ausdruck seiner selbst und die „objektive Norm", die den Sinn des Faktums für das Denken ausmacht und wiederum im Akt immer aktuelle, normative Bedeutung findet. Baratta kommt zu dieser Feststellung: 390 „Deshalb, umgesetzt in einen realistischen Horizont, w i r d der Satz: ,Die Natur des Faktums liegt im Akt', von einem nur heuristischen zu einem regulativen, axiologischen, positiven Prinzip. Der Satz besagt... nicht ein Seiendes, vielmehr ein Sein-Sollendes. Er drückt nicht nur das Verhältnis von Akt und Faktum, von der freien Willenstätigkeit und der objektiven menschlichen Welt in seiner formalen Beschaffenheit aus, vielmehr drückt er in seiner geschichtlichen Aktualität das höchste Rechtsprinzip aus, auf dem unsere Rechtsordnung aufgebaut ist und nach dem sie ausgelegt sein wird. Das führt zu der Forderung, die Entfremdimg des Menschen von seiner eigenen Welt zu überwinden und diese ,νοη den Menschen gemachte zivilisierte Welt' unter die reale Herrschaft der menschlichen Vernunft zu stellen, in welcher, nach dem berühmten Satz Vieos, die Prinzipien dieser Welt zu finden sind." XXVI. Wir sind am Ende unserer kritischen Darstellung von verschiedenen Auffassungen über das Wesen des Rechts angelangt. Bei einem Rückblick und von der Vogelperspektive aus kann man folgende Ergebnisse feststellen: 1. Eine klare Scheidungslinie zwischen den Versuchen, das Wesen des Rechts zu erfassen, kann man nur zwischen solchen Auffassungen ziehen, die das Wesen des Rechts im puren Faktum sehen, einerseits, und denen, die die Normen des positiven Rechts in die Welt der reinen Idealität einreihen, andererseits. Solche konträren „Idealtypen" stellen die Auffassung der Uppsala-Schule (Hägerström, Lundstedt, Oliveerona, Ross und gewissermaßen auch Geiger) auf dem einen Pol vor und - und das klingt fast unglaublich - die Auffassung von Kelsen und Weyr auf dem anderen Pol. Ja, nicht die naturrechtlichen Theorien aller möglicher Prägung, einschließlich der Platonschen und Launschen Auffassung, sondern gerade die der Begründer der Reinen Rechtslehre, die doch die Theorie des positiven Rechts sein will, stellt den reinsten „Idealtyp" der Auffassung des Rechts als etwas, was in die Welt der Idealität gehört, dar. 389 390

Alessandro Baratta, I.e. S. 161. Alessandro Baratta, I.e. S. 162f.

§ 39. Der Weg i m Schrifttum zur ontologischen Erfassung

307

2. Alle anderen Auffassungen sind schon Versuche, die beiden Seiten des rechtlichen Phänomens, d.h. die Faktizität des Rechts und die Normativität des Rechts, das rechtliche Sein und das rechtliche Sollen einigermaßen zu erfassen, zu vereinigen und auszudrücken. Das gilt vor allem von allen vermittelnden Lösungen, sich des Wesens des Rechts zu bemächtigen, besonders von denen, die auf der neukantischen süddeutschen Richtung aufgebaut sind (Emil Lask, Gustav Radbruch) und auch von den interessanten Ausführungen von Alfred Verdross, Julius Moór , Günther Winkler, nicht weniger aber auch von marxistisch-leninistischen Auffassung in der Darstellung von Vilmós Peschka. Die Hervorhebung der faktischen und der normativen Seite variiert freilich wesentlich, sowie auch die Auffassung von Disparität, bzw. Ableitung des Seins und des Sollens. 3. Unsere Einteilung der Auffassungen über das Wesen des Rechts in vier große Meinungsgruppen (idealistische, faktische, vermittelnde und „ontologische") ist daher gewissermaßen willkürlich; sie erfolgte aus Gründen der „didaktischen" Zweckmäßigkeit und zur besseren Übersicht. In Wahrheit nämlich bewegen sich auch die vermittelnden Lösungen schon auf dem Wege zur „ontologischen" Auffassimg des Rechts, besonders die Radbruchsche Lehre von der Natur der Sache. Die „ontologischen" Auffassungen, also die, welche in dieses Kapitel eingereiht wurden, welches den Weg zur ontologischen Erfassung des Wesens des Rechts skizzieren sollte, sind - zumindest grundsätzlich - durch besondere Betonung der ontologischen Lösung gekennzeichnet. Dabei ist es nicht ohne Interesse, daß z.B. auch die Auffassung von Cesarini Sforza und Bar atta , trotz ihrer idealistisch-subjektivistischen philosophischen Grundlage, hierher gehört. 4. Gewiß, manche Lösungen des Wesens des Rechts sind, wie w i r gesehen haben, zu wertvollen Ergebnissen gekommen. Dabei hat sich gezeigt, daß nur eine feste philosophische Unterlage zu besseren rechtsphilosophischen Perspektiven führt. Viel Wertvolles hat die neukantische südwestdeutsche Philosophie gebracht, besonders aber die kritische Ontologie Hartmanns. Die neuen Versuche um Lösung des Wesens des Rechts und der Beziehung zwischen Sein und Sollen des Rechts von Fechner, Coing, Arthur Kaufmann, Zippelius, Ryffel und Henkel bewegen sich in dieser Richtung. Meiner Meinung nach ist es aber notwendig, weiter auf der Linie der kritischen Ontologie zu gehen und zur „abgeleiteten Normativität" des rechtlichen Phänomens zu gelangen; hier liegt - denke ich - der wahre Kern der „Normativität des rechtlichen Phänomens", seiner „normativen Kraft", der richtige Kern der Behauptung „ex facto ius oritur".

4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

§ 40. Die Notwendigkeit der Ausrichtung nach dem Material des Rechts; eine vorläufige Bestimmung des Ortes, wohin das Recht gehört I. Das rechtsphilosophische Denken des ersten Drittels des zwanzigsten Jahrhunderts stand unter dem Einfluß der transzendentalen (kritischen) Philosophie Immanuel Kants, wie verschiedene neukantischen Richtungen diese Philosophie begriffen. Dieser Einfluß war einerseits positiv, andererseits aber auch negativ. Positiv in dem Sinne, daß man erkannte, daß die Notwendigkeit besteht, mit der chaotischen Anhäufung der verschiedensten noetischen Kategorien und Aspekte des Rechts ein Ende zu machen, und daß es unzulässig ist, unter der Fahne der Rechtswissenschaft alle möglichen Erkenntnisse anzusammeln, nur wenn sie irgendeine Verbindung mit dem Recht haben. In diesem Sinne muß man gewiß mit der Grundtendenz der Reinen Rechtslehre nach der Reinheit der Methode und der Erkenntnisse einverstanden sein. Es ist unzulässig, in einer Wissenschaft vom Recht ohne genauere Unterscheidung noetische, logische, ontologische, soziologische, politische, psychologische und rechtsdogmatische Erkenntnisse zu sammeln. Das war auch ein Grund dafür, daß beide führenden Begründer der Reinen Rechtslehre, Hans Kelsen und Franz Weyr, bald einen großen Widerhall gefunden hatten. II. Auf der anderen Seite aber verführte diese reinigende Tendenz die Rechtsdenker in das entgegengesetzte Extrem. In der Sehnsucht nach der Reinheit der Methode hat man am Ende den Gegenstand selbst - das Recht - verloren. Unter dem Einfluß der neokantischen (neokritischen) Marburger Richtung der Philosophie, besonders der Philosophie Hermann Cohens und bis zu einem gewissen Maß auch unter der vereinfachenden Interpretation der Lehre Kants durch Arthur Schopenhauer, dessen großer Bewunderer gerade Franz Weyr war, hat sich das Interesse so vollständig verschoben, daß das Ziel des ganzen Strebens nicht das „vollkommene" Erreichen des „Gegenstandes", d.h. des Rechts, war, sondern das Beweisen der Ausschließlichkeit und Reinheit der einzigen selbstredenden Methode, des noetischen Standpunktes, der Kategorie, und das alles sah man ausschließlich in der normativen Betrachtungsweise. Der Reinheit der Methode hat man den Gegenstand geopfert. Der größte Fehler jeder Philosophie und freilich auch der Rechtsphilosophie besteht darin, daß man wegen des Schleifens des Messers auf das eigentliche Schneiden des Brotes vergißt. Alle noetischen Gesichtspunkte, alle noetischen Kategorien sind schließlich nichts anderes als Hilfsmittel, durch welche man das noch nicht erkannte Material, das w i r eben erkennen wollen und welches aber schon an sich „existiert", „gegeben" ist, erfassen will, und auf diese Weise mit Hilfe dieser noetischen Kategorien, die zumindest grundsätzlich die Rückseite der ontologischen Kategorien sind, den

§ 40. Die Notwendigkeit der Ausrichtung nach dem Material des Rechts

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Gegenstand, den erkannten Gegenstand, den Zweck und das Ziel des ganzen wissenschaftlichen Strebens, „erzeugt". Die Grundforderung, die gestellt wird, ist die Orientierung auf das Material des Rechts, welches da ist, „existiert", und aus welchem mit Hilfe der noetischen und ontologischen Kategorien durch die Tätigkeit der Vernunft der Gegenstand, das „Recht", „geschaffen" werden muß. 1 Die „Existenz", die Realität des Materials, und die Spontaneität der Vernunft bilden keinen Gegensatz, sondern bestehen in vollkommener Harmonie, bilden eine Einheit und ergänzen sich gegenseitig. Die transzendentale Philosophie Kants wurde nämlich auf zwei Grundgedanken aufgebaut: auf dem „Ding an sich" und auf der Spontaneität der Vernunft. Das Streichen des Dinges an sich war ein Grundfehler der neukantischen Richtung Cohens. III. Vor allem war es die Schule der Reinen Rechtslehre (die normative oder normologische Theorie des Rechts, die Wiener oder jungösterreichische Schule, die Brünner Schule), die in ihrem Grundstreben, die Rechtswissenschaft von allen „metajuristischen" Elementen zu befreien, fast ausschließliches Interesse der Erkenntnismethode widmete und das Recht in das Reich der Normen, in die Welt der Idealität, in die Welt des reinen Sollens einreihte; sie betonte, daß der normologische Gesichtspunkt der einzige juristische Gesichtspunkt sei, und Schloß die Anwendung anderer Gesichtspunkte mit aller Schärfe aus. Kelsen kannte nur den Dualismus zweier noetischer Betrachtungsweisen: den der Kausalität für die Natur und den der Normativität für die „normativen Materien", besonders für das Recht. Die Teleologie hat Kelsen - ebenso wie Wilhelm Wundt - unrichtigerweise als umgekehrte Kausalität betrachtet. Weyr ging - offenbar unter dem Einfluß von Karl EngliS, dem bekannten tschechischen Logiker und Nationalökonomen - vom Trialismus der noetischen Gesichtspunkte - Kausalität, Normativität und Teleologie - aus, aber auch er sah in der normativen Methode die einzige, den rechtlichen Erwägungen adäquate Methode. Bei näherer Untersuchung zeigt sich aber die absolute Unhaltbarkeit dieser Grundansicht, welche in der Normativität die einzige mögliche Methode des rechtlichen Denkens sieht. Die Interpretation, das zentrale Problem der dogmatischen Rechtswissenschaft (der Rechtsdogmatik, der Jurisprudenz) überhaupt, kann - wie Jaromir Sedläcek mit voller Überzeugungskraft bewiesen hat 2 - weder unter dem Gesichtspunkt der bloßen Nor1 Vladimir Kubes, Reine Rechtslehre und kritische Ontologie in der Tschechoslowakei, Österr. Zeitschrift für öffentliches Recht, 25,1974, S. 307ff. 2 Jaromir Sedlàcek, Problém interpretace normy (Das Problem der Interpretation der Norm), Festschrift für K. Engliâ, 1930, S. 405 ff.; derselbe, Interpretation et appli-

4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

mativität noch dem der Kausalität, sondern unter dem Gesichtspunkt der Teleologie gelöst werden. Die Interpretation ist in erster Reihe eine teleologische Tätigkeit. Eine ebensolche teleologische Tätigkeit ist die sog. Normenschöpfung, welche wohl die Reine Rechtslehre überhaupt aus dem Bereiche der Rechtswissenschaft (der Rechtswissenschaften) ausschließt. Und die soziologische Rechtswissenschaft (die Rechtssoziologie) muß doch mit allen drei Methoden arbeiten: mit der Kausalität, der Teleologie und der Normativität. IV. Im rechtlichen Denken wurde - wie w i r schon angedeutet haben - von jeher die Notwendigkeit empfunden, sich folgerichtig nach dem Material des Rechts zu orientieren. Hierher gehören alle Versuche, die richtige Entscheidung, die richtige Norm in der „Natur der Sache" zu finden - siehe besonders Eugen Hubers Lehre von den „Realien der Gesetzgebung", François Génys Theorie von den „donnés", Emil Lasks und Gustav Radbruchs Lehre von der „Stoffbestimmtheit der Idee". Die Norm gilt für den Stoff, ist auf diesen Stoff konzentriert und ist auch durch diesen Stoff, den sie meistern will, wieder mitbestimmt. Dasselbe gilt von den noetischen, bzw. ontologischen Kategorien. Insofern diese Behauptung von der Stoffbestimmtheit der Idee, der Behauptung von der Vorausformulierbarkeit der Idee, der Kategorie, im Stoff gleicht und in dieser Idee (Kategorie) geradezu das Wesen des Konkreten sieht, ist sie richtig; sie bedeutet, daß die noetischen und ontologischen Kategorien im Grunde die Rück- und Vorderseite ein und derselben Sache sind. V. Wir haben schon erkannt, 3 daß das Phänomen des Rechts kein einfaches ist, sondern das für dieses Phänomen große Komplexheit typisch ist. Das Phänomen des Rechts gehört aber keinesfalls in das Reich der Idealität. Dorthin gehört freilich die Normidee des Rechts, die man von der realen Idee des Rechts unterscheiden muß. Die ideale Normidee des Rechts, ebenso wie die reale Idee des Rechts, ist eine dialektische Synthese der Gedanken der Gerechtigkeit, der Sicherheit, der Zweckmäßigkeit und der Freiheit des konkreten Menschen. Das Phänomen des Rechts tendiert zu dieser realen Idee des Rechts und in letzter Instanz - zur idealen Normidee des Rechts, und zwar durch seinen Vermittler, der zugleich der einzige ist, welcher die Stimme der Ideen (Normideen) zu hören fähig ist; es ist der Mensch als Subjekt und Person. In der abgeleiteten Normativität des Rechtsbereiches (die reine Normativität ist nur der Welt der Idealität, dem Reiche der Normideen, eigen) kann cation de la règle de droit, Revue International de la Théorie du Droit, VII, 1932/33, S. 180ff.; derselbe, Obéanské prâvo éeskoslovenské, VSeobecné nauky (Das tschechoslowakische bürgerliche Recht, Allgemeine Lehren), 1931. 3 Vgl. §§ 18, 19, 20, 21, 40, 43, 47, 48 dieser Arbeit.

§ 40. Die Notwendigkeit der Ausrichtung nach dem Material des Rechts

311

man die Wirkung der Normidee des Rechts durch den Menschen als Subjekt und Person auf die reale Welt sehen. In diese reale Welt, die einen stufenförmigen Aufbau der einzelnen realen Seinsschichten bildet, gehört das Recht als Phänomen. Vor allem gehört es in die Schicht des geistigen Seins und alle drei Sphären dieser Schicht des geistigen Seins - der personale, objektive und objektivierte Geist - kommen im Rechtsbereiche in einer gewissen Weise in Betracht. Eine weitere Frage ist, ob besonders mit Rücksicht darauf, daß die Macht einen wesentlichen Bestandteil des Rechts bildet, auch andere Schichten der realen Welt mit ihren ontologischen Kategorien in Frage kommen. Jedenfalls ist aber das Phänomen des Rechts ein zusammengesetztes, komplexes Phänomen, das in die reale Welt gehört, und zwar vor allem in die Schicht des geistigen Seins, wo es sich in allen drei Sphären geltend macht; in den Sphären des objektivierten Geistes als geschriebenes Recht, oder als Gewohnheitsrecht, als geltende Rechtsordnung, in der Sphäre des objektiven Geistes, als das Rechtsbewußtsein, das rechtliche Empfinden, die rechtliche Überzeugung der Volksgemeinschaft, und in der Sphäre des personalen Geistes als das Rechtsbewußtsein, rechtliches Fühlen, rechtliche Überzeugung des einzelnen Menschen als Subjekt und Person. Die abgeleitete Normativität treffen wir sowohl in der Sphäre des rechtlichen objektivierten Geistes, der „kodifizierten" Rechtsnormen, als auch in der Sphäre des rechtlichen objektiven Geistes, der rechtlichen Überzeugung des Volkes, und auch in der Sphäre des rechtlichen personalen Geistes, was an sich selbstverständlich ist, da es dieser ist, welcher mit seinem „organ du coeur" (Pascal, Hartmann) die Stimme der Normideen aus der Welt der Idealität in die Welt der Realität überträgt. Daher muß man zumindest mit allen Kategorien des geistigen Seins arbeiten. Gegenstand unseres Interesses muß aber auch das vermittelnde Glied der Mensch als Subjekt und Person - sein. Dazu treten freilich noch weitere Kategorien hinzu, die den übrigen Schichten des realen Seins eigen sind, da es sich zeigt, daß die Macht und der organisierte Zwang als essentielle Bestandteile des Rechts in diese niederen Seinsschichten gehören. Schon mit der Annahme der Normideen, insbesondere der Normidee des Rechts, ist es klar, daß es zu einer weiteren Abweichung von der klassischen Grundlinie der Schule der Reinen Rechtslehre gekommen ist. Das Interesse für den ganzen Bereich der Axiologie des Rechts und die Verneinung der absoluten Zäsur zwischen der kognitiven und volitiven Sphäre sind für unsere Auffassung typisch, und zwar unter starkem Einfluß von Leonard Nelson und Alfred Verdross. 4 4 Vladimir Kübel·, Prâvni filosofie X X . stoleti (Die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts), S. 26, 45f., 61, 91f.

4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

§ 41. Zu den ontologischen und noetischen Kategorien im allgemeinen I. Mit Rücksicht auf das komplizierte Material des Rechts ist es klar, daß man mit einer einzigen Kategorie, mit einem einzigen noetischen Gesichtspunkt, keinesfalls auskommen kann. Die rechtliche Untersuchung hat mit zwei Welten, mit der Welt der Realität und mit der der Idealität, und mit dem diese Welten verbindenden Glied zu tun. In der Welt der Realität sind für das Recht in erster Linie die drei Sphären des geistigen Seins von Interesse und weiters auch - mit Rücksicht auf die Macht und besonders auf den organisierten Zwang - die niederen Schichten des stufenförmigen Aufbaues der realen Welt.

II. Die Kategorien der Normativität und der Teleologie sind zweifellos die bedeutendsten Kategorien der rechtlichen Untersuchung. Zu ihnen treten die Kategorien der Kausalität und der Wechselwirkung sowie überhaupt alle den einzelnen Seinsschichten adäquaten Kategorien hinzu, da das Recht in alle Seinsschichten der realen Welt gehört. Da das Material des Rechts durch eine große Komplexität gekennzeichnet ist, weisen auch die Kategorien des Rechts einen komplexen Charakter auf. Die dialektische Komplexheit bedeutet und fordert aber eine schöpferische Synthese, eine Einheit in der Verschiedenheit. Sie bedeutet vor allem die Notwendigkeit, das durch die Erkenntnis zu bemächtigende Material sorgfältig zu berücksichtigen; sie bedeutet weiter die Notwendigkeit, sich den Weg durch das Material zeigen zu lassen, und nicht umgekehrt, die im voraus gewählte Methode zu verteidigen, auch wenn die Phänomene gegen sie sprechen; sie bedeutet in der methodologischen Einheit alle Erkenntnisse, die uns einzelne, in Frage kommende Wissenschaften geben, separat zu sammeln, und letztlich bedeutet sie das allerwichtigste: das Zusammenfügen aller dieser aus verschiedenen Erkenntnissystemen gewonnenen Erkenntnisse in eine große Einheit, in eine komplexe Synthese, die am besten der Fülle des betreffenden Materials adäquat ist. Das bedeutet den dialektischen Zutritt zur Sache. Daraus folgt, daß nicht der Widerspruch um jeden Preis zu behaupten ist, sondern nur dann, wenn dieser Widerspruch in den zu erkennenden Phänomen selbst liegt. Die Durchführung dieser komplexen, dialektischen Synthese ist sicher sehr schwierig. Dieser A k t liegt wahrscheinlich schon an den Grenzen der Wissenschaft und der Kunst oder - besser ausgedrückt - er ist ein Akt sowohl der Wissenschaft als auch der Kunst, und ist deshalb - wie es beim heutigen Stand des Wissens scheint - ein Akt sowohl der rationalen Erkenntnis als auch ein Akt des intuitiven Erfassens des Materials und erweckt den Eindruck der Rationalität und gleichzeitig den der Irrationalität.

§ 42. Natur und Typen der ontologischen Kategorien des Rechts

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III. Mit Rücksicht auf die noetischen und ontologischen Kategorien bedeutet die komplexe dialektische Methode ein derartiges Verfahren, wo einzelne, dem Material nach in Betracht kommende Kategorien, vor allem die Kategorie der Normativität, welche in ihrer reinen Form der Welt der Idealität, der Welt der Normideen mit ihrem reinen Sollen eigen ist, und in ihrer abgeleiteten Form in den drei Sphären des geistigen Seins vorkommt, sowie die Kategorie der Teleologie als weitere typische Kategorie des geistigen Seins und schließlich eine Reihe weiterer Kategorien, die dann in Frage kommen, wenn es sich zeigen wird, daß das Recht mehrere Schichten des Aufbaues der realen Welt einnimmt, teils rein isoliert begriffen werden, teils von ihnen in einem annähernd treuen Bild des Materials eine Einheit, eine Synthese, erzeugt wird - trotz ihrer Unterschiedenheit und gerade wegen ihrer Unterschiedenheit. IV. Das Verhältnis der ontologischen und noetischen Kategorien des Rechts kann man bildlich und sehr brachylogisch - wenn man von der Tatsache abstrahiert, daß sie sich nur im Grundsatz decken und daß auch „formale" noetische Kategorien existieren, die nicht die vordere (oder hintere) Seite der ontologischen Kategorien bilden - auch so ausdrücken, daß die noetischen Kategorien Versuche sind, die ontologischen Kategorien am adäquatesten zu erfassen und auszudrücken. Vielleicht geht es in der Praxis um einen glücklichen Fall der Intuition, wie Gustav Radbruch feststellte, 1 wenn es uns gelingt, die adäquate Kategorie zu bestimmen, aber es geht um eine allgemeine Erscheinung, daß jeder schöpferische, wissenschaftliche Arbeiter zuerst durch wiederholtes „Antasten" des „Gegenstandes" und seiner verschiedenen „Seiten" sich in diesen „Gegenstand" in einem solchen Maß einlebt, daß es ihm schließlich gelingt, sich auf irgendeine Art dieses „Gegenstandes" zu bemächtigen, und daß grundsätzlich erst nachträglich ein klares methodologisches Bewußtwerden der ganzen Lösung hinzutritt. Nicolai Hartmann hat Recht, daß die Methode etwas aposteriorisches sei. Das darf freilich keineswegs zur Unterschätzung der Methode und der Methodologie führen; ganz im Gegenteil! § 42. Natur und Typen der ontologischen Kategorien des Rechts I. Jetzt entsteht die Frage nach der Determination des geistigen Seins, nach der Natur der Kategorien, welche das geistige Sein beherrschen, bzw. sein Wesen bilden. Das sogenannte zweite Gesetz der Geltung, das Gesetz der Schichtengeltung, besagt, daß die Determination, welche von den Kategorien ausgeht, innerhalb der Seinsschicht, der sie angehört, eine für jedes Konkretum 1

Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl., S. 7.

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

unüberschreitbare Bindung bedeutet, daß keine Ausnahme von ihr existiert und daß keine außer oder neben ihr existierende Macht sie negieren kann. Das ist gerade der Unterschied zu den Normideen, die - obzwar ihnen der Charakter der Prinzipien eigen ist - keine Macht besitzen, das betreffende Sein absolut determinieren, und wenngleich sie die Striktheit der Forderung haben, vermissen sie doch die absolute Garantie, daß ihre Forderung erfüllt wird. II. Wie ist es nun mit den Kategorien, die der Sphäre des geistigen Seins eigen sind, besonders mit der Kategorie der Normativität, bestellt? Determiniert diese Kategorie die Schicht des geistigen Seins restlos, ist diese Kategorie für jedes Konkretum des geistigen Seins absolut verbindlich? Oder hat doch die Kategorie der Normativität des geistigen Seins, trotz ihres Prinzipiencharakters nicht die Macht, das Sein absolut zu determinieren, und muß daher die betreffende Forderung nicht notwendigerweise erfüllt werden? Die Erklärimg kann man finden, wenn man sich vergegenwärtigt, daß es sich hier um die Sphäre der abgeleiteten Normativität handelt. Die Kategorien des geistigen Seins sind etwas, was zwischen den Kategorien im strikten Sinne - den Kategorien des physisch-materiellen, des organischen und des seelischen Seins - und den Kategorien der Normideen liegt. Es handelt sich weder um reine Kategorien im strikten Sinne noch um die Kategorien der Normideen. Die Kategorien des geistigen Seins, und zwar die Kategorie der Normativität und die der Teleologie, determinieren zwar dieses Sein, aber nicht unbedingt, sondern nur im Durchschnitt. Man kann sehen, daß dieses „Durchschnittsmerkmal" in den Sphären des geistigen Seins eine bedeutende Rolle spielt. Das Recht als Ganzes - im Unterschied zur einzelnen Rechtsnorm - muß, um Recht zu sein, im Durchschnitt exekutierbar sein, muß iiή Durchschnitt eine Faktizität aufweisen und muß im Durchschnitt als richtig, als Pflicht empfunden werden. Die ganze, ungemein schwierige Frage der begrifflichen Bestimmung des Rechts und seiner Geltung ist an dieses Phänomen des Durchschnitts geknüpft. Die Kategorien des geistigen Seins sind daher keine reinen Kategorien im Sinne z. B. der Kategorien des Raumes und der Zeit oder der Kausalität, sondern sie bilden ein Zwischenglied, und zwar im vollen Einklang mit der besonderen Natur des geistigen Seins, seiner drei Sphären, welche sich durch die abgeleitete Normativität auszeichnen. III. Die erste Kategorie des geistigen Seins ist, besonders wenn man an den rechtlichen Bereich denkt, die Kategorie der Normativität. Auf dieser Kategorie ist eine ganze Reihe der Grundbegriffe aufgebaut, die in den Rechtswissenschaften laufend benutzt werden. Es sind insbesondere die Begriffe der Norm, der Pflicht, des Pflichtsubjekts, des Rechtsubjekts und des Rechts

§ 42. Natur und Typen der ontologischen Kategorien des Rechts

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überhaupt, aber auch Begriffe von weiter Tragweite, wie die Begriffe der Richtigkeit und der Geltung. Es ist interessant, die Problematik des Sollens im Verhältnis der beiden Welten, im Verhältnis der Welt der Idealität - der Normideen - und der Welt der Realität - der Bereiche des geistigen Seins - besonders der rechtlichen Sphäre - zu beobachten. Das reine Sollen gibt es nur in der Welt der Idealität, im Reiche der Normideen. Dieses Sollen steht hier grundsätzlich ohne Rücksicht auf die Welt der Realität, keinesfalls aber ohne Beziehung zu ihr. Diese Beziehung ist mit dem Menschen als Subjekt und Person gegeben. Der Mensch mit seinem persönlichen Geist überführt das Sollen und den Inhalt der Normideen und speziell der Normidee des Rechts aus der Welt der Idealität in die Welt der Realität, und zwar in die Schicht des geistigen Seins. Dadurch wird schrittweise die breite Sphäre des geistigen Seins - des objektiven und des objektivierten Geistes - mit abgeleiteter Normativität gebildet. Diese Erkenntnis, daß der Mensöh als Subjekt und Person unter doppelter Determination des Sollens, unter zweifacher Kategorie der Normativität der reinen Normativität der Normideen und der abgeleiteten Normativität gewisser Bereiche des geistigen Seins und speziell des objektiven Rechtsgeistes und des objektivierten Rechtsgeistes - steht, ist für das Begrèifen und für die Lösimg aller zentralen rechtswissenschaftlichen und rechtsphilosophischen Probleme von grundlegender Bedeutung. Die Grundfrage nach dem Ursprung und der Natur des Sollens, die Frage des Konfliktes zwischen dem reinen Sollen, den nicht objektivierten Normideen, deren Stimme der empfängliche personale Geist mit unermeßlicher Dringlichkeit begreift* und dem abgeleiteten Sollen, z. B. der kodifizierten - also objektiviertet Rechtsordnung oder der konkret geltenden Moral öder Sitte, oder die weiteren Grundfragen, wie z. B. nach dem Sollen, deî Geltung des positiven Rechts usw., können auf dieser Grundlage richtig gelöst werden.

IV. Die zweite Determination des geistigen Seirïîs und speziell des Rechtsgeistes ist durch die Kategörie der Zwecktätigkeit, der Teleologie àls der Kategorie der Zwecktätigkeit a contrario bloßer Zweckmäßigkeit gegeben» Wir wissen schon, daß die teleologische Kategorie grundverschieden von der Kategorie der Kausalität ist. Der Bau des teleologischen Nexus ist weit komplizierter und weist drei Etappen - die Festsetzung des Zwecks, die Wahl der Mittel und die kausale Verwirklichung des Zwecks durch die Mittel - auf. Die teleologische (finale) Determination stellt die kausale Determination in ihre Dienste und steht mit ihr vollkommen im Einklang. Gerade mit Hilfe der teleologischen Determination überführt der Mensch als Subjekt und Person das reine Sollen in die Welt der Realität.

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

Aber auch hier w i r d die Kategorie der Teleologie zweimal angesetzt. Einmal bei der Überführung der Stimme der Normideen in die reale Welt und das zweite Mal bei der Überführung des abgeleiteten Sollens gewisser Bereiche des geistigen Seins in die niedrigeren Schichten des Aufbaus der realen Welt. Die Teleologie ist also einerseits die Form, mittels welcher das Sollen der Normideen in das reale geistige Sein - besonders in den personalen, objektiven und objektivierten Rechtsgeist, also in das rechtliche Bewußtsein des Individuums, in das rechtliche Fühlen und die rechtliche Überzeugung des Volkes und in den „objektivierten" Rechtskodex - überführt wird, bzw. diese geistigen Sphären bildet, andererseits die Form, mittels welcher man speziell die Normen der Rechtsordnung in die niedrigeren Schichten der realen Welt überführt, d.h. die Form, mittels welcher sich das abgeleitete Sollen der Rechtsnormen in unserer Welt realisiert. Im rechtlichen Bereich arbeitet man aber auch mit der Kategorie der bloßen Zweckmäßigkeit (a contrario der Zwecktätigkeit). Es handelt sich um eine ontologische, bzw. noetische Hilfskategorie, die besonders bei der Interpretation eine entscheidende Rolle spielt. Der Teleologie - ohne Unterschied, ob es sich um die Zwecktätigkeit oder bloße Zweckmäßigkeit handelt - ist wieder ein ganzes System der Begriffe, wie des Wollens, des Mittels, des Zwecks, des Bedürfnisses, der Nützlichkeit, des Wertes, des Schadens, des Kostenaufwandes, des Ertrags usw., und der Regeln, z.B. des Gesetzes vom relativen Nutzen, des Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit, eigen, wie das Karl Englis gezeigt hat. V. In der Schicht des geistigen Seins trifft man noch eine weitere typische Form der Determination, die in der Autonomie des Menschen als Subjekt und Person, und zwar sowohl in der Beziehung zu den bestimmten Faktoren der realen Situation, als auch in bezug auf die Ideen und Normideen mit ihrer Aufforderung besteht. Es handelt sich um die Willensfreiheit, welche die grundlegende Voraussetzung der Verantwortlichkeit des Menschen ist. Vom ontologischen Standpunkt aus gesehen enthält die Willensfreiheit eine neue, besondere Form der Determination. Die Willensfreiheit erscheint hier zweimal. Erstens auf der höchsten Ebene, nämlich im Verhältnis des Menschen als Subjekt und Person zu den Normideen auf der einen Seite und zu den realen Faktoren auf der anderen Seite. Zweitens auf der Ebene des Verhältnisses des Menschen zum objektiven und objektivierten Geist (Rechtsgeist), zur rechtlichen Überzeugung des Volkes der betreffenden Rechtsgemeinschaft und zur positiven Rechtsordnung selbst. In der Willensfreiheit ist ein positiv determinierendes Moment enthalten. Die grundlegenden kategorialen Momente des personalen Geistes, wie der Wille, die Aktivität, die Freiheit, sind an das Bewußtsein gebunden und

§43. Grundsätze der kategorialen Gesetzlichkeit

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können deshalb nicht im objektiven oder objektivierten Geist (Rechtsgeist) erscheinen, weil kein gemeinsames Bewußtsein über dem Bewußtsein der Einzelnen existiert. VI. Alle für die Schicht des geistigen Seins typischen Kategorien, in erster Reihe die Kategorie der Normativität und der Zwecktätigkeit, stellen keineswegs die einzigen Kategorien der geistigen Bereiche dar. Es existieren nämlich auch Kategorien, die in allen Seinsschichten wiederkehren, wie die Fundamentalkategorien, d.h. solche Prinzipien, welche ihr Konkretum in allen Seinsschichten haben. Es existieren aber auch Kategorien der niedrigeren Seinsschichten, die alle Seinsschichten, also auch das geistige Sein, durchdringen und die auch für den rechtlichen personalen, objektiven und objektivierten Geist, also für den ganzen rechtlichen Bereich, maßgebend sind. Das sind die Kategorien der Zeit und des Prozesses. Der ganze Bereich des Rechts - und auch der Moral - lebt unter der Kategorie der Zeit und hat Prozeßcharakter. Deshalb bilden die Kategorien der Zeit und des Prozesses auch den breiten Bereich des Rechts, da das Recht in die Welt der Realität gehört und die Zeit und der Prozeß (das Werden) allem Realen gemeinsam sind. Anders ist es mit der Kategorie des Raumes (der Räumlichkeit), die mit der Schicht des organischen Seins endet. Wenn das Recht nur der Schicht des geistigen Seins angehören würde, dann wäre die Kategorie des Raumes (der Räumlichkeit) eine für das Recht nicht in Betracht kommende Kategorie. Anders wäre es, wenn das Recht infolge des ihm immanenten Bestandteiles, d.i. der Macht, des organisierten Zwangs, auch in die Schichten des organischen und des physisch-materiellen Seins eingreifen würde. In gleicher Weise wäre es mit den Kategorien der Kausalität und der Wechselwirkung dessen, was gleichzeitig ist, bestellt; diese Kategorien gehen allerdings im gewissen Maße nach dem Grundsatz des kategorialen Schichtenbaues ohnehin in das seelische und auch in das geistige Sein über. § 43. Grundsätze der kategorialen Gesetzlichkeit und die dialektisch-komplexe Einheit der Kategorien des Rechts I. Wir haben eben erkannt, daß der rechtliche Bereich sich durch eine ganze Reihe einzelner Kategorien auszeichnet, und zwar nicht nur durch die für das geistige Sein typischen Kategorien - vor allem durch die Kategorie der Normativität und der Teleologie - , sondern auch zumindest durch solche Kategorien, die durch alle Schichten der realen Welt hindurchgehen - durch die Kategorien der Zeit und des Prozesses (des Werdens).

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Es entsteht die Frage, auf welche Weise diese verschiedenen Kategorien eine Einheit bilden können, und zwar eine Einheit, die das Wesen dessen, was den Namen „Recht" trägt, bestimmt. Im Sinne der Lehre der kritischen Ontologie Nicolai Hartmanns ist es notwendig, sich in aller Kürze die Grundsätze der kategorialen Gesetzlichkeit - und in ihrem Rahmen einige kategoriale Gesetze des Aufbaus der realen Welt - , welche das Wesen der Kategorien betreffen, diese Prinzipien von Prinzipien von neuem zu vergegenwärtigen. Vor allem muß man sich klar werden, daß Kategorien das, was sie sind, nur als Prinzipien von etwas, als Prinzipien vom Konkretum sind, und daß es nicht möglich ist, das Konkretum ohne Kategorien zu denken und auch nicht die Kategorien ohne das Konkretum, und daß die Determination, welche von den Kategorien ausgeht, innerhalb der Seinsschicht, welcher sie angehört, eine für das ganze Konkretum absolut bindende Determination ist; weiter, daß eine feste Zugehörigkeit der Kategorien zu einzelnen Seinsschichten existiert, und daß das Konkretum der Schicht kategorial saturiert ist und keine weitere Bestimmung braucht. Es handelt sich um den Grundsatz der Geltung mit seinen kategorialen Gesetzen des Prinzips, der Schichtengeltung, der Schichtenzugehörigkeit und der Schichtendetermination. II. Das alles gilt allerdings auch für den rechtlichen Bereich. Wenn das Recht ausschließlich in die Schicht des geistigen Seins gehören würde, dann wäre alles klar, und die vier kategorialen Gesetze, welche den Grundsatz der kategorialen Gesetzlichkeit näher ausführen, würden zweifellos gelten, und das Recht als Konkretum wäre nichts ohne seine Kategorien, ebenso wie diese Kategorien nichts ohne das Konkretum wären; das Konkretum wäre restlos durch die Kategorien determiniert und saturiert. Eine kompliziertere Situation liegt allerdings vor, wenn man zu dem Schluß kommt, daß die Macht und besonders der organisierte Zwang ein immanenter und essentieller Bestandteil des Rechts ist und das Recht nicht ein ausschließliches Phänomen der geistigen Seinsschicht ist, sondern die anderen, niedrigeren Schichten der realen Welt durchdringt; das Recht ist ein kompliziertes, zusammengesetztes Gefüge. Auch der Staat und der Mensch stellen ein solches zusammengesetztes Gefüge dar. Deshalb kommen auch die Kategorien der anderen Schichten in Betracht, insbesondere die Kategorien der Kausalität und der Wechselwirkung und selbstverständlich auch die allem Realen gemeinsamen Kategorien der Zeit und des Prozesses. Deswegen steht man vor der Frage, auf welche Weise es möglich ist, alle diese Kategorien in eine Einheit einzugliedern, welche die Einheitlichkeit des zusammengesetzten Gefüges des Rechts gewährleistet. III. Vor dem gleichen Problem steht man auch mit Rücksicht auf den weiteren Grundsatz der kategorialen Gesetzlichkeit, und zwar mit Rücksicht

§ 43. Grundsätze der kategorialen Gesetzlichkeit

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auf den Grundsatz der Kohärenz mit seinen vier kategorialen Gesetzen - der Gebundenheit, der Schichteneinheit, der Schichtenganzheit und der Implikation - , welche ausdrücken, daß die Kategorien nicht einzeln für sich allein stehen, sondern nur im Bund mit anderen Kategorien der betreffenden Seinsschicht existieren und daß sie durch diese Gemeinschaft verbunden und bestimmt sind, und gemeinsam eine Einheit der Determination bilden, daß keine isolierten Kategorien existieren, daß die Schichtenganzheit in wechselseitiger Bedingtheit ihrer einzelnen Glieder besteht, und daß jede einzelne Kategorie die anderen Kategorien derselben Schicht impliziert. Aber wie ist es dann, wenn es sich beim zusammengesetzten Gefüge des Rechts (und auch dem des Staates oder des Menschen) auch um die Kategorien der anderen - niedrigeren Seinsschichten handelt? Gelten auch hier der Grundsatz der kategorialen Kohärenz und besonders die Gesetze der Implikation? Es ist klar, daß Kategorien einer bestimmten Schicht des realen Seins nur im Komplex determinieren und daß alle kategoriale Determination eine komplexe ist. Aber wie steht die Sache dann, wenn es sich um ein zusammengesetztes Gebilde handelt, für welches auch die anderen Kategorien der realen Welt in Frage kommen? IV. Ein gewisses Anzeichen gibt uns der dritte Grundsatz der kategorialen Gesetzlichkeit, nämlich der Grundsatz des kategorialen Schichtenwesens mit seinen vier kategorialen Gesetzen der Wiederkehr, der Umformung, des Novums und der Schichtendistanz, welcher ausdrückt, daß die Kategorien der einzelnen Schichten weitgehend, nicht aber absolut in den höheren enthalten sind, nicht aber umgekehrt, daß die kategorialen Elemente sich bei der Wiederkehr in den höheren Schichten der realen Welt verschieden umformen, und daß auf der Grundlage dieser Wiederkehr jede höhere Seinsschicht aus verschiedenen niederen Elementen zusammengesetzt ist, aber immer etwas neues, ein spezifisches Novum enthält und daß im einheitlichen Reich der Schichten (der Stufen) jede Schicht im Verhältnis zur niederen ein gemeinsames Novum besitzt, eine modifizierte Kohärenz der niedrigeren Schichten enthält und sich selbst umformt und mit ihrer Kohärenz auftaucht. Allerdings ist auch dieser Grundsatz des kategorialen Schichtenwesens nicht imstande, cum ratione sufficiente auf die im Grunde andere Frage Antwort zu geben, nämlich auf die Frage, wie die Situation wäre, wenn beim zusammengesetzten Gefüge (beim Recht und Staat) einige Kategorien nicht nur in der umgeformten Form i n den höheren Schichten des realen Seins auftauchen, sondern das betreffende zusammengesetzte Gefüge geradezu mit seinem Wesen in diese einzelnen Schichten eingreift und dadurch unmittelbar die Kategorien dieser Schichten der realen Welt innehat? Dabei muß man noch in Betracht ziehen, daß die Wiederkehr der Kategorien dort nicht in Frage kommt, wo es sich nicht um das Verhältnis der Überformung (welche für die Beziehimg zwischen der organischen und der

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

anorganischen Schicht in Frage kommt), sondern um das Verhältnis des Überbaues handelt. V. Bei der Lösung dieser Problematik darf man den Grundsatz der kategorialen Dependenz nicht außer acht lassen, mit seinen vier kategorialen Gesetzen - der Stärke, der Indifferenz, der Materie und des Novums - , nach welchen die Abhängigkeit der höheren Kategorien von den niederen nur einseitig besteht, weiters die Kategorien der niederen Schicht zwar die Materie oder das Fundament für die höhere Schicht bilden, aber im Verhältnis zu dieser Schicht „indifferent" sind, da die niedere Seinsschicht ohne die höhere existieren kann, nicht aber umgekehrt; weiters geht es nur um eine partielle Abhängigkeit, und die Kategorien der höheren Schicht besitzen einen weiten Raum der Selbständigkeit, und die übergeordnete Struktur dessen, was höher ist, hat „über" dem, was niedriger ist, einen weiten Spielraum der Freiheit. Die höheren Kategorien sind durch die niederen bedingt, höchstens was die „Materie" - allgemein nur was das Fundament - anbelangt, und deshalb sind sie in ihrer Struktur im Verhältnis zu ihnen „frei". Aber wiederum bleibt die Frage des synthetischen Zusammenlebens der Kategorien verschiedener Schichten des realen Seins im Rahmen und in der Einheit des zusammengesetzten Gefüges des Rechts und auch des Staates ungelöst. VI. Ist überhaupt eine Lösung möglich und wenn ja, welche? Für die Möglichkeit einer Lösung sprechen überzeugend die Phänomene solcher zusammengesetzter Strukturen und doch der Einheit, welche zweifellos die Phänomene des Rechts und auch die des Staates darstellen. Und wiederum erkennt man, daß uns den Ausgangspunkt die Dialektik gibt, welche als einzige durch ihr Wesen selbst imstande ist, der zusammengesetzten, komplexen Struktur solcher Gebilde, wie der Mensch, der Staat und das Recht es sind, gerecht zu werden. Nur in der dialektischen, komplexen Einheit der für das Recht in Betracht kommenden Kategorien kann man das Wesen dieser Gebilde begreifen und besonders den Platz aufzeigen, der ihnen mit Rücksicht auf die zusammengesetzte Struktur in dem stufenförmigen Aufbau der realen Welt gehört. VII. Die komplexe, dialektische Einheit der Kategorien und der korrespondierende methodische Prozeß sind weder ein Konglomerat von Erkenntnissen verschiedener Provenienz noch eine Einleitung, welche die Forderung eines methodisch reinen Zutritts zum Material, das man erkennen will, ignorieren würde, sondern bedeuten: 1. Die Treue gegenüber den Phänomenen, d.h. die Notwendigkeit, von Phänomenen auszugehen und mittels dieser Phänomene seine Konstruktion zu verifizieren.

§ 44. Die Unzulänglichkeit der bisherigen Erklärungsversuche

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2. Keinesfalls in methodischer Hinsicht konfus zu arbeiten, sondern separat und in der Reinheit einzelne Problemausschnitte nach der in Betracht kommenden Kategorie (Kategorien) zu lösen und die gewonnenen und methodisch rein gruppierten Erkenntnisse vorzubereiten. 3. Eine komplexe Synthese dieser Erkenntnisse durchzuführen, wobei der dialektische Grundsatz von der wechselseitigen Bedingtheit des allen mit allem ein grundlegendes Instrument für die Erfüllung unserer Aufgabe darstellt, d. h. der Aufgabe, sich der komplexen, dialektischen Einheit von Kategorien, welche das Wesen jener komplexen Gebilde (des Rechts und des Staates) bilden, am besten zu bemächtigen.

§ 44. Die Unzulänglichkeit der bisherigen Erklärungsversuche vom Wesen des Rechts I. Der Verfall des philosophischen Denkens in dem zweiten Drittel des X I X . Jahrhunderts hatte zur Folge, daß an Stelle des philosophischen Gesamtbegreifens der Welt in dieser Zeit ein Ideal der „exakten Tatsachenwissenschaft", einer Wissenschaft der Laboratorien und Archive angetreten war. 1 Nur eine Philosophie, die scharf positivistisch aufgebaut ist, konnte in dieser Zeit Hoffnung auf Erfolg haben. Das war auch der Grund, warum das positivistisch-soziologische Werk von Auguste Comte 2 das wichtigste Werk dieser Zeit war. Die Naturwissenschaften waren ein Prototyp der Wissenschaft überhaupt und ihre Methode galt als wissenschaftliche, ihre Kategorien waren die einzigen, mit welchen eine Wissenschaft, wenn sie eine w i r k liche Wissenschaft sein wollte, arbeiten muß. Diese Erbschaft ist auch für Rechtswissenschaften schicksalhaft geworden; in ihrem Gebiet wurde nur dasjenige Streben für wissenschaftlich erklärt, das mit den Kategorien der Naturwissenschaften arbeitete. In dieser Richtung gingen auch alle rechtstheoretischen Denker, die danach strebten, mit Hilfe von Kategorien der Naturwissenschaften, bzw. der Natur überhaupt, ohne Rücksicht ob es sich um anorganisches, organisches, seelisches oder geistiges Sein handelt, zu arbeiten. Die Mangelhaftigkeit aller dieser Theorien und Lehren mit ihrem Streben, alle wissenschaftliche Errungenschaften auf einen einzigen gemeinsamen Nenner zu überführen, ist evident. Ihr gemeinsamer Fehler besteht vor allem in der Tatsache, daß sie überhaupt nicht zulassen, daß neben der Welt der Realität hier auch eine andere Welt, die Welt der Idealität (besonders das 1 Ernst Aster, Die Philosophie der Gegenwart, 1935, S. 4f.; Vladimir Kübel·, Prâvni filosofie X X . stoleti (Die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts), 1947, S. 13f. 2 Auguste Comte, Cours de philosophie positive, 6 Bd., 1840- 1842; derselbe, Système de politique positive, 1851 - 1859.

21 KubeS

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Reich der Normideen) ist, zweitens daß sie die ganze stufenförmige Welt der Realität im Wesen in eine einzige, durch die Kategorien des Raumes, der Zeit und der Kausalität beherrschte Schicht verflachen, und schließlich daß sie mit Hilfe dieser Kategorien, die den niederen Schichten des realen Seins eigen sind, danach streben, alle Gebilde zu erklären, also auch diejenigen, welche - zumindest grundsätzlich (wenn wir von ihrer komplexen Struktur absehen) - in die höchste Schicht des realen Seins gehören und einen bedeutenden Kontakt mit dem Reich der Idealität aufweisen. Ein solches Gebilde ist gerade das Recht. Für seine abgeleitete Normativität z.B. können sie begreiflicherweise kein Verständnis haben. Das freilich bedeutet keineswegs, daß alles, was diese Richtungen, die das Wesen des Rechts mit Hilfe der Kategorien der niederen Seinsschichten erklären und vergewaltigen, getan haben, falsch ist. Sie haben das Verdienst, daß sie die Realität des Rechts betonten. Das Recht gehört tatsächlich in die Welt der Realität. Das ist eine sehr bedeutsame und nützliche Erkenntnis. Dazu ist noch der Umstand hinzugetreten, daß mit Rücksicht auf den immanenten und essentiellen Bestandteil des Rechts, nämlich mit Rücksicht auf die Macht und besonders den organisierten Zwang, welche beide in die niederen Schichten des stufenförmigen Aufbaues der realen Welt gehören, auch diese niederen Kategorien in Betracht kommen. II. Gerade den entgegengesetzten Fehler begehen die, welche das Recht in die Welt der Idealität einreihen. Die Mangelhaftigkeit aller dieser Lösungen, die das Wesen des Rechts ausschließlich mit Hilfe der Kategorien der Idealität lösen wollen, besteht in folgenden Momenten: 1. Ähnlich, wie die Darsteller der entgegengesetzten Auffassung, vergegenwärtigen sich auch die Denker, die das Wesen des Rechts mit Hilfe von Kategorien der Idealität erklären, nicht die besondere Verbindung der realen Welt mit der Welt der Idealität und die Funktion des vermittelnden Gliedes, d. h. des Menschen als Subjekt und Person. 2. Das Recht als Phänomen - und nur das interessiert uns in diesem Zusammenhang - gehört überhaupt nicht in die Welt der Idealität, sondern in die Welt der Realität, weil das Recht entsteht, lebt und untergeht, also ein reales Gebilde ist und die Kategorien der Zeit und des Prozesses (des Werdens) ihm eigen sind. Das Recht als Phänomen hat freilich eine Beziehung zur Welt der Idealität (zur Normidee des Rechts). Dem Recht ist zwar das Sollen eigen, nicht aber das reine Sollen der Normideen, sondern das abgeleitete Sollen, durch welches sich der objektivierte, objektive und personale Rechtsgeist auszeichnet. 3. Die Anhänger des Begreif ens des Wesens des Rechts mit Hilfe der Kategorien der Idealität sehen nicht, zumindest nicht klar, den hierarchi-

§ 44. Die Unzulänglichkeit der bisherigen Erklärungsversuche

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sehen, stufenförmigen Aufbau der realen Welt, einzelne Schichten (Stufen) dieses Aufbaues und das Verhältnis zwischen diesen Seinsschichten. Sie wissen daher nicht, daß das Recht grundsätzlich in die reale Schicht des geistigen Seins gehört und noch mit Rücksicht auf seinen immanenten Bestandteil der Macht und besonders des organisierten Zwanges ein zusammengesetztes Gebilde darstellt und auch in die niederen Schichten dieses Aufbaues eingreift. Demgegenüber muß man freilich in den Konstruktionen, die das Recht mit Hilfe der Kategorien der Idealität zu erklären versuchen, auch einige, und zwar bedeutende Vorteile feststellen. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich hier auf die Problematik der Normativität der rechtlichen Sphäre, auf das Sollen und dadurch - wenigstens indirekt - auf die Verbindung der realen Welt mit dem Reich der Idealität und besonders mit der Normidee des Rechts. Es ist klar, daß auch in diesen „idealistischen" Theorien manches existiert, was man benützen kann. III. Die Einseitigkeiten der Lösungen, die für die beiden und entgegengesetzten Anschauungsgruppen typisch sind, versuchen diejenigen Richtungen zu eliminieren, die gewisse vermittelnde Lösungen bringen. Diese vermittelnden Richtungen, besonders die neukantische heidelbergsche Richtung von Emil Last, Gustav Radbruch, Alfred Verdross und gewissermaßen auch von Julius Binder des Jahres 1925, haben sehr viel zur richtigen Lösung des Problems des Wesens des Rechts beigetragen. Dasselbe gilt auch von allen denen, die schon auf dem Wege zur ontologischen Auffassimg des Rechts waren. Ich denke besonders an die Konzeption von Julius Moór, besonders was seine Lehre von zwei Bestandteilen des Rechts (ein Normsystem der Regeln und ein daran anknüpfendes System von menschlichen Handlungen) betrifft, von Hans Herz mit seinem verdienstvollen, wenn auch unrichtigen Versuch, die Synthese der Philosophie Nicolai Hartmanns und der Rechtstheorie Hans Kelsens durchzuführen, an verschiedene Versuche von Anhängern der transzendentalen Phänomenologie (Felix Kaufmann, Fritz Schreier) und der existentiellen Philosophie (Gerhart Husserl) oder auch Edmund Mezger mit seinem „gleichzeitig seienden und idealen Sollen" und mit seinem Sinn für die Größe der Aufgabe, die Problematik des Wesens des Rechts zu lösen, und an die hervorragenden Arbeiten von Alfred Verdross, Erich Fechner, Helmuth Coing, Arthur Kaufmann, Werner Maihofer, Antonio Villani, Hans Ryffel, Legaz y Lacambra, Heinrich Henkel, René Marcie und Günther Winkler. Trotzdem aber haben alle diese Versuche vor allem zweierlei nicht erkannt und begründet: Erstens die besondere Verbindung beider Welten, der Welt der Realität und der Welt der Idealität, und die daraus fließende abgeleitete (primär abgeleitete beim objektiven Rechtsgeist und sekundär 21*

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abgeleitete beim objektivierten Rechtsgeist) Normativität der rechtlichen Sphäre. Zweitens die komplex-dialektische, dialektisch zusammengesetzte Struktur des Rechts, das zwar seinen Standort im realen geistigen Sein hat, aber auch in die niederen Seinsschichten eingreift.

§ 45. Das Recht als ein reales Phänomen und seine Tendenz zur Welt der Idealität I. Das Recht, die Idee des Rechts und die Normidee des Rechts sind - wie w i r schon angedeutet haben - verschiedene Dinge. Das Recht und die Idee des Rechts sind reale Gebilde, gehören in den stufenförmigen Aufbau der realen Welt. Das Recht (und auch - wie wir noch sehen werden - der Staat) gehört in alle Seinsschichten der realen Welt, obzwar das Recht in erster Reihe der objektivierte Rechtsgeist ist. Die Idee des Rechts als die höchste Idee des stufenförmigen Aufbaues der realen juristischen Weltanschauung gehört in die Sphäre des objektiven Geistes und bildet den progressivsten Bestandteil des objektiven Rechtsgeistes. Die Normidee des Rechts, diese Quintessenz des Rechtsgedankens überhaupt, ist das, wozu das Recht, der in Gesetzen, Verordnungen, Beschlüssen, Urteilen, Rechtsgeschäften usw. objektivierte Rechtsgeist, tendiert. Das Recht tendiert in erster Reihe zur realen Idee des Rechts und letztlich zur Normidee des Rechts. Das Recht ist ein Phänomen und zwar ein lebendiges Phänomen; das bedeutet, daß es mit allem Lebendigen gewisse Kategorien, vor allem die Kategorien der Zeit und des Prozesses, teilt. Die materiellen, und organischen Prozesse sind raum-zeitliche, die seelischen und geistigen Prozesse sind nur zeitliche. Das Recht als lebendiges Phänomen hat seinen Ursprung, sein Leben mit allen Umwandlungen und findet auch seinen Tod. Mit allem Realen weist das Recht eine spezifische Eigenschaft, nämlich die des Widerstandes, auf. Wir haben schon erkannt, daß nicht nur die körperlichen Dinge, wenn man sie durchdringen will, einen Widerstand leisten, den man durch seine Tätigkeit überwinden muß, sondern auch die höchste Schicht der realen Welt, die geistige Schicht mit dem Recht, diese Eigenschaft des Widerstandes inne hat. Wir erleben diese Eigenschaft und sind uns ihrer bewußt, wenn wir gegen das Recht handeln. Das Recht ist ein gewisser Teil der realen Welt und besonders des geistigen Seins, ist etwas Endliches, Empirisches, etwas, was seine Geschichte und sein Schicksal hat und infolgedessen nicht die Qualität der Normidee

§45. Das Recht als ein reales Phänomen

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teilt und nicht absolut und vollständig ist. Wir haben ausschließlich mit dem Recht in den Grenzen unserer Erfahrung zu tun, mit dem „empirischen" Recht, also vor allem mit einem Teil des geistigen Seins. Deshalb ist es auch - wie schon aufgezeigt wurde - zeitlich gebunden, zum Unterschied von der Normidee des Rechts, die den Tod nicht kennt, ewig ist, aber auch die Realität entbehrt. Die Rechtsordnung ist ein Teil des geistigen Seins, hat ein „aufruhendes" Sein; es liegt als objektivierter Rechtsgeist auf der niedrigeren Schicht des realen Seins, auf der seelischen Schicht, welche wieder durch die niedrigeren Schichten des Stufenbaus der realen Welt, nämlich durch das organische Sein und letztlich durch das physisch-materielle Sein getragen wird. Das Recht als solches greift allerdings auch in die niedrigeren Schichten der realen Welt ein. Das Phänomen des Rechts bildet aber trotz seiner starken Komplexheit kein bloßes Kompositum. Im Phänomen des Rechts findet man eine spezifische geistige Komponente, die in keiner Weise in die Form des Seins nichtgeistigen Charakters überführt werden kann, und es ist ausgeschlossen, von dieser niedrigeren Form aus das Recht zu begreifen und zu erklären. Das Recht kann man weder in seelische noch in organische, noch in materielle Momente zerlegen, obgleich das Recht erstens - als Rechtsordnung infolge dessen, daß es auf der niederen Seinsschicht „ruht", gewisse Bestimmungen des niedrigeren Seins, wie z.B. die Zeitlichkeit, Endlichkeit, Vernichtbarkeit, übernimmt, welche Eigenschaften allem realen Sein gemeinsam sind, und zweitens, weil die Macht (und organisierter Zwang) ein essentieller Bestandteil des Rechts ist und es aus diesem Grund gewisse Kategorien der niederen Seinsschichten übernimmt. Das Recht aber stellt kein bloßes Kompositum „aus" diesen Kategorien dar, sondern weist gewisse spezifische Elemente auf, Elemente der Sphäre, wohin das Recht überwiegend gehört, Elemente, die für das Recht typisch sind und die das kategoriale Novum, die spezifische ontische Autonomie, bilden. Die Abhängigkeit und die Autonomie gehen auch beim Recht Hand in Hand. Dagegen weisen die Normideen, und mit ihnen auch die Normidee des Rechts, kein „aufruhendes", sondern ein „fliehendes" Sein auf. II. Das Recht also gehört in den stufenförmigen Aufbau der realen Seinsschichten, und es ist klar, daß es überwiegend in das geistige Sein, das ein Sein im echten Sinne ist und mit allem Realen die Zeitlichkeit, Prozessualität und Vernichtbarkeit teilt, gehört. Trotz allem aber kann man an dem Recht überzeugend die enge Verbindung des geistigen Seins mit dem Reiche der Normideen demonstrieren. Gerade im Phänomen des Rechts - und selbstverständlich auch im Phänomen der Moral - sieht man den Charakter der Normativität. Der Ursprung der Normativität kann nicht von der realen Welt ausgehen. Hier bestätigt

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sich die Richtigkeit des Dictums von Kant, daß es ausgeschlossen ist, aus dem Sein das Sollen zu deduzieren, ein Dictum, welches sich die Schule der reinen Rechtslehre und eine ganze Reihe hervorragender Rechtsphilosophen - z.B. der führende Rechtstheoretiker der neokritischen Heidelberger Schule Gustav Radbruch - als ihren Ausgangspunkt aneigneten. Gerade diese Normativität der rechtlichen Sphäre (die abgeleitete Normativität) ist ein überzeugender Beweis für die enge Beziehung dieses Bereiches der realen Welt zu der Welt der Idealität. Wie man schon angedeutet hat, der Vermittler zwischen diesen zwei Welten ist der Mensch mit seinem personalen Geist, der Mensch als körperlichgeistiges Wesen und Person in einem, als sittliches und rechtliches Wesen mit seinen fünf typischen Merkmalen - mit dem Merkmal der Provenienz, Prädestination, Zwecktätigkeit, des Bewußtseins der Normideen und der positiv begriffenen Willensfreiheit. Der personale Geist des konkreten Menschen kennzeichnet sich durch alle diese fünf Merkmale; er ist besonders fähig, mit seinem „organ du coeur" die kategorische Pflicht der Normidee des Rechts, dieser komplexen, dialektischen Synthese von vier Bestandteilen - der Gerechtigkeit, der Sicherheit, der Zwecktätigkeit und der Freiheit des konkreten Menschen zu hören. Dieser rechtliche-personale Geist des Menschen ist fähig, das Sollen und den Inhalt der Normidee des Rechts - wenngleich auch nicht restlos - nicht nur zu hören, sondern auch in die Realität zu überführen und schrittweise einen breiten Bereich der abgeleiteten Normativität des rechtlichen objektiven Geistes (die sog. primär abgeleitete Normativität) zu bilden, welcher wieder durch seine immanente Tendenz zu Objektivationen den Bereich der sekundär abgeleiteten Normativität des objektivierten Rechtsgeistes bildet. Diese Überführung der kategorischen Pflicht der Normidee des Rechts, in die Welt der Realität kann nur der Mensch als Subjekt und Person verwirklichen, da nur er die Fähigkeit hat, die Stimme der Normideen wahrzunehmen, nur er die Willensfreiheit besitzt und nur er die Gabe der Voraussehung, der Vorausbestimmung und der Zwecktätigkeit hat, d.h. jener dreistufigen Aktion, welche besteht: a) aus der Vorausbestimmung des Zwecks, die der durch die Normidee des Rechts, bzw. der Idee des Rechts beeinflußte Mensch durchführt, b) aus der Wahl und der anticipando erfolgten Bestimmung der Mittel zurück bis zum ersten Mittel, c) aus der Einschaltung dieses ersten Mittels in die Reihe der zum gesetzten Zweck führenden Mittel, was alles der Mensch mit seiner Initiative verwirklicht. Man kann die zentrale Stellung des konkreten Menschen im rechtlichen Bereich klar beobachten. Der Mensch mit seinem personalen Geist tritt schon durch seine Geburt in den objektiven Rechtsgeist ein und lebt sich

§ 45. Das Recht als ein reales Phänomen

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schrittweise ein, wächst in ihn hinein; dieser objektive Rechtsgeist ist allerdings wieder durch die Menschen als Einzelpersonen, durch ihre Arbeit in den langen Perioden von Tausenden von Jahren umgebildet und modifiziert worden. Der Mensch als moralische und rechtliche Person, der Mensch mit seinen fünf Attributen, wird in diesem Sinne der Schöpfer aller abgeleiteten Normativität, nicht nur der primär abgeleiteten (beim objektiven Geist), sondern auch der sekundär abgeleiteten Normativität (beim objektivierten Geist), konkret beim Recht. III. Auf der Grundlage der ganzen Auffassung von Nicolai Hartmann, dieses streng kritischen, gegen jede und besonders gegen die Hegelsche metaphysische Spekulation orientierten Entdeckers des empirischen, realen, geistigen Seins, scheint es, daß das Recht ausschließlich in die Schicht des geistigen Seins und in ihrem Rahmen in die Sphäre des objektiven Geistes gehört. Wir sind grundsätzlich vor allem in zwei Punkten anderer Meinung als Nicolai Hartmann. Erstens liegt das Hauptwesen des Rechts im objektivierten Geist, obzwar auch der objektive und personale Geist hier eine bedeutende Rolle spielt. Zweitens w i r d es sich zeigen - und das ist der weitere Unterschied zu Hartmanns Auffassung - daß das Recht - ähnlich wie der Staat - ein zusammengesetztes Gefüge darstellt. Beim Staat ist das ganz klar; die entgegengesetzte Auffassung von Kelsen ist einfach unhaltbar. Beim Recht ist es immer noch problematisch. Allerdings führt uns die Erkenntnis, daß ein essentieller Bestandteil des Rechts als Phänomen die Macht und besonders der organisierte Zwang ist, zur Behauptung von der komplexen Natur des Rechtsgefüges. In keinem Falle aber kann man bezweifeln, daß das Recht, und zwar die Gesetze, Verordnungen, Entscheidungen, Rechtsgeschäfte und wie überhaupt in der konkreten juristischen Empirie die einzelnen „Rechtsquellen" genannt werden, sowie auch das Gewohnheitsrecht, überwiegend in das geistige Sein gehört. Infolgedessen teilt das Recht mit dem geistigen Sein typische Merkmale, d.h. die Zeitlichkeit, Wandelbarkeit, Endlichkeit, Prozessualität, den empirischen Charakter, kurz gesagt: die Realität. Allerdings auch in dieser Richtung werden w i r besonders beim Recht vor der schwierigen Frage stehen, ob man bei dem objektivierten Geist überhaupt von der Zeitlichkeit und der Prozessualität, also von der Realität, sprechen kann; hier kann besonders klar das wechselseitige Tragen des objektivierten und objektiven Geistes beobachtet werden.

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

§ 46. Das Recht und der personale, objektive und objektivierte Rechtsgeist I. Die höchste Schicht der realen Welt, d.h. die Schicht des geistigen Seins, weist eine dreifache Form des Seins des Geistes auf und zwar des personalen, objektiven und objektivierten Geistes. Es handelt sich um drei Grundformen desselben geistigen Seins, um ein spezielles Verhältnis, wo eine Form auf die andere restlos angewiesen ist; es geht um die Einheit des ganzen geistigen Seins, alle diese drei Grundformen gehören zu ein- und derselben ontischen Schicht und alle haben die gleiche Beziehung zu den niederen Schichten des Aufbaues der realen Welt. Bei allen handelt es sich um ein Verhältnis des Überbaues, alle drei sind nicht-räumliche Gebilde. Dieses Phänomen der Einheit des geistigen Seins, in welcher die dreifache Form des Geistes beinhaltet ist, ist gerade auf dem Gebiet des Rechts in klassischer Form ersichtlich. Was den personalen Geist (das personale geistige Sein) und, w i r können sofort sagen: den personalen Rechtsgeist betrifft, handelt es sich offensichtlich um eine Einheit des geistigen Lebens des Individuums, um die Person mit allen ihren Prädikaten. Hier tritt überall das Subjekt auf - die Person -, und nur der Mensch kann Person sein. Der Mensch mit seinem personalen Geist tritt in zwei Grundrichtungen auf: Einmal als der Vermittler zwischen der Welt der Idealität und der Welt der Realität, wo er das Sollen und den Inhalt der Ideen, konkret: der Rechtsidee, in die reale Welt überführt, weil nur er mit den fünf Grundattributen ausgestattet ist. Der Mensch mit seinem personalen Geist bildet dann im Laufe der Geschichte weite Sphären der abgeleiteten Normativität des geistigen Seins, besonders auch des Rechts. Hier haben der Mensch und sein personaler Geist eine sehr aktive Stellung. Zweitens erscheint der Mensch in einer passiven Lage, und zwar, wenn er als ein Pflichtsubjekt verstanden wird, und als solches Pflichten (rechtliche oder moralische), die aus der geistigen Sphäre der abgeleiteten Normativität, die fortschreitend durch einzelne personale Geister ausgebildet ist, zu erfüllen hat. Hier kann man sehen, wie leicht es möglich ist, jetzt solche Probleme der Rechtsphilosophie zu lösen, wie z.B. die Frage, ob nur der Mensch oder neben ihm auch eine andere Person im Rechtssinne Pflichtsubjekt sein kann. Nur der Mensch - die Person - hat das Bewußtsein, hat die Freiheit des Willens, ist durch jene Attribute, welche aus ihm eine Person schaffen, ausgestattet; nur der Mensch kann also ein Pflichtsubjekt sein. Das bedeutet aber nicht, daß vom Standpunkt der Zweckmäßigkeit die Rechtsordnung nicht auch juristischen Personen sogenannte Rechtssubjektivität verleihen kann. Nur müssen wir wissen, daß es sich hier um technische Hilfsmittel und um eine Fiktion handelt, und daß im Durchschnitt jede geltende Rechtsordnung

§ 46. Das Recht und der personale, objektive und objektivierte Rechtsgeist 329

Pflichten überwiegend Menschen auferlegt, weil nur sie personalen Geist besitzen, nur sie haben das Pflichtbewußtsein und sind zu Zwecktätigkeit fähig. III. Neben dem personalen Rechtsgeist haben wir einen objektiven Rechtsgeist, ein objektives, geistiges rechtliches Sein. Schon bei Hegel ist ein überindividueller, geschichtlich lebendiger, objektiver Geist der eigentliche Schöpfer des Rechts, der Gemeinschaft und der Moral. Der objektive Geist hat natürlich keine Substanz, ist kein Wesen hinter den Individuen, hinter dem geistigen Leben einer gewissen menschlichen Gemeinschaft. Der objektive Geist hat weder Personalität noch Bewußtsein und kann deswegen ohne menschliche Individuen mit ihrem personalen Geist nicht existieren. Es handelt sich um ein wechselseitiges Tragen des objektiven und personalen Geistes. Der objektive Rechtsgeist (das objektive geistlich-rechtliche Sein) ist die rechtliche Überzeugung des Volkes, seine rechtliche Gesinnung, sein Rechtsempfinden, sein Rechtsbewußtsein. Wir haben erkannt, daß schon die historische Rechtsschule im Volksgeiste, nämlich im allgemeinen Rechtsbewußtsein, das Wesen des Rechts sah, und in diesem Volksgeiste lebt nach Ansicht dieser Schule das Recht ebenso wie z.B. die Moral oder Sprache. Wenn man auch in einer ganzen Reihe von Punkten mit der Lehre der historischen Rechtsschule keineswegs einverstanden sein kann (und zwar schon wegen ihrer metaphysischen und irrationalen Grundlage und wegen ihres Konservatismus), hat diese Lehre doch viele wertvolle Erkenntnisse gebracht. Besonders wichtig und wertvoll ist die Erkenntnis, daß im allgemeinen Rechtsbewußtsein des Volkes durch das Wachstum der Kultur eine Differenzierung eintritt und daß sich neben diesem allgemeinen Rechtsbewußtsein, bzw. gerade in ihm, ein besonderes Rechtsbewußtsein des Juristenstandes herausbildet. Dieses „juristische" Rechtsbewußtsein ist dann Repräsentant des Rechtsbewußtseins des Volkes überhaupt, wird durch dieses getragen und trägt es selbst. Es handelt sich um ein weiteres, für das geistige Sein überhaupt typisches Verhältnis des wechselseitigen Tragens, Durchdringens, Unterstützens, um eine Erscheinung der vollkommenen Einheit. Dieses Rechtsbewußtsein und diese Rechtsüberzeugung, ohne Rücksicht darauf, ob es sich um das allgemeine oder „juristische" Rechtsbewußtsein handelt, wird selbstverständlich nicht durch den Einzelnen gebildet, sondern der Mensch findet dieses Rechtsbewußtsein und die Rechtsüberzeugung schon als existierend vor und „übernimmt" sie. Auch der objektive Rechtsgeist ist keine Substanz, und auch er ist kein Geist hinter dem personalen Rechtsgeist oder außerhalb dieses Rechtsgeistes. Der objektive Rechtsgeist ist das, was in vielen Individuen lebt, tradiert und übernommen wird, und das jedermanns Eigentum wird und keineswegs auf konkrete Individuen beschränkt ist.

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

Der objektive Rechtsgeist, d.h. das Rechtsbewußtsein (das Rechtsempfinden, die Rechtsüberzeugung), sowohl das allgemeine als auch das des Juristenstandes, und seine Ganzheit sind in keinem menschlichen Bewußtsein enthalten, und dennoch ist er da und wird als existierend empfunden und respektiert. Die Einheit des objektiven Rechtsgeistes ist durch die Gemeinschaft von menschlichen Individuen mit ihrem personalen Rechtsgeist getragen. Während der personale Rechtsgeist streng an das menschliche Individuum gebunden ist, ist der objektive Rechtsgeist ein Geist der Vielheit von Individuen, er ist zwar keine kollektive Ganzheit, sondern eine besondere Gemeinschaft der Rechtsgeister, die von den Individuen konkret durchlebt wird. Auch der objektive Rechtsgeist hat im Rahmen des allgemeinen objektiven Geistes seine Individualität, die eine andere ist, als die Individualität der personalen Rechtsgeister. Alles Reale ist individüell, und der objektive Geist gehört in die Welt der Realität. Der objektive Rechtsgeist hat sein eigenes Leben, das ebenso zeitlich real und autonom ist, wie das Leben der einzelnen Personen mit ihrem personalen Geist zeitlich, autonom und real ist. Gewiß ist auch der objektive Rechtsgeist durch viele reale Faktoren, die neben ihm oder ontisch unter ihm liegen, bedingt. Aber das alles ändert nichts an seiner Autonomie. Das Leben des objektiven Rechtsgeistes beruht auf dem Leben der menschlichen Individuen mit ihrem personalen Rechtsgeist, und in dieser Hinsicht ist es von ihnen abhängig und stellt ein superexistierendes Leben dar. Dabei handelt es sich aber um eine höhere autonome Form des Lebens und um ein geistiges Gebilde höherer Ordnung und besonderer Ganzheit, um ein Gebilde, welches sich nicht nur aus Individuen zusammensetzt, sondern einer anderen Gesetzmäßigkeit als der personale Rechtsgeist folgt. Der objektive Rechtsgeist ist ein besonders getragenes und superefcistierendes Gebilde mit besonderer Autonomie und mit Rücksicht auf alle Elemente, welche ihn tragen, ist eine überformierende und beherrschende Macht. Hier ruhen seine Autonomie und seine besondere, ihm eigene Gesetzmäßigkeit. ÎV. Das rechtliche Bewußtsein, der Wille, das Empfinden, die Überzeugung des Volkes einer gewissen Rechtsgemeinschaft (der objektive Rechtsgeist) haben eine unaufhörliche, immanente Tendenz zur Objektivation, nämlich dazu, das Rechtsempfinden zu objektivieren, dieses in gewisse feste Gebilde zu inkorporièren, und sie als geschriebenes Recht oder zumindest als das Gewohnheitsrecht zu gestalten. Das geschriebene Recht und auch das Gewohnheitsrecht sind Objektivationen des objektiven Rechtsgeistes (des rechtlichen Bewußtseins, des Rechtsempfindens des Volkes), sind objektivierter Rechtsgeist, objektiviertes rechtlich-geistiges Sein.

§ 46. Das Recht und der personale, objektive und objektivierte Rechtsgeist 331

Der Rechtsgeist (das rechtlich-geistige Sein) existiert also in allen drei Formen des geistigen Seins, die eine Einheit bilden: als personaler Rechtsgeist, als objektiver Rechtsgeist und als objektivierter Rechtsgeist. Der personale Rechtsgeist und der objektive Rechtsgeist sind zweifellos lebendig und bilden zusammen den lebendigen geschichtlichen Rechtsgeist. Dieser lebendige Rechtsgeist schafft aus sich heraus Gebilde besonderer Art, in welchen er sich selber eine feststellbare, von sich selber unterschiedliche „Objektivität" gibt; der lebendige geschichtliche Rechtsgeist „objektiviert sich". V. Mit dem Prozeß dieser Objektivation geht Hand in Hand ein Prozeß des Selbständigwerdens. Die Objektivation löst sich von ihrem Schöpfer und lebt - wenigstens bis zu einem gewissen Grad - ein selbständiges „Leben". Sind aber diese Objektivationen wirklich „lebendig"? Ist ihnen das AttHbut alles Realen, die Kategorie der Zeit, eigen? Wenn der objektivierte Rechtsgeist (z.B. ein Rechtskodex) nicht der Kategorie der Zeit und des Geschehens unterliegen würde, wenn er nicht real wäre, dann würde das Recht selbstverständlich überhaupt nicht in die Welt der Realität gehören, dann wären die Behauptungen der Schule der Reinen Rechtslehre richtig, daß das Recht in das Reich der Idealität, in das Reich des reinen Sollens fallen. Aber wie kann man dann die Frage des Ursprungs und Untergangs des Rechts erklären? Die Schwierigkeit der Lösung steigert sich noch, wenn w i r gewisse Ausführungen Nicolai Hartmanns lesen, welche anzudeuten scheinen, daß der objektivierte Geist kein lebendiger Geist ist, daß er nicht den Kategorien der Zeit und des Geschehens unterliege. Wir stehen vor einer zentralen und sehr schwierigen Problematik. Sicher ist, daß der lebendige Rechtsgeist (der personale und der objektive Rechtsgeist) dadurch, daß er gewisse Gebilde, wie z.B. Gesetze, aus sich selbst heraus geschaffen hat, sie in der Wirklichkeit von sich selbst getrennt hat, und daß diese, jetzt schon objektivierten Gebilde, nicht mehr direkt mit ihrem Schöpfer verbunden sind, sondern außerhalb des Prozesses seiner Entwicklung stehen. Es ist auch wahr, daß dieser lebendige Rechtsgeist (der personale und der objektive Rechtsgeist), welcher den objektivierten Rechtsgeist schuf und dann sich von ihm separierte, inhaltlich in diesen seinen Gebilden inkorporiert, fixiert und für den zukünftigen objektiven und personalen Geist bewahrt bleibt. Der objektivierte Rechtsgeist (Gesetze, Verordnungen usw.) ist eine Schöpfung des lebendigen Rechtsgeistés, auf dem er beruht und dem er entspricht. Aber allmählich ändert sich der lebendige Rechtsgeist wie alles Lebendige, während der objektivierte Rechtsgeist mit Rücksicht darauf, daß er in einen geschriebenen Kodex inkorporiert ist, grundsätzlich derselbe bleibt. Ich sage ausdrücklich „grundsätzlich", und zwar aus dem Grunde, weil auch dieser objektivierte Rechtsgeist auf den gleichzeitigen objektiven und personalen Rechtsgeist angewiesen ist und sich mit

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des

echts

der Änderung der sozialen, wirtschaftlichen und anderen Verhältnisse, mit der Änderung des Rechtsempfindens, in welches der derzeitige Interpret eingewurzelt ist, ändert; dadurch wird das Gesetz natürlich von einem neuen Gesichtspunkt interpretiert (die Heterogenität der Zwecke im Sinne Wilhelm Wundts). Das Rechtsempfinden ändert sich, während das Gesetz grundsätzlich dasselbe bleibt. In der rechtlichen Objektivation überlebt zwar das Produkt des lebendigen Rechtsgeistes seinen Schöpfer, aber es entsteht eine immer größere Diskrepanz zwischen ihnen. Im objektivierten Rechtsgeist konserviert sich der lebendige Rechtsgeist (der objektive und der personale Rechtsgeist) der Zeit, aus welcher die Objektivation herstammt.

VI. Der objektivierte Rechtsgeist hat ein besonderes Sein. Ist das ein irreales oder ein reales Sein? Die Antwort lautet: Der objektivierte Rechtsgeist (das objektivierte rechtlich-geistige Sein) hat ein reales Sein, natürlich ein Sein sui generis. Die Gründe für unsere Behauptung sind folgende: 1. Die Objektivation (z.B. ein gewisser Rechtskodex) kann zerstört werden. Alles objektivierte geistige Sein, also auch der objektivierte Rechtsgeist, ist ein Gesamtgebilde, welches zwei Schichten aufweist. Erstens eine sinnlich-reale Schicht (die Buchstaben auf dem Papiermaterial des Rechtskodex), die sogenannte vordere Seite, die sinnlich wahrnehmbar, selbständig und ontisch real ist; zweitens den geistigen Inhalt selbst, nämlich das, worum es sich in der Objektivation handelt, die sogenannte hintere Seite oder den Hintergrund im Sinne der Lehre von Nicolai Hartmann. Die hintere Seite ist immer an ein gewisses Gebilde gebunden, welches als solches nicht geistiger Natur, sondern sinnlich wahrnehmbar, dinglich und real ist. Daraus kann der Schluß gezogen werden, daß die Objektivation geradezu wesenhaft in dieser Gebundenheit des geistigen Inhaltes an ein solches reales Gebilde beruht. Die vordere und die hintere Seite sind ein einheitliches Gesamtgebilde, und deswegen teilt auch die hintere Seite das Schicksal mit der vorderen Seite. Wenn die vordere Seite (das Material) vernichtet ist, bedeutet das den Untergang der ganzen Objektivation. Wenn z.B. ein gewisser geschriebener Kodex verbrannt wird, so daß hier kein stabiles Material mehr ist, in welchem das rechtlich-geistige Gebilde fixiert wäre, geht mit der vorderen Seite auch die hintere Seite unter. Das ist der Grund, warum der objektivierte Rechtsgeist nicht in die Sphäre der Überzeitlichkeit und der Übergeschichtlichkeit erhoben wird. Da gerade die Erhaltung des objektivierten Rechtsgeistes an das sinnlich-reale Gebilde gebunden ist, dieses aber wie alles, was dinglich ist, der Vernichtung unterliegt, so ist auch der objektivierte Rechts-

§ 46. Das Recht und der personale, objektive und objektivierte Rechtsgeist 333

geist vergänglich, unterliegt der Kategorie der Zeit, hat sein Schicksal, seine Geschichte. 2. Die hintere Seite (der Hintergrund) des objektivierten Rechtsgeistes, dieser eigentliche, rechtlich-geistige Inhalt für sich allein beobachtet, ist irreal. Diese hintere Seite hat nur eine bedingte Seinsart, d.h. sie hat „Seinfür-uns", sie „existiert" nur auf Grund der wechselseitigen Beziehungen zum derzeitigen lebendigen Geist. Die hintere Seite steht mit Bezug auf die vordere Seite im Verhältnis „des Erscheinens" im Sinne von Hartmann. In dem sinnlich zugänglichen realen Gebilde (z.B. in der Schrift des Rechtskodexes) „erscheint" der geistige Inhalt. Mit Rücksicht auf dieses Verhältnis „des Erscheinens" kann diesbezüglicher rechtlich-geistiger Inhalt nur dann und nur dort in Funktion treten, wo ein Subjekt existiert, „dem" dieser rechtlich-geistige Inhalt erscheint. Dieses „Subjekt" ist der gleichzeitige lebendige, personale und objektive Rechtsgeist. Der objektivierte Rechtsgeist ist also nicht nur von dem Material (siehe sub 1) abhängig, sondern auch in der Richtung, daß er auf den gleichzeitig lebenden Rechtsgeist angewiesen ist und deswegen mittelbar unter die Kategorie der Zeit und des Geschehens fällt. Die Gebundenheit des objektivierten Rechtsgeistes an den gleichzeitig anwesenden lebendigen Rechtsgeist ist zweifellos da, und der objektivierte Rechtsgeist „bewegt sich" in fortwährenden Änderungen des lebendigen, also realen Geistes. Dort, wo diese Gebundenheit verloren geht, verliert sich auch der objektivierte Geist. Der Seinsmodus des objektivierten Rechtsgeistes ist außerdem - mit Rücksicht darauf, daß er durch sinnlich wahrnehmbares, reales Gebilde getragen ist, mit welchem er das Schicksal (seinen Untergang) teilt - noch eine Art des Seins, das durch den lebendigen (personalen und objektiven) Rechtsgeist mitgetragen wird. Alle sogenannte Überzeitlichkeit des objektivierten Rechtsgeistes ist nur eine erscheinende Überzeitlichkeit des Hintergrundes, des rechtlich-geistigen Inhaltes. Das komplexe Gebilde des objektivierten Rechtsgeistes ist zeitlich und geschichtlich stark bedingt. 3. Es gibt aber noch ein drittes Argument, warum der objektivierte Rechtsgeist in den stufenförmigen Aufbau der realen Welt gehört und nicht in die Welt der Idealität fällt. Der objektivierte Rechtsgeist ist in seiner Isolation nicht selbstgenügsam. Die gegenseitige Fesselung und Bedingtheit des objektivierten, objektiven und personalen Geistes ist besonders in der rechtlichen Sphäre sehr markant. Der objektivierte Rechtsgeist (z.B. ein Rechtskodex) muß - um geltendes Recht zu sein - durch den objektiven und personalen Rechtsgeist (durch das Rechtsempfinden und durch die Rechtsüberzeugung des Volkes und einzelner Menschen im Durchschnitt) getragen werden, auch wenn er geltendes Recht bis zu dem Moment bleibt, in dem der objektive und personale Geist die Objektivation (den betreffenden Rechtskodex) aufhebt. Ferner muß sich der objektivierte Rechtsgeist, um Recht zu

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

sein, durch Exequierbarkeit und Faktizität im Durchschnitt auszeichnen. Es muß eine reale Macht existieren. Auch aus diesem Grunde teilt also das Recht das Schicksal jeder Realität, d.h. es hat seinen Ursprung, sein Leben und seinen Untergang. Das wechselseitige Verhältnis aller drei Sphären des rechtlich-geistigen Seins, das ist des personalen, objektiven und objektivierten Rechtsgeistes, ist ein typisch dialektisches, wie Nicolai Hartmann zeigt. Der lebendige (personale und objektive) Rechtsgeist wird wesentlich zu rechtlichen Objektivationen (zur Schaffung von Gesetzen und anderen Rechtsnormen) getrieben. Sobald er sie bildet und aus sich heraus vertreibt, werden diese Objektivationen für ihn eine Fessel, weil der lebendige Rechtsgeist sich immer wandelt, während der objektivierte Rechtsgeist immer derselbe bleibt und ein konservativer Faktor ist; nur der lebendige Geist enthält ein Moment des Fortschrittes. In gegenseitiger Wirkung des objektivierten und lebendigen Rechtsgeistes wird wieder dieser objektivierte Rechtsgeist - besonders in der Interpretationstätigkeit - verändert, und es tritt in einer gewissen Art eine Modifikation des objektivierten Rechtsgeistes ein. Wenn die Diskrepanz zwischen dem lebendigen Rechtsgeist und dem objektivierten Rechtsgeist zu groß ist, ist der lebendige Rechtsgeist grundsätzlich gezwungen, sich seiner alten Objektivation zu entledigen, aber gleichzeitig gibt er sich notwendigerweise eine neue Objektivation. Diese Notwendigkeit der fortwährenden Objektivation ist besonders dadurch bedingt, daß der objektive Rechtsgeist kein adäquates Bewußtsein besitzt und nur ein Ersatzbewußtsein in den menschlichen Individuen hat. Wenn der objektive Rechtsgeist sich seiner Fesseln entledigt und sich weiter entwickeln will - als ein lebendiger Geist muß er sich entwickeln, -, so braucht er dazu das Bewußtsein dieser Fessel im Bewußtsein der Individuen, und das geschieht gerade durch die Objektivationen. In ihnen macht der objektive Rechtsgeist seine Formen für Individuen wahrnehmbar, und dadurch befreit er sich von den alten Fesseln; dabei legt er sich natürlich eine neue Fessel an. Und der Prozeß geht weiter. Der objektivierte Rechtsgeist (Gesetze, Verordnungen usw.) ist auf der einen Seite ein geistiges Gut, an dem der lebendige Geist zehrt, und gleichzeitig ist der objektivierte Rechtsgeist für den objektiven Rechtsgeist in dieser Richtung von Nutzen. Auf der anderen Seite bedeutet der objektivierte Rechtsgeist gleichzeitig Fesseln für den lebendigen (objektiven und personalen) Rechtsgeist, und der lebendige Rechtsgeist muß mit ihm kämpfen, um sich von ihm freizumachen und um sich durch eine neue Objektivation neue Fesseln zu schaffen.

§ 47. Das Recht und die Macht

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§ 47. Das Recht und die Macht; der organisierte Zwang; die komplexe zusammengesetzte Natur des Rechtsphänomeas I. Jetzt stehen wir vor der Grundfrage des Verhältnisses des Rechts und der Macht, deren Lösung wir zwar schon angedeutet haben in dem Sinne, daß die Macht ein immanenter und essentieller Bestandteil des Rechts ist, daß also das Recht ohne Macht Nonsens bedeutet und die Macht ohne Recht nur Gewalt ist; jetzt aber, wenn w i r das Problem lösen sollen, wohin d.h. in welche Schicht des Aufbaues der realen Welt, das Recht gehört, stehen w i r vor allen Folgen, welche aus dem Schluß hervorgehen, daß die Macht ein essentieller Bestandteil des Rechts ist. Die Macht des Rechts ist nicht nur Wirksamkeit der Vorstellung der Rechtsnormen im Denken der Menschen der betreffenden Rechtsgemeinschaft, wo schon die Schicht des seelischen Seins mit ihren Kategorien in Betracht kommt, sondern auch die faktische Durchsetzung des Rechts in der Wirklichkeit, event, in Form der Exekution und Strafe, wo die untersten Schichten des stufenförmigen Aufbaues der realen Welt in Frage kommen, d. h. die Schichten des organischen und anorganischen Seins mit ihren Kategorien. Es ist freilich möglich, sich die ganze Lösung zu vereinfachen und mit Kelsen zu behaupten, daß das Recht ein Inbegriff von Normen ist, die den Zwang nur anordnen. Aber ist das wirklich so? Ist die Lösung richtig? Dann wäre der Inbegriff von bloß zwangsanordnenden Normen, auch wenn sich diese Normen nicht durchsetzen, geltendes Recht. Und das ist offenbar nicht wahr. Kelsen selbst fordert, daß die Rechtsordnung im Durchschnitt Faktizität aufweisen muß. Es ist also nicht richtig, mit Kelsen zu sagen, daß das Recht ein System von Normen ist, welche den Zwang nur anordnen. Es genügt nicht das Merkmal des Zwanges nur in den Inhalt der Rechtsnormen einzureihen, um ein geltendes Recht zu erhalten. Dann wäre schließlich auch ein System von durch einen „naturrechtlichen" Denker erdachten Normen, geltendes Recht, wenn nur diese Normen im Denken ihres „Schöpfers" mit organisiertem Zwang ausgestattet wären. Es ist unbedingt notwendig, die durchschnittliche Durchsetzung des Rechts in der Wirklichkeit als ein Hauptmerkmal des Rechts zu behaupten. Es ist notwendig, daß zu jedem System von Normen der abgeleiteten Normativität, welche den Zwang für den Fall der Nichterfüllung der Pflicht anordnen, noch ein organisierter Zwang in der Wirklichkeit hinzuträte. Das gehört zwar in die niederen Schichten des Seins, es gehört aber dennoch zum Wesen des Rechts.

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

II. Das Merkmal des Zwanges, des organisierten Zwanges, erscheint regelmäßig auf irgendwelche Art in der Definition des Rechts - schon mit Rücksicht darauf, daß man das Recht von der Moral und der Sitte unterscheiden will. Schon z.B. Thomas von Aquino ist der Meinung, 1 daß der Zwang ein wesentliches Merkmal des Rechts ist: „Lex de sui ratione duo habet: primo quidem quod est régula humanorum actuum, secundo quod habet vim coactivam." Auch Immanuel Kant stellt in seinem Werk „Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre" fest: „Recht und Befugnis zu zwingen bedeuten einerlei." 2 Aus der anglosäehsischen Fachliteratur gehört trotz seiner naturrechtlichen Grundlage Blackstone in die Reihe der Denker, die den Zwang als eine essentielle Eigenschaft des Rechts betonen: 3 "The main strength and force of a law consists in the penalty annexed to it. Herein is to be found the principal obligation of human laws." Am schärfsten drückt den Charakter des Rechts als einer Zwangsordnung Edward Jenks aus: 4 "The idea or concept of law ... always involves the union of two simpler ideas or concepts, that of order and that of compulsion. " Auch in der französischen Literatur betont man das Merkmal des Zwanges. Sehr klar ist in dieser Richtung die Meinung von Henri Levy-Ullmann, 5 der im Zwang „le trait véritablement spécifique" sieht. Auch der große französische Rechtsdenker François Gény, den man sicher nicht zu den Rechtspositivisten zählen kann, sieht im Zwang eines der bestimmenden Merkmale des Rechts und definiert das Recht als „règlement imposé, sous une sanction sociale coërcitive, à la conduite des hommes vivant en société." 6 Auch der bekannte Rechtstheoretiker Burckhardt 7 bekennt sich zum Zwang als wesentlichem Merkmal des Rechts: „Der Zwang ist nicht nur ein zufälliges Moment, das zum fertig gedachten Recht hinzukommen mag, sondern ein mit der Rechtsnorm folgerichtigerweise immer schon mitgedachtes Moment." 1

Thomas von Aquino, Summa theologica, prima secudae, quaestio 96, art 5. Immanuel Kant, I.e. S. 37. 3 Blackstone, Commentaries, 5. Aufl., 1765, Bd. I, S. 57; vgl. zum folgenden William Ebenstein, Die rechtsphilosophische Schule der reinen Rechtslehre, S. 79. 4 Edward Jenks, The Book of English Law, S. 4. 5 Henri Levy-Ullmann, Elements d'introduction générale à l'étude des sciences juridiques, Bd. I, S. 67 f. 6 François Gény, Science et Technique en droit positive privé, Bd. I, S. 43. 7 W. Burckhardt, Organisation der Rechtsgemeinschaft, 1927, S. 235; derselbe, Methode und System des Rechts, 1936, S. 56; derselbe, Vom Rechtszwang, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 1936, S. 165; vgl. zum folgenden William Ebenstein, Die rechtsphilosophische Schule der Reinen Rechtslehre, 1938, S. 79ff. 2

§47. Das Recht und die Macht

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Am schärfsten freilich betont das Merkmal des Zwanges Hans Kelsen 8 und vindiziert dieses Merkmal für jede einzelne Rechtsnorm. In seiner Schrift „General Theory of Law and State" betont Kelsen, 9 daß die Sanktion einer der Grundbegriffe der Jurisprudenz ist. Der Zwang als „unentbehrlicher Bestandteil des positiven Rechts" bedeutet aber nach Kelsen keine Wirklichkeit, sondern bloß einen Norminhalt. Daß die Rechtsnorm eine Zwangsnorm ist, w i l l nur sagen, daß sie eine Zwang anordnende Norm sei. Kelsen versucht also das soziologische Moment des faktischen physischen Zwanges in die normative Ebene zu transportieren. 10 Gegen diese Ansicht wendet Julius Moór ein, 1 1 daß es nicht richtig ist, die Rechtsnormen als Zwang anordnende Normen und den rechtlichen Zwang als Rechtsinhalt aufzufassen, und auf diese Weise den Begriff des Rechtes durch den Rechtsinhalt bestimmen zu wollen. Moór sagt weiter, daß es zweifellos ist, daß ebenso wie der Prozeß der Rechtserzeugung und der Rechtsanwendung auch die Zwangsanwendung Gegenstand einer rechtlichen Regelung werden kann, zwischen den Rechtsnormen kann es zweifellos solche geben, die Zwang anordnen, und die Durchführung des angeordneten Zwanges näher regulieren. Der Rechtsinhalt ist aber - wie weiter Moór argumentiert immer zufällig. Und weiter: 1 2 „Die Zwang anordnende Norm muß nämlich ebenfalls wirksam sein, es muß also tatsächlich Zwang angewendet werden, damit die Zwang anordnende Norm als eine rechtliche betrachtet werden könne." Es ist durchaus richtig, daß die Rechtsnorm demnach nicht nur als eine Zwang anordnende Norm erscheint, sondern als eine solche, die mit dem Faktum des physischen Zwanges, mit der tatsächlich Zwang anordnenden Wirklichkeit in engster Beziehung steht. Der einen „unentbehrlichen Bestandteil des positiven Rechtes" bildende Zwang kann also nicht aus einem Faktum in einen bloßen Norminhalt umgewandelt werden. „Der Versuch einer rein normativen Auffassung des rechtlichen Zwanges bedeutet nur die Behauptimg eines α priori feststehenden Rechtsinhaltes und so die Annahme des naturrechtlichen Standpunktes, wie den überhaupt... die rein normative Auffassung notwendig zum Naturrechte führen muß." 1 3 Man muß Moór beipflichten, daß nicht einzusehen ist, warum das Naturrecht keine Zwang anordnende Norm enthalten sollte. Die rein normative Auffassung des Zwangsmomentes verwischt den Unterschied zwischen dem positiven Recht und dem Naturrecht.

8

Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 48. Hans Kelsen, General Theory of Law and State, S. 51. 10 Hans Kelsen, Die Idee des Naturrechts, S. 225; vgl. Julius Moór, Reine Rechtslehre, Naturrecht und Rechtspositivismus, Festschrift Hans Kelsen zum 50. Geburtstage, 1931, S. 91. 11 Julius Moór, I.e. S. 91. 12 Julius Moór, I.e. S. 91 f. 13 Julius Moór, I.e. S. 92. 9

22 Kube§

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

Aus der Reihe von Autoren, die im Zwang keineswegs ein essentielles Merkmal des Rechts sehen, kann man vor allem Kants großen Gegner Fries 14 und seinen Nachfolger Leonard Nelson 15 anführen. In einer Polemik mit Kants Meinung, daß „Recht und Befugnis, zu zwingen, einerlei sind", bemerkt Fries ironisch: „Es ist ein evidenter oder leicht erweislicher Satz, daß jedes Recht mit einer Befugnis zu zwingen, verbunden sei." „Diese Befugnis ist aber selbst ein Recht, daß mir zukommt, jeden zu zwingen, der mir mein Recht überschreitet; diesem Rechte muß also wieder eine Rechtspflicht des andern entsprechen, auf jeden Fall sich zwingen zu lassen; wofür mir dann wieder eine Befugnis gehört, ihn zu zwingen, daß er sich zwingen lasse und so fort, soweit es gefällig ist." Dazu bemerkt mit Recht Julius Binder 16, daß dies dieselbe Methode ist, die noch heute mit Vorliebe in der Friesschen Schule geübt wird, durch eine scheinbar nüchterne logische Folgerung den Gegner ad absurdum zu führen und den Beifall des Publikums einzukassieren. In Wahrheit ist diese scheinbar so einleuchtende und so logische Operation durchaus fehlerhaft; denn sie beruht auf einer Vermengung heterogener Gesichtspunkte. Es ist eben nicht so, daß ich ein Recht habe, zu dem die Zwangsbefugnis hinzutritt, die selbst wieder ein Recht ist, sondern ich habe ein einziges und einheitliches Recht, daß in der durch den Staat gewährleisteten Möglichkeit des Zwanges besteht; und so wenig das Recht nur das Gegenstück der Pflicht ist, so wenig ist die Behauptung Friesens begründet, dem Rechte, zu zwingen, müsse eine Pflicht, sich zwingen zu lassen, gegenüberstehen. Und ebenso ist die weitere Behauptung von Fries, unbegründet, daß dem Zwangsrecht und dem Rechtszwang eine Pflicht, sich zwingen zu lassen, gegenüberstehe, sondern kraft meines Rechtes übe ich den Zwang aus, der unmittelbar in das Leben des Gegners eingreift. Ganz im Geiste und Sinne seines Meisters stellt der große Anhänger und Erneuerer der Friesschen Philosophie Leonard Nelson 17 fest: „Eine imbefangene Betrachtung der aller willkürlichen Definition vorhergehenden Bedeutung des Wortes ,Recht' zeigt jedoch, daß es für den Rechtscharakter einer Verhaltensnorm weder notwendig, noch hinreichend ist, daß es eine zur Erzwingung des vorgeschriebenen Inhalts erforderliche Macht gibt. Man mag es vorziehen, eine mit der Macht zu zwingen verbundene Norm des Verhaltens als solche Recht zu nennen, so ändert dies doch nichts daran, daß das, was diese Norm vorschreibt, im ursprünglichen Sinn des Wortes vielleicht gar nicht Recht, sondern möglicherweise sogar größtes Unrecht 14

Fries, Philosophische Rechtslehre, S. 25 f. Leonard Nelson, Ethik I, S. 159; derselbe, Rechtslehre, S. 4, 47ff., 74; derselbe, Rechtswissenschaft ohne Recht, S. 107f.; vgl. zum folgenden Julius Binder, Philosophie des Rechts, 1925, S. 352ff. 16 Julius Binder, I.e. S. 352. 17 Leonard Nelson, Ethik, S. 159; vgl. Julius Binder, I.e. S. 355ff. 15

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bedeutet, und daß andererseits, wenn sie wirklich verbindlich ist, ihr diese Verbindlichkeit auch ohne diese Erzwingung zukommt. Wenn etwas Recht ist, so kann es nicht dadurch aufhören, Recht zu sein, daß die zu seiner Erzwingung nötige Macht wegfällt, und wenn es nicht Recht ist, so kann es nicht dadurch Recht werden, daß eine es zwingende Macht hinzukommt." Gegen diese Ausführungen von Nelson wendet wieder mit Recht Binder ein, daß es zwar selbstverständlich ist, daß die nackte Macht keinesfalls genügt, damit Recht existiere, daß aber Nelson überhaupt nicht bewiesen hatte und auch nicht beweisen konnte, daß das Recht ohne Macht, ohne den organisierten Zwang, überhaupt existieren kann. Einer der größten Zivilisten, Armin Ehrenzweig, stellt ebenfalls ausdrücklich fest, 18 daß heute der Zwang ein regelmäßig vorhandenes Kennzeichen, aber kein logisches Begriffsmerkmal des Rechtes ist. „Ein Recht, daß des organisierten Zwanges entbehrt und es auf die Selbsthilfe des Verletzten ankommen läßt, erscheint uns als ein unvollkommenes, ungenügend gesichertes Recht", sagt Ehrenzweig zwar mit Recht, übersieht aber dabei, daß auch bei diesem unvollkommenen Recht die Selbsthilfe des Verletzten eine Sanktion darstellt. Auch z.B. Franz Weyr 19 stellt sich entschieden gegen die Kelsensche Auffassung der Rechtsnorm und der Rechtspflicht in Verbindung mit der Sanktion und sieht im Rechtszwang keineswegs ein Essentiale des Rechts. In diesem Zusammenhang kann man auch z.B. Thon, 20 Jellinek 21 und Enneccerus 22 anführen. Meiner Meinung nach ist dieser große Streit, ob der Zwang, bzw. der organisierte Zwang, ein essentiales Merkmal des Rechts ist oder nicht, in der Weise zu entscheiden, wie ich in meiner Schrift „Die Unmöglichkeit der Leistung und die Rechtsnorm" 23 gezeigt habe: Es ist hier - wie auch bei dem Merkmal der Faktizität und bei der Problematik der Geltung des Rechts notwendig, zwischen der einzelnen Rechtsnorm und dem Recht als einem Ganzen zu unterscheiden. Das Merkmal des organisierten Zwanges ist kein Essentiale der einzelnen Rechtsnorm. Die einzelne Norm ist eine Rechtsnorm, wenn man sie in das Ganze der Rechtsordnung einreihen kann. Wenn es demgegenüber um das Recht, um die Rechtsordnung, als um ein Ganzes geht, dann ist das Merkmal des organisierten Zwanges ein Essentiale in dem Sinne, daß nur die Ordnung eine Rechtsordnung ist, nur der Inbegriff von 18 Armin Ehrenzweig, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, Erster Bd., erste Hälfte: Allgemeiner Teil, 6. Aufl., 1925, S. 45. 19 Franz Weyr, Teorie prâva (Theorie des Rechts), S. 352 f. 20 Thon, Rechtsnorm, S. 7. 21 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 304f. 22 Enneccerus, Allgemeiner Teil, 21. Aufl., § 28. 23 Vladimir Kübel·, Nemoènost plnëni a prâvni norma (Die Unmöglichkeit der Leistung und die Rechtsnorm), 1938, S. 220ff.

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

Normen ein Inbegriff von Rechtsnormen, Recht, welcher sich im Durchschnitt seiner Normen durch den organisierten Zwang ausweist, d.h. wo die Mehrzahl von Normen auf organisierte Art sanktioniert ist, d.h. auf deren Verletzung als Folge eine organisierte Sanktion festgesetzt ist und auch im Durchschnitt diese Sanktion realisiert wird; dadurch geht dieses Merkmal des organisierten Zwanges schon in ein weiteres Merkmal, nämlich in das Merkmal der Faktizität der Rechtsordnung im Durchschnitt über. Beim Recht als einem Ganzen geht es um einen äußerlichen organisierten Zwang, um die Exekution und die Strafe. Manchmal legt man diese zwei typischen Arten von Sanktionen koordiniert nebeneinander, wie es z.B. Kelsen tut, 2 4 ein anderesmal spricht man von der Strafe als von einer besonderen Art der Exekution, und zwar als von einer besonderen Art des indirekten Zwanges. 25 Keinesfalls genügt es aber, den organisierten Zwang als einen bloßen Bestandteil des Norminhaltes zu begreifen, sondern es ist unbedingt notwendig, daß die wirkliche Realisation dieses organisierten Zwanges im Durchschnitt der Fälle hinzutrete. Das Recht ist ein komplexes Gebilde, das alle Schichten der realen Welt durchdringt und auch in die tragende und gleichzeitig niedrigste Schicht der realen Welt, in die Schicht des anorganischen Seins, eingreift, und das gerade durch den organisierten Zwang im Durchschnitt und durch die Faktizität im Durchschnitt. III. Das geschriebene Recht und auch das Gewohnheitsrecht sind komplexe Gebilde, welche alle Schichten des stufenförmigen Aufbaues der realen Welt durchdringen. Das Recht ist ein komplexes Gebilde, und zwar: 1. Es ist vor allem objektivierter Rechtsgeist, der auf dem objektiven Rechtsgeist (auf dem Rechtsempfinden und der Rechtsüberzeugung des Volkes der betreffenden Gemeinschaft) und auf dem personalen Rechtsgeist (auf dem Rechtsempfinden und der Rechtsüberzeugung einzelner Menschen) beruht und durch diesen objektiven und personalen Rechtsgeist getragen wird und sie gleichzeitig trägt; den Kern bildet natürlich der objektivierte Rechtsgeist. 2. Das Recht greift auch in das seelische Sein ein; die Macht - als ein essentieller Bestandteil des Rechts - ist auch eine Macht im Denken einzelner Menschen. Hier werden immer noch nicht geklärte Kategorien des see24 Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 17, 48; vgl. Franz Weyr, Studie k pojmu exekuce (Eine Studie zum Begriff der Exekution), Vëdeckâ roöenka prâvnické fakulty Masarykovy university (Das wissenschaftliche Jahrbuch der juristischen Fakultät der Masaryk Universität), VIII, S. 23. 25 Jaromir Sedlâcek, Vèeobecné nauky (Allgemeine Lehren), S. 275; vgl. Hynek Bulin, Éxekuce a trest (Exekution und Strafe), Kallabs Festschrift, S. 33.

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lischen Seins in Frage kommen; es gelangt hier wieder die psychologische Untersuchung zur Geltung, wenn auch in korrigiertem Maß. Viele wertvolle Ergebnisse findet man besonders in den rechtspsychologischen Untersuchungen Petrazyckis. 3. Das Recht greift auch in das organische Sein ein, weil das Recht untrennbar mit den organischen Trägern dieses Rechts verbunden ist. 4. Auch das physisch-materielle Sein mit seinen Kategorien kommt in Frage, weil der organisierte Zwang ein Essentiale des Rechts ist. Das Phänomen des Rechts hat also für sich alle Seinsschichten genau so, wie der Aufbau der realen Welt sie für sich hat. Diese Erkenntnis kann man brachylogisch auch so ausdrücken, daß das Phänomen des Rechts alle Schichten des Aufbaues der realen Welt durchgeht und sie erfaßt. Es ist allerdings wahr, daß bei weitem das größte Gewicht auf der Seinsschicht des geistigen Seins ruht, wo die eigentlichste Domäne des Rechts ist. Die weiteren Seinsschichten, auch wenn sie im Phänomen des Rechts in bedeutender Weise hervortreten, treten doch im Verhältnis zum geistigen Sein in den Hintergrund. In dieser Tatsache beruht eben - wenn man es schon hier andeuten darf der Unterschied zwischen dem Recht und dem Staat. Beim Staat - wenn man hier von einem weiteren Unterschied absieht und zwar, daß für uns der Begriff des Rechts viel umfangreicher ist als der des Staates, da auch das Völkerrecht ein Recht ist - kommen gleichzeitig alle Schichten des realen Seins in Betracht und machen sich geltend. Das wurde schon von alters her geahnt und hat, wenn auch nicht genügenden Ausdruck in der Lehre von den Elementen des Staates gefunden. Beim Staat spielen eine gleich bedeutende Rolle das Gebiet, welches in die Schicht des physisch-materiellen Seins gehört, das Volk (es kommen die Schichten des organischen, seelischen und personalgeistigen Seins in Betracht), und das rechtliche Moment (das überwiegend in das geistige Sein gehört). Es ist also klar, daß nicht nur das Recht, sondern auch der Staat ein zusammengesetztes, komplexes Gebilde ist, das durch alle Schichten des realen Seins hindurchgeht. Der Unterschied liegt in dieser Richtung nur in der Betonung einzelner Seinsschichten. Wenn wir vom Recht sprechen, steht die Schicht des geistigen Seins im Vordergrund. Wenn wir vom Staat sprechen, legen wir einen gleichmäßigen Nachdruck auf alle Schichten des stufenförmigen Aufbaues der realen Welt.

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§ 48. Die doppelte Transzendenz der Rechtsordnung In der Überschrift haben w i r soeben von einer Transzendenz der Rechtsordnung gesprochen. Der Grund dafür ist, daß wir doch zwischen dem Recht als einem komplexen, zusammengesetzten Phänomen, das alle Seinsschichten durchdringt, und der Rechtsordnung im engen Sinn des Wortes als einem bloßen System von Normen unterscheiden müssen. Von einer doppelten Transzendenz kann man daher nur bei der Rechtsordnung (allerdings im engen Sinne) sprechen; bei der Rechtsordnung als solcher handelt es sich wirklich um doppelte Transzendenz, nicht aber beim Recht als solchem, welches in alle Seinsschichten gehört. Beim „Recht" in der Form des objektivierten Rechtsgeistes, bei der Rechtsordnung, beim objektivierten Rechtsgeist, haben w i r es mit doppelter Transzendenz aus der Schicht des geistigen Seins zu tun. Erstens handelt es sich um die Transzendenz in der Richtung nach unten. In der dialektischen Komplexheit aller Schichten der realen Welt - allerdings mit sehr scharfer Betonung des geistigen Seins - und aus der dialektischen Komplexheit der Kategorien dieser Schichten mit den Kategorien der Normativität, der Zwecktätigkeit, der Kausalität und der Wechselwirkung usw. besteht das Phänomen des Rechts als solches. Zweitens handelt es sich um eine Transzendenz in der Richtung nach oben, in der Richtung zur Welt der Idealität, zum Reich der Normideen, in unserem Fall zur Normidee des Rechts, jener dialektischen Synthese der Gerechtigkeit, der Rechtssicherheit, der Zweckmäßigkeit und der Freiheit des konkreten Menschen. Diese Transzendenz nach oben kommt sowohl bei der Rechtsordnung im engeren Sinn wie auch beim Recht als solchem in Betracht. Der Mensch mit seinem personalen Geist, der Mensch als Subjekt und Person, der Mensch mit seiner Fähigkeit der Voraussehung, Vorausbestimmung, mit der Fähigkeit, die Stimme und die kategorische Pflicht der Normideen wahrzunehmen, der Mensch mit der Fähigkeit der Zwecktätigkeit und mit seinem freien Willen, ist der einzige Vermittler zwischen der Welt der Realität, konkret zwischen dem Phänomen des Rechts, und auch, und zuerst dem objektiven Rechtsgeist mit der realen Idee des Rechts an der Spitze, und der Welt der Idealität, konkret der Normidee des Rechts. Die kategorische Pflicht der Normidee des Rechts wird von Menschen in den personalen Rechtsgeist (in das Rechtsbewußtsein, in die Rechtsüberzeugung des konkreten Menschen) umgeschmolzen, und auf diese Weise wird dann in langer Entwicklung eine weite Sphäre des objektiven Rechtsgeistes (des Rechtsbewußtseins, der Rechtsüberzeugung des Volkes der betreffenden Rechtsgemeinschaft) mit seiner abgeleiteten Normativität gebildet. Der objektive Rechtsgeist ist dann innerlich durch sein eigenes Wesen zu den Objektivationen gezwungen, es entsteht das geschriebene Recht und das

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Gewohnheitsrecht, welche auch abgeleitete Normativität, und zwar sekundär abgeleitete Normativität besitzen - die primär abgeleitete Normativität erweist der objektive Rechtsgeist - , kurz gesagt, es entsteht der objektivierte Rechtsgeist. In diesem Sinne kann man bildlich von der doppelten Transzendenz der Rechtsordnung, und zwar nach unten und nach oben, und von der Transzendenz des Rechts als solcher nach oben sprechen. Das Recht ist - wie schon mehrmals mit Nachdruck hervorgehoben wurde - ein zusammengesetztes, komplex-dialektisches Gebilde und sein Wesen kann man nur auf der Grundlage des dialektischen Zusammenfügens von Kategorien der Seinschichten verstehen, durch welche es hindurchgeht; dabei muß man sich von neuem vergegenwärtigen, daß der Kern in der Sphäre des geistigen Seins mit ihrer abgeleiteten Normativität besteht, welche nur dank der Verbindung des geistigen Seins mit der idealen Normidee des Rechts existiert. § 49. Die Idee und die Normidee des Rechts; die zwei Welten; Sein und Sollen I. In den vorausgehenden Ausführungen haben w i r die Frage des Wesens des Rechts gelöst, d.h. die Frage, ob das Phänomen des Rechts in die Welt der Realität oder in die der Idealität, bzw. in welche Seinsschichten der realen Welt, gehört. Wir haben erkannt, daß das Phänomen des Rechts in die reale Welt gehört und alle Schichten des stufenförmigen Aufbaues der realen Welt durchdringt, auch wenn vor allem die höchste Schicht dieses hierarchischen Aufbaues, nämlich die Schicht des geistigen Seins, in Betracht kommt. Das geschriebene Recht und das Gewohnheitsrecht sind vor allem objektivierter Rechtsgeist, der auf der Grundlage des objektiven Rechtsgeistes und der personalen Rechtsgeister ruht. Das Recht aber mit seinem essentiellen Merkmal, d.h. mit seinem organisierten Zwang, greift auch in alle anderen Schichten des Aufbaues der realen Welt ein. II. Andererseits haben wir aber schon mehrmals angedeutet, daß das Recht eine immerwährende Tendenz zur realen Idee des Rechts und letzten Endes zur idealen Normidee des Rechts aufweist. Alles Positive und Reale weist nämlich zu seinem Vorbild hin, zeigt eine wesensnotwendige, immanente Tendenz zur Richtigkeit und zwar zur absoluten Richtigkeit, obzwar diese Richtigkeit im absoluten Sinne unerreichbar ist. Das gilt besonders vom (positiven) Recht. Jedes (positive) Recht strebt gemäß seinem „allgemeinen Sinne" nach Richtigkeit; es kann zwar im einzelnen als unrichtig erkannt werden, aber im ganzen ist es, wie Rudolf Stammler mit Recht betont, 1 immer „ein Versuch, richtiges Recht zu sein."

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Was bedeutet aber diese Tendenz zur Richtigkeit? Nichts anderes als die Tendenz zur Welt der Idealität, zur Welt der Normideen, und wenn man speziell an das Recht denkt, eine Tendenz zur Normidee des Rechts. So ist z.B. für Gustav Radbruch 2 das Recht diejenige „Gegebenheit, die den Sinn hat, die Rechtsidee zu verwirklichen." Das Rechts ist für ihn 3 „der Inbegriff der Seinstatsachen, die den Sinn haben, Gerechtigkeit zu verwirklichen, gleichviel ob sie Gerechtigkeit erreicht, oder verfehlt haben; Recht ist, was den Sinn hat, die Rechtsidee in die Wirklichkeit umzusetzen. Der Rechtsbegriff ist an der Rechtsidee orientiert, die Rechtsidee geht dem Rechtsbegriff logisch voraus." Alle „positivistischen" Versuche, einschließlich des von Hans Kelsen, 4 sind ausnahmslos gescheitert. Jedes Positive und Relative tendiert und muß wesensnotwendig tendieren zum Idealen und Absoluten und begreiflicherweise setzt es dieses voraus. III. Schon in meinen früheren Arbeiten und zuletzt in den „Grundfragen der Rechtsphilosophie des Rechts" 5 und in meinem Beitrag „Das Recht und die Zukunft der Gesellschaft" 6 habe ich dargetan, daß ich in meiner Konstruktion des Rechts und im ganzen Zutritt zur philosophischen Auffassung der Welt, und besonders des Rechts - zum Unterschied von Nicolai Hartmann - von der grundlegendsten Voraussetzung ausgehe, daß es nicht nur bei den Individuen im Durchschnitt um eine aufsteigende Tendenz auf dem unendlichen Weg zur Erreichung der Vollkommenheit, also zur Erreichung der Normideen, und konkret-juristisch gesehen, zur Erreichung der Normidee des Rechts geht, sondern auch im geschichtlichen Ausblick mit Rücksicht auf die Menschheit als ein Ganzes. Nach der Ansicht von Nicolai Hartmann („Das Problem des geistigen Seins") ist es nicht möglich, durch ein Studium der Phänomene festzustellen, ob sich die Menschheit auf dem Wege zu den Normideen bewegt, also ob der grundsätzliche Fortschritt in der Entwicklung der ganzen menschlichen Gesellschaft eine empirische Gegebenheit ist. Durch das Studium der Phänomene kann man sicher diese Frage nicht beantworten. Doch hier handelt es sich nicht um eine Frage des Studiums der Phänomene, sondern um die fundamentalste Voraussetzung der 1

Rudolf Stammler, Die Lehre vom richtigen Recht, 1902, 2. Aufl., 1926, S. 57. Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl., S. 4. 3 Gustav Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, 2. Aufl., S. 34. 4 Hans Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, 1928, insbesondere S. 43ff.; siehe Vladimir Kübel·, Recht und Revolution, Österr. Zeitschrift für öffentl. Recht und Völkerrecht, 1979, S. 257ff. 5 Vladimir Kübel·, Grundfragen der Philosophie des Rechts, 1977, besonders Seite 33 ff. 8 Vladimir Kübel·, Das Recht und die Zukunft der Gesellschaft, Beitrag zum außerordentlichen Weltkongreß für Rechts- und Sozialphilosphie, Sydney-Canberra, 14. 21. August 1977, ARSP, Beiheft Neue Folge Nr. 11 (IVRX), 1979, S. Iff. 2

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Philosophie, der Rechtsphilosophie und jeder Wissenschaft überhaupt. Ohne diese Voraussetzung ist jede wissenschaftliche Tätigkeit undenkbar, ja widersinnig. Widersinnig wäre auch alles, was der Mensch tut. Widersinnig wäre das ganze menschliche Streben, widersinnig wäre das ganze menschliche Leben. Die immerwährende Tendenz zur Vollkommenheit, zur Erreichung der Normideen (der Normidee der Sittlichkeit, der Normidee des Rechts, der Normidee des Schönen, der Normidee der Wahrheit und Richtigkeit an der Spitze mit der Normidee des Guten, der konkreten Menschlichkeit) - auch Piaton, Augustinus, Kant, Herder, Hegel, Marx und Engels vertraten diese optimistische Grundeinstellung zur Entwicklung der Welt und der Menschheit - ist die notwendige Voraussetzung jeder Wissenschaft, weil diese sonst sinnlos wäre. IV. Und gerade in dieser fundamentalsten Voraussetzung ist die Konstruktion zweier „ Welten" verankert. Neben der realen Welt, die sich als ein grandioser Aufbau der vier grundlegenden Seinsschichten darstellt, existiert, weil sie notwendig existieren muß, eine ideale Welt, vor allem das Reich der Normideen. Der einzige bekannte Vermittler dieser zwei Welten ist der Mensch, als Subjekt und Person. Dieser Weg zur vollkommenen Erreichung der Normideen ist sicher unendlich. Die vollkommene Erreichung würde den Untergang des Menschen als solchen, die vóllkommene Identifizierung des Seins und des Sollens, die absolute Vollkommenheit bedeuten. Dabei handelt es sich keineswegs um irgendeine Metaphysik, um einen „Idealismus" oder „Spiritualismus". Es handelt sich vielmehr um eine gedankliche Notwendigkeit, um die Voraussetzung des Sinnes jeder philosophischen und jeder anderen Wissenschaft und des ganzen menschlichen Lebens überhaupt. Denn jede Wissenschaft, jede Kunst, jede Tätigkeit des Menschen und jedes Werk der Menschheit ist nur möglich, wenn alles das einen Sinn hat. Der Pessimismus des geschichtlichen Blickes bedeutet im voraus die Proklamation, daß alles, was der Mensch tut, sinnlos sei. Das ist ein Standpunkt, der im diametralen Gegensatz zur Wissenschaft steht. Jede Wissenschaft erfordert eine optimistische geschichtliche Einstellung. Aus der drohenden Tragödie des Relativismus, die noch dadurch verstärkt wird, daß man sich mit der modernen Astronomie die relative Bedeutung der Erde und des ganzen Sonnensystems vergegenwärtigt, rettet uns die eben angedeutete grundlegendste Voraussetzung, die auch durch das Sollen, dessen man sich im Urerlebnis des Gewissens bewußt wird, bestätigt wird. Zwischen dem Menschen als solchem, der in der reàlen Welt lebt, denkt und tätig ist, und dem Reich des reinen Söllens, dem Reich der Normideen, ist eine dauernde Spannung, welche sich eben in dem Urerlebnis des Sollens manifestiert. Es handelt sich nicht nur um eine Spannung zwischen dem

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

Menschen, der sich um ein reales Weltbild im Sinne der Naturwissenschaften bemüht, wie es einmal Max Planck genial angedeutet hat, und der Normidee der Wahrheit und Richtigkeit, sondern auch um eine Spannung zwischen dem Menschen, der sich um eine bessere Rechtsordnung, um eine bessere Moralordnung bemüht, und der Normidee des Rechts, bzw. der Sittlichkeit. Die Normideen gelten a priori und absolut und stellen das reine Sollen dar. Sie gehören der Welt der Idealität an. Dieses Sollen besteht grundsätzlich ohne Rücksicht auf die Welt, keinesfalls aber ohne Beziehung zu ihr. Diese Beziehung ist dem Menschen als Subjekt und Person gegeben. Der Mensch mit seinem persönlichen Geist überführt - wie schon mehrmals gesagt wurde - das Sollen und den Inhalt der Normideen und speziell der Normidee des Rechts, aus der Welt der Idealität in die Welt der Realität, und zwar in die Schicht des geistigen Seins. Dadurch wird schrittweise die breite Sphäre des geistigen Seins - des objektiven und objektivierten Geistes - mit abgeleiteter Normativität erfüllt. Die Schöpfung dieser Bereiche - wohin vor allem das Recht gehört - tritt, und zwar wieder gegenüber dem Menschen als Subjekt und Person, mit gewissen Forderungen und Ansprüchen, als abgeleitetes Sollen auf. Die Erkenntnis, daß der Mensch als Subjekt und Person unter einer doppelten Determination des Sollens, unter einer zweifachen Kategorie der Normativität gewisser Bereiche des geistigen Seins, und speziell des objektiven Rechtsgeistes und des objektivierten Rechtsgeistes, steht, ist für das Begreifen und die Lösung aller zentralen rechtswissenschaftlichen und rechtsphilosophischen Probleme von zentraler Bedeutung. In der realen Welt treten als abgeleitetes Sollen auch einzelne Ideen auf, die real sind, und die den einzelnen Normideen entsprechen und zu ihnen tendieren. Da sind die realen Ideen der Wahrheit und Richtigkeit, der Moral, des Rechts und des Schönen. Sie gehören zwar der Sphäre des objektiven Geistes an, sind aber progressiver, fortschrittlicher als der „allgemeine" objektive Geist. Sie stellen eine schöpferische Synthese des Denkens der besten Geister der derzeitigen Epoche dar. Wir müssen also zwischen den idealen Normideen, der Normidee des Rechts, und den realen Ideen, der Idee des Rechts, unterscheiden. V. Der Begriff

des Sollens hat mehrere Bedeutungen:

1. Das Sollen im reinen Sinne findet man nur in den Normideen. Nur die Normideen stellen sich als reines Sollen dar. Nur hier ist das Sollen absolut; es ist nicht formal, sondern es hat denselben Inhalt wie die betreffenden Normideen selbst. Das ganze Sein als solches ist ein Versuch, die ideale Höhe der Normideen zu erreichen und mit ihnen zusammenzufließen. Die ganze Kulturgeschichte ist nichts anderes als der kontinuier-

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liehe, immer von neuem unternommene und nie ans Ende gelangende Versuch, das reine Sollen der Normideen zu erreichen. Dieser Versuch bringt die Menschheit - trotz mancher Rückschläge - immer ein wenig weiter auf dem unendlichen Weg zu den Normideen. Es ist klar, daß das reine Sollen der Normideen ohne jede Beziehung zu irgendeiner Autorität und daher auch ohne jede Beziehung zu irgendeinem Willen ist. 2. Das Sollen im abgeleiteten Sinn ist der Schicht des geistigen Seins, dem personalen, objektiven und objektivierten Geist, eigen. Das abgeleitete Sollen dieser Sphäre entsteht durch die immerwährende Tätigkeit des Menschen als des Vermittlers zwischen der realen Welt und dem Reich der Normideen. Man begegnet dem abgeleiteten Sollen im Bereich der Rechtsordnung oder im Rechtsbewußtsein der betreffenden Gemeinschaft, aber auch in der geltenden Moral dieser Gemeinschaft. Das ist der wahre Grund für die Normativität des Rechts und der Moral. 3. Das Sollen als bloße formal-logische Kategorie. Nur dieses Sollen kennen z.B. Kelsen, Weyr und ihre Schüler. Grundsätzlich handelt es sich um eine typische Form der Verbindung zweier Tatbestände (des bedingenden und des bedingten Tatbestandes) in einer Norm. Es ist klar, daß dieses „formal-logische" Sollen ohne Beziehung zum abgeleiteten und in letzter Instanz zum reinen Sollen - ontologisch gesehen - sinnlos ist. VI. Wir haben schon mehrmals angedeutet, daß die reale Idee, bzw. die ideale Normidee des Rechts, die Quintessenz des rechtlichen Gedankens überhaupt ist. Sie ist das, wozu jede Rechtsordnung, um überhaupt eine Rechtsordnung zu sein, tendiert und notwendig tendieren muß. Aus allem, was bisher gesagt wurde, geht klar hervor, daß w i r keinesfalls die Ansicht derer, die überhaupt keine Idee, bzw. Normidee des Rechts sehen wollen, die nur den Begriff des Rechts kennen und die Rechtsidee als Rest des naturrechtlichen Denkens brandmarken, teilen können. In diese Gruppe der Rechtsphilosophen und Rechtstheoretiker gehören alle sog. Rechtspositivisten verschiedener Provenienz, wie z.B. die Vertreter des etatistischen Positivismus (John Austin mit seiner „analytischen" Rechtstheorie, aber auch - zumindest grundsätzlich - 7 die Begründer der Schule 7 Dazu und zum folgenden Walter Ott, Der Rechtspositivismus, 1976, S. 33ff.; vgl. aber auch Robert Walter, Der gegenwärtige Stand der Reinen Rechtslehre in: Rechtstheorie, Zeitschrift für Logik, Methodenlehre, Kybernetik und Soziologie des Rechts 1, 1970, S. 76; derselbe, Die Rechtstheorie in Osterreich im X X . Jahrhundert, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. LXIII/2, 1977, S. 191, wo Walter von dem kritischen Rechtspositivismus (hypothetischen Rechtspositivismus) der Wiener Schule spricht, weil die Reine Rechtslehre die Grundnorm voraussetzt; Walter ist der Ansicht, daß damit die reine Rechtslehre „die - von keiner Wissenschaft zu beantwortende - Frage, ob man einer effektiven Grundordnung gehorchen oder ob man gegen sie revoltieren soll", nicht beantwortet; derselbe, Kelsens Rechtslehre im Spiegel

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der Reinen Rechtslehre mit Hans Kelsen und Franz Weyr an der Spitze), die Vertreter des Gesetzespositivismus, besonders Bergbohm, die Vertreter des psychologischen Positivismus, namentlich der Anerkennungstheorie (Ernst Rudolf Bierling, Adolf Merkel, Georg Jellinek, Ernst Beling, Hans Nawiasky), die Vertreter des skandinavischen Rechtsrealismus der Uppsala Schule (Axel Hägerström mit seinem programmatischen Motto „Praeterea censeo metaphysicam esse delendam", 8 Lundstedt, Olivecrona und Alf Ross) die Vertreter des soziologischen Rechtspositivismus (Eugen Ehrlich, Max Weber, Theodor Geiger), die Vertreter des amerikanischen Rechtsrealismus (O. W. Holmes, Llewellyn usw.). Demgegenüber bejahen w i r - zumindest im Grunde genommen - die Auffassung von Denkern, die neben dem Begriff des Rechts noch die Rechtsidee konstruieren. Auch w i r orientieren den Begriff des Rechts an der realen Idee des Rechts, und letztlich an der idealen Normidee des Rechts. Zu dieser großen Gruppe gehören die uralten griechischen Philosophen, aber auch die alten römischen Juristen („Est autem ius a iustitia, sicut a matre sua, ergo prius fuit iustitia quam ius" - Glossa zu 1.1. pr D, 1) und von den modernen besonders Giorgio del Vecchio und Gustav Radbruch. Es ist bekannt, daß die philosophischen Lehren Windelbands, Rickerts und Emil Lasks die Grundlage der Rechtsphilosophie von Gustav Radbruch bilden. 9 Die Rechtsidee ist der Zentralwert, auf den alles Recht letzthin sinnhaft bezogen ist. 1 0 Die Rechtsidee in der Auffassung Radbruchs hat drei Bestandteile: die Gerechtigkeit, die Zweckmäßigkeit und die Rechtsicherheit. „Wertmaßstab des positiven Rechts, Ziel des Gesetzgebers ist die Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit ist ein absoluter Wert gleich dem Wahren, dem Guten, dem Schönen, also auf sich selbst gegründet und nicht von höheren Werten abgeleitet." 11 „Kern der Gerechtigkeit ist der Gedanke der Gleichheit. Seit Aristoteles werden zwei Arten der Gerechtigkeit unterschieden, in denen sich die Gleichheit in zwei verschiedenen Formen ausprägt:,Ausgleichende Gerechtigkeit' (justitia commutativa) bedeutet die absolute Gleichheit von Leistung und Gegenleistung, z.B. Ware und Preis, Schaden und Ersatz, Schuld und Strafe. Die ,austeilende Gerechtigkeit' (justitia distributiva) bedeutet die verhältnismäßige Gleichheit in der Behandlung einer Mehrzahl von Personen, z.B. ihre verschiedene Besteuerung nach Maßgabe ihrer verschiederechtsphilosophischet Diskussion in Österreich, Österr. Zeitschrift f. öff. Recht, NF 18/1968, S. 33 Iff.; derselbe, Die Trennung von Recht und Moral im System der Reinen Rechtslehre. Bemerkungen 2U Kriele, Rechtspflicht und die positivistische Trennung von Recht und Moral, ibid. 17, 1967, S. 123ff.; derselbe, Die Reine Rechtslehre in der K r i t i k der Methodenlehre Larenz, Österr. Juristen-Zeitung 16, 1961, S. 477 ff. 8 R. Schmidt (Hrs£.)> Die Philosöphie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, VII, Leipzig, 1929, S. 111; Walter Ott, Der Rechtspositivismus, S. 68. 9 Vgl. auch K a i l Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 98. 10 Vgl. Karl Larenz, I.e. S. 99. 11 Gustav Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, 2. Aufl., S. 24.

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nen Leistungsfähigkeit, ihre Beförderung nach Maßgabe von Dienstalter und Qualifikation". „So ist die austeilende Gerechtigkeit - das suum cuique - die Urform, die ausgleichende Gerechtigkeit eine abgeleitete Form der Gerechtigkeit." 12 „Zur Ableitung von Rechtssätzen bedarf die Gerechtigkeit der Ergänzung durch die Zweckmäßigkeit. Unter ,Zweck des Rechts' ist dabei nicht eine empirische Zwecksetzung zu verstehen, sondern die gesollte Zweck-Idee." 13 „Die Frage nach dem Zweck des Rechts mußte, soweit sie auf die ethischen Güter abgestellt war, im Relativismus enden. Da deshalb insoweit das richtige Recht nicht festgestellt werden kann, muß es festgesetzt werden, und zwar durch eine Macht, die das Festgesetzte auch durchzusetzen vermag. Dies ist die Rechtfertigung des positiven Rechts; denn die Forderung der Rechtsicherheit kann nur durch die Positivität des Rechts erfüllt werden. Damit zeigt sich als dritter Bestandteil der Rechtsidee: die Rechtsicherheit. " 1 4 Auch bei Julius Binder ist die „Rechtsidee" ein Zentralbegriff seiner ganzen Rechtsphilosophie, wie er sie in seiner zweiten Epoche, die durch sein großes Werk „Philosophie des Rechts" (1925) sich kennzeichnet, auffaßte. Seinen Standpunkt bezeichnet Binder selbst als „objektiven Idealismus". 15 „Damit ist eine Auffassung gemeint, die ,Idee' - im Sinne eines Letzten, Unbedingten, d.h. in sich Gründenden - nicht nur als ein transzendentales' Prinzip des Bewußtseins, sondern ebenso sehr auch als immanentes Prinzip des Seienden an sich." Auch für Karl Larenz steht das „positive" Recht seinem Sinne nach unter der Anforderung der Gerechtigkeit, und kann diese Anforderung nicht verleugnen, ohne aufzuhören „Recht" zu sein. 16 Die Rechtsidee hat nach ihm eine konstitutive Funktion und eine begrenzende Funktion. 1 7 Rechtsethische Prinzipien sind richtunggebende Maßstäbe rechtlicher Normgebung, deren innere Überzeugungskraft sie zu gestaltenden Faktoren der Rechtsentwicklung werden läßt. 18 „Sie sind, im Unterschiede zu den auf Zweckmäßigkeitsgründen beruhenden rechtstechnischen Prinzipien, ,Ideen' nicht lediglich im Sinne eines subjektiven Vorstellungsbildes, sondern objektiver, durch sich selbst einleuchtender ,Rechtswahrheiten'. Dies schließt freilich nicht aus, daß sie sich auf verschiedene Entwicklungsstufen des ,objektiven Geistes' mit verschiedener Intensität (oder auch noch gar nicht) geltend machen und somit ihrerseits an dessen geschichtlichen Wandel teilhaben." Sie (die Prinzipien) sind „Ausdrucksformen, Bewegungsrichtungen, Tendenzen des 12

Gustav Radbruch, I.e. S. 24f. Gustav Radbruch, I.e. S. 27. 14 Gustav Radbruch, I.e. S. 30. 15 Siehe zum folgenden Karl Larenz, I.e. S. 105; Esser, Einführung i n die Grundbegriffe des Rechtes und des Staates, 1949, S. 14. 16 Karl Larenz, I.e. S. 143. 17 Karl Larenz, I.e. S. 145, Anm. 2. Karl Larenz, I.e. S. 314. 13

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

objektiven Geistes, die sich im allgemeinen Rechtsbewußtsein geltend machen und im Gesetz wie in der Rechtsprechung ihren Niederschlag finden." „Als ,Rechtswahrheiten' sind sie also relativ auf den gesamten Inhalt des jeweiligen Rechtsbewußtseins, das seinerseits aber nur ein ,Rechts'Bewußtsein ist, sofern es ein Bewußtsein solcher Prinzipien ist, in denen sich die (eine und allgemeine) Rechtsidee darstellt und konkretisiert." 1 9 Heinrich Henkel lehrt, 2 0 daß die Rechtsidee einen Gegenstand bezeichnet, der dem positiven Recht vor- und übergeordnet ist, an dem das positive und zu positivierende Recht auszurichten ist. Die Rechtsidee ist nicht nur ein kritisches Wertungsprinzip, sondern auch ein Gestaltungsprinzip für neues oder zu erneuerndes Recht. Im Sinne der Lehre Radbruchs ist auch Henkel der Ansicht, daß die Rechtsidee drei Elemente oder Leitziele enthält, und zwar Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Rechtsicherheit, 21 die nicht in einem antinomischen Verhältnis zueinander stehen, wie Radbruch meint, sondern in einem Verhältnis der Polarität. 22 VII. Viele allerdings sehen die Idee des Rechts in der Idee der Gerechtigkeit (so z.B. Aristoteles, Thomas von Aquino, Hugo Grotius, Leibniz, Lasson, Stahl, Leonard Nelson). Aber auch hier begegnet man einer Vielzahl unterschiedlicher Ansichten darüber, was Gerechtigkeit ist. Die Gerechtigkeit w i r d als Harmonie (bei den Nachfolgern von Pythagoras ), aber auch z.B. bei Lasson), als fortwährender Ausgleich (Thesis-Antithesis-Synthesis bei Heraklit), als Weisheit und Wissen (bei Sokrates), als vollkommene Ordnung in der Seele und im Staate, als ein Sollen (bei Piaton), als Regel „aequitatis et conventiae", welche in „congruitate ac proportionalitate" besteht und bei der es sich um „Caritas sapientiae" (Leibniz) handelt, umschrieben. Es gibt allerdings auch eine große, jetzt uns nicht interessierende Gruppe von Denkern, die in der Gerechtigkeit nichts anderes als einen Begriff der Relation sehen und die Gerechtigkeit mit der Gesetzmäßigkeit identifizieren (z.B. Locke, Austin, Kelsen, Weyr, Felix Kaufmann). Trotzdem kann man als herrschende Meinung die Auffassung von Aristoteles bezeichnen. 23 Der Begriff der distributiven Gerechtigkeit erscheint in 19

Karl Larenz, 1. c. S. 314; derselbe, Festschrift für Arthur Nikisch, S. 301, S. 304f. Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie. Grundlagen des Rechts, 3. Aufl., S. 390. 21 Heinrich Henkel, 1. c. S. S. 390 ff. 22 Heinrich Henkel, I.e. S. 451 ff., 455f. 23 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Phil. Bibl. Bd. 5, 5. Buch, 2. - 8. Kap.; Gareis, Vom Begriff der Gerechtigkeit, 1907; G. Rümelin, Über die Idee der Gerechtigkeit, Kanzlerreden, 1907, S. 259ff.; M. Rümelin, Die Gerechtigkeit, 1920, E. Brunner, Gerechtigkeit, 1943; Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 93ff., 179ff.; derselbe, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 28ff., 70ff., 148ff.; Emge, Sicherheit und Gerechtigkeit, 1940; H. Heekel, Recht und Gerechtigkeit, 1955; Horvâth, Die Idee der Gerechtigkeit, Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. 5, 1928, 20

§49. Die Idee und die Normidee des Rechts v i e l e n V a r i a t i o n e n i n der stoischen Aquino ,

Hugo Grotius,

Radbruch,

R i c h t i g betont Henkel, 24

351

Philosophie, b e i Augustin,

Thomas

daß seit alters her d e m G e r e c h t i g k e i t s p r i n z i p

zwei M a x i m e n zugeschrieben werden: Jedem das Seine gewähren cuique tribuere) u n d wesentlich Verhältnis

der Ungleichheit

D i e Idee der Gerechtigkeit Idee des Richtigen

von

usw.

Gleiches

ungleich

gleich,

behandeln

wesentlich

(suum

Ungleiches

im

(Gleichheitsgesetz).

ist also n i c h t m i t der Idee des Sollens, m i t der

ü b e r h a u p t identisch. D i e Gerechtigkeit ist z w a r e i n S o l -

len, aber k e i n allgemeines Sollen, sondern e i n bestimmtes Sollen, eine A r t v o n Sollen, Sollen

eines bestimmten

Inhaltes.

F ü r die B e s t i m m u n g des

Inhaltes der Idee der Gerechtigkeit k a n n m a n sich der Auffassung v o n Aristoteles

anschließen, u n d z w a r i n der Präzisierung d u r c h Gustav

Rad-

bruch. 25 D i e Idee der Gerechtigkeit ist z w a r i n h a l t l i c h arm, aber w e r t v o l l u n d u n e n t b e h r l i c h . I m Wesen sagt sie n i c h t m e h r als daß das Gleiche gleich, das Ungleiche u n g l e i c h behandelt w e r d e n soll. Gerecht ist d a n n das, was diesem i n h a l t l i c h so b e s t i m m t e n Sollen entspricht. Ungerecht

ist das, was i h m

widerspricht.

S. 508ff.; Jöerges, Recht und Gerechtigkeit, ZR. Phil. Bd. 2,1919, S. 173ff.; Hans Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, 1953; Kriele, Kriterien der Gerechtigkeit, 1963; Lotmar, Vom Rechte, das mit uns geboren ist. Die Gerechtigkeit, 1893, S. 47ff.; René Marcic, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, 1957, S. 175ff.; Munzel, Recht und Gerechtigkeit, 1965; Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl., 1948, S. 24ff.; Perelmann, Über die Gerechtigkeit, 1967; Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 5. Aufl., 1956, S. 124ff.; derselbe, Vorschule der Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1959, S. 24ff.; derselbe, Justice and Equity in international relations, in: Justice and Equity in the international sphere, New Commonwealth Monograph, 1936, S. Iff.; H. Nef, Gleichheit und Gerechtigkeit, 1941; J. Pieper, Über die Gerechtigkeit, 2. Aufl., 1954; Max Salomon, Der Begriff der Gerechtigkeit bei Aristoteles, 1937; W. Sauer, Die Gerechtigkeit, 1959; Walter Schönfeld, Über die Gerechtigkeit, 1952; Thomas von Aquino, Recht und Gerechtigkeit, 18. Bd. der Summa theologica, hrsg. von der Albertus-Magnus-Akademie, 1953; Rudolf Stammler, Der Gedanke der Gerechtigkeit, Rechtsphilosophische Abhandlungen und Vorträge, Bd. 2,1925, S. 393ff.; Tammelo, Rechtslogik und materiale Gerechtigkeit, 1971; Troller, Die Gerechtigkeit rechtswissenschaftlich und phänomenologisch betrachtet, Festschrift für Fr. v. Hippel, 1967, S. 571 ff.; Trude, Der Begriff der Gerechtigkeit in der aristotelischen Rechts- und Staatsphilosophie, 1955; O. Tschadek, Über die Grenzen der Gerechtigkeit, 1951; Georgio del Vecchio, Die Gerechtigkeit, 2. Aufl., 1950; Wieacker, Wirldichkeit und Gerechtigkeit, Ber. d. Intern. Jur. Komm. 1961, S. 109ff.; J. Wolff, Über die Gerechtigkeit als principium iuris, Festschrift für Sauer, 1949, S. 103ff.; Julius Binder, Philosophie des Rechts, S. 362ff.; derselbe, Grundlegung zur Rechtsphilosophie, 1935, S. 162ff.; W. Burckhardt, Methode und System des Rechts, 1936, S. 244ff.; Engisch, Auf der Suche nach der Gerechtigkeit, 1971, S. 147ff.; Graf zu Dohna, Kernprobleme der Rechtsphilosophie, 1940, S. 71 ff.; Hans Ryffel, Rechts- und Staatsphilosophie, 1969, S. 219ff.; Reinhold Zippelius, Das Wesen des Rechts, 2. Aufl., 1969, S. 64ff.; Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1977, S. 391 ff. 24 Heinrich Henkel, I.e. S. 395f. 25 Zum folgenden Gustav Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, 2. Aufl., S. 24ff.; Heinrich Henkel, I.e. S. 395ff.

352

4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

Die Billigkeit ist nichts anderes als die Gerechtigkeit des konkreten Falles. Diese Feststellung erscheint vertretbar, obwohl über die Problematik der aequitas große Meinungsverschiedenheiten herrschen und schon zu Zeiten des Aristoteles über Cicero und über die anderen römischen Juristen bis zu Kant, Hegel, Lasson, Binder, Radbruch, Giorgio del Vecchio, darüber reichlich diskutiert wurde. In Übereinstimmung mit Aristoteles, 26 Radbruch, 27 Engisch, 28 Esser 29 und Henkel 30 kann man feststellen, daß Billigkeit nichts von der Gerechtigkeit Verschiedenes oder ihr gegenüber Gegengesätzliches ist, sondern sie ist nur der Ausdruck der einen der beiden im Widerstreit befindlichen Tendenzen der Gerechtigkeit, und zwar der verallgemeinernden und der individualisierenden Tendenz; Billigkeit ist Einzelfallgerechtigkeit. Auch die anderen Fragen, hauptsächlich die Frage des Verhältnisses zwischen Gerechtigkeit, Freiheit (Kant und Bruno Bauch) und Gleichheit (Fries) sind bedeutend und scharf diskutiert. Die Frage des Verhältnisses zwischen Freiheit und Gleichheit wurde in letzter Zeit auf dem Weltkongreß für Rechtsphilosophie und soziale Philosophie, der im Jahre 1975 in St. Louis stattfand, zum Hauptgegenstand der ganzen Sitzung. Damals habe ich dargetan, daß auch wenn man verschiedene Begriffe von Freiheit (z.B. Freiheit im rechtlichen Sinne, Freiheit im politischen Sinne, Freiheit im ökonomischen Sinne, Freiheit im sozialen Sinne, Freiheit im ethischen Sinne) unterscheiden kann und vielleicht auch soll, es unbedingt notwendig ist, zu einem komplex-dialektischen Begriff der Freiheit zu gelangen - und dasselbe gilt auch für den Begriff der Gleichheit - schon aus dem Grunde, weil sonst der ganze Vergleich zwischen diesen zwei Begriffen praktisch undurchführbar wäre. 31 VIII. Es ist bekannt, daß die Idee der Freiheit ein Zentralbegriff der ganzen Philosophie und Rechtsphilosophie von Immanuel Kant war. Das Recht selbst wurde bei ihm in der Idee der Freiheit verankert. Unsere Idee der Freiheit des konkreten Menschen bestimmt die Bedingungen, unter welchen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen und auch mit der Willkür der Staatsgemeinschaft nach dem allgemeinen Gesetz vereinbar ist. Der eine Mensch darf dem anderen und auch der Gemein26

Aristoteles, Nik. Ethik V. Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 5. Aufl., 1956, S. 127; derselbe, Vorschule der Rechtsphilosophie, 2. Aufl., S. 25f. 28 Engisch, Auf der Suche nach der Gerechtigkeit, 1971, S. 182. 29 Esser, Billigkeit und Billigkeitsrechtssprechung, Ringvorlesung der Tübinger juristischen Fakultät, 1963, S. 29; vgl. Heinrich Henkel, I.e. S. 423. 30 Heinrich Henkel, I.e. S. 423. 31 Vladimir Kübel·, Bemerkungen zu den Ideen der Gleichheit und Freiheit, Sammelband des Weltkongresses für Rechts- und soziale Philosophie, St. Louis 1975, hrsg. 1978, S. 627ff. 27

§49. Die Idee und die Normidee des Rechts

353

schaft niemals bloß ein Mittel, sondern muß immer einen Zweck bedeuten. Hierbei tritt der Kantsche Gedanke in den Vordergrund, welcher in einer Formulierung des kategorischen Imperativs lautet: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die Du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde." Gerade diese Idee der Freiheit des konkreten Menschen ist es, welche die Normidee des Rechts mit der Normidee des Guten und mit der Normidee der Sittlichkeit am stärksten verbindet. Gerade in dieser Idee der Freiheit des konkreten Menschen sind die Menschenrechte begründet. Zutreffend stellt Henkel fest, 32 daß mit dem Eintritt ins Leben dem Menschen ein Urbesitz zusteht, auf den er ein Recht hat, und zwar meiner Meinung nach nicht nur ein moralisches Recht, wie Henkel denkt, sondern auch ein „rechtliches" Recht, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, wie Henkel sagt, und noch ein Recht auf Sichgeltendmachen nach seinen Fähigkeiten. Richtig stellt Henkel fest, daß ihm auch das Recht auf eine Freiheitssphäre zukommt, innerhalb deren er seine Dispositionen treffen und auf die er sich zurückziehen kann, eine Privatsphäre, die dem Zudrang der anderen und auch der Gemeinschaft verschlossen ist. „Auch der Gemeinschaft gegenüber hat der Einzelne das Recht auf Respektierung dieses Freiheitsraumes der Person. Der Gemeinschaft steht das Recht nicht zu, den Einzelnen mit seiner gesamten Existenz für sich zu beanspruchen, ihn sozusagen zu verschlingen. Im Gegenteil liegt ihr die Pflicht ob, die Privatsphäre des Einzelnen mitsamt den Menschenrechten, die sich als Recht auf Gewissens-, Glaubens- und Meinungsfreiheit äußern, unter den Schutz ihrer Einrichtungen zu stellen." 33 „Aus der ontologisch begründeten Personenhaftigkeit des Menschen ergibt sich für das Recht die grundlegende Aufgabe des Schutzes und der Sicherung der existentiellen Freiheit durch Statuierung von Menschenrechten (Grundrechten), Freiheitsrechten." 34 IX. Die Idee der Rechtsicherheit ist ein Gedanke der Ordnung und des Friedens. Man kann zwar nicht ohne weiteres sagen, daß eine ungerechte Ordnung besser ist als das Chaos. Denn erstens ist der Weg aus einer ungerechten und unfreien Ordnung zu einer gerechten und freien Ordnimg praktisch nur über das Chaos möglich. Zweitens führt das Dictum Zacharias von der bevorzugten Stellung der Idee der Sicherheit, deren Begründung im „ne conturbaretur ordo" besteht, am Ende zu dauerndem Sklaventum, zur Petrifizierung einer ungerechten und unfreien Ordnung. Trotzdem aber steckt im Gedanken der Ordnung und des Friedens ein gesunder und richtiger Kern, weil das Recht die Ordnung und die Negation 32 33 34

Heinrich Henkel, I.e. S. 76. Heinrich Henkel, I.e. S. 76. Heinrich Henkel, I.e. S. 265,

23 KubeS

354

4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

des Chaos ist. Das Recht tendiert sicher zur Gerechtigkeit und zur Freiheit des konkreten Menschen. Gleichzeitig aber muß ihm eine ordnende Funktion zukommen. Das ist der Grund, warum die Idee der Sicherheit, der Rechtssicherheit, 35 Bestandteil der Normidee (und selbstverständlich auch der realen Idee) des Rechts ist. In diesem Zusammenhang stellt Gustav Radbruch fest, 36 daß man unter Rechtssicherheit nicht die Sicherheit durch das Recht, etwa die Sicherung vor Mord, Totschlag, Diebstahl - dieses ist in der Idee der Zweckmäßigkeit enthalten - sondern Sicherheit des Rechts selbst verstände. Diese fordert erstens, daß das Recht positiv, daß es gesetzliches Recht ist, zweitens, daß dieses gesetzte Recht seinerseits sicher, d. h. auf Tatsachen gegründet ist und nicht den Richter im Übermaß 37 auf eigene Werturteile über den Einzelfall verweist, etwa durch Generalklauseln wie „gute Sitten", „Treu und Glauben", drittens daß diese rechtsbegründeten Tatsachen möglichst irrtumsfrei festzustellen, daß sie „praktikabel" sind, und viertens darf positives Recht nicht allzu leicht der Abänderimg unterliegen, nicht einer Gelegenheitsgesetzgebung anheimfallen, die die Umprägung jeden Einfalls in Gesetzesform ohne Hemmung ermöglicht; die „checks and balances" der Gewaltenteilungslehre, die Schwerfälligkeit des parlamentarischen Apparates sind unter diesem Gesichtspunkt eine Garantie der Rechtssicherheit. Es geht also um Orientierungssicherheit, um Bestimmtheit des Rechts, besonders um Klarheit, Einfachheit und Übersichtlichkeit des Rechts im ganzen, um die Tatbestands- und Rechtsfolgebestimmtheit, und sicher auch um die Sicherheit der Rechtsbewährung, also um die Realisierungssicherheit, um die Faktizität und Effektivität des Rechts, und so um die Friedenssicherung, und auch um die Stabilität des Rechts. 38 X. Schon Radbruch hat klar erkannt, 39 daß zur Ableitung von Rechtssätzen die Gerechtigkeit der Ergänzung durch die Zweckmäßigkeit bedarf. 35 Emge, Sicherheit und Gerechtigkeit, 1940; Germann, Rechtssicherheit, Schweizer Zeitschrift für Strafrecht, Bd. 49, 1935, S. 257ff.; M. Rümelin, Rechtssicherheit, 1924; Scholz, Die Rechtssicherheit, 1955; Wiedemann, Rechtssicherheit - ein absoluter Wert? Festschrift für Larenz, 1973, S. 199ff.; Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 1947, S. 366ff.; besonders Gustav Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, 2. Aufl., S. 30ff.; derselbe, Rechtsphilosophie, 5. Aufl., 1956, S. 146ff.; derselbe, Der Relativismus in der Rechtsphilosophie, in: Der Mensch im Recht (Vorträge und Aufsätze) 1957, S. 80ff.; derselbe, Der Zweck im Recht, ibid. S. 88ff.; Werner Maihofer, Vom Sinn menschlicher Ordnung, 1956; Heinrich Henkel, I.e. S. 436ff. 36 Zum folgenden Gustav Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, 2. Aufl., S. 30f. 37 Justus Wilhelm Hedemann, Die Flucht in die Generalklauseln, Die Gefahr für Staat und Recht, 1938. se Heinrich Henkel, I.e. S. 437ff. 39 Gustav Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, 2. Aufl., S. 27.

§49. Die Idee und die Normidee des Rechts

355

Die Idee der Zweckmäßigkeit drückt besonders aus, daß das Recht kein „Gehirnphänomen", sondern ein reales Gebilde ist und die praktische Lösung aller Fragen und Aufgaben ermöglichen soll, die aus dem notwendigen Zusammenleben der Menschen in einer konkreten Gemeinschaft entstehen. Diese Aufgaben sind real und praktisch. Sie müssen zweckmäßig gelöst werden. Die Idee der Zweckmäßigkeit findet ihre unüberschreitbaren Grenzen in den Ideen der Gerechtigkeit, der Freiheit des konkreten Menschen und der Rechtssicherheit. In der wechselseitigen, dialektischen Harmonisierung dieser vier Bestandteile der Normidee des Rechts manifestiert sich der Inhalt dieser Normidee. Ich halte es daher nicht für richtig, wenn Radbruch betont, 40 daß, während der Begriff der Gerechtigkeit der Rechtsphilosophie angehört, die Zweckidee des Rechts aus der Ethik entnommen werden müsse. Meiner Ansicht nach gehört der Begriff der Gerechtigkeit dem Recht und der Rechtsphilosophie an, ebenso wie die Zweckidee ein Bestandteil der Rechtsidee ist, und zwar der realen Idee des Rechts und der idealen Normidee des Rechts. Die Idee der Zweckmäßigkeit erfordert, daß das Recht ihm vorgegebenen und aufgegebenen Zwecken entspricht. 41 Diese Idee fordert auch, 42 die den verschiedenen Funktionen angemessenen Institutionen, Rechtsnormen und Maßnahmen vorzusehen und zur Verfügung zu stellen. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit beherrscht das gesamte Recht und bindet jeden Rechtsnormschöpfer. XI. Zur Frage der event. Rangordnung dieser vier Bestandteile der Idee und Normidee des Rechts und ihres wechselseitigen Verhältnisses kann man zuerst wieder die Meinung Radbruchs anführen. Nach Radbruch 43 bedürfen die Bestandteile der Rechtsidee einander zur Ergänzimg, daß die formale Natur der Gerechtigkeit zu ihrer inhaltlichen Erfüllung den Zweckgedanken benötigt, wie der Relativismus des Zweckgedankens Positivität und Sicherheit des Rechts verlangt. Sie „fordern einander, aber zugleich widersprechen sie einander. " Nach Radbruchs Meinung besteht ein entscheidender Widerstreit zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit. Die Rechtssicherheit fordert zwar die Anwendung positiven Rechts, selbst wenn es unrichtig ist, aber die gleichmäßige Anwendung unrichtigen Rechts, seine Anwendung morgen wie heute, auf den einen wie auf den anderen. Dies entspricht eben jener Gleichheit, die das Wesen der Gerechtigkeit ausmacht, nur daß hier - an der Gerechtigkeit gemessen - das Unrecht auf alle gleichmäßig gerecht verteilt wird; so begründet die Wiederherstellung der 40

Gustav Radbruch, I.e. S. 27. 1 Heinrich Henkel, I.e. S. 427. 42 Heinrich Henkel, I.e. S. 430. 43 Zum folgenden Gustav Radbruch, I.e. S. 32f. 4

23

356

4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

Gerechtigkeit zunächst eine ungleichmäßige Behandlung, also Ungerechtigkeit. Da also die Rechtssicherheit eine Form der Gerechtigkeit ist, ist der Widerspruch der Gerechtigkeit zur Rechtssicherheit ein Konflikt der Gerechtigkeit mit sich selbst. Dieser Konflikt kann nach der Meinung Radbruchs nicht eindeutig entschieden werden. „Die Frage ist eine Maßfrage: Wo die Ungerechtigkeit positiven Rechtes ein solches Maß erreicht, daß die durch das positive Recht verbürgte Rechtssicherheit gegenüber dieser Ungerechtigkeit überhaupt nicht mehr ins Gewicht fällt: in einem solchen Fall hat das ungerechte positive Recht der Gerechtigkeit zu weichen. In der Regel aber wird die Rechtssicherheit, die das positive Recht gewährt, eben als eine mindere Form der Gerechtigkeit, die Geltung auch ungerechten positiven Rechts rechtfertigen: legis tantum interest ut certa sit, ut absque hoc nec iusta esse posset ( Bacon)." 44 Es ist sicher schwer eine Rangordnung unserer vier Bestandteile der Rechtsidee zu bestimmen. Henkel lehrt, 4 5 daß eine prinzipielle Rangfolge zwischen Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit innerhalb der Rechtsidee aus dem Rechtsdenken selbst nicht herzuleiten ist. Trotzdem meine ich, daß diese Aufgabe erfüllbar ist, und eine Axiologie des Rechts w i r d sich mit dieser Frage beschäftigen müssen. Vorläufig kann ich nur andeuten, daß die Rangfolge folgende ist: Freiheit des konkreten Menschen, Gerechtigkeit, Rechtssicherheit, Zweckmäßigkeit. Was die Frage der Widersprüchlichkeiten zwischen diesen vier „Bestandteilen", vier Seiten der Idee bzw. Normidee des Rechts betrifft, muß man mit Rücksicht auf die heutige Lage der Erkenntnis zwar sagen, daß die einzelnen „Bestandteile" der Idee bzw. Normidee des Rechts zwar nicht in einem antinomischen Verhältnis zueinander stehen, wie Radbruch meint, 4 6 doch weisen sie eine Polarität auf, wie Henkel meint. 47 Unter Polarität versteht man „das Auseinandergehen einer und derselben Wesenheit in zwei entgegengesetzte, aber unzertrennliche Qualitäten, Kräfte, Richtungen, die man Pole nennt", 4 8 oder „gegensätzliches Verhalten, die Entfaltung einer Wesenheit nach zwei entgegengesetzten, doch aber sich gegenseitig bedingenden und ergänzenden Richtungen." 49 Henkel betont mit Recht, 50 daß die Vorstellung von Antinomien, jedenfalls im begrifflichen Sinne der unauflöslichen Widersprüche, der sich ausschlie-

44

Gustav Radbruch, I.e. S. 169. Heinrich Henkel, I.e. S. 450. 46 Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 5. Aufl., 1956, S. 168ff. 47 Heinrich Henkel, I.e. S. 445ff. 48 R. Hamerling, Atomistik des Willens I, S. 209; vgl. Heinrich Henkel, I.e. S. 456. 49 Schmidt-Streller, Philosophisches Wörterbuch, 13. Aufl., 1955, S. 466; vgl. Heinrich Henkel, I.e. S. 456. 50 Heinrich Henkel, I.e. S. 450f. 45

§ 49. Die Idee und die Normidee des Rechts

357

ßenden, unaufhebbaren Gegensätze, auf die Art und Mannigfaltigkeit der zwischen diesen Prinzipien bestehenden Beziehungen nicht zutrifft. Dieses Verhältnis als Polarität zu charakterisieren ist auch von einer anderen Seite gesehen voll begründet. Nach unserer Auffassung nämlich steht die Idee bzw. Normidee des Rechts auf der gleichen Ebene wie die Ideen (Normideen) der Wahrheit und Richtigkeit, der Sittlichkeit (der Moral) und des Schönen. Die Normidee des Rechts ist also etwas „relativ" Letztes und Höchstes, wenn man von der Tatsache absieht, daß die eben angeführten Normideen die höchste Normidee des Guten (der konkreten Menschlichkeit) bilden. Keine wirkliche „Gliederung" des Inhaltes der Normidee des Rechts ist daher zulässig. Wenn es sich um „Antinomien" zwischen unseren vier „Bestandteilen" dieser Normidee (Idee) des Rechts handeln würde, so wäre damit angedeutet, daß dies nicht so ist. Wenn es sich aber um eine Polarität handelt, so ist unsere Behauptung von der „relativen" Letztheit der Normidee (Idee) des Rechts richtig. Es geht doch um eine und dieselbe Wesenheit, die immer in zwei (Gerechtigkeit-Rechtssicherheit, Gerechtigkeit-Zweckmäßigkeit, Gerechtigkeit-Freiheit des konkreten Menschen, Freiheit-Rechtssicherheit, Freiheit des konkreten Menschen-Zweckmäßigkeit, Rechtssicherheit-Zweckmäßigkeit) zwar entgegengesetzte, aber unzertrennliche „Qualitäten", „Richtungen", „Gedanken" auseinandergeht. Und gerade in der Normidee des Rechts ist das „menschlich Wesentlichste" ausgedrückt - und eben das muß auch der Grund für die „Letztheit" dieser Normidee sein. XII. Auf dem dritten Kongreß des Instituts für Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie im Jahre 1937 in Rom waren zwei Grundfragen Gegenstand einer großen Diskussion, und zwar, ob der Zweck des Rechts transzendent ist, d.h. ob er außerhalb des rechtlichen Bereiches liegt, oder ob er dem Recht immanent ist, und weiter die Frage, ob die einzelnen Ideen, aus welchen die Rechtsidee besteht, antinomisch sind, oder nicht. Meiner Meinung nach ist das Attribut der Vernünftigkeit und Richtigkeit ebenso wie das der Gerechtigkeit, der Zweckmäßigkeit und der Freiheit des konkreten Menschen nur der Idee und Normidee des Rechts, nicht aber dem Recht als Phänomen eigen. Die Idee der Gerechtigkeit ist dem Recht als Phänomen transzendent, obwohl das Recht zur Rechtsidee, also auch zur Gerechtigkeit wesensnotwendig tendiert. Im Unterschied davon ist die Idee der Rechtssicherheit dem Recht als Phänomen immanent. Bei der Beantwortung der Frage, ob die einzelnen Ideen, aus welchen (d. h. ihrer dialektischen Synthese) die Rechtsidee besteht, antinomisch sind, oder ob sie eine Polarität aufweisen, muß man mit Rücksicht auf die heutige Lage der Erkenntnis einer bejahenden Auffassung von der Polarität zustimmen. Wenn man aber das Problem als ein solches der Normidee, deren praktische

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

Verwirklichung gewiß im Unendlichen liegt, begreift, dann muß man von der vollen Harmonie ausgehen und zu ihr tendieren. 51 Die Normidee des Rechts drückt die Notwendigkeit der unaufhörlichen Tendenz aus, auf dem menschlichen Wege nach vollkommener Erkenntnis weiter zu kommen, die Notwendigkeit beständiger Untersuchung und das unablässige Suchen des Neuen. Jetzt deckt sich die Normidee des Rechts inhaltlich mit der Idee des Rechts - beide haben gleichermaßen vier Bestandteile. Man weiß aber, daß der Inhalt der Normidee des Rechts im Gedanken seiner Vollheit notwendigerweise modifiziert sein muß - da ein Widerspruch im Inhalt der Normidee undenkbar ist. Und weiters: Ohne die absolute Normidee könnte auch nicht die relative Idee existieren. Die Relativität setzt die Absolutheit voraus. Überall ist die Beziehung auf die Normidee dem Relativen, Positiven, Realen schon immanent. Sie ist die innere Bedingung des Geltens selbst (N. Hartmann). 52

§ 50. Die rechtliche Geltung und die Verbindlichkeit; Normen contra humanitatem und das rechtlich-volitive Problem I. Den Weg zur Lösung der rechtlichen Geltung sah schon Piaton, der die Idee (Normidee) des Rechts im „unbedingten" Sollen, in der Grundnorm (allerdings in seinem Sinne), fand: Wenn ich von einer Norm behaupte, daß sie eine Rechtsnorm ist, dann setze ich den Begriff des „Rechts" fest. 1 Wenn ich dann die Rechnung über die prädikative Bedeutung dieses „RechtSeins" geben will, so kann ich dies nicht analytisch - aus dem Rechtssatz (circulus vitiosus) - sondern nur synthetisch, durch Setzung einer übergeordneten Norm, dann durch Setzung einer vorpositiven Norm und endlich durch Setzung der „Idee des Rechts" durchführen. 2 Hier ist in nuce nicht nur die Lösung der Frage der rechtlichen Geltung, sondern auch der stufenförmige Aufbau des Rechts angedeutet - allerdings mit einer Transzendierung der Positivität und mit einem Rekurs zur Idee des Rechts, wie schon gesagt wurde. Die Lösung der rechtlichen Geltung liegt wahrhaftig in dieser Linie: die einzelne Rechtsnorm muß sich - um gültig zu sein - im Delegationsrahmen der diesbezüglichen höheren Rechtsnorm befinden usw., bis wir zur staatlichen Verfassung kommen; dann noch weiter: die staatliche Verfassung muß 51

Vladimir Kübel·, Grundfragen der Philosophie des Rechts, 1977, S. 66f. Vladimir Kübel·, Das Recht und die Zukunft der Gesellschaft, Weltkongreß für Rechts- und Sozialphilosophie, Sydney-Canberra, 14. - 21. August 1977, S. 35. 1 Bohus Tomsa, Idea spravedlnosti a prâva ν recké filosofii (Die Idee der Gerechtigkeit und des Rechts in der griechischen Philosophie), 1923, S. 44f. 2 Piaton, Menon 86 E ff.; derselbe, Phaidon, 101 D; Johann Sauter, Die philosophischen Grundlagen des Naturrechts, 1932, S. 27. 52

§50. Die rechtliche Geltung und die Verbindlichkeit

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sich im Rahmen der diesbezüglichen Schichten des Völkerrechts befinden; dann - wenn man w i l l - kann man die hypothetische Grundnorm in Kelsens Sinne konstruieren; dann muß man aber die ganze „positive" Rechtsordnung, die ganze großartige Pyramide der Weltrechtsordnung als den „objektivierten Rechtsgeist" im objektiven Rechtsgeist (in objektiven Rechtsgeistern) mit der wissenschaftlichen rechtlichen Weltanschauung samt der realen Idee des Rechts verankern, um schließlich die letzte und höchste Stufe der Begründung des Rechts, d.h. die Normidee des Rechts, zu „erreichen", zu ihr tendieren. II. Und doch findet man bei der Frage nach der rechtlichen Geltung und der Verbindlichkeit eine unglaubliche Fülle unterschiedlicher Ansichten. Der Begriff der Geltung w i r d sehr verschieden erfaßt, einmal im naturrechtlichen Sinne, ein anderesmal psychologisch, soziologisch, phänomenologisch oder normativ, hegelianisch usw. 3 Die Gruppe der naturrechtlichen Denker w i l l das Recht in einem absoluten Wert verankern. Nach dieser Meinung gilt die Rechtsordnung letzten Endes nur, weil sie im Einklang mit der Idee der Gerechtigkeit, des Guten oder wie sonst diese naturrechtlichen Systeme ihre höchste und absolute Idee, ihr höchstes Kriterium bezeichnen, steht. Allerdings ist nicht jeder so aufrichtig und klar wie z.B. Rudolf Laun mit seiner Beobachtung, 4 daß das Recht die Sittlichkeit ist, daß „das Recht in den Herzen der Menschen ist." Die immittelbare Verankerung der Geltung des Rechts in einem absoluten Wert hat oft zur Folge, daß das Recht in der Moral verschwindet und so die Gefahr der Verschmelzung beider Phänomene, d.h. des Phänomens des Rechts und des Phänomens der Moral, besteht. Was die verschiedenen Richtungen der Macht- und Anerkennungstheorie betrifft, so stellt Arthur Kaufmann vollkommen zu Recht fest, 5 daß eine „faktische Geltung" eine contradictio in adiecto ist; „was Macht- und Anerkennungstheorie als solche ausgeben, ist, genau gesehen, keine Geltung, sondern nur die Erwartung, die Chance, daß eine Norm befolgt wird." Richtig ist auch seine Behauptung, 6 daß w i r die Geltung des Rechts nicht aus dem Zwang begründen können, aber daß vom gültigen Recht zu fordern ist, daß es, damit Ordnung und Rechtsfriede herrschen, notfalls mit Zwangsmitteln durchgesetzt wird. 3 Karl Larenz, Das Problem der Rechtsgeltung, 1929, S. 9ff.; Vladimir Kübel·, Nemoènost plnëni a prâvni norma (Die Unmöglichkeit der Leistung und die Rechtsnorm), 1938, S. 206ff. 4 Rudolf Laun, Recht und Sittlichkeit, 3. Aufl., 1935, S. 28; Karl Petraschek, System der Rechtsphilosophie, 1932, S. 141 ff. 5 Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie im Wandel. Stationen eines Weges, 1972, S. 229. 6 Arthur Kaufmann, I.e. S. 240.

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

Aber auch die „rein" formal-normative Geltung des Rechts in der Auffassung von Kelsen ist unrichtig oder zumindest ungenügend. Kelsen bezeichnet 7 mit dem Termin „Geltung" „die spezifische Existenz der Norm" als eines Sollens. „Wird die spezifische Existenz der Norm als ihre ,Geltung' bezeichnet, so kommt damit die besondere Art zum Ausdruck, in der sie zum Unterschied von dem Sein natürlicher Tatsachen - gegeben ist." „Daraus, daß etwas ist, kann nicht folgen, daß etwas sein soll ... Der Geltungsgrund einer Norm kann nur die Geltung einer anderen Norm sein." Aber Kelsen selbst hat diesen rein normativen Standpunkt zu der Frage der rechtlichen Geltung nicht konsequent durchgehalten. 8 So schreibt er: 9 „Jede Rechtsordnung (muß) um positiv zu sein, mit dem tatsächlichen Verhalten der Menschen, auf das sie sich bezieht, bis zu einem gewissen Grade übereinstimmen." Und weiters: 10 „Eine auf den Inhalt gerichtete Betrachtung muß auch auf das Problem stoßen, ob und welche Beziehungen zwischen dem Inhalt des Systems Recht als eines Systems gültiger Normen, und dem Inhalt zum System der Natur gehörigen, kausal determinierten tatsächlichen Geschehens, speziell dem Inhalt des von normbeinhaltenden Vorstellungen motivierten Verhaltens der Menschen bestehen. Unbeschadet der grundsätzlichen und uneingeschränkten Disparität der beiden Systeme wird man ohne weiteres die Tatsache zugestehen müssen, daß der Inhalt der Normen, und speziell der Rechtsnormen, die man als gültig voraussetzt, dem Inhalt des tatsächlichen Verhaltens bis zu einem gewissen Grade entspricht, daß tatsächlich nur Rechtsnormen als gültig vorausgesetzt werden, deren Vorstellungen wirksam sind. " Von einer geltenden Rechtsordnung kann nur gesprochen werden, wenn ihre „Normen im großen und ganzen angewendet und befolgt werden." „Wirksamkeit ist als Bedingung der Geltung in der Grundnorm statuiert." 1 1 Die Grundnorm erhält also den Inhalt, daß man derjenigen Rechtsordnung gehorchen soll, die im großen und ganzen angewendet und befolgt wird. - Diese Wirksamkeit ist aber nichts Normatives, sondern ein soziologischer Tatbestand 12 , der insbesondere bedingt ist durch das Faktum einer zuverlässig funktionierenden obrigkeitlichen Organisation. Daraus folgt für Zippelius, daß eine geltende Normenordnung also kein normativer Tatbestand ist, sondern in der Dialektik von Norm und Normvollzug existiert. - Auch die weitere Argumentation von Zippelius 13 betrachte ich als richtig: „Unangetastet bleibt aber die Erkenntnis, daß die 7

Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, Kap. 4, 34. Vgl. Reinhold Zippelius, Das Wesen des Rechts 2. Aufl., 1969, S. 23, 4. Aufl., 1978, S. 23. 9 Hans Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, 1928, S. 65. 10 Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 18 f. 11 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, Kap. 30. 12 Vgl. Reinhold Zippelius, I.e. S. 24. 13 Reinhold Zippelius, I.e. S. 24. 8

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Rechtfertigung solcher wirksamen' Normen nicht in dieser Wirklichkeit selbst, sondern nur in einer Norm gefunden werden kann. Soll aber wirklich konsequent nach der ,reinen' normlogischen Rechtfertigung durch eine transzendentallogische Norm geforscht werden, dann ist es wiederum angreifbar, daß Kelsen für jede einzelne Rechtsordnung eine eigene ,transzendental-logische' Grundnorm voraussetzt. ,Reiner' transzendental-logischer Geltungsgrund (eines Positivismus Kelsenscher Prägung) kann doch nur das Prinzip sein: daß man der je wirksamen Rechts- und Verfassungsordnung folgen solle. Er kann also nur eine allgemeine normologische Legitimierung allen je wirksamen Rechts sein." Laut der phänomenologischen Auffassung von Gerhart Husserl 14 ist die Seinsweise des positiven Rechts seine Geltung. Rechtsgeltung ist „ein Sein eigener Art." Sie ist „raumzeitlich gebunden," das „Erzeugnis historischeinmaliger Willens V o r g ä n g e " und „bleibt in die Zeitwirklichkeit, der sie entstammt, verwurzelt." Kraft seiner „Geltung" bindet das Recht diejenigen, die seinem historischen Geltungskreise angehören. Daß ein Recht gilt, bedeutet einmal, daß es die maßgebende Richtschnur darstellt für das w i l lentliche Verhalten der normbetreffenden Rechtssubjekte. Es bedeutet aber auch, daß es die Kraft hat, „sich gegenüber willentlichen Auflehnungen in seinem Bestände zu behaupten." 15 Es handelt sich weder um reine Faktizität, noch um ein psychisches Sein, noch um eine Welt irrealer bloßer Bedeutungen. „Vielmehr bezeichnet die ,Geltung' des Rechts das eigentümliche Bestehen von etwas, das den Sinn hat, innerhalb seines ,Geltungskreises' maßgebende Norm zu sein." 16 Interessant sind auch die durch die Hegeische Philosophie beeinflußten Lösungen der rechtlichen Geltung. So stellt Julius Binder 17 fest, daß „das Sein des Rechts ... in seiner Geltung besteht"; diese Geltung existiert wiederum darin, daß es „als Recht gewußt, beobachtet und angewendet wird." Die Geltung des Rechts besteht in der dialektischen Einheit von Norm und Normverwirklichung. - Karl Larenz lehrt: 1 8 „Das Recht ,gilt', sofern es positiv, sofern es eine Zeitwirklichkeit ist, die als solche einen überzeitlichen Sinn - die Idee des Rechtes - verwirklicht. Als verbindliche Norm hat es innerhalb der Rechtsgemeinschaft zeitlichen Bestand, indem es mit dem Anspruch auf Geltung gesetzt ist und so gewußt wird. Dem zeitlichen Bestände nach beruht seine Geltung auf einem Entstehungsakt - einem

14

Gerhart Husserl, Rechtskraft und Rechtsgeltung, 1925, S. 8; zum folgenden Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1960, S. 117f. 15 Gerhart Husserl, I.e. S. 13. 16 Karl Larenz, I.e. S. 118. 17 Julius Binder, Grundlegung zur Rechtsphilosophie, 1935, Kap. 1 und 4; derselbe, Logos 18, 1929, S. 29; vgl. Reinhold Zippelius, I.e. S. 25f. 18 Karl Larenz, Das Problem der Rechtsgeltung, S. 26.

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sinngebenden Tun, einer Normsetzung, - dem Grunde seines Normanspruchs, seiner Verbindlichkeit nach auf der überzeitlichen Gültigkeit der Idee. Die ,Rechtsgeltung' bedeutet also den zeitlichen Bestand einer Norm, deren Verbindlichkeit und das heißt, deren Bestand als Norm auf einem überzeitlichen Geltungsgrunde, der Idee des Rechtes, beruht. Die Rechtsgeltung selbst ist weder zeitlich noch überzeitlich, sondern wie alle Sinn-Wirklichkeit, alle ,Geltung' eines Kulturwerkes, Verzeitlichung eines Überzeitlichen, ein Zeitliches, das nur durch seinen überzeitlichen Sinn Wirklichkeit hat." „Das Recht ist ,wirklich' als die ,allgemeine Handlungsweise'; es ist eine im Dasein verwirklichte, von den Menschen im Bewußtsein ihrer Verbindlichkeit ständig eingehaltene und dadurch sich erhaltende ,Lebensordnung' - ein ,Sein', das die Bedeutung eines ,Gesollten' hat." 1 9 Das geltende Recht ist also das in Anwendung befindliche (nicht das von seiner Anwendung getrennt gedachte), durch Rechtswissenschaft und Rechtsprechung fortgebildete und ständig in der Fortbildung begriffene Ganze von Normen, Entscheidungsmaximen und als richtungsweisend angesehenen Urteilen. Von diesem ,realen corpus juris', wie es Esser genannt hat, 2 0 trifft zu, daß es ,die Zeitstruktur der Geschichtlichkeit' (Husserl) hat; seine ,Geltung' ist sein Dasein im Bewußtsein als ,objektiver Geist'. Als solcher ist es, wie Nicolai Hartmann gezeigt hat, 2 1 die innere Macht des gemeinsamen sittlichen Geistes im Bewußtsein der Menschen selbst; es gilt so nicht kraft äußerer Anordnung, sondern kraft der gemeinsamen Überzeugung seiner Richtigkeit (im Sinne der Angemessenheit an die Rechtsidee), wobei sich diese Überzeugung wiederum auf die Autorität (nicht: die Zwangsgewalt) sowohl des Gesetzgebers, wie der Gerichte und einer ,communis opinio doctorum' gründet ... jeder Rechtssatz stellt seinem Sinne nach eine Geltungsanordnung dar. Damit er zu wirklicher Geltung erstarrt und in der daseienden Ordnung verwirklicht wird, bedarf es seiner Aufnahme in das allgemeine Rechtsbewußtsein und hierzu wieder seiner Konkretisierung durch die Rechtssprechung und die ihr dabei zur Hilfe kommende Rechtswissenschaft. 22 Das ,allgemeine Rechtsbewußtsein', und insbesondere das der Richter, darf jedoch nicht gleichsam wie eine leere Hülse vorgestellt werden, die von außen her, etwa durch das Gesetz, mit Inhalt angefüllt wird. Vielmehr ist es, wie jedes Bewußtsein, ebenso empfangend wie tätig: Jeder Einzelne, der an der Bildung des Rechtsbewußtseins beteiligt ist - und das ist nicht nur der Richter, sondern auch jeder Rechtsgenosse, der um ,sein' Recht kämpft - , 2 3 trägt etwas zur Verwirklichung und Fortentwicklung des Rechts 19

Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. Aufl., 1969, S. 174ff. Esser, Grundsatz und Norm, S. 22, 94 und öfters. 21 Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 234ff. 22 Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts I, § 30, Anm. 4. 23 Das ist die tiefe Wahrheit von Jherings großartiger Schrift „Der Kampf ums Recht", in der er seine eigene Macht- und Interessentheologie durch eine weit höhere Auffassung überwunden hat. 20

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bei. In diesem Sinne ist das (lebendige) Hecht, wie besonders J. Binder immer wieder betont hat, die (dialektisch-konkrete) ,Einheit des subjektiven und des objektiven Geistes'". Dazu nur eine Bemerkung: Das Recht ist keine Einheit des subjektiven und objektiven Geistes, sondern das Recht ist in erster Reihe objektivierter Rechtsgeist, der freilich in engster Verbindung mit dem objektiven und personalen Geist steht. Nach Radbruchs Meinung ist die Frage der Geltung des Rechts, der Verbindlichkeit des Rechts, seiner verpflichtenden Natur, eine Frage des Sollens. 24 „Schon dadurch wird verständlich, daß sich diese Frage auf Grund positiven Gesetzes oder überhaupt auf Grund von Tatsachen nicht erschöpfend beantworten läßt." Was die sog. juristische Geltungslehre betrifft, welche sich zur Aufgabe setzt, die Geltung eines Rechtssatzes aus immer höheren Rechtssätzen zu rechtfertigen, bemerkt Gustav Radbruch, 25 daß die Geltung der höchsten Normen, oder, wenn man lieber will: Grundnorm einer Rechtsordnung, juristisch nicht mehr bewiesen werden kann. Die juristische Geltungslehre versagt deshalb, wo sich verschiedene Normsysteme einander bekämpfend gegenüberstehen, wie etwa Gewohnheitsrecht und Gesetzesrecht, Staatsrecht und Kirchenrecht, Inlandsrecht und Auslandsrecht, Landesrecht und Völkerrecht, Recht und Sitte usw. Sie kann sich bei solcher Normenkollision nur auf den Boden des einen oder anderen Normensystems stellen, nicht aber einen sachlich entscheidenden Standpunkt über den beiden Normensystemen einnehmen. Daher stellt Radbruch fest, 26 daß die juristische Geltungslehre unfähig ist, die Geltung der höchsten Rechtssätze eines Normensystems und damit des ganzen Normensystems zu begründen. Was die soziologischen Geltungstheorien betrifft, bemerkt Radbruch 27 zur Machttheorie, daß die Macht zur Durchsetzung nur ein Müssen zu begründen vermag, nicht ein Sollen. Die Anerkennungstheorie versagt gegenüber dem Überzeugungstäter, der ja dem Recht die Anerkennung versagt. „Sie ist weiter zu dem Zugeständnis genötigt, daß mit einem Rechtssatz auch seine Konsequenzen anerkannt werden, und setzt damit dem wirklichen Anerkennen das Anerkennen-Sollen kraft logischer Folgerichtigkeit gleich. Wenn die notwendig logischen Folgen eines Rechtssatzes konsequenterweise anerkannt werden müssen, so geht die Anerkennungstheorie unversehens von der Rechtfertigung aus wirklicher Anerkennung zu einer Rechtfertigung aus bloßem Anerkennen-Sollen über." 2 8

24 25 26 27 28

Gustav Gustav Gustav Gustav Gustav

Radbruch, Radbruch, Radbruch, Radbruch, Radbruch,

Vorschule der Rechtsphilosphie, 2. Aufl., 1959, S. 35. I.e. S. 35f. I.e. S. 36. I.e. S. 36. I.e. S. 36.

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

Radbruch ist der Meinung, daß die Geltung des Rechts weder auf positiven Rechtssätzen, noch auf Tatsachen, wie die der Macht oder der Anerkennung gestützt werden kann, sondern nur auf ein höheres oder höchstes Sollen, auf einen überpositiven Wert. „Auch wenn ein positives Gesetz den Anforderungen weder der Gerechtigkeit, noch der Zweckmäßigkeit genügt, einen Wert erfüllt es auf jeden Fall: den Wert der Rechtssicherheit. Freilich kann sich die Rechtssicherheit ... auch gegen das positive Recht wenden, dort nämlich, wo die Rechtssicherheit neues Recht sanktioniert, wie z.B. die siegreiche Revolution, das sich durchsetzende Gewohnheitsrecht und - auf dem Gebiet des subjektiven Rechts - die Ersitzung und Verjährung. Während man eine derartige Überwindung positiven Rechts durch außergesetzliche Machtverhältnisse w i l l i g anzuerkennen geneigt ist, leistet man dem Gedanken, daß dem positiven Recht auch durch die Rechtsidee die Geltung entzogen werden könne, merkwürdig zähen Widerstand. Es wäre aber unbegreiflich, wenn eine empirische Tatsache wie das Gesetz durch eine prästabilierte Harmonie so sehr mit dem Rechtswert in Einklang stehen würde, daß sich daraus eine ausnahmslose Geltung, ein ausnahmsloses Sollen ergäbe. Rechtssicherheit ist nur ein Wert neben anderen Werten. Die durch das positive Recht gewährleistete Rechtssicherheit eines ungerechten Gesetzes verliert diesen Wert..., wenn die in ihr enthaltene Ungerechtigkeit ein solches Maß annimmt, daß demgegenüber die durch positives Recht gewährleistete Rechtssicherheit nicht ins Gewicht fällt. Wenn sich also in der Regel der Fälle die Geltung positiven Rechts durch die Rechtssicherheit rechtfertigen läßt, so bleibt in gewissen Ausnahmefällen horrend ungerechter Gesetze die Möglichkeit, solchen Gesetzen ihrer Ungerechtigkeit wegen die Geltung abzusprechen." 29 Nach der Ansicht von Luis Legaz y Lacambra 30 ist das Recht „eine Form des Gesellschaftslebens, das eine Ansicht von der Gerechtigkeit verwirklicht." 3 1 Sein „Gelten" besteht darin, daß es die tatsächliche Lebensform einer bestimmten Gesellschaft ist, denn gewöhnlich wird es von den ihr Angehörenden erfüllt und von den Richtern, falls das nicht geschieht, angewandt. „Jedes Recht ist seinem Wesen nach dazu bestimmt, geltendes Recht zu sein; die Bestimmung seines Geschehens und der Imperativ, den dieses enthält, ist es, Geltung zu erlangen." 32 Die Forderung und die Bestimmung der Normativität ist es, sich in einer Positivität zu verkörpern. 33 „Positivität und Gelten sind eng miteinander verbundene Begriffe. Aber wie die Idee des Geltens einen in der Gegenwart erreichten Zustand meint, bezieht sich die Positivität auf die Möglichkeit des Geltens. Man könnte sagen, daß die Posi29 30 31 32 33

Gustav Radbruch, I.e. S. 36. Luis Legaz y Lacambra, Rechtsphilosophie, 1965, S. 285. Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 285. Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 285. Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 285.

§50. Die rechtliche Geltung und die Verbindlichkeit

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tivität die Geltung in Latenz und Potenz, die Geltung hingegen die tatsächlich verwirklichte Positivität ist. Die Begriffe Positivität und positives Recht setzen die Idee voraus, daß jemand das Recht,setzt'; dabei mag es sich um Gott (lex divina) oder um den Menschen handeln. Das meinte Suärez mit dem Ausspruch, daß omnis lex in iussione seu imperio posita est. Es gibt also einen Befehlsakt, durch den die Rechtsnorm entsteht oder durch den sie rechtlich bindende Kraft bekommt. Die so gegebene Norm muß angenommen und angewandt werden, d.h. sie muß eine effektive Form des Gesellschaftslebens werden, und erst wenn sie diese Bedingung erfüllt, hat sie die Fülle ihres Rechtseins. Denn eine Norm, die nicht nur allgemein nicht beachtet würde, sondern die auch kein Gericht (und in unserer Annahme auch nicht des Gottes) anwendete, hätte natürlich weder für Gott noch für die Menschen Sinn als Rechtsnorm. So betrachtet, entsteht das Recht als positives Recht, als Forderung und Möglichkeit des Geltens, und hat die Bestimmung, im Gesellschaftsleben alle Möglichkeiten seiner Positivität zu entwickeln und zu verwirklichen. So kann man durch eine Reihe von Folgerungen zum Schluß kommen, daß die Positivität ein wesentliches Merkmal des Rechtes ist. Das Recht ist positives Recht, und diese Aussage wäre kein bloßes analytisches Urteil, sondern ein synthetisches und apriorisches. Nun widerspricht diese Behauptung der Idee, daß es ein Recht gibt, welches höher ist, als das positive Recht, und diese Idee ist ja ... das Zentrum der rechtsphilosophischen Spekulation und vor allem eine nicht wegzuleugnende Gegebenheit des menschlichen Gewissens. Das ,Naturrecht' ist nicht ,das positive Recht'. Also sind ,Recht' und »Positivität' nicht ihrem Wesen nach miteinander verbunden, oder aber das Naturrecht ist nicht Recht. Der ganze Positivismus und ein großer Teil des nicht positivistischen rechtsphilosophischen Denkens vertreten diese zweite Auffassung und leugnen entweder einfach die objektive Existenz des Naturrechts oder die Auffassung, daß der eigentliche Charakter des Rechtes in ihm verankert ist. Natürlich hängen der Jusnaturalismus und viele andere Richtungen der Rechtsphilosophie, die jenem eigentlich nicht angehören, der ersten Auffassung an, daß nämlich der Ausdruck ,Recht' nicht notwendigerweise »positives Recht' bedeutet. Zu den Gegnern des Naturrechts gehören z.B. Kelsen, für den dieses vorgebliche Recht nur eine „Ideologie" ist, d.h. eine ,Maske', der man sich bei der Verfolgung seiner Interessen bedient. Das ist eine vollkommen positivistische Stellungnahme, die natürlich nicht nur Anerkennung fand. Doch sogar in scholastischen Kreisen diskutiert man den Rechtscharakter des Naturrechts, auch wenn man ihm eine moralische Wesenheit zuerkennt. Wir wollen zwei hinreichend typische Beispiele für die Auffassung geben, welche der Kelsens und des Positivismus entgegengesetzt ist. Fritz Schreier, der kein Anhänger des Naturrechts ist, lehnt trotzdem die Lehre ab, daß die Positivität wesentliches Kennzeichen der Rechtsvorschrift in ihrer logischen Form ist. Nach seiner Meinung, und neuerdings auch nach der Auffassung

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Guasps, ist die Rechtswissenschaft die Wissenschaft von den Rechtsmöglichkeiten, d.h. von den möglichen Formen des Rechts, und dieser Begriff der ,Möglichkeit' transzendiert offensichtlich den der ,Positivität', denn diese ist die Verwirklichung des Möglichen im Bereiche des Rechtes.34 Giorgio del Vecchio, der bedeutende Vertreter des Naturrechtes, glaubt auch, daß der Begriff des Rechtes nicht die Positivität als wesentliches Kennzeichen des Rechtes einschließt, denn sie ist Gegebenheit der Erfahrung, während der Begriff von der Positivität da ist und nur die logische allgemeine Form einschließt, die man sogar auf Rechtsgegebenheiten anwenden kann, welche der reinen Vernunft angehören und nicht unmittelbar den Charakter der Positivität zeigen. 35 Man kann sich fragen, ob der Begriff der ,Positivität' vielleicht doppeldeutig oder irreführend ist. Cathrein z.B. behauptet, daß das Naturrecht ein wirklich positives, geltendes, bestehendes Recht ist, denn ,wenn man unter positivem Recht jedes wirklich existierende und verbindliche Recht versteht,' unterscheidet sich das Naturrecht in nichts von jeder anderen Rechtsform. 36 Nun sagt das gar nichts, weil es zu viel sagen will. Das Naturrecht wäre letztlich auch positiv, weil es besteht und verpflichtend ist. Aber es hätte den verpflichtenden Charakter und die Existenz die dem Naturrecht eigen sind. Und es handelt sich darum, zu zeigen, daß es zwar die besondere ,Positivität' dessen, was die Rechtsgelehrten »positives Recht' nennen, nicht hat, aber trotzdem und gleicherweise Recht ist." 3 7 Nach der Meinung von Legaz y Lacambra 38 bedeutet Recht nicht nur lex, und positives Recht nicht nur einen Komplex von durch die Autorität des Staates eingesetzten Gesetzen. „Recht ist vielmehr jede Form des Gesellschaftslebens, die einen Gerechtigkeitsgehalt hat, welcher, insofern er eine soziale Geltung hat, Positivität besitzt." Man sieht, daß Legaz y Lacambra von seiner eigenen Terminologie ausgeht. Jedenfalls muß man feststellen, daß die ganze kritische Ontologie von Nicolai Hartmann - folgerichtig durchdacht - diesem Verfasser - im Grunde genommen - fremd ist. Das geltende Recht, die geltende Rechtsordnung, ist vor allem objektivierter Rechtsgeist. Das Naturrecht bildet einen Teil des objektiven Rechtsgeistes. Das Naturrecht ist noch kein Recht. Meiner Meinung nach helfen uns auch die Ausführungen von Carlos Cossio nicht weiter, 39 welcher der Meinung ist, daß die traditionelle Wissen-

34

Guaps, Exectitud y derecho, Anuario de Filosofia del Derecho, V, 1957, S. 148. Giorgio del Vecchio , Filosofia del Derecho, S. 320; derselbe, El pretendido caracter positivo del Derecho, Hechos y doctrinas, Madrid, 1942, S. 83ff. 36 Cathrein, Recht, Naturrecht und positives Recht, S. 223. 37 Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 290. 38 Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 294. 39 Carlos Cossio, Panorama der egologischen Rechtslehre, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.) Die ontologische Begründung des Rechts, 1965, S. 282f. 35

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schaft faktisch eine Antinomie der Geltung konstruiert hat, die eine These und zwei Antithesen besitzt. In dieser Antinomie - so behauptet Cossio „spricht die These von einer Gültigkeit, die Geltung oder Wirksamkeit besitzt (z.B. Urteile, die eine ständige Rechtsprechung begründen); und die Antithesen, von einer Gültigkeit ohne Geltung (z.B. ein außer Anwendung gekommenes Gesetz), und von einer Geltung ohne Gültigkeit (z.B. ein gesetzwidriges Urteil, eine Revolution). Die traditionelle Wissenschaft war der Meinung, das Recht befände sich zur Gänze in der ersten Antithese, so zwar, daß diese erst der These Rechtswesentlichkeit verleihe, und verwarf die zweite Antithese. Die egologische Theorie weist die Wesentlichkeit der These nach, führt die zweite Antithese auf diese zurück und verwirft gerade die erste Antithese, auf welche die traditionelle Wissenschaft sich stütze." Nach Reinhold Zippelius 40 kann das Wort „Geltung" sachlich sehr verschiedenes bedeuten. Das Wort kann zuerst „die spezifische Existenz der Norm" als eines Sollens, wie Kelsen meint, 4 1 bedeuten. Allerdings ist mit der Rechtfertigung einer Norm etwas Weiteres bezeichnet: eine Begründung dafür, warum es richtig ist, dieses Gebot zu beachten, warum man also eine Norm befolgen soll. Diese Berechtigung eines Sollens kann wieder nur aus einem Sollen hergeleitet werden. Hinter der Unterscheidung, ob ein Handeln höchstpersönlich moralisch, sozialethisch einwandfrei oder schließlich legal ist, steckt die unterschiedliche Geltungsweise von Normen: ihre moralische y sozialethische oder rechtliche „Geltung". 4 2 Dieser Geltüngsbegriff bezeichnet - so argumentiert Zippelius weiter - nicht nur die spezifische Seinsweise der Norm als eines Sollens, sondern zugleich die spezifische Modalität ihrer Wirksamkeit: „ i m Gewissen, i n den in einer Gemeinschaft herrschenden Vorstellungen oder in der Chance, daß die Normen von obrigkeitlichen Organen angewandt und durchgesetzt werden, und in den je hieran orientierten Verhaltensweisen." Die „moralische" Geltung kann bedeuten: Geltung für das eigene Gewissen. „D.h., daß die ins Bewußtsein getretene Norm als solche und nicht bloß die Rücksicht auf die Normsanktion als Triebfeder wirksam ist, kurz, daß man ,aus Pflicht' handelt." Man hat aber auch mit der „sozialethischen" Geltung zu tun. 4 3 Es handelt sich hier um die Geltung als objektiver Geist, als geistiges Milieu. Zippelius stellt fest, 44 daß Hegel in diesem objektiven Geist mit Recht den eigentlichen Träger und Mittler der Menschheitsgeschichte gesehen hat. Ein in einer 40 Reinhold Zippelius, S. 33 ff. 41 Hans Kelsen, Reine 42 Reinhold Zippelius, 43 Reinhold Zippelius, 44 Reinhold Zippelius,

Das Wesen des Rechts, 2. Aufl., 1969, S. 33ff.; 4. Aufl., 1978, Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, Nr. 4c, 34a. I.e. S. 34. I.e. S. 36ff.; 4. Aufl., S. 36ff. I.e. S. 36; 4. Aufl., S. 36.

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Gemeinschaft herrschender Geist darf nicht als bloße Integration subjektiver Bewußtseinsprozesse verstanden werden, sondern in ihm sind objektive Sinngehalte vorhanden, die „zum Bewußtsein kommen", überliefert werden und intersubjektiv als identische erfaßt werden können. 45 „Daß Normen in diesem Geltungsmodus als objektiver Geist stehen, bedeutet also: Sie sind einerseits »objektiver' Sinngehalt, der identischer Gegenstand verschiedener individueller Bewußtseine sein kann, und sind andrerseits ein Sinngehalt, der zur Zeit in den Menschen ,aktuell' (d.h. in subjektiven Akten lebendig) ist, ein Sinngehalt, der in der Gemeinschaft von so vielen anerkannt wird, daß er in dieser herrscht. Diese »allgemeine' Anerkennung bedeutet übrigens nicht, daß die Normen aus höchstpersönlicher Gewissensentscheidung anerkannt sein müssen; es kann sich ebensowohl um ein unreflektiertes Übernehmen vorgefundener Anschauungen handeln." 4 6 Neben der moralischen Geltung einer Norm (d.h. ihrer Wirksamkeit im Gewissen) und ihrer Geltung als objektiver Geist (d.h. ihrer Anerkennung i n der herrschenden Auffassung und ihrem Wirksamwerden in dem hieran orientierten Verhalten) steht - wie Zippelius betont - 4 7 als dritte Geltungsmodalität die Chance ihrer obrigkeitlichen Durchsetzung und ihr Wirksamwerden in dem hieran orientierten Verhalten. Die Normen, nach denen der Staat handelt und zu handeln gebietet, können ungerecht sein und dennoch die Chance obrigkeitlicher Durchsetzung haben. 48 Zippelius meint, 4 9 daß es nur eine Frage der Zweckmäßigkeit ist, ob man in den Begriff des garantierten „Rechts" alle garantierten Normen einbeziehen soll, oder ob man diesen Begriff auf solche Normen einengen soll, die zugleich bestimmten ethischen Postulaten genügen. Ja, nach seiner Meinung ist der erste, merkmalärmere Begriff des Rechts der zweckmäßigere. „Die Erfahrung zeigt, daß auch ,naturrechtswidrige' Gebote die verläßliche Chance obrigkeitlicher Durchsetzung haben können. Die Wirkungsmodalitäten der Normen, also die Realisierungschancen, die Anerkennung durch die herrschende Auffassung usw., sind eben Realitäten, und solche lassen sich nicht auf begrifflichem Wege aus der Welt schaffen. Die Lösung des Konflikts kann also nur in einem Wandel dieser Realitäten selbst liegen. Nach einem solchen Wandel, etwa nach einer Revolution, kann man dann freilich in dem nunmehr geltenden Recht mit einer Fiktion arbeiten und die Dinge rechtlich so beurteilen, als ob jene ungerechten Normen von Anfang an nicht rechtswirksam gewesen wären. Aber das ist ein juristisches Urteil, das auf Grund des inzwischen gewandelten garantierten Rechts gefällt wird."50 45 46 47 48 49

Reinhold Reinhold Reinhold Reinhold Reinhold

Zippelius, Zippelius, Zippelius, Zippelius, Zippelius,

I.e. I.e. I.e. I.e. I.e.

2. Aufl., S. 38; vgl. 4. Aufl., S. 37. 2. Aufl., S. 38; vgl. 4. Aufl., S. 37ff. 2. und 4. Aufl., S. 40ff. 2. Aufl., S. 45. S. 45f.; vgl. auch 4. Aufl., S. 46ff.

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Zur Auffassung der Geltung von Zippelius kann man nur so viel bemerken, daß er erstens nicht die Geltung vom Recht als einem Ganzen, die Geltung einer einzelnen Rechtsnorm, die Geltung der realen Idee des Rechts mit der ganzen rechtlichen Weltanschauung und die Geltung der idealen Normidee des Rechts unterscheidet. Zweitens muß die Frage der Geltung des Rechts als eines Ganzen nach vorherigem gründlichem Herauspräparieren einzelner Seiten der ganzen Problematik doch letztlich in einer komplex-dialektischen Weise gelöst werden, damit wir zu einem einzigen, komplex-dialektischen Begriff der Geltung des Rechts kommen. Dann wäre vielleicht auch seine Stellungnahme zur Frage des Rechts contra humanitatem doch eine andere. Man darf auch nicht sagen, daß man nach einem revolutionären Wandel die Dinge rechtlich so beurteilen kann, als ob jene ungerechten Normen von Anfang an nicht rechtswirksam gewesen wären. Heinrich Henkel stellt fest, 51 daß das rechtliche Geltungsproblem nicht eindimensional zu lösen ist, sondern daß es in mehrere Geltungsdimensionen hineinführt. „Bezeichnungen wie tatsächliche (faktische) Geltung und rechtliche (Norm-)Geltung sowie deren Gliederung in verfassungsmäßige, existentielle und normative Geltung bringen dies zum Ausdruck. Es wäre aber falsch, mehrere selbständige Geltungsarten nebeneinanderreihen zu wollen. In Wahrheit handelt es sich hier nur um die verschiedenen Seiten eines und desselben Phänomens. Was analysierend unterschieden werden kann, steht funktionell im unlösbaren Zusammenhang eines Ganzen." 52 Das ist sicher richtig, wenn man die Frage der Geltung des Rechts als eines Ganzen beurteilt. Auf der anderen Seite muß man aber doch, wie ich oben schon angedeutet habe, 53 streng unterscheiden zwischen der Geltung des Rechts, der einzelnen Rechtsnorm, der realen Idee des Rechts einschließlich der ganzen realen rechtlichen Weltanschauung als eines Teiles des objektiven Rechtsgeistes und der Geltung der idealen Normidee des Rechts. 54 Henkel betont, 55 daß faktische Geltung und Normgeltung in einem engen Verhältnis zueinander stehen. Die Normgeltung strebt zur faktischen Geltung, sie soll im Rechtswesen der Sozietät wirksam werden; die faktische Geltung einer Verhaltensregel bedarf der rechtlichen Verbindlichmachung, 50

Reinhold Zippelius, I.e. 2. und 4. Aufl., S. 49f. Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1977, S. 543ff., 561 ff. 52 Heinrich Henkel I.e. S. 561. 53 Siehe auch S. 371 ff. 54 Kübel·, Grundfragen der Philosophie des Rechts, S. 49 ff. 55 Heinrich Henkel, I.e. S. 561. 51

24 KubeS

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um Rechtsgeltung zu sein. „Unzählige Rechtsvorschriften, die nie ausdrücklich aufgehoben wurden, sind durch Verlust ihrer Wirksamkeit, durch desuetudo im Sinne des Nichtbefolgtwerdens seitens der Rechtsgenossen und der Nichtanwendung durch die Rechtsorgane, außer Geltung gekommen." 5 6 Im umgekehrten Sinne aber ist es der normative Geltungsanspruch des Rechts, ohne den mit einer allgemeinen und tiefergehenden Motivationsgeltung auf die Rechtsgenossen nicht gerechnet werden könnte." Erst das Sollen, die Verhaltensanforderung und der von ihr ausgehende Verbindlichkeitsanspruch verleiht der Norm denjenigen Nachdruck, der - trotz aller tatsächlich geschehenden Zuwiderhandlungen - die motivierende Wirkung auf das Verhalten der Normgebundenen regelmäßig erwarten läßt. Jedenfalls bildet die damit von der Norm ausstrahlende Autorität eine wesentliche Grundlage ihrer tatsächlichen Wirksamkeit. Auf diese Weise stellt sich das in der Norm als verbindlich vorgeschriebene Sollen zugleich als ein bedeutsamer Faktor der tatsächlichen Rechtsgeltung dar." 5 7 Die Geltung des Rechts - stellt Henkel fest 58 - geht nach alledem weder in der Tatsächlichkeit eines Geschehens auf, noch erschöpft sie sich in einem geistigen Sein, noch besteht sie ausschließlich in einem „reinen" Sollen. „Sie erstreckt sich vielmehr über alle diese Dimensionen: Die Positivierung als Realakt und zugleich als geistige Sinngebimg verleiht der Rechtsnorm ihren Bestand, ihre existentielle Geltung in Raum und Zeit. Mit ihr verbindet sich die normative Geltung, die Verbindlichkeit der Norm auf Grund des in ihr enthaltenen Rechtswertes, welchem das Rechtsethos verpflichtende Kraft verleiht. I n der Wirklichkeit des Sozialverhaltens äußert sich, den Geltungszusammenhang vollendend, die faktische Geltung als Wirksamkeit des Rechts. Die Frage der Rechtsgeltung läßt damit wie in einem Brennpunkt Grundfragen der Rechtsphilosophie zusammentreffen, indem sie das eigentümliche Ineinandergreifen von Sein und Sollen, von Tatsächlichem und Normativem im Recht zur Anschauung bringt. 5 9 Ein spezielles Problem der Rechtsgeltung stellt, so betont auch Henkel zu Recht, 60 das Thema „Revolution und Recht", dar, welches im Kerngehalt die Frage aufwirft, wie durch einen machtmäßig vollzogenen Umbruch bislang geltendes Recht außer Kraft gesetzt und durch einen Geltungsgrund neuen positiven Rechts ersetzt werden kann. IV. Wenn man jetzt zur eigenen Lösung der Frage nach der rechtlichen Geltung und der Verbindlichkeit übergeht, steht man zuerst vor der Frage, 56 57 58 59 60

Heinrich Heinrich Heinrich Heinrich Heinrich

Henkel, Henkel, Henkel, Henkel, Henkel,

I.e. I.e. I.e. I.e. I.e.

S. S. S. S. S.

562. 562. 562f. 562f. 563, Anm. 63.

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ob zwischen der Geltung und der Verbindlichkeit des Rechts, oder der einzelnen Rechtsnorm, oder der realen Idee des Rechts, oder der idealen Normidee des Rechts ein Unterschied besteht. Was die Frage der Geltung und der Verbindlichkeit selbst betrifft, kann man auf die klare Darstellung dieser Problematik bei Alfred Verdross 61 verweisen. Meiner Ansicht nach besteht zwischen diesen beiden Begriffen kein Unterschied. Die Geltung einer Norm oder des Rechts als eines Ganzen, als eines Inbegriffs von Normen, und auch die Geltung der realen Idee des Rechts sowie der idealen Normidee des Rechts bedeutet ihre Verbindlichkeit und umgekehrt. Im Folgenden werde ich daher nur von der Geltung sprechen. Aber eine andere Unterscheidung muß durchgeführt werden. Es ist unbedingt notwendig, strenge Unterscheidungen vorzunehmen zwischen: der Geltung der Normidee des Rechts, der Geltung der Idee des Rechts, der Geltung der Rechtsordnung als eines Ganzen, oder des Rechts als eines Ganzen und der Geltung der einzelnen Rechtsnorm. 62 Nur die Geltung der Normidee des Rechts - weil es sich bei ihr um einen Bestandteil der idealen Welt handelt - ist Geltung im reinen Sinn, d. h. sie ist absolut, apriorisch und von der Realität unabhängig. Diese reine Geltung der Normidee des Rechts ist - zum Unterschied von der Geltung der realen Idee des Rechts, von der Geltung der Rechtsordnung oder des Rechts als eines Ganzen und von der Geltung jeder einzelnen Rechtsnorm - ewig. Nur was real ist, ist vergänglich. 63 Mit der Normidee des Rechts hat sich insbesondere auch Immanuel Kant beschäftigt und zwar unter Bezeichnung „Begriff des Rechts." Die Normidee des Rechts war für Kant - und später auch für Rudolf Stammler - ein apriorischer Wertmaßstab zur Feststellung, ob das positive Recht ein richtiges Recht ist. Die Funktion dieser Normidee des Rechts war nur eine regulative. Für uns hat die Normidee des Rechts noch eine weitere, eine konstitutive Funktion, und zwar in dem Sinn, daß sie für die Feststellung des Rechtes als Recht eine unbedingte, eine notwendige Bedingung und Voraussetzung ist. Keine Rechtsordnung wäre ohne die Vorbedingung der Normidee (und der Idee) des Rechts möglich. Die Normidee des Rechts hat keine Immanenz in der Wirklichkeit (im Hegeischen oder Binderschen Sinne). Eine solche würde zur Negierimg 61

Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, S. 282 ff. Zum folgenden Vladimir Kübel·, Grundfragen der Philosophie des Rechts, S. 48 ff. 63 Kübel·, I.e. S. 49f. 62

24:

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jeder Spannung zwischen dem Sollen und dem Sein führen. Vielmehr hat die Normidee des Rechts - neben ihrer regulativen Funktion - eine konstitutive Funktion. Ohne die Normidee ist kein rechtliches Gebilde denkbar. Die Geltung der Normidee des Rechts - und der weiteren Normideen impliziert die absolute Notwendigkeit, sie zu denken. Die Geltung der realen Idee des Rechts mit ihrer Bezogenheit auf die Normidee des Rechts ist Geltung im abgeleiteten Sinn. Die Idee des Rechts ist für die geltende rechtliche Weltanschauung entscheidend und steht an der Spitze der hierarchischen Pyramide einzelner Ideen, welche die wissenschaftliche Weltanschauung darstellen. Die Geltung der realen Idee des Rechts ist keineswegs ewig oder absolut; sie ist konkret und daher zeitlich: sie entsteht, dauert und vergeht. Den Kernpunkt der ganzen Problematik der rechtlichen Geltung im herrschenden Schrifttum stellt allerdings die Frage der Geltung einer einzelnen Rechtsnorm und der Geltung des Rechts als eines Ganzen. Alle strittigen Fragen der realen rechtlichen Geltung, insbesondere die Frage, ob der Zwang ein essentielles Merkmal des Rechts ist, sind auf der Grundlage der strengen Unterscheidung zwischen der Geltung einer einzelnen Rechtsnorm und der Geltung des Rechts als eines Ganzen lösbar. Im Jahre 1933 64 sowie auch im Jahre 1938 65 und noch im Jahre 194 7 6 6 ging ich von der grundsätzlichen Bedeutung der Grundnorm in Kelsens Sinne aus und glaubte, daß man mit Hilfe dieser Grundnorm das Problem der Rechtsnorm, das Problem der Definition des Rechts und auch das Problem der Rechtsgeltung lösen könne 67 . Heute vertrete ich nicht mehr die Auffassung, daß die Grundnorm die Krone des ganzen Rechtssystems ist und daß sie die wichtigste Entdeckung der Rechtstheorie oder der Rechtsphilosophie ist. Gewiß kann man die Grundnorm als eine vorläufige Beendigung des stufenförmigen Aufbaus der rechtlichen Weltordnung überhaupt, also des positiven Rechts überhaupt, als ein Hilfsmittel begreifen und mit diesem auch weiter operieren. Keinesfalls bedeutet aber die Grundnorm das überhaupt letzte, was man in der Rechtsphilosophie vom Recht sagen kann. Es ist nämlich unbedingt notwendig , das ganze positive Recht, die Staatsrechtsordnungen mit den einzel64

Vladimir Kübel·, Smlouvy proti dobr^m mravum (Verträge gegen die guten Sitten), S. 42 ff. 65 Vladimir Kübel·, Nemoznost plnëni a prâvni norma (Die Unmöglichkeit der Leistung und die Rechtsnorm), S. 218 - 228. 66 Vladimir Kübel·, Prâvni filosofie X X . stoleti (Die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts), 1947, S. 50ff. 67 Vladimir Kübel·, Nemoznost plnëni a prâvni norma (Die Unmöglichkeit der Leistung und die Rechtsnorm), S. 218ff.; derselbe, Prâvni filosofie X X . stoleti (Die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts), S. 50ff.

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nen Stufen des Völkerrechts an der Spitze, diese großartige Pyramide der Rechtsordnung der Welt - vielleicht auch mit der Grundnorm an der Spitze - noch in etwas anderem, tieferem zu verankern. Und zwar muß man die objektivierten Rechtsgeister im objektiven Rechtsgeist, wohin auch die rechtliche Weltanschauung mit der realen Idee des Rechts gehört, und letztlich in der idealen Normidee des Rechts, in dieser dialektischen Synthese der Gedanken der Gerechtigkeit, der Sicherheit, der Freiheit des konkreten Menschen und der Zweckmäßigkeit verankern und damit auch begründen. Als richtig betrachte ich meine grundlegende Unterscheidung zwischen der Geltung der Rechtsordnung als eines Ganzen und der Geltung der einzelnen Rechtsnorm. Die Geltung der einzelnen Rechtsnorm bedeutet nichts anderes als die Möglichkeit ihrer Einreihung in den hierarchischen Stufenbau des Rechts. Es ist nicht richtig, daß jede einzelne Rechtsnorm begriffsnotwendig eine Sanktion erfordert, wie dies z.B. Hans Kelsen lehrt. Zum Unterschied von der Geltung einer einzelnen Rechtsnorm spielt bei der Geltung des Rechts (der Rechtsordnung) als eines Ganzen die Sanktion (der organisierte Zwang) eine ebenso entscheidende Rolle wie das Moment der Faktizität. Die Sanktion im Durchschnitt und die Faktizität essentielle Merkmale des Rechts als eines Ganzen.

im Durchschnitt

sind

Die Lehre vom Stufenbau der realen Welt ist für die Frage der Geltung des Rechts als eines Ganzen von großer Bedeutung. Die geistige Schicht des Rechts als eines Phänomens der realen Welt gründet sich notwendigerweise auf die niederen Schichten der realen Welt und damit auch des Rechts, welches mit seinem organisierten Zwang und der Faktizität im Durchschnitt ein komplexes Gebilde ist und auch den niederen Schichten der realen Welt zugehört. Alle Momente des Rechts als eines realen Phänomens (das Moment der Geistigkeit, des Zwanges, der Faktizität usw.) bilden eine Einheit. Die Geltung des Rechts ist eine Geltung in der Zeit und im Raum. Sie ist eine Geltung, die ihr Ende findet, wenn das Fundament wegfällt. Das Recht als objektivierter Rechtsgeist gilt solange, als es adäquater Ausdruck des wirklichen Rechtsbewußtseins, der Rechtsüberzeugung einer bestimmten Rechtsgemeinschaft, des objektiven Rechtsgeistes ist. Wenn es nur durch Gewalt wirksam bleibt, und zwar dann, wenn es sich in einem Widerstreit zum objektiven Rechtsgeist befindet, entsteht die immer stärker auftretende Tendenz, das existierende Recht durch ein anderes Recht, welches dem objektiven Rechtsgeist entspricht, zu ersetzen und zwar entweder auf „legalem" oder auf revolutionärem Wege. Nur das Recht, nur der stufenförmige Aufbau der Rechtsnormen mit der Grundnorm an der Spitze, die freilich nur ein formal normologisches Hilfsmittel zum Erfassen der Einheit des Rechts ist, nur das Recht, welches als objektivierter Rechtsgeist mit dem Rechtsbewußtsein, mit der Rechtsüber-

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zeugung als objektivem Rechtsgeist im Einklang steht, hat eine gesicherte Geltung. V. Es ist zweckmäßig, in diesem Zusammenhang noch die Frage der Geltung der Rechtsnormen contra humanitatem zu erörtern. Ohne Zweifel bildet diese Frage den Kernpunkt, in dem sich alle strittigen Fragen der rechtlichen Geltung manifestieren. Einige Beispiele solcher „Rechtsnormen" contra humanitatem werden uns die Problematik besser beleuchten: - Alle Neugeborenen sollen hingerichtet werden. 68 - Für die Tat des einen Menschen soll immer und ausnahmslos ein anderer verantwortlich sein. - Alle Normen, die von einer Kollektivschuld ausgehen und eine Kollektivbestrafung anordnen. 69 - Normen, die den Betroffenen einer Behandlung unterwerfen, welche ihm jegliche Selbstbestimmung vorenthält oder entzieht, wie etwa die Aberkennung der Rechts- oder Geschäftsfähigkeit aus politischen, religiösen, weltanschaulichen, ideologischen Gründen, aus Rassengründen usw. - Normen, die Zwangsversuche an Menschen oder Anwendung der Folter mit dem Ziel der Selbstbelastung der Betroffenen anordnen. - Normen, die eine Eröffnung reiner Willkür im Verfahren gegen Beschuldigte bedeuten. Walter Ott führt an, 70 daß diese Problematik sich vor allem an den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus entzündet hat, weshalb er sie „i.S. von pars pro toto als das ,Hitler-Argument' gegen den Rechtspositivismus bezeichnet, wohl wissend, daß auch andere Beispiele als das Dritte Reich zu seiner Untermauerung dienen könnten. " Bei der Lösung dieser Grundfrage der Geltung der „Rechtsnormen" contra humanitatem kann man wieder zwei entgegengesetzte Stellungnahmen, zwei „Idealtypen" von Lösungen, feststellen. Für die erste Gruppe gilt ausnahmslos die Regel „Lex dura, sed lex" oder „Gesetz ist Gesetz". „Quod principi placuit, legis habet vigorem ( D l , 4, 1 pr.), sagte schon Ulpian. 68 Julius Moór, Reine Rechtslehre, Naturrecht und Rechtspositivismus, in: Alfred Verdross (Hrsg.) Gesellschaft, Staat und Recht, Festschrift f. Kelsen, 1931, S. 104. 69 Dazu und zum folgenden Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1977, S. 564; Welzel, Naturrecht und Rechtspositivismus, in: Maihofer, Naturrecht oder Rechtspositivismus, S. 338; German, Zur Problematik der Rechtsverbindlichkeit und der Rechtsgeltung, Revue Hellénique de Droit International 1965, Sonderab. S. 4 ff. 70 Walter Ott, Der Rechtspositivismus, 1976, S. 178.

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John Austin gehört hierher, wenn er feststellt, 71 daß ein bestehendes Gesetz auch dann Gesetz ist, wenn es von dem Kriterium abweicht, an dem wir unsere Billigung oder Mißbilligung orientieren ("A law, which actually exists, is a law, though we happen to dislike it, or though it varies from the text, by which we regulate our approbation and disapprobation"). Austin bringt dafür folgendes Beispiel: 72 „Angenommen, eine harmlose oder geradezu nützliche Tat w i r d vom Machthaber bei Todesstrafe verboten: begehe ich diese Tat, so wird man mich anklagen und verurteilen, und wenn ich dem Urteil entgegenhalte, daß es dem Gesetze Gottes widerspricht... so wird mir das Gericht die Unmaßgeblichkeit meiner Argumentation dadurch beweisen, daß es mich kraft des Gesetzes, dessen Gültigkeit ich angefochten habe, aufhängen läßt." Auch Bergbohm stellt fest, 73 gerade dem „um seiner Schädlichkeit oder Inhumanität mißfälligen Recht" gegenüber bewähre sich erst „des reinen Juristen vornehmste Tugend: die Fähigkeit, seinen Verstand jeder Beeinflussung selbst durch die tiefsten persönlichen Überzeugungen und heißesten Herzenswünsche zu entziehen, die Befriedigung derselben nur auf dem Wege der Rechtsumbildung erwartend." Das war auch die Meinung des deutschen Reichsgerichtes in RGZ 118 (1928): „Der Gesetzgeber ist selbstherrlich und an keine anderen Schranken gebunden als diejenigen, die er sich selbst in der Verfassung oder in anderen Gesetzen gezogen hat." Auch nach Hans Kelsens Meinung kann jeder beliebige Inhalt zum Rechtsinhalt werden: 74 „Es gibt kein menschliches Verhalten, daß als solches, kraft seines Gehalts, ausgeschlossen wäre, Inhalt einer Rechtsnorm zu sein." Die Grundnorm im Sinne Kelsens bezieht sich auch auf eine Zwangsordnung mit dauernder Wirksamkeit; umgekehrt kann jede dieser Bedingung genügende Zwangsordnung als gültige Rechtsordnung begriffen werden. Zur Erhärtung seiner Auffassung verweist Kelsen 75 auf die Tatsache, daß Gerichte in den USA sich seinerzeit verweigert hatten, Akte der revolutionär etablierten sowjetischen Regierung als Rechtsakte anzuerkennen, und zwar mit der (unrichtigen) Begründung, es handle sich dabei nicht um Akte eines Staates, sondern einer Gangsterbande. Sobald jedoch die revolutionär errichteten Zwangsordnungen sich als dauernd wirksam erwiesen hätten, seien sie als Rechtsordnung anerkannt worden. Kelsen beruft sich 71

John Austin, The Province of Jurisprudence Determined, Aufl. von H. A.L. Hart, 1954, S. 184. 72 John Austin, 1. c. S. S. 185; Übersetzung nach Hoeter bei Hart, Recht und Moral, Drei Aufsätze, 1971, S. 41, und nach Ott, I.e. S. 36. 73 Karl Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, I, 1892, S. 398. 74 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, S. 201. 75 Hans Kelsen, I.e. S. 51; vgl. Walter Ott, I.e. S. 52.

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auf den Unterschied, den Augustinus anführt, 76 zwischen dem Staat als einer Rechtsgemeinschaft und einer Räuberbande: „Was sind Reiche ohne Gerechtigkeit anderes als große Räuberbanden? Sind Räuberbanden etwas anderes als kleine Reiche"? Nach Meinung Augustinus' unterscheidet sich das Recht gerade durch die Gerechtigkeit seines Inhalts von anderen Zwangsordnungen. Die Akte einer Räuberbande sind nach Kelsens Auffassung nur dann keine Rechtsakte, wenn sich die staatliche Rechtsordnung als die wirksamere erweist, indem gegen die Mitglieder der Bande Sanktionen durchgesetzt werden können. Wenn sich aber zeigt, daß die Zwangsordnung der Räuberbande innerhalb eines bestimmten Gebietes so wirksam ist, daß sie die Geltung jeder anderen Zwangsordnung ausschließt, handelt es sich um eine Rechtsordnung und um einen Staat. Kelsen beruft sich auf die Existenz der Seeräuber-Staaten in Algier, Tunis und Tripolis vom 16. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. 77 Im Grunde genommen derselben Auffassung ist auch der Mitbegründer der Schule der Reinen Rechtslehre Franz Weyr, obzwar auch er - wie die Mehrheit der Rechtspositivisten oder der Gesetzpositivisten - sich der Tragödie dieser Lösung bewußt ist. 7 8 In diese Gruppe gehört auch H. L. A. Hart. 19 Walter Ott 80 hat mit seiner Feststellung vollkommen Recht, wenn er betont, daß bei Hart die „Anerkennung sich nur auf die grundlegende Sekundärregel beziehen muß, die die Geltungskriterien des Systems enthält; ferner müssen nur die Amtspersonen diese Sekundärregel anerkennen, während es für die gewöhnlichen Bürger genügt, daß sie die Normen im Großen und Ganzen befolgen. „Alle diese Voraussetzungen waren im Hitler-Reich zweifellos erfüllt. Daß Hart hier den Rechtscharakter nicht verneinen würde, geht auch deutlich aus seinem Sklavenhalter-Beispiel hervor: Wenn eine Zwangsordnung auch nur einer kleinen Gruppe von Sklavenhaltern Vorteile gewährt, ist sie nach Hart eine Rechtsordnung." Zu der entgegengesetzten Gruppe gehört z.B. Cathrein, der meint, der Begriff des ungerechten Rechtes schließe einen Widerspruch in sich: 8 1 „Ungerechte Gesetze werden in demselben Sinne Gesetze oder Rechtsnormen genannt, wie man vom falschen Gold, von dem falschen Demetrius oder von einem falschen Freunde spricht." 76 Aurelius Augustinus, Civitas Dei, IV, 4; vgl. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 49f.; Walter Ott, I.e. S. 52. 77 Hans Kelsen, I.e. S. 49. 78 Franz Weyr, Teorie prava (Theorie des Rechts), S. 20. 79 H. L. A. Hart, The concept of Law, 1961 ; derselbe, Der Positivismus und die Trennung von Recht und Moral, in: H.L.A. Hart, Recht und Moral, Drei Aufsätze, S. 53; vgl. Walter Ott, I.e. S. 182f. 80 Walter Ott, I.e. S. 182f. 81 Cathrein, Recht, Naturrecht und positives Recht, 1901, S. 182 (2. Aufl., 1909).

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Interessant ist die Auffassung von Julius Moór, 82 der die Frage aufwirft, ob die Veränderlichkeit, die „Zufälligkeit" des positiven Rechtsinhaltes nicht ihre Grenzen habe. Er vertritt die Ansicht, daß der wandelbare Rechtsinhalt seine unwandelbaren logischen, physischen, soziologischen und ethischen Grenzen hat. Was logisch unmöglich ist, kann auch nicht Inhalt von Rechtsnormen werden. Auch der Gesetzgeber kann nicht zugleich und am selben Orte etwas und den Gegensatz davon zum Gesetze machen. Was physisch unmöglich ist, kann ebenfalls nicht zum Inhalte von Rechtsnormen werden; „der Ukas des russischen Zaren, der den kranken Matrosen befahl, unverzüglich gesund zu werden, hat wohl kaum einen verständlichen juristischen Sinn. Im Begriffe des Rechts sind auch soziologische Elemente enthalten. Gehört es zum Wesen des positiven Rechtes, daß es veränderlich sei, so kann durch den Inhalt der Rechtsnormen die Veränderung des Rechtes, jede neue Rechtserzeugung, nicht untersagt werden; leges in perpetuum valiturae sind keine ernst zu nehmenden Erscheinungen der Rechtswelt und ebenso wäre es ein ganz vergebliches Unterfangen, den Satz ,lex posterior derogat priori' durch einen Beschluß der gesetzgebenden Organe außer Kraft setzen zu wollen." Aber die schwierigste Frage ist nach Julius Moór die, ob der mögliche Rechtsinhalt auch ethische Grenzen habe. „Wir wollen nicht bezweifeln, daß das positive Recht die Grenzen des Ethischen überschreiten kann, daß es ein unrichtiges, ungerechtes, unmoralisches Recht geben kann; es fragt sich aber, ob sich das Recht von der Moral gänzlich loslösen könne, ob auch das moralisch Ungeheuerlichste zum Inhalt des positiven Rechtes werden könne. Wir sind der Ansicht, daß der Satz ,sunt certi denique fines' auch hier angewendet werden kann und daß der Rechtserzeugung auch gewisse - jedenfalls sehr weite und äußerst schwer festzustellende - moralische Grenzen vorgezeichnet sind." Die Frage, ob durch die ungeheuerliche^ Verletzungen def Moral nicht geradezu das soziale Leben unmöglich gemacht würde, ob also auch hier von der soziologischen Unmöglichkeit des in Frage stehenden Rechtsinhaltes zu sprechen wäre, w i l l Moór nicht untersuchen. Der Beweis hierfür, daß das gesellschaftliche Leben ohne ein Minimum des Moralischen nicht möglich ist, bedeutet keine Widerlegung der Ansicht, daß das positive Recht ein Minimum an Moralischem unbedingt beobachten mûssé. Nach Meinung von Gustav Radbruch 83 dürfte zwar der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der

82 Julius Moór, Reine Rechtslehre, Naturrecht und Rechtspositivismus, in: Alfred Verdross, Gesellschaft, Staat und Recht, Festschrift für Hans Kelsen, 1931, S. 103ff. 83 Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 6. Aufl., 1963, Anhang 4, III, § 10,3; derselbe, Vorschule der Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1959; S. 32f., 37.

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Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als „unrichtiges Recht" der Gerechtigkeit zu weichen hat. „Wo die Ungerechtigkeit positiven Rechtes ein solches Maß erreicht, daß die durch das positive Recht verbürgte Rechtssicherheit gegenüber dieser Ungerechtigkeit überhaupt nicht mehr ins Gewicht fällt: in einem solchen Fall hat das ungerechte positive Recht der Gerechtigkeit zu weichen. In der Regel aber wird die Rechtssicherheit, die das positive Recht gewährt, eben als eine mindere Form der Gerechtigkeit, die Geltung auch ungerechten positiven Rechts rechtfertigen. " Wenn sich also in der Regel der Fälle die Geltung positiven Rechts durch die Rechtssicherheit rechtfertigen läßt, so bleibt in gewissen Ausnahmefällen horrend ungerechter Gesetze die Möglichkeit, solchen Gesetzen ihrer Ungerechtigkeit wegen, die Geltung abzusprechen. Besonders wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur „unrichtiges Recht", vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Im Grunde genommen derselben Meinung ist auch Arthur Kaufmann, wenn er betont, 84 nur dann, wenn das Gesetz generell - nicht bloß im Einzelfall - gegen die Gerechtigkeit verstößt und wenn dies klar erkennbar ist, darf, ja muß man ihm den Gehorsam verweigern. Kaufmann stellt fest, 85 es gäbe auch Gesetze ohne Wertgehalt, ja Gesetze mit ausgesprochenem Unwertgehalt. „Daran kann nach allem, was wir in den modernen Diktaturen erlebt haben und noch ständig erleben, nicht der geringste Zweifel bestehen. Wir sind Zeugen von Gesetzen und gesetzesgleichen Anordnungen geworden, die das schlechthin Ungerechte befehlen. Hier zeigt sich eklatant, daß Gesetz und Recht nicht dasselbe sind, ja in einem solchen Falle sind sie geradezu Gegensätze. Ein Gesetz, das das Ungerechte und Unsittliche direkt anstrebt, ist das Gegenteil von Recht, es ist Un-Recht, Nicht-Recht. Eine solche lex corrupta hat, wie schon Thomas von Aquin gelehrt hat, keine verpflichtende Kraft. 8 6 Ja man muß noch weiter gehen: eine offensichtlich ungerechte und unsittliche und demzufolge ungültige Norm darf gar nicht angewandt werden. Ein Richter, der nach einer solchen Norm urteilt, begeht, jedenfalls in objektiver Hinsicht, eine Rechtsbeugung." Kaufmann meint, daß das heute überwiegend anerkannt sei, und beruft sich 87 etwa auf Radbruch 88, Coing ,89 Figge ,90 Eb. Schmidt ,91 Schönke-Schröder, 92 Mau84 Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie im Wandel. Stationen eines Weges, 1972, S. 210. 85 Dazu und zum folgenden Arthur Kaufmann, I.e. S. 141 ff. 86 Thomas von Aquino, Summa theologica 2, II, 60, 5; auch 1, II, 95, 3; 1, II, 96, 4. Vgl. dazu Marcie, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, S. 250f. 87 Arthur Kaufmann, I.e. S. 141 f., Anm. 22. 88 Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Süddeutsche Juristenzeitung, 1946, S. 108.

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räch, 93 und Welzel. 94 Anderer Meinung sind freilich - wie Kaufmann ausdrücklich anführt - A. A. Evers 95 und Bockelmann. 96 Kaufmann stellt fest, 97 daß ein „Rechtsstaat", der den Richter nötigen würde, nach UnrechtsGesetzen „Recht" zu sprechen, ein Widerspruch in sich wäre. Mit Recht argumentiert Kaufmann, 98 daß man dagegen nicht einwenden kann, daß nur die strikte Unterwerfung des Richters unter das Gesetz, und das heißt: unter jedes Gesetz, gleich welchen Inhalts und welcher Zielsetzung, seine Unabhängigkeit garantieren könne. Richterliche Unabhängigkeit heißt - wie Kaufmann hervorhebt - Freiheit von rechtsfremden Einflüssen. Daher ist gerade der Richter i n Wahrheit nicht unabhängig, der gezwungen wird, Unrechtsgesetzen Folge zu leisten. Kaufmann betont auch richtig, 9 9 daß auch die oft gehörte Behauptung nicht durchschlagend ist, jede Lockerung der Bindung des Richters an das Gesetz müsse zur Zerstörung der Rechtssicherheit und damit der Ordnung führen. Es ist richtig, daß auch der Gedanke der Ordnung nicht verabsolutiert werden darf, soll er nicht in sein Gegenteil umschlagen. Es ist nicht wahr und geradezu non-juristisch zu behaupten, daß auch die „verwerflichste Rechtsordnung" um ihrer Ordnungsfunktion willen noch einen „verpflichtenden Wert" habe. 100 „Dann ist also auch ein sicher funktionierendes System von Konzentrationslagern und Massenmorden eine , Ordnung' und folglich verbindliches Recht.' Eine solche Theorie widerlegt sich selbst" stellt mit vollem Recht Arthur Kaufmann fest. 101 Richtig sagt Kaufmann auch, 102 daß zwar die absolute Gerechtigkeit unsere Erkenntnis nie erreichen wird, aber w i r sind in negativer Hinsicht sehr wohl in der Lage zu sagen, was schlechterdings wn-gerecht und wn-sittlich ist und folglich ein-

89 Helmut Coing , Zur Frage der strafrechtlichen Haftung der Richter für die Anwendung naturrechtswidriger Gesetze, Süddeutsche Juristenzeitung, 1947, S. 61 ff. 90 Figge, Die Verantwortlichkeit des Richters, Süddeutsche Juristenzeitung, 1947, S. 179ff. 91 Eb. Schmidt, Politische Rechtsbeugung, Süddeutsche Juristenzeitung, 1947, S. 7Iff. 92 Schönke-Schröder, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 10. Aufl., 1961, Anm. II, 2 zu § 336, S. 1245. 93 Maurach, Deutsches Strafrecht, besonderer Teil, 3. Aufl., 1959, S. 662. 94 Welzel, Das deutsche Strafrecht, 7. Aufl., 1960, S. 464f. 95 A.A. Evers, Der Richter und das unsittliche Gesetz, 1956, S. 142. 96 Bockelmann, Richter und Gesetz, in: Rechtsprobleme in Staat und Kirche, Festgabe für Rudolf Smend, 1952, S. 23ff. 97 Arthur Kaufmann, I.e. S. 141 f. 98 Arthur Kaufmann, I.e. S. 142. 99 Arthur Kaufmann, I.e. S. 142. 100 So Evers, Der Richter und das unsittliche Gesetz, S. 72, 141; dagegen Stratenwerth, Verantwortung und Gehorsam, S. 92; Arthur Kaufmann, I.e. S. 142. 101 Arthur Kaufmann, I.e. S. 142. 102 Arthur Kaufmann, I.e. S. 143.

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deutig der Rechtsnatur entbehrt. „Wenn etwa ein Gesetz die Ausrottung einer ganzen Rasse befiehlt, so kann das unter keinem nur irgendwie denkbaren Gesichtspunkt mehr mit der Idee der Gerechtigkeit in Beziehung gebracht werden, was immer man auch im einzelnen unter der Gerechtigkeit verstehen mag. Ebenso verhält es sich, wenn, wie wir es ja auch erlebt haben, der Staat die Sippenhaftung anordnet, etwa an Stelle von Fahnenflüchtigen die Angehörigen, also Unschuldige, zu bestrafen. Derartigen Gesetzen steht die Ungerechtigkeit auf der Stirn geschrieben, und nur noch gewollte Skepsis kann den Zweifel ihrer Ungültigkeit aufrecht erhalten." Ein Gesetz ermangelt nicht schon wegen inhaltlicher Mängel oder wegen unbilliger Folgen im Einzelfall der Rechtsgültigkeit. 103 Grundsätzlich, also nicht ausnahmslos, jedenfalls in einem Rechtsstaat, hat jedes Gesetz die Vermutung der Rechtmäßigkeit für sich. Diese Vermutung wurzelt unmittelbar in der staatlichen Autorität. Sie ist freilich widerlegbar. Unsere Frage behandelt auch Heinrich Henkel. 104 Er stellt ausdrücklich fest, daß es hier eine Grenze gibt, die überschritten ist, wenn die Norm wegen ihrer krassen Unrichtigkeit nicht mehr als Rechtsnorm vertreten werden kann, und beruft sich auf die übereinstimmende Meinung von Hans Ryffel 105 und Engisch.Auch Henkel ist sich wohl bewußt, daß diese Grenze nicht bestimmt und eindeutig zu ziehen ist. Doch läßt sich die Unverbindlichkeit der Norm dann begründen, wenn die für die Gestaltung des Norminhaltes als maßgeblich zu berücksichtigenden Richtpunkte, Richtliniengehalte oder Prinzipien nicht nur nicht beachtet, sondern mißachtet worden sind, so daß die Norm als Nicht-Recht oder gar als Unrecht deshalb bezeichnet werden muß, weil ihre Befolgung durch den Rechtsanwender oder die Rechtsgenossen zum Unrecht-Handeln führen würde. 1 0 7 Hier kann die Berufung auf den Ordnungswert der Norm nicht mehr standhalten, denn ihre planmäßige Befolgung würde die zu erwartende Ordnungssicherheit in,Unrecht-Sicherheit' verkehren." 108 Der maßgebliche Grundgedanke läßt sich - so betont Henkel - 1 0 9 nur durch uns schon bekannte Beispielsfälle anschaulich machen. So ist eine Norm, mag sie auch formal auf Grund ihrer Positivierung, Sanktion und Publikation den Geltungsanspruch erheben, unverbindlich. „Da ihr die

103

Arthur Kaufmann, I.e. S. 144. Heinrich Henkel, Einführungen in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1977, S. 563ff. 105 Hans Ryffel, Rechts- und Staatsphilosophie, S. 377. 106 Engisch, Auf der Suche nach der Gerechtigkeit, 1971, S. 76ff. ι»7 Heinrich Henkel, I.e. S. 564. 108 Arthur Kaufmann, Gesetz und Recht, Festschrift für Erik Wolf, S. 365; Heinrich Henkel, I.e. S. 564. 109 Heinrich Henkel, I.e. S. 564f. 104

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Qualität einer Rechtsnorm fehlt, kommt ihr überhaupt keine rechtliche Geltung zu, und sie ist infolgedessen unanwendbar." 1 1 0 Man muß in diesem Zusammenhang der Meinung Henkels beistimmen, daß die Ansicht, eine solche Norm habe „juristische Geltung", aber keine verpflichtende Wirkung für das Gewissen des sittlich gebundenen Menschen, welche Auffassimg Helmut Coing 111 und auch Hoerster 112 vertreten, unrichtig ist, da sie rechtliche und sittliche Verbindlichkeit in einen Gegensatz bringt und damit sowohl für die Betroffenen wie für ihre späteren Beurteiler ein unlösbares Dilemma herbeiführt. 113 Keinesfalls befriedigend ist aber auch eine weitere Meinung, die Dinge seien erst im nachhinein „so zu beurteilen, als ob jenes ungerechte Recht von Anfang an nicht gegolten hätte." 1 1 4 Jedoch führt diese Meinung von Zippelius praktisch zu den gleichen Ergebnissen, welche auch Henkel vertritt und zwar, daß es sich um eine nichtgültige Rechtsnorm handelt. 1 1 5 Henkel argumentiert weiter, 1 1 6 da eine solche Norm immerhin als positivierte Norm - wenn auch unbegründet - einen Geltungsanspruch erhebt, sei ihr gegenüber ein Widerstandsrecht anzuerkennen. Es geht um den passiven Widerstand gegenüber einzelnen Normen oder Normenkomplexen, denen der Rechtscharakter abgesprochen wird, einen Widerstand, der seitens der Rechtsgenossen in der Nichtbefolgung der Verhaltensanforderungen, seitens der staatlichen Organe in der Nichtanwendung der betreffenden Normen besteht. Henkel führt an, 1 1 7 daß bereits die Erkenntnis des Unrechtscharakters der Norm ihre eigene Problematik in sich birgt. „Da den Menschen eine absolut gültige Wertordnung nicht einsichtig vorgegeben ist, kann auch von einer unfehlbaren Einsicht in den Unrechtscharakter einer Norm nicht die Rede sein. Die Beurteilung innerhalb der Rechtsgemeinschaft ist vielmehr abhängig von deren ,Wertblick 4 oder ,Werthorizont'. Es ist möglich, daß eine Staatsführung sich in ihrer Gesetzgebung von den in der Gemeinschaft herrschenden Rechtsvorstellungen in solchem Grade entfernt, daß auf legalem Wege, also in Form von Rechtsvorschriften, Normen erlassen werden, die nach den oben entwickelten Richtlinien als „Unrecht" zu beurteilen sind und auch in der Allgemeinheit so beurteilt werden. Aber auch eine andere Konstellation ist möglich: die vom legalen Normgeber erlassenen Vorschrif-

110 111 112 113 114 115 116 117

Heinrich Henkel, I.e. S. 565. Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1. Aufl., S. 243. Hoerster, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. II, 1971, S. 128. Heinrich Henkel, I.e. S. 565, Anm. 74. Reinhold Zippelius, Festschrift für Liermann, 1964, S. 322. Heinrich Henkel, I.e. S. 565, Anm. 74. Heinrich Henkel, I.e. S. 565. Heinrich Henkel, I.e. S. 566.

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ten werden, etwa unter der herrschenden Einwirkung einer rechtsfeindlichen Ideologie, vom allgemeinen Bewußtsein gebilligt, jedoch nach einem Umsturz, der einen grundlegenden Wandel der bisher tragenden Wert- und Rechtsanschauungen mit sich bringt, nunmehr eindeutig als Unrecht beurteilt. 1 1 8 In diesem Zusammenhang stellt Henkel 119 folgende Fragen: Welche Bedeutung hat die Anwendung dieser Normen durch die Staatsorgane, wenn durch sie schädigende Eingriffe erfolgt sind? Können die Geschädigten hic et nunc aus solchen Unrechtsakten Ansprüche ableiten? Wie, wenn die Betroffenen durch die Nichtbefolgung solcher Normen Schaden erlitten haben? Ferner: welche Folgen hat die Anwendung von Normen, welche „gesetzliches Unrecht" darstellen, für die betreffenden Rechtsanwendungsorgane, wenn von ihnen Widerstand zu erwarten war, insbesondere von dem in erster Linie zur Wahrung des Rechts berufenen Richter? Henkel vertritt die Auffassung, 120 daß alle diese schwierigen Haftungsfragen einschließlich der Fragen möglicher Entlastung (z.B. des wegen Rechtsbeugung belangten Richters unter dem Gesichtspunkt des Rechtsirrtums oder des Notstandes in einer Diktatur) nur im Zusammenhang mit dem positiven Recht lösbar sind, und daher nicht in eine grundsätzliche rechtsphilosophische Betrachtung gehören. Aufgabe der Rechtsphilosophie ist nur, das Problem des „gesetzlichen Unrechts" mit Nachdruck herauszustellen und die Richtlinien aufzustellen, die dazu beitragen können, die in außergewöhnlichen Zeiten durch Unrechtsnormen beeinträchtigte Rechtsordnung wieder herzustellen. Trotzdem aber - in einer Fußnote - sagt Henkel weiter, 1 2 1 daß innerhalb rechtsstaatlich geordneter Gemeinwesen sich das Problem möglicherweise auf dem Boden des positiven Rechts lösen läßt; wenn ein Verfahren der Normenkontrolle vor dem Verfassungsgericht vorgesehen ist, wonach dieses Gericht auf Anruf darüber zu entscheiden hat, ob ein Gesetz verfassungswidrig ist. In einem solchen Falle würde eine Unrechtsnorm mit ziemlicher Sicherheit als im Widerspruch zu einem verfassungsmäßig geschützten Grundrecht oder zu einem Verfassungsprinzip stehend zu beurteilen sein, könnte als Gegenstand des Normenkontrollverfahrens werden. Dann ergäbe sich für unser Problem sozusagen eine Vorschaltregelung positiv-rechtlicher Art mit folgender Modifikation: bis zur Entscheidung des Verfassungsgerichts wäre die angezweifelte Norm als gültig zu behandeln; die Feststellung der Nichtigkeit durch Entscheidung des Verfassungsgerichts hätte Gesetzeskraft. Henkel bemerkt aber mit Recht, daß die

118

Heinrich Henkel, I.e. S. 566. us Heinrich Henkel, I.e. S. 566. 120 Heinrich Henkel, I.e. S. 566f. 121 Heinrich Henkel, I.e. S. 567, Anm. 77.

§50. Die rechtliche Geltung und die Verbindlichkeit

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Möglichkeit einer solchen positiv-rechtlichen Lösung das hier erörterte rechtsphilosophische Problem nicht gegenstandslos werden läßt. „Ihm wird man dort ins Auge sehen müssen, wo eine rechtsstaatliche Regelung im Normenkontrollverfahren entweder gar nicht vorgesehen oder infolge der eingetretenen politischen Verhältnisse praktisch beseitigt i s t . " 1 2 2 Wenn wir jetzt zu unserer Lösung dieser Frage der Geltung der Rechtsnormen contra humanitatem übergehen, müssen wir uns folgendes vergegenwärtigen: Im Kern der gesamten Auffassung, die durch die Worte „lex dura sed lex" ausgedrückt und der Mehrheit der „positivistischen" Lösungen dieses Problems und auch der Lösung der Reinen Rechtslehre eigen ist, liegt - meiner Meinung nach - die grundfalsche Vorstellung von der absoluten Zäsur zwischen der rechtlich-kognitiven und rechtlich-volitiven Sphäre zugrunde. Die Rechtswissenschaft - qua Wissenschaft - soll nur erkennen (und daher auch in ein System einreihen), was die „Laien" als Gesetzgeber in Form von Gesetzen erlassen hatten. Ein Rechtswissenschaftler und mit ihm auch der Richter (als pars pro toto gemeint) sind daher verurteilt, die event. Bastard-„Gesetze", die in solchen Fällen herausgegeben wurden, demütig zu akzeptieren, deren Inhalt am treuesten zu interpretieren und anzuwenden. Die Verantwortlichkeit derer, die zwar mit bestem Willen, doch nur mit scheinwissenschaftlichen Gründen lehren, es bestehe eine absolute Zäsur zwischen der rechtlich-kognitiven und der rechtlich-volitiven Sphäre, und die Bildung von richtigen Rechtsnormen, in erster Reihe von Gesetzen sei daher Sache derer, die alles mögliche, nur nicht das Rechtliche kennen, ist unermeßlich. Alle, die in solcher Weise argumentieren, wußten nicht, daß es sich hier überhaupt nicht um einen qualitativen, sondern höchstens nur um einen quantitativen Unterschied handelt - nur im Grade der Sicherheit der Feststellung des Inhaltes der Rechtsnorm. Es ist nämlich leichter, den Inhalt eines Gesetzes oder einer Gesetzesbestimmung als eines Teiles des objektivierten Rechtsgeistes festzustellen, als den Inhalt eines dieses Gebiet behandelnden Teiles des Rechtsbewußtseins der betreffenden Rechtsgemeinschaft einschließlich der rechtlichen Weltanschauung mit der realen Idee des Rechts (dieser dialektischen Synthese der Gedanken der Gerechtigkeit, der Freiheit des konkreten Menschen, der Rechtssicherheit und der Zweckmäßigkeit), also den Inhalt des objektiven Rechtsgeistes mit seiner primär abgeleiteten Normativität. Man kann aber mit rechtssoziologischen Methoden und Techniken auch den betreffenden Inhalt des objektiven Rechtsgeistes feststellen und klarstellen.

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Heinrich Henkel, I.e. S. 567, Anm. 77.

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Der Kern dieses Grundfehlers liegt in der Unkenntnis des objektiven geistigen Seins, besonders seiner Sphären, welche die abgeleitete Normativität aufweisen. Leider ist die ganze Entwicklung in dieser Richtung, von Hegel bis Nicolai Hartmann, fast unbekannt oder wird ignoriert. Sonst würde man wissen, daß das objektive geistige Sein mit seiner abgeleiteten Normativität ebenso real und, wenn auch mit etwas größerer Schwierigkeit, erkennbar ist, wie das objektivierte geistige Sein oder auch die niedrigeren Schichten des stufenförmigen Aufbaues der realen Welt. In den Sollsätzen erkennen w i r das objektive geistige Sein abgeleiteter normativer Provenienz, ganz analog wie w i r in den Seinsurteilen (in den Aussagen) das physisch materielle Sein, das organische Sein und das seelische Sein erkennen. Es ist also nicht richtig, die Sollsätze als Gebilde zu begreifen, bei denen man nach ihrer Wahrheit überhaupt nicht fragen darf und kann und bei welchen es sich um etwas wesentlich anderes handelt, als wenn man die Seinsurteile verifizieren will. Das ist eben der Grundfehler einer Mehrheit der großen deontologischen Literatur, 1 2 3 wo behauptet wird, daß der Sollsatz nicht verifizierbar ist und daß für die Sollsätze nicht das „principium exclusi tertii" gilt. Erst die auf das Rechtliche angewandte und weiterentwickelte kritische Ontologie hat gezeigt, daß ein objektives geistiges Sein, welches real und erkennbar ist, existiert und daß im Rahmen dieses objektiven geistigen Seins Sphären (besonders die moralische und die rechtliche Sphäre) mit abgeleiteter Normativität existieren. Es handelt sich also um die Erkenntnis dieses objektiven geistigen rechtlichen Seins (des objektiven Rechtsgeistes). Die Antworten, die diesbezüglichen Sollsätze, in welchen w i r zur Erkenntnis des objektiven Rechtsgeistes kommen, sind verifizierbar; sie können als wahr oder unwahr charakterisiert werden. Aber auch die wissenschaftliche rechtliche Weltanschauung, dieser Stufenbau der einzelnen für das Rechtliche entscheidenden Ideen mit der realen Rechtsidee an der Spitze, gehört in die reale Welt, und zwar auch in ihre höchste Schicht, in das geistige Sein; auch hier handelt es sich also um ein Erkennen, auch hier erkennt der Rechtsnormenschöpfer. Auch hier sind seine Rechtssollsätze verifizierbar; sie können als wahr oder unwahr charakterisiert werden. Der Unterschied zwischen dem Erkennen des objektivierten Rechtsgeistes (der Gesetze, Verordnungen usw.) und dem Erkennen des objektiven Rechtsgeistes (dem Rechtsbewußtsein usw. des Volkes) mit der wissenschaftlichrechtlichen Weltanschauung (mit der realen Idee des Rechts an der Spitze) ist nur - wie schon gesagt wurde - quantitativ, nicht qualitativ. Es handelt 123 Dazu siehe Vladimir Kübel·, Die Logik im rechtlichen Gebiet, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, 27, 1976, S. 284ff.

§50. Die rechtliche Geltung und die Verbindlichkeit

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sich nur um Grade der „Sicherheit" der Erkenntnis. Es ist leichter, die herausgegebenen Gesetze als die wissenschaftlich-rechtliche Weltanschauung oder gar die Rechtsüberzeugung des Volkes zu erkennen. Der Grad der Sicherheit ist gewiß am kleinsten, wenn der Rechtsanwender (oder der „Rechtsschöpfer") bis zur Normidee des Rechts rekurieren muß. Immer aber handelt es sich grundsätzlich um ein Erkennen. Es fällt also die ganze Argumentation der „Positivisten" mit ihrem Dictum „lex dura sed lex", weil man nicht nur Gesetze, also nicht nur den objektivierten Rechtsgeist, sondern auch den objektiven Rechtsgeist (das Rechtsbewußtsein des Volkes einschließlich der wissenschaftlich-rechtlichen Weltanschauung und der realen Idee des Rechts) - diesen mit rechtssoziologischen Methoden und Techniken - erkennen kann. Weiter müssen w i r uns vergegenwärtigen, daß man diese Frage als die Frage der Geltung des Rechts im Sinne ihres Einfügens in den objektiven Rechtsgeist, in die reale Idee des Rechts und letztlich in die ideale Normidee des Rechts nicht vom immanent-rechtlichen, positiv-rechtlichen Standpunkt adäquat und in letzter Instanz lösen kann. Aber auch wenn man noch im Rahmen des immanent-positiv-rechtlichen Standpunktes bleibt, wenn man die Frage löst, ob die betreffende Staatsrechtsordnung gültig ist, ist es unmöglich, diese Frage von der Basis dieser Staatsrechtsordnung her selbst zu lösen, sondern w i r müssen uns über die betreffende Staatsrechtsordnung erheben und diese Frage auf der Grundlage der den Staatsrechtsordnungen übergeordneten Rechtsnormen des Völkerrechts lösen. Dasselbe gilt, wenn man die Frage der Geltung des Völkerrechts selbst, oder einer Norm dieses Völkerrechts lösen will. Auch in diesem Falle kann man die Frage der Geltung nicht vom immanent völkerrechtlichen Standpunkt lösen, sondern w i r müssen hinauf und noch höher aufsteigen und von dieser höheren Ebene über die völkerrechtlichen Geltung einer Norm entscheiden. Keinesfalls genügt es mit einer „Grundnorm" zu operieren. In diesem Falle würde ein solches Operieren mit der Grundnorm nichts anderes bedeuten, als eine gewaltsame Beendigung der ganzen Argumentation und keine Lösung. Es ist daher notwendig über das positive Recht einschließlich des Völkerrechtes hinaufzusteigen, um ein Kriterium zu finden, welches dem Recht als dem Phänomen überhaupt übergeordnet wäre. Das gesamte System des Rechts muß man im objektiven Rechtsgeist (einschließlich der wissenschaftlich-rechtlichen Weltanschauung mit ihrer realen Idee des Rechts an der Spitze) verankern. In letzter Instanz tendiert allerdings alles Reale zur idealen Welt, zum Reich der Normideen, und in unserem Falle zur Normidee des Rechts, die gemeinsam mit den anderen Normideen (der Sittlichkeit, des Schönen und der Wahrheit und Richtigkeit) einen Bestandteil der höchsten Normidee überhaupt, der Normidee des Guten (der konkreten Menschlichkeit) bildet. 25 Kube§

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Der Idee der Rechtssicherheit würde vielleicht entsprechen, wenn die Geltung des Rechts überhaupt nicht von etwas so „schwer" feststellbarem abhängig wäre, wie es letztlich jede Wertung einer Rechtsnorm durch den Wertmaßstab der Gerechtigkeit und Freiheit ist. Wenn nur die Idee der Rechtssicherheit den Inhalt der realen Idee des Rechts und der idealen Normidee des Rechts bildete, dann müßte man sich mit dem Dictum des frühen Gustav Radbruchs zufrieden erklären: „Wenn nicht festgestellt werden kann, was rechtens ist, so muß festgesetzt werden, was rechtens sein soll und zwar von einer Stelle, die was sie festsetzt, auch durchzusetzen in der Lage ist." Es existieren aber zwei Argumente gegen dieses Dictum: Erstens: die Idee der Rechtssicherheit ist keinesfalls der einzige Bestandteil der realen Idee des Rechts und der idealen Normidee des Rechts. Zweitens: der objektive Geist, einschließlich der wissenschaftlich-rechtlichen Weltanschauung mit der realen Idee des Rechts, ist mit rechtssoziologischen Methoden und Techniken feststellbar. Man muß zuerst den Inhalt der Idee und Normidee des Rechts, deren Bestandteile, berücksichtigen und zwar die Ideen der Gerechtigkeit, der Rechtssicherheit, der Zweckmäßigkeit und der Freiheit des konkreten Menschen. Die reale Idee des Rechts und die ideale Normidee des Rechts hat noch andere Bestandteile als die Idee der Rechtssicherheit, und zwar vor allem die Idee der Gerechtigkeit und die Idee der Freiheit des konkreten Menschen. Beide diese Ideen sind direkte Gesandte der höchsten realen Idee der Humanität und der idealen Normidee des Guten (der konkreten Menschlichkeit), sowie autorisierte Vermittler zwischen der realen Idee des Rechts und der realen Idee der Moral, bzw. zwischen der Normidee des Rechts und der Normidee der Sittlichkeit. Die Stimme dieser zwei realen Ideen, bzw. idealen Normideen (der Gerechtigkeit und der Freiheit des konkreten Menschen) als der Bestandteile der Idee bzw. Normidee des Rechts, ist so mächtig, daß sie die Stimme der Idee der Rechtssicherheit übertönt, zumindest insoweit, daß ein krasser Widerspruch zu den Regeln der konkreteren Menschlichkeit unvereinbar mit Recht ist. Das bedeutet, daß so ein grober Widerstreit die Ungültigkeit der Rechtsnorm, bzw. der diesbezüglichen Staatsrechtsordnung zur Folge hat. Dabei denkt man zuerst an das Recht als an ein Ganzes, möge es sich um einzelne Staatsrechtsordnungen oder um das Völkerrecht handeln. So ist z.B. eine Staatsrechtsordnung, welche als ein Ganzes im Durchschnitt seiner Bestimmungen gegen die Grundsätze der Menschlichkeit verstößt, ungültig, stellt keine Rechtsordnung dar, und zwar mit allen Folgen, die das Völkerrecht kennt. Hier ist es vielleicht möglich, gerade positiv-rechtlich zu argumentieren und sich auf die allgemein anerkannten Grundsätze und Normen des Völkerrechts zu berufen. In diesem Sinne denkt man besonders an die Kataloge von Menschenrechten. Die Vereinten Nationen haben besonders nach dem zweiten Weltkrieg

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Menschenrechtskataloge von verschiedener Wirkung ausgearbeitet. Ihre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 und dann die U N Konventionen: Über die Verhütung und Bestrafung von Völkermord (1948), Über die politischen Rechte der Frauen (1954), Über die Beseitigung aller Formen von Rassendiskriminierung (1969), Über die Nichtverjährung von Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen (1970), und vor allem die Konvention über politische Bürgerrechte und die Konvention über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 16. Dezember 1966 sind besonders wichtig. Hier sind die einzelnen Grundrechte normiert, besonders Recht auf Gesetzlichkeit, Recht auf Arbeit, auf Gesundheitsschutz, auf Bildung, auf einen annehmbaren Lebensstandard, auf Meinungs-, Koalitions- und Vereinigungsfreiheit, auf Gleichberechtigung der Geschlechter und auf direkte oder indirekte Mitwirkung an der politischen Leitung, die meiner Meinung nach nicht nur Pflichten und Rechte einzelner Völker, sondern auch einzelner Menschen sind. „Schließlich ist die Persönlichkeitsentwicklung des einzelnen ein notwendiges Element der Vorwärtsbewegung der Gesellschaft; denn nur in dem Maß, in dem der einzelne in der Gemeinschaft mitregiert, gestaltet er die Bedingungen seiner eigenen Entwicklung." 1 2 4 Was den letzten Bestandteil der Idee, bzw. der Normidee des Rechts betrifft, nämlich die Idee der Zweckmäßigkeit, steht diese Idee nicht im Vordergrund des Kampfes und Interesses. Es würde sich aber doch bei genauerer Betrachtung zeigen, daß auch diese Idee beiden Ideen der Gerechtigkeit und der Freiheit in ihrem Kampf gegen die Idee der Rechtssicherheit hilft. Letzten Endes würde jede Rechtsordnung höchst unzweckmäßig sein, wenn in ihr z.B. eine Bestimmung gälte, daß alle Neugeborenen, die rothaarig sind, hingerichtet werden sollen, oder eine Bestimmung, daß für die Straftaten nicht die Täter selbst, sondern ihre Eltern verantwortlich sind. Viel schwieriger ist ein Entscheiden über die Geltung einer einzelnen Rechtsnorm, z.B. einer gewissen völkerrechtlichen Rechtsnorm oder eines Gesetzes des Staates oder eines Gerichtsurteils, wenn eine solche Rechtsnorm einen Verstoß gegen die Menschlichkeit bedeutet, wenn sie contra humanitatem ist. Der Zusammenstoß der Idee der Gerechtigkeit und der Idee der Freiheit des konkreten Menschen auf der einen Seite und der Idee der Rechtssicherheit auf der anderen Seite ist hier viel schärfer und die Waage, auf der die Argumente beider Gegenideen liegen, ausgeglichener. Wenn man einen solchen Tatbestand beurteilt, muß man von dem Grundgedanken ausgehen, welchen Umfang und welche Tragweite jene Rechtsnorm contra humanitatem hat. Man kann sich gewiß ein Gesetz im Rahmen der gesamten Staatsrechtsordnung vorstellen, welches so tief und weit ein124

S. 784. 25

Georg Klaus und Manfred Buhr, Philosophisches Wörterbuch, 11. Aufl., 1975,

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greift, daß es „unmenschlich" für weitere Pflichtsubjekte ist und in solcher Weise die Staatsrechtsordnung als ein Ganzes „infiziert". In einem solchen Falle ist es unbedingt notwendig, ein solches Gesetz und auch eine solche einzelne Rechtsnorm contra humanitatem für ungültig, für null und nichtig zu erklären. Eine andere Frage ist freilich, wer diese Ungültigkeit aussprechen soll. Sicher ist, daß es hier um eine absolute Ungültigkeit, um Nichtigkeit, oder besser gesagt - um eine „Non-Rechtsnorm" geht und daß eine solche „Rechtsnorm" wegen eines groben Verstoßes gegen die Menschlichkeit nie Bestandteil einer Staatsrechtsordnung oder des Völkerrechtes sein kann. Auf der anderen Seite steht man aber vor dem Faktum, daß tatsächlich, z.B. in der Praxis der Gerichte, eine solche „Non-Rechtsnorm" im betreffenden Staat als gültig vorausgesetzt, interpretiert und angewendet wird. Wenn eine positiv-rechtliche Bestimmung der betreffenden Staatsrechtsordnung über die Nichtigkeitserklärung einer solchen „Non-Rechtsnorm" durch ein besonderes Organ, z.B. durch das Verfassungsgericht existiert, ist eine solche Problematik positiv-rechtlich lösbar. Wenn nicht, so kann und muß man noch weiter (und noch positiv-rechtlich) argumentieren, mit dem Völkerrecht arbeiten und versuchen, ob hier eine Rechtsbestimmung ist, welche angewendet werden soll. Wenn aber diese ganze positiv-rechtliche Argumentation nicht möglich ist, so fließt die Nichtigkeit einer solchen „Rechtsnorm contra humanitatem" aus dem objektiven Rechtsgeist, besonders aus der wissenschaftlich-rechtlichen Weltanschauung und aus der realen Idee des Rechts und letztlich aus der idealen Normidee des Rechts, besonders aus der Argumentation, daß eine solche „Rechtsnorm" contra humanitatem gegen die beiden ersten Bestandteile der Idee, bzw. Normidee des Rechts, nämlich gegen die Ideen der Freiheit des konkreten Menschen und der Gerechtigkeit verstößt. Wahrscheinlich wird man eine „immanente" Gegenargumentation hören und zwar mit Rücksicht darauf, daß man doch den objektivierten Rechtsgeist solange in Geltung läßt, als diese Objektivation im „legalen" Wege oder im Wege der Revolution nicht derogiert ist. Gegen diese Argumentation kann man geltend machen: Erstens, daß es doch um eine Objektivation des damaligen objektiven Geistes geht und daß man dabei von der grundlegenden Voraussetzung ausgeht, daß - begreiflicherweise - eine „Rechtsnorm" contra humanitatem im objektiven Rechtsgeist der damaligen Zeit nicht enthalten sein konnte und es daher zu keiner Objektivation einer solchen „Rechtsnorm" kommen konnte. Zweitens kann man einwenden, daß gerade die von der Rechtsordnung berufenen Organe berechtigt und sogar verpflichtet sind, solche „Rechtsnormen" contra humanitatem für n u l l und nichtig zu erklären.

§51. Recht und Staat

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Anders liegt die Sache wahrscheinlich, wenn es sich um eine einzelne Rechtsnorm kleinen Umfanges handelt. Hier muß man die ganze Argumentation auf den immanent-positiv-rechtlichen Standpunkt begrenzen und den Inhalt der betreffenden Staatsrechtsordnung untersuchen. Es gibt eine Reihe solcher positiv-rechtlichen Hilfsbestimmungen in den Staatsrechtsordnungen, wie z.B. die Bestimmungen über die Ungültigkeit der Rechtsgeschäfte contra bonos mores. Hierher gehören grundsätzlich auch andere sog. Generalklauseln, d. h. elastische Bestimmungen, welche es uns ermöglichen, die Regel der Humanität, der Billigkeit, in kleinerem oder größerem Umfange in die positive Rechtsordnung einzureihen. Manchmal werden die ordentlichen und besonders die außerordentlichen Rechtsmittel Hilfe bringen. Allerdings - wenn alles versagt - und wenn auch die Völkerrechtsordnung nicht hilft, kann in einer Staatsrechtsordnung eine einzelne Rechtsnorm contra humanitatem bleiben. Was tut man in einem solchen Fall? Ist auch eine solche Rechtsnorm nichtig, handelt es sich um eine „Non-Rechtsnorm"? Kann man auch in einem solchen Falle zum objektiven Rechtsgeist, zur realen Idee des Rechts und letztlich zur idealen Normidee des Rechts rekurrieren? Wenn es sich um einen ganz kleinen Umfang der Wirksamkeit einer solchen Rechtsnorm contra humanitatem handelt, muß man sich für ihre Gültigkeit entscheiden. In einem solchen Falle überwiegt die Idee der Rechtssicherheit über die Ideen der Gerechtigkeit und der Freiheit. Auf solche Fälle, aber nur auf solche Fälle trifft die bekannte Antwort Zacharias zu, daß man so eine Rechtsnorm respektieren muß, „ne conturbaretur ordo", und nur auf solche Fälle treffen die heroischen und tiefbegründeten Worte von Sokrates vom Untergang eines Staates zu, wo Urteile keine Kraft haben, sondern wo sie durch einzelne Menschen für nichtig erklärt werden können.

§51. Recht und Staat I. Bei der Lösung der Problematik des Wesens des Rechts stößt man immer von neuem auf die Problematik des Wesens des Staates und auf das wechselseitige Verhältnis von Recht und Staat. Auch hier begegnet man einer Fülle von verschiedensten Ansichten, die man in zwei große Gruppen und in einige Untergruppen einreihen kann. Die erste Gruppe bilden diejenigen Denker, die einen Unterschied zwischen dem Recht und dem Staat feststellten (die dualistischen Auffassungen von Recht und Staat). Schon Immanuel Kant unterschied zwischen dem Recht und dem Staat: 1 „Ein Staat (civitas) ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen."

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Ein typischer Vertreter dieser ersten Gruppe ist Léon Duguit y 2 der scharf zwischen dem Recht und dem Staat unterscheidet und argumentiert, daß zuerst das Recht war und erst nachher der Staat entstand. In die zweite Gruppe gehören diejenigen Denker, die das Recht mit dem Staat identifizieren (die monistischen Auffassungen vom Recht und Staat): Staat ist Recht und Recht ist Staat. Typische Repräsentanten dieser Auffassung sind Hans Kelsen 3 und Franz Weyr.* Für Kelsen besteht die Gemeinschaft - und auch der Staat ist eine Gemeinschaft - „ i n der das Verhalten einer Mehrheit von Individuen regelnden normativen Ordnung. Man sagt zwar, die Ordnung konstituiert die Gemeinschaft. Aber Ordnung und Gemeinschaft sind nicht zwei verschiedene Gegenstände. Eine Gemeinschaft von Individuen, das heißt: das was diesen Individuen gemein ist, besteht nur in dieser ihr Verhalten regelnden Ordnung." Der Staat w i r d „nur durch eine normative Ordnung konstituiert", durch die staatliche Rechtsordnung. 5 Der Staat ist eine Normenordnung und besitzt als solche eine ideelle Wirklichkeit. 6 „Nicht im Reiche der Natur - der physisch-psychischen Beziehungen - , sondern im Reiche des Geistes steht der Staat." 7 „Das Spezifische dieses als Staat bezeichneten geistigen Gehaltes ist eben, daß er ein System von Normen ist. Und dieser normative Charakter des Staates drückt sich - unbewußt und unwillkürlich - gerade in der Darstellung solcher Autoren aus, die den Staat als kausalgesetzlich determinierte Realität zu charakterisieren glauben. Die Eigenschaft, die sie von ihm aussagen und aussagen müssen, wollen sie nur einigermaßen der Vorstellung entsprechen, die man allgemein und speziell in der Staatslehre mit dem Staat verbindet, sind nur als Eigenschaften eines Normensystems möglich." 8 „Die ganze Welt des Sozialen, deren der Staat nur ein Teil ist, ist eine Welt des Geistes, und zwar eine Welt der Werte, ist geradezu die Welt der Werte." 9 „Ist erkannt, daß die Existenzsphäre des 1 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten in zwei Teilen, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Der Rechtslehre Zweiter Teil, Das öffentliche Recht, Erster Abschnitt, Das Staatsrecht, 1797, § 45, in: Ernst Cassirer, Immanuel Kants Werke, Bd. VII, 1922, S. 119. 2 Léon Duguit, Traité de Droit constitutionel, 3. éd., Tome premier, 1927, S. 104f. 3 Hans Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, Beitrag zur Reinen Rechtslehre, 1920; derselbe, Allgemeine Staatslehre, S. 5ff., 14, 90f., derselbe, Der Staat als Integration, 1930, S. 283ff.; derselbe, Was ist die Reine Rechtslehre? Festschrift für Giacometti, 1953, S. 156. 4 Franz Weyr, Teorie prâva (Theorie des Rechts), 1936, S. 92; derselbe, tJvod do studia prâvnického, Normativni teorie (Eine Einführung in das juristische Studium, Die normative Theorie), 1946, S. 48f. 5 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, Nr. 21, 30c, 41a; derselbe, Der Staat als Integration, Abschn. I. 6 Hans Kelsen, Der Staat als Integration, 1930, Abschn. I. 7 Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 14. 8 Hans Kelsen, I.e. S. 14. 9 Hans Kelsen, I.e. S. 15.

§51. Recht und Staat

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Staates normative Geltung und nicht kausale Wirksamkeit, daß jene spezifische Einheit, die wir in den Begriff des Staates setzen, nicht in der Welt der Naturwirklichkeit, sondern in jener der Normen oder des Wertes liegt, daß der Staat seinem Wesen nach ein System von Normen oder der Ausdruck für die Einheit eines solchen Systems ist, dann ist damit die Erkenntnis, daß der Staat als Ordnung nur die Rechtsordnung oder der Ausdruck ihrer Einheit sein kann, eigentlich schon erreicht. Daß der Staat in einer Wesensbeziehung zur Rechtsordnung stehe, wird allgemein anerkannt. Daß diese Beziehung aber nicht Identität bedeutet, wird nur darum angenommen, weil man den Staat nicht selbst als Ordnung erkennt." 1 0 Tut man dies, dann zeigt sich „als der immanente Sinn der herrschenden Lehre selbst die Identität von Staat und Recht unter dem Gesichtspunkt der Ordnung." „Es gilt eben die Positivität des Rechtes mit seiner Normativität in Einklang zu bringen. Ist dies aber geschehen, dann ist das ,positive' Recht identisch mit dem w i r k lichen, dem historisch konkreten Staat." 1 1 „Es gibt keinen soziologischen Begriff des Staates neben dem juristischen Begriff. Ein solcher doppelter Begriff des Staates ist logisch unmöglich, und zwar schon deshalb, weil es für ein und dasselbe Objekt nicht mehr als einen Begriff geben kann. Es gibt nur einen juristischen Begriff des Staates: der Staat als - zentralisierte Rechtsordnung. " 1 2 Nach Franz Weyr „können wir an dem Staate nichts anderes juristisch sehen als seine Rechtsordnung." 13 „Ein klares Bewußtseinwerden, daß eine Gleichung zwischen dem Staat und seiner Rechtsordnung, wie das die normative Theorie lehrt, scheint - vom Standpunkt der traditionellen Vorstellungen vom Staat - eine revolutionäre Entdeckung zu sein; in der Wirklichkeit aber erkennt auch die traditionelle Rechtslehre, daß juristisches Erkennen des Staates nicht anders als durch das Erkennen des Inhalts seiner Rechtsordnung stattfinden kann." „Wenn w i r sagen, daß w i r den Staat erkennen, und wenn wir dadurch wirklich das Erkennen seiner Schöpfung, d.h. der Rechtsordnung meinen, führen w i r eine Umwandlung oder eine Hyposthasis des normativen Erkennens durch. Anstatt der Norm tritt ihr Schöpfer als handelnde Person (d.h. der Normenschöpfer) an. Eine ähnliche Hyposthasis des Gegenstandes des Erkennens findet sonst bei den primitiven Völkern auch anderswo statt, z.B. wenn sie die unlebende Natur Berge, Wälder, Bäche, Quellen, usw. - mit verschiedenen mythischen Personen (Götzen, Feen und ähnlich) beleben." 14 „Aus der Erkenntnis, daß vom normativen Standpunkt der Staat und das Recht (die Rechtsordnung) das10

Hans Kelsen, I.e. S. 16. Hans Kelsen, I.e. S. 18. 12 Hans Kelsen, General Theory of Law and State, S. 188f. 13 Franz Weyr, tJvod do studia prâvnického, Normativni teorie (Eine Einführung in das juristische Studium, Die normative Theorie), S. 48. 14 Franz Weyr, I.e. S. 48. 11

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selbe bedeuten, geht weiter hervor, daß das gesamte Recht notwendigerweise ein Staatsrecht ist und zwar in dem Sinne, daß sein Schöpfer - direkt oder indirekt - der Staat ist, weil wir die Rechtsnorm - im Unterschied von anderen (z.B. gesellschaftlichen, sittlichen und anderen) Normen - durch ihren Schöpfer, d. h. durch den Staat definieren ... Und den Staat wieder ... kann man normativ nicht anders definieren, als den Schöpfer der Rechtsnormen." 15 II. Im Rahmen der ersten Gruppe wird das Wesen des Staates wieder in verschiedener Art und Weise erfaßt. Auf der einen Seite gibt es hier eine Reihe von soziologischen Auffassungen im engeren Sinne, die regelmäßig auf die rechtliche Seite der Problematik keinen Bedacht nehmen, obzwar sich diese Problematik immer von neuem in ihre Lösungen einschleicht. In diesem Zusammenhang kann man die „Theorie der Wechselwirkung" von Georg Simmel 16, die Theorie der Parallelität psychischer Prozesse 17, verschiedene Theorien der Motivation (der Herrschaft), besonders die soziologische Auffassung von Ludwig Gumplowicz ls und die Auffassung von Fr. Oppenheimer 19, anführen. Gegen solche soziologische Konstruktion des Wesens des Staates kann man einwenden, daß infolge der Tatsache, daß sie sich überhaupt nicht die Komplexheit des Phänomens des Staates vergegenwärtigt haben; infolge der Unkenntnis des hierarchischen Stufenbaues der realen Welt, in deren alle Schichten des Phänomens des Staates eingreift, und besonders der abgeleiteten Normativität einiger Sphären des geistigen Seins, mußte ihr ganzes Bemühen trotz mancher wertvoller Erkenntnisse in seinem Endergebnis scheitern. Besonders die normativ-rechtliche Seite, welche eine so bedeutende Rolle in dem komplex-dialektischen Phänomen des Staates spielt, blieb ohne Berücksichtigung. Diese soziologischen Auffassungen vergewaltigen mit den Kategorien, die für die niedrigeren Schichten des realen Seins typisch und dominant sind, die höchste Schicht des stufenförmigen Aufbaus der realen Welt. Dadurch vergewaltigen sie auch ein solches Gebilde wie es der Staat ist, in dem alle Bestandteile der realen Welt erscheinen und auch die abgeleitete Normativität in Frage kommt. 15

Franz Weyr, I.e. S. 48f. Georg Simmel, Soziologie, 1908; vgl. Hans Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 4ff.; derselbe, Allgemeine Staatslehre, S. 7ff.; Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 757. 17 Vgl. Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 9 f. 18 Ludwig Gumplovicz, Die soziologische Staatsidee, 2. Aufl., 1902; vgl. besonders Adolf Menzel, Die energetische Staatslehre, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 66, 1931, S. 158ff. 19 Fr. Oppenheimer, System der Soziologie, I, S. 929f.; vgl. Adolf Menzel, I.e. S. 160; Otto Hinze, Soziologische und historische Staatsauffassung, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 86, S. 35 ff. 16

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III. Auf der anderen Seite gibt es hier verschiedene Auffassungen, die beide Betrachtungen, die soziologische im engeren Sinn und auch die rechtliche, verbinden wollen. Hierher gehören besonders die organische Auffassung, die energetische Staatslehre, die Auffassung von Georg Jellinek, Praèàk, Somló, Max Weber, Julius Binder und Léon Duguit. Bei der organischen Staatstheorie sollen uns in Wirklichkeit unbekannte Kategorien des organischen Seins die Problematik des komplex-dialektischen Staatsgebildes erklären. Dabei könnten wir mit Hilfe dieser Kategorien, wenn sie bekannt wären, höchstens nur eine Seite dieses Gesamtgebildes, nämlich die organische Seite erfassen. Mit Hilfe dieser Kategorien könnten w i r aber weder das physisch-materielle Sein erfassen (wir begingen nämlich den Fehler, daß wir mit Hilfe von höheren Kategorien die niedere Schicht der realen Welt erklären wollen), und überhaupt nicht die höheren „Bestandteile" des Staates, d.h. die, welche in die Schicht des seelischen Seins und in die Schicht des geistigen Seins gehören. Was die energetische Staatslehre und ihr verwandte Lehren betrifft, muß man anerkennen, daß besonders Menzel durch die Breite seines Blickes viele wertvolle Erkenntnisse vom Wesen des Staates brachte. 20 Aber auch ihm ist es nicht gelungen, das Wesen dieses Phänomens zu erfassen. Auch er war letzten Endes vollkommen durch seinen Zentralgedanken beherrscht, das mehrschichtige komplexe Staatsgebilde mit Hilfe der „Kategorie" der „Energie" zu begreifen und zu erklären. Diese „Kategorie", physikalischchemisch interpretiert, ist zu einfach, um mit ihrer Hilfe die ganze sehr komplexe Struktur des Staatsgebildes zu erfassen. Dessen ist sich auch Menzel selbst bewußt und aus diesem Grunde spricht er von der „sozialen Energie". Dieser Begriff ist aber so unklar, daß es unmöglich ist, mit diesem Hilfsmittel unsere Frage nach dem Wesen des Staates zu lösen. Bei Menzel merkt man auch ein gewisses Vernachlässigen der rechtlichen Problematik. Das Bestreben von Georg Jellinek 21, die Lösung des ganzen Problems in einer Konstruktion von zwei Begriffen des Staates, einem sozialen und einem juristischen Begriff zu finden, ist nur eine Umgehung des Problems. Es geht doch um das Erfassen des Wesens des Staates in seiner ganzen Fülle, um das Erfassen des Phänomens des Staates als solchen. Dabei sieht man freilich, daß dieser Gegenstand verschiedene Seiten hat, nicht gerade nur zwei, wie die Zweiseitentheorie lehrt, sondern daß der Staat - ganz in demselben Sinn wie das Recht - ein Gebilde ist, das aus allen Schichten besteht, resp. in alle Schichten der realen Welt eingreift. Es ist sicher notwendig, alle

20 Adolf Menzel, I.e. S. 158ff. 21 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., S. 130ff., 155f.

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diese Seiten in ihrer Isoliertheit und Reinheit herauszupräparieren, ebenso aber ist es notwendig, alle diese Seiten in einem einheitlichen Gebilde, im Staat, dialektisch zu vereinigen. Felix Somló begeht wieder einen anderen Grundfehler, wenn er meint, daß man das Recht ohne Staat überhaupt nicht denken kann. 2 2 Das Recht ist freilich ohne Gemeinschaft undenkbar, aber diese Gemeinschaft braucht nicht notwendig gerade der Staat zu sein. Man kann doch nicht das Völkerrecht als Recht negieren nur aus dem Grunde, daß es kein Staatsrecht ist. Sicher hatte auch Max Weber mit seiner Auffassung der „verstehenden Soziologie" und mit seiner Konstruktion der „Chance" Verständnis für die soziologische und auch die rechtliche Seite des mehrschichtigen Gebildes des Staates 23 . Trotzdem aber wollte er mit Hilfe der Kategorie der Kausalität die Bestandteile des komplexen Gebildes begreifen und beherrschen, die in das höchste Stockwerk des Aufbaues der realen Welt, in die Schicht des geistigen Seins, gehören. Der Staat ist doch im ähnlichen Sinne ein komplexes Gebilde, wie die ganze reale Welt; beim Staat sehen wir im Kleinen, was wir bei der realen Welt im Großen sehen, nämlich die Einheit in der Komplexheit, den stufenförmigen Aufbau aller Schichten des realen Seins und ihrer Kategorien. IV. Nach der Meinung von Julius Binder 24 steht der Staat, was er auch immer sei, in einer begrifflichen Beziehung zum Recht. In der Tat besteht ein notwendiger Zusammenhang von Staat und Recht und der Staat ist zwar keine Kategorie des Rechts, aber doch einer der Grundbegriffe des Rechts, der unmittelbar auf die Kategorie der Rechtsgemeinschaft zurückgeführt werden kann. Staat ist ein Volk, das durch sein Recht zur Einheit gebildet ist. Vom Staate kann es nur einen Begriff geben, der zwar das Recht des Staates nicht ausscheidet, aber auch die materielle Wirklichkeit des Staates nicht beiseite läßt, in dem also das sog. soziologische und das juristische Moment in gleicher Weise enthalten sind. Es ist daher unrichtig vor allem jede „Zweiseiten-Theorie", deren Vertreter etwa Kistiakowski 25 und Jellinek 26 sind. Verfehlt ist aber auch die Auffassung, die an die bekannte Lehre der kritischen Transzendentalphilosophie vom Gegenstand der Erkenntnis anknüpft, wonach uns der Gegenstand nicht gegeben ist, um dann erkannt zu werden, sondern in der Erkenntnis überhaupt erst erschaffen wird. Das

22

Felix Somló, Juristische Grundlehre, 1917, S. 252 ff. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1922, S. 6f., 13f. 24 Dazu und zum folgenden Julius Binder, Philosophie des Rechts, 1925, S. 483ff. 25 Kistiakowski, Gesellschaft und Einzelwesen, S. 60, 72, 143. 26 Georg Jellinek, Recht der Staatsverbindungen, S. 262; derselbe, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., S. 168, 333ff.; vgl. Julius Binder, I.e. S. 486. 23

§ 5 . Recht und

a

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Recht bedingt den Staat und es ist insofern nicht richtig, daß beide Seiten eines und desselben Verhältnisses, oder Wechselbegriffe seien. 27 Vor allem läßt sich nicht behaupten, daß Staat und Recht zusammenfallen, da beide zwar in derselben Sphäre der Wirklichkeit liegen, aber doch verschiedene Gegenstände dieser Wirklichkeit sind: das Recht als Inbegriff von Normen, wenn auch von wirklich seienden Normen, der Staat als Wirklichkeit von Menschen, von zu einem Volk zusammengeschlossenen Menschen. Der Staat selbst, wie jede séiner Lebensäußerungen ist ohne Recht undenkbar 28 . Der Staat existiert und funktioniert nur durch das Recht. Schon in der Idee ist das Verhältnis des Rechtes zum Staate das der Bedingung zum Bedingten. Dieses Verhältnis wird freilich dadurch etwas verdunkelt, daß es staatliches Recht gibt, daß also der Staat selbst als Quelle und Geltungsgrund von Rechtssätzen erscheint und diese Funktion um so mehr ausbildet, je mehr er sich selbst entwickelt, je mehr sich die Volksgemeinschaft zum Staat gestaltet 29 : Das einheitliche Prinzip des Rechts ist der lebendige Wille des Volkes, das indem es sein Recht hervorbringt, sich selbst damit zum Staat erhebt und als Staat betätigt 30 . V. Hans Ryffel 31 lehrt, daß Recht und Staat ein strukturiertes einheitliches Gefüge bilden. „Sie sind weder juristische noch soziologische Tatbestände, sondern Aspekte eines einheitlichen anthropologischen Grundbefundes, wie dies der Satz vom Menschen als dem ,ζοοη politikon' schon immer zum Ausdruck gebracht hat. Juristische und soziologische, politikwissenschaftliche und sonstige Erkenntnisperspektiven sind deshalb an sich zwar alle letitim, aber sie reichen nicht aus, um den Grundbefund zu bestimmen, den sie lediglich in bestimmten Perspektiven sehen." 32 Recht und Staat sind nach Ryffel 33 in der Wurzel aufs engste verbunden, trotzdem aber dürfen w i r sie nicht ohne weiteres gleichsetzen, denn wir sprechen von Recht und Staat im engeren Sinne als zwei getrennten Sachverhalten. Der Staat bekundet sich immer in der Form des Rechts. Das Handeln des Staates ist immer rechtliches Handeln, weil es wirklich-maßgebliches Handeln ist. Mit Rücksicht auf die heutige Entwicklung gibt es nicht Recht ohne Staat und Staat ohne Recht, auch wenn das Recht nicht ausdrücklich als Objektivation herausgestellt sein sollte. „Insofern zielt die Gleichsetzung von Recht und Staat in der ,Reinen Rechtslehre' Kelsens, 27

Julius Binder, I.e. S. 493. Julius Binder, I.e. S. 495. 29 Julius Binder, I.e. S. 495. 30 Julius Binder, I.e. S. 495. 31 Hans Ryffel, Rechts- und Staatsphilosophie, 1969, S. 172. 32 Vgl. zum Ganzen insbes. Martin Draht, Über eine kohärente Theorie des Staats und des Rechts, in Leibholz-Festschrift, 1966, Bd. I, S. 35 ff. 33 Hans Ryffel, I.e. S. 170. 28

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wenn auch in verzerrter Form, auf einen unbestreitbaren Sachverhalt. Dieser Sachverhalt ist auch gemeint, wenn ein sog. juristischer und ein sog. soziologischer Staatsbegriff in enge Verbindung gebracht werden (wie in Georg Jellineks ,Allgemeiner Staatslehre'). Doch werden die strukturellen Zusammenhänge nicht in angemessener Weise herausgearbeitet. Das Recht, als Inbegriff objektivierter Handlungsanweisungen, ist der normative Aspekt, und der Staat, als die effektive Maßgeblichkeit dieses Inbegriffs, ist der Wirklichkeitsaspekt ein und desselben Grundsachverhaltes." 34 VI. Nach der Meinung von Heinrich Henkel 35 handelt es sich nicht - vom Recht her gesehen - um eine schlechthin notwendige Verbindung zwischen dem Recht und dem Staat, da es vor allem außerstaatliches Recht in mancherlei Erscheinungsformen gibt. Wenngleich also das Recht nicht notwendig an die Existenzform einer Gruppe oder Sozietät als Staat gebunden ist, so nimmt doch das staatliche Recht eine so hervorragende Stellung ein, daß es geboten ist, die Beziehung von Recht und Staat in ihren rechtsphilosophischen Grundlagen zu erörtern. Der Staat ist in erster Linie durch ein existentielles Moment charakterisiert. Mit Berufung auf Smend sieht auch Henkel im Staat eine Form der politischen Existenz des in ihm zusammengefaßten Gemeinwesens.36 Der Staat ist eine „Gemeinschaft von höchster Existentialität." 3 7 Der Staat kann nicht ohne das Machtmoment bestehen. Die Macht tritt als Herrschaft auf. Die Herrschaftsgewalt des Staates ist gleichbedeutend mit hoheitlicher Gewalt. Um als echte Hoheitsgewalt angesehen zu werden, bedarf jede Herrschaft der Legitimierung durch den Gemeinwillen der Sozietät. 38 Gemeinsam ist allen Herrschaftsarten die Tendenz, ihre Macht auf eine Ordnung zu gründen. 39 Jede Herrschaft strebt nach institutioneller Verfestigung. Der Staat stellt, vom Gestalthaften her gesehen, die in eine politische Verfassung gebrachte Sozietät dar. Herrschaftsordnung ist nunmehr gleichbedeutend mit Staatsordnung. 40 Was das Verhältnis des Staates zum Recht betrifft, ist Henkel der Meinung 4 1 , daß das Verhältnis von Recht und Staat sich als ein sehr differenziertes zeigt, indem es Momente der Gemeinsamkeit und Übereinstimmung, 34

Hans Ryffel, 1. e. S. 171 f. Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie. Grundlagen des Rechts, 2. Aufl., 1977, S. 157ff. 36 Smend, Das Problem der Institutionen und der Staat, in: Recht und Institution (Hrsg. Dombois), 1969, S. 67; Heinrich Henkel, I.e. S. 158. 37 Smend, I.e. S. 74. 38 Heinrich Henkel, I.e. S. 159. 39 Heinrich Henkel, I.e. S. 160. 40 Heinrich Henkel, I.e. S. 160. 41 Heinrich Henkel, I.e. S. 160ff., 163ff. 35

§51. Recht und Staat

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aber auch solche der Spannung, sogar solche möglicher Gegensätzlichkeit und Konflikte enthält. Gemeinsam ist beiden das genetische Moment: sie entstammen der Wurzel des Politischen. 42 Ein Moment der Gemeinsamkeit zeigt sich auch in der strukturellen Übereinstimmung zwischen Staat und Recht. Beide enthalten ein relativ festes organisatorisches Gerüst, eine Vielfalt von Institutionen 43 . Damit ist auch auf das funktionale Zusammengehören und Zusammenwirken von Staat und Recht hingewiesen. Der Staat ist auf das Recht insofern angewiesen, als es ihm die Möglichkeit bietet, seine Einrichtungen und Aktivitäten soweit angängig zu verrechtlichen, d.h. in positivierten Rechtsnormen vorausregelnd festzulegen und damit einen planmäßigen Verlauf seiner Aktivitäten zu erzielen. 44 Das Recht ist seinerseits auf den Staat in dem Sinne angewiesen, daß dieser die Rechtseinrichtungen stützt und die Effektivität der rechtlichen Verhaltensnormen gewährleistet. Als Moment der Übereinstimmung zwischen Staat und Recht hebt schließlich Henkel hervor 45 , daß sie durch die Gemeinsamkeit ihres letzten Zieles geeint sind, das i n der größtmöglichen Verwirklichung des Gemeinwohls besteht. Bei aller „Wahlverwandtschaft" zwischen Staat und Recht ist aber nicht zu übersehen, daß dies auch Spannungsmomente in sich birgt. Vom Staat her gesehen können sie sich aus der Berufung auf die Staatsräson ergeben 46 . Diese kann von den im Staat Herrschenden mißbräuchlich herangezogen werden, um Machtpolitik auf Kosten des Rechts durchzusetzen. Es kann eine Konfliktsituation zwischen dem durch die Herrschenden repräsentierten Staat und dem Recht entstehen. 47 VII. Und nun zur Darstellung unserer Meinung! Die Unzulänglichkeit der bisherigen Auffassungen vom Verhältnis des Rechts und des Staates oder wenigstens einer großen Mehrzahl derselben wurzelt in der Einseitigkeit des methodologischen Zutrittes und besonders in der Unkenntnis der modernen, kritischen Ontologie. So wie das Recht ist auch der Staat kein einfaches Gebilde, das zu erklären mit Hilfe eines einzigen noetischen Standpunktes oder einer einzigen noetischen oder ontologischen Kategorie, oder - im besten Fall - mit Hilfe eines Verbandes von Kategorien, die aber einer einzigen Schicht der realen Welt, bzw. der Welt der Idealität angehören, möglich wäre. 42

Heinrich Henkel, Heinrich Henkel, 44 Heinrich Henkel, 45 Heinrich Henkel, 4 ® Heinrich Henkel, 47 Heinrich Henkel, 43

I.e. S. 163. I.e. S. 163. I.e. S. 164. I.e. S. 164. I.e. S. 164f. I.e. S. 165.

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Erklärungen von unten nach oben oder von oben nach unten sind unrichtig, weil sie das Phänomen, das wir beobachten und erfassen wollen, vergewaltigen. Die Erklärung von der Mitte her, und zwar wieder mit Hilfe von Kategorien einer einzigen Schicht des realen Seins, ohne Unterschied, ob es sich um die organische Schicht handelt, wie sich darum verschiedene organische Theorien bemühten, oder um die seelische Schicht, wie es besonders verschiedene soziologische Theorien, vor allem Simmeis Theorie der Wechselwirkung oder Smends Integrationstheorie tun, ist gleichfalls unrichtig, da auch sie das komplizierte Phänomen, wie es der Staat ist, vergewaltigen. Der Staat ist ein komplexes Gebilde. Der Staat bildet einen stufenförmigen Aufbau einzelner Seinsschichten, und dies wieder nicht unähnlich dem großartigen Aufbau der realen Welt. Alle jene Theorien, die versuchten, den Staat von der Position einer einzigen Schicht des realen oder idealen Seins her, zu erklären und sein Wesen zu erfassen, haben bestenfalls nur eine einzige Seite, nur einen einzigen Bestandteil des komplexen Phänomens des Staates erfaßt. Erst die dialektische Zusammenfassung aller dieser Seiten und Bestandteile ermöglicht uns, das Phänomen des Staates (sowie auch das des Rechtes) in seiner Fülle darzulegen, und nur in solcher Weise kann man sein Wesen erfassen. Während man beim Recht in erster Linie an einen Inbegriff von Normen denkt, denkt man beim Staat vor allem an einen Inbegriff von Menschen und an das Gebiet. Ohne persönliches Element würde auch kein Staat existieren. Schon dadurch ist eine große Kompliziertheit des Phänomens des Staates gegeben, da der Staat durch Menschen gebildet ist und der Mensch selbst schon ein sehr komplexes Gebilde ist, welches sich nicht nur aus der Schicht des organischen und des seelischen, sondern auch des geistigen Seins zusammensetzt, und „Einwohner" nicht nur der Welt der Realität, sondern - dank seiner Vermittlungsfunktion, dank seinem „organ du coeur" für die Normideen, dank seiner Voraussehbarkeit, Vorausbestimmbarkeit, seiner Zwecktätigkeit und Freiheit des Willens - auch der Welt der Idealität ist. Schon aus dem Grunde, daß der Staat sich aus Menschen als seinen Elementen zusammensetzt, übernimmt er in seiner Struktur die riesige Kompliziertheit der menschlichen Struktur, und es ist klar, daß schon mit Rücksicht darauf sich der Staat aus dem organischen Sein, aus dem seelischen Sein und auch aus dem geistigen Sein (aus den personalen Geistern einzelner Menschen als Subjekte und Personen) zusammensetzt. Es w i r d weiter verlangt, daß es zwischen diesen Menschen zu einer gegenseitigen Zusammenwirkung ihrer „Seelen" kommt und daß hier eine psychische Integration existiert. Offenbar wird sich auch aus diesem weiteren Grund die Schicht des seelischen Seins mit allen ihren Kategorien geltend machen.

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Ein Bestandteil des Staates ist das Gebiet. Es handelt sich um ein weiteres Staatselement. Das Gebiet gehört größtenteils in die Schicht des physischmateriellen und auch in die Schicht des organischen (Pflanzen, Tiere) Seins. Verbände von Kategorien dieser niedrigsten und tragenden Seinsschichten kommen also bei der Struktur des Phänomens des Staates stark in Betracht. Wo das Volk ist, dort findet man letztlich eine Gemeinschaft. Daher erscheint hier die Schicht des geistigen Seins in ihren drei Grundformen als personaler Geist, als objektiver Geist mit all seinem großen inhaltlichen Reichtum seiner Produkte, mit seinen Objektivationen, d.h. auch als objektivierter Geist. Alle Kategorien des geistigen Seins, vor allem die Kategorie der Zwecktätigkeit und die der abgeleiteten Normativität kommen hier zu voller Geltung. Mit bestimmender Kraft tritt hier der rechtliche Bestandteil auf, möge es sich direkt um den objektivierten Rechtsgeist (ius scriptum, ius non scriptum) handeln oder um den objektiven Rechtsgeist (das Rechtsbewußtsein, das Rechtsempfinden, die Rechtsüberzeugung des Volkes der betreffenden Gemeinschaft) oder um den personalen Rechtsgeist (das Rechtsbewußtsein, das Rechtsempfinden, die Rechtsüberzeugung einzelner Menschen als Subjekte und Personen mit allen ihren Fähigkeiten). Der Staat ist ohne Rechtsordnung nicht denkbar. Nur in der dialektischen Komplexheit aller dieser Bestandteile, die man allerdings vorher rein und präzis herauspräparieren muß, bekommen wir die Fülle des Phänomens des Staates und sein Wesen. Der Staat gehört in alle Schichten der realen Welt und hat - wie es sich auch bei ihm zeigen wird über den personalen Geist auch eine Verbindung mit der Welt der Idealität, mit dem Reich der Normideen. Der Staat ist freilich nicht Recht als solches und das Recht ist nicht Staat als solcher, wie die Schule der Reinen Rechtslehre irrtümlich argumentiert. Nur eine Gemeinschaft, die durch das Recht überformt ist, kann Staat sein. Der Rechtsstaat ist keineswegs bloß eine historische Kategorie, da ein Staat ohne Recht eine contradictio in adiecto darstellt. Ein Rechtsstaat wenn man freilich mit dem Attribut „Recht" nicht die Staaten, wo die Rechtsordnung folgerichtig eingehalten w i r d und die Menschenrechte respektiert werden, von Despotien und Tyranneien unterscheiden w i l l - ist daher ein Pleonasmus. Der Staat, weil Staat, ist ein Rechtsstaat, was bedeutet, daß es sich um ein komplexes, mehrschichtiges Gebilde handelt, in welchem gerade die Rechtsordnung eine dominante Komponente darstellt. Das bedeutet allerdings nicht, daß jeder Staat schon aus diesem Grunde ein idealer Staat im Platonschen Sinne ist, daß er daher die Idee des Rechts verwirklicht. Sicher keineswegs. Der Staat muß aber einen, wenn auch noch so unvollkommenen Versuch einer Tendenz zur Idee und Normidee des Rechts darstellen.

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

Der Staat ist also ein mehrschichtiges, komplexes Gebilde. Allen Schichten des realen Seins, und daher auch allen Verbänden von Kategorien dieser Schichten begegnen wir beim Phänomen des Staates. Im Unterschied zum Recht sind alle Schichten des realen Seins und Verbände diesbezüglicher Kategorien beim Staat gleichmäßig betont, allerdings mit einer Akzentuierung des territorialen und menschlichen Merkmales. Beim Recht überwiegt das geistige Sein bezw. gerade dieses Sein ist stark akzentuiert. Gerade das verleiht dem Recht seinen typischen Charakter. Die Kategorien des geistigen Seins, d.h. die Kategorien der Normativität und der Zwecktätigkeit sind beim Recht dominant und daher entscheidend. Anders ist es beim Staat. Hier handelt es sich offenbar um die grundsätzlich gleichmäßige Betonung aller Bestandteile aller Seinsschichten und ihrer Kategorien. Das Gebiet freilich, also das physisch-materielle Sein und auch das organische Sein mit ihren Kategorien, ist beim Staat stark akzentuiert und steht im Vordergrund des Interesses. Auch das Volk, also das organische, das seelische und das geistige Sein, spielt beim Staat eine besondere Rolle. Allerdings auch das Recht, besser gesagt die Rechtsordnung als ein Teil des geistigen Seins, als der objektivierte Rechtsgeist, ist gleichzeitig für den Staat wesentlich, wenn auch nicht so klar auf den ersten Blick bemerkbar. Es ist daher offensichtlich, daß alle Bestandteile des realen Seins in das Wesen des Staates (und freilich auch des Rechts) gehören, und daß also das Wesen des Staates einen typisch komplex-dialektischen Charakter aufweist. Beim Recht, insofern w i r nur seinen dominanten Bestandteil im Auge haben, und zwar den objektivierten Rechtsgeist, sind w i r zweifacher „Transzendenz" begegnet: einer „Transzendenz nach unten", weil das Recht infolge seines immanenten Bestandteiles, nämlich der Macht, auch in die niederen Schichten des realen Seins eingreift, und der „Transzendenz nach oben", zur Welt der Idealität, zum Reich der Normideen und speziell zur Normidee des Rechts. Da das Recht die Rückseite des Staates bildet, begegnen wir schon aus diesem Grunde beim Staat gleicher „Transzendenz" wie beim Recht. Die „Transzendenz nach unten" tritt freilich ganz in den Hintergrund, bzw. kommt überhaupt nicht in Betracht, da beim Staat, qua Staat, das Territorium eine große Rolle spielt und sowieso grundlegend ist. Hingegen kommt beim Staat die „Transzendenz nach oben" voll in Betracht. Auch beim Staat begegnet man der abgeleiteten rechtlichen Normativität. Auch hier kommt der Mensch als Subjekt und Person in den Vordergrund, ein Mensch als Vermittler zwischen der Welt der Realität und der Welt der Idealität, durch dessen Tätigkeit ein weites Gebiet der abgeleiteten Normativität des geistigen Seins, besonders des rechtlichen - und man kann jetzt auch sagen: des staatlichen Seins - gebildet wird.

§51. Recht und Staat

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Daher begegnen w i r auch beim Staat der „Transzendenz nach oben" bis zur Normidee des Rechts, und mit Rücksicht darauf, daß die Normidee des Rechts ein Bestandteil der höchsten Normidee des Guten (der konkreten Menschlichkeit) ist, auch zu den anderen Bestandteilen dieser höchsten Normidee, d. h. zu den Normideen der Sittlichkeit, des Schönen, der Wahrheit und der Richtigkeit. Der Staat ist eine Schöpfung des Rechts. Das Recht war vor dem Staat und wird auch dann existieren, wenn der Staat im heutigen Sinn eines Tages vielleicht abstirbt. Im Gegensatz dazu ist das Recht als solches ewig und untrennbar mit dem Menschen und der Gesellschaft verbunden. Solange der Mensch als Mensch und nicht etwa als ein vollkommenes Wesen existieren wird, so lange wird das Recht existieren. Wenn man das Recht und den Staat vergleicht, so existiert wirklich kein wesentlicher Unterschied zwischen dem staatlichen Recht und dem Staat. Beide sind komplex-dialektische Gebilde, die alle Schichten der realen Welt durchdringen und durch dieselben Hauptmerkmale charakterisiert sind (objektivierter Rechtsgeist, Menschen, Territorium und die sog. Souveränität). Nur in der Akzentuierung dieser Merkmale kann man einen Unterschied finden. Beim Recht akzentuiert man - wie schon gesagt wurde - den objektivierten Rechtsgeist, beim Staat den menschlichen und den territorialen Bestandteil; bei beiden die relative „Souveränität". Das Recht unterscheidet sich aber wesentlich vom Staat, wenn man nicht das staatliche Recht, sondern das Recht als Phänomen überhaupt mit dem Staat vergleicht. Das Recht bestand als Sippen- und Verbandsrecht schon vor dem Staat; weiters hat man auch das Völkerrecht und das kanonische Recht. Schon aus diesen Gründen darf man von einer Identität des Rechtes und des Staates nicht sprechen. Zwar ist es richtig, daß das Bestehen des Staates nicht von dem einer Rechtsordnung getrennt werden kann, wie dies z.B. Luis Legaz y Lacambra feststellt 48 . In diesem Sinn ist die Kelsensche Lehre von der Identität des Rechtes und des Staates grundsätzlich richtig. Man muß noch in diesem Zusammenhang die marxistisch-leninistische Auffassung des Staates hervorheben, nach welcher der Staat so wie das Recht in den Überbau gehört, trotzdem aber etwas anderes ist. Nach dieser Auffassung bildet der Staat das Recht und das Recht wird mit Hilfe des Staates definiert. Das geht freilich schon aus dem Grunde nicht, weil der Staat ohne Recht undenkbar ist; und dann bewegt man sich mit so einer Definition im Kreise. Im Gegensatz dazu ist die Bindersche Auffassung 49 , daß der Staat ohne Recht einen Nonsens bedeutet, richtig. Richtig ist auch seine Feststellung, 48 49

Luis Legaz y Lacambra, Rechtsphilosphie, 1964 S. 752. Julius Binder, Philosophie des Rechts, 1925, S. 495.

26 KubeS

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daß w i r einen einzigen Begriff des Staates herausarbeiten müssen. Wenn auch die weitere Bindersche Feststellung richtig ist, daß das Recht gerade dem Staat seine wahre Form gibt, entgeht ihm allerdings doch das Verhältnis zwischen dem Staat und der Gesellschaft, besonders das Moment der Überformung, die die Gesellschaft gerade vom Recht bekommt, und so die rechtliche Gemeinschaft (in erster Linie der Staat) entsteht. In diesem Zusammenhang muß man von neuem auch die dualistische Auffassung des Verhältnisses des Staates und Rechtes von Léon Duguit hervorheben 50 . Hier ist die Feststellung besonders wertvoll, daß der Staat eine besondere Gruppierung von Menschen ist, die um die Erreichung und Intensivierung der sozialen Solidarität bemüht sind. Seine Unterscheidung zwischen Recht und Staat ist sehr anregend, auch wenn man mit seiner Formulierung nicht einverstanden sein kann. Auch Duguits Argumentation, wie er die Anwendung der Macht durch den Staat begründet, ist bemerkenswert. Der Staat ist verpflichtet, die soziale Solidarität am vollsten zu realisieren und daher allen Bürgern alle Voraussetzungen zu garantieren, damit sie durch ihre Tätigkeit dieses Ideal am besten verwirklichen können. Der Staat ist aber nur ein Mittel, kein Endziel. Im Kern ist auch der obzwar nicht gut ausgedrückte Gedanke von Duguit richtig, daß der Staat die existierenden ihm übergeordneten „Rechtsregeln" formuliert, und daß er das Recht „findet". Besser wäre es freilich zu sagen, daß der Staat durch seine Organe die Objektivationen des Rechtsbewußtseins durchführt und so die Gesetze und andere Rechtsnormen, also den objektivierten Rechtsgeist, bildet. VIII. Im engen Zusammenhang mit dem Grundproblem des Verhältnisses des Rechts und des Staates treten zwei Fragen in den Vordergrund, an welchen man den Kern dieses Problems demonstrieren kann: 1. Die Frage der Selbstbindung des Staates, nämlich die Frage, ob der Staat durch seine Rechtsordnung gebunden ist. 2. Die Frage der Möglichkeit des Unrechts des Staates, nämlich die Frage, ob der Staat Unrecht begehen kann. Mit diesen Fragen beschäftigt sich ein umfangreiches Schrifttum 5 1 . Diese Frage behandelt auch René Marcie 52, und zwar in Verbindung mit der Frage des Widerstandsrechts. Marcics Lehre liegt die Auffassung des präpositiven Rechts, des Seinsrechts, zugrunde und dieser Konzeption ent50 Dazu und zum folgenden Léon Duguit, Droit constitutionel, 2. Aufl., 1921, S. 26ff., 34ff. 51 Hobbes, Elementa philosophica de cive, cap. VI, Art. XIV; Felix Somló, Juristische Grundlehre, S. 298ff.; John Austin, Lectures, 5. Aufl., I, S. 264ff., 745f.; Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., S. 357ff.; Julius Binder, Philosophie des Rechts, 1925, S. 502 ff. 52 René Marcie, Rechtsphilosphie, Eine Einführung, 1969, S. 18f.

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spricht auch seine Antwort auf die Frage des Unrechts des Staates und des Widerstandsrechts. Dieses Seinsrecht soll die Begründung des Daseins und der Geltung des Rechts geben, soll inhaltliche Rechtlichkeitskriterien bringen, welche die Ungültigkeit des entarteten Rechts begründen sollen. Marcics Sein-Sollen-Ontologie ist sicher nicht aktzeptabel, aber es genügt nicht festzustellen, daß „unbefriedigt blieb mein grübelnder Geist von seinen Analysen und Antworten", sondern es ist unbedingt notwendig, diese Frage auch rechtsphilosophisch zu lösen. Logisch stellt zwar auch eine negative Lösung eine Lösung dar, man muß sich aber immer fragen, ob die Frage wirklich vom rechtsphilosophischen Standpunkt unlösbar ist. Die Frage ist unlösbar nur vom engen, „formallogischen" Standpunkt. Die Lösung der Selbstbindung des Staates und des staatlichen Unrechts hat zwei Seiten: eine positiv-immanent-rechtliche und eine rechtsphilosophische. Was die positiv-immanent-rechtliche Seite betrifft, geht es hier um die Frage der gegebenen Rechtsordnung, und zwar in welcher Weise die Verantwortung, bzw. die Bindung des Staates durch positive Rechtsnormen geregelt sind. Vom rechtsphilosophischen Standpunkt geht klar hervor, daß die Rechtsordnungen zwar eine Freiheit besitzen, die Frage der Verantwortung des Staates auf diese oder jene Weise im Sinne einer größeren oder weniger weitgehenden rechtlichen Verantwortung zu lösen, daß sie aber keine Freiheit besitzen, überhaupt jedwede rechtliche Verantwortung des Staates auszuschließen, da sie dadurch das Wesen des Staates als einer Rechtsorganisation der Menschen auf einem bestimmten Gebiet negieren würden. Die positiv-immanent-rechtliche Lösung erfaßt aber freilich nicht den Kern unseres Problems. Erst die rechtsphilosophische Lösung ist adäquat und da sehen wir, daß es notwendig ist, aus der Sphäre des objektivierten Geistes, wohin die positive Rechtsordnung gehört, herauszutreten und in die Sphäre des objektiven Geistes zu gelangen, wohin das Rechtsbewußtsein, das Rechtsempfinden des Volkes gehört, welches Bewußtsein w i r als eine gewisse Art des realen Seins in erster Linie mit soziologischen Methoden und Techniken untersuchen können und müssen. Eine große Rolle wird hier die rechtliche Weltanschauung mit der realen Idee des Rechts, als einem Teil des objektiven Rechtsgeistes, spielen. Vielleicht wird auch diese Untersuchung nicht genügen, und dann muß man zur Normidee des Rechts selbst gelangen, in welcher letztlich die rechtliche Verantwortung des Staates und die Kehrseite dieser Verantwortung, d.h. die Möglichkeit des staatlichen Unrechts verankert ist. Von diesen Ausführungen her ist es klar, daß die Frage nach der Selbstbindung des Staates durch seine Rechtsordnung und die damit zusammenhängende Frage des staatlichen Unrechts im bejahenden Sinn beantwortet werden muß. 26'

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In diesem Sinne hat Gustav Radbruch vollkommen recht, wenn er betont, daß das positive Gesetz der Gerechtigkeit zu weichen habe, wenn es in einem unerträglichen Widerspruch zu ihr stehe 53. Eine andere Frage ist, daß dieser Radbruchsche Grundsatz in manchen Rechtsordnungen nicht die Chance hat, sich als garantierte Norm durchzusetzen 54 . Die Realisierungschancen sind sicher Realitäten und die Lösung des Konflikts kann daher nur in einem Wandel dieser Realitäten selbst liegen. Hier liegt eben die bedeutende Rolle des lebenden, immer sich entwikkelnden objektiven Geistes, der berufen und auch fähig ist, eine Aufhebung solcher „naturrechtswidriger" Gesetze und Gebote entweder auf dem verfassungsrechtlichen Wege oder auf dem Wege einer Revolution durchzuführen. Recht hat Zippelius 55, daß die ultima ratio, den Konflikt zwischen dem garantierten Recht und außerrechtlichen Normen, also in der Ausdrucksweise der kritischen Ontologie: zwischen dem objektivierten und dem objektiven Rechtsgeist, zu lösen, die Revolution ist. Der deutsche Bauernkrieg, der nordamerikanische Unabhängigkeitskrieg, die Französische Revolution und schließlich auch die Oktoberrevolution wurden alle im Namen des fortschrittlichen objektiven Rechtsgeistes, in erster Linie der neuen progressiven rechtlichen Weltanschauung unternommen. Die Frage, ob ein solcher Normenkonflikt sich auf „begrifflich normativem" Wege lösen läßt oder nicht, ist zwar sekundär, trotzdem aber vom rechtlichen Standpunkt wichtig; es handelt sich nämlich um die Frage, ob die Revolution als solche ein Rechtsmittel ultimae rationis ist oder nicht. Sicher ist, daß man erst nachher auf diese Frage eine reale Antwort geben kann, trotzdem aber muß man grundsätzlich an der „Legalität" der Revolution, insofern sie ein Ausdruck des objektiven Rechtsgeistes ist, festhalten. Die innerste Begründung dafür ist die Tatsache, daß der objektivierte Rechtsgeist im objektiven Rechtsgeist verankert ist. Jedenfalls muß man in solchen Fällen ein Widerstandsrecht anerkennen 56 . Übrigens lehrte Thomas von Aquino selbst, daß man jenen Gesetzen, welche der Sittlichkeit widersprechen, nicht gehorchen darf, ihnen sogar passiven Widerstand leisten darf, es sei denn ein Verzicht auf sein Recht (iuri suo cedere) geboten „propter vitandum scandalum nel perturbationem." 57 Man kann also feststellen, daß der Staat durch seine Rechtsordnung gebunden ist und für das verübte Unrecht haftet, weil: 53

Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 6. Aufl., 1963, Anhang 4, III. Reinhold Zippelius, Das Wesen des Rechts, 2. Aufl., 1969, S. 48f. 55 Reinhold Zippelius, I.e. S. 51. 56 Vgl. Arthur Kaufmann (Hrsg.), Widerstandsrecht, Wege der Forschung, 1972. 57 Thomas von Aquino, Summa Theologica, I, II, qu. 96. a 4; vgl. Johann Sauter, Die philosophischen Grundlagen des Naturrechts, 1932, S. 79; Luis Legaz y Lacambra, Rechtsphilosophie, 1965, S. 396. 54

§ 52. Das Wesen der Gesellschaft und der Gemeinschaft

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1. das dem heutigen Stand des objektiven Rechtsgeistes voll entspricht und das Gegenteil einen krassen Widerspruch zu ihm bedeuten würde; 2. aus diesem Grunde der objektivierte Rechtsgeist (ius scriptum oder ius non scriptum des betreffenden Staates als Objektivationen des objektiven Rechtsgeistes) ausdrücklich diese Verantwortung und Haftung des Staates festsetzt; dem ist keineswegs hinderlich, daß Personqualität im ontologischen Sinn nur der Mensch besitzt, nicht die juristische Person; vom Standpunkt der Zweckmäßigkeit kann die Rechtsordnung als Pflichtsubjekt oder Rechtssubjekt auch die juristische Person und daher auch den Staat bestimmen; 3. von der Normidee des Rechts als einer synthetischen, komplex dialektischen Synthese der Gerechtigkeit, der Freiheit des konkreten Menschen, der Sicherheit und der Zweckmäßigkeit aus ergibt sich mit absoluter Notwendigkeit, daß der Staat durch eventuelle Negierung seiner Gebundenheit seinen eigenen wesentlichen Bestandteil, nämlich das Recht keinesfalls negieren kann. In diesem Zusammenhang ist noch eine Frage von Bedeutung, und zwar ob das rechtsanwendende Organ, z.B. der Richter, das Recht oder geradezu die Pflicht hat, ein entartetes Recht oder eine entartete Rechtsbestimmung überhaupt nicht anzuwenden. Jedenfalls muß man zu der Feststellung kommen, daß dieses rechtsanwendende Organ ein solches Recht hat. Die praktische Folge seiner Ablehnung der entarteten Rechtsbestimmung ist freilich eine andere Frage. Rechtsphilosophisch gesehen ist die weitere Frage, und zwar die Frage nach seiner eventuellen Pflicht zur Ablehnung solcher entarteter Rechtsbestimmung, viel schwieriger zu beantworten. Aus unserer ontologischen Grundauffassung des Verhältnisses des objektiven und objektivierten Rechtsgeistes, aus der Erkenntnis, daß das Recht solange gilt, als es nicht im legalen Weg oder im Weg der Revolution derogiert wird, geht unserer Überzeugung nach hervor, daß von einer Pflicht des rechtsanwendenden Organs zur Ablehnung der Rechtsnorm contra humanitatem nicht die Rede sein kann.

§ 52. Das Wesen der Gesellschaft und der Gemeinschaft in Beziehung zum Wesen des Rechts und des Staates I. Weder das Altertum noch das Mittelalter kannten die Gesellschaft in ihrer Unterschiedenheit, ja oft Gegensätzlichkeit zum Staat. Erst die Aufklärung und die Naturrechtsdoktrin der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts und dann die wirtschaftliche, bzw. gesellschaftliche Lehre der Physiokraten und der durch diese Lehre beeinflußten englischen Denker haben die ersten Wurzeln zu einer Auffassimg der Gesellschaft als eines

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„subkutanen" Verbandes der Menschen im Staate gelegt. Ein solcher Verband ist immer da, wenn der Staat existiert, wobei dieser Verband kein Staat ist; ja er kann den Staat vernichten. Diese Entwicklung, welche die Gesellschaft im Verhältnis zum Staat verselbständigt, geht dann weiter über Fichte, bei dem wir es schon mit einer Gesellschaft zu tun haben, die vollkommen vom Staat unabhängig und gegen ihn in einen bewußten Gegensatz gestellt ist, über Saint-Simon und Lorenz von Stein, bei denen die Gesellschaft immer und überall im Gegensatz zum Staat steht und der Kampf zwischen ihnen ein Lebensprinzip der Geschichte darstellt, bis zu Karl Marx und Friedrich Engels mit ihrer berühmten Lehre des historischen Materialismus. Gesellschaft ist für Marx und Engels eine Gesamtheit der Menschen und gesellschaftlicher Verhältnisse, die durch ein historisch konkretes, einen bestimmten Entwicklungsstand der Produktivkräfte entsprechendes System der materiellen Produktionsverhältnisse geprägt wird. 1 Marx sagt: „Die Produktionsverhältnisse in ihrer Gesamtheit bilden das, was man die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Gesellschaft, nennt, und zwar eine Gesellschaft auf bestimmter, geschichtlicher Entwicklungsstufe." 2 Der Gesellschaftsbegriff in marxistischer Auffassung ist in seiner Hauptbedeutung identisch mit dem Begriff der ökonomischen Gesellschaftsformation. Allerdings w i r d der Termin „Gesellschaft" häufig als Bezeichnung für die Tatsache des gesellschaftlichen Lebens der Menschen überhaupt, für die ganz abstrakt-allgemeinen Sachverhalte, die in allen geschichtlich vorliegenden gesellschaftlichen Formationen gegeben sind, verwendet. 3 In diesem Sinne wird der Gesellschaftsbegriff gebraucht, wenn man sagt, daß sich das menschliche Leben immer in der Gesellschaft vollzieht. Der Termin „Gesellschaft" wird auch als Bezeichnung für einen bestimmten charakteristischen Zustand jeweiliger gesellschaftlicher Verhältnisse verwendet. Der Begriff der Gesellschaft findet auch Verwendung im Zusammenhang mit der Hervorhebung von Merkmalen bestimmter gesellschaftlicher Zustände, die zwar unter gewissen Gesichtspunkten für diese charakteristisch sind, jedoch nicht das Wesen einer jeweiligen Gesellschaftsformation ausmachen und deren Analyse nicht ersetzen können. 4 In diesem Sinne spricht man von patriarchalischer, agrarischer Gesellschaft, oder von einer Industriegesellschaft. Etwas ganz anderes als Gesellschaft ist für den Marxismus der Staat, der eine bloße Übergangsstufe und eine Verkörperung vorübergehender Klas1 Vgl. Georg Klaus - Manfred Buhr, Philosophisches Wörterbuch, 11. Aufl., 1975, S. 473. 2 Marx-Engels Werke 6, S. 408; Georg Klaus - Manfred Buhr, I.e. S. 473. 3 Georg Klaus - Manfred Buhr, I.e. S. 476. 4 Georg Klaus - Manfred Buhr, I.e. S. 476f.

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senherrschaft ist. Letztlich ist es nicht der Staat mit seiner Rechtsordnung, welcher das Leben der Bürger zusammenhalten würde, sondern im Gegenteil der bestimmende Faktor ist die wirtschaftliche Struktur der Gesellschaft. Gegen diese Auffassung, die logischerweise letztlich in eine Unterschätzung des Staates und der Rechtsordnung münden muß, steht am anderen Ende der Reihe von einem Idealtypus her über unendlich viele Mischtypen eine konträre Auffassung, die besonders durch Rudolf Stammler und auch durch Hans Kelsen dargestellt ist, eine Lehre, die dem Recht und dem Staat die entscheidende Bedeutung zuspricht. Es ist das Recht, das den bestimmenden Faktor überhaupt darstellt. Beide diese sog. Idealtypen im Sinne von Max Weber sind notwendigerweise einseitig. Die erste Auffassung kann man durch ihre politische Motivierung erklären. Das ist auch der Grund, warum ein wichtiger Bestandteil dieser Lehre die Auffassung vom „Absterben" des Staates und des Rechtes ist. Oft aber spricht man in der heutigen Auffassung nicht mehr vom Absterben des Rechts, sondern höchstens noch vom Absterben des Staates. Tumanow stellt fest 5 , daß auch in einer klassenlosen Gesellschaft eine Zwangsordnung, also eine Rechtsordnung existieren wird. Man kann doch nicht glauben, daß aus dem konkreten Menschen ein Wesen ohne Sünde entstehen wird, welches den Schmerz des anderen als seinen eigenen empfinden wird. Die gegenteilige Auffassung sieht wieder alles im Staat und in der Staatsrechtsordnung, im geschriebenen Recht mit dem unglücklichen Dictum des Positivismus „Lex dura, sed lex". Sie irrt sich vor allem darin, daß sie die Fülle des gesellschaftlichen Lebens, besonders die „subkutanen" Strömungen unter der festen Oberflächenschicht des Staates und des Rechts übersieht und nur die formale Seite der Rechtsordnung berücksichtigen will. Diese Auffassung sieht überhaupt nicht die Rolle des objektiven Geistes, insbesondere die Rolle des objektiven Rechtsgeistes. Die Lösung ist auf der Grundlage der kritischen Ontologie recht gut möglich, besonders wenn w i r uns die besondere Einheit des geistigen Seins mit seinen drei Formen (mit dem personalen, objektiven und objektivierten Geist) und vor allem das Verhältnis des objektiven und objektivierten Geistes vergegenwärtigen. Hier, in diesem Verhältnis des objektiven und objektivierten Geistes, wurzelt der Kern der Lösung des Verhältnisses der Gesellschaft und der gesellschaftlichen Ordnung auf einer Seite und des Staates und der Rechtsordnung auf der anderen Seite. II. In der modernen Soziologie unterscheidet man sehr oft die Gesellschaft und die Gemeinschaft. Diese Unterscheidung hat schon F. Tönnies 6 durch5

W.A. Tumanow, Bürgerliche Rechtsideologie, 1975, S. 88.

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geführt. Nach dieser Auffassung ist die Gesellschaft eine Form der sozialen Vereinigung, welche auf mechanischen Bindungen beruht und auf dem „Kürwillen" und dem Intellekt, welcher den Nutzen der Vereinigimg berechnet. Im Gegensatz dazu gründet sich die Gemeinschaft auf organische und nicht utilitaristische Bindungen. Hier herrscht der Sinn für die Unterordnung und Einordnung in ein höheres Ganzes vor, und der „Wesenswille" herrscht über die Willkür und das rationelle Nützlichkeitsstreben. Seitdem ist es üblich, von einer Epoche der Gemeinschaft zu sprechen, die besonders der Zeit der vorkapitalistischen Gesellschaft entspricht und die als eine Idylle bezeichnet wird; diese Epoche zeigt die soziale Wirklichkeit insgesamt nach dem Schema der Gemeinschaft geordnet. Unter der Gemeinschaft wird hier etwas viel Näheres und Intimeres gedacht, eine Verbindung, wo eine neue zentrale und regelnde Kraft entsteht, wenn man die Auffassungen vom Wesen einer höheren Ordnung beiseite läßt. Man kann aber zeigen, daß die ganze Terminologie nicht gerade einheitlich ist. So sind z.B. die Ehe, die Familie, die religiöse Verbindung für den einen eine Gemeinschaft, für die anderen aber eine Gesellschaft. Der Staat ist nach Binder eine typische Gemeinschaft, während Tönnies nicht ganz sicher ist. Oder: die Klassengesellschaft in marxistischer Auffassung ist trotz ihrer engen und kämpferischen Verbindung eine bloße Gesellschaft. Es ist daher nicht gut möglich, eine verläßliche Grenzlinie zwischen der Gesellschaft und der Gemeinschaft zu ziehen. Der Unterschied ist fließend. Es wäre freilich möglich, sich auf einer Abgrenzung der Gemeinschaft von der Gesellschaft in dem Sinne zu einigen, daß die Gemeinschaft erst dann da wäre, wenn hier das Phänomen des besonderen objektiven Geistes der betreffenden Verbindung existierte. Wenn dieses nicht existierte, dann würde es sich um eine Gesellschaft handeln. Daß die Terminologie nicht einheitlich ist, wird auch z.B. an der Auffassung von Max Scheler deutlich. Max Scheler unterscheidet 7 vier Typen der sozialen Vereinigimg, und zwar: die Masse, die durch Ansteckung und unbeabsichtigte Nachahmung entsteht, die Lebensgemeinschaft, die auf einem Komplex gemeinsamer Erlebnisse und einem wechselseitigen Verständnis beruht, das aus dem Gefühl der Zusammengehörigkeit erwächst, und deswegen eine Solidarität in der Vertretung besteht (wie z.B. die Familie, der Stamm, die gens, das Volk, der Stand), weiters die Gesellschaft, die sich als 6

Dazu und zum folgenden F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, 1887; derselbe, Einführung in die Soziologie, 1931; H. Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, 1938; K. Schilling, Geschichte der sozialen Ideen. Individuum - Gemeinschaft - Gesellschaft, 1957; W. Ziegenfuß, Gesellschaftsphilosophie, Stuttgart, 1956; Luis Legaz y Lacambra, Rechtsphilosophie, 1965, S. 449ff. 7 Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, S. 540ff.; Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 449f.

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eine äußere Beziehung von Personen, welche sich ihrer Autonomie bewußt sind und sich durch Versprechen und Vertrag vereinen, erweist, und endlich die Gesamtperson, die sich auf die Liebe gründet, und wo jedes Mitglied eine Person ist, die sich selbst genügt und einen autonomen Wert darstellt. Eine Gesamtperson ist z.B. die Nation oder die Kirche. Dem Typus der Gesellschaft gehören die meisten Rechtsvereinigungen an. Nach Luis Legaz y Lacambra 8 sagt man, wenn man von der Gesellschaft unserer Zeit oder von der Gesellschaftsepoche, in der w i r leben, im Gegensatz zur Gemeinschaft spricht, im Grunde, daß die „politische Gesellschaft", der Staat, wirklich auf einem Vertrag beruht; man behauptet zugleich, daß die „Wirtschaftsgesellschaft", die bürgerlich-kapitalistische Sozialstruktur, auch nur aus bloßen vertraglichen Beziehungen besteht, welche die Freiheit und Gleichheit der Parteien wie in einer „Marktgesellschaft" voraussetzen, in der sich die Ordnung von selbst durch den freien Wettbewerb herstellt. Zugleich stellt Legaz fest: „Nun verfälscht diese Deutung das genaue Bild der Wirklichkeit, denn sie ist durch eine Ideologie bestimmt, welche die Realität »verschönt4, d.h. ihre ,Mängel' verbirgt und sie »rechtfertigt', also die positiven Werte der Wirklichkeit betont und die Faktoren ignoriert, welche ihre Gültigkeit einschränken." Deswegen - fährt Legaz fort 9 - verfechte Hans Frey er die realistische Auffassung, daß eine „Gesellschaft" eher in einem Gesamten von Beziehungen besteht, durch die einige soziale Gruppen oder Stände über andere herrschen, wobei diese Herrschaft nun militärischer, wirtschaftlicher, kultureller oder politischer Art sein kann. Diese Herrschaftsbeziehungen gibt es ebenso in der mittelalterlichen wie in der modernen kapitalistischen Gesellschaft, in der politischen (dem Staate) wie in der internationalen Gesellschaft. Ganz im Einklang mit der grundsätzlichen marxistisch-leninistischen Auffassung führt an dieser Stelle Legaz auch an, daß es innerhalb der Gesellschaft zu allen Zeiten verschiedene Gruppen mit Gemeinschaftscharakter gibt und andere von assoziativer und vertraglicher Art. „Man kann höchstens sagen, daß in der einen Zeit die Gruppen mit Gemeinschaftscharakter und in der anderen Zeit die Gesellschaftsstrukturen (assoziativen und vertraglichen Typs) vorherrschen, und nur insofern kann man von ,Gemeinschaftsepochen' und von ,Gesellschaftsepochen' (d.h. Zeiten mit individualistischer Gesellschaftsform) sprechen." 10 Nach Legaz' Meinung muß man aber diese klassische Entgegensetzung noch durch einen dritten Begriff ergänzen, nämlich durch den der „Organisation". 11 Die Organisation steht der Gemeinschaft nahe, weil auch ihre 8

Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 451. Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 451 f.; Hans Frey er, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, 1948. 10 Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 452. 9

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Grundlage nicht die Gleichheit, sondern die Unterordnung unter die Autorität ist; sie unterscheidet sich aber von der Gemeinschaft dadurch, daß die von ihr bewirkte Verbindung zwischen ihren Elementen ganz äußerlich ist und die Persönlichkeit nur so weit berührt und „erfaßt" wird, wie es für ein exaktes mechanisches Funktionieren nötig ist. Legaz führt einige Beispiele an: eine Kaserne oder eine Fabrik sind Muster von „Organisationen", und auch die gesamte Gesellschaftswirklichkeit kann von einem gewissen Standpunkt als eine große Organisation angesehen werden. Eine realistische Betrachtung des Sozialen muß nach Legaz* Meinung zeigen 12 , daß die Assoziierung, die Gemeinschaft und die Organisation Strukturen konkreter sozialer Gruppen sind, die in den verschiedenen Zeiten nebeneinander bestehen, wenn auch bald die eine, bald die andere mehr Bedeutung hat. Der Grund für dieses Vorwiegen einer Form ist zum Teil ideologischer Art, denn nach der Auffassung von Legaz wird eine individualistische Ideologie z.B., wenn sie in der Gesellschaft Geltung hat, die Familiengemeinschaft auflösen und in eine vertragliche Assoziierung zu verwandeln helfen. III. Welches ist das Wesen der Gesellschaft? Offensichtlich geht es bei der Gesellschaft - ähnlich wie beim Staat, der eine staatliche Gesellschaft (oder Gemeinschaft) ist - um ein mehrschichtiges, komplexes Gebilde. Jede Gesellschaft besteht aus Menschen, was bedeutet, daß die Schicht des organischen Seins mit ihren Kategorien, die Schicht des seelischen Seins mit ihren Kategorien, und schon mit Rücksicht auf gemeinsame Zwecke und Normen auch die Schicht des geistigen Seins mit ihren dominanten Kategorien der Zwecktätigkeit und der Normativität in Frage kommen. Das Gebiet, also die Schicht des physisch-materiellen Seins, kommt nur insofern in Frage, als es eine Voraussetzung für die Tätigkeit von Menschen ist, daß sich die diesbezügliche Tätigkeit auf einem gewissen Gebiet äußert. Aber erst bei der staatlichen Gesellschaft bildet das Gebiet direkt den konstitutiven Bestandteil, welcher ebenso bedeutend ist wie die anderen Staatselemente. Das Problem des Verhältnisses der Gesellschaft, besonders der Klassengesellschaft im Sinne des Marxismus, zum Staat, kann man ohne Schwierigkeit lösen, wenn w i r uns alle Folgen vergegenwärtigen, die aus dem Verhältnis des objektiven und objektivierten Geistes fließen. Vor allem geht es um die grundlegende Stellungnahme: Sollen wir die uns interessierende Frage „von unten", „soziologisch", vom Ausgangspunkt jener „subkutanen" Gesellschaft beobachten, oder „-von oben", „juri11 J. Pieper, Grundformen der sozialen Spielregeln, 3.. Aufl., 1955, S. 23ff., 109ff.; Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, 1956, S. 15ff., 79ff.; Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 452. 12 Luis Legaz y Lacambra, I.e. S. 452.

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stisch", vom Standpunkt des Staates und der staatlichen Rechtsordnung. Eine solche Fragestellung selbst ist aber notwendigerweise einseitig, undialektisch. Der dialektische Zutritt zur Frage bedeutet die Fülle und die wechselseitige Verknüpfung beider Betrachtungsweisen. Er bedeutet die Notwendigkeit, sich den stufenförmigen und wechselseitig verbundenen Aufbau von den einzelnen Schichten des Seins der realen Welt, das Verhältnis dieser Schichten, das im Aufruhen, in der Freiheit i n der Abhängigkeit besteht, und besonders die wechselseitige Bedingtheit einzelner Sphären des geistigen Seins zu vergegenwärtigen. Dann w i r d es sich freilich auch zeigen, daß die Überformung bzw. die Überbauung durch den Rechtsgeist eine höhere Gestaltung der Gesellschaft mit Rücksicht auf die Gestaltung durch den bloßen sozialen Geist, der noch nicht ein sozial-rechtlicher geworden ist, bildet. Die Richtigkeit und Wahrheit einer solchen komplex-dialektischen Betrachtungsweise folgt im besonderen auch aus der Beobachtung und Feststellung, daß jede „subkutane" Gesellschaft mit ihrer „bloß" sozialen Ordnung durch ihr ganzes Wesen danach strebt, die Führung im Staat zu übernehmen, sowie danach, daß ihre „bloß" soziale Ordnung eine Staatsrechtsordnung wird. Die Lösung ist also klar. Eine jede solche „subkutane" Gesellschaft mit ihrem Empfinden, mit ihrer Überzeugung kämpft um die Gestaltung eines neuen Charakters des objektiven Geistes der betreffenden staatlichen Gesellschaft, besonders auch um eine neue Gestaltung des objektiven Rechtsgeistes. Wenn diese „subkutane" Gesellschaft in der Sphäre dieses objektiven Geistes eine dominante Stellung gewinnt, dann ist es offensichtlich, daß sich der neue objektive Geist, einschließlich des objektiven Rechtsgeistes, in einer kompromißlosen Spannung zu dem bisherigen objektivierten Geiste, auch zu dem bisherigen objektivierten Rechtsgeist (zu dem geschriebenen Recht oder zu dem Gewohnheitsrecht) befindet, welcher die Gesellschaft bisher regierte. Diese Spannung gipfelt schließlich entweder darin, daß die bisherige rechtliche Objektivation sich im „legalen" Weg ändert, d.h. in einem Wege, der durch die bisherige Rechtsordnung vorgeschrieben ist, sich der Inhalt dieser Rechtsordnung so ändern wird, damit er im Einvernehmen und Einklang mit dem lebenden objektiven Rechtsgeist wäre, der dem Geist jener „subkutanen" Gesellschaft entspricht. Oder es kommt zur revolutionären Vernichtung der bisherigen rechtlichen Objektivationen, und es entstehen neue rechtliche Objektivationen, ein neuer objektivierter Rechtsgeist (neue Gesetze und andere Rechtsnormen). Damit wird die Problematik des Verhältnisses der Gesellschaft und des Staates dialektisch gelöst. IV. Aber auch die Gemeinschaft bildet ein spezifisches mehrschichtiges, komplexes Gebilde - genau so wie wir das bei der Gesellschaft festgestellt haben.

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Wir stehen vor der Frage, ob es wirklich möglich ist, einen wesentlichen Unterschied zwischen der Gesellschaft und der Gemeinschaft festzustellen. Wir haben schon gesehen, daß alle Versuche, eine genaue Trennungslinie zwischen der Gesellschaft und der Gemeinschaft zu ziehen, mit Mißerfolg endeten. Auch wenn z.B. bei Binder der Staat als eine Gemeinschaft verstanden wird, findet man, daß Binder hier nicht mit dem Staat, wie er in der Realität ist, sondern mit einem Begriff des idealen Staates, wo der einzelne sich voll als Glied des Ganzen fühlt, arbeitet. Die Erfahrung zeigt aber, daß es viele Staaten gibt, die als Staaten im Sinne des Völkerrechts figurieren, aber keine „idealen" Staaten sind. V. Alle vier Phänomene, d.h. das Recht, der Staat, die Gemeinschaft und die Gesellschaft sind komplexe mehrschichtige Gebilde, deren Struktur im Kleinen eine Analogie des stufenförmigen Aufbaus der realen Welt ist. Alle vier Grundschichten des realen Seins befinden sich auch in dem komplexdialektisch geschichteten Aufbau dieser vier Phänomene. Der Unterschied besteht letzten Endes einerseits in der verschiedenen Betonung einzelner Bestandteile, andererseits in der Tatsache, daß die verschiedenen Sphären des geistigen Seins sich hier verschieden geltend machen. Beim Recht tritt scharf die Schicht des geistigen Seins und besonders des objektivierten Geistes hervor. Das Wesen des Rechtes beruht vorwiegend im objektivierten Rechtsgeist. Dieser objektivierte Rechtsgeist ist freilich durch den objektiven Rechtsgeist und durch die personalen Rechtsgeister getragen und gleichzeitig trägt er sie. Ohne diese Stütze und Quelle seiner Geltung würde der objektivierte Rechtsgeist schließlich notwendigerweise untergehen. Bei der Bildung der Sphären der abgeleiteten Normativität macht sich in einer entscheidenden Weise der personale Rechtsgeist geltend, und zwar mit seiner immerwährenden Tendenz zum absoluten Sollen der Normideen und seiner Fähigkeit, die Stimme und den Inhalt der Normidee des Rechts und anderer Normideen in die reale Welt zu überführen. Das Recht ist freilich auch Macht und deswegen kommen sekundär auch andere Schichten der realen Welt in Betracht. Während es beim Recht vor allem der Inbegriff von Normen, also in erster Linie der objektivierte Rechtsgeist ist, geht es beim Staat vor allem um einen Inbegriff von Menschen. Während beim Recht der geistige Bestandteil der bedeutendere ist, geht es beim Staat um ein vollkommen gleichmäßiges und gleichwertiges Verhältnis aller Bestandteile, aus denen das komplexe Phänomen des Staates besteht. Es handelt sich um die Menschen, um das Gebiet und um die geistige Komponente im Verhältnis der Beiordnung. Alle diese Bestandteile sind gleich bedeutend. Der Staat ist ein vollkommenes Bild im kleinen dessen, was der stufenförmige Aufbau der realen Welt im großen ist.

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Die Gesellschaft ist auch ein komplex geschichtetes Gebilde, ähnlich wie der Staat. Nur daß hier der Bestandteil „Gebiet" nicht direkt in Szene tritt und auch die geistige Komponente der Gesellschaft nicht durch den objektivierten Geist bestimmt ist. Das Verhältnis der Gesellschaft zum Staat im marxistischen Sinn kann man durch das Verhältnis des objektiven zum objektivierten Geist erklären, wo letztlich das, was wesensnotwendig lebend, fortschrittlich ist, gewinnt, und zwar gegen die Starrheit der Objektivation. Man darf dabei nicht vergessen, daß jeder objektive Geist durch sein Wesen selbst zu Objektivationen getrieben w i r d und daß auch die marxistische Gesellschaft mit ihrer gesellschaftlichen Ordnung dazu tendiert, eine staatliche Gesellschaft mit staatlicher Rechtsordnung zu werden. Von einer Gemeinschaft kann man - wenn man w i l l - dann sprechen, wenn eine so starke gémeinsame „Atmosphäre" sich gebildet hat, daß man daraus schließen kann, daß sich hier der zuständige objektive Geist mächtig gebildet hat. Der Staat kann, muß aber nicht, eine Gemeinschaft sein.

§ 53. Recht und Wirtschaft I. Welches ist das Verhältnis des Rechts und der Wirtschaft, besonders welche ist die Beziehung des Inbegriffs von Rechtsnormen zu Produktionsund Tauschverhältnissen? Sind die wirtschaftlichen Verhältnisse ein entscheidender und diktierender Faktor, so daß die Aufgabe des Rechts in nichts anderem besteht, als mit Hilfe seiner Bestimmungen den existenten Stand zu erfassen, oder ist das Gegenteil der Fall? Ist etwa die Rechtsordnung letzten Endes der entscheidende Faktor und gestaltet als solcher die Produktions- und Tauschverhältnisse, d.h. die wirtschaftlichen Verhältnisse der diesbezüglichen Zeit? Auch hier begegnet man zwei entgegengesetzten Lösungen dieser Problematik, zwei konträren Idealtypen. II. Die eine Lösung ist die der kompromißlosen Auffassung des marxistischen historischen Materialismus. Die gegensätzliche Lösung ist am schärfsten von Rudolf Stammler in seinem Werk „Wirtschaft und Recht" zugespitzt worden. Für den historischen Materialismus ist die reale Grundlage, d. h. die ökonomische Struktur der Gesellschaft, der letztlich bestimmende Faktor, und das Recht wie die anderen Bestandteile des ideologischen „Überbaues" bloß ein Reflex der ökonomischen Struktur der Gesellschaft. Wir haben aber schon erkannt, daß Friedrich Engels diese Grundauffassung später revidierte, um eine blinde Konsequenz zu vermeiden. Auch das Recht als etwas Spezifisches, qualitativ anderes - in Beziehung zum Materiellen - wirkt auf

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die reale Grundlage, auf die ökonomische Struktur zurück und steht letztlich mit seiner ökonomischen Grundlage in Wechselwirkung. Freilich auch in dieser revidierten Konzeption bildet die Wirtschaft, also die ökonomische Grundlage, in letzter Instanz das bestimmende Moment. III. Gegen diese materialistische Auffassung des Verhältnisses der Wirtschaft und des Rechts hat Rudolf Stammler dem Recht die entscheidende Rolle zuerkannt. 1 Das Recht ist jene Form, die die Wirtschaft gestaltet, ihr eine feste Form gibt und sie letzten Endes auch bestimmt. Stammler hat vollkommen den sozial-ökonomischen Begriff der Gesellschaft mit dem juristischen Begriff identifiziert. Der Grundfehler der Stammlerschen Konzeption besteht darin, daß er von dem Schema des isolierten Menschen ausgeht und die Gesellschaft als eine Verbindung von Einzelnen unter bestimmten äußerlich festgesetzten Regeln auffaßt. Das soziale Leben ist für Stammler schon im voraus als „äußerlich geregeltes Leben" gegeben. Richtig bemerkt dazu Heinrich Cunow 2, daß das soziale Leben jede Wirkung ist, die innerlich eine Beziehung zu anderen hat. Schon mit der ersten bewußten Handlung, durch welche der Mensch bei seiner Befriedigung der Bedürfnisse in irgendeine Berührung mit dem anderen Menschen kommt, tritt er in eine sozial gegenseitige Beziehung. Für solche Beziehungen existiert aber nicht gleich von Anfang an eine Regelung. Diese Regelung setzt sich erst schrittweise durch, und zwar vor allem in sehr unsicheren, immer sich wiederholenden Leistungen der einzelnen Beziehungen. Es ist nicht so, daß z.B. erst das Recht auf Lohn geregelt würde, und erst nachher die Arbeit selbst eingeführt. Ebenso entsteht nicht zuerst die Regelung des Wechselverkehrs, und erst dann wird der Wechsel eingeführt. Erst wenn hier schon soziale Beziehungen existieren, können sie geregelt werden. Diese Regelung realisiert sich dann nicht sofort durch die Festsetzung einzelner Normen von außen her, sondern von innen her, ohne daß die Menschen sich dies zuerst vergegenwärtigen und diese Regelung vollkommen verstehen. Erst später werden diese Regeln von außen festgesetzt, sie sind als Regeln anerkannt und formal festgesetzt. Aber auch dann regelt der Staat nicht das ganze Gebiet des sozialen Lebens, sondern nur soweit es sich für das staatliche Leben als bedeutend erweist; und insofern hier die sog. äußerlich formale Regelung existiert, deckt sie sich fast nie vollkommen mit dem ökonomischen Inhalt der sozialen Regelung im sozialen Wirtschaftsprozeß. Wenn 1 Rudolf Stammler, Wirtschaft und Recht, 1896, 2. Aufl., 1906; derselbe, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 1923, §§17, 56; vgl. dazu die scharfe K r i t i k von Max Weber in seiner im Jahre 1907 im Archiv für SozialWissenschaft und Sozialpolitik erschienenen Besprechung, Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 1922, S. 318ff.; Karl Engisch, Max Wober als Rechtsphilosph und Rechtssoziologe, in: Max Weber, Gedächtnisschrift (hrsg. Engisch, Pfister, Winckelmann), 1966, S. 75ff. 2 Heinrich Cunow, Die Marxsche Geschichts-, Gesellschafts- und Staatstheorie I, 1920.

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sich Stammler das alles vergegenwärtigt hätte, dann hätte er nicht zu seiner Überzeugung gelangen können, daß die staatliche Rechtsordnung als bedingende Form das ganze gesellschaftliche Leben bestimme. Stammler unterscheidet nicht zwischen der Gesellschaft und dem Staat, zwischen der Gesellschaftsordnung und Staatsrechtsordnung und kennt auch nicht den Begriff der Gemeinschaft in seinem Verhältnis zur Gesellschaft; er identifiziert die innere Regelung, die sich im wirtschaftlichen Prozeß durchsetzt, mit der späteren staatsrechtlichen Regelung. Deswegen bezeichnet er die soziale Wirtschaft als das unter äußeren Regeln stehende Zusammenwirken, welches auf Befriedigung menschlicher Bedürfnisse hingeht. Mit Recht macht Cunow aufmerksam, daß man, wenn man weiß, daß in einer gewissen Gesellschaft gewisse Eigentums- oder Erbschaftsrechte gelten, nur von der formalrechtlichen Seite der diesbezüglichen Ordnung Kenntnis hat; das genügt aber nicht, damit w i r den Gesamtcharakter der sozialen Wirtschaft kennenlernen. Darüber entscheidet nicht nur die formale Natur der Rechtsregeln, sondern es ist wichtig zu wissen, in welchem Umfang diese Regeln in den Wirtschaftsprozeß eingreifen. Auf verschiedenen Entwicklungsstufen können gleiche Rechtsregeln erscheinen, trotzdem aber kann das wirtschaftliche Leben ganz verschiedene Merkmale aufweisen. Es kommt nicht nur darauf an, daß gewisse Rechtsregeln existieren, sondern auch darauf, in welchem Umfang diese Regeln den wirklichen wirtschaftlichen und sozialen Prozeß gestalten. Wenn der Staat auf der einen Seite nicht alle sozialen Regeln übernimmt und sie in die Staatsrechtsordnung inkorporiert, legt er auf der anderen Seite den Staatsbürgern viele Gesetze auf, die nicht unmittelbar im gesellschaftlichen Leben verankert sind, sondern durch bestimmte Bedürfnisse des staatlichen Organismus selbst diktiert werden. Die Staatsrechtsordnung wirkt aber auch auf den sozialen Wirtschaftsprozeß zurück. Der Staat kann zwar nicht nach seiner Willkür Gesetze und die Struktur der Wirtschaft ändern und z.B. einer kapitalistischen Gesellschaft dekretieren, daß der Überwert und Zinsen oder Gewinn abgeschafft werden sollen, er kann aber z.B. in Form von Zöllen, Subventionen und auf manche andere Art wesentlich auf seine w i r t schaftliche Grundlage zurückwirken. IV. Diesen großen Streit zwischen der materialistischen Geschichtsauffassung nach Marx und Engels, nach der die wirtschaftliche Struktur der Gesellschaft die reale Grundlage bildet, und der Staat und die Rechtsordnimg in den bloßen Überbau gehören, und der Auffassung Stammlers, der das ganze Gewicht auf die Seite der staatlichen Rechtsordnung legt, in welcher er die bedingende Form des ganzen wirtschaftlichen Lebens sieht, diesen großen Streit, in den Jahrzehnte lang hervorragende Denker wie Max Weber oder Heinrich Cunow eingegriffen haben, kann man mit Hilfe der Lehre von dem stufenförmigen Aufbau der realen Welt lösen, dessen höchste

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Schicht das geistige Sein bildet, welches sich aus dem personalen, objektiven und objektivierten Geist zusammensetzt. Ich bin der Meinung, daß der Schlüssel zur ganzen Lösimg darin liegt, wenn wir richtig alle Folgen aus dem Verhältnis des objektiven und objektivierten Geistes ziehen. Eine Andeutung der Lösung ist folgende: Man muß von der Existenz kleiner Gemeinschaften ausgehen, bei denen wir zu Beginn noch nicht dem Recht in heutiger Auffassung begegnen; dort existiert die Rechtsordnung noch nicht als objektivierter Rechtsgeist. Die Regelung des wechselseitigen Verkehrs zwischen Gliedern der diesbezüglichen Gemeinschaft erfolgt vom Innern dieses Körpers spontan und ist noch sehr vage. Bald aber bildet sich ein gewisses Rechtsempfinden, Rechtsbegreifen; der objektive Rechtsgeist entwickelt sich. Dieser objektive Rechtsgeist, der real ist und auf den besonders der Einzelne „stößt", der sich gegen ihn und dadurch gegen die Gemeinschaft stellt, wird sich in einem langen Prozeß objektivieren. Aus dem bloßen Rechtsbewußtsein, aus der Rechtsüberzeugung des Volkes der betreffenden Gemeinschaft, also aus dem objektiven Rechtsgeist, bilden sich in einem langen Prozeß gewisse rechtliche Objektivationen. Der objektive Geist und daher auch der objektive Rechtsgeist sind zu diesen Objektivationen wesensnotwendig getrieben und schaffen sich in ihnen auf der anderen Seite seine Fesseln, von welchen sie sich wieder im weiteren Prozeß seiner Entwicklung in dieser oder jener Form befreien müssen. Solche erste rechtliche Objektivationen sind die Regeln des Gewohnheitsrechtes, und erst im weiteren Prozeß der Entwicklung kommt es zu ausgeprägteren Objektivationen, d.h. zum Erlaß verschiedener Gesetze und anderer Rechtsnormen in schriftlicher Form. Es erscheint das geschriebene Recht. Man muß also nicht nur vom Standpunkt der Entwicklung, sondern auch vom Standpunkt heutiger Auffassung den objektiven Rechtsgeist und den objektiven Geist überhaupt und den objektivierten Rechtsgeist und den objektivierten Geist überhaupt unterscheiden. Wenn man sich das alles vergegenwärtigt, dann ist es ganz klar, daß nicht vom immanent rechtlichen Standpunkt (von welchem Stammler die ganze Problematik ausschließlich betrachtete und welcher Standpunkt für eine komplexe Meisterung der Problematik zu eng und daher unannehmbar ist), sondern vom komplex dialektischen Standpunkt der objektivierte Rechtsgeist, ohne Unterschied, ob es sich um Gewohnheitsrecht oder um geschriebenes Recht handelt, überhaupt nichts Primäres, und zwar weder zeitlich noch logisch ist, und gleichzeitig die ganze Problematik des sozialrechtlichen und wirtschaftlichen Lebens keineswegs zu lösen vermag. Die staatliche Rechtsordnung ist eine Objektivation dessen, was in gewissem Sinn unter ihm steht, nämlich des objektiven Geistes, d.h. des Begreifens der sozialrechtlichen und wirtschaftlichen Problematik durch das Volk der diesbezüglichen Gemeinschaft. I n dieser Richtung hat daher die sozialwirt-

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schaftliche Ordnung als ein wesentlicher Bestandteil des objektiven Geistes - allerdings auch Bestandteil anderer Schichten des realen Seins - „eine höhere Kraft" oder „Macht". Der objektive Geist gibt aus sich gewisse Objektivationen in Form des Gewohnheitsrechtes oder des geschriebenen Rechtes heraus, ohne aber unter dieser erstarrten Schale weiter zu leben aufzuhören und ohne alle seine Gebiete eben auf diese Weise, d.h. durch Rechtsnormen zu objektivieren und sich dadurch zu binden. Die sozialwirtschaftliche Ordnung lebt unter der rechtlichen Schale ihrer Objektivationen nach ihren eigenen Gesetzen weiter, wenn auch die Rechtsordnung als objektivierter Rechtsgeist im Rückreflex mächtig auf sie wirkt. Bei der Lösung dieser Problematik ist es von Vorteil, zweierlei Aspekte zu unterscheiden, und zwar den statischen Aspekt und den dynamischen Aspekt, der in den soziologischen Aspekt übergeht. Wenn w i r den Staat, der gerade in diesem Augenblick da ist, beobachten, sehen w i r eine Rechtsordnung, die in normativer Weise das Benehmen von Menschen, daher auch ihre Produktions- und Tauschverhältnisse, kurz ihre wirtschaftlichen Verhältnisse regelt und sich auch im Durchschnitt durchzusetzen weiß und daher eine gültige Rechtsordnung ist. Von der sozialökonomischen Seite sehen wir unter dem teleologischen Aspekt eine große Menge von Produktions- und Tauschverhältnissen, also von wirtschaftlichen Verhältnissen, die durch die Rechtsordnung geregelt sind. In diesem statischen Aspekt kann man die entscheidende Rolle der existierenden Rechtsordnung beobachten. Unter dem dynamischen Aspekt, und zwar wenn w i r das Ganze der Rechtsordnung in ihrer langfristigen Entwicklung im Auge haben, ist es unbestritten, daß die Produktions- und Tauschverhältnisse, also die wirtschaftlichen Verhältnisse, einen sehr mächtigen, wenn auch keinen ausschließlichen Einfluß auf die Gestaltung der Rechtsordnung, auf den Inhalt ihrer Rechtsnormen haben. Unter diesem dynamisch soziologischen Aspekt kann man die große Rolle beobachten, welche die wirtschaftliche Struktur der Gesellschaft in ihrem Verhältnis zum Recht spielt und oft die Auflösung der nicht mehr passenden gesetzlichen Norm oder anderer Rechtsnormen, oder wenigstens bei Beibehaltung der bisherigen Rechtsinstitution eine Veränderung ihrer sozialen Funktion zur Folge hat, ein Phänomen, auf das zu Beginn dieses Jahrhunderts so nachdrücklich Karl Renner aufmerksam gemacht hat. § 54. Recht und Moral I. Nach einem Wort Rudolf von Jherings, das auch Heinrich Henkel zustimmend anführt, ist die Frage des Verhältnisses des Rechts zur Moral das „Kap Horn der Rechtsphilosophie". 1 27 KubeS

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Man begegnet einer außergewöhnlichen Vielzahl verschiedenster Auffassungen. Eine erste Gruppe lehrt, daß das Recht in der Moral verankert ist. Das ist grundsätzlich, also nicht ausnahmslos, die Meinung naturrechtlicher Lehren. Rudolf Laun betont 2 in seiner berühmten Inaugurationsrede über „Recht und Sittlichkeit": „Das Recht ist die Sittlichkeit, das Recht ist in den Herzen der Menschen". Eine vergleichbare Auffassung vertritt gewissermaßen jetzt Gustav Radbruch 3. Auch nach der Meinung von Luis Legaz y Lacambra 4 ist das Recht bis zu einem gewissen Grade der Moral untergeordnet, und zwar in zweifacher Hinsicht. „Erstens ist das Recht eine Form des Gesellschaftslebens, aber dieses ist eine Dimension des persönlichen Lebens, welche in der Moral eine Grundkategorie hat, insofern sie seine konstitutive Struktur ist, und deswegen müssen die sozialen Akte, welche die Rechtswirklichkeit ausmachen, als Akte des Menschen auch nach ihrer moralischen Struktur beurteilt werden. Zweitens muß der Rechtsinhalt der Akte auch dem ethischen Inhalt oder der Moral als Inhalt untergeordnet werden, a) weil das der Moral eigene Ziel höher ist als der zeitliche Zweck, den das Recht verwirklicht, und b) weil der Mensch sich nicht in einen ,homo iuridicus ( und einen ihm entgegengesetzten ,homo moralis' aufspalten kann und sein Verhalten in jeder Lage moralisch sein, also den Forderungen des Moralgesetzes entsprechen soll. Das Recht muß unmoralische Handlungen zulassen, denn sonst würde es dem Menschen seine Freiheit nehmen, aber es kann nicht auf gültige Weise zu einer unmoralischen Handlung verpflichten, denn eine solche Vorschrift würde einfach nicht den Sinn eines Rechtes haben. Dennoch darf die hierarchische Unterordnung des Rechtes unter das Moralgesetz nicht dazu führen, daß ein störendes Element der Rechtsunsicherheit in die richterlichen Entscheidungen oder ganz allgemein in die Auslegung und Anwendung des Rechts eingeführt wird. Der Richter muß als Richter das Recht gemäß seinem Inhalt und seinem Sinn anwenden. Aber wenn er als Mensch, d. h. moralisch, nicht die Anwendung einer immoralischen Norm verantworten kann, dann darf er nicht eine andere Norm anwenden oder das Urteil verweigern oder eine der Moral entsprechende Norm erfinden usw., sondern er muß auf sein Amt verzichten, wie schon Thomas von Aquin meinte. Nur der in seiner Totalität betrachtete ,Mensch' hat diese höchste Freiheit dem Recht gegenüber." Dieser Auffassimg steht in gewisser Hinsicht auch die Auffassung von Nicolai Hartmann 5 nahe. Er stellt zwar fest 6 , daß, wo sittliche Schöpfungen 1 Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie. Grundlagen des Rechts, 2. Aufl., 1977, S. 67. 2 Rudolf Laun, Recht und Sittlichkeit, 3. Aufl., S. 28. 3 Gustav Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1959, S. 37f., 39. 4 Luis Legaz y Lacambra, Rechtsphilosophie, 1965, S. 410f. 5 Nicolai Hartmann, Ethik, 2. Aufl., 1935, S. 58ff.

§54. Recht und Moral

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des Gemeinschaftslebens scharf umrissene Begriffe zeigen, die in ihnen geleistete Vorarbeit mit Rücksicht auf die Ethik die größte ist. Es gibt nur eine Wissenschaft praktischer Natur, die ein festgefügtes, exaktes Begriffssystem besitzt, die Rechtswissenschaft. Eine gewisse Berechtigung der Orientierung am Recht läßt sich also nicht bestreiten. Aber alles Recht beruht auf ethischer Grundforderung, auf einem echten geschauten Wert. Alles Recht ist nach Nicolai Hartmann „Ausdruck eines ethischen Strebens". „Es reguliert menschliche Verhältnisse, wenn auch nur die äußeren; es sagt, was geschehen oder nicht geschehen soll, einerlei, ob die Form in der es dieses sagt, dem Sollen Ausdruck gibt oder nicht. Schon das jeweilig positive Recht bekundet hiermit seine Wertbezogenheit. Aber das ist nicht das letzte Wort. Alles positive Recht hat die Tendenz, ideales Recht zu sein. Und diese Tendenz bekundet sich in der ständigen Entwicklung des geltenden Rechts, in seiner immer lebendigen Neuschöpfung durch Gesetzgebung. Überall, wo es de lege ferenda geht, stehen wir vor der Betätigung des primären Wertbewußtseins im Recht." 7 Eine weitere Gruppe von Philosophen und Rechtsphilosophen stellt den Gedanken der Koordinierung von Recht und Moral in den Vordergrund. Es ist zweifellos ein großes Verdienst Kants, daß er die Gesetzgebung für das innere Handeln von der Gesetzgebung für das äußere Handeln durch die Gegenüberstellung von Moralität und Legalität unterschieden hat. „Man nennt die bloße Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer Handlung mit dem Gesetze ohne Rücksicht auf die Triebfeder derselben die Legalität (Gesetzmäßigkeit), diejenige aber, in welcher die Idee der Pflicht aus dem Gesetze zugleich die Triebfeder der Handlung ist, die Moralität (Sittlichkeit) derselben." 8 Kant und früher schon Thomasius haben die Unterscheidung der Begriffe Recht und Moral vollzogen. 9 Den wesentlichen Unterschied von Recht und Moral sieht man darin, daß das Recht die Beziehungen zwischen den Menschen zum Gegenstand hat, die Moral dagegen den Menschen als Einzelwesen. Deshalb sind Rechtspflichten immer Pflichten eines Rechtssubjektes gegen ein anderes Rechtssubjekt. Jeder Rechtspflicht steht ein subjektives Recht gegenüber. Rechtlich verpflichtet ist jemand nur, weil ein anderer berechtigt ist. Die Rechtspflicht ist „Pflicht und Schuldigkeit", die moralische Pflicht dagegen Pflicht schlechthin, ihr steht keine Berechtigung gegenüber. 6

Nicolai Hartmann, I.e. S. 59. Nicolai Hartmann, I.e. S. 59. 8 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten in zwei Teilen, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797, in: Ernst Cassirer, Immanuel Kants Werke, Bd. VII, 1922, S. 19. 9 Zum folgenden Gustav Radbruch, I.e. S. 36ff. 7

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

Es gibt auch zahlreiche Auffassungen von der absoluten Zäsur zwischen Recht und Moral, und - analog - zwischen der Rechtswissenschaft und der Moralwissenschaft. Schon John Austin hat in seinen berühmten „Lectures on Jurisprudence or the Philosophy of Positive Law" (1861 ff., vorher aber bereits in seiner Arbeit „The Province of Jurisprudence Determined, 1832) geschrieben: "the matter of jurisprudence is positive law". Auch Holland meint: 1 0 "jurisprudence ... is the science of actual or positive law". Hans Kelsen lehrt 1 1 , daß die Reine Rechtslehre eine Theorie des positiven Rechts ist. Auch der amerikanische Jurist O. W. Holmes vertritt 1 2 die Meinung von der absoluten Zäsur zwischen dem Recht und der Moral. Eine andere Auffassung vertritt Hermann Cohen, der Führer der Marburger neukantischen Schule. In seinem Werk „Ethik des reinen Willens" versucht er die transzendentale Methode auch auf die Ethik anzuwenden. Er forscht nach einem System der Inhalte, zu welchen sich die Begriffe oder die Ideen der Ethik wie reine Formen verhalten, und glaubt, diese Inhalte in der empirischen Welt des Rechts zu finden. 13 Auf solche Weise ist er daher auf das Recht ausgerichtet. Das empirische Faktum, welches Cohen als Vertreter der transzendentalen Methode unbedingt braucht, ist das Recht. Das Ergebnis ist interessant: bei ihm ist nicht das Recht der Sittlichkeit untergeordnet, sondern umgekehrt, die Sittlichkeit ist in das Recht eingereiht; die Moral ist durch das Recht konsumiert. Cohen sieht nicht, daß auch realiter eine „positive" Moral („Sittlichkeit") existiert und daß diese Moral zur Idee der Sittlichkeit, bzw. zur Normidee der Sittlichkeit in einem ähnlichen Verhältnis steht, wie das empirische, „positive" Recht zur Idee (Normidee) des Rechts. II. Schon die terminologische Seite, und zwar nicht nur - wie w i r erkannt haben - mit Rücksicht auf das Recht, sondern auch mit Rücksicht auf die Moral, ist sehr unklar. Die einen, z.B. Engisch 14, Arthur Kaufmann 15 und Heinrich Henkel 16 verwenden die Bezeichnimg Moral, Sittlichkeit, Ethik als gleichbedeutend, als Synonyma. 10

Holland, Jurisprudence, 1893, S. 12. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl., 1934, S. 1. 12 O.W. Holmes, The Path of the Law, Harward Law Review X. (1896 - 97), S. 459; derselbe, Ideals and Doubts, Collected Papers, S. 306; vgl. John C. Ford, The Fundamentals of Holmes' Juristic Philosophy, in: P. Le Buffe - James W. Hays, The American Philosophy of Law, 1947, S. 377f. 13 Hermann Cohen, Kants Begründung der Ethik, 3. Aufl., 1920; vgl. Julius Binder, Philosophie des Rechts, 1925, S. 380ff. 14 K. Engisch, Auf der Suche nach der Gerechtigkeit, 1971, S. 82. 15 Arthur Kaufmann, Recht und Sittlichkeit, Recht und Staat H. 282/3,1964, S. 7. 16 Heinrich Henkel, Einführung i n die Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1977, S. 66, Anm. 1. 11

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Nach Meinung der marxistisch-leninistischen Philosophie 17 ist eine Unterscheidung zwischen Moral und Sittlichkeit in dem Sinne, daß unter Moral das mannigfaltige, widersprüchliche, sich ständig wandelnde, individuell und subjektiv bestimmte praktisch-sittliche Verhalten verstanden wird, während unter der Sittlichkeit oder Ethik das eine unveränderliche, für alle Zeiten und Menschen gültige Sittengesetz, ein Ausdruck der Ausweglosigkeit. „Eine derartige Unterscheidung zwischen Moral und Ethik nach dem ,Prinzip' der ,vielleicht Vielheit der Moralen' und der,Einheit der Ethik' (N. Hartmann) ist ein Ausdruck der Ausweglosigkeit, in die jede Ethik führen muß, die ihre Prinzipien und Normen nicht aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit gewinnt, sondern sie aus Gott oder einem ewigen Naturgesetz, aus einer Weltvernunft oder dem Menschen selbst, aus seinen Instinkten, Trieben, Gefühlen, seinem Willen oder seiner Vernunft abzuleiten sucht." 1 8 Die marxistisch-leninistische Ethik bestimmt 19 die Moral oder Sittlichkeit als eine spezifische Form des gesellschaftlichen Bewußtseins, als eine dialektische Einheit von sittlicher Gesinnung und entsprechendem praktischsittlichem Verhalten, als ein kompliziertes System von geschichtlich gewordenen und gesellschaftlich bedingten sittlichen Grundsätzen, Werten und Normen, von denen sich die Menschen in ihrem Verhalten zueinander und zu den verschiedenen Einrichtungen und Formen ihres gesellschaftlichen Zusammenlebens wie Klasse, Arbeit, Arbeitskollektiv, Familie, Staat, Nation usw. bestimmen und leiten lassen. „Die Moral ist mit der Gesellschaft entstanden und hat sich mit dieser verändert und entwickelt. Außerhalb der Gesellschaft gibt es keine Moral. Sie ist eine Widerspiegelung gesellschaftlich bedingter Gemeinschaftsbeziehungen der Menschen und zugleich eine aktive, über das entsprechende Handeln der Menschen auf jene Beziehungen zurückwirkende, sie gestaltende Kraft." Die anderen wieder, besonders z.B. Nicolai Hartmann, machen einen Unterschied zwischen der Moral auf der einen Seite und der Sittlichkeit oder Ethik auf der anderen Seite. Nach der Meinung von Nicolai Hartmann20 hat jede Zeit und jedes Volk seine „geltende Moral". Von aller positiven Moral zu unterscheiden ist aber die Ethik als solche mit ihrer allgemeinen, idealen Forderung des Guten, wie sie in jeder speziellen Moral schon gemeint und vorausgesetzt ist. Ihre Sache ist es zu zeigen, was überhaupt „gut" ist. „Die Ethik sucht das Kriterium des Guten, das jenen positiven Moralen fehlt. Was hieran sofort klar wird, ist die Tatsache, daß das Ver17 Georg Klaus - Manfred Buhr, Philosophisches Wörterbuch, Bd. 2,11. Aufl., 1975, S. 823 ff. 18 Georg Klaus - Manfred Buhr, I.e. S. 824. 19 Georg Klaus - Manfred Buhr, I.e. S. 824f. 20 Nicolai Hartmann, I.e. S. 34ff.

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

hältnis zwischen geltender Moral und Ethik, ungeachtet allen Abstandes, von vornherein ein inneres, ein Verhältnis der Gebundenheit, ja der idealen Abhängigkeit ist. Gibt es doch keine geltende Moral, die nicht die Tendenz hätte, absolute Moral zu sein. Ja, geltende Moral hat überhaupt nur solange ,Geltung 4 , als der Glaube an sie als absolute Moral lebendig ist. Es ist damit nicht anders als auf allen Geistesgebieten. Jedes positive Wissen hat die Tendenz, absolutes Wissen zu sein; jedes positive Recht die Tendenz, gichtiges' (ideales) Recht zu sein. Überall ist die Beziehung auf die Idee dem Positiven schon immanent. Sie ist die innere Bedingung des Geltens selbst, d.h. des Positiv-Seins. Da nun aber die Idee der Moral überhaupt nichts anderes ist als das inhaltliche Wesen der Ethik, so darf man sagen: jede geltende Moral hat die Tendenz reine Ethik zu sein, ja sie glaubt, reine Ethik zu sein. Und nur solange sie es glaubt, ist sie geltende Moral." 2 1 III. Aber nicht nur in diesem Sinne besteht eine große Verschiedenheit von einzelnen Ansichten. Viel Unklarheit herrscht auch darüber, was man überhaupt unter dem Begriff „Moral" nach der inhaltlichen Seite denken soll. So stellt z.B. Heinrich Henkel fest, 22 daß man zunächst bei der Aufgliederung des Bereiches der Sittlichkeit vier Sphären unterscheiden müsse: die autonome Sittlichkeit (Gewissensethik), die Hochethik der religiösen und weltanschaulichen Systeme, die Sozialmoral (Gruppenmoral) und die Humanmoral. Man kann sicher einzelne Seiten der Moral als solcher zum Gegenstand einer besonderen Untersuchung machen. Aber fragwürdig ist die Henkelsche Zergliederung eines einheitlichen Begriffes der Moral in vier, wahrscheinlich ganz selbständige Sphären^ Jedenfalls wäre es notwendig, die Begriffe dieser vier Moralen im Wege der komplexen Dialektik in einen einzigen komplex-dialektischen Begriff der Moral zu bearbeiten. Man muß doch zu dem Inhalt eines solchen einzigen komplex-dialektischen Begriffs der Moral kommen und erst dann kann man die Hauptmerkmale der Moral bestimmen, besonders die Innerlichkeit der Moral und den Umstand, daß die Sanktion bei der Moral keinesfalls im äußerlichen Zwang besteht, sowie die Unterscheidung zum Recht durchführen. IV. Nach dieser kurzen Übersicht einzelner Gruppen häufiger vertretener Ansichten, kann man zum Verhältnis des Rechts und der Moral folgendes sagen: 21 22

Nicolai Hartmann, I.e. S. 34f. Heinrich Henkel, I.e. S. 67ff.

§ 54. Recht und Moral

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a) Zu allererst muß man zwischen dem Begriff des Rechts, dem Begriff der Idee des Rechts und dem Begriff der Normidee des Rechts auf der einen Seite, und dem Begriff der Moral, dem Begriff der Idee der Sittlichkeit und dem Begriff der Normidee der Sittlichkeit auf der anderen Seite unterscheiden. b) Recht ist ein Inbegriff von Normen (und diesbezüglicher Handlungen), die einen hierarchischen Stufenbau aufweisen - mit der Grundnorm an der Spitze, die allerdings kein letztes Wort bedeutet, sondern im objektiven Rechtsgeist verankert ist und die zur realen Idee des Rechts (dieser dialektischen Synthese der Ideen der Gerechtigkeit, der Sicherheit, der Freiheit des konkreten Menschen und der Zweckmäßigkeit) und zur Normidee des Rechts, die der Welt der Idealität angehört, tendiert. Das Recht gehört mit seiner im großen und ganzen bestehenden Faktizität und mit dem organisierten Zwang (als Phänomen) nicht nur der Schicht des geistigen Seins, sondern auch den anderen, niedrigeren Schichten der realen Welt, besonders auch - angesichts seines äußeren, organisierten Zwangs - der Schicht des physisch-materiellen Seins an. Die Moral ist der Inbegriff der in der betreffenden Gemeinschaft geltenden Normen, mit deren Verletzung „nur" die Unruhe des Gewissens als Sanktion verknüpft ist. Der äußere Zwang ist dem Wesen der Moral vollkommen fremd. Sie gehört der Schicht des geistigen Seins an, obgleich sie sich in der psychologischen Gegebenheit (Wirklichkeit) des menschlichen Gewissens manifestiert und damit auch in die seelische Schicht hineinragt. Keinesfalls aber gehört die Moral in die Schicht des anorganischen Seins; sie kennt keinen äußeren Zwang. Die Moral tendiert zur Idee der Moral, die der realen Welt angehört, und letztlich zur Normidee der Sittlichkeit, die als ein Bestandteil des idealen Reichs der Normideen aufgefaßt wird. Den Inhalt dieser Idee der Moral bzw. der Normidee der Sittlichkeit kann man als den kategorischen Imperativ im Sinne Kants oder als die höchste Norm im- Sinne des Mitleids mit allem Lebendigen nach Arthur Schopenhauer denken. c) Das Recht regelt die Beziehungen zwischen den Menschen und setzt daher die menschliche Gesellschaft voraus. Ein Robinson-Recht ist undenkbar. Das Recht kennt die Rechtspflichten und ihnen korrespondierende subjektive Rechte, die gerade in den Pflichten der anderen bestehen und verankert sind. Die Moral hat in erster Linie den Menschen als ein Individuum zum Gegenstand, mag sie auch die Verhältnisse zwischen den Menschen nach dem Gesetz der Liebe ordnen. Die Moral kennt nur Pflichten. Petrazycki drückt diesen Gedanken so aus 23 , daß die Moral rein imperativer Natur ist, während das Recht imperativ-attributiver Natur ist.

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

d) Das Recht ist durch seine grundsätzliche „Äußerlichkeit", die Moral durch ihre grundsätzliche „Innerlichkeit" charakterisiert, und zwar in dem Sinn, daß das Recht sich nicht auf das innere Verhalten als solches bezieht, sondern nur wegen der möglichen Folgen (Rücksicht auf „bona fides", „dolus" oder „culpa") Elemente des inneren Verhaltens in Betracht zieht, während die Moral das äußere Verhalten nur als einen Ausdruck der inneren Gesinnung bewertet. Der Satz „cogitationis poenam nemo patitur" spiegelt das Wesen des Rechts selbst wider, erfolgt aus der Notwendigkeit der Rechtssicherheit. Die Rechtssicherheit ist ein Bestandteil der Rechtsidee. e) Die Unterscheidung zwischen der Legalität des Rechts und der Moralität der Moral ist nur insoweit richtig, wenn beim Recht nur einzelne Rechtsnormen in Betracht kommen. Beim Recht als einem Ganzen, bei der Rechtsordnung, ist es anders. Die Rechtsordnung als objektivierter Rechtsgeist, welcher nicht mit dem objektiven Rechtsgeist (mit dem Volksempfinden) im Einklang steht, wird nicht lange in Geltung sein. f) Das Kriterium der Heteronomie des Rechts und der Autonomie der Moral ist nur mit einer wesentlichen Einschränkung richtig. Wenn man unter „Autonomie" die Gegebenheit eines Norminhaltes im eigenen Gewissen versteht, dann ist es möglich, beim Recht als einem Ganzen - im Unterschied zur einzelnen Rechtsnorm - von „Autonomie" zu sprechen. Zur Geltung des Rechts als eines Ganzen ist der Einklang mit dem objektiven Rechtsgeist erforderlich oder mindestens dessen Toleranz. Die einzige wesenhafte Verbindung des Rechts mit der Moral besteht darin, daß die Normidee des Rechts und die Normidee der Moral Bestandteile der höchsten Normidee des Guten (der konkreten Menschlichkeit) sind. Es ist richtig, daß das Recht die Moral ermöglichen soll; es soll ihr Maß der äußerlichen Freiheit, ohne welche die innere Freiheit der moralischen Entscheidung nicht gut existieren kann, garantieren. Die Garantie der äußeren Freiheit bedeutet das Wesen und den Kern der Menschenrechte, wie Radbruch zu Recht betont. 24 Die Normidee des Rechts und die Normidee der Sittlichkeit sind gleichgeordnet. Es ist unrichtig, die Normidee des Rechts der Normidee der Sittlichkeit unterzuordnen. Es ist ferner die Auffassung unzutreffend, daß alles Recht ein Ausdruck moralischen Strebens sei. Alles Recht ist ein Ausdruck des rechtlichen Strebens, das zur Idee und Normidee des Rechts tendiert. Es ist nicht die Aufgabe der Ethik, sondern der Rechtsphilosophie, Sinn und Zweck des Rechts, dessen Wert, aufzuweisen. Das Recht hat seinen spezifischen höchsten Zweck, und zwar die Idee und die Normidee des Rechts. 23 Petrazycki, Über die Motive des Handels, 1907; vgl. Louis Le Fur, Les grands problèmes du Droit, S. 112 ff . 24 Gustav Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1959, S. 26.

§ 5 . Recht und S t t

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Diese Auffassung, daß neben der Normidee der Sittlichkeit noch die gleichgeordnete Normidee des Rechts in der idealen Welt gegeben ist, zu welchen Normideen die realen Ideen und die realen Gebilde (empirische Moral und empirisches Recht) tendieren, ist von grundlegender Bedeutung für eine genaue Unterscheidung zwischen Moral und Recht. Auf der anderen Seite aber besteht zwischen Moral und Recht keine absolute Kluft, sondern eine enge Verbindung. Die Normidee des Rechts und die Normidee der Sittlichkeit bilden in Verbindung mit anderen Normideen und mit der Normidee des Guten an der Spitze eine Einheit der Normideen.

§55. Recht und Sitte I. Geistiger Vater der Dreigliederung der gesellschaftlichen Normen in das Recht, die Moral und die Sitte ist Rudolf von Jhering. Die Grundlage zu dieser Dreigliederung hat er in seinem großartigen, sehr oft zitierten Werk „Der Zweck im Recht" gelegt. Jhering zeigt 1 , daß ursprünglich diese drei verschiedenen Normenkomplexe verbunden waren und erst später und schrittweise sich entwickelten. So umfaßt bei den Griechen das Wort dike das Recht, die Moral und die Sitte und ähnlich bei den Juden das Wort „mischpat", nur daß dieses Wort nicht den Willen des Volkes, sondern den des Gottes hinter sich hat. 2 Genau dasselbe drückt bei den Indern das Wort „dharma" aus. In Rom trennt sich das Recht von Moral und Sitte, während die Moral und die Sitte noch untrennbar verbunden sind und durch das Wort „mos" bezeichnet werden. Die deutsche Sprache hat diese Gemeinschaft so unterschieden, daß sie neben dem Recht noch die Sittlichkeit oder Moral und die Sitte kennt. 3 Mit Recht betont Gustav Radbruch 4, daß die Unterscheidung von Recht und Sitte sich als schwieriger erwiesen hat als die Unterscheidung von Recht und Moral. Die Sanktion besteht nämlich auch bei der Sitte in etwas Äußerlichem, ähnlich wie beim Recht. Nach Radbruch kennzeichnet die Reihe: „Gewohnheit" - „Brauch" „Sitte" einen zunehmende Befreiung der Normativität aus der Bedingtheit durch das Faktische, die dann noch weiter fortschreitet, indem Moral und 1

Rudolf von Jhering, Der Zweck im Recht, 2. Bd., 5. Aufl., 1916. Dazu und zum folgenden Rudolf von Jhering, I.e. II, S. 40; Hans Kirchberger, Unlauterer, sittenwidriger und unerlaubter Wettbewerb, S. 8; zum Begriff „diké" vgl. auch Egon Weiss, Griechisches Privatrecht I, 1923, S. 2Iff.; Bohus Tomsa, Idea spravedlnosti a prâva ν recké filosofie (Die Idee der Gerechtigkeit und des Rechts in der griechischen Philosophie), 1923. 3 Rudolf von Jhering, I.e. II, S. 42. 4 Gustav Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, S. 40. 2

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

Recht, sich über die Sitte erhebend, die Sitte als „Unsitte" oder umgekehrt als „gute Sitte" bewerten. Sicher ist, daß auch die Normenordnung der Sitte dem geistigen Sein der Gruppe und nicht einem Bereich der Naturordnung zuzurechnen ist. 5 Gustav Radbruch hat behauptet 6 , daß zwischen Recht und Sitte eine „Inkommensurabilität" besteht, und zwar deshalb, weil nur das Recht, nicht aber die Sitte an einer Wertidee ausgerichtet sei; die Sitte habe im System der Kulturbegriffe keinen Platz. Dazu bemerkt Heinrich Henkel 7, es sei zwar zutreffend, daß innerhalb eines überwiegend rational bestimmten Ordnungssystems, wie es das Recht darstellt, auch dessen Wertbezüge, und zwar einerseits zu einer tragenden Wertidee, insbesondere der Gerechtigkeit, andererseits zur sozialen Wertordnung, weitgehend rational deutbar sind, was zugegebenermaßen hinsichtlich der normativen Sittenordnung vielfach nicht der Fall ist. Henkel glaubt jedoch, daß doch auch der Sitte zumindest unterbewußte Werttendenzen eigentümlich sind, die sich wegen der Vielfältigkeit und Unbestimmtheit der Entstehungsgründe der Sitten allerdings nicht in gleichem Maße wie beim Recht rational erklären lassen. „Daß die Sittenordnung aber ebenfalls dem Kulturbereich der menschlichen Verbände zugehört, ergibt sich aus der Erkenntnis, daß sie Ausdruck eines geistigen Seins der Gruppe ist, in dem sich ein Stück Kultur des Verbandes repräsentativ darbietet, mag auch manches, insbesondere hinsichtlich der Regeln des konventionellen Umganges, mehr den Randbezirken der Zivilisation zuzuweisen sein." 8 Sicher ist es richtig, daß die Sittenordnung in das geistige Sein gehört, und zwar in die Sphäre des objektiven Geistes. Andererseits ist es aber auch richtig, daß die Sitte nicht mit Recht oder Moral gleichgeordnet ist. In der idealen Welt existiert nämlich keine Normidee der Sitte, es existieren dort aber die Normideen des Rechts und der Sittlichkeit. Aber auch in der realen Welt existiert keine reale Idee der Sitte; dort existieren aber reale Ideen des Rechts und der Moral. Sicher kann man nicht mit der Behauptung einverstanden sein, daß die Sitte „ein in sich widersinniges Mischprodukt rechtlicher und moralischer Bewertung" 9 darstelle. Was die weitere Behauptung Radbruchs betrifft, nämlich daß es die Bestimmung der Sitte ist, vom Rechte und von der Moral aufgezehrt zu werden, nachdem sie das Recht sowohl wie die Moral erst vorbereitet und ermöglicht hat 1 0 , ist es richtig, daß in der Frühzeit der mensch5

Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1977, S. 56. Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 5. Aufl., 1956, S. 142 f. 7 Heinrich Henkel, I.e. S. 57. 8 Heinrich Henkel, I.e. S. 57. 9 Gustav Radbruch, I.e. S. 143. 10 Gustav Radbruch, I.e. S. 143. 6

§ 5 . Recht und S t t

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liehen Sozietäten die Sitte die historische Vorform nicht nur des Rechts 11 , sondern auch der Moral darstellt, und richtig ist auch, daß zwischen Sitte und Recht ein ständiger Integrationsprozeß besteht, eine unumgängliche und intensive Wechselwirkung, wie Heinrich Henkel mit Recht betont 12 . Mit Recht weist Henkel auch die Behauptung zurück, daß es allgemein die Bestimmung der Sitte sei, im Recht aufzugehen. Nur ein Teil des Sittenbereiches kommt für die rechtliche Integration in Betracht. Von einer „Aufzehrung" der Sitte kann keine Rede sein, da „diese vielmehr ihre Gültigkeit als Sitte auch weiterhin behält und darin ihre selbständige Funktion neben dem Recht erfüllt." 1 3 Die Feststellung Jherings scheint richtig zu sein, daß die Normen der Sitte im Verhältnis zu den Normen der Moral und des Rechtes etwas darstellen, was nicht vollwertig ist. Man spricht von Normen der Sitte, wenn man z.B. an die verschiedenen Vorschriften des Grüßens denkt, des gesellschaftlichen Benehmens bei verschiedenen Gelegenheiten, an die Pflicht, eine bestimmte Tracht bei bestimmten Feierlichkeiten zu tragen. Auch bei der Sitte kommt eine besondere Vermischung von heteronomen und autonomen Momenten in Betracht. Mit Recht hebt Henkel hervor 14 , daß der Einzelne als Gruppenangehöriger sich ständig unter der heteronomen Wirkung einer allgegenwärtigen öffentlichen Macht fühlt. Auch bei der Sitte kommt das Merkmal des äußeren Zwanges als Sanktion auf ein Zuwiderhandeln gegen die Normen der Sitte in Betracht. Beim Recht aber tritt die Sanktion als organisierter Zwang (Exekution, Strafe) hervor, während bei der Sitte einen solche organisierte Sanktion nicht in Frage kommt. Auf der anderen Seite ist aber der Einzelne auch Mitträger jener Macht der Sozietät, die hinter dem Verbindlichkeitsanspruch der Sittenregeln steht. 15 Letztlich also kommt hier auch das autonome Moment der Selbstbindung des Einzelnen an die Normen der Sitte in Betracht. Beim Recht spielt die Hauptrolle der objektivierte Geist, bzw. Rechtsgeist. Bei der Sitte kann man vom objektivierten Geist nicht gut sprechen. Die Sittenordnung bildet einen Teil· des objektiven Geistes. Die Geltung der Sittenordnung ist gerade hier in dem objektiven Geist verankert. Bei der Sitte begegnet man keinem weiteren Rekurs auf eine reale Idee, bzw. auf eine ideale Normidee. Die Sitte „endet" mit dem objektiven Geist. Dort ist ihr Sitz und von dort entspringt die Heteronomie und zugleich die Autonomie der Sitte. 11 12 13 14 15

Heinrich Heinrich Heinrich Heinrich Heinrich

Henkel, Henkel, Henkel, Henkel, Henkel,

I.e. I.e. I.e. I.e. I.e.

S. S. S. S. S.

57. 57, 63ff. 57. 60. 60.

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

Aus der Feststellung, daß der Platz der Sitte im objektiven Geist ist, folgt auch die Unrichtigkeit der Behauptung von Rudolf Stammler 16, daß bei der Sitte von einer Heteronomie gar keine Rede sein könne und daß die Normen der Sitte vollkommen autonom seien, weil ihre Geltung auf der Einwilligung des Einzelnen beruhe, der ihr nur auf Grund seiner freiwilligen Unterwerfung verpflichtet sei. Offensichtlich vergegenwärtigt sich Stammler keinesfalls die abgeleitete, und zwar primär abgeleitete Normativität einzelner Sphären des objektiven Geistes, besonders der Sphäre des Rechtsgeistes, der Sphäre der Moral, aber auch der Sphäre der Sitte, mit ihrem - auch - „heteronomen" Charakter. Man steht allerdings vor der nicht leichten Frage, woher diese abgeleitete Normativität der Sitte überhaupt kommt. Beim Recht und bei der Moral ist es klar: die abgeleitete Normativität der rechtlichen und moralischen Sphäre kommt über den einzigen Vermittler, den wir kennen, d. h. über den Menschen als Subjekt und Person von idealen Normideen des Rechts und der Moral. Woher aber kommt die abgeleitete Normativität der Sittenordnung, wenn wir auf der anderen Seite behaupten, daß keine Normidee der Sitte existiert. Die abgeleitete Normativität der Sittenordnung - eine reine Normativität existiert bei der Sitte überhaupt nicht - ist nur ein Abglanz der Normideen des Rechts und der Moral. Auch in dieser Richtung bestätigt sich die bloße Hilfsfunktion der Sitte im Verhältnis zum Recht und zur Moral. Recht, Sitte und Moral unterscheiden sich vor allem in der Form der Sanktion. Beim Recht und bei der Sitte hat man es mit einer äußerlichen Sanktion zu tun, während bei der Moral mit einer innerlichen Sanktion. Die äußerliche Sanktion beim Recht besteht im organisierten Zwang (Exekution, Strafe), während bei der Sitte im nicht organisierten Zwang (in verschiedenen, nicht organisierten Reaktionen des Gesellschaftskreises, zu dem das Pflichtsubjekt gehört, bis zu der äußerlichsten Reaktion - zur Ausschließung aus dem in Frage kommenden Gesellschaftskreis überhaupt). § 56. Zur begrifflichen Bestimmung des Rechts I. Erst am Ende der gesamten rechtsontologischen Ausführungen kann man zur Skizzierung des Begriffs des Rechts treten. „ I m Zentrum aller unserer Begriffe und Lehren steht der Begriff Recht im objektiven Sinne selbst." „Der Rechtsbegriff bleibt der Kulminationspunkt aller juristischen Begriffe, Urteile und Systeme, der Kapital-Begriff der Jurisprudenz im allerweitesten Sinn", sagt Karl Bergbohm 1. Der Begriff des 16 Rudolf Stammler, Wirtschaft und Recht, 5. Aufl., 1924, S. 473ff.; vgl. auch die K r i t i k von Heinrich Henkel, I.e. S. 60f., Anm. 9. 1 Karl Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, 1892, S. 71 f.

§56. Zur begrifflichen Bestimmung des Rechts

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Rechts „ist der Atlas, auf dessen Schultern die Kugel der juristischen Welt ruht", stellt Felix Somló fest 2 . Ähnlicher Meinung sind viele andere Rechtstheoretiker wie z.B. Ernst Rudolf Bierling 3, Rudolf Stammler 4 und Hans Kelsen 5. Jeder von den Rechtstheoretikern stößt bei seiner Untersuchung an diesen fundamentalen Rechtsbegriff und fast jeder strebt nach irgendeiner Bestimmung dieses Begriffes. Auch heute gelten die bekannten, aber keinesfalls bissig gemeinten Worte von Immanuel Kant 6: „Noch suchen die Juristen eine Definition zu ihrem Begriffe vom Recht." II. Im Verlauf unserer Ausführungen haben wir erkannt, daß die moderne, kritische Ontologie - und vielleicht nur sie - imstande ist, alle diese Fragen und Probleme cum ratione sufficiente zu lösen. Diese kritische Ontologie gibt uns auch einen grundlegenden methodologischen Wegweiser, und zwar daß es nötig ist, bei der begrifflichen Bestimmung des Rechts von der deskriptiven Methode der Bestimmung der Ebene der Mitte der Phänomene zwischen dem naiven und dem wissenschaftlichen Begreifen und Erkennen des Rechts, besonders auch von der philosophischen Erfahrung des Rechts, also von der Gesamterfahrung auszugehen. Mit Hinblick auf alle bisherigen Ergebnisse kommen w i r zur folgenden Definition des Rechts: Das Recht ist ein Inbegriff und ein Stufenbau von Normen - und auch diesbezüglichen Handlungen -, die von der Grundnorm abgeleitet sind, welche im objektiven Rechtsgeist verankert ist und zur Gerechtigkeit, Freiheit des konkreten Menschen, Sicherheit und Zweckmäßigkeit hinzielt, von Normen, welche im Durchschnitt mit dem organisierten Zwang und der Faktizität ausgestattet sind und einen bedeutenden Teil der Verhältnisse in der Gemeinschaft in relativ dauerhafter Weise regeln. III. Das Recht ist also: 1. Ein Inbegriff von Normen. Es handelt sich um den normativen Charakter des Rechts, und zwar um die abgeleitete Normativität. Die Normativität im reinen Sinn ist nur den Normideen eigen, die der Welt der Idealität angehören, also auch der Normidee des Rechts, während die abgeleitete Normativität in gewissen Sphären des personalen, objektiven und objektivierten Geistes, besonders in der rechtlichen Sphäre vorkommt. 2 3 4 5 6

Felix Somló, Juristische Grundlehre, 1917, S. 52ff. Ernst Rudolf Bierling, Juristische Prinzipienlehre, I, 1894, S. 14. Rudolf Stammler, Wirtschaft und Recht, 1. Aufl., 1896, S. 492. Hans Kelsen, General Theory of Law and State, 1948, S. 50. Immanuel Kant, K r i t i k der reinen Vernunft, 1. Aufl., S. 731, Anm.

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Die Norm ist ein Ausdruck dessen, was sein soll („A soll sein") im Unterschied zu einem Ausdruck, daß etwas ist („A ist"). Bei der Norm abstrahiert man vom normschöpferischen Subjekt und auch vom Pflichtsubjekt. Man kann nur sagen, daß der Adressat der Pflicht, die aus der Norm folgt, der Mensch als solcher ist. Die Norm ist reine Festsetzung einer Pflicht zu etwas, wobei dieses Etwas als variabler Inhalt auftreten kann. Bei einer Norm tritt wesentlich weder das normschöpferische Subjekt (der Befehlende), noch das Pflichtsubjekt, der Adressat der Pflicht (soweit man freilich nicht einen solchen Adressaten der Pflicht im Menschen als solchem überhaupt sehen will), noch das Berechtigungssubjekt auf. Bei der Norm geht es um die allgemeinste Bestimmung der Pflicht zu Etwas. Die Festsetzung der Pflichtsubjekte ist kein wesensnotwendiger inhaltlicher Bestandteil der Norm als solcher. Die Norm darf man nicht als einen Ausdruck des Willens, als ein Wollen begreifen. Der Wille ist eine psychologische Eigenschaft des Menschen und den Willen noch anders zu begreifen und mit Hilfe eines so begriffenen „Willens" den Begriff der Norm erklären zu wollen, bedeutet ignotum per ignotius zu erklären. Die Norm kann man nicht mit dem Imperativ, mit dem Befehl eines übergeordneten Subjekts in seiner Beziehung zum untergeordneten Subjekt, identifizieren. Die Norm ist nämlich nicht nur eine Bestimmung der Pflicht zu Etwas, sondern sie ist auch ein normatives Bewertungsurteil, das eine gewisse abgeleitete normative Feststellung enthält, daß „A soll sein", und so einen Maßstab für die Beurteilung gewisser konkreter Tatbestände darstellt. Hingegen ist der Imperativ kein solches normatives Urteil mit der Funktion eines Maßstabes. Die Norm ist also nicht nur eine Festsetzung der Pflicht (des Sollens) zu Etwas, sondern auch ein Wertmaßstab, ein normatives Werturteil. Man kann nicht sagen, daß die primäre Funktion der Norm in der Festsetzung einer Pflicht zu Etwas besteht, daß es also primäre Funktion der Norm wäre, auf die menschliche Aktivität zu wirken, das menschliche Benehmen zu regulieren und in solcher Weise die menschliche Gesellschaft zu organisieren, und daß es erst sekundäre Funktion der Norm wäre, ein Wertmaßstab zu sein. Beide diese Funktionen sind so verknüpft, daß man keine dieser Funktionen voranstellen kann. Die Norm und speziell die Rechtsnorm ist beides, und zwar wie die Festsetzung einer Pflicht zu Etwas, so auch ein Wertmaßstab. Wenn in der normativen Theorie die bekannten Beispiele „Es soll regnen" oder „Rosen sollen blühen" als Muster einer Norm angeführt werden, so ist dies vollkommen unrichtig. In diesen Beispielen geht es überhaupt um keine Norm, und zwar aus dem einfachen Grund, daß man von einer Festsetzung

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des Sollens, der Pflicht, und also auch der Norm, nur in der realen Schicht des geistigen Seins sprechen kann und darf, keineswegs aber in der Schicht des physisch-materiellen oder organischen Seins. Die vollkommene Unkenntnis der modernen, kritischen Ontologie, die Unkenntnis des stufenförmigen Aufbaues der realen Welt und ihrer Kategorien hatte diesen Grundirrtum der Normativen Theorie zur Folgen. Die Festsetzung eines Pflichtsubjektes gehört zum Begriff der Norm nur im allgemeinen Sinn, nämlich daß die Normen und Pflichten für Menschen da sind. Es ist bekannt 7 , daß gegenüber der ursprünglichen Auffassung der Reinen Rechtslehre, die übrigens konsequent bis zum Schluß Weyr vertreten hat, Kelsen in seiner späteren Entwicklung zu der Auffassung gekommen ist, daß nur der Mensch ein Pflichtsubjekt sein kann. Kelsen hat nämlich seinen ursprünglichen Standpunkt verlassen, nach dem es notwendig sei, streng die Begriffe des physischen Menschen und der Person zu unterscheiden und daß in den normativen Betrachtungen nur die Personen in der Funktion eines Subjekts, welchem die Norm zugerechnet wird, auftreten können 8 ; später vertrat er die Ansicht, daß das Handeln der Person nie Inhalt von Rechtsregeln sei, sondern nur das Handeln der Menschen, 9 und daß daher nur der Mensch als eine natürliche Realität durch die Rechtsnorm gebunden und auch berechtigt sein kann 1 0 . Diese strittige Problematik kann man folgendermaßen lösen: Es ist richtig, daß grundsätzlich, im Durchschnitt, die Rechtsordnung nur an die Menschen als psychophysische Einheiten anknüpfen kann; allerdings können aus Gründen der Zweckmäßigkeit - und die Idee der Zweckmäßigkeit bildet einen der vier Bestandteile der Idee und der Normidee des Rechts - die Pflichten auch anderen Subjekten zugerechnet werden, als der Mensch ist, also auch den juristischen Personen; mit Recht spricht man von der Rechtspflicht einer juristischen Person. Diese Lösung ist vollkommen im Einklang mit der Auffassung der Rechtspflicht. Nur der Mensch kann grundsätzlich eine Rechtspflicht haben. Das, wozu der Mensch verpflichtet ist, muß nach den in der betreffenden Zeit bekannten Naturgesetzen verwirklichbar sein, d.h. es darf nicht um einen Fall der sog. theoretischen Unmöglichkeit (Unverwirklichbarkeit nach Naturgesetzen) 11 gehen. Das gilt aber nur als Grundsatz und nur im Durch7 Vladimir Kübel·, Nemoznost plnëni a prâvni norma (Die Unmöglichkeit der Leistung und die Rechtsnorm), 1938, S. 214ff. 8 Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, S. 83; dazu Franz Weyr, Zâklady filosofie prâvni (Die Grundlagen der Rechtsphilosophie), S. 151; derselbe, Teorie prâva (Die Theorie des Rechts), S. 341. 9 Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 64; vgl. Franz Weyr, Teorie prâva (Theorie des Rechts), S. 341. 10 Julius Moór, Reine Rechtslehre, Randbemerkungen zum neuesten Werk Kelsens, Zeitschrift für öffentliches Recht XV, S. 334.

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schnitt für den Inbegriff der Normen als für ein Ganzes. Das gilt nicht ausnahmslos für jede einzelne Rechtsnorm. Auch jene einzelne Rechtsnorm ist gültig, welche Pflichten nicht der physischen (natürlichen) Person, sondern der juristischen Person auferlegt, und auch jene einzelne Rechtsnorm, die eine theoretisch unmögliche Leistung auferlegt, ist gültig. Es ist notwendig - und das ist eine Erkenntnis von grundlegender Bedeutung - , immer zu unterscheiden (und zwar wie in der Frage der Möglichkeit der Leistung des Pflichtsubjektes, als auch, wenn es sich um das Erfordernis der Faktizität und Exequierbarkeit handelt) - zwischen einer einzelnen Rechtsnorm (und einer einzelnen Rechtspflicht) und der Rechtsordnung als einem Ganzen. Soweit es sich um eine einzelne Rechtsnorm handelt, ist jene Rechtsnorm eine geltende Rechtsnorm, die in den stufenförmigen Aufbau der Rechtsordnung einreihbar ist. Das ist das einzige Kriterium der einzelnen Rechtsnorm und der einzelnen Rechtspflicht. Diese strikte Unterscheidung zwischen der Rechtsordnung als einem Ganzen und der einzelnen Rechtsnorm ermöglicht, die kritische Frage der rechtlichen Sanktion und auch die Problematik der Faktizität des Rechts zu lösen. Die einzelne Rechtsnorm braucht nicht mit einer Sanktion ausgestattet zu werden, um eine gültige Rechtsnorm zu sein, und braucht auch nicht Faktizität aufzuweisen - im Unterschied zur Rechtsordnung als einem Ganzen, die - um Rechtsordnung zu sein - im Durchschnitt Exequierbarkeit und Faktizität aufweisen muß. Man kann nicht der Auffassung zustimmen, nach der man den Ausdruck der Norm nur auf die wichtigere Festlegung einer Pflicht zu Etwas begrenzt, und eine solche Festlegung einer Pflicht, die verhältnismäßig weniger bedeutend und mehr veränderbar ist, aus dem Begriff der Norm eliminieren solle. Schon Wilhelm Wundt bemerkt dazu 12 , daß auch solche untergeordnete Vorschriften den Charakter der Normen aufweisen. In Einschärfung auf das Recht kann man auch nicht mit der Meinung von Gustav Radbruch 13 übereinstimmen, das Recht als einen Inbegriff von generellen positiven Normen für das soziale Leben zu definieren. Diese Beschränkung auf generelle Normen entspricht keineswegs der Realität, da sicher auch z.B. das Urteil eine Rechtsnorm ist. Wir würden auch die Möglichkeit verlieren, die Rechtsordnung als einen grandiosen Aufbau von Rechtsnormen einschließlich der Entscheidungen und Rechtsgeschäfte zu konstruieren; das Erfordernis der Rechtssicherheit und der Gesetzlichkeit würde dadurch negativ beeinflußt sein. 11 Vgl. Vladimir Kübel·, I.e. S. 155ff., 233ff. 12 Wilhelm Wundt, Logik II, 2. Teü, 2. Aufl., S. 626f. 13 Gustav Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, 2. Aufl., S. 34.

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Die Norm ist daher eine Festlegung der Pflicht zu Etwas und es ist ihre Funktion, auf die menschliche Aktivität zu wirken; und zugleich ist sie ein Wertmaßstab. Die Rechtsnorm ist dann diejenige Norm, die in den stufenförmigen Aufbau der Rechtsordnung einreihbar ist. Man muß noch zu dem bekannten Streit, ob die Norm ein Urteil im Sinne der Logik ist oder nicht, Stellung nehmen. Franz Weyr stellt in seiner Theorie des Rechts folgendes fest: 14 „Zum logischen Wesen des allgemeinen Begriffs der Norm gehört weder die Form eines Urteils noch die Form des hypothetischen Urteils (nach dem Schema: Wenn A ist, soll Β sein). Richtig ist, daß man die normative Erkenntnis (übrigens wie jede andere Erkenntnis) nicht anders ausdrücken kann als in der Sprachform eines Urteils, sofern man allerdings in dem Ausdruck, daß etwas sein soll (z.B. „Menschen sollen religiös sein"), überhaupt ein Urteil im Sinne der allgemeinen Logik sehen kann in demselben Sinne wie in dem Ausdruck „Menschen sind (oder sind nicht) religiös". - Danach hat Karl Englié sein grundlegendes Werk über die Logik, das vorläufig im Jahr 1947 in gekürzter Form als „Kleine Logik, Eine Wissenschaft von der Gedankenordnung" 1 5 erschienen ist, veröffentlicht; dort hat Englis die Auffassung vertreten, daß, während man mit jedem Urteil notwendig etwas ausdrückt, was demjenigen, der das Urteil trifft, als eine Erkenntnis erscheint, durch welche man den Umfang unseres Wissens erweitere, man die Norm als einen Ausdruck des Willens begreifen müsse und sie schon aus diesem Grunde nicht als Erkenntnis betrachten könne. - Unter EngliF Einfluß hat Weyr EngliV Ansicht übernommen, daß die Norm kein Urteil darstellt. 16 Jedes Urteil im logischen Sinne bedeutet eine Erkenntnis. Jedes Urteil, und daher auch die Erkenntnis, entsteht und drückt sich auf Grund logischer und gleichzeitig grammatischer Operationen, also durch Sätze im grammatischen Sinn aus. Durch die Sätze im grammatischen Sinn drücken sich - wie Weyr weiter feststellt - auch die Inhalte von Gegenständen des ontologischen, teleologischen und normologischen Erkennens aus. Diese (sc. immanente) Erkenntnis als eine Hypothesis bedeutet die Entstehung, d. h. die vorangehende Bildung derjenigen Gegenstände im metaphysischen bzw. metateleologischen und metanormativen Sinn. Jedes Urteil, jede Erkenntnis, jeden Inhalt von Urteilen, Erkenntnissen, Normen oder Postulaten kann man zwar durch Sätze im grammatischen Sinn ausdrücken und denken. 14

Franz Weyr, Teorie prâva (Theorie des Rechts), 1936, S. 34. Karl Engliè, Kleine Logik, Kap. „Postulate und Normen sind keine Urteile", S. 136ff. 16 Franz Weyr, Ùvod do studia prâvnického, Normativni teorie (Einführung in das juristische Studium, Die normative Theorie), 1946, S. 18 ff. 15

28 KubeS

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

Daraus folgt aber nicht, daß dieses Ausdrücken (Denken) gleichzeitig die Bildung der Gegenstände der Erkenntnis im metaphysischen, metanormativen oder metateleologischen Sinn bedeuten könnte und daß daher auch die Bildung (Schöpfung) durch Urteile oder Postulate vor sich gehen könnte, oder anders ausgedrückt, daß die Norm oder das Postulat selbst ein Urteil oder eine Erkenntnis sein könnte. Weder die Norm noch das Postulat sind nach Weyrs Meinimg Urteile. Die Rechtsnorm als ein Urteil, und zwar als ein hypothetisches Urteil haben schon Jhering, 17 Rümelin, 18 Bierling, 19 Zittelmann, 20 Brütt, 21 besonders auch Kelsen, 22 Somló 23 und Moór 2 4 begriffen. Es ist interessant, daß auch der große Repräsentant der Neukantischen Schule der süddeutschen Richtung Heinrich Rickert 25 die Ansicht vertritt, die Rechtssätze enthielten immer ein hypothetisches Urteil, und zwar auch dann, wenn diese Rechtssätze nicht ausdrücklich i n dieser Form auftreten. Derselben Ansicht ist auch Rudolf Stammler 26. Entgegengesetzter Ansicht, nämlich daß die Rechtsnorm kein hypothetisches Urteil ist, sind Binder 27 und Salomon 28, die es ablehnen, in der Rechtsnorm ein hypothetisches Urteil zu sehen, und zwar deshalb, weil ihrer Ansicht nach nur die Aussagesätze, nicht aber die Sollsätze als Urteile im logischen Sinn betrachtet werden können. Nach der Ansicht von Englil· 29 ist das Urteil ein Instrument des Erkennens, während das Postulat und die Norm Gegenstand des Erkennens, nicht aber Instrument des Erkennens sein können. Wir erkennen das Postulat und die Norm, nicht aber durch ein Postulat oder 17 Rudolf von Jhering, Geist des römischen Rechts, I. Bd., 3. Aufl., 1873, S. 52; dazu und zum folgenden Julius Moór, Das Logische im Recht, Revue International de la Théorie du Droit II, S. 159 ff. 18 Gustav Rümelin, Juristische Begriffsbildung, 1878, S. 9. 19 Ernst Rudolf Bierling, Juristische Prinzipienlehre, I. Bd., 1894, S. 77. 20 Ernst Zittelmann, Irrtum und Rechtsgeschäft, S. 201; derselbe, Gewohnheitsrecht und Irrtum, Archiv für die zivilistische Praxis, 66. Bd., 1882, S. 449. 21 Lorenz Brütt, Die Kunst der Rechtsanwendung, 1907, S. 32. 22 Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, S. 189f., 228, 269. 23 Felix Somló, Juristische Grundlehre, 1917, S. 179f. 24 Julius Moór, I.e. S. 159ff. 25 Heinrich Rickert, Zur Lehre von der Definition, 1. Aufl., 1888, S. 30, 2. Aufl., 1915, S. 39; vgl. Julius Moór, I.e. S. 160. 26 Rudolf Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, 1911, S. 311, vgl. Julius Moór, I.e. S. 160f. 27 Julius Binder, Rechtsbegriff und Rechtsidee, 1915, S. 125, 259; vgl. Julius Moór, I.e. S. 161. 28 Max Salomon, Das Problem der Rechtsbegriffe, 1907, S. 83; vgl. Julius Moór, I.e. S. 161. 29 Karl Englil·, Velkâ logika, Druhy dil C. 25 (Große Logik, Zweiter Teil, Nr. 25); derselbe, Postulât a norma nejsou soudy (Postulat und Norm sind keine Urteile), Öasopis pro prâvni a stâtni vëdu X X V I I I , S. 95ff.; vgl. Vladimir Kübel·, Prâvni filosofie X X . stoleti (Die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts), 1947, S. 138f.

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durch eine Norm. Die Norm und das Postulat erkennen w i r im Wege eines Urteils. Auf diese Ausführungen von Englil· habe ich in meiner „Rechtsphilosophie des X X . Jahrhunderts" folgendermaßen reagiert: 30 Wenn wir zu dieser immer noch nicht gelösten Frage, ob die Norm ein Urteil ist oder nicht (und im Falle der bejahenden Antwort, was für ein Urteil) einen eigenen Standpunkt einnehmen sollen, müssen w i r schrittweise einzelne Teilfragen, welche mit dieser Hauptfrage verbunden sind, lösen. In formaler Hinsicht geht es vor allem um die terminologische Frage, ob wir nur die existentiellen Beziehungen im Sinne der Kausalität („Wenn A ist, ist B") oder auch die Beziehungen, welche das Sollen ausdrücken („A soll sein", bzw. in einer hypothetischen Form „Wenn A ist, soll Β sein") mit dem Termin „Urteil" bezeichnen wollen. So kennt z.B. Jaroslav Kailab 31 was die terminologische Seite betrifft - nur das Urteil im engeren Sinn und in dieser Richtung stellt er gegen das Urteil die Norm; es handelt sich aber um ein normatives Urteil. Heutzutage aber überwiegt in der Logik die Ansicht, daß neben den Urteilen in der Form „ A ist", bzw., „Wenn A ist, ist B", auch normative Urteile in der Form „ A soll sein", bzw. „Wenn A ist, soll Β sein" existieren. Deshalb neigen w i r zu einer weiteren Auffassung des Termins „Urteil". Was das eigentliche Wesen des Problems, ob die Norm ein Urteil ist, betrifft, muß man an erster Stelle betonen, daß rein logische Untersuchungen keinesfalls zur Lösung dieser Frage führen können und daß die Antwort nur auf der Grundlage der kritisch-ontologischen Untersuchungen möglich ist. Wir haben schon erkannt, daß die höchste Schicht der realen Welt die Schicht des geistigen Seins ist, wohin größtenteils auch das Recht gehört. Die Rechtsordnung, also der objektivierte Rechtsgeist, wird vom Normschöpfer nicht nach seinem freien Ermessen gebildet, sondern der Normschöpfer muß - damit es sich tatsächlich um Rechtsnormen handle - ihren Inhalt aus dem Rechtsbewußtsein, aus der Rechtsüberzeugung des Volkes der betreffenden Gemeinschaft, aus dem objektiven Rechtsgeist schöpfen. Dieses rechtliche Sein des objektiven Geistes lebt nicht unter der Kategorie der Kausalität als unter seiner dominanten Kategorie, sondern tritt gegen uns mit einem gewissen Fordern, mit einem Anspruch auf, also als ein Sollen, als primär abgeleitetes Sollen. Aber auch diese Sphäre des objektiven Seins ist ein Sein, freilich kein physisch-materielles, oder organisches oder seelisches, sondern ein geistiges Sein. Das, was ist, also auch das Sein des objektiven Geistes, wohin das Rechtsbewußtsein des Volkes gehört, kann ich 30 31

28·

Vladimir Kübel·, I.e. S. 139f. Jaroslav Kailab, Òasopis pro prâvni a stâtni vëdu, XVII, S. 337 ff.

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nur in der Form eines Urteils denken und ausdrücken. Mit Rücksicht darauf, daß dieses Rechtsbewußtsein gegen uns als Sollen auftritt, kann ich es nur in der Form des normativen Urteils, in der Form der Norm denken und ausdrücken. In der Form des Urteils - und darauf hat in seiner Polemik mit Franz Weyr schon Jaroslav Kailab aufmerksam gemacht 32 - kann ich freilich auch einen Inhalt, der nicht aus der Erfahrung geschöpft ist, ausdrücken. Diese Gedankengebilde, insofern sie nicht in die Gruppe der exakten Wissenschaften gehören, unterscheiden wir von wissenschaftlichen Gedankengebilden und erklären sie vielleicht für religiöse Lehrmeinungen oder für dichterische Schöpfungen. In der Form eines Urteils kann ich aber auch - und hier sind wir bei einer der Wurzeln der ganzen Problematik - auch einen Gedankeninhalt, der sich als Irrtum erweist, ausdrücken. Genau so ist es, wenn es sich um normative Urteile handelt. Auch hier kann ich die Erkenntnis davon, was ist und gleichzeitig sein soll (vom Inhalt des Rechtsbewußtseins), nur in der Form des normativen Urteils (der Norm) denken und ausdrücken, jedoch nicht jedes „normative Urteil", jede „Norm" ist eine Erkenntnis vom Sollen. Dies kann der Ausdruck der Willkür oder der Gewalt sein. Es geht um keine wahre Erkenntnis oder kein wahres Urteil über eine Sphäre des objektiven Geistes, nämlich über das Rechtsbewußtsein des Volkes einschließlich der rechtlichen Weltanschauung. Richtig stellt Jaroslav Kailab fest 33 , daß das, was der Norm den Sinn einer Norm gibt, nicht die Form der Norm, sondern ihr Inhalt ist, nämlich daß es sich hier um ein Ergebnis der Wahl zwischen möglichen Antworten auf die Frage, was sein soll, handelt, und zwar einer Wahl, bei der es dem Erkennenden um die Schaffung einer allgemein geltenden Erkenntnis geht. Es geht allerdings in diesem Fall nicht um eine „freie" Wahl, sondern um wirkliche Erkenntnis eines Bestandteiles des objektiven Geistes, der real ist und erkannt werden kann und soll, ganz ähnlich wie man andere Schichten des realen Seins (des physisch-materiellen, organischen oder seelischen Seins) erkennt; dabei handelt es sich immer um Erkennen, um Erkenntnis, freilich um eine Erkenntnis sui generis; und das Erkennen findet im Wege des Urteils statt. Die ganze Problematik und ihre Lösung können auch von anderer Seite beleuchtet werden. Wir vergegenwärtigen uns schrittweise einzelne Stufen, welche der „rechtliche Prozeß" durchläuft. Als erste Stufe erscheint hier das existierende Rechtsbewußtsein des Volkes als ein bestimmter Bestandteil des objektiven Geistes. Dieses Rechtsbewußtsein objektiviert sich, was bedeutet, daß die berufenen Organe es in der Form einer Norm erkennen 32 33

Jaroslav Kailab, l,c. S. 337ff. Jaroslav Kailab, I.e. S. 337f.; Vladimir Kubeé, I.e. S. 75.

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und objektivieren - ohne Unterschied, ob es sich um Gesetze, Verordnungen, Urteile usw. handelt; das ist die zweite Stufe. Das Erkennen findet durch das Urteil, hier durch das normative Urteil statt, weil der Stoff, welcher erkannt werden soll (d.h. der Inhalt des Rechtsbewußtseins des Volkes) mit dem Anspruch eines Sollens hervortritt. Die Rechtsnormen sind daher Urteile. Es geht darum, den Bestandteil des objektiven Geistes, seine rechtliche Komponente, richtig und wahr zu erkennen. Selbstverständlich kann die „Norm" auch gegen das Rechtsbewußtsein und Rechtsempfinden des Volkes erlassen werden, etwa durch einen Räuberhauptmann, der sich auf dem Staatsgebiet die vorläufige „souveräne" Macht verschafft hat. Dann aber ist eine solche „Norm" keine gültige Norm, ebenso wie auf dem Gebiet des Erkennens des physisch-materiellen Seins der Gedankeninhalt, welcher sieh als Irrtum oder eine Lüge erweist, auch wenn er in Form eines (existentiellen) Urteils ausgedrückt ist, kein wahres Urteil ist. Die Gesetze und andere Rechtsnormen als gewisse Objektivationen, als Bestandteile des objektivierten Geistes, werden von neuem erkannt, und zwar entweder von niederen Normschöpfern im Rahmen der Rechtsanwendung, oder anders, besonders von der Rechtswissenschaft. Das ist die dritte Stufe des gesamten „rechtlichen Prozesses". Hier sind daher die existierenden Rechtsnormen, welche normative Urteile sind, von neuem erkannt, d.h. in neue normative Urteile verarbeitet. In allen diesen Fällen geht es um Erkennen. Das kann man freilich nicht so verstehen, daß z.B. der Richter nichts anderes täte, als durch syllogistische Urteile seine konkreten Entscheidungen aus der übergeordneten rechtlichen Norm des Gesetzes zu deduzieren. Diese gesetzliche Norm als eine typische Objektivation läßt dem niederen Normschöpfer (dem Richter) einmal einen breiteren, einmal einen engeren Rahmen für eine relativ freie Tätigkeit, allerdings frei nur gegenüber dieser gesetzlichen Norm, keinesfalls aber frei überhaupt, keinesfalls frei gegenüber dem objektiven Geist. Diesen relativ freien Rahmen erfüllt der Richter so, daß er aus dem Rechtsbewußtsein des Volkes als einem Bestandteil des objektiven Geistes schöpft und dabei auf die reale Idee des Rechts und letztlich auf die Normidee des Rechts Rücksicht nimmt. Aus diesen Ausführungen geht klar hervor, daß wir durch die Normen (durch die normativen Urteile) die Beziehungen des geistigen Seins (des objektiven und objektivierten Geistes) erkennen und daß wir diese Beziehungen keineswegs nur durch unseren Willen bilden. Die Norm (das normative Urteil) will die gegebene Beziehung wahr und richtig ausdrücken; daher kann ihr Inhalt als wahr und richtig beurteilt werden. Es ist klar, daß der Inhalt einer Norm Gegenstand eines Beweises für die Wahrheit und Richtigkeit derjenigen Beziehung sein kann. Aus demselben Grund kann die Norm

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auch negiert werden, so wie jedes Urteil negiert werden kann. Die Normen drücken die Wahrheit und Richtigkeit aus und können daher negiert werden. Auch die Norm (das normative Urteil) kann wie jedes andere Urteil durch neue Erkenntnisse über das geistige Sein verifiziert oder negiert werden. Meiner Meinung nach ist daher die Norm ein normatives Urteil. Die Rechtsnorm ist in der Regel ein hypothetisches Urteil, aber nicht ausnahmslos, weil auch Rechtsnormen der einfachen Form „B soll sein" unumstritten existieren. 2. Das Recht (die Rechtsordnung) ist kein bloßes Konglomerat einzelner Normen ohne Zusammenhang, sondern das Recht als ein Ganzes ist - wenn man an seinen Hauptbestandteil, der in das geistige Sein gehört, denkt - ein Inbegriff, ein System, eine Einheit. Es geht daher um ein Ganzes von wechselseitig zusammenhängender Vielheit von Normen, von normativen Urteilen. In einer Rechtsordnung kann nicht gleichzeitig eine Norm „ A soll sein" und eine Norm „Non-A soll sein" gelten. Bei der Rechtsordnung handelt es sich um eine logische Einheit ihres Inhaltes. In einer Polemik mit Max Salomon34 betont richtig Julius Moór, daß es nicht der Wille des Gesetzgebers ist, der die Einheit des Systems der Rechtsordnung schafft, sondern umgekehrt ist es der Standpunkt der logischen Einheit der Rechtsordnung, welcher darüber entscheidet, was der Gesetzgeber zum Gesetz machen kann. Der Gesetzgeber kann nur eine solche Vielheit von Normen zum Recht machen, die man in eine logische Einheit des Systems des Rechts bringen kann. Etwas und das Gegenteil von diesem Etwas kann gleichzeitig und an einem Ort kein Gesetzgeber anordnen. Jeder Rechtssatz gilt und verbindet nur in notwendiger Wechselwirkung mit einer unbegrenzten Zahl anderer Normen 35 . Es geht um eine logische Einheit, um ein System im logischen Sinn. Celsus hat diesen Gedanken so ausgedrückt: „Incivile est nisi tota lege perspecta una aliqua particula eius proposita indicare vel respondere" (fr. 24 de legib.) 36 Es ist unrichtig zu meinen, daß die Rechtsnormen (Gesetze, Verordnungen, Urteile usw.) ein bloßes alogisches Material sind und daß es erst die Rechtswissenschaft ist, die aus diesem alogischen Material diesbezügliche normative Urteile und ihre logische Einheit schafft. Das ist die Meinung von Hans Kelsen 37, für welchen überhaupt die Anwendung logischer Prinzipien, 34 Max Salomon, Das Problem der Rechtsbegriffe, S. 84ff., 93; Julius Moór, I.e. S. 162. 35 Richard Schmidt, Allgemeine Staatslehre I, S. 170f., Anm. 1; vgl. Felix Somló, Juristische Grundlehre, S. 381f.; Julius Moór, I.e. S. 166. 36 Josef Kohler, Über die Interpretation von Gesetzen, Grünhuts Zeitschrift XIII, S. 19, Anm. 55; Gmür, Die Anwendung des Rechts, S. 52f.; Felix Somló, I.e. S. 382, Anm. 1. 37 Hans Kelsen, Rechtswissenschaft und Recht, Erledigung eines Versuchs zur Überwindung der „Rechtsdogmatik", 1922, S. 92; derselbe, Norm und Logik, Forum 1965, S. 42Iff., 495ff.; Neues Forum 1967, S. 39ff.; Neues Forum 1968, S. 333ff.; der-

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insbesondere des Prinzips des ausgeschlossenen Widerspruchs und der Regel der Schlußfolgerung auf positive Rechtsnormen ausgeschlossen sind. 38 Im Hintergrund dieser unrichtigen Auffassung Kelsens steht seine Überzeugung davon, daß das „Sollen ein Korrelat von Wollen ist", daß die Normen „der Sinn von Willensakten und als solche weder wahr noch unwahr" sind. In Wirklichkeit handelt es sich schon bei der Rechtsordnung um etwas, was höchst logiziert ist. Jede Rechtsnorm stellt ein Urteil auf hoher logischer Stufe dar. Wer wollte dem Gerichtsurteil diese logische Natur absprechen? Das Problem der Einheit des Rechtes wird mit Hilfe der Konstruktion vom stufenförmigen Aufbau des Rechts (der Rechtsordnung) gelöst. Jede niedere Rechtsnorm muß sich, um gültig zu sein, im Rahmen der diesbezüglichen höheren Rechtsnorm bewegen. Das Recht als ein Inbegriff von Normen muß immer und zu jedem Preis logisch mindestens zwei Schichten von Rechtsnormen, und zwar eine delegierende Norm und in deren Rahmen die Möglichkeit der Schaffung von delegierten Normen, aufweisen. I n der Möglichkeit der Applikation bzw. direkt in der Applikation beruht die charakteristische Eigenschaft des Rechts. Mögen wir uns die höhere Norm als inhaltlich arme Delegationsnorm oder anders vorstellen, ist es logisch und ontologisch unmöglich, das Recht als eine einzige Schicht von Normen zu denken. Die empirische Erkenntnis einzelner Rechtsordnungen zeigt uns, daß es sich um eine ganze Reihe von solchen Normenschichten handelt. Bei diesen empirischen Formen von Rechtsnormen kann man eine gewisse Besonderheit beobachten. Grundsätzlich ist nämlich jede von ihnen nicht nur eine Norm, sondern auch ein gewisser Tatbestand, eine gewisse Realität mit abgeleiteter Normativität. Sie hat ein Janusgesicht: sie schaut nach beiden Seiten. In der Richtung zur höheren Norm erscheint sie; als ein besonderer „Tatbestand", der, wenn er gegeben ist, den „Tatbestand" der bedingenden höheren Rechtsnorm erfüllt. In der Richtung zur niederen Norm oder zu ihrer Umgebung erscheint sie in ihrem normativen Charakter. Allerdings ist die Behauptung nicht ganz richtig, daß die Norm ihren normativen Charakter nur „von Gnaden" der übergeordneten Norm bekommt, weil schon sie selbst als ein gewisser Bestandteil des geistigen Seins, und zwar der Sphäre mit abgeleiteter Normativität, diesen Charakter der abgeleiteten Normativität in sich trägt. Die Applikation des Rechts findet durch synthetische Urteile statt und der Richter ist im Rahmen der delegierenden Rechtsnorm in dem Sinne „frei", daß er nur durch den objektiven Geist mit der realen Idee des Rechts und durch die Normidee des Rechts gebunden ist. selbe, Derogation, in: Essays in Legal and Moral Philosophy (hrsg. Ota Weinberger), 1973, S. 260 ff. 38 Hans Kelsen, Norm und Logik, I.e. S. 421 f., 498.

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Schon Bierling 39 und längst vor ihm Piaton 40 ist es gelungen, das Bild des rechtlichen Zusammenhanges als eines Delegationszusammenhanges herauszupräparieren. In diesem Zusammenhang kann man auch das Dictum von Melanchton anführen: „Norma superior preferenda est inferiori". 4 1 Der Gedanke des stufenförmigen (hierarchischen) Aufbaues garantiert uns am besten die Einheit des betreffenden Materials. Es ist überhaupt interessant zu beobachten, wie die Stufenförmigkeit der realen und auch in der idealen Welt herrscht. In der realen Welt begegnet man einem dreifachen bau.

in

stufenförmigen Auf-

Erstens geht es um den stufenförmigen Aufbau der ganzen realen Welt mit ihren vier Grundschichten. In die höchste Grundschicht der realen Welt gehört die Rechtsordnung als objektivierter Rechtsgeist, der auf dem objektiven und personalen Rechtsgeist ruht. Zweitens findet man den stufenförmigen Aufbau beim Recht, bei der Rechtsordnung. Die ganze Rechtsordnung ist eine großartige Pyramide einzelner Schichten des Völkerrechts und einer großen Anzahl einzelner Schichten der staatlichen Rechtsnormen. In der realen Welt begegnet man noch einem dritten stufenförmigen Aufbau, und zwar dem der Ideen der Weltanschauung und speziell der rechtlichen Weltanschauung. Auch dieser Aufbau weist eine Hierarchie auf. Auf seinem Gipfel ist die höchste reale Idee, die Idee der Humanität, bzw. die reale Idee des Rechts und unter ihr befinden sich einzelne Ideen niederer Ordnung wie die Idee der Familie und Ehe, die Idee der Schuld und Verantwortung, die Idee der Demokratie, des Volkes, des Staates usw. Aber auch in der Welt der Idealität begegnet man einem stufenförmigen Aufbau, und zwar von Normideen. An der Spitze dieser Pyramide ist die ideale Normidee der konkreten Menschlichkeit; unter ihr befinden sich in einer Ebene die Normideen der Wahrheit und Richtigkeit, die Normidee der Sittlichkeit, die Normidee des Rechts und die Normidee des Schönen. Eines der Grundprinzipien, welches die Einheit der Rechtsordnung garantiert, ist der Grundsatz, daß die spätere Rechtsnorm alle Rechtsnormen derselben oder niederen rechtlichen Relevanz, die ihr widersprechen, derogiert („lex posterior derogat priori"). 39 Bierling, Juristische Prinzipienlehre I, 1894, S. 109ff., 112ff.; derselbe, Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe, 1887, S. 105ff.; Erich Voegelin, Die Einheit des Rechtes und das soziale Sinngebilde Staat, Revue International de la Théorie du Droit V, S. 61. 40 Piaton, Menon, 86 E ff.; derselbe, Phaidon, 101 D. 41 René Marcic, Rechtsphilosophie, 1969, S. 180.

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Die Meinung von Merkl 42, Sedlâcek 43 und Weyr 44, daß es sich hier bloß um eine positiv-rechtliche Bestimmung handelt und daß die Rechtsordnung auch den entgegengesetzten Grundsatz bestimmen kann, nämlich den Grundsatz „lex posterior non derogat priori", oder gerade - wie Merkl glaubt - daß dieser letztere Grundsatz der Rechtsordnung immanent ist und daß, wenn die Rechtsordnung nichts anderes bestimmt, die ältere Rechtsnorm Vorrang vor der neueren hat und das Recht unabänderlich wird, ist unrichtig. Entgegengesetzter Meinung sind vor allem Somló 45, Moór 46 und Nei cbauer 41. Kelsen betrachtet im Grunde den ganzen Streit als überflüssig. 48 Wenn w i r einen „dynamischen" Inbegriff von Normen, dessen Prototypus der Inbegriff von Rechtsnormen ist, im Auge haben, muß man die Auffassung als richtig betrachten, daß der Grundsatz „lex posterior derogat priori" eine ontologische Notwendigkeit ausdrückt. Die Rechtsordnung ist etwas Lebendiges. Das Leben eines solchen Normenkomplexes zu negieren, würde bedeuten, sein eigenes Wesen zu negieren. Die Rechtsordnung gehört vor allem in die Sphäre des objektivierten Geistes, der durch den objektiven Geist getragen und bedingt ist. In diesem Zusammenhang mit dem objektiven Rechtsgeist ist die Rechtsordnung ein lebendiges Gebilde, das entsteht, sich ändert und stirbt, vergeht. Einzelne neue Normen, als Objektivationen des tragenden objektiven Rechtsgeistes, modifizieren ihn wesensnotwendig dadurch, daß sie die alten Normen der Rechtsordnung, die mit ihnen im Widerspruch stehen, begrenzen oder überhaupt aufheben. Nicht nur die Rücksicht auf Phänomene, auf uralte Erfahrung, sondern das Wesen der Rechtsordnung als einer besonderen Verbindung des objektivierten Rechtsgeistes mit dem objektiven Rechtsgeist, die Rechtsordnung selbst als ein lebendiges Gebilde, schließt durch ihr Wesen selbst die Geltung des Grundsatzes „lex posterior non derogat legi priori" aus. Jede solche Bestimmung wird schließlich durch die ontologische Lebendigkeit der Rechtsordnung hinweggefegt.

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Merkl, Die Lehre von der Rechtskraft, S. 238, 255ff., 260ff. Jaromir Sedlâcek, Obëanské pravo ëeskolovenské, Vseobecné nauky (Tschechoslowakisches bürgerliches Recht, Allgemeine Lehren), 1931, S. 113. 44 Franz Weyr, Teorie prâva (Theorie des Rechts), 1936, S. 102 f. 45 Felix Somló, Juristische Grundlehre, S. 338. 46 Julius Moór, Das Logische im Recht, Revue International de la Théorie du Droit II, S. 165. 47 Zdenëk Neubauer, Sociâlni pojistëni po strànce procesni (Die soziale Versicherung von prozessueller Seite), S. 260ff. 48 Hans Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 115. 43

442

4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

3. Die Funktion der Grundnorm wurde schon bei Edmund Husserl 49 klar formuliert, wenn er betonte, daß die Grundnorm die Einheit der Disziplin bestimmt und in alle normativen Sätze derselben Disziplin den Gedanken der Normierung hineinträgt. In der englischen Fachliteratur hat vor Kelsen den Gedanken der Grundnorm schon S almond ausgedrückt 50 . Auch im italienischen Schrifttum hat Anzilotti 51 die Grundnorm des Völkerrechts im Kelsenschen Sinne als eine Hypothesis der Rechtswissenschaft konstruiert. Übrigens sah schon Immanuel Kant die Notwendigkeit, eine überpositive Grundnorm zu konstruieren 52 , allerdings konstruierte er die Grundnorm als eine Norm des Naturrechts. Aber schon viele Jahrhunderte früher findet man bei Piaton die Konstruktion der Grundnorm. Die Kelsensche Konstruktion der Grundnorm soll die folgerichtige Logizisierung der rechtlichen Sphäre, und zwar im Geiste der Philosophie von Hermann Cohen bedeuten. Das Recht als Gegenstand der Rechtswissenschaft wird - nach Kelsens Meinung - durch diese Rechtswissenschaft erst geschaffen, ebenso wie durch die Rechtswissenschaft einzelne Normen geschaffen sind, und zwar aus dem alogischen Material der faktischen Willensakte wie Gesetze, Urteile usw. 5 3 Die Kelsensche hypothetische Grundnorm drückt das Grundprinzip aus, das die wissenschaftliche Untersuchung selbst logisch bedingt. Gegen die ganze Auffassimg der Grundnorm als einer logischen Voraussetzung der Rechtswissenschaft, welche die Funktion hat, dem Faktum der historisch ersten Schaffung der Verfassung den normativen Sinn eines Grundgesetzes zu verleihen, polemisiert Julius Moór. Nach seiner Meinung 5 4 - wenn die Kelsensche Behauptung richtig ist, daß aus dem Sein niemals das Sollen fließen kann - bedeutet die Voraussetzung der Grundnorm nichts anderes, als daß man aus der logischen Unmöglichkeit die logische Voraussetzung der Rechtswissenschaft schafft. Moór betrachtet die ganze Konstruktion der hypothetischen Grundnorm als überflüssig. 55 49 Edmund Husserl, Logische Untersuchungen I, S. 48; vgl. William Ebenstein, Die rechtsphilosophische Schule der Reinen Rechtsrëhre, S. 94, Anm. 49. 50 Salmond, Jurisprudence, 8. Aufl., S. 169. 51 Anzilotti, Corso di diritto internationale, S. 41; William Ebenstein, I.e. S. 86. 52 Immanuel Kant, Rechtslehre, S. 28. 53 Hans Kelsen, Rechtsgeschichte gegen Rechtsphilosophie?, S. 24; Julius Moór, Reine Rechtslehre, Naturrecht und Rechtspositivismus, Festschrift für Kelsen (hrsg. Alfred Verdross), 1931, S. 67. 54 Julius Moór, Reine Rechtslehre, Naturrecht und Rechtspositivismus, I.e. S. 67. 55 Julius Moór, I.e. S. 70f.

§56. Zur begrifflichen Bestimmung des Rechts

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Meiner Meinung nach ist die Konstruktion der Grundnorm für den positiven Juristen zwar keinesfalls notwendig, aber doch zweckmäßig. Für den Rechtsphilosophen ist es aber unbedingt notwendig, diese Grundnorm irgendwo zu verankern, was weder Kelsen, noch die ganze Schule der Reinen Rechtslehre tut. Die Folge ist dann eine absolute Isolation des Rechts und die Unfähigkeit, die Normativität des Rechts zu begründen. Die Beziehung zur Moral ist für einen Vertreter dieser Schule ein unlösbares Problem, ebenso wie die kardinale Frage nach dem Naturrecht, welche die führenden Genien der Menschheit schon vor Sokrates, Piaton und Aristoteles erregte und immer noch und besonders heutzutage erregt, von der Position dieser Schule überhaupt nicht ersichtlich wurde oder zumindest nicht zufriedenstellend gelöst werden konnte. Die hypothetische Grundnorm ragt in der Welt nicht isoliert als eine künstliche Spitze des hierarchischen Aufbaues der Rechtsordnung, sondern ist eine „Abkürzungdie in nucleo den ganzen positivrechtlichen Aufbau der Rechtsnormen einschließlich aller Schichten des Völkerrechts und aller Rechtsordnungen einzelner Staaten enthält, die logische Einheit dieses ganzen Systems „garantiert" und in eine wesensnotwendige Beziehung zum objektiven Rechtsgeist mit der realen Idee des Rechts und letztlich zur Normidee des Rechts führt, wo erst jene echte und letzte Quelle des Sollens, der reinen Normativität verborgen ist. Es ersteht allerdings die alte Frage, ob die ganze Konstruktion der Grundnorm nicht überflüssig sei. Auf diese Frage muß man grundsätzlich eine negative Antwort geben. Wenn aus keinem anderen Grunde, so doch deshalb, weil die Grundnorm eine gewisse „Barriere" zwischen der Sphäre der positiv-rechtlichen und der rechtsphilosophischen Untersuchungen bildet. Gewiß handelt es sich um eine relative „Barriere" und man darf nie vergessen, daß die immanent-positiv-rechtliche Untersuchung kein letztes Wort des Juristen sein darf. Auf der anderen Seite ist es aber wünschenswert sicher nur in einer gewissen Phase, und zwar wenn w i r uns mit rechtsdogmatischen Fragen im engsten Sinn beschäftigen - das Recht in seiner Isolation zu sehen; das bedeutet, das Recht vom immanent positiven rechtlichen Standpunkt zu bearbeiten. Der Hüter dessen, daß wir nicht vorzeitig diesen immanent rechtlichen Standpunkt verlassen, ist gerade die schroffe Konstruktion der Grundnorm. Allerdings stellt sich der Rechtsphilosoph und mit ihm schließlich auch der positive Jurist die Frage: Was liegt hinter dieser Grundnorm? Und da erscheint die Sphäre des objektiven Rechtsgeistes mit der abgeleiteten Normativität und auch mit der realen Idee des Rechts, und noch weiter die Normidee des Rechts, jene Synthese der Ideen der Gerechtigkeit, der Freiheit des konkreten Menschen, der Rechtssicherheit und der Zweckmäßigkeit.

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4. Teil: Eine Erklärung des Wesens des Rechts

In dieser Verankerung der Grundnorm im objektiven Rechtsgeist mit der realen Idee des Rechts und letztlich in der Normidee des Rechts löst sich die ganze scheinbar unlösbare Problematik der Positivität des Rechts als einer gewissen Realität und zugleich des rechtlichen Sollens. Die Lehre vom stufenförmigen Aufbau der Rechtsordnung ermöglicht uns, alle Rechtsnormen, und zwar nicht nur die generellen, sondern auch die individuellen, in die Rechtsordnung einzureihen und so diese Rechtsordnung in ihrer Fülle zu erfassen. 56 4. Wir haben schon erkannt, daß der organisierte Zwang ein essentieller Bestandteil des Rechts als eines Ganzen und im Durchschnitt ist. Dasselbe gilt auch von der Faktizität des Rechts als eines Ganzen. Auch die Faktizität des Rechts im Durchschnitt gehört zum Wesen des Rechts. 4. Zu Recht betont Julius Moór, 57 daß das Recht nicht nur ein großes System der bestehenden Normen darstellt, sondern auch ein System der sich an diese Normen knüpfenden menschlichen Handlungen. Unrichtig freilich spricht er von den „rein ideal bestehenden Normen und Regeln". Es handelt sich um keine rein idealen Normen und Regeln, sondern um reale Gebilde. Eine Rechtsnorm ist ein reales Gebilde. Jedenfalls aber ist der Gedanke Moórs, daß das Recht auch das große System der sich an diese Rechtsnormen knüpfenden menschlichen Handlungen ist und daß beide Bestandteile (die Normen einerseits und die Handlungen andererseits) zum Begriffe des lebenden Rechts gleich unerläßlich sind, tief begründet. Auch in diesem Gedanken ist die ganze dialektisch komplexe Natur des Rechts ausgedrückt, nämlich die Tatsache, daß das Recht als Phänomen in alle Schichten des stufenförmigen Aufbaues der realen Welt gehört. Es ist vollkommen richtig, daß zum Begriffe des lebenden, gesetzten Rechts zwei Bestandteile nötig sind: das Normensystem der Regeln und das sich daran schließende System der menschlichen Handlungen. Gerade das ist an der Feststellung von Arthur Kaufmann richtig, wenn er sagt 58 , daß man das Recht „primär als ein reales Geschehen unter den Menschen" verstehen muß, „das zwar an Normen orientiert werden muß, aber nicht mit ihnen identisch ist - wie ja auch ein Weg gewiß nicht als die Summe der ihn markierenden Wegweiser definiert werden kann." Das war auch - wie Arthur Kaufmann richtig feststellt 59 - ein Gedanke von Thomas von Aquino, für welchen das Gesetz nicht dasselbe wie das Recht ist - „et ideo lex non est ipsum ius" 6 0 - vielmehr ist das Recht zunächst und eigentlich die gerechte 56

Siehe oben. Julius Moór, Das Logische im Recht, Revue International de la Théorie du Droit, II., 1927/1928, S. 158f. 58 Arthur Kaufmann, Tendenzen im Rechtsdenken der Gegenwart, 1976, S. 11. 59 Arthur Kaufmann, I.e. S. 10f. 60 Thomas von Aquino, Summa theologica II. II, 57, 1. 57

§56. Zur begrifflichen Bestimmung des Rechts

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Sache selbst, wobei das „iustum" nicht als abstraktes Prinzip der Gleichheit gemeint ist, sondern als die diesem Prinzip entsprechende Tätigkeit 61. Denselben Gedanken drückt auch Friedrich-Carl von Savigny aus, für welchen Recht „lebendige Kraft und Tätigkeit des Volkes selbst" und „das Leben der Menschen selbst, von einer besonderen Seite angesehen" ist. 6 2 6. In den Begriff des Rechts gehört auch die Tatsache, daß das Recht einen bedeutenden Teil der Verhältnisse in der Gemeinschaft in relativ dauernder Weise regeln muß. Dieses Erfordernis sah in voller Klarheit schon Aristoteles 63, wenn er sagte, daß eine Verfassung, die nur ein paar Tage gilt, keine Verfassung bedeutet. Es ist ein großes Verdienst von Felix Somló 64, wenn er gerade dieses Merkmal scharf betont. 7. Schließlich gehört - wie aus allen unseren Ausführungen klar hervorgeht - zum Begriff des Rechts auch die Tatsache, daß die Rechtsordnung zur realen Idee des Rechts und schließlich zur idealen Normidee des Rechts tendiert und wesensnotwendig tendieren muß. Diese Tendenz zu den Ideen der Gerechtigkeit, der Freiheit des konkreten Menschen, der Rechtssicherheit und der Zweckmäßigkeit gehört zum Wesen und daher auch zum Begriff des Rechts. In diesem Gedanken ist auch die Lösung des entarteten Rechts, des Rechts oder der Rechtsnorm contra humanitatem verankert.

61

Thomas von Aquino, I.e. II. II, 57, 1. Friedrich-Carl von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814; derselbe, Über den Zweck dieser Zeitschrift. Zum folgenden geschichtliche Rechtswissenschaft, Bd. 1,1815; vgl. Erich Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl., 1963, S. 492ff.; Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., 1975, S. 11 f f.; Arthur Kaufmann, I.e. S. 11; Alessandro Baratta, Natur der Sache und Naturrecht, in: Arthur Kaufmann, Die ontologische Begründung des Rechts, 1965, S. 104ff. 63 Aristoteles, Politik, VI. Buch, Kap. 5, 1319b. 64 Felix Somló, I.e. S. 97. 62

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