Was sind Sounds?: Eine Ontologie des Klangs 9783839447079

A fundamental work for sound studies and musicology on the ontology and individuality of sounds.

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Was sind Sounds?: Eine Ontologie des Klangs
 9783839447079

Table of contents :
Inhalt
Ω Geläut
1. Individuen
1.1 KLÄNGE ALS DINGE
1.2 KLÄNGE ALS EREIGNISSE
2. Eigenschaften
2.0 GIBT ES KLANGEIGENSCHAFTEN ÜBERHAUPT?
2.1 INTRINSISCHE UND EXTRINSISCHE EIGENSCHAFTEN
2.2 PAUSCHALE UND PARTIKULARE EIGENSCHAFTEN
Literatur
Namenregister

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Rainer Bayreuther Was sind Sounds?

Musik und Klangkultur  | Band 36

Rainer Bayreuther, geb. 1967, lehrt Musikwissenschaft und Sound Studies an der Musikhochschule Trossingen. Er war Junior Fellow am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald und hatte eine Gastprofessur am Institute of Culture and Aesthetics of Digital Media an der Leuphana Universität Lüneburg inne.

Rainer Bayreuther

Was sind Sounds? Eine Ontologie des Klangs

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: brais seara / photocase.com Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4707-5 PDF-ISBN 978-3-8394-4707-9 https://doi.org/10.14361/9783839447079 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Für Mart in C arlé ei nen d er W eni g en und Selt enen

Inhalt

Ω

Geläut | 11

1 INDIVIDUEN 1.1

1.1.1

1.1.2

1.1.3

1.1.4

1.1.5 1.1.5.1 1.1.5.2

1.1.5.3

Klänge als Dinge | 15 ❮Zum Buchtitel❯ | 16 Klänge als Eigenschaftsträger | 17 ❮Musikwissenschaft❯ | 18 ❮Faust Sounds❯ | 19 Pauschale Prädizierbarkeit von Klängen | 21 ❮Substanz und Akzidenz❯ | 23 ❮Salome❯ | 25 Sättigungsbedürftigkeit von Klangprädikaten | 27 ❮Abgründe im Alborzgebirge❯ | 28 ❮Klangontologie der Eskimos❯ | 32 Klänge mit mehr als einer pauschalen Klangeigenschaft | 34 ❮aus dem Leben eines Klangontologen❯ | 34 ❮auf dem Schreibtisch eines Klangontologen❯ | 42 Ort von Klängen | 44 Phänomenologische Annäherungen | 44 ❮Hörbarer Zeit-Raum-Wurm❯ | 46 Ortsbestimmung über Ko-Individuierung von Eigenschaften | 48 ❮Von Stahlgewittern❯ | 54 Ausgeschlossene Bilokalisierung eines Individuums und Unilokalisierung mehrerer Individuen | 57 ❮Klangereignisontologie und Medienmaterialismus❯ | 59 ❮Das Klangereigniskunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit❯ | 61 ❮As slow as possible❯ | 62

1.1.5.4

Abzählbarkeit | 63

❮Klänge pro Note❯ | 66 ❮Humanismus ist, wenn der Schwanz mit dem

1.1.6

Hund wedelt❯ | 69 Ontologische Abhängigkeit von Klängen | 70 ❮I am sitting in a room❯ | 75

1.2

Klänge als Ereignisse | 76

1.2.1

Sind Klänge reale oder phänomenale Ereignisindividuen? | 80 ❮Viskosität❯ | 83 ❮Kleine Ontotheologie der Klangquelle❯ | 83 ❮Musikinstrumente und ihr Klangereignisort❯ | 87

1.2.2

❮Oskar Pastior: Das HIFI-HÖRICHT❯ | 89 Die Zeit- und Kausalstruktur von Klangereignissen | 89 ❮ES: Variationen über Lichtenberg und

1.2.2.1 1.2.2.2 1.2.2.3

1.2.3

Heidegger❯ | 93 Anfang und Ende | 99 Die Strukturierung von Klangvorkommnissen und das Imperfektiv-Paradox | 101 Fallanalysen zur Verlaufsstruktur von Klangvorkommnissen | 104 ❮Von den Wenigen – Von den Seltenen❯ | 105 Die Ereignishaftigkeit von Klangindividuen | 116 ❮Pythagoras ereignisontologisch❯ | 120 ❮Große und Kleine Ereignisontologie❯ | 125

2 EIGENSCHAFTEN 2.0

Gibt es Klangeigenschaften überhaupt? | 131

2.1

Intrinsische und extrinsische Klangeigenschaften | 135

2.1.1

Definition von intrinsisch / extrinsisch | 137 ❮Sirenensounds❯ | 143 Fallbeispiele | 145

2.1.2

2.1.2.1 2.1.2.2

Lautstärke eines Klangs | 146 Lage eines Klangs | 147 ❮Soundselig Suevien❯ | 149

2.2

Pauschale und partikulare Klangeigenschaften | 152 ❮Eine Muh eine Mäh eine Täterätätä❯ | 156

2.2.1

2.2.1.1 2.2.1.2 2.2.1.3 2.2.2

2.2.2.1 2.2.3 2.2.3.1 2.2.3.1.1 2.2.3.1.2 2.2.3.1.3 2.2.3.2 2.2.3.2.1 2.2.3.2.2

Pauschale Klangeigenschaften vor dem Hintergrund der essenzialistischen Tradition | 156 ❮Pauschale Klangwörter❯ | 157 ❮Alle Vögel sind schon da❯ | 159 ❮substantia/essentia/haecceitas/Wesen❯ | 162 Individualessenzen | 164 Pauschale Klangeigenschaften als Essenzen | 166 ❮Klangprädikatekomposita❯ | 167 Naturgesetze der Schwingungsmechanik als Essenzen | 170 ❮Virtual Reality❯ | 174 Pauschale Klangeigenschaften und ihre Merkmale | 189 ❮Sinn und Bedeutung❯ | 191 ❮Ontologie im Musikunterricht❯ | 193 ❮Unkraut auf den Klangwortfeldern❯ | 196 Fallbeispiele: Klangverläufe | 199 Partikulare Klangeigenschaften und ihre Eigenschaften | 207 Akustische Eigenschaften | 209 ❮Musikologie ohne Organologie und Ontologie❯ | 209 Eigenschaftsontologie der mechanischen Elementargrößen | 210 Eigenschaftsontologie der Schwingungsgrößen und der Schwingungsfeldgrößen | 220 Eigenschaftsontologie der Wellengleichung | 226 Psychoakustische Eigenschaften | 230 ❮Musikologie ohne Ontologie, noch einmal❯ | 231 Eigenschaften der Klangwahrnehmung | 233 Eigenschaften der Klangeigenschaftswahrnehmung | 236

Literatur | 241 Namenregister | 247

Ω

Geläut

Das Denken und Wissen vom Klang kann niemals eine eigene Disziplin werden. Fraglos gibt es kulturell abgrenzbare Bereiche des Hörens, des Gehörten, der Klänge. Es gibt sound spaces bestimmter Handwerke, bestimmter Jugendkulturen, im Operationssaal und im Orchestergraben. Aber es wäre verfehlt, daraus wissenschaftliche Disziplinen zu machen, die dann Teilgebiete einer Soundkulturwissenschaft als Teilgebiet der sogenannten Kulturwissenschaften wären. Es mag berechtigterweise sound studies als akademischen Studiengang geben. Aus diesen sound studies eine genuine Klangwissenschaft abzuleiten, womöglich analog zur sogenannten Bildwissenschaft,1 wäre eine Chimäre. Aus ihnen ergibt sich nicht, was Sounds sind. Auch die Musikwissenschaft, deren Gegenstand das musikalische und damit klangliche Handeln ist, kann aus sich das Wesen des Klingenden nicht verstehen. Auch über die Sprache kann das Sein von Sounds nicht erfasst werden. Sicher, Sprachen sind souverän, klingende Dinge und Klangeigenschaften zu konstruieren. Sie benennen etwas, das klingt, einen Plattenspieler, ein Gebläse, eine Krähe, eine Ventilklappe der Klarinette. Sie fixieren damit oft die Phänomenalität, in der die Klangquellen gegeben sind: der spielende Plattenspieler, das blasende Gebläse, die krähende Krähe, die klappernde Ventilklappe. In anderen Sprachen mögen diese Phänomenalitäten andere sein. Aber wir werden sehen, dass die sprachliche Konstruktion von Dingkategorien für das Verstehen des Seins von Sound unerheblich bleibt. Noch stärker reguliert eine Sprache die Eigenschaften, mit denen Klänge charakterisiert werden. Die gegenwärtige deutsche und englische Sprache haben je

1

Zur Disziplinarität siehe Bredekamp (2011).

12

| Was sind Sounds?

rund 80 Prädikate, mit denen die Gesamtcharakteristik eines Klangs ausgesagt werden kann – aber nicht 80 ineinander umstandslos übersetzbare. Das ist nur ein Bruchteil des Wortschatzes von Klangprädikaten in indigenen Sprachen. Aber das heißt nicht, dass Eigenschaftsontologien von Klängen sprachabhängig bleiben. Auf Schritt und Tritt werden wir sehen, wie die Ding- und die Eigenschaftsontologie hinter die sprachlichen Bezeichnungen zurückgehen muss. Das wird sich sogar über die Analyse der Hinsicht oder hier besser: des Hinhörens selbst zeigen. Zum Klang hin hören ist weghören von sich selber. Allenfalls die Medienwissenschaft könnte etwas zur Frage beitragen, was Klänge sind. Sie hat ein Gespür dafür entwickelt, wie sich die Dinge selbst zueinander verhalten, wenn keine humane Hinsicht sie figuriert. Und sie hat einen Sinn für das Vorgangshafte von Vorgängen, während die Sprachen meist nur das Vorgegangene fixieren. Letztlich kann einzig die Philosophie erfassen, was Klänge sind. Ihre drei elementaren Kategorien dessen, was es gibt – Dinge (Kapitel 1.1), Ereignisse (Kapitel 1.2) und Eigenschaften (Kapitel 2) – be- und ergründen, was Sounds sind: Dinge (dieser Klang), genauer gesagt Ereignisse (das Klingen) und ihre Eigenschaften (das Was und Wie des Klingens). Dabei belässt es dieses Buch und muss es belassen: Warum sollte sich aus dem Sein von Sounds, das kein anderes Sein ist als das anderer Gegenstände, eine Soundwissenschaft ergeben? Meine Erörterung der Ontologie von Sounds verzichtet weitgehend darauf, Referenzen für oder gegen die erwogenen Argumente zu nennen und, umgekehrt, die Argumente anhand der Referenzen zu erwägen. Viel wäre hier zu tun, zumal die Referenzen meist in anderen sachlichen Kontexten stehen, die dann auch noch mitzuerwägen wären. Berühmte und weniger berühmte Denker wären zu nennen, etwa gegen meine Auffassung, Klänge sind keine Eigenschaften, Locke2, für meine Auffassung, Klänge sind Ereignisse, O’Callaghan3, gegen meine Auffassung, Klänge sind wahrnehmungsgeformte Dinge, O’Callaghan4, und so weiter. Es hätte meine endlichen Ressourcen gebunden und mir unmöglich gemacht, in das weitgehend unberührte Hochgebirge der Klangontologie eine firstline zu ziehen.

2

Locke (1690), Buch II, VIII 14.

3

O’Callaghan (2007), S. 57ff.

4

O’Callaghan (2007), S. V.

Geläut | 13

Auch in den Scholien, die in unregelmäßiger Folge in die klangontologische Systematik eingestreut sind, erörtere ich nur selten Forschungsdiskurse. Eher können sie als Hinweise gelesen werden, welche Forschungsfragen sich überhaupt ergeben und von welcher Stelle einer Klangontologie her sie zu denken wären. Vielen verdanke ich gerade in den Scholien Vieles. Sie werden es selbst merken oder wissen es bereits. Das Glück, das darin liegt, ist unschreibbar, zumal in Vorworten. Es ist nicht mehr als ein fernes Geläut, das in den Gedanken und Argumentationen noch zittert. Das Buch ist, wenn man so will, auch Grundlage einer Anwendungsontologie für den Gegenstandsbereich Klänge. Die digitale Ära wird für immer mehr Gegenstandsbereiche sogenannte Anwendungsontologien erforderlich machen. In der Medizin und der Informatik sind sie inzwischen weit gediehen. Es liegt im tiefsten Wesen der Digitalisierung, alle Entitäten eines Gegenstandsbereichs als content in Datenbanken zu erfassen und für Suchanfragen bereitzustellen. Damit das Datenmanagement reibungslos funktioniert, müssen die tags und labels der Datenbanken sauber konstruiert sein. Das Buch könnte, wie gesagt, einer Anwendungsontologie dienen, ist aber selber keine. Ontologien eines Gegenstandsbereichs können nicht auf den Usancen und Kulturen des Gegenstandsbereichs gründen, sondern auf der Onto-Logik selber, und von der gibt es nur eine. Alle Disziplinen, deren Gegenstandsbereich sich phänomenologisch bildet, die historische Musikwissenschaft ebenso wie eine vermeintliche Klangwissenschaft und viele andere, tendieren dazu, ihre Gegenstände zu verdinglichen. Das Geschäft der Ontologie aber ist es, genau dies zu hinterfragen und zu erwägen, ob der klingende Gegenstand anders und weiter gefasst werden muss. Dieser Verstehensvorgang wird, wiewohl strikt ontologisch, am Ende zugleich ein Verstehen dessen sein, wie wir uns mit Klängen human in die Welt erstrecken und wie die Technik der Klangerzeugung uns diesseits des Humanen in die Welt stellt. Auf dem Stuibenkopf im Werdenfelser Land, 9.3.2019

1

Individuen

1.1

KLÄNGE ALS DINGE

Einer der tiefgründigsten Beiträge zum Thema dieses Buchs behandelt ausdrücklich das Hören, nicht das Gehörte: À l’écoute.1 Jean-Luc Nancy vertritt die Auffassung, dass der auditive Sinn des Menschen ontologisch völlig anders veranlagt sei als etwa der Sehsinn. Zwischen dem Blick und dem Erblickten liege Distanz, daher seien wir geneigt, das Erblickte als etwas Dingliches, Individuelles, als eine idea oder die individuelle Exemplifizierung einer idea zu nehmen. Das Hören hingegen müsse als Vorgang aufrechterhalten werden. Da wir keine Ohrenlider schließen können, erhalte sich das Hören in gewisser Weise selbst aufrecht, und nur in der Fortdauer des Hörens existiere das Gehörte. Das Gehörte gemäß dieser Auffassung ist unabgeschlossen. Wo hört der Klang auf, wo fängt die Intentionalität des Hörvorgangs an? Das Gehörte bei Nancy ist nicht unabhängig, es hängt über die Dauer seiner Existenz und in seiner Existenz überhaupt an der Existenz des Hörens. Und wenn die Tatsache des Hörens so maßgeblich sein soll, kann dann noch dieser Klang von jenem unterschieden werden, oder muss das fortdauernde Hören nicht vielmehr alles in einen Topf werfen, was es an Geräuschen umgibt? Sonderlich dinghaft wirkt dieses gehörte Etwas nicht. Weiter, Dinge bleiben eigentlich die gleichen, wenn jemand, der sie wahrnimmt, Zeitpunkt und Raumpunkt seiner Bezugnahme wechselt, zum Beispiel um andere Eigenschaften an einer Entität zu entdecken. Für Nancy aber ist mit dem Ende der Bezugnahme auch das Gehörte an sein Ende gekommen. In Nancys

1

Nancy (2002).

16 | Kapitel 1

Ontologie gibt es nichts, was nicht im Kontakt mit etwas anderem ist. Das Gehörte müsste für Nancy genau die Eigenschaften haben, die es in der jeweiligen Bezugnahme zeigte. Zur Beständigkeit eines Dings gegen die Zeit und gegen intentionale Zugriffe passt das nur wenig. Kurzum, für Nancy ist das Gehörte kein ontologisches Individuum. Seine Ontologie des Mit-Seins weist den Individuenbegriff generell zurück, und die eigentümliche Permanenz dessen, was gehört werden kann, scheint ihm ein schlagendes Beispiel. Ebenso kurz, in dieser Abhandlung behaupte ich das Gegenteil: Klänge sind Individuen. Klänge sind Dinge, die Klänge sind. Damit stellen sich wichtige Weichen. Klänge sind Dinge und keine Eigenschaften. Klänge haben vielmehr Eigenschaften. (So ergibt sich die Einteilung dieser Abhandlung in zwei große Kapitel, deren erstes die Individualität von Klängen behandelt, das zweite die Eigenschaften dieser Individuen.) Wenn Klänge Individuen sind, dann sind sie auch Anderes und mehr als Phänomene, also Gegenstände in einem Bewusstsein, sei sein Träger ein Mensch oder ein anderes hörendes Lebewesen. Diese Ontologie von Klängen, die Individuen sind, ist daher keine Klangphänomenologie und keine Psychoakustik. Wir werden im Eigenschaftskapitel sehen, wie manche Kategorien von Klangeigenschaften phänomenologisch (Kap. 2.2.1) oder psychoakustisch (Kap. 2.2.3.2) durchformt sind. Aber das wird die Individualität von Klängen nicht unterlaufen, es muss sie voraussetzen. ❮ Z u m B u c h t i t e l ❯ Zwischen den Begriffen Klang und Geräusch sehe ich keinen ontologischen Unterschied. Auf phänomenologischer oder psychoakustischer Ebene mag man je nach Sinn und Zweck eine Unterscheidung treffen. Für eine Klangontologie, die auf der Einsicht aufruht, dass Klänge Dinge sind, sind eben alle Klänge Dinge, gleich ob sie in der Wahrnehmungsforschung eher als Klänge mit Geräuschanteil oder als Geräusche mit Klanganteil gelten. Dass sich gerade in Zeiten digitaler Medien, denen es einerlei ist, ob die medial repräsentierte Entität dem einen als Klang und dem anderen als Geräusch gilt, das nivellierende englische Wort Sound ausbreitet, ist der schönste Anlass, es zu den Ehren eines deutschen Buchtitels kommen zu lassen.

Untersuchen wir also Klänge auf die behauptete Individualität. In unsystematischer Reihenfolge werden wir eine Reihe von Kriterien (1.1.1 bis 1.1.7) durchgehen, denen eine Entität genügen muss, um ein Individuum zu sein.

Individuen

1.1.1

| 17

Klänge als Eigenschaftsträger

Das grundlegende Kriterium für die Individualität einer Entität, von dem einige der folgenden Kriterien nur Varianten sind, lautet: Ein Individuum ist keine Eigenschaft, ein Individuum hat Eigenschaften. Ich strecke das Ohr aus dem Fenster und höre ein vorbeifahrendes Motorrad. Ich erkenne es am Sound, es ist die alte BMW aus der Nachbarschaft. Was ist hier das Ding, was seine Eigenschaft? Das, was ich vernehme, ist der unverwechselbare Klang des Motorrads. Damit ist schon eine Eigenschaft ausgesagt, nämlich ›unverwechselbar‹, und das Ding, das diese Eigenschaft hat, ist der Klang. Weitere Eigenschaften könnten am Klang festgestellt werden: Er könnte laut sein, er könnte bekannt sein, cool oder nervtötend. Er könnte knattern oder blubbern. Aber lassen sich manche dieser Eigenschaften nicht angemessener vom Motorrad als ganzem aussagen? Es ist doch die alte BMW insgesamt, die cool klingt oder laut oder die knattert oder blubbert. Es ist das Motorrad, das überhaupt klingt. Man müsste dann vielleicht korrekt sagen, das Klingen wäre ein pauschales Prädikat, das als cooles, lautes, knatterndes oder blubberndes Klingen näher bestimmt wird. Analog könnte man von der BMW die Eigenschaft, farbig zu sein, aussagen und diese dann näher spezifizieren als weinrot oder matt oder außer Mode. (Was es mit pauschalen Charakterisierungen eines Dings auf sich hat, wird im folgenden Abschnitt 1.1.2 erläutert.) Manche der Eigenschaften, die wir rhapsodisch zusammengetragen haben, lassen sich offenbar angemessener dem Klang als Eigenschaftsträger zuordnen: die pauschale Charakterisierung seiner Klangqualitäten als blubbernd oder knatternd, die nähere Bestimmung einer Klangdimension als laut, die ästhetische Eigenschaft cool. Aber damit hätten wir doch so etwas wie den Klang des Klangs bestimmt, und das klingt ontologisch merkwürdig. So formuliert scheint der Begriff Klang nur eine grammatische Nominalisierung der Eigenschaft, zu klingen, zu sein. Das, was klingt, ist eben das Motorrad. Lassen sich also mit dem Klang auch die Klangeigenschaften angemessener dem Motorrad als Eigenschaftsträger zuschreiben? Auch dagegen regt sich intuitiver Widerstand. Selbst wenn es das Motorrad sein mag, das klingt, liegt der Klang, wenn man ihn in seinen konkreten Klangcharakteristiken auffasst, doch auf einer anderen prädikativen Ebene als etwa die Eigenschaften, weinrot und chromblitzend zu sein, einen Zweizylinder-Boxermotor zu

18 | Kapitel 1

haben und ein Tankvolumen von 17 Litern. Jene Eigenschaften hat das Motorrad als solches. Die Eigenschaften, zu klingen, blubbernd oder knatternd oder laut oder cool zu klingen, hat es erst, wenn es im Modus des Fahrens ist. Diese ersten Überlegungen zeigen, dass offenbar die Klangquelle ohne Klangentfaltungsgeschehen wie auch der Klang ohne Klangentstehungsgeschehen zu eng gefasst sind, um Träger von Klangeigenschaften zu sein. Und zwar in je unterschiedlicher Weise: Eine Klangquelle, von der das Klangentfaltungsgeschehen abgekoppelt wird, kann keinen erklärenden Beitrag zum hörbaren Klanggeschehen mit seinen Eigentümlichkeiten des Klangverlaufs, des Zusammenspiels von Klangeigenschaften wie Rauhigkeit, Lautstärkeverläufen, Periodizitäten usw. liefern, von all dem also, was wir als charakteristisch und vielleicht als schön oder als unangenehm empfinden. Umgekehrt schließt sich ein ›reiner‹ Klang, abgekoppelt vom Klangentstehungsgeschehen und als rein mentale Repräsentation aufgefasst, vom Vorgangshaften des Klangs ab. Man bliebe auf klangsemiotischer, ästhetischer, vielleicht musikalischer Ebene stehen. Der Klangeindruck mit seinen Charakteristiken ist nur Effekt eines Geschehens, das hinter die mentale Repräsentation weit zurückgeht. Kurz, beide Reduktionen taugen nicht als Trägerentitäten von Klangeigenschaften, wie sie im 2. Kapitel entfaltet werden. ❮ M u s i k w i s s e n s c h a f t ❯ Das vorliegende Buch ist ein zutiefst musikwissenschaftliches. Es ist eine Frucht meiner Skepsis gegenüber einer geisteswissenschaftlichen und hermeneutischen Generierung von Wissen über die herrlichen musikalischen Gegenstände. Musik ist Klang, und das heißt, sie quillt sehr direkt und sehr materiell aus einer Kehle, einer Posaune, einem Lautsprecher. Auf der anderen Seite geht sie sehr direkt und sehr materiell ins Ohr, unter die Haut, ins Mikro. Dazwischen hartes, unerbittliches Klangereignen. Nirgendwo Raum für Subjektivitäten, Interpretationen, Semiotiken, Feuilletonblabla. In der Musik istet es gewaltig (um einen grammatisch inkorrekten Begriff eines großen Ereignisphilosophen zu verwenden, der die kantische Einsicht radikal ernst nahm, dass »sein« kein gewöhnliches Prädikat ist). Diesem Isten der musikalischen wie der nichtmusikalischen Sounds ist allein ontologisch beizukommen.

Die Klangquelle selbst ist zwar in ihrem zeit-räumlichen Zuschnitt weniger strittig. Es ist dieses Ding, das nun wieder dort drüben in der offenen Garage des Nachbarn steht, weinrot und chromblitzend, mit einem 17 Liter großen

Individuen

| 19

Tank und seinem Zweizylinder-Boxermotor, von dem jetzt ganz andere Geräusche kommen; er knistert und knackt in der Herbstluft, die ihn abkühlt. Aber diese Entität in der Garage scheint auf andere Weise zu eng gefasst, um Träger der Eigenschaft zu klingen zu sein. Erst wenn sie läuft, kann ihr die Eigenschaft, zu klingen, und konkreter, zu blubbern, zu knattern oder laut zu sein zugemessen werden. Auch die Geräusche des Knisterns und Knackens sind nicht Eigenschaften des Motorrads selbst, sondern des Motorrads in einem bestimmten Modus, des heißen Motorblocks nämlich, der nun in einem anderen Bewegungsmodus ist, als er es vorher auf der Straße war, im Bewegungsmodus des Schrumpfens. Dieser Modus muss folglich in irgendeiner Weise dem Trägerindividuum zugeschlagen werden. Der Ereignismodus ist offenkundig ein unverzichtbares Merkmal der Entität, die als Trägerentität von Klangeigenschaften taugt. Was den beiden Reduktionen der Klangquelle und des reinen Klangs fehlt, ist eben jene Ereignishaftigkeit. ❮ F a u s t S o u n d s ❯ Aus dem Alltag in die Literatur! Dort wird zwar häufig metaphorisch gesprochen, in den folgenden Fällen geht es aber handfest zu. Handfester, als Faust selber will, als er in der ersten Szene des Goetheschen Dramas im Kerzenschein einen Erdgeist erblickt, der von sich sagt, er sei »in Lebensfluten, im Tatensturm« auf der ganzen Welt unterwegs. Faust hält ihn für ein unwirkliches Traumgesicht, bevor ihn der Geist darauf hinweist, dass er, Faust, selber ein solcher Geist ist. Ironischerweise ist es eine Geistererscheinung, die Faust darüber belehrt, dass die Bewusstseinsinhalte keine Hirngespinste sind, sondern reale Substrate in der Welt haben. Faust kann das nicht recht glauben, bis ihn ein Klopfen in jene handfeste Realität holt, die der Geist auch schon behauptet hatte. »Es klopft«, formuliert Goethe die Regieanweisung. Auf die kurze Schrecksekunde, die Faust jetzt mit seinen Worten »O Tod!« erlebt, kommt es ontologisch an. Faust hört das reine Klopfen. Er hört es als Eigenschaft von etwas, von dem er nicht nur nicht weiß, was es ist, sondern das er für das Nichts, den Tod eben, hält. Einen kurzen Moment lang ist der individuelle Träger der wahrgenommenen Klangeigenschaft durchgestrichen. (Auf die ontologische Abgründigkeit des »es« kommen wir in 1.2 noch zu sprechen, es kommt typischerweise in Verbindung mit Verlaufsprädikaten vor: »es schneit«, es funktioniert«. – Drücken also Prädikate wie »pfeifen« in »es pfeift« oder »donnern« in »es donnert« Ereignisse aus?) Faust hört das Klopfen als völlig selbständiges Klangindividuum, so wie wir eigentlich alle Klänge hören, würde uns nicht die Sorge des Daseins sofort nach handfesten Individuen suchen lassen, an denen der Klang nur Prädikat zu sein scheint. So auch Faust, der im nächsten Augenblick schon halb erleichtert ist und halb enttäuscht, dass es der Assistent Wagner ist, der an der Tür steht. »Ich kenn’s – das ist mein Famulus – / Es wird mein

20 | Kapitel 1

schönstes Glück zu nichte! Daß diese Fülle der Gesichte / der trockne Schleicher stören muß!« 2 Die Nachtszene des Faust I endet mit dem Morgengrauen. Faust hat sich betrunken und bekommt von der Dämmerung nichts mit. Gerade hat er wieder das Glas an den Lippen, lassen ihn »Glockenklang und Chorgesang« hochschrecken. Auch für den Zuschauer kommt das überraschend. Der Zuschauer fasst den Glockenschlag zunächst als ein theatermäßiges Symbol dafür auf, dass Faust sozusagen mit einem Schlag das Morgengrauen realisiert. Der phänomenale Wahrnehmungsgehalt ist also der Klang als solcher, nicht der Klang als Eigenschaft schwingender Glocken. Im nächsten Wahrnehmungsmoment, als der Chor mit dem Osterchoral Christ ist erstanden einsetzt, assoziiert man den Klang doch als Eigenschaft von Kirchenglocken, die einen realen Ostergottesdienst in der Nähe einläuten. Im dritten Moment geht der Glockenklang wieder in das Symbol für eine nichtreale Entität über. Faust erfährt an ihm göttliches Eingreifen: »Welch tiefes Summen, welch ein heller Ton, / Zieht mit Gewalt das Glas von meinem Munde? / Verkündiget ihr dumpfen Glocken schon / des Osterfestes erste Feierstunde? / Ihr Chöre singt ihr schon den tröstlichen Gesang, / Der einst, um Grabes Nacht, von Engelsklippen klang, / Gewißheit einem neuen Bunde?« Symbole sind ontologische Individuen. Sie werden als Ganze und als solche aufgefasst. Sie sind weder Eigenschaft an einer anderen Entität, sonst wären sie kein Symbol. Noch sind sie eine Entität, an der eine bestimmte Eigenschaft festgestellt, also ein Sachverhalt konstatiert würde, sonst wären sie eine Metapher. Die Anspielung im II. Akt des Faust II auf die geschilderten beiden Glockenschläge des ersten Teils der Tragödie dem Leser zur Aufgabe: Wieder sind wir in dem hochgewölbten gotischen Studierzimmer Fausts. Aber Faust war schon lange nicht mehr da, Staub und Spinnweben haben sich über den Schreibtisch gelegt. Anwesend allerdings ist Mephisto. Er zieht eine Glockenschnur. Den Auferstandenen herbeiläuten will der Teufel sicher nicht. Zu seiner Überraschung aber ist genau das der Fall. Die Glocke lässt »einen gellenden Ton erschallen [...], wovon die Hallen erbeben und die Türen aufspringen.« 3 Analog zur obigen Szene lässt sich hieraus darlegen, warum Mephisto den Glockenklang als solchen und nicht als Eigenschaft einer Glocke hört. Und warum das ebenso wenig bei dem mittlerweile promovierten Wagner der Fall ist, der eine Szene später denselben Glockenschlag hört und bei dem just in diesem Augenblick im Reagenzglas der Homunculus aufleuchtet. Nota bene: Die Aufgabe ist leider nichts für Musikwissenschaftler alten Schlags. Die suchten immer nur nach der Musik im Faust. Sie stocherten in ihrem eigenen blinden Fleck herum: Die Klänge im Faust blieben unverstanden.

2

Goethe: Faust I, V. 518-521.

3 Goethe: Faust I, nach V.6619.

Individuen

| 21

Die Kunst weiß davon, wieviel in unserer Welt klingt und dabei einfach nur Klang ist. Also weder Klangeigenschaft eines Dings noch Klang als vermeintlich verkappte Musik. Beispiele aus der musikalischen oder vielmehr Klangkunst werden noch erörtert. Aber auch die Poesie ist voll von Geräuschindividuen. Ein Beispiel aus der Feder Theodor Körners: »1. Vater, ich rufe dich! / Brüllend umwölkt mich der Dampf der Geschütze, / Sprühend umzucken mich rasselnde Blitze. / Lenker der Schlachten, ich rufe dich! / Vater du, führe mich!« Noch sind in dieser ersten Strophe dieses Gebets aus den Gefechten mit dem Lützowschen Freikorps des Jahres 1813 die Geräusche Eigenschaften der Dinge. Die Geschütze brüllen, die Schwerter blitzen und rasseln. Im Rausch der Schlacht aber verselbständigen sich die Geräusche. Das geht nicht nur, weil wie im Poesieautomat jedes (Klang-) Prädikat mit jedem Substantiv kombiniert werden kann, sondern weil ontologisch die Möglichkeit besteht, Klänge als Individuen zu hören. Der »Donner des Todes« ist kein genitivus subjectivus, als ob es eine Eigenschaft des Todes wäre, zu donnern. Es ist das Absolut- und darum Individuumshören des Donners, wenn Körner in der letzten Strophe dichtet: »6. Gott, dir ergeb’ ich mich! Wenn mich die Donner des Todes begrüßen, / Wenn meine Adern geöffnet fließen; Dir, mein Gott, dir ergeb’ ich mich! Vater, ich rufe dich!« 4

1.1.2

Pauschale Prädizierbarkeit von Klängen

Meinen Nachbarn höre ich mit dem Motorrad wegfahren. Mir ist der typische Sound seines Motorrads vertraut. Je nach Wind und Wetter kommt mir der Sound mehr wie ein Knattern oder eher wie ein Blubbern vor. Ich kenne zudem den genauen Motorradtyp, es ist eine BMW R75/5 aus den 1970er Jahren. Was ich wahrnehme, lässt sich folgendermaßen aussagen: (1) Die BMW R75/5 knattert. Wieder stellen wir die Frage aus dem vorigen Abschnitt: Welche Entität ist der Träger der Klangeigenschaft zu knattern? Ist sie ein Individuum oder ist sie selbst eine Eigenschaft? In dem Szenario kommen mehr Eigenschaften vor als man meinen könnte. Dieses Ding aus weinrot lackiertem Metall und schwarzem Gummi, das meistens in der nachbarlichen Garage steht und sich jetzt über die Straße

4

Ed. in Echtermeyer (1906), S. 754.

22 | Kapitel 1

bewegt, wird über seine Eigenschaften in den Blick und ins Gehör genommen. Es ist ein Motorrad und es ist eine BMW R75/5. Ein Motorrad zu sein und eine BMW R75/5 zu sein sind Eigenschaften wie zu knattern oder zu blubbern auch. Ihre Art und Weise, das Individuum zu charakterisieren, ist aber sehr unterschiedlich. Selbst wenn wir die Intuition aus 1.1.1 berücksichtigen, dass das Motorrad, um die Eigenschaft des Knatterns zu haben, im Bewegungsmodus sein muss, ist die Eigenschaft zu knattern eine von vielen Eigenschaften, die nebeneinander vorkommen und nicht hierarchisch einander über- oder untergeordnet sind. Das fahrende Motorrad knattert, daneben ist es chromblitzend und weinrot, hat einen halbvollen Tank, einen Fliegenschiss auf dem Vorderlicht und die aktuelle Motordrehzahl beträgt 3200 Umdrehungen pro Minute. Und so weiter. Wir nennen solche Eigenschaften partikulare Eigenschaften. Die Eigenschaften, ein Motorrad zu sein und eine BMW R75/5 zu sein, charakterisieren das Ding aus Metall und Gummi, das da die Straße entlang fährt, auf andere Weise. Als solches und als ganzes ist dieses Ding ein Motorrad. Alle seine partikularen Eigenschaften fügen sich ein in ein Gesamtkonzept, das Konzept des Motorrads. Das gilt unterschiedslos für alle partikularen Eigenschaften dieses Dings. Das gilt natürlich für Eigenschaften wie etwa diejenige, einen Motor zu haben, die ontologisch partikular sind, aber zu einem, salopp formuliert, Kernbereich des Motorrads gehören. Es gilt aber selbst für partikulare Eigenschaften, die man per se mit einem Motorrad überhaupt nicht in Verbindung bringt, etwa den Aufkleber mit dem Logo des hiesigen Fußballklubs auf dem Tank der BMW. In den Aussagen der partikularen Eigenschaften ist ihre Bezogenheit auf das Gesamtkonzept Motorrad immer präsent, und zwar dadurch, dass wir das partikulare Prädikat immer auf das Konzept beziehen und nicht auf ein rein demonstrativ intendiertes bloßes Individuum. Wir sagen nicht, dieses Ding dort drüben hat einen Fußballaufkleber, sondern die BMW hat einen Fußballaufkleber. Wir konstatieren nicht, dieses Ding knattert, sondern das Motorrad knattert. Denn es ist ein Unterschied nicht nur für den Sinn der Eigenschaftsträger, sondern auch für den Sinn der Eigenschaften, wenn die Fahnenstange einen Fußballaufkleber hat und wenn es die Fahne im Wind ist, die knattert. Wenn ich die Tatsache, dass gerade der Nachbar mit seinem Motorrad wegfährt, über partikulare Eigenschaften fasse, die ich gerade aufschnappe, wie etwa die drehenden Speichen des Rads, die weinrote Farbe des Tanks oder das Knattern, dann summiere ich das Weinrot unter den Tank und den Tank unter

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das Gesamtkonzept des Motorrads, in dem er eine bestimmte Funktion hat. Die drehenden Speichen beziehe ich auf die Räder und die Räder wieder auf ihre Rolle im Gesamtkonzept. Das Knattern beziehe ich auf das Abgas im Auspuff und das Abgas im Auspuff auf seine Rolle im Gesamtkonzept Motorrad. Nach derselben Weise funktioniert die Eigenschaft, eine BMW R75/5 zu sein. Allerdings setzt sie die Eigenschaft, ein Motorrad zu sein, voraus, fasst sie aber enger, ohne dass sie dadurch zu einer partikularen Eigenschaft würde. In genau derselben Weise wie bei der Eigenschaft, ein Motorrad zu sein, sind alle erdenklichen partikularen Eigenschaften wie der weinrote Tank, der Fußballaufkleber, die drehenden Speichen und das Knattern aus dem Auspuff auf das Gesamtkonzept bezogen, eine BMW R75/5 zu sein. Auch die Eigenschaft, eine BMW R75/5 zu sein, charakterisiert also dieses Ding meines Nachbarn als solches und als ganzes und umgreift alle seine partikularen Eigenschaften einschließlich der klanglichen. Wir nennen solche Eigenschaften pauschale Eigenschaften. ❮ S u b s t a n z u n d A k z i d e n z ❯ Die Unterscheidung zwischen pauschalen und partikularen Eigenschaften firmiert in der philosophischen Literatur unter diversen Begriffen. Man muss sich stets vergewissern, welche Ontologie jeweils hinter ihnen steht. Ahnherr ist Aristoteles mit seiner Unterscheidung zwischen substanziellen und akzidentellen Eigenschaften. Meine Unterscheidung zwischen pauschalen und partikularen Eigenschaften entspricht der aristotelischen in einigen Punkten, vor allem der Weise der Charakterisierung des Trägerindividuums einmal als ganzes, einmal in einem Teilaspekt. In einem zentralen Punkt aber weicht mein Verständnis vom aristotelischen ab. Aristoteles behauptet eine Notwendigkeit des Substanzprädikats und eine Kontingenz des Akzidenzprädikats für die Existenz des Individuums. Diese Behauptung erörtern wir in 2.2.1 mit dem Ergebnis, dass eine modale Auffassung der Unterscheidung in die Irre führt.

Das logische Enthaltensein vieler enger gefasster pauschaler Klangeigenschaften in einigen wenigen weiter gefassten pauschalen Eigenschaften führt dazu, dass wir Eigenschaften von Eigenschaften aussagen können. (Die Logik nennt sie Eigenschaften 2., 3., n. Stufe.) Etwa die schon erwähnte: (2) Die BMW R75/5 ist ein Motorrad. – was wir als zweistufige Prädikation fassen können: (2/1)

Eine BMW R75/5 ist ein Motorrad.

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– oder mit Rückbezug auf das Individuum dort in der Garage, wodurch sich mit modus ponens über (2/1) eine Schlussfolgerung ergibt: (2/2)

Diese Entität ist eine BMW R75/5 und darum (2/1) ein Motorrad.

Nun wiederholen wir die Überlegung mit pauschalen und partikularen Klangeigenschaften. Die Pointe wird sein, dass sich dann zeigt, inwiefern das Individuum, das partikulare und vor allem pauschale Klangeigenschaften hat, tatsächlich ein Klang ist und nicht eine andere Entität wie etwa eine Klangquelle. Mit »ein Klang sein« ist nämlich auch schon eine pauschale Eigenschaft genannt, und zwar die allgemeinst mögliche, die man von einer klingenden Entität aussagen kann. Wir müssen uns vorsichtig ausdrücken, denn ob es eine individuelle klingende Entität wirklich gibt, ob es also überhaupt etwas gibt, das unter die pauschale Charakterisierung, ein Klang zu sein, fällt, eben das ist die offene Frage. Nehmen wir einmal an, es gibt eine solche Entität und sie ist nicht mit einer Klangquelle identisch. Dann lässt sich analog zu (2/1) und (2/2) Knattern als pauschale Klangeigenschaft begreifen, die aber etwas enger gefasst ist als die pauschale Entität, ein Klang zu sein, und es ergibt sich folgende zweistufige Prädikation (3/1)

Das Knattern ist ein Klang.

samt der Variante mit dem Rückbezug auf das Individuum über modus ponens: (3/2)

Diese Entität ist ein Knattern und darum (3/1) ein Klang.

Semantisch geht das glatt vonstatten. Aber es bleibt die Grundfrage offen, wie wir überhaupt zu der Nominalphrase »das Knattern« gekommen sind, die sich so glatt als pauschale Eigenschaft mit dem existenzquantifizierenden unbestimmten Artikel »ein« anbringen lässt. Grammatisch kann man im Deutschen alle Prädikate nominalisieren. Bei den partikularen ist das ziemlich ungelenk: Aus »ist laut« wird »hat Lautheit«, aus »ist schrill« wird »hat Schrillheit« oder »ist ein Schrillsein« und so weiter. Bei den pauschalen geht es geschmeidig: Aus »knattert« wird »ein/das Knattern«, aus »blubbert« wird »ein/das Blubbern«. Anders gesagt, es bleibt unklar, ob das Anfangsglied in der mehrstufigen Prädikationskette, das direkt vom Individuum festgestellt wird, in seinem ontologischen Kern wirklich pauschal ist oder ob wir uns die Pauschalität durch Nominalisierung ontologisch nur erschlichen haben. Wäre es partikular, dann wäre (3/1) keine glatte und wahre, sondern

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eine ziemlich schräge und wahrheitswertunfähige Aussage, die logisch so gelagert wäre wie das Satzkonstrukt »Das Motorrad ist ein Klang«, das wir aus der partikularen Prädikation »Das Motorrad ist laut (hat Lautheit)« in Verbindung mit der zweitstufigen Prädikation »laut (Lautheit) ist ein Klang« erhielten. Das ist offenkundig Unsinn, der darin wurzelt, dass wir das zweitstufige pauschale Prädikat von der erststufigen partikularen Eigenschaft behauptet haben. Die allgemeine Ontologie solcher zweitstufiger Prädikationen würde hier zu weit führen, aber für unser Thema können wir allgemein sagen, dass, wenn wir die zweitstufige Prädikation mit der Eigenschaft, ein Klang zu sein, akzeptieren, dann zugleich akzeptieren, dass das erststufige Prädikat in pauschaler Weise etwas von einem Individuum aussagt. Und daraus folgt: Das eigenschaftstragende Individuum als solches und als ganzes ist tatsächlich ein Klang. Natürlich ergibt sich diese Feststellung allein daraus, dass wir die pauschale Ontologie der Eigenschaft, ein Klang zu sein, akzeptieren. Das Postulat der Existenz dieser Eigenschaft ist eine der Wetten des Buchs. Dass es ebenso pauschale Klangeigenschaften gibt, die eine Hierarchieebene unter der postulierten Eigenschaft liegen, ein Klang zu sein, und dass sich zusammen grammatisch glatte zweistufige Prädikationen bilden lassen, ist ein gewichtiges Indiz dafür, dass die Pauschalität der pauschalen Klangeigenschaften nicht sprachlich erschlichen ist (und in anderen Sprachen womöglich ganz anders aussieht), sondern ihren Grund tatsächlich in der Existenz von Individuen hat, von denen sich nichts Pauschaleres sagen lässt, als dass sie ein Klangindividuum sind und nicht etwas anderes, für das eine andere Eigenschaft eine bessere pauschale Charakterisierung wäre. Kurz, das zweite Kriterium für die Individualität von Klängen lautet: Die pauschale Eigenschaft, ein Klang zu sein, kann grammatisch, semantisch und ontologisch plausibel verwendet werden. Die Entität, von der eine pauschale Eigenschaft ausgesagt wird, ist nolens volens ein Individuum. ❮ S a l o m e ❯ Wie Richard Wagner ist der Wagnerianer Richard Strauss für klangontologische Beispiele auf beinahe allen Ebenen gut. Auf die Materialisierung vormals kultureller Dinge in Strauss’ Salome (uraufgeführt 1905 in Dresden) hat schon Friedrich Kittler hingewiesen. 5 In jeder medienwissenschaftlichen Kernspaltung kultureller Gegenstände, sofern auch Soundpartikel zu den Spaltprodukten gehören, stecken klangontologische Einsichten.

5

Kittler (2002), bes. S. 358-361.

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Schon daran mag man ablesen, welch schöne Gattin die Klangontologie für einen sonischen medienwissenschaftlichen Gatten ist. Sagt Salome zu Jochanaan: »Sprich mehr, Jochanaan, deine Stimme ist wie Musik in meinen Ohren.« (Partitur Ziffer 85, T. 2-8.) Auf den Begriff »Musik« in Salomes Äußerung darf man nicht viel geben. Er ist, wie auch das Wörtchen »wie« andeutet, bloße Metapher in einer ganzen Kaskade von Metaphern, die Salome über Jochanaans Körperteilen ausschüttet und die aufzulisten eine ganze Seite füllen würde. Der ontologische Punkt kommt zum Vorschein, wenn wir nebeneinander stellen, was Salome an Jochanaan noch so alles begehrt neben der Stimme. »Ich bin verliebt in deinen Leib« (Z. 92, 1-4); »In dein Haar bin ich verliebt« (Z. 101, 5-9); »Deinen Mund begehre ich« (Z. 113,1-6). Der Täufer wehrt die Annäherungsversuche ab mit den Worten: »Berühre mich nicht! Entweihe nicht den Tempel des Herrn, meines Gottes« (Z. 109, 3 - Z. 110, 2). Der Tempel Gottes, das sind der Mund, das Haar, der ganze Kopf, den Salome später abschlagen lassen wird, aber nicht nur der Kopf, sondern der gesamte Leib (1. Korinther 6,19), aber nicht nur der Leib, sondern die Person Jochanaan als solche. In Jochanaans Ontologie ist die Welt in hierarchisierte Untergruppen von partikularen Eigenschaften gegliedert. Sein Mund und seine Haare sind partikulare Eigenschaften des Kopfes, sein Kopf ist eine partikulare Eigenschaft des Leibs, sein Leib ist eine partikulare Eigenschaft des Tempels Gottes, der Tempel Gottes vielleicht sogar eine partikulare Eigenschaft Gottes höchstselbst. Die Stimme (die Jochanaan hier nicht eigens nennt) ist eine partikulare Eigenschaft des Mundes, und zwar nicht des Mundes im Ereignismodus (1.1.1), sondern des Mundes überhaupt. Für Salome dagegen ist die Welt ontologisch geschreddert. Sie kann die Stimme begehren ohne den Mund, den Mund oder das Haar ohne den Kopf, den Kopf ohne den Leib, den Leib ohne die Person, die Person ohne Gott. Ontologisch: Ihre Welt besteht nur aus Individuen. So ist es auch mit der Stimme. In Salomes Ohren klingt die Stimme und nichts als die Stimme. Eine Stimme zu sein ist die erststufige pauschale Prädikation eines absoluten Klangindividuums, das mit ihr postuliert wird. Es klingt kein Klangquellenindividuum: weder der Mund noch der Kopf noch der Leib noch die Person noch Gott. Warum ist das eine Kernspaltung der kulturwissenschaftlichen sound studies? Dort ist die Welt ontologisch genau anders herum geordnet, so nämlich, wie Jochanaan sie haben will. Alle Eigenschaften, auch die klanglichen, haben ihr Plätzchen in der Welt, sprich an den Individuen, von denen sie verursacht wurden. Das Plätzchen ist die Kultur und die Erkundung des Plätzchens Kulturwissenschaft.

Individuen

1.1.3

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Sättigungsbedürftigkeit von Klangprädikaten

Macht Salome nicht erst durch einen buchstäblichen Gewaltakt den Klang der Stimme zu einem Klangindividuum? Gehört nicht die technologische Zurichtung des Klangs, in der er von der Medienwissenschaft erfasst wird, zu den Ungeheuerlichkeiten, die uns die Digitalisierung beschert? Und sind nicht Klänge, obwohl wir sie als ontologisches Individuum auffassen, aussagen und behandeln können, eben keine frei von allem Kontext durch die Welt geisternden Entitäten? Der kulturwissenschaftliche Begriff des Kontexts aufs Ontologische heruntergebrochen heißt: Die Dinge haben Eigenschaften, und über ihre Eigenschaften verzahnen sie sich kausal zu Ursache-Wirkungs-Ketten, Geschichten und Sinnzusammenhängen. Die passende ontologische Theorie hat der Logiker Gottlob Frege geliefert. Er schlug um 1880 ein ebenso schlichtes wie bahnbrechendes Konzept vor.6 Das Verhältnis von Eigenschaften und ihren Trägerindividuen müsse wie eine mathematische Funktion aufgefasst werden, in der Variablen durch ein Argument miteinander in Beziehung stehen. Ins Ontologische übersetzt ist das Argument die Eigenschaft, die Variablen sind Platzhalter für Gegenstände. Welche Art von Entität der Gegenstand ist, hängt von der jeweiligen Eigenschaft ab. Die meisten Eigenschaften verlangen als Sättigung der Leerstellen ein Individuum. Manche verlangen eine ganze Proposition, d.h. eine bereits mit einem Individuum gesättigte Eigenschaft. Manchmal verlangen sie wiederum eine Eigenschaft oder ermöglichen zumindest, dass man statt eines Individuums auch eine Eigenschaft einsetzt (wie zum Beispiel bei den Prädikationen zweiter und höherer Stufe aus 1.1.2 der Fall). Worauf Frege mit diesem Verständnis hinaus will, ist, die Struktur des In-Beziehung-Setzens von Dingen und Eigenschaften und die Bedingungen, diese Bezugnahme machen zu können, offenzulegen. Weil wir uns also zunächst auf der Ebene von Aussagen und nicht schon ausdrücklich der ontologischen Ebene, also dem Sein der ausgesagten Entitäten, bewegen, benötigen wir für den Moment eine terminologische Umstellung: Statt von Eigenschaften ist im Folgenden von Prädikaten die Rede. Das Prädikat ist das gesamte Argument einschließlich seiner je bestimmten Anzahl und Anordnung von Sättigungsstellen. Im Prädikat können, wie wir sehen

6

Frege (1893), §1.

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werden, auch Entitäten enthalten sein, die ontologisch betrachtet Individuen sind. Die terminologische Umstellung ist aber eher technischer Natur; beizeiten kehren wir wieder auf die ontologische Ebene zurück. Die Sättigungsstellen in einem Prädikat besagen, dass aus ihm erst dann eine wohlgeformte, aussagenförmige Prädikation geworden ist, wenn sie mit einer Entität, die das Prädikat verlangt, gesättigt werden. Ohne Sättigung ist ein Prädikat unvollständig und kann nicht ausgesagt werden. Prädikate wie etwa »knattert«, »rauscht« oder »rauscht stärker als« hängen für sich genommen in der Luft und werden erst dann zu sinnvollen Aussagen, wenn man erstens erkennt, wo sie Leerstellen haben, zweitens weiß, welche Art von Entität die jeweilige Leerstelle ausfüllen kann, und drittens die Leerstellen mit entsprechenden Entitäten auch sättigt. Dann erst erhält man eine wohlgeformte Aussage, die auf Wahrheit oder Falschheit prüfbar ist. Die genannten Prädikate haben die folgenden Sättigungsstellen: »(…) knattert«, »(…) rauscht« und »(…) rauscht stärker als (…)«. Vollständige wahrheitswertfähige Aussagen erhält man, indem man sie zum Beispiel mit diesen Individuen sättigt: »Die BMW R75/5 knattert«, »Der Untere Hörschbachfall rauscht« und »Der Todtnauer Wasserfall rauscht stärker als der Untere Hörschbachfall«. Mit den Entitäten, die die Leerstellen eines Prädikats sättigen, verhält es sich gemäß Freges Konzept umgekehrt: Sie können für sich allein bestehen. Natürlich ist ein für sich stehender Eigenname wie »Unterer Hörschbachfall« oder eine pauschale Eigenschaft wie »BMW R75/5«, die ähnlich wie ein Eigenname ein bestimmtes Individuum kennzeichnet, in unserem Fall dieses aus weinrotem Metall, Chrom und Gummi bestehende Ding im Besitz meines Nachbarn (siehe 1.1.1), noch kein ganzer Aussagesatz. Freges Konzept darf also nicht grammatisch verstanden werden. Stellt man sich diese Ausdrücke aber zum Beispiel als Bildunterschriften unter einer Abbildung des Unteren Hörschbachfalls oder einer weinroten R 75/5 vor, wird deutlich, was Frege meint. Individuen gibt es genau einmal auf der Welt. Es ist somit nachprüfbar wahr oder falsch, ob ein kennzeichnender Ausdruck eines Individuums tatsächlich dem abgebildeten realen Individuum zugeordnet ist. In diesem aussagenlogischen Sinn sind sie selbstständig. ❮ A b g r ü n d e i m A l b o r z g e b i r g e ❯ Verdeutlichen wir Freges Analyse von Eigenschaften als Funktionen und von Individuen als die Dinge, für die die Variablen in der Funktion stehen, an einem etwas verwickelteren Beispiel. Gegeben sei ein schöner Satz aus dem Schlussteil von Friedrich Nietzsches

Individuen

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Also sprach Zarathustra: »Zarathustra schwieg abermals und horchte: da hörte er einen langen, langen Schrei, welchen die Abgründe sich zuwarfen und weitergaben, denn keiner wollte ihn behalten: so böse klang er.«7 Damit es nicht allzu unübersichtlich wird, beschränken wir uns auf den Aussageteil, der das ausdrückt, was Zarathustra hört. Wir lassen also zum einen weg, dass und wie Zarathustra hört, also alles vor »einen langen…«. Zum anderen sondern wir die angehängte Aussage über die Motivation der Akteure ab, also alles ab »denn keiner…«. Als prädikatives Gerippe bleibt diese dreistellige Funktion übrig: (a) und (b) werfen (c) einander zu a und b sind Akteure, die werfen können, wofür nur Individuen in Frage kommen. Diese Individuen sind in Hörweite von Zarathustra. Nietzsche kennzeichnet sie mit dem, was ich pauschale Eigenschaft nenne: es sind »Abgründe«, also Individuen, die jeweils ein Abgrund sind. Der Sprecherintention nach handelt es sich um einen Tatsachenbericht. Zarathustra steht an einem konkreten Ort; stellen wir ihn uns etwa an einem gebirgigen Platz in der Nähe seines mutmaßlichen Geburtsorts Shar-e Rey im heutigen Iran vor, an dem es mehrere, mindestens zwei Abgründe gibt, die geographisch die mehrstellige Relation möglich erscheinen lassen, die das Prädikat beinhaltet. Auch das, was man werfen kann, ist in dem physischen Sinn von werfen, der sich hier durch die Einsetzungen für a und b ergibt, ein physisches Ding. (Bei ganz anderen Einsetzungen für a und b könnte man sich etwa auch Argumente vorstellen, die hin und her geworfen werden, die dann aber ihrerseits Aussagen wären und die Sättigung von c somit eine Proposition verlangte.) Nietzsche sättigt die Variable c mit dem Individuum »langer, langer Schrei«. Auch darin steckt mit »Schrei« ein kennzeichnendes Prädikat und zudem mit »lang, lang« eine partikulare Dauerneigenschaft. Wir müssen das eingesetzte Individuum damit als Individuum verstehen, das ein Schrei ist und das sehr lang ist. Damit sind wir fertig. Vielleicht liegt jemandem auf der Zunge, die Analyse mit den Ergebnissen aus 1.1.2 fortzusetzen und das Individuum an der c-Stelle als einen Klang, der ein Schrei ist und der sehr lang ist, aufzufassen. Diese Analyse ergibt sich erst aus dem eingesetzten Individuum selber und noch nicht aus dem Prädikat.

Wenn wir nun zeigen könnten, welche der beiden Rollen in Freges Funktionenkonzept Klänge spielen, dann hätten wir ein weiteres Indiz für unsere Frage gewonnen, ob Klänge Individuen oder Eigenschaften sind. Sind sie Individuen, dann müssten sie die Rolle der Entitäten spielen, mit denen die Leerstellen eines Prädikats gesättigt werden. Sind sie Eigenschaften, dann

7

Nietzsche (1883), S. 297.

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hingegen spielen sie die Rolle des Arguments, das seinerseits Sättigungsstellen hat. Was erschließt sich durch die Fregesche Analyse von Prädikationen für die Eigenschaftsbildung von oder mit Klängen? Man kommt der Erklärungskraft der Fregeschen Analyse nicht so recht auf die Spur, wenn man sie an Eigenschaften durchdenkt, deren richtiger Verwendung man sich sicher ist. Mit der Fregeschen Analyse heißt das: bei der man sich sicher ist, wie die Leerstelle gesättigt werden kann, damit eine wahre Aussage entsteht. Für die Prädikate »(…) ist rund«, »(…) dauert 90 Minuten« oder »(…) knistert« ergeben die Sättigungen mit den Individuen »der Ball«, »das Fußballspiel« und »das Kaminfeuer« wahre Aussagen, sind aber ziemlich uninformativ. Jede Prädikation artikuliert das prädizierte Individuum auf eine charakteristische Weise. Sie intendiert das prädizierte Individuum mit einem bestimmten Fokus. Je informativer die Prädikation, desto riskanter die Sättigung. Frege nennt das an anderer Stelle den Sinn, mit dem ein Individuum durch Sättigung in den Blick genommen wird. Erst in diesem Bestreben nach einem markanten Informationsgehalt der Aussage wird deutlich, inwiefern ein Prädikat sättigungsbedürftig ist. Erst mit der Sättigung leuchtet der Sinn auf, mit dem das Prädikat den eingesetzten Sinn zutage treten lässt. Wenn wir nun klangliche Prädikationen betrachten, kommt die Prozessualität und, wenn man so will, die Mühe einer Prädikation vielleicht deutlicher zutage als bei Behauptungen aus den anderen Sinnbereichen. Dass über Felsen stürzendes Wasser rauscht und brennendes Fichtenholz im Kamin knistert, ist eine wenig mühevolle Prädikation, die uns spontan von der Zunge geht. Bei seltener verwendeten pauschalen Klangeigenschaften wie Klirren, Surren oder Dröhnen ist die Spontaneität schnell dahin und man spürt, wie detailliert man das bewegte Innenleben eines Klangs erlauschen muss, um das passende Prädikat so zu wählen, dass es das eingesetzte Individuum in einem informativen Sinn und zugleich mit einem wahren Wahrheitswert artikuliert. (In 2.2.2.1 analysieren wir den Prozess der Sinnkonstitution pauschaler Klangeigenschaften detailliert.) Schließlich gelingt uns bei vielen Geräuschen überhaupt keine informative Aussage mit einem pauschalen Klangprädikat – ausgenommen das pauschalste aller pauschalen Klangprädikate, ein Klang zu sein. Der Feststellung des Klangs selber sind wir uns sicher. Wir hören ihn ja, wir können zunächst aus unserer Hörperspektive seinen Anfang und sein Ende bestimmen, wir verfolgen mit

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unserer Aufmerksamkeit den Klangverlauf. Diese Umstände kann man als eine phänomenologische Reformulierung von Freges Analyse auffassen, dass der Gegenstand der Sättigung für sich allein gekennzeichnet werden kann. Und er bestätigt Frege auch darin, dass ein Prädikat ohne Sättigung in der Luft hängt. Klangprädikate werden erst dann prägnant und plastisch für einen Gedanken, wenn sie auf einen Gegenstand bezogen sind. So wie das Klangindividuum ohne sie ein reines Ding bliebe, auf das man nur mit einem demonstrativen »da!« hinweisen kann, so bleibt auf der anderen Seite auch die Klangeigenschaft abstrakt und füllt ihre Bestimmung, ein Klangindividuum über die bloße Demonstrativgeste hinaus fassbar zu machen, erst bei der Sättigung ihrer Leerstellen. Was besagt diese Überlegung für unsere Ausgangsfrage, welche Leerstellenstruktur Klangprädikate haben und welche Individuen ihre Leerstellen so sättigen, dass sich ein informativer Sinngehalt ergibt? Im Kern zweierlei. Erstens, die Leerstellenstruktur von Klangprädikaten: Die Prozessualität oder, wie ich oben formuliert habe, die Mühe der klanglichen Prädikation mit einem pauschalen Prädikat ist in der Regel in eine Richtung fokussiert. Besonders sinnfällig wird das, wenn die Hörintention verschiedene klangliche Komponenten prozessual abtastet, um ein pauschales Prädikat zu finden, das den Sinn dieser Prozessualität auf den Begriff bringt. Das spricht dafür, dass der sprachliche Ausdruck einer solchen Sinnbildung eine Entität ist und der Ausdruck folglich eine Leerstelle hat. Weiterhin, die Prozessualität und Mühe der Klangprädikation weist darauf hin, dass die Stelle mit einem Individuum und nicht etwa mit einer Proposition zu sättigen ist. Propositionen drücken Tatsachen aus und damit bereits erfolgte Prädikationen. Die Prozessualität und Mühe der gerichteten Aufmerksamkeit liegt schon zurück. Der Vorgang der Intention solcher Entitäten ist völlig anders als der von Klängen. Wie auch immer man ihn beschreiben mag, prozessual ist er nicht. Natürlich sind daneben viele Sinnbildungen denkbar, die räumliche Relationen von mehreren präsenten Klängen benennen oder bestimmte partikulare Klangeigenschaften vergleichen, wie zum Beispiel »(…) klingt schärfer als (…)«. Solche Sinnbildungen werden in zwei- oder mehrstelligen Prädikaten ausgedrückt. Das spricht aber in keiner Weise gegen die Individualität der eingesetzten Entitäten, im Gegenteil. Die Relationsbildung läuft in genau derselben beschriebenen Weise prozessual ab, nur dass sie zwei Individuen je prozessual erfassen und dann in Relation setzen muss.

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Zweitens, die Art der Individuen, die die Leerstelle(n) in Klangprädikaten sättigen: Das können keine starren Dinge sein. Der Sinn, den die Klangprädikate auf ihren Sättigungsgegenstand eröffnen, ist wie gesagt ein prozessualer. Er drückt einen Aufmerksamkeitsvorgang aus, der die spezifische innere Verlaufsstruktur eines Klangs beschreibt. Diese ist im Klangprädikat selber schon enthalten, kann aber durch weitere Prädikate näher spezifiziert werden (wie im Nietzsche-Zitat). Dieser Umstand ist eine zentrale Beobachtung, die der Auffassung von Klang als Eigenschaft eines Individuums entgegen steht. Was ja hieße, der Klang drückte einen prozessualen Sinn von einem nicht-prozessualen Ding aus. Das wäre widersprüchlich. Aus dem Widerspruch können wir uns nur herauswinden, indem wir (wie schon in 1.1.1 angedeutet) das Ding im Ereignismodus auffassen. Nur ein Ding im Ereignismodus kann die pauschale Eigenschaft haben, ein Klang zu sein. Oder präziser mit der Einsicht aus 1.1.2 gesagt, dass Klang die zweitstufige pauschale Eigenschaft über einer erststufigen pauschalen Klangeigenschaft ist: In der erststufigen pauschalen Klangeigenschaft drückt sich die Prozessualität aus, die nicht nur dem phänomenalen Vorgang eignet, sondern auch dem Individuum in der Sättigungsstelle. In allgemeinerer Form, die um das konkrete Wie der erststufigen pauschalen Eigenschaft reduziert ist, wird die Ereignishaftigkeit des Individuums auch von der zweitstufigen pauschalen Eigenschaft ausgedrückt, ein Klang zu sein. Somit können die ersten beiden Kriterien (1.1.1 und 1.1.2) durch dieses dritte präzisiert werden: Etwas ist ein Individuum, wenn auf es durch bloßes Kennzeichnen oder Demonstrieren referiert werden kann. Das trifft auf Klänge zu. Und etwas ist eine Eigenschaft, wenn es eine Charakteristik ausdrückt, wobei diese stets zugleich eine Charakteristik des Individuums und eine Charakteristik der Referenz auf das Individuum ausdrückt. Die Eigenschaftsbestimmung trifft auf pauschale Klangeigenschaften (erster und zweiter Stufe) zu, was umgekehrt bedeutet, dass das Individuum, das mit dieser Charakteristik erfasst wird, selbst klanglich ist. ❮ K l a n g o n t o l o g i e d e r E s k i m o s ❯ In Schafers The Soundscape, einem Kultbuch der sound studies, kommt ausführlich der Anthropologe Edmund Snow Carpenter zu Wort. Carpenter war ein Weggefährte von Marshall McLuhan, dessen bahnbrechende Theorien zur Auditivität der elektronischen Medien viele schöne Fallbeispiele zur Ereignishaftigkeit von Klängen und zur Prozessförmigkeit von Klangwahrnehmung abgäben. Carpenter schreibt über die Eskimos: »I know of no example of an Aivilik describing space

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primarily in visual terms. They don’t regard space as static and therefore measurable; hence they have no formal units of spatial measurement, just as they have no uniform divisions of time. [...] Like sound, each carving creates its own space.« »Auditory space has no favoured focus. It’s a sphere without fixed boundaries, space made by the thing itself, not space containing the thing. It is no pictoral space, boxed-in, but dynamic, always in flux, creating its own dimensions moment by moment. It has no fixed boundaries; it is indifferent to background. The eye focuses, pinpoints, abstracts, locating each object in physical space, against a background; the ear, however, favours sound from any direction.« 8 Eine steile These! Wäre sie stricto sensu korrekt, würde sie alles über den Haufen werfen, was wir uns gerade erarbeitet haben. Carpenter beim Wort genommen, wären in der Ontologie, wie sie sich in den Inuit-Sprachen äußert, Klangprädikate Ausdrücke von Eigenschaften, die von nichtklanglichen Individuen individuiert werden. Kurz, Klänge wären Eigenschaften von Dingen, die selbst keine Klänge sind. Carpenter behauptet, Dinge – und darunter müssen wir uns nun gerade nicht Dinge im Ereignismodus, sondern Dinge als solche vorstellen – seien mögliche Sättigungsentitäten für die Leerstellen von Klangprädikaten. Gegeben zum Beispiel das Prädikat »(…) ist ein langer, langer Schrei« aus dem Nietzsche-Zitat, könnte bei den Eskimos die Leerstelle nicht nur mit einem Klangindividuum, sondern ebenso mit einem nichtklanglichen Individuum, einem langen Baumstamm etwa, gesättigt werden. So resultierte eine Sinnbildung, wie sie Carpenter offensichtlich beschreibt: Die Ausdehnung des Baumstamms wäre mit dem Sinn des prozessual sich ausdehnenden Schreis erfasst. Nach demselben Sinnbildungsmuster könnte man weitere räumliche Eigenschaften von physischen Individuen wie etwa dick/dünn, rund/eckig, spitz/stumpf mit Klangeigenschaften prädizieren. Ich gebe zu, dass ich von Inuit-Sprachen nicht viel mehr weiß als das Merkmal, eine extreme Synthetizität zu haben, wodurch ein quasi unendlicher Wortschatz erzeugt wird. In propositionalen Ausdrücken, auch solchen, die aus mehrstelligen Prädikaten gebildet sind, sind Prädikat, Subjekt und Objekt(e) zu einem Wort verschmolzen, die Bildung erfolgt vom Prädikat her. Das heißt aber offenbar nicht, dass es keine Nominalausdrücke gäbe. Die gibt es sehr wohl, und es gibt auch einen eigenen lokativen Kasus, mit dem die Nomina flektiert werden können und der in die synthetischen Propositionen eingeht. Die Klangeigenschaften, die von einem nichtklanglichen Individuum ausgesagt werden, beschreiben in den Inuit-Sprachen demnach nicht die Lokalität des Individuums in einem extrinsischen Raum, sondern ihre intrinsische Räumlichkeit. Wie gesagt scheint mir das nur metaphorisch denkbar zu sein. Auch die Eskimos werden intrinsische räumliche Eigenschaften von nicht-

8

Carpenter (1959), S. 27 (erstes Zitat) und S. 26 (zweites Zitat), zit. bei Schafer (1977), S. 157f.

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klanglichen Dingen wohl kaum hören können. Die Metaphorik scheint dergestalt zu sein, dass die intrinsische Räumlichkeit des nichtklanglichen Individuums über den prozessualen Sinnaspekt des Klangprädikats gegeben ist. Was ergibt sich aus dieser Eigentümlichkeit der Inuit-Sprachen für unsere Frage, welche Entitäten die Leerstelle eines Klangprädikats sättigen? Müssen wir die Überlegungen aus 1.1.3 über den Haufen werfen, da die Sättigungsentitäten nichtklangliche Dinge sind? Das steht nicht zu befürchten. Was wir zu widerlegen versuchen ist ja, dass die Klangeigenschaften klingende – und nicht nichtklingende – Individuen prädizieren können, die selbst etwas anderes als Klänge sind: Motorräder, Trompeten und dergleichen. Die Prozessualität im Sinngehalt von Klangprädikaten, die wir herausgearbeitet haben, kann sich in einer Proposition wie » das Motorrad knattert« aber wohl kaum auf die intrinsische Räumlichkeit oder irgendwelche anderen intrinsischen Merkmale des Gegenstands beziehen. Bei klingenden Individuen, die etwas anderes als Klänge sind, ergibt die metaphorische Beschreibung von Eigenschaften, die mit ihrem Klingen nichts zu tun haben, wie etwa eine räumliche Ausdehnung des Dings, keinen Sinn. Und umgekehrt ergibt der prozessuale Aspekt in einem Klangprädikat keinen Sinn (immer im Fregeschen Begriff von Sinn!), wenn er auf das klingende Individuum als solches und jenseits seines Klingens bezogen wird. Wie man es dreht und wendet, übrig bleibt als plausible Alternative einzig, den Sinn eines Klangprädikats mit seiner prozessualen Komponente auf ein Klangindividuum zu beziehen. In dem spielen klingende Individuen wie Motorräder, Trompeten usw. eine Rolle, sie verkörpern den Klang aber nicht.

1.1.4

Klänge mit mehr als einer pauschalen Klangeigenschaft

Prekär könnte unsere These, dass ein Klang ein Individuum ist, auch dann werden, wenn wir auf die Was-ist-das-Frage nicht mit einer pauschalen Klangeigenschaft antworten können, sondern Eigenschaften konjugieren müssen. Einige Beispiele ❮ a u s d e m L e b e n e i n e s K l a n g o n t o l o g e n❯ (1) Auf einem Hügel nahe der Olpererhütte in den Zillertaler Alpen steht ein Rettungshubschrauber, der einen verletzten Wanderer geborgen hat. Jetzt startet er die Turbine, die ab nun ein stetig lauter werdendes Fauchen von sich gibt. Zugleich beginnt sich der Rotor zu drehen, erst langsam und geräuschlos, dann bei zunehmender Drehzahl mit einem immer stärkeren Knattern. Beim Abheben ist das Fauchen der Turbine und das Knattern des Rotors gleichzeitig zu hören. Mit zunehmender Entfernung von mir ist nur noch das leiser werdende Knattern

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vernehmbar, bis der Hubschrauber einen Bergrücken passiert und nicht mehr zu hören ist. (2) Mein Nachbar mäht den Rasen mit seinem alten Rasenmäher mit Zweitaktmotor. Durchweg ist nahezu unabhängig von der Hörposition ein Geräusch zu hören, das gleichermaßen ein Dröhnen und ein Knattern ist. (3) Ich befinde mich in einem Park. Trockenes, kühles, windiges Herbstwetter. Ein Windstoß fegt mit mächtigem Brausen durch die Bäume und treibt trockenes Laub mit einem Rascheln über den Boden. (4) Ich stehe nachts am offenen Fenster und vernehme das Geräusch der stark befahrenen Autobahn. Sie ist rund zwei Kilometer Luftlinie entfernt und von mir aus nur bei Westwind zu hören. Ich höre ein Grundrauschen, von dem sich aber ein Brummen mit einer gut fixierbaren mittelhohen Tonhaltigkeit abhebt. (5) Ich stehe an einem warmen Sommerabend am offenen Fenster. Am Horizont Wetterleuchten. Das noch ferne Hitzegewitter macht sich nun auch akustisch bemerkbar mit einem sanften Donnern, das sich als Grollen fortsetzt und langsam ausrollt, bis wieder Stille herrscht. (6) Im Park wird Laub gerecht. Eine Gärtnerin zieht den Rechen mit den langen beweglichen Zinken über den mit Kies bedeckten Boden. Auf das Rascheln des Laubs, das ähnlich wie in (3) klingt, kommt es hier nicht an. Allein das Gleiten des Rechens über den Kies verursacht bei jedem Zug ein Kratzen und zugleich ein in der Tonhöhe jeweils ansteigendes und leiser werdendes Fauchen.

Von solchen Geräuschen, die zwei oder noch mehr deutlich unterscheidbare klangliche Bestandteile umfassen, gibt es bei näherem Hinhören sehr viele. Das ist noch ins ontologisch Unreine gesprochen und meint, dass das Geräusch mindestens zwei Bestandteile hat, die mit je einer pauschalen Klangeigenschaft gekennzeichnet werden können. Bei (1) sind das ein Fauchen und ein Knattern, bei (2) ein Dröhnen und ein Knattern, bei (3) ein Brausen und ein Rascheln, bei (4) ein Rauschen und ein Brummen. Bei (5) ist es ein Donnern und ein Grollen. Von allen fünf Konjunktionen ist nur diese letzte als die pauschale Klangeigenschaft des Donnergrollens in die Lexik der deutschen Sprache eingegangen. Jedenfalls fassen wir es in der Alltagssemantik als Verbindung von zwei Klangbeschreibungen auf. (Grammatisch ist es allerdings fraglich, ob hier wirklich zwei grammatische Prädikate gefügt sind und nicht vielmehr ein Prädikat und ein Substantiv. Wir erörtern das detailliert in 2.2.1.2.) Angesichts dessen, was wir bisher über pauschale Klangeigenschaften gesagt haben, müssen uns diese Beobachtungen äußerst merkwürdig vorkommen. Die Eigenschaften haben wir ja deshalb pauschal genannt, weil sie

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die referenzielle Kraft haben, einen Klang als solchen und als ganzen zu kennzeichnen. Das tun sie hier offenkundig nicht. Unsere Grundfrage, welcher ontologischen Art die Entität Klang zugehört, zeigt sich damit überraschenderweise verwoben mit der Frage, um wie viele Entitäten es sich bei komplexeren Klängen wie den obigen Fallbeispielen handelt. Wenn wir an der referenziellen Charakteristik von pauschalen Klangeigenschaften festhalten, dann zwingt uns das dazu, mehr als einen Klang anzunehmen. Wir würden in (1) bis (6) demnach zwei Klänge hören. Warum sie trotzdem hinsichtlich Anfang und Ende, hinsichtlich Lautstärken und Lautstärkeverläufen, hinsichtlich der Richtung der Schallausbreitung und wohl hinsichtlich vieler weiterer partikularer Eigenschaften so klar korrelieren, wäre dann dringend erläuterungsbedürftig. Oder aber es handelt sich wie in den bisherigen Überlegungen um eine Entität, nach deren ontologischer Natur wir fahnden. Dann allerdings kann etwas mit der Pauschalität der Klangeigenschaften nicht stimmen. Ein Klang kann nicht zwei (oder mehr) pauschale Eigenschaften erfordern, um als solcher und als ganzer gekennzeichnet zu werden. Eigenschaften wie Fauchen, Knattern, Dröhnen, Rauschen usw. sähen demnach nur grammatisch so aus wie andere pauschale Eigenschaften (wie zum Beispiel, ein Eskimo zu sein, eine Frau zu sein, ein Klavier zu sein, eine Klaviersonate zu sein usw.), die ontologisch das leisten, was nach Aristoteles eine Substanz leistet oder was Roman Ingarden als die »konstitutive Natur« bezeichnete, die jedes Individuum als eine Art Basiseigenschaft habe, an die sich die partikularen Eigenschaften anlagerten.9 Die technische Anmerkung aus dem Abschnitt 1.1.3 zum Verhältnis von Ontologie und Semantik müssen wir in die Verlängerung gehen lassen. Auf der ontologischen Ebene sind die Charakteristika von Individuen Eigenschaften, auf der semantischen Ebene sind sie Prädikate mit Sättigungsstellen. Wir werden sehen, dass sich auch die Problematik der mehrfachen pauschalen Klangcharakteristika leichter verstehen lässt mit der Denkhaltung, die wir im vorigen Abschnitt eingenommen haben, indem wir der Phänomenalität des Wegs nachspüren, der von den Prädikaten zu den Individuen führt, die ihre Leerstellen sättigen. Die Phänomenalität des Sättigungsvorgangs sollte uns indirekt in einem ersten Schritt verraten, ob wir nach einem oder nach mehreren Dingen Ausschau halten. Danach ist

9

Ingarden (1965). Den Kontext verdanke ich Wachter (2000), S. 65ff.

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möglicherweise klarer zu sehen, um welche ontologische Art von Entitäten es sich handelt, die in die Leerstellen passen. Wir hatten in 1.1.3 festgestellt, dass die Prädikation eines Individuums und, umgekehrt, die Sättigung eines Prädikats mit einem Individuum eine phänomenologische Angelegenheit ist. Prädikationen sind phänomenale Sicht- oder hier besser Hörweisen auf ein Ding. Spätestens bei der Frage der mehrfachen pauschalen Klangeigenschaften, vor der wir nun stehen, wird aber deutlich, dass wir mit einer rein phänomenologischen Behandlung des Themas nicht weiterkommen. Die Frage wäre so nämlich unlösbar. Der reine Klangeindruck lässt uns kategorisch im Unklaren, wie viele Dinge sich da in ihm zu einem Eindruck fügen. Dem kommen wir erst auf die Spur, wenn wir uns vom reinen Eindruck wegbewegen und den Prozess der Sättigung mit Individuen beschreiben. Der Prozess ist zwar phänomenologisch, aber gewissermaßen im Rückwärtsgang: Er führt vom Phänomen weg zu den Dingen. Gehen wir also den Klängen in der Richtung nach, aus der sie kommen. Das ist praktisch mehr oder weniger leicht möglich. Dabei lässt sich zweierlei Erfahrung machen. In der einen spalten sich die Richtungen von Klängen irgendwann auf, die Orte der Klangerzeugung treten auseinander. Die partikularen Eigenschaften, die mit den pauschalen Klangprädikaten verbunden sind (und die wir in 2.2.2 genauer als Merkmale des Sinns bestimmen werden, der in einer pauschalen Klangeigenschaft liegt), werden also für die beiden Klangprädikate widersprüchlich. Im Beispiel (3) etwa ist die Richtung, aus der das Brausen kommt, von oben, die Richtung des Raschelns aber von links unten. Ähnlich differenzieren sich die Orte, wenn ich mich der Autobahn (4) bis zum Straßenrand annähere: Das Rauschen gewinnt wegen der stärker hörbaren hohen Frequenzen an Schärfe, bleibt aber als solches auf das gesamte Verkehrsgeschehen lokalisiert. Das tonhaltige Brummen hingegen lässt sich einzelnen Lastwagen zuordnen, die meinen Hörort passieren. Beim Rasenmäher (2) lässt sich der Klangort des Knatterns enger begrenzen als nur global auf das gesamte Gerät, nämlich auf den Auspuff. Aber auch das Dröhnen ist dort lokalisiert. Die Lokalisierung des einen Klangorts führt also nicht dazu, dass der andere einen davon differenten Ort findet. Vollends ununterscheidbar sind die Klangorte des Kratzens und Fauchens beim Laubrechen (6). Sie befinden sich beide an genau der Stelle, an der die Zinken des Rechens über den Boden gezogen werden. Beim Hubschrauber (1) ist aus gewisser Entfernung das Knattern

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lauter und das Fauchen bleibt im Hintergrund, wohingegen beide Geräusche gleich präsent sind, wenn ich direkt an der Kabine des Hubschraubers stehe. Das Donnergrollen (5) ist nach wenigen Sekunden verklungen, eine Annäherung also praktisch unmöglich. Man kann sich aber verschiedene Hörpositionen vorstellen, rund 20 Kilometer vom Punkt des Blitzeinschlags entfernt wie mein Dachfenster und zum Kontrast wenige Dutzend Meter weg vom Einschlagpunkt. In Blitznähe bleibt nur noch ein Donner übrig, beträchtlich lauter natürlich und mit all den hohen und mittleren Frequenzen eines Explosionsknalls, die in größerer Entfernung verschwinden. Was vor allem verschwindet aus der nahen Hörposition, ist das Grollen, für das die große Entfernung des Hörpunkts konstitutiv ist. Wie können wir diese disparaten Beobachtungen sortieren, und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für unsere Frage, welcherart die Individuen sind, zu denen die Mühe der Sättigung der Leerstelle der pauschalen Klangeigenschaften hinführt? Diese Fragen sind alles andere als trivial und berühren entscheidende Punkte in der Ontologie von Klängen insgesamt. Ein Schlüssel zur Beantwortung liegt in der Feststellung, dass die vielen partikularen Eigenschaften, von denen wir uns bei der Mühe der Sättigung leiten lassen, mal ein eindeutiges, mal ein zweideutiges Ergebnis lieferten. In einigen Fällen treten die partikularen Eigenschaften der Klangrichtung, des Klangorts, des breit- oder schmalbandigen Frequenzspektrums, der inneren Homogenität oder Heterogenität der Klangelemente u.a.m. am Ende auseinander; die beiden pauschalen Klangeigenschaften finden ihren je eigenen Ort. Die partikularen Eigenschaften separieren die beiden pauschalen Klangeigenschaften am Ende nicht nur klanglich, sondern auch räumlich. In einigen anderen Fällen aber leisten die partikularen Eigenschaftsbestimmungen am Ende keine räumliche Separierung. Das heißt, die richtungsund ortsbezogenen partikularen Klangeigenschaften bewirken nicht nur keine Abgrenzung der pauschalen Klangeigenschaften, sondern binden sie sogar zusammen, was den Klangort betrifft. Andere partikulare Eigenschaften hingegen, die auf einer klangimmanenten Ebene von Klangqualitäten liegen, bewirken eben dies: eine Profilierung und damit Abgrenzung der pauschalen Klangeigenschaften gegeneinander. Wir haben also die Situation, dass das vielfältige Ensemble der partikularen Klangeigenschaften seine Wirkung auf zwei verschiedenen ontologischen Ebenen entfaltet, die uns bisher noch nicht deutlich geworden sind. Manche partikularen Eigenschaften konstituieren die Pauschalität der Klang-

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eigenschaft und damit die kennzeichnende Kraft, die den pauschalen Eigenschaften innewohnt, über eine örtliche Abgrenzung. Sie schlagen auf eine physische Ebene durch, oder anders gesagt: Sie führen zu einer Sättigung der Leerstelle durch ein physisches Individuum, das einen Raumpunkt einnimmt, den kein anderes Individuum sonst einnehmen kann. Andere partikulare Eigenschaften wiederum konstituieren die Pauschalität und ergo kennzeichnende Kraft der pauschalen Eigenschaft auf einer klangqualitativen Ebene, die rein phänomenal bleibt. Sie schlägt nicht durch aufs Physische, sie nimmt damit auch keinen Raumpunkt ein, der nur von einem einzigen Individuum belegt werden könnte. Eine Kennzeichnung und Profilierung findet mit dieser Konstituierung durchaus statt: Wir sind als Hörer uns im Klaren, ob wir phänomenal das Knattern oder das Dröhnen des Rasenmähers intendieren, ob wir dem Kratzen des Rechens oder seinem Fauchen zuhören. Angesichts dieses Befunds müssen wir also anerkennen, dass je nach betrachteter Ebene die Anzahlfrage unterschiedlich beantwortet wird. Die Konstituierung der kennzeichnenden Kraft der pauschalen Klangeigenschaften ergibt auf der phänomenalen Ebene numerisch immer 1 pauschalen Klang. Auf der physischen Ebene, auf der immer auch eine Raumpunkteigenschaft individuiert ist, sind es numerisch mal 1, mal 2 (oder mehr) Individuen. Auf beiden Ebenen zugleich kann also die Frage der Sättigung mit Individuen nicht beantwortet werden. Aber welche von beiden die letztlich relevante ist, ist unschwer zu bestimmen: die physische. Denn an einem bestimmten Raumpunkt kann sich nur ein bestimmtes Individuum befinden. (Im nächsten Abschnitt 1.1.5 wird das näher erörtert.) Wird an einem bestimmten Klangort eine pauschale Klangeigenschaft konstituiert, umso einfacher und klarer kommt man dann zu der Feststellung, dass mit der kennzeichnenden Kraft der pauschalen Eigenschaft auch der Klangort gekennzeichnet wird. Werden aber an dem einen Ort 2 oder mehr pauschale Klangeigenschaften konstituiert, taugt deren kennzeichnende Kraft nicht für die Identifizierung eines Sättigungsindividuums. Und daraus können wir schließen, dass sich das auch im ersten und vermeintlich klareren Fall nicht so verhält. Auch dort ist es nur die phänomenale Klangentität, die eindeutig intendiert wird und sich intentional, aber eben nicht unbedingt auch physisch-räumlich von weiteren phänomenalen Klangentitäten abgrenzt. Kurzum, das Individuum, das Klangeigenschaften hat, und die Entität, die mit einer pauschalen Klangeigenschaft gekennzeichnet wird, sind nicht dasselbe. Sie liegen zudem auf verschiedenen ontologischen Ebenen: das

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eigenschaftstragende Individuum auf der Ebene des Realen, die Entität, die in einer pauschalen Eigenschaftsbestimmung intendiert wird, auf der Ebene des Phänomenalen. 1 klangeigenschaftstragendes Individuum kann 1 pauschale Klangeigenschaft oder, wie die Beispiele zeigten, auch mehrere haben. Sogar der Umkehrsatz gilt (wofür wir hier allerdings keine Beispiele angeführt haben), wenngleich mit einer Einschränkung: 1 phänomenale Entität, die an einem bestimmten Hörpunkt mit 1 pauschalen Klangeigenschaft erfasst werden kann, kann mehrere physische Individuen bezeichnen. Die Einschränkung ist, dass sich mit einer Veränderung der Hörposition näher zum Ort der Klangerzeugung hin daran notwendigerweise etwas verändert; es müssen sich über kurz oder lang auch mehrere phänomenale Entitäten zeigen, sei es mit derselben pauschalen Klangeigenschaft, sei es mit unterschiedlichen. Seit Frege werden diese beiden ontologischen Ebenen mit Sinn und Bedeutung bezeichnet.10 Der Sinn, sagt Frege, ist die Art und Weise, in der eine Entität in der Intention gegeben ist. In unserem Zusammenhang wird er durch die pauschale Klangeigenschaft ausgedrückt. Die Bedeutung ist die Entität selber – in unserer Analyse also jenes Individuum, mit dem die Leerstelle in partikularen wie pauschalen Klangprädikaten gesättigt wird. Für die weiteren Überlegungen soll das terminologisch keine große Rolle spielen. Die Individuen, von denen dieses erste Buchkapitel handelt, sind die Entitäten auf der Bedeutungsebene, und sie können gegebenenfalls der Träger von mehr als einer pauschalen Klangeigenschaft sein, deren intentionale Referenzentität auf der Sinnebene liegt. Diese schwierige Lektion ist hier mehr als genug. Wie sich die Sinnhaftigkeit jener phänomenalen Referenzentitäten ontologisch tiefer durchdringen lässt, wird in 2.2.2 erörtert, wenn wir im Eigenschaftskapitel die pauschalen Klangeigenschaften genauer unter die Lupe – oder man sollte vielleicht besser diese Metapher verwenden: unters Stethoskop nehmen. Nun geht es darum, die Fallbeispiele in prädikative Sätze zu überführen. In 1.1.2 (dort Satz 3/2) hatten wir die allgemeine Struktur einer pauschalen Klangprädikation erarbeitet; sie lautet:

10 Frege (1892).

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Diese (Individuenentität)

ist ein (pauschales Klangprädikat)

und deshalb ein Klang

Individuenstelle

erststufige Eigenschaft

zweitstufige Eigenschaft

(Einsetzen eines Individuums und einer pauschalen Klangeigenschaft ergibt einen wahrheitswertfähigen Satz.) Mit der allgemeineren zweitstufigen Eigenschaftsbestimmung, ein Klang zu sein, hatten wir klargestellt, dass das Individuum, an dem eine klangliche Eigenschaft festgestellt wird, kein dingliches Individuum im kruden Sinn von Dingen ist. Es ist nicht nur eine Klangquelle, sondern eine tatsächlich klingende Klangquelle, die sich in irgendeinem modus operandi befindet derart, dass eine hörbare Luftschwingung aus ihm resultiert. Das Individuum muss also eine ereignishafte Konstellation sein. Die zweitstufige Eigenschaft, ein Klang zu sein, stellt mithin klar, dass die phänomenologische Weise, in der dieses ereignishafte Individuum gegeben ist und die im erststufigen Prädikat ausgedrückt wird, nichts über die Ontologie des Individuums besagt. Das pauschale Klangprädikat bzw. die beiden pauschalen Klangprädikate beziehen sich auf den phänomenalen Gehalt oder die phänomenalen Gehalte, aber diese Gehalte können, wie oben gezeigt, nicht das Individuum sein, mit dem die Leerstelle des Prädikats gesättigt wird, was gerade beim Fall von Gehalten in der Mehrzahl deutlich wird. Zudem müssen wir die obigen Überlegungen zur Anzahlfrage der Individuen berücksichtigen. Falls die Mühe der Prädikation auf numerisch 1 Klangort führt, dann müssen die beiden pauschalen Klangeigenschaften in einem Prädikat untergebracht werden. Das heißt ganz einfach, der gesamte Vorgang kann in 1 prädikativen Aussage ausgedrückt werden. Das Prädikat ist hier freilich komplexer, es bindet zwei phänomenale Aspekte zu einer Eigenschaft zusammen. Führt sie auf 2 Klangorte, dann erhält jede der beiden pauschalen Klangeigenschaften ihr eigenes Prädikat, was folglich zu 2 prädikativen Aussagen führt. Nun lassen sich die obigen deskriptiven Fallbeispiele in prädikative Aussagen umformulieren. Der Übersichtlichkeit halber formuliere ich jede Aussage als einen Satz, was

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❮ a u f d e m S c h r e i b t i s c h e i n e s K l a n g o n t o l o g e n ❯ folgendermaßen aussieht: (1) Beim startenden Hubschrauber war anfänglich das Fauchen der Turbine allein zu hören. Es hat auch einen eigenen Ort, nämlich die Turbine. Selbst wenn bereits der Rotor läuft, lässt sich das Fauchen an der Düse lokalisieren, wenn man sich der Düse der Turbine ausreichend nähert. Entsprechendes gilt für das Knattern, das am laufenden Rotor lokalisiert ist. Man könnte sich zum Beispiel eine Anordnung denken, in der das Triebwerk, das den Rotor über ein Getriebe antreibt, weit weg und außer Hörweite installiert ist. Der Rotor würde in genau gleicher Weise und am gleichen Ort knattern wie in der gewöhnlichen Anordnung. Die Mühe der Leerstellensättigung führt also an je eigene Klangorte der beiden pauschalen Klangeigenschaften. Damit erfolgt ein angemessener Ausdruck der pauschalen Klangeigenschaften in zwei Prädikationen:

Das Schwingungsereignis an der laufenden Turbine ist ein Fauchen und damit ein Klang. Das Schwingungsereignis am laufende Rotor ist ein Knattern und damit ein Klang. (2) Die Wege bei der Suche nach dem Klangereignisort vom Dröhnen und Knattern des alten Rasenmähers teilten sich bis zuletzt nicht. Am Auspuff dröhnt und knattert es. Die beiden phänomenalen Klangaspekte bilden ontologisch damit 1 Eigenschaft und müssen in 1 Klangprädikat ausgedrückt werden. (Der Umstand der Konjunktion beider phänomenaler pauschaler Eigenschaften in 1 ontologischen Eigenschaft drückt sich allerdings auch hier immer in der zweitstufigen Eigenschaft aus, ein (1!) Klang zu sein.) Der Aussagesatz lautet somit: Das Schwingungsereignis am Auspuff des laufenden Rasenmähers ist ein Dröhnen und ein Knattern und damit ein Klang. (3) Im Park waren unterschiedliche Klangorte identifizierbar: das Rascheln am Laub auf dem Boden, das Brausen am Laub in den Bäumen. Wie beim Hubschrauber (1) ändert der Umstand, dass die beiden Klangereignisse über den Wind als treibende Kraft kausal gekoppelt sind, nichts daran, dass die beiden Klangorte nicht nur eine je eigene phänomenale, sondern auch eine je eigene physische Eigenlogik entfalten. Somit ist sind zwei Aussagesätze der angemessene klangprädikative Ausdruck: Das Schwingungsereignis des über den Boden wirbelnden Laubs ist ein Rascheln und damit ein Klang. Das Schwingungsereignis an den belaubten Ästen der Bäume ist ein Brausen und damit ein Klang. (4) Das Rauschen der Autobahn bleibt auch bei Annäherung auf die gesamte Autobahn bezogen. Das Brummen hingegen stammt von einzelnen Lastern.

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Dass sie auch zum Rauschen beitragen und Teil des Klangereignisindividuums, das rauscht, sind, spielt keine Rolle. Denn die Umkehrung, dass das Verkehrsgeschehen insgesamt zum Brummen beitrüge, gilt nicht. Somit müssen zwei separate Prädikationen gebildet werden: Das Schwingungsereignis des Verkehrsgeschehens auf der Autobahn ist ein Rauschen und damit ein Klang. Das Schwingungsereignis dieses vorbeifahrenden Lastwagens ist ein Brummen und damit ein Klang. (5) Das Donnergrollen beim Gewitter mag zunächst den Fällen (1), (3) und (4) ähneln, da wie bei diesen die pauschalen Klangeigenschaften des Donnerns und des Grollens an unterschiedlichen Hörpunkten auftreten. Aber entsprechen den Hörpunkten auch je eigene Klangereignisindividuen? Das ist nicht der Fall. Der Explosionsdonner des Blitzes in Einschlagnähe ist mit dem Grollen über die großen Distanzen nicht nur kausal gekoppelt, die Wellenfront selbst, die in Einschlagnähe die pauschale Klangeigenschaft des Donners hat, geht bei ihrer Ausbreitung kontinuierlich in die Klangeigenschaft des Grollens über. Auch nah am Einschlagpunkt übrigens wird das Grollen gehört, sofern es einige Reflexionsflächen gibt, die das Grollen an der Wellenfront umlenken und an den Entstehungspunkt zurückspielen. Gleich wo der Hörer positioniert ist, er hört ein und dasselbe Klangereignisindividuum. Daher müssen beide pauschale Klangeigenschaften zu einem prädikativen Satz zusammengefasst werden: Das Schwingungsereignis des Blitzes ist ein Donnern und ein Grollen und damit ein Klang. (6) Das Laubrechen im Park, das ein Kratz- und ein Fauchgeräusch bewirkt, hat von allen Fallbeispielen am klarsten einen einzigen Klangort, den Punkt nämlich, an dem die Zinken des Rechens jeweils den Boden berühren. Folglich kann nicht mehr als eine Prädikation formuliert werden: Das Schwingungsereignis des über den Boden gleitenden Rechens ist ein Kratzen und ein Fauchen und damit ein Klang.

Kurz und bündig können wir aus dieser Überlegung folgendes vierte Kriterium gewinnen: Die Entität, auf die ein pauschales Klangprädikat referiert, ist nicht das Klangindividuum selbst, sondern der phänomenale Gehalt eines Klangindividuums. Ein Klangindividuum kann am selben Ort und zur selben Zeit von ein und demselben Bewusstsein mit zweierlei phänomenalem Sinn aufgefasst und dementsprechend mit zwei (oder mehr) unterschiedlichen pauschalen Klangprädikaten gekennzeichnet werden. Auch dieser Umstand deutet wieder darauf hin, dass Klänge keine gewöhnlichen Individuen wie Motorräder, Hubschrauber oder Rechen sind.

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Die gleichzeitigen Mehrfachphänomenalitäten in den Beispielen eröffnen eine Komplexität des intendierten Individuums bei unveränderter Wahrnehmungsperspektive, die auf eine Mehrdimensionalität des Individuums selbst hindeutet. Diese ist erst über die Ereignishaftigkeit des Individuums erklärlich.

1.1.5

Ort von Klängen

1.1.5.1

Phänomenologische Annäherungen

Der Gehörsinn vieler Lebewesen ist bekanntermaßen in der Lage, die Richtung der Schallausbreitung und – etwas weniger präzise – die Entfernung der Klangquelle zu bestimmen. Beide Parameter in Kombination ergeben den Ort der Klangquelle. Wir hüten uns allerdings davor, mit dem Begriff des Orts eines Klangs leichtfertig umzugehen. Mindestens zweierlei ist zu bedenken. Erstens sollte man sich den Ort, von dem ein Klang seinen Anfang nimmt, nicht als Punkt im Raum vorstellen. Fälle wie ein singulärer Lautsprecher, der in einer völlig resonanzfreien Umgebung steht oder besser hängt, mit viel Luft nach unten, und von dem aus sich Luftschwingung in ungestörter Kugelform ausbreiten kann, sind idealisierte Abstrakta und real kaum irgendwo anzutreffen. In der Realität ist es meist ein Ensemble von schwingenden Dingen, das selbst eine räumliche Ausdehnung hat. Motorräder, Violoncelli, Straßenbahnen und Wasserfälle sind keine Raumpunkte, sondern nehmen selbst Raum ein, teils erheblichen. Zweitens ist der Ort dessen, was landläufig als Klangquelle (Motorräder etc.) benannt wird, nicht identisch mit dem Ort des Klangs. Unsere Überlegung wird darauf hinauslaufen, dass nur vom Ort des Klangs sinnvoll gesprochen werden kann. Der Ort einer Klangquelle, was nämlich soll das sein? Ist es der Elektromotor der Straßenbahn? Das Fahrwerk? Wenn das Fahrwerk, gehören dann nicht auch die Schienen dazu, auf die sich die Schwingungen des Fahrwerks ja übertragen? Und wenn die Schienen, dann nicht auch das Gleisbett? Und so weiter. Nicht einzelne Dinge schwingen, sondern Schwingungssysteme. Dazu gehört, was nicht oft genug wiederholt werden kann und worauf noch eigens eingegangen wird (1.2.1), am Ende auch die Luft als das Ding, mit dem das menschliche Hörorgan im physischen Kontakt ist. Konsequent schwingungsmechanisch gedacht kann zwischen Schwingungsquelle und

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Schwingungsmedium gar nicht getrennt werden. Alles, was schwingt, ist Klang-›Quelle‹. Damit ist am Ende der Ort der Klang-›Quelle‹ mit dem Ort des Klangs zusammengefallen. Die ontologische Bestimmung des Orts muss daher die Bestimmung des Orts des Klangs insgesamt sein. Selbstverständlich gibt es Richtungen, in die ein Klang sich ausbreitet, oder genauer: in die sich ein Klangort ausdehnt. Das hängt zunächst von den Raumdimensionen der Medien des Schwingungssystems (ein-, zwei- oder dreidimensional) und der Wellenart (longitudinal oder transversal) ab. Im Volumenmedium Luft, das früher oder später ins Schwingungssystem einbezogen wird, breiten sich Wellen idealerweise kugelförmig aus. Faktisch wird die Ausdehnung durch die Geländegeometrie geformt, wodurch sich die Ausdehnungsrichtung nicht nur einschränkt, sondern rasch komplex wird, da an den Reflexionsflächen die Einfallswinkel der Wellen gespiegelt werden. Wenn wir von der Fähigkeit des Gehörsinns reden, eine Klangrichtung wahrzunehmen, dann kann das immer nur eine einzige von den vielen Richtungen sein, in die sich der Klangort ausdehnt, und auch nur eine in einem bestimmten Zeitfenster, das nie mit dem Gesamtzeitraum der Extension des Klangorts identisch sein kann. Allein dadurch wird deutlich, wie beschränkt das gehörte Phänomen im Vergleich zur Dynamik des Zeit-Orts des Klangs insgesamt ist. Was das Ohr richtungsmäßig erfassen kann, ist der Einfallswinkel relativ zur Projektionslinie des Hörorgans. Das geschieht durch die winzigen Laufzeit- und Schalldruckdifferenzen zwischen den beiden Ohren. Diese betragen allerdings 0, wenn die Schallwellen das Hörorgan entlang der Projektionslinie passieren. Ob die Wellen von vorn nach hinten, von hinten nach vorn, von oben nach unten oder von unten nach oben durchlaufen, muss folglich auf andere Art wahrgenommen werden, und zwar mittels Resonanzen im Außenohr. Zusammengefasst firmieren diese Vermögen des Gehörssinns unter dem Begriff des binauralen Hörens. All das deutet darauf hin, dass es bei der phänomenalen Bestimmung der Entfernung einer Klang-›Quelle‹ vom Hörort und einer Abschätzung des Orts der ›Quelle‹ noch wesentlich vager zugeht. Weil der Klangort sich über die gesamte Zeit ausdehnt, in der das Klangindividuum existiert, und jedes Hörphänomen aus diesem Gesamt-Zeit-Raum nur einen zeit-räumlichen Ausschnitt erfasst, ist jedes Bestimmen eines Orts der ›Quelle‹ stets eine Rückprojektion vom gehörten Ausschnitt her. Es muss von der aktuell gehörten Schwingungscharakteristik her imaginiert werden, wie die Schwingungscharakteristik zu einem Zeit-Ort-Punkt 0 gewesen sein könnte, um aus

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der Differenz abzuschätzen, welche zeit-räumliche Ausdehnung seitdem stattgefunden hat. Freilich werden Zeit und Distanz nicht als solche phänomenal explizit. Sie bleiben unbewusste Parameter in der Bestimmung des vermeintlichen Null-Orts. Die unbewusste Abschätzung bedient sich vornehmlich des Umstands, dass im Medium Luft hochfrequente Schwingungen schneller zum Erliegen kommen als niederfrequente. Um daraus aber die Entfernung eines Null-Orts abschätzen zu können, muss man wissen, wie sich die Schallquelle aus der Nähe anhört und welche hohen Frequenzen, die nahe an der Schallquelle noch existierten, nun fehlen. Sprich, man muss identifizieren, was man hört: Man muss eine pauschale Eigenschaft der Klangquelle und fast immer auch damit einhergehend eine pauschale Eigenschaft des Klangs identifizieren, etwa die pauschale Eigenschaft, ein Motorrad zu sein, und die pauschale Klangeigenschaft, ein Dröhnen zu sein. Erst dann lässt sich eine relative Dumpfheit bestimmen und über den Vergleich mit den hypothetischen Klangeigenschaften am Null-Ort eine Entfernung abschätzen. Wer noch nie im Leben ein Motorrad gesehen und gehört hat und wer nicht weiß, was überhaupt ein Motorrad ist, steht buchstäblich im auditiven Niemandsland. Ortsabschätzungen von Klang›Quellen‹ sind in höchstem Maß erfahrungsbasiertes Wissen. Und hier sind wir beim Kern des Problems angekommen. ❮ H ö r b a r e r Z e i t - R a u m - W u r m ❯ Selten einmal ist eine Hörposition so glücklich. Wir stehen am Silvestertag 2018 in der Abenddämmerung am höchsten Punkt eines Weinbergs im Schwäbischen. Vor uns der Abhang, der sich unterhalb der Reben in ein enges Bachtal hinein fortsetzt. Danach steigt das Gelände wieder an und bildet einen Gegenhang. Er verläuft nicht ganz parallel zum Weinberg, sondern bildet mit ihm nach Westen hin einen offenen Trichter. In die winterliche Stille fällt ein Knall, der offenbar aus einem Jagdgewehr – oder ist es ein vorzeitig verschossener Silvesterböller? – östlich auf unserer Hangseite stammt. Es folgt ein faszinierendes fünfsekündiges Hörspiel. Wir vernehmen, wie die Wellenfront von Ost nach West den Gegenhang entlangläuft, bis sie sich für uns und wohl auch absolut schwingungsmechanisch in der Öffnung des Geländetrichters verliert. Sie rollt förmlich durchs Tal. Wir hören also das in Kontinuität, was man per definitionem eigentlich nur als kurzes einmaliges Klangphänomen hören kann: die Ausbreitung einer Druckwelle (mit extremem Anstieg der Amplitude) und Sekundenbruchteile danach die Ausbreitung des Druckwellenendes (mit extremem Abfall der Amplitude). Anders und phänomenologisch paradox gesagt, wir hören einen langgezogenen Knall. Zugleich hören wir den Donner, der aus dem Knall resultiert. Schwingungsmechanisch besteht er

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zum einen aus den diffusen Schwingungen auf der Rückseite der Wellenfront, die sehr schnell abebben. Dieses kurze Rauschen zieht die Wellenfront wie einen Klangschweif hinter sich her. Zum anderen entstehen schwache Echoeffekte im Geländetrichter, die aufgrund des schnellen Erlöschens der höher-frequenten Schwingungen nur noch als richtungslos grummelnder Donner zu hören sind. Ab kurz nach dem ersten Moment hat der von mir gehörte Klang also – wieder einmal – zwei pauschale Klangeigenschaften gleichzeitig. Durch Ko-Individuierung mit partikularen Eigenschaften wie zum Beispiel der Lautstärke sind sie zeit-räumlich lokalisiert – aber nicht statisch, sondern ereignishaft: An das Durchlaufen von Zeitpunkten ist das Durchlaufen von Raumpunkten gekoppelt. Man kann aus der Raum-Zeit-Dynamik grob auf den Ort des Büchsenschusses rückschließen. Eine momentane Bestimmung der Richtung, aus der ein Klang zu einem bestimmten Zeitpunkt mein binaurales Hörorgan passiert, bringt für die Bestimmung des Ursprungszeitpunkts des Klangs offenkundig überhaupt nichts. Das gilt im Prinzip für jede Bestimmung von vermeintlichen Orten von Klangquellen. Was sich immer bestimmen lässt (oder fast immer, je nach Winkel der Achse zwischen den Ohren), ist die Richtung, aus der eine Schwingungscharakteristik vorbeizieht. Was man nur sehr selten einmal hört, ist die Richtungsänderung der Schwingungscharakteristik, der freilich keine absolute Änderung der Ausbreitungsrichtung zugrunde liegt, sondern nur eine relativ zur Hörposition. Die Phänomenalität der Richtungsänderung ist somit reduzibel auf die Ontologie der Ausbreitung einer Schwingungscharakteristik. In beiden Fällen ist die Bestimmung des Ursprungsorts ein Rückschluss, im zweiten Fall etwas sicherer, im ersten etwas unsicherer. Was man ebenfalls nie hört (und selten bei andauerndem Wahrnehmen einer Richtungsänderung eines Klangs gewissermaßen als gedank-liches Integral einer Veränderungslinie erahnen kann), ist der Gesamt-Zeit-Raum, den ein Klangereignis an seinem Ende eingenommen haben wird.

Die Psychoakustik und die Hörphänomenologie für sich bringen uns bei der Ontologie des Orts von Klängen nicht weiter. Sie funktionieren über Annahmen zur tatsächlichen zeit-räumlichen Ausdehnungsdynamik des gehörten Klangs, die sie nicht in der Lage sind zu überprüfen, von der sie selbst aber im Fall der Irritation erbarmungslos korrigiert werden. Sie können wie im obigen Abschnitt ein Ausgangspunkt sein, um sich dem Entstehungsort eines Klangs anzunähern. Wie wir aber gesehen haben, bewegt man sich damit zugleich von seiner Phänomenalität weg und ist ab einem bestimmten Punkt zu ontologischen Bestimmungen gezwungen, die mit der ursprünglichen Phänomenalität nichts mehr zu tun haben und vielleicht sogar konträr zu ihr stehen. Wir stehen also vor der Aufgabe, eine Ontologie des Klangorts zu finden, die unabhängig ist von phänomenalen Ortsabschätzungen.

48 | Kapitel 1

1.1.5.2

Ortsbestimmung über Ko-Individuierung von Eigenschaften

Wir sehen ein Motorrad, wir entdecken in der Menschenansammlung einen Freund, wir erblicken einen Gletscher, wir sehen eine alte Frau. Der Existenzquantor, der hier semantisch und logisch zum Einsatz kommt, verdeutlicht, dass der Seh-Sinn (und hier kann man den Begriff des Sinns nicht nur somatisch, sondern semantisch nehmen, vgl. 2.2.2 zum Fregeschen Sinnbegriff) seine Inhalte zumeist in individueller Einheit und Ganzheit erfasst. Wohl sagen wir ebenso existenzquantifizierend »da ist ein Geräusch«, »I hear a sound«. Es schwingt die ontologische Wahrheit mit, dass Sounds Individuen sind. Allerdings müssen wir zugeben, dass das, was wir hören, in den seltensten Fällen Individuumscharakter hat. Vom Gesehenen unterscheidet sich das Gehörte maßgeblich dadurch, dass der eine Hörmoment meist nicht ausreicht, um einen Klang in seiner ganzen Individualität zu erfassen, und zwar schon deshalb nicht, weil wir den gesamten Zeit-Raum der Ausdehnung eines Schallereignisses von unserem Hörstandpunkt aus kaum je über-hören können. Am Hörstandpunkt bietet sich nur ein Bündel von Klangeigenschaften, pauschalen wie partikularen. Meist ordnen wir sie dann recht pragmatisch Klängen zu, wenn wir die Klangquelle mitbenennen können: der Sound des Motorrads, der Klang der Amsel. Die psychoakustische Entfernungsabschätzung wird so auf die zeit-räumliche Ausdehnung des Klangs insgesamt extrapoliert. Kennen wir keine pauschale Eigenschaft der Klangquelle, bleibt die phänomenale Intuition, einen Klang in seiner Individualität erfasst zu haben, typischerweise aus. Worin genau besteht die phänomenale Unklarheit? Sie besteht darin, dass wir die wahrgenommenen Klangeigenschaften der Vielzahl sich überlagernder Klangereignisse nicht zuordnen können. Einmal mehr also eine phänomenologische Grenze, die, wenn man sie in Richtung einer ontologischen Lösung überschreiten will, zu einer Ortsfrage wird. Das lässt sich intuitiv etwa so einsichtig machen, dass man überlegt, an welchem Zeit-Raum-Punkt die phänomenal erfassten Eigenschaften individuiert sind und welche größeren Klanggeschehnisse (um den Individuumsbegriff hier noch zu vermeiden) momentan diesen Zeit-Raum einnehmen. Das kann freilich nur ein erster Schritt hin zu einer Antwort sein. Die weiteren Schritte müssen darin bestehen, das Zeit-Raum-Segment nach rückwärts und nach vorwärts näher zu erkunden: Wo kam der Klang her, wo geht er hin? Schließt das

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gegenwärtig wahrgenommene Bündel von Eigenschaften kontinuierlich an die Zustände vorher und nachher an? Welche Rolle spielen Kriterien wie die zeit-räumliche Kontinuität, diachrone und dialokale Identität für die Individualität eines Klangs allgemein? Ein minimales Vorher und Nachher ist ja schon in einem einzigen auditiven Wahrnehmungsakt gegeben, und zwar durch die winzige Zeitspanne, in der das binaurale Gehör aktiv werden kann und gewissermaßen einen auditiven Differenzialquotienten aus dem Kontinuum der akustischen Rohdaten bildet. Es ist hilfreich zu vergleichen, wie sich die Problematik bei nichtklanglichen Entitäten darstellt. Betrachten wir zum Beispiel die beiden Farbeigenschaften weiß und grün, die vor mir im Hörsaal erscheinen. Die Ausgangsfrage ist auch hier: Zu welchem Individuum gehören sie? Die dunkle grüne Farbeigenschaft ist flächig und glatt individuiert, wird aber von dem in feinen Linien individuierten Weiß, das auf derselben Ebene liegt, durchbrochen. Das Alltagsbewusstsein hat keine Schwierigkeiten, Individuen zu benennen, an denen die Farbeigenschaften individuiert sind: für das Grün die Tafel, für das Weiß die Notenlinien. Für die Zuordnung zu Individuen und für die Begründung der Einheitlichkeit und damit Individualität der Individuen ist die Frage, an welchem Ort die Eigenschaften individuiert sind, offenkundig höchst relevant. Das Grün ist mit der Ortseigenschaft einer flächigen Ausgedehntheit nach allen Seiten ko-individuiert. Ein weißes Moment an einer kleinen Stelle setzt sich linienförmig nach links und rechts fort, und das an fünf Linien gleichen Abstands, auf die in größerem Abstand weitere fünf weiße Linien gleichen Abstands folgen. Aber die Ko-Individuierung mit derartigen Ortseigenschaften, die insgesamt so etwas wie eine Form der Grün- und der Weiß-Momente ergeben, reicht alleine noch nicht hin, um aus der Formgebung der Grün- und der Weiß-Flächen ein Individuum zu konstituieren. Es bedarf weiterer ›Eigenschaften‹, die die Ganz- und Einheitlichkeit der grünen Fläche (mit und trotz ihrer weißen Unterbrechungen) sowie der weißen Linien konstituieren. Hier setzen die nach wie vor kontroversen Grundsatzdebatten zur Individuation in der Ontologie an. Die klassische platonistische Antwort ist, dass alle Eigenschaften und damit auch diejenigen, die ich pauschale nenne, als abstrakte Individuen existieren, die die Ko-Individuierung von Eigenschaften entsprechend steuern. Folgt man Aristoteles, wird das principium individuationis von den Substanzeigenschaften übernommen, also etwa den Eigenschaften, eine Tafel zu sein oder eine Notenlinie zu sein. Sie fallen

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semantisch mit unseren pauschalen Eigenschaften zusammen, ontologisch aber machen sie weiter reichende Annahmen (die wir in 2.2.1 für die pauschalen Klangeigenschaften erörtern werden und ablehnen). Naheliegenderweise sind derartige Individueneigenschaften, die man ja für alles annehmen muss, was irgendjemand je einmal wie ein Individuum aufgefasst hat, schon immer auf Skepsis gestoßen. Will man die Individualität nicht in einer Gesamteigenschaft vorwegnehmen, die dann nur durch die Individuierung kleinteiliger Eigenschaften realisiert wird, kommt man zu der Annahme von Substraten, semantisch völlig abstrakten Gefäßen, etwa eine bestimmte Raum-Zeit-Position (Armstrong, Quine, ähnlich bereits Locke).11 Den Verfechtern der haecceitas (so genannt von Schülern des Duns Scotus) als principium individuationis ist auch das noch zu konkret. Sie verweisen darauf, dass man Dinge demonstrativ als »dies« (haec) aufweisen kann und jene ›Diesheit‹ die Individualität von ko-individuierten Entitäten herstellt. In diese komplexe Problemlage können wir hier nicht einsteigen. Wir müssen das auch gar nicht, denn bei näherem Hinhören lässt sich die Individuierung von Klängen über die Zeit-Ort-Bestimmung recht einfach erläutern. In der Tat stellen sich, wenn man die kausale Ereignishaftigkeit von Klängen ernst nimmt, die obigen Schwierigkeiten gar nicht. Klänge sind Schwingungsereignisse, und wie alle Ereignisse sind Schwingungsereignisse eine Serie von Zuständen, die kausal miteinander verkettet sind. Schon weil die Zeitdimension maßgeblich im Spiel ist und jedes Ereignis die Welt verändert, können keine zwei Ereignisse einander völlig gleichen. Wie alle Individuen sind Ereignisse Unikate, durch die zeitliche Extensivierung aber in besonderer Weise. Ein und dasselbe Buch kann jetzt hier und in fünf Sekunden dort liegen und ist doch dasselbe; ich kann aus ihm eine Seite herausreißen und es ist immer noch dieses Buch, das vorher die Seite noch hatte. Wir kommen auf dieses Thema der diachronen Identität von Individuen gleich wieder zurück; sie muss in der schwächeren Form auch für Ereignisindividuen gelten, dass ein Ereignis, das zwischen t1 und t3 existiert und zu t1, t2 und t3 einen anderen Gesamtzustand und eine andere Raum-Zeit-Position hat, dennoch dasselbe Individuum bleibt. Das Ereignis muss seine Individualität nicht gegen Veränderungen einiger seiner Eigenschaften verteidigen. Es ist geradezu definiert durch Veränderung, aber eine kausal kontinuierliche Veränderung, die, da ein Schwingungsereignis

11 Vgl. die Erörterung der Positionen bei Wachter (2000), S. 165ff.

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ein materielles Geschehen ist, immer auch eine raum-zeitlich kontinuierliche ist. Die Frage nach der Zugehörigkeit einer Klangeigenschaft zu einem Klangindividuum stellt sich daher so: Zu welchem der kausal kontinuierlichen Schwingungsereignisse, die sich am Ort l0 zu t0 überlagern, gehört die Eigenschaft? In welchen sich kausal ausdehnenden Zeit-Raum ist sie eingeschrieben? Ich halte diese Frage prinzipiell für beantwortbar, und zwar wegen der Gültigkeit des Theorems der Entwicklung beliebiger periodischer Funktionen in Fourierreihen. Wenn ich damit richtig liege, heißt das, dass über die Beantwortung sich indirekt die Ortsfrage hinsichtlich des gesamten Klangereignisses angehen lässt. Und wenn man wiederum diese Basis gewonnen hat, lassen sich Klangereignisse prinzipiell auch abzählen. Wie nun ist sie zu beantworten? Wie ließe sich bestimmen, wie eine zeiträumlich lokal individuierte Klangeigenschaft in das kausale Kontinuum nach vorn und nach hinten eingefügt ist? Die Antwort ist in zwei miteinander verschränkten Aspekten gegeben: zum einen, indem die Eigenschaft mit anderen Eigenschaften ko-individuiert ist; zum anderen, indem die KoIndividuierung genau jenes Zeit-Raum-Segment aufspannt, das eine Zuordnung des Segments und damit auch der fraglichen Eigenschaft zum Ereignis-Zeit-Raum insgesamt erlaubt. Betrachten wir das auf einer physikalisch ziemlich elementaren Ebene von Eigenschaften (von der aus man anschließend leicht auf pauschalere Eigenschaftsebenen wechseln kann). Schwingung ist eine zeitlich und richtungsmäßig koordinierte Auslenkung angrenzender Materieteilchen aus ihrem Ruhepunkt in einer periodischen Hin- und Herbewegung. Da der Betrag der Bewegungsenergie bei der Hinbewegung nicht identisch ist mit dem der Rückbewegung, weil ein Teil davon in (innere und äußere) Reibungsarbeit fließt und sich dort in Wärmeenergie umwandelt, bleiben die Raumsegmente, in denen sich die Dichte periodisch erhöht und verringert, nicht an ihrer Stelle stehen, sondern wandern wellenförmig in Ausbreitungsrichtung durch das Medium. Diese basale Beschreibung eines Schwingungsereignisses kann als Ko-Individuierung von Eigenschaften gefasst werden: Die Bewegungseigenschaft eines Materieteilchens (zum Beispiel die Eigenschaft Pv, sich linear mit der Geschwindigkeit V zu bewegen) ist eben die Bewegung dieses Teilchens und daher ko-individuiert mit seinen anderen Eigenschaften. Man kann zum Beispiel die Ko-Individuierung dieser in der Akustik Schallschnelle genannten Eigenschaft mit der Eigenschaft des Abstands zu einem benachbarten

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Teilchen betrachten. Diese Ko-Individuierung firmiert in der Akustik als Dichteeigenschaft Pρ. Diese Eigenschaft wiederum in Ko-Individuierung mit (mathematisch in diesem Fall: multipliziert mit) der Schallgeschwindigkeit im jeweiligen Medium ergibt die Impedanz, ein wichtiger Materialkoeffizient für die Bestimmung der Größen im Schallfeld. Erst aus der Kombination von Bewegungseigenschaft und Koeffizienteneigenschaft ergibt sich eine Charakteristik, in der das Teilchen seine Bewegungsenergie an ein angrenzendes Teilchen weitergibt. Die klassischen Schwingungsgrößen und Schwingungsfeldgrößen der Akustik beruhen auf der ontologischen KoIndividuierungen von Eigenschaften, von denen sie jeweils bestimmte herausgreifen und allgemeine Aussagen zur Quantität ihres Ko-Individuiertseins machen. Weiter, diese Ko-Individuierung von Eigenschaften verursacht eine KoIndividuierung derselben Eigenschaften in einem angrenzenden Zeit-Raum, allerdings aufgrund von Reibungsarbeit in veränderter Quantifizierung. Sie konstituiert also Kausalität. Sie konstituiert damit auch eine zeitliche und eine räumliche Ausdehnung. Geschwindigkeit ko-individuiert mit der Koeffizienteneigenschaft fixiert die Zeitdifferenz, in der das benachbarte Teilchen reagiert, wie auch die räumliche Distanz, in der pro Messzeiteinheit sich eine Reaktionskette gebildet hat. Kurz: Die Ko-Individuierung der Eigenschaften des Teilchens an sich (Koeffizienten) und der Eigenschaft seiner Lageänderung (Richtung und Weg bzw. seine Zeitableitungen Geschwindigkeit und Beschleunigung) spannt den Ereignisraum der Kausalkette auf. Freilich bildet eine Ko-Individuierung von Eigenschaften immer nur ein Zeit-Raum-Segment. Um den Zeit-Raum des gesamten Schwingungsereignisses zu erhalten, muss man die Zeit-Räume aller Ko-Individuierungen, die kausal auseinander hervorgehen, aufsummieren. (Dass diese Summe nicht zum Zeit-Raum der gesamten Welt trivialisiert werden kann, der von einer göttlichen prima causa in Gang gesetzt wurde, wird im folgenden Abschnitt 1.1.5.3 dargelegt.) Aber uns reicht schon die Bildung eines ZeitRaum-Segments, denn bereits in diesem ist die spezifische Ausdehnungsdynamik enthalten, in der das Segment anwächst und sich potenziell bis zum finalen Zeit-Raum des gesamten Schwingungsereignisses fortentwickelt. Von dieser Antwort her wird deutlich, dass bei Ereignisindividuen zwei klassische Probleme der Individuenontologie sich gar nicht stellen. Nichtereignishafte Individuen müssen, erstens, diachron identisch, d.h. zu verschiedenen Zeitpunkten dieselbe Entität sein. Das ist deshalb eine nicht-

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triviale Bedingung, weil zumindest materielle Individuen von einem zum nächsten Zeitpunkt stets bestimmte Eigenschaften einbüßen und andere hinzugewinnen. Bei Lebewesen sterben permanent Zellen ab und neue entstehen. Bei anorganischen Individuen findet permanent radioaktiver Zerfall und periphere Veränderung der Molekülanzahl durch mechanische Einflüsse statt. Dennoch bleibt dieser Kirschbaum in Nachbars Garten dieses Individuum und jener Bergkristall, den ich am Lagginhorn gefunden habe und der jetzt um einige Krümel verkleinert in meinem Wohnzimmerschrank liegt, jenes steinerne Individuum. Mein Auto bleibt dieses Individuum mit der pauschalen Eigenschaft des Autos, auch wenn die Bremsklötze getauscht wurden, ja selbst wenn es einen Totalschaden durch Brand erlitten hat. Die aktuelle Ontologie tendiert dahin, dieser Problematik mit dem Vierdimensionalismus zu begegnen.12 Die Individuen darin sind sogenannte RaumZeit-Würmer – was letztlich auf eine Art Ereignisförmigkeit aller materiellen Individuen hinausläuft. Bei den Klangereignissen ist die Bedingung der diachronen Identität allein dadurch erfüllt, dass die Gesamtzustände des Klangereignisses an zwei unterschiedlichen Zeitpunkten durch eine lückenlose Kausalkette verknüpft sind; dass sich zwischenzeitlich Veränderungen ergeben haben, liegt im Definitionsbereich von Kausalität. Eine zweite Problemstellung ist die räumliche Kontinuität. Materielle Individuen nehmen oft ein kontinuierliches Raumsegment ein. Aber das scheint nicht für alle materiellen Individuen zu gelten, etwa nicht für dieses Bienenvolk auf der Obstbaumwiese am Fuß der Schwäbischen Alb, das trotz des Regenwetters heute viele unverbundene Raumsegmente einnimmt. Auch um dieses Problem müssen wir uns nicht kümmern, wenn wir uns konsequent an dem folgenden Kriterium orientieren: Sobald räumliche Diskontinuität im Schwingungsereignis eintritt, ist die Raum-Zeit-Gesamtheit des Klangs an einer Existenzgrenze angekommen. Wenn jenseits davon ein Klangereignis existiert, ist das ein anderes Individuum. Phänomenal liegt das aber nicht immer offen zutage. Ist das Knattern eines nahenden Hubschraubers 1 kontinuierliches Klangereignis oder viele, nämlich rund 10 diskontinuierliche Knalle pro Sekunde (bei der gewöhnlichen Rotordrehzahl von Hubschraubern)? Mitzählen lässt sich eine solche Frequenz zwar nicht, aber auflösen in viele Einzelphänomene sehr wohl. Ein Mikrofon am Hörstandort könnte tatsächlich Messdaten liefern, in denen zwischen den Ausschlägen

12 Sider (2001).

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kurze Zeitspannen der Ruhe herrschen. Aber Wahrnehmungsdaten an einem Punkt des Ereignis-Zeit-Raums können nicht ausschlaggebend sein. Die zeiträumliche Kontinuität der Schwingung kann an dieser Stelle unterbrochen und insgesamt dennoch gegeben sein. Rund um die Energiequelle des Klangs, die sich drehenden Rotorblätter, ereignet sich ein raum-zeitlich kontinuierliches Schwingungsgeschehen. Der Schlag, der zumindest zu markanten Amplitudenmaxima oder vielleicht zu kurzen periodischen Lücken an manchen Raum-Zeit-Punkten des Ereignisses führt, entsteht vermutlich dadurch, dass in den Schleppwirbel des einen Rotors der andere hineinläuft und damit einen kurzzeitigem Überschall bewirkt. Kurz, ob hinter periodischen Klangphänomenen ein Klangereignisindividuum steckt oder aber sehr viele, ist phänomenologisch unentscheidbar. Es ist allein ontologisch entscheidbar, und zwar an dem Kriterium, ob es einen kontinuierlichen Ereignis-Zeit-Raum gibt oder nicht. ❮ V o n S t a h l g e w i t t e r n ❯ Spielt es eine Rolle, wie groß der Raum-ZeitWurm eines Klangereignisses ist und welche Geometrie er hat? Selbstverständlich verneinen wir die Frage. Aber merkwürdig mutet es dennoch an, wenn man Klängen ausgesetzt ist, die die Phänomenalität des Hörens mit extremen Ortsausdehnungen so offenkundig übersteigen. »Auch die akustische Fernwirkung des Artilleriebeschusses auf die Menschen im Hinterland war gewaltig. Bereits aus großer Entfernung kündigte sich die Front für Soldaten und Zivilbevölkerung als dumpfes Grollen und Brodeln an. Die lothringische Schriftstellerin Adrienne Thomas, die 1915/16 als 18-jährige Rotkreuzschwester in Metz eingesetzt war, notierte in ihrem Tagebuch: ›Seit drei Tagen hören wir ununterbrochen den furchtbarsten Kanonendonner, Tag und Nacht. Immer wieder und wieder. Es ist grässlich.‹ Das Haus bebe, die Fensterscheiben klirrten beim Einschlag der Bomben. Der Philosoph Theodor W. Adorno berichtete, als Jugendlicher im Juli 1916 während eines Ausflugs in Hinterzarten im Schwarzwald den Kanonendonner aus der Gegend um Belfort gehört zu haben. Dieser kam von einer großen, bei Zillisheim im Elsass stationierten 38-cm-Kanone, Luftlinie knapp 100 km entfernt. Der Schriftsteller Alfred Döblin, als Militärarzt im lothringischen Saargemünd stationiert, schrieb am 29. März 1916 in einem Brief an einen Freund: ›Mit den Ohren haben wir die Schlachten um Verdun hier mitgekämpft; orientiere Dich auf der Karte, wie weit wir von Verdun sind, und so stark war die Kanonade tags und nachts, dass bei uns die Scheiben zitterten, dass wir Trommelfeuer unterschieden, ganze Lagen Explosionen; ein ewiges Dröhnen, Bullern, Pauken am westlichen Himmel. Jetzt, seit einer Woche, ist alles still; was das ist, wer weiß?‹ Saargemünd lag ungefähr 140 km von Verdun entfernt. Andere berichteten, noch im mehr als 200 km entfernten Straßburg den

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Kanonendonner von Verdun gehört zu haben.« 13 »Unentwegt schreibt Clara Faisst in ihr Tagebuch, was sie erlebt und erfährt, die gesamten Kriegsjahre hindurch. Die Klavierlehrerin und Komponistin aus Karlsruhe schildert Szenen aus ihrer Heimatstadt, aus Straßburg und Metz, kommentiert die Zeitungsmeldungen und fiebert dem Sieg der deutschen Truppen entgegen. Im Februar 1916 liest sie alles, was über die Schlacht vor Verdun berichtet wird. Begeistert notiert sie die schnelle Einnahme des Forts Douaumont. Am 28. Februar überrascht sie dann mit der lapidaren Notiz: ›Den Kanonendonner von Verdun hört man bis hierher.‹ Was hört sie da, die Musikerin? Die Entfernung von Karlsruhe bis Verdun beträgt mehr als 200 Kilometer Luftlinie. Sitzt sie purer Einbildung auf? Will sie wenigstens hören, was sie sich kaum vorstellen kann? Als wolle sie derartige Zweifel zerstreuen, notiert sie am 14. März: ›Der Kanonendonner von Verdun ist stärker hörbar, oft unausgesetzt! Unheimlich!‹ Näher am Kampfgeschehen ist der Militärarzt Alfred Döblin, seit 1915 stationiert in Saargemünd, dem heutigen Sarreguemines, rund 110 Kilometer von Verdun entfernt. ›Wochenlang Kanonendonner von Verdun herüber‹, schreibt er am 29. März in einem Brief. Dass Döblin die schweren Geschütze hören konnte, mag man eher glauben. Doch was er dann berichtet, macht staunen: ›[...] so stark war die Kanonade tags und nachts, dass bei uns die Scheiben zitterten, [...] Explosionen, ein ewiges Dröhnen, Bullern, Pauken am westlichen Himmel.‹ Ähnliches berichten die Aachener Nachrichten. Und in der Chronik von Ingelheim am Rhein, wiederum gut 200 Kilometer Luftlinie vom Kampfgeschehen entfernt, lesen wir unter dem 2. März: ›Der Kanonendonner von Verdun ist nun schon seit 8 Tagen ununterbrochen zu hören. [...] Wohl jeder hat den dumpfen Einschlägen und den Rollsalven der Geschütze gelauscht und mit tiefer Ergriffenheit unserer braven Kämpfer gedacht.‹ Der Literaturwissenschaftler Reinhard Pabst hat eine Reihe weiterer Zeugnisse gefunden. So berichtet Theodor W. Adorno in einem kleinen Aufsatz für die Schule über einen Sommerausflug 1916 mit Mutter und Tante in den Schwarzwald. Da war der Kanonendonner des ›Langen Max‹ zu hören – ein 38-cm-Geschütz von Krupp, quasi der Bruder des 42-cm-Mörsers ›Dicke Bertha‹ –, vom umkämpften, rund 100 Kilometer entfernten Belfort her. In Rüdesheim vernahm der Journalist und Schriftsteller Karl Korn Verdun in der Ferne als ›ein an- und abschwellendes Summen‹. Aus Marburg gar gibt es Berichte über ›lauschlustige und müßige Herren auf dem Schlossberg‹, dort versammelt, um akustische Botschaften von tobenden Kämpfen aufzufangen. In der Summe ergeben diese Schilderungen eine merkwürdige kleine Geschichte der Kriegsakustik. Wer immer die Artillerie aus der Ferne hörte, bekam eine Vorstellung vom modernen Krieg mit seinem technischen Großgerät. Es war wie eine Liveübertragung, ein makabres Faszinosum. [...] In der Zeitschrift Die Naturwissenschaften erschien im August

13 Paul (2013), S. 80f.

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1915 ein Beitrag unter der Überschrift Die Hörweite des Kanonendonners. Erwiesen sei, ›dass die Lufthülle unserer Erde durch das Abfeuern von Kanonen in weit ausgiebigerem Maße erschüttert werden kann als durch den Donner‹ bei Gewittern. Der Verfasser berichtet, Geschützdonner sei ›auf Entfernungen bis zu 100 km und darüber hinaus wiederholt wahrnehmbar gewesen‹. Und er verweist auf ähnliche Beobachtungen aus dem 19. Jahrhundert: ›Die Kanonade bei Königgrätz 1866 ist bei Stift Schlägl in Oberösterreich 230 km [...] weit gehört worden.‹ Heutige Physiker und Meteorologen bestätigen den Befund. Schallenergie breitet sich in geringer Höhe als Halbkugel aus. In höheren Schichten aber, in der Stratosphäre, kommt es zu Reflexionen der Schallwellen, was zu großen Hörweiten führen kann, selbst von Verdun bis Karlsruhe. Insbesondere kräftige Schallwellen tiefer Frequenzen können auf Wanderschaft durch die hohen Luftschichten gehen. Ein damit zusammenhängendes Phänomen beschreibt während des Kriegs die Meteorologische Zeitschrift: Inmitten des Lärms gebe es eine ›Zone des Schweigens‹, heißt es in einer Ausgabe von 1915. So sei etwa die Beschießung Antwerpens zwischen dem 28. September und dem 9. Oktober 1914 bis zu einer Distanz von 100 Kilometern zu hören gewesen – und dann wieder zwischen 160 und 220 Kilometer Entfernung. Dazwischen habe Stille geherrscht. Die Erklärung finden Meteorologen erst später: In den Schichten der Stratosphäre wird es in zunehmender Höhe nicht immer kälter, sondern wieder wärmer. Die Schallwellen werden von diesen wärmeren Schichten zurückgeworfen und kehren auf langer Strecke zur Erdoberfläche zurück. Den Zeugnissen extremer Hörweiten darf man also keineswegs die Glaubwürdigkeit absprechen. Allen möglichen Einbildungen und Übertreibungen zum Trotz trog die Wahrnehmung nicht: Die Einschläge kamen spätestens seit Verdun immer näher.« 14 Was ist es, das die Ohrenzeugen des Ersten Weltkriegs hörten und mit teils naheliegenden, teils merkwürdigen pauschalen Klangeigenschaften wie »Dröhnen, Bullern, Pauken« beschrieben? Es ist nicht die Dicke Bertha und der Stramme Max, jene Kanonen aus Kruppstahl mit Kalibern von über 40 Zentimetern, die bei Verdun und Belfort standen und alle drei bis vier Minuten einen singulären Kanonendonner verschicken konnten. Solche Klangquellen sind aus dem Klang, den Faisst, Döblin und Adorno wahrnahmen, noch weniger zu ermitteln als bei Alltagsklängen. Sicher war grob die Richtung bestimmbar, aus der der Klang kam. Aber wäre man der Richtung nachgelaufen, man wäre dem Ort der Klangquelle nähergekommen, aber zugleich aus dem Klangort hinausgelaufen. Dieser Umstand hätte die Ohrenzeugen noch mehr verblüfft als die riesige Entfernung, die Döblin deutlich macht, dass der Ort, an dem er sich befindet, mit dem Ort der Klangquellen nichts zu tun hat. Die genannten pauschalen Prädikate sind Eigenschaften

14 Osteroth (2016).

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einer Entität, die über das Kriegsgerät weit hinausgeht. Sie begreift die Erdoberfläche und die Reflexionsfläche der hohen Luftschichten in riesigem Ausmaß ein. Man halte Klangbeschreibungen am Ort der Gefechte dagegen, etwa aus Jüngers In Stahlgewittern: 15 »Geschosse pfeifen« (S. 44/45), »Mit den Geräuschen des Krieges noch unvertraut, war ich nicht imstande, das Pfeifen und Zischen, das Knallen der eigenen Ge-schütze und das reißende Krachen der in immer kürzeren Pausen einschla-genden feindlichen Granaten zu entwirren und mir aus all dem ein Bild zu machen.« S. 73). Dieselben Klangquellen präsentieren sich hier in völlig anderen pauschalen Klangeigenschaften als am anderen Ende des Zeit-Raum-Wurms.

1.1.5.3

Ausgeschlossene Bilokalisierung eines Individuums und Unilokalisierung mehrerer Eigenschaften

Wie immer man eine Individuenontologie im Detail ausformuliert, ein eherner Grundsatz muss aufrechterhalten werden: der der ausgeschlossenen Bi- oder Multilokalität eines Individuums. Sonst bricht jede Individualitätsbestimmung zusammen. Diese weinrote BMW R75/5 mit ihrer ein einziges Mal vergebenen Seriennummer existiert zu einem bestimmten Zeitpunkt entweder in der Garage meines Nachbarn oder an der Uferpromenade des Chiemsees. Sie kann nicht bilokal individuiert sein. Mein Nachbar kann allerdings mit ihr von hier nach dort fahren. Er kommt mit demselben Motorradindividuum an, mit dem er losfuhr: diachrone Identität. Zu allen Zeitpunkten der Fahrt nimmt sie ein einziges bestimmtes Raumsegment ein. In diesem Raum-Zeit-Segment kann sich nur dieses Individuum befinden. Zwar kann in dem Segment ein kleineres Raum-Zeit-Segment vollständig enthalten sein, in dem sich ein anderes Individuum befindet, zum Beispiel der linke Auspuff des Motorrads. Aber auch dieses Segment wird vom Auspuff und von keinem Individuum sonst eingenommen. Individualität, diachrone Identität, ausgeschlossene Multilokalisierung eines Individuums und ausgeschlossene Unilokalisierung mehrerer Individuen sind logisch gekoppelte Merkmale einer Entität. Für

15 Jünger (1920). Zit. und Seitenzahlen nach der Edition von Helmuth Kiesel (2013), die die Lesarten von der Erstausgabe 1920 bis zur Fassung letzter Hand 1978 synoptisch bringt.

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andere Arten von Entitäten gilt dieses Quadrupel von Merkmalen nicht, namentlich nicht für Eigenschaften (sofern man kein rigoroser Naturalist ist). Die Eigenschaft, eine BMW R75/5 zu sein, kann zugleich am Gefährt meines Nachbarn und an dem Ding individuiert sein, das auf einem Poster aus einer Motorradzeitschrift, das in seiner Garage hängt, an der Uferpromenade des Chiemsees stehend abfotografiert wurde. Für ereignisförmige Individuen gelten die Merkmale ohne Einschränkung in gleicher Weise. Dadurch, dass für einen sich in einen Zeit-Raum kausal extensivierenden Individuentyp wie dem Ereignis das Merkmal der diachronen Identität hinfällig wird, treten die drei anderen Merkmale desto klarer hervor. Die Individualität des Ereignisses erwirkt, weil sie im Kern kausal ist, ihre eigene und einmalige Lokalisierung. Ereignisindividuen sind, anders als gewöhnliche Individuen, nicht mobil. Sie finden dort statt, wo sie stattfinden. So ist das auch bei Klangereignissen. Der Klang der BMW R75/5 existiert, wenn mein Nachbar von zuhause losfährt und den Motor nicht abstellt, bis er am Chiemsee angekommen ist, dieses eine Mal und in einem einzigen Zeit-Raum-Wurm von rund 350 Kilometern Länge und einigen Metern Durchmesser, der sich in rund vier Stunden extensiviert hat und dessen Existenz danach wieder erloschen ist. Ein Klangereignis k1, das eine bestimmte Ursache hat, kann sich nicht in unterschiedliche Zeit-Räume extensivieren und schon gar nicht in identischer kausaler Weise (ausgeschlossene Multilokalität). Ein anderes Klangereignis k2, das eine andere Ursache hat, kann sich auch nicht in exakt demselben Zeit-Raum wie k1 extensivieren, weil zwei unterschiedliche Ursachen sich nicht an derselben Zeit-Raum-Stelle individuieren können (ausgeschlossene Unilokalität). Wie ist der Fall zu analysieren, dass eine Ursache mehrere Schwingungsformen verursacht? Ein Schlag auf ein Tamtam etwa setzt nicht nur eine ganze Palette von pauschalen Klangeigenschaften frei, sondern von denselben pauschalen Klangeigenschaften auch mehrere in unterschiedlicher Quantität, etwa mehrere voneinander unabhängige Grundtöne samt Obertonspektrum. Aber es ist nicht zu erkennen, dass hier mehrere Klangindividuen unilokalisiert sein könnten. Es ist ein und dasselbe Schwingungssystem, das schwingt, nämlich der Gong. Es schwingt aufgrund einer einzigen mechanischen Einwirkung. Es schwingt ganz einfach so komplex, dass das humane Ohr ein mehrfaches Tönen, ein mehrfaches Klirren, ein mehrfaches Pfeifen und vielleicht dazu noch ein Rauschen, ein Scheppern und ein Krachen hört. All das steckt in ein und demselben Schwingungsereignis.

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❮ K l a n g e r e i g n i s o n t o l o g i e u n d M e d i e n m a t e r i a l i s m u s ❯ Aus dem Merkmal der ausgeschlossenen Multilokalität ergibt sich zudem: Klänge sind keine Typen. Sie sind auch keine Instantiierungen von Typen. Die Kategorie des Typs ist ontologisch nicht unstrittig. Wir können sie uns vereinfacht als etwas zurechtlegen, was ontologisch zwischen Eigenschaften und Individuen liegt. Von den Eigenschaften haben sie das ontologische Merkmal, universal zu sein. Wie jene kann ein Typ an vielen verschiedenen Orten zugleich instantiiert sein. Im vorhergehenden Satz etwa ist 14 Mal der Typ ›e‹ instantiiert, und zwar an 14 verschiedenen Orten. Der Typ ›e‹ ist aber nichts Prädikatives, er hat von den Individuen das ontologische Merkmal, etwas Dingliches zu sein. Aber eben etwas abstrakt Dingliches. In diesem Buch kommen wir mit der Arbeitsthese aus, Typen als charakteristische Eigenschaftsbündel von relationalen Eigenschaften aufzufassen. In der Bündelung steckt die Individuenanmutung von Typen, in der Eigenschaftlichkeit ihr prädikativer Charakter. (In 1.2.2.3 komme ich noch einmal darauf zurück.) In der Alltagssprache tauchen Klänge manchmal als Typen auf, etwa wenn vom ›typischen‹ Sound einer BMW R75/5 oder eines Bösendorfer Imperial die Rede ist. Ontologisch sind sie aber nichts weiter als eine charakteristische Konjunktion von partikularen und vielleicht gelegentlich auch pauschalen Eigenschaften. Mit der unikaten Ereignishaftigkeit von Klängen verträgt sich der ontologische Typ des Typs allerdings schwerlich. Ein Typ muss robust in allen seinen Instantiierungen mit ihren kontingenten physischen Bedingungen erkennbar sein. Ob das ›e‹ vom Laserdrucker auf Standardpapier gedruckt, auf ein LED-Display projiziert, mit Tinte auf Bütten kalligraphiert oder per Nadel in die Haut tätowiert wird, es ist die Instantiierung des Typs ›e‹, wenn einige wenige dürre Strukturen des Typs identifizierbar sind. Aber lassen sich Klangereignisse auf Strukturen reduzieren? Der einzige ontologische Typ im Bereich Sound, der dem meiner Auffassung nach nahe kommt, sind phonographische Daten. (Ob analog oder digital, spielt keine Rolle.) Sie typisieren bereits das originale unikate Klangereignis auf eine quasi-visuelle Weise, die der charakteristischen Abstraktheit, wie sie beim Typus des Buchstabens vorliegt, sehr ähnlich ist: Sie erfassen vom originalen Klangereignis einen sehr kleinen Ausschnitt, nämlich die Ereignissequenz am Hör- bzw. Aufnahmepunkt. Alles Vorherige wird wegabstrahiert. Nun ist für die Typenontologie nicht der Ähnlichkeitsgrad mit einem Original entscheidend, sondern die Ähnlichkeit der Tokens untereinander und mit ihrem Typ. Je nach den physischen Bedingungen des Instantiierungsorts haben die Schwingungsereignisse, die im Instantiierungsmedium erzeugt werden, eine mehr oder minder starke strukturelle Ähnlichkeit. Ob sie ausreicht, um unterschiedliche Tokens eines phonographischen Typs als Instantiierungen anzuerkennen, ist eine Frage der Erkennbarkeit. Aber jetzt sind wir an dem merkwürdigen Punkt angekommen, dass ontologische Fragen von der Gestaltpsychologie entschieden werden. Daher ist mir bei der Typenontologie unbehaglich. Mit einer gesunden materialistischen Medientheorie sind

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phonographische Daten allemal besser erklärt. Sie bewahrt den Sinn fürs Ereignishafte im Wiederholbaren.

Von dem Identitätskriterium, das Donald Davidson für Ereignisse formuliert hat, sind die diversen Tokens eines phonographischen Typs weit entfernt. Davidsons Kriterium lautet: »Ereignisse sind dann und nur dann identisch, wenn sie genau dieselben Ursachen und Wirkungen haben.«16 Für die Individuierung von Klängen ist dieses Kriterium von herausragender Bedeutung. Wir stehen oft genug vor den Schwierigkeiten, die Davidson analysiert hat: Klangereignisse werden in höchst unterschiedlichen Ausdrücken ausgesagt und liegen den Menschen in sehr unterschiedlichen Phänomenen im Ohr. Es gibt semantische Varianten, wenn ich zum Beispiel den Schlag auf den Gong gestern abend um 20 Uhr 37 und 45 Sekunden im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle einmal mit einem stummen Fingerzeig an die Adresse meiner Sitznachbarin quittiere, ein anderes Mal mit dem Satz »Die zierliche Schlagzeugerin, die gestern abend das Tamtam spielte« und ein drittes Mal mit »Der Gongschlag im Takt 395 des Stücks«. Es gibt phänomenale Varianten, wenn ich den Gongschlag als ein fernes Krachen gehört habe, während Franziska, die weiter hinten saß, ihn als sanftes Dröhnen empfunden hat. Die Intuition sagt uns, dass sich alle diese Repräsentationen auf ein und dasselbe Ereignis beziehen, und ontologisch liegt sie hier richtig. Wollte man versuchen, die Identität über die diversen Prädikationen auf ihren diversen Ebenen darzulegen, man würde sich heillos verheddern. Der Knoten löst sich mit Davidsons Kriterium. Die Ursache des Klangereignisses ist, dass am besagten Ort zur angegebenen Zeit ein Gong in Schwingung versetzt wurde. Ob man diese Ursache semantisch mit der Körperbewegung der Schlagzeugerin beschreibt oder mit der Spielanweisung im Takt 395 der Partitur oder sonst irgendwie, ist unerheblich: Es gibt eine physisch exakt umrissene Ursache. Aber gibt es auch eine Wirkung? Oder haben Franziska und ich nicht doch zwei verschiedene Klänge gehört, weil wir sie offensichtlich unterschiedlich gehört haben? Genau das jedoch wäre der Holzweg, auf dem die phänomenologischen Klangtheorien steckenbleiben. Analog zur unendlichen Diversität, mit denen sich die Ursache eines Ereignisses beschreiben lässt, lässt sich auch seine Wirkung in unerschöpflicher Vielfalt beschreiben. Es gab in der besagten

16 Davidson (1969), S. 256.

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Sekunde in der Liederhalle genau einen Gongschlag, und er tat seine Wirkung, und zwar akustisch bei allen organischen und anorganischen Substanzen, die er in Resonanz versetzte, wie auch psychoakustisch in den hunderten von humanen Bewusstseinen, die ihn mental repräsentierten. Die Gesamtbeschreibung der einen Wirkung, die er entfaltete, hätte alle diese Aspekte zu umfassen. Einen Grund, daraus hunderte unterschiedliche Wirkungen zu machen, sehe ich nicht. Ursache und Wirkung grenzen für gestern abend um 20 Uhr 37 und 45 Sekunden ein und nur ein Klangereignis k ein, das auf der Bühne des Beethovensaals der Stuttgarter Liederhalle stattfand und dessen Zeit-Raum-Wurm am Gong begann. Der Begriff der Ursache lässt sich im Sinn unserer obigen Analyse als Ko-Individuierung von Eigenschaften verstehen, die eine kausale Folge von der Form eines Schwingungsereignisses haben. Eine Ursache nimmt also ebenso ein Raum-Zeit-Segment ein wie das eigentliche Ereignis. Raum-ZeitSegmente sind, weil die Zeit unwiederbringlich vergeht, absolute Unikate. Ob die Ursache für ein Klangereignis also durch die Instantiierung eines Typs (wie der Performanz von phonographischen Daten), durch die Willensentscheidung der Schlagzeugerin, des Dirigenten oder des Komponisten, durch die Entscheidung des Intendanten, das Stück aufs Programm zu setzen, oder durch noch andere Umstände zustande kam, ist belanglos. All das gehört auf die unendliche und uferlose Ebene, die Ursache prädikativ zu erfassen. Fakt ist, die Ursache beansprucht ein Raum-Zeit-Segment, das es genau ein einziges Mal im Universum gibt, und sie setzt ein kausales Schwingungsereignis in Gang, das ebenso unikat ist. ❮ Da s Kl a nger ei g ni sk unst w erk im Zeit a lter s ei ner t ec hnisc hen R e p r o d u z i e r b a r k e i t ❯ Die Phonographie wiegt uns menschliche Wesen in der wunderbaren Illusion, sie könne nicht nur Töne, sondern Klänge bannen. Ihre gewaltige Illusionsmacht liegt darin, den einen unwiederbringlichen Moment wiederzubringen, und zwar beliebig oft. Was sie aber bannt, ist nur (oder immerhin aus Sicht der Ära vor den Erfindungen Thomas Alva Edisons und Emil Berliners) eine technische Instantiierungsanweisung für Ursachen von Klangereignisindividuen. Diese Individuen klingen für unser menschliches Ohr sehr ähnlich, zumal wenn dieselben technischen Einrichtungen bei der Instantiierung verwendet werden. Lassen wir zum Beispiel eine meiner Lieblingsplatten, erworben in den 1980er Jahren, 1000 Mal ablaufen. Sie enthält den Rosenkavalier von Richard Strauss in einer Studioaufnahme unter Georg Solti, die zwischen 1958 und 1965 entstand. Das schnell dahingeschriebene Wort »entstand« besagt ontologisch, es gab ein einmaliges Klangereignis, das im Raum-Zeit-Segment der Kingsway Hall im Londoner

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Stadteil Holborn irgendwann zwischen 1958 und 1965 existierte, wo die Decca (und vor ihr andere Labels) ihr Studio aufgebaut hatte. Dieses unikate Klangereignis also ertönte in meinem süddeutschen Teenagerzimmer tausendfach wieder. Zwischen der 153. und 154. Instantiierung dieser analogen phonographischen Datei hörte ich vermutlich keinen Unterschied. Die Schwingungsereignisse allerdings, die am Kontaktpunkt der Plattenspielernadel auf der Vinylscheibe ihren Ausgang nahmen, dieses mechanische Schwingungsereignis in ein elektrisches Schwingungsereignis transformierten, bis es dann vom Magnetantrieb meines Lautsprecherpaars wieder in zwei mechanische Schwingungen verwandelt wurde, waren jedes Mal andere. Nadel und Vinylscheibe fügen sich wechselseitig physische Veränderungen zu. Jedes Mal waren unterschiedliche Staubpartikel im Spiel. Zwischen dem 153. und 154. Klangereignisindividuum hörte ich keinen Unterschied, zwischen dem 1. und dem 1000. muss ich einen gehört haben, der mir allerdings nicht auffiel, weil mein phonographisches Gedächtnis nicht so weit reicht. Überhaupt ist es für die Individuierung von Klangereignissen ziemlich belanglos, wie exakt das humane Hören und das humane Memorieren arbeiten. Es gefällt mir zwar nicht, aber aus diesen Umständen ergibt sich unerbittlich, dass in jedem der 1000 Schwingungsereignisse etwas anders gewesen sein muss. ❮ A s s l o w a s p o s s i b l e ❯ In der Halberstädter Installation von John Cages Stück ORGAN2/ASLSP (»as slow as possible«), die einst an exakt dem Ort ersonnen wurde, an dem ich diese Scholie gerade schreibe – in dieser Installation gibt es mit dem zweigestrichenen e bislang einen Ton, der Stand 2019 zum zweiten Mal erklingt. Die entsprechende Orgelpfeife tönte in der Burchardikirche zu Halberstadt schon zwischen dem 5.2.2009 und dem 5.2.2011 und erneut seit dem 5.10.2013. Auf die Anfrage an die zuständige Orgelbaufirma, ob zwischenzeitlich Wartungsarbeiten an der Pfeife stattfanden, habe ich keine Antwort erhalten. Wie dem auch sei, zweifellos erklingt wieder derselbe Ton. Ontologisch, es ist zum zweiten Mal der musikalische Typ e’’ instantiiert. Aber ebenso zweifellos liegen zwei verschiedene Klangereignisse vor. Die Zeit-Raum-Segmente der beiden Klänge sind allein wegen der unterschiedlichen Klangdauer unterschiedlich. Und das heißt konsequent, die Klänge selbst sind unterschiedliche. Wenn in Cages Werk ein widerständiges Moment gegen die Reproduzierbarkeit der Kunst im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit liegt, dann dieses, dass am einzelnen Klangereignis radikal seine Endlichkeit, sein Sein zum Tode, aufgewiesen wird. Vielleicht nämlich endet das Leben der Orgel schon füher als das Klangereignis währen sollte. Sicher aber wird es am Ende nicht mehr dieselbe Orgel sein wie zu Beginn. Die Dauer beiseite gelassen, lässt sich die Differenz auch am Raum allein aufzeigen. Die entsprechende Orgelpfeife war zwischen 2009 und 2011 in einem zwar minimal anderen, aber eben anderen Zustand als sie gegenwärtig ist und bis zum kompositorischen Ende des Tons

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e’’ am 5.9.2030 gewesen sein wird. Zudem werden sich im Zeit-RaumSegment, das der Klang insgesamt einnimmt, auch außer dem Instrument viele Dinge ändern, die ins Schwingungsereignis einbegriffen sind. Stühle und Bänke, die einen Raumklang nicht unwesentlich beeinflussen, werden hingestellt und entfernt. Menschen werden sich in der Kirche aufhalten und mit ihrer dickeren oder dünneren Kleidung ins Schwingungsereignis eingreifen. Die Luft in der Kirche wird kälter und wärmer, feuchter und trockener sein und damit ihre Materialkoeffizienten ändern, die als Eigenschaften an einer bestimmten Stelle des Ereignisindividuums individuiert werden.

1.1.5.4

Abzählbarkeit

Die Kür jeder Individuentheorie ist: abzählen. Was ein Individuum ist, muss sich zählen lassen können. Jede noch so chaotisch anmutende Lo-FiSoundscape, ein wolkiges Wort aus dem Dunstkreis der Klangökologen, enthält, so die Behauptung in diesem 1. Buchkapitel, eine abzählbare Anzahl an Klangereignisindividuen. Beim Abzählen muss man sich darüber im Klaren sein, wo ein Individuum anfängt und wo es aufhört. Vom Davidsonschen Kriterium der Ereignisindividuation her gedacht ist der Anfang dadurch markiert, dass bestimmte Ursachen in die Wirkung eines Schwingungsereignisses münden. Das Ende des Klangereignisses ist gekommen, wenn das Klangereignis seinerseits die Ursache für bestimmte Wirkungen geworden ist, in die es mündet und die nicht mehr schwingungsförmig sind. Das können physische Wirkungen wie Erwärmung oder psychische Wirkungen wie mentale Zustände sein. Bevor wir die Kür beginnen, müssen bei der Frage nach Anfang und Ende noch einige Unklarheiten ausgeräumt werden. Die beiden Zeit-Raum-Punkte erfordern keine separate Bestimmung. Mit dem Kriterium, dass als Anfang des Schwingungsereignisses die abgeschlossene Zufuhr von nicht-schwingungsförmiger Bewegungsenergie gilt, ist das Ende schon mitdefiniert. Das Ereignis hält an, so lange das Schwingungssystem mit der in ihm enthaltenen Energie schwingt. Ob die Energie durch die Schwingung selbst aufgezehrt wird, ob also die Schwingung ungestört ausschwingen kann, oder ob sie durch eine neue externe Ursache abgezogen wird, etwa eine von außen kommende Bewegung mit Dämpfungswirkung oder ein neues Schwingungsereignis, das teilweise dieselben Zeit-Raum-Segmente einnimmt, ist ontologisch belanglos. Die Schwingung ist zu Ende, wenn ihre intrinsischen

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Eigenschaften die Quantität 0 erreicht haben. (Was eine intrinsische Eigenschaft ontologisch genau ist, erörtern wir in 2.1. Hier genügt der Alltagsbegriff.) Etwas vielschichtiger ist der Anfang. Fraglos kann die Ko-Individuierung von Eigenschaften, die durch das Ziehen des Abzugs an der Büchse des Oberförsters oder durch den Schlag auf ein Tamtam mit einem bestimmten Schlegel in bestimmter Stärke zustande kommt, als Ursache für ein Klangereignis gelten. Die gesamten Schwingungsereignisse, die nun ablaufen, lassen sich lückenlos auf diese Ursachen zurückführen. Ursache und Wirkung sind zu einer Einheit verbunden, die dem Davidsonschen Identitätskriterium für Ereignisse genügt. Aber bei vielen Schwingungsereignissen ist die Unterscheidung von Ursache und Wirkung weniger klar. Wie etwa liegen die Dinge, wenn die Schwingung nicht von einer zeit-räumlich punktuellen, sondern einer kontinuierlichen Krafteinwirkung erregt wird? Der Cellobogen etwa kann unterbrechungslos so lange über die Saite gestrichen werden, wie ein Antriebssystem die Bewegung aufrechterhält. Durch eine Orgelpfeife kann so lange kontinuierlich Luft nichtschwingend einströmen und in Schwingungsform wieder austreten, wie eine Blas-vorrichtung dazu in der Lage ist. Bringt es Verwirrung in die Individuierung, wenn die Ursache dieser Klangereignisse so offenkundig kontingent ist? Wenn wie bei Cages ORGAN2/ASLSP die ursächliche Erregung eines Klangs Jahre oder Jahrzehnte andauert, könnte das in Zweifel ziehen, dass das resultierende Klangereignis kein Individuum mehr ist und irgendwie anders als 1 gezählt werden müsste? Aber bei genauerem Hinsehen ist dafür kein Grund zu erkennen. Ob die schwingungserregende Kraft ein sehr kurz extensiviertes oder ein sehr lang extensiviertes Zeit-Raum-Segment einnimmt, ist ontologisch kein Unterschied. Auch die zeitliche Überschneidung von Ursache und Wirkung ist, wie wir gleich sehen werden, kein triftiger Einwand gegen das Identitätskriterium. Tritt in der Schwingungserregung eine Unterbrechung ein, ist die Ursache abgeschlossen. Und damit ist auch die Vollendung des Klangereignisses präfiguriert, auch wenn es zum Zeitpunkt des Abschlusses der Ursache noch anhält oder sogar gerade erst begonnen hat. Der Energiebetrag im Schwingungssystem erhält ab diesem Zeitpunkt keinen externen Zufluss mehr, die im Schwingungssystem vorhandene Bewegungsenergie nimmt ab (genauer, sie transformiert sich in andere Energieformen) und ihr Ende wird über kurz oder lang gekommen sein. Der zeitliche Eintritt des Nettoverlusts

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an Bewegungsenergie ist das Kriterium, ein Klangereignis als perspektivisch abgeschlossen aufzufassen und als 1 zu zählen. Wie kurz oder lang die Zeitspanne des Verlusts ist, bevor neue externe Energie ein erneutes Schwingungsereignis verursacht, spielt keine Rolle. Es spielt ebenso wenig eine Rolle, ob sich der Zeitraum der abklingenden Schwingung und der Zeitraum eines neuen Schwingungsereignisses in demselben Medium, das durch eine neue Ursache eingetreten ist, überschneiden. Beim Musizieren ist das der Normalfall. Wenn die Schlagzeugerin gestern abend um 20 Uhr 37 und 46 Sekunden im Takt 396 erneut auf den Gong schlug, trat ein neues Klangereignis ein, obwohl der Gong aus Takt 395 noch im Schwingen begriffen war und die ursprüngliche Schwingung neben der Überlagerung durch die neue weiterging. Was davon in welcher Weise für einen menschlichen Hörer wahrnehmbar ist, ist belanglos. Wenn der Specht 4 Sekunden lang 20 Mal pro Sekunde mit dem Schnabel gegen einen Baumstamm trommelt, was ihm ohne Schwierigkeiten möglich ist, hört das Menschenohr keine einzelnen Anschläge mehr, sondern bereits einen kontinuierlichen Klang, der je nach Holzbeschaffenheit die pauschale Klangeigenschaft des Brummens oder Dröhnens hat. Pauschale Klangeigenschaften sind allerdings stets phänomenal und somit unzuverlässig, wenn es um kritische Individualitätsfragen geht. Wir zählen beim Specht daher lieber ontologisch und kommen auf 80 Klangereignisindividuen. Dass die Schwingung im Baumstamm vom einen zum anderen Anschlag noch nicht zum Erliegen kam, ist ontologisch irrelevant. Wen diese Überlagerung von Ereignissen irritiert oder wer jetzt zu rechnen anfangen sollte, dass ein zehnsekündiger Sinuston aus dem Lautsprecher mit der Frequenz 800 Hz dann also 8000 Schwingungsereignisindividuen der Antriebseinheit aus Schwingspule und Membran sein müssten, werfe einen Blick auf größere Ereignisdimensionen. Während ich mit Tourenski auf den Stuibenkopf steige, kuriere ich eine Erkältung aus und schreibe (nicht an den Tasten, aber im Kopf) am Klangontologiebuch. Die drei Ereignisse überlagern sich, das heißt, sie involvieren in gewissen Zeit-Räumen dieselben Medien. Aber jedes Ereignis hat einen anderen Zeit-Raum-Wurm mit anderen Ursachen und anderen Wirkungen. Freilich kann die zeitliche Überlagerung von nicht-schwingungshafter Ursache und Schwingungswirkung im Extremfall so gut wie vollständig sein. Ein geübter Schlagzeuger spielt einen Trommelwirbel aus Einzelschlägen, die der Schlagfrequenz des Spechts nahekommen. Wie aber geht die

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ontologische Zählung, wenn er seine Einzelschläge durch Rebounds verdoppelt oder gar vervielfacht? So erst entsteht der dichte Trommelwirbel. Aber auch hier sehe ich letztlich keine Schwierigkeit. Im Rebound federt der Schlegel ohne erneuten Bewegungsimpuls des Schlagzeugers zwischen der Trommelhaut und den Fingern hin und her, indem er die Schwingungsbewegung auf beiden Seiten selbst als Energiequelle nutzt. Gemäß unserem obigen Kriterium ist das Ursachenereignis abgeschlossen, wenn die externe Energiezufuhr beendet ist. Demnach ist der Rebound selbst Teil des ablaufenden Schwingungsereignisses. Werden durch einen Bewegungsimpuls beispielsweise ein Schlag und drei Rebounds und damit vier Anschläge auf die Trommelhaut erzeugt und der Schlagzeuger schafft vier derartige Schläge pro Sekunde, dann zählen wir ontologisch vier Klangereignisse pro Sekunde, obwohl 16 Anschläge pro Sekunde vorliegen. ❮ K l ä n g e p r o N o t e ❯ Klangereignisindividuen zählen in der Musik erschöpft sich nie im Notenzählen. Wenn der Komponist eine Note schreibt, lässt sich das klangontologisch als die Handlungsanweisung auffassen, seinem Instrument einen neuen Bewegungsenergieimpuls zuzuführen. Wie viele Zeit-Raum-Segmente mit einem Schwingungsereignis mit einem Impuls er damit aber in die Welt setzt, hängt vom Instrument ab. Eine pleno registrierte Orgel erzeugt pro Tastendruck so viele Schwingungsereignisse, wie die eine Taste Pfeifen zum Klingen bringt. Das können dutzende sein. Erst dieser Umstand verleiht dem berühmten Vers des Angelus Silesius aus dem Cherubinischen Wandersmann seine ganze Bedeutung: »GOtt ist ein Organist / wir sind das Orgelwerk / Sein Geist bläst jedem ein / und gibt zum thon die stärk.«17 Wenn Gott auf der Weltenorgel 1 Taste drückt (der abstrakte »thon«), werden so und so viele humane Wesen in Bewegung gesetzt, die Teil so und so vieler Schwingungsereignisse (die physisch manifeste »stärk«) sind. Leider lassen sich die Schwingungsereignisse der klingenden Weltenorgel schlecht abzählen. Setzen wir uns also stattdessen an ein schnödes Klavier und spielen Alkans Prélude Nr. 1 aus den 25 Préludes op. 31, exemplarisch bis zum Wiederholungszeichen nach Takt 4. 18 Unser modernes Klavier hat hinter allen Tasten und Hämmern, die in diesen Takten in Bewegung gesetzt werden, jeweils drei Saiten. In Paris waren zur Zeit Alkans unter anderem Flügel der Klavierbaufirma Érard verbreitet, die für die tieferen

17 Johannis Angeli Silesij Cherubinischer Wandersmann, Glatz 1675, hg. von Louise Gnädinger, Stuttgart 1984, Fünfftes Buch, Nr. 343. 18 Abbildung aus dem Druck bei Robert Lienau (vormals Schlesinger), Berlin, undatiert, um 1847, Pl.nr. 3336.

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Töne zwei, für die sehr tiefen (die hier aber nicht zum Einsatz kommen) nur eine Saite hatten.

Notenbeispiel: Charles Valentin Alkan: Prélude op. 31 Nr. 1 piano.francais.free.fr

Alles, was an kausalem Geschehen der eigentlichen Ursache der Klangereignisse vorausgeht, kann folgendermaßen beschrieben werden: Der Pianist hat in jedem Takt pro Hand 7 Akkorde zu spielen. Bei 4 Takten mal 2 Hände mal 7 Akkorde macht das 56 Bewegungsenergieimpulse aus Körper, Schulter und Arm. Die werden auf meistens 3, manchmal 2 Finger verteilt. Auf dem Notenpapier hat jeder Akkord 3 Noten, von denen allerdings manchmal 2 Noten von demselben Klangereignis instantiiert werden. Noten sind abstrakte Typen, und die Aufführung auf einem Instrument, das für jede Stufe der Skala genau eine Instantiierungsvorrichtung bereithält, wie bei einem modernen Klavier, müssen manchmal zwei Noten zu einer Instantiierung

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zusammengefasst werden, wie bei der stimmführungstechnisch doppelt belegten Stufe g’ in den Takten 1 und 3. Die Verteilung auf meist 3 und in den skizzierten Fällen 2 Finger ergibt insgesamt 80 Bewegungsimpulse in den Fingern, die über die Klaviertasten in die Anschlagsmechanik gehen. Bis dahin ist das kausale Geschehen pianistisches Handeln. Ab dem Moment, in dem die Bewegungsenergie in der Anschlagsmechanik liegt, ist der Übergang zur Ko-Individuierung der Eigenschaften erreicht, die die Ursache der Klangereignisindividuen bilden. Die Ko-Individuierung ereignet sich an dem Punkt, an dem die lineare Bewegungsenergie der Mechanik (bzw. ein Teil davon) in schwingende Bewegungsenergie transformiert wird, also im RaumZeit-Segment des Saitenkontakts. Bei einem Klavier moderner Bauart versetzt in den Lagen, in denen sich die Noten der Takte 1 bis 4 bewegen, ein Hammerschlag jeweils 3 Saiten in Schwingung. Jeder der 80 linearen Bewegungsenergieimpulse verursacht also 3 Schwingungsereignisse, macht insgesamt 240 Schwingungsereignisindividuen. In welchem Maße der Pianist die semantisch reichlich quantifizierte Verbalanweisung »sempre molto sostenuto« berücksichtigt, manifestiert sich am Umschlagpunkt der Handlungskausalität in die Kausalität der Schwingungsereignisse allein an der Zeitspanne, die zwischen den Hammeranschlägen liegt. Die Quantität der Verbalanweisung wird sich idealerweise in einer möglichst langen Zeitspanne realisieren, die ein Hammer auf seinen 3 Saiten liegt, quasi als solle der Hammer nicht schlagen, sondern wie ein Bogen streichen – ein schönes Beispiel dafür, dass zwischen einem kurzen und einem langen Raum-Zeit-Segment der Schwingungserregung keinerlei ontologischer Unterschied besteht. Entscheidend ist, dass der Hammer für kurze Zeit die Saiten verlassen muss, um erneut anschlagen zu können. An dieser Stelle ist die Energiezufuhr be- und die Individuierung von Schwingungsereignissen vollendet.

Mit der psychoakustischen Wahrnehmung des Anfangs und Endes von Klangempfindungen, mit phänomenalen Bestimmungen des mentalen Repräsentationsverlaufs von Klängen und mit den musikalischen Dauern von Tönen haben unsere hart ontologischen Grenzziehungen der Individuierung eines Klangs nichts zu tun. Ist das ein Makel? Es wäre einer, wenn umgekehrt jene nichts mit der ontologischen Individualität eines Klangs zu tun hätten. Haben sie aber. Wenn ich das Rauschen des Hörschbachfalls höre, mich dann entferne und in einem außer Hörweite befindlichen Biergarten einkehre, anschließend (bei unveränderter Wetterlage) wieder in die Hörschbachschlucht zurückkehre und abermals das Rauschen des Hörschbachfalls höre, wie viele Individuen sind es dann, die ich gehört haben werde? Nehmen wir zusätzlich an, Saskia ist mit mir zusammen am Hörschbachfall, bleibt aber an Ort und Stelle, bis ich wieder zurückkehre. Anfangs nehmen wir beide dasselbe

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Klangindividuum wahr; wir können uns gegenseitig demonstrativ über dieses Geräusch verständigen. Bereits diese Möglichkeit der intersubjektiven Referenz auf einen Sachverhalt führt über eine subjektivistische Auffassung von Klangindividuen hinaus. Warum soll bei meinem Weggang für mich das Klangindividuum, auf das wir eben noch gemeinsam referierten, aufgehört haben zu existieren und bei meiner Rückkehr ein neues erstanden sein, während für Saskia mein vermeintlich neues Klangindividuum das alte geblieben ist? Der subjektivistische Fehler wird eigentlich schon dadurch vermieden, dass man auf der phänomenologischen Ebene ordentlich argumentiert. ❮ H um a nism us ist, w enn d er Schw a nz m it d em H und w ed elt ❯ Sich zum Schöpfer oder Vernichter von Klängen aufzuspielen allein dadurch, dass man hin- oder weghört, ist das tragikomische Credo so mancher sound studies: Klänge seien das »product of human senses and not a thing in the world apart from humans«. 19

Denken wir uns das Szenario etwas anders: In der Nacht nach unserem Aufenthalt in der Hörschbachschlucht stürzen im Gewittersturm einige Baumstämme in den Bachlauf. Das von oben nachströmende Wasser staut sich, tritt über das Ufer und läuft in kleinen Rinnsalen gen Tal. Wenig später haben Waldarbeiter die Stämme entfernt; das Wasser fließt wieder im angestammten Bachlauf und stürzt über die Felsen am unteren Eingang der Hörschbachschlucht. Nach einigen Tagen kehre ich an den Wasserfall zurück. Höre ich immer noch dasselbe Klangindividuum wie neulich? Nein, denn ein idealer und durchgehend präsenter Hörer hätte das zu Ende gehende erste Klangindividuum gehört, und zwar mit Klangeigenschaften, die sich mit dem ursprünglichen Rauschen des Falls so ergänzt hätten, dass er es als eine intrinsische Veränderung des Rauschens und schließlich als sein Verlöschen aufgefasst hätte. Ebenso wäre es mit dem Beginn des Existierens eines neuen Klangindividuums gewesen, an dem sich Klangeigenschaften gezeigt hätten, die sich erst im Rückblick mit den nachfolgenden Klängen eigenschaftlich so ergänzt hätten, dass sich ein klangliches Individuum bildete.

19 Sterne (2003), S. 11.

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Das Szenario noch einmal anders gedacht: Ich kehre einige Monate später zum unteren Hörschbachfall zurück. Im Sommer hatte ich ein kräftiges Rauschen gehört. Nun herrschen anhaltende Trockenheit und strenger Frost. Ich vernehme nur noch ein unregelmäßiges Plätschern. Wie viele Individuen habe ich gehört? Jetzt kommt es darauf an, ob das allmähliche Abnehmen der fließenden Wassermenge zwischendurch dazu geführt hat, dass Klangeigenschaften des Falls sich nicht mehr wechselseitig ko-individuiert, sondern irgendwann einmal eine echte eigenschaftliche Diskontinuität herbeigeführt haben. Vermutlich war das der Fall, da ich für die Klangcharakterisierung nun eine andere pauschale Eigenschaft wähle, nämlich »plätschern«. Aber offenkundig lässt sich die Frage nicht ontologisch, sondern nur empirisch entscheiden. Wieder einmal sehen wir, dass der eigentümliche Umstand der wechselseitigen Verbindung oder auch Abgrenzung von Klangeigenschaften eine zentrale Frage der Klangontologie ist, der wir (in 2.1) nicht ausweichen dürfen, auch wenn sie sich als harte Nuss erweisen wird.

1.1.6

Ontologische Abhängigkeit von Klängen

Unsere Frage, was der Ort des Klangs mit dem Ort der Klangquelle zu tun hat, führt über kurz oder lang zu allgemeineren Fragestellungen, die in der Ontologie seit Aristoteles diskutiert werden: Wie selbstständig sind Individuen in ihrer Existenz gegeneinander? Wie abhängig sind sie in ihrer Existenz voneinander? Tangiert eine starke Abhängigkeit den Individuenstatus einer Entität?20 Ich gehe hier nur auf diejenigen Facetten der Problematik ein, die mir für eine Klangontologie wichtig erscheinen. Das ist insbesondere die Abhängigkeit des Klangs von seiner Klangquelle – oder ontologisch präziser: des Klangereignisses von seiner Ursache. Ontologische Abhängigkeit wird üblicherweise definiert als die Abhängigkeit eines Individuums k von einem anderen Individuum j derart, dass es unmöglich ist, dass k existiert und j nicht existiert. Sei beispielsweise k das Rauschen des unteren Hörschbachfalls und j der untere Hörschbachfall, dann besagt die Definition, dass das Rauschen des unteren Hörschbachfalls

20 Vgl. die Erörterung solcher Existenzbedingungen bei Husserl und Ingarden durch Wachter (1990), S. 68ff., an der sich meine Darstellung grob orientiert.

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nur existiert, wenn der untere Hörschbachfall existiert. Der Umstand ist von derartiger Evidenz, dass wir ihn bedenkenlos verallgemeinern können. Sei k ein Klang und j seine Klangquelle, dann ist k von j ontologisch abhängig derart, dass es keinen Klang gibt, wenn es nicht seine Klangquelle gibt. Aus phänomenologischer Sicht stellt sich wieder einmal die Sache anders dar. Der Tinnitus ist der klassische Fall eines Klangs ohne Klangquelle. Existiert hier also ein k ohne j? Tinnituspatienten sind keine Simulanten, das Phänomen ist amtlich im ICD-10 unter Punkt H93.1 als Krankheit ausgewiesen. Das besagt allerdings umgekehrt, dass es der gesunde Normalfall ist, nur dann eine Klangwahrnehmung zu haben, wenn es ein akustisches Schwingungsereignis gab. Ein k ohne j ist pathologisch. Gerade die völlige ontologische Unabhängigkeit, die eine Klangwahrnehmung von der realen Welt im Extremfall haben kann, sollte uns skeptisch stimmen, den Individuenstatus von Klängen auf der phänomenologischen Ebene zu verhandeln. Einen Klang wahrnehmen und einen Klang hören sind zweierlei. Ein Tinnitus hat einen Wahrnehmenden, aber keinen Hörer. Was von jemandem gehört wird, kann potenziell auch von Mehreren gehört werden. Anders als beim Tinnitus liegt die Sache bei Wahrnehmungsphänomenen, die die Psychoakustik als »acoustic afterimage« bezeichnet. Endet ein lauter Klang abrupt, hallt das Wahrnehmungskorrelat noch einige Augenblicke nach, und zwar gerade bei Gesunden. Wer einen Knall aus nächster Nähe hört, hat mit großer Wahrscheinlichkeit ein kurzes auditives »afterimage«. Bestimmte breitbandige Rauschklänge, die eine Lücke im Frequenzspektrum haben, erzeugen bemerkenswerterweise eine tonhaltige Nachklangwahrnehmung, deren Tonhöhe genau auf der Lücke liegt.21 Ein auditives »afterimage« ist daher nicht nur ein reines Wahrnehmungs-, sondern ein Hörphänomen, dem ein gehörtes Klangereignis zugrunde liegt. So weit, so gut, dennoch ist die Frage der ontologischen Abhängigkeit des Klangindividuums noch nicht erschöpft. In der allgemeinen Form, in der wir die ontologische Abhängigkeit des Klangs von seiner Klangquelle gerade festgestellt haben, ist noch nichts über ein Existieren der Individuen zur gleichen Zeit und am gleichen Ort gesagt. Das ist für uns wichtig, denn die örtliche Unabhängigkeit der beiden Entitäten haben wir bereits abgehandelt. Dass auch die Zeitregime von Klang und Klangquelle nicht dieselben sind, kann man sich intuitiv klarmachen an dem Nachhall in einer großen Kirche

21 Zwicker/Fastl (1990), S. 130-135.

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oder, allgemeiner, der endlichen und sogar vergleichsweise langsamen Ausbreitungsgeschwindigkeit von Schallwellen in der Materie, die unsere Menschenohren meistens umgibt, Luft. Die direkte kausale Urheberschaft der Klangquelle macht also den Schall ontologisch abhängig von ihr. Aber sie präfiguriert bei weitem nicht alle Eigenschaften des Klangindividuums. Eine andere Art von ontologischer Abhängigkeit ist die Abhängigkeit von geistigen Urhebern. Die Kausalbeziehung zwischen der Ursache eines Klangereignisses und dem Klangereignis als seiner Wirkung hat stets eine physikalische Ebene. Sie kann aber darüber hinaus eine weitere Ebene haben. Sofern bei der Ursache auch Handlungen im Spiel sind und nicht nur pure mechanische actio und reactio, sind Klangindividuen ontologisch auch von den handelnden Individuen abhängig. Der Sound eines Porsche 911, Baujahr 1981, der vor mir an der Ampel beschleunigt, ist abhängig von dem Mann auf dem Fahrersitz, der jetzt und hier per Fußbewegung Gas gibt und seine Klangquelle kausal aktiviert. Das Klangereignis ist ontologisch von vielen weiteren Handelnden abhängig: von den Mechanikern, die dieses Exemplar 1981 im Werk Stuttgart-Zuffenhausen bauten; von den Ingenieuren, die das Modell und die Fertigungsanlagen konstruierten; schließlich von Ferdinand Porsche, der den 1963 an die Öffentlichkeit gebrachten SechszylinderBoxermotor des Autos entwickelte. Ebenso ist der Klang des Wasserfalls in der Alpensinfonie, der am 30.6.2017 in der Olympia-Eissporthalle in Garmisch-Partenkirchen erklang, ontologisch abhängig von den Musikern des Symphonieorchesters des Polnischen Rundfunks, die an diesem Tag spielten, und von Richard Strauss, der sich den Klang um das Jahr 1900 herum in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen ausdachte. Ohne diese Handlungen gäbe es die besagten Klangindividuen nicht. Kausal präzise gesagt: Bei jedem Schritt der Handlungskette werden, verursacht durch einen geistigen Akt, genau die Eigenschaften ko-individuiert, die als Wirkung ein materielles Individuum erzeugen: Vielleicht machte Ferdinand Porsche eine Konstruktionsskizze, Richard Strauss schrieb Noten auf Notenpapier. Daran schlossen sich geistige Akte an, die wiederum bestimmte Eigenschaften koindividuierten, aus denen ein weiteres materielles Individuum hervorging, und so weiter, bis hin zu den letzten Akteuren der Kausalkette: den Musikern, die am 30.6.2017 abends in Garmisch-Partenkirchen ihr Instrument in Schwingung versetzten, und dem Porschefahrer, der mit einem Tritt aufs Gaspedal am mechanisch damit gekoppelten Motor samt Benzin genau die

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Eigenschaften ko-individuierte, die das Soundindividuum vor mir an der Ampel entstehen lassen. Das Ko- von Eigenschaften, die das Klangereignis verursachen, ist selbst ein Ereignis. Das ergibt sich daraus, dass die verursachenden Eigenschaften nicht schon für einen gewissen Zeitraum vor Ereigniseintritt vollständig koindividuiert gewesen sein können. Irgendeine Eigenschaft ist als letzte hinzugetreten, und erst mit ihr waren die nicht nur notwendigen, sondern hinreichenden Bedingungen gegeben, um das Schwingungsereignis eintreten zu lassen, und zwar sofort. Dieses Hinzutreten der letzten Eigenschaft macht die Ko-Individuierung der Ursacheneigenschaften selbst zu einem Ereignis. Diese Ereignishaftigkeit von Klangursachen bestärkt einmal mehr unser Unbehagen am Begriff der Klangquelle. Der Begriff suggeriert die Dinghaftigkeit dessen, woraus der Klang hervorgeht. Die Suggestion ist falsch, und sie gebiert den nächsten Fehler, den Klang als Eigenschaft des vermeintlichen Dings aufzufassen. In das Ursachenereignis können wir gegebenenfalls auch die handelnden Akteure einbeziehen, die an der Ko-Individuierung beteiligt waren. Auf diese Weise lässt sich für die beiden Beispiele des Porschesounds und des Wasserfallklangs eine Ursachenkette vom Klangereignis zurück bis zu den geistigen Urhebern rekonstruieren, die selbst aus Ereignissen besteht. Jedes dieser Ereignisse ist vom verursachenden Ereignis ontologisch abhängig. Hätte irgendeines der Ereignisse aus den beiden Ursachenketten nicht existiert, wäre die Welt auch um die beiden Klangereignisse am 30.6.2017 abends in Garmisch-Partenkirchen und vorhin an der Ampel ärmer. Ist die ontologische Abhängigkeit eines Klangs von seinen Ursachen ein Problem für den Individuenstatus des Klangs? Wenn dem so wäre, dann würde die Tatsache der ontologischen Abhängigkeit die Kategorie Individuum insgesamt in Frage stellen. So gut wie jedes Individuum hat in der beschriebenen Weise ontologische Abhängigkeiten. Das ist ein Indiz dafür, dass die Individuenfrage von Klang nicht an der starken Existenzbedingung der ontologischen Abhängigkeit hängt. An der noch stärkeren der »Seinsabgeleitetheit« (d.h. dem Kriterium, dass ein Gegenstand erschaffen werden kann, im Unterschied zu »seinsursprünglichen« Entitäten, die nicht erschaffen werden können), wie Ingarden das nennt, hängt sie erst recht nicht. Viele Klänge entstehen ohne handelndes Zutun, aber Klänge können natürlich durch Handeln erschaffen werden.

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Die relevante Frage ist eher, wo in der mehr oder weniger endlosen Kausalkette wir die Individuengrenze ziehen. Was gibt uns das Recht, aus der Kausalkette genau die Phase herauszupicken, in der bestimmte interagierende Dinge ein Schwingungssystem bilden, und es als Schwingungsereignisindividuum aufzufassen? Könnten wir die Individuengrenze nicht auch nach dem Kriterium irgendeiner anderen pauschalen Eigenschaft als derjenigen ziehen, ein Schwingungssystem zu sein? Sicher, diese pauschale Eigenschaft hat sich als robust genug erwiesen, den Individualitätskriterien standzuhalten, die wir in 1.1.1 bis 1.1.5 erörtert haben. Natürlich hindert uns nichts daran, ein bestimmtes Klangereignisindividuum als Bestandteil anderer Ereignisindividuen zu begreifen, so wie auch auf der nicht-ereignishaften Dingebene das Individuum Teil eines anderen sein kann, ohne dadurch seine Individualität einzubüßen. Die kritische Frage ist, ob auf genau der Ebene der pauschalen Eigenschaft, ein Schwingungsereignis zu sein, andere individuelle Zuschnitte möglich sind. Vielleicht lassen sich nach physikalischen Pauschaleigenschaften auf der elektromagnetischen oder der quantenmechanischen Ebene Individuen erfassen, die unser Klangereignisindividuum k nur zu einem Teil in sich begreifen, während der andere der Teil eines anderen Individuums ist. Das ist durchaus möglich. Auf der Makroebene von Individuen, ereignishaften wie dinglichen, lassen sich überall solche Überschneidungen finden. Das Ereignis meiner Montblancbesteigung und das Ereignis, dass ich ein Paar Steigeisen mit Riemenbindung besessen habe, mit dem ich nächtens zum Montblanc aufgebrochen war, überschneiden sich um ein paar Stunden. Das letztere Ereignis begann schon Jahre vorher, aber ersteres überdauerte das letztere, denn die Steigeisen gingen unterwegs kaputt. Ein dingliches Beispiel findet sich an dem Ort, an dem ich diese Überlegung gerade anstelle. Viele Häuser sind hier in die Stadtmauer hineingebaut. Ist die Stadtmauer Teil der Hausfront? Oder ist die Hausfront Teil der Stadtmauer? So gewiss es ist, dass es Individuen gibt, so offen bleibt der Lauf der Dinge dafür, welche davon es gibt. Zum ersten und einzigen Mal in diesem Buch werde ich phänomenologisch antworten, und zwar auf diese Frage. In 2.2.1 werden wir sehen, dass die Individuierung einer Entität als Klangindividuum davon abhängt, dass die pauschalen Eigenschaften, ein Klang zu sein oder ein Schwingungsereignis zu sein, auf die end- und uferlosen Kausalbeziehungen des Laufs der Dinge angewendet werden und ihn in Individuen tranchieren. Wir hörfähigen Lebewesen selbst sind es, die sie

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anwenden. Gäbe es nichts und niemanden, der in der Lage wäre, auf irgendeine Weise die Schwingungsförmigkeit von Bewegungen zu erfassen – sei dies als Klangwahrnehmung, mit Messgeräten oder auf irgendeine andere Weise –, die Welt bliebe an den Stellen, an denen Bewegungen in Schwingungen übergehen und Schwingungen wieder in andersartige Bewegungen, untranchiert. Ist das ein Grund, das ganze Pferd von der phänomenologischen Seite aufzuäumen? Keineswegs, die Eigenschaft zu schwingen wird ja nicht phänomenal konstruiert. Was der Mensch feststellt, weist weit hinter ihn zurück und über ihn hinaus. ❮ I a m s i t t i n g i n a r o o m ❯ Alvin Luciers Meisterwerk I am Sitting in a Room aus dem Jahr 1969 enthält die Beschreibung seiner technischen Disposition in sich selbst als ästhetisches Material. Sie lautet: »I am sitting in a room different from the one you are in now. I am recording the sound of my speaking voice and I am going to play it back into the room again and again until the resonant frequencies of the room reinforce themselves so that any semblance of my speech, with perhaps the exception of rhythm, is destroyed. What you will hear, then, are the natural resonant frequencies of the room articulated by speech. I regard this activity not so much as a demonstration of a physical fact, but more as a way to smooth out any irregularities my speech might have.« 22 Von welchen Individuen ist der Klang beim ersten Durchlauf des Texts aus dem Mund Luciers ontologisch abhängig? Vom Sprecherindividuum als Klangquelle. Die technische Anordnung der zwei Tonbandgeräte bringt in den weiteren Durchläufen mehr und mehr zum Vorschein, dass das schon beim ersten Mal nicht alles war. Denn auf dieser ersten und einzigen tatsächlich gesprochenen Version beruhen alle weiteren. Was bereits sie in sich enthielt, sind all die weiteren Abhängigkeiten von den Individuen jener besonderen Raumgeometrie, jener anwesenden menschlichen Körper, jener Stühle, jenes Bodenbelags und so weiter, die in dem Klangquellenereignis »Alvin Lucier spricht« nicht explizit genannt werden. Das Alltagsbewusstsein, das derartige Ereignissätze bildet, hat sie bloß herausgefiltert. Sie trennt üblicherweise das Gesagte vom faktisch Erklungenen. Die Technik aber bringt am vermeintlich Nichttechnischen das Technische zum Vorschein. Die Ontologie auch, indem sie wie die Technik respektlos das herauspräpariert, was es gibt (an Individuen wie an Eigenschaften), unabhängig davon, ob der Mensch es wahrnimmt, aussagt, interpretiert, deutet, wertet.

22 Alvin Lucier: I am Sitting in a Room (1969), vollständiger Text.

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1.2

KLÄNGE ALS EREIGNISSE

Die Ebene der verbalen Sprache mit ihrer Lexik und Grammatik ist für die meisten Problemstellungen der Klangontologie kein verlässlicher Ratgeber. Ein interessanter Indikator kann sie sehr wohl sein. Etwa mit der Beobachtung, dass wir im Deutschen Klangprädikate zwar nominalisieren können, uns damit aber nicht sonderlich elegant ausdrücken. Um zum Beispiel die Individualität eines Klangs hervorzuheben, können wir (1.1) von jenem Rauschen da unten in der Hörschbachschlucht sprechen. Aber die Nominalphrase »das Rauschen« klingt gespreizt. Was an ihr stört, ist eine eigentümlich unangemessene Starre des Nomens, die zum bewegten Charakter der bezeichneten Sache nicht recht passt. Über die Nominalphrase »Knall« dagegen stolpern wir nicht: Man kann mit grammatischem Prädikat sagen »die Büchse knallt«, aber ebenso angemessen mit Nominalphrase: »Die Büchse macht aber einen ordentlichen Knall«. Ein Knall ist ein Geräusch, das charakteristischerweise in sehr kurzer Zeitspanne existiert; ein langgezogener Knall wäre keiner mehr. Womöglich gibt es eine Korrelation zwischen der Ereignisförmigkeit eines Klangs und den Usancen seiner sprachlichen Repräsentation in nominalen oder in prädikativen Phrasen – aber das herauszufinden wäre eine Fleißaufgabe für Literaturwissenschaftler. Ein weiterer sprachlicher Indikator für die Verlaufsförmigkeit von Klängen ist das ominöse »es« in Prädikationen wie »es rauscht«, »es brummt«, »es rattert« usw. Das »es« ist philosophiegeschichtlich und weltanschaulich höchst brisant, es geht um nicht weniger als Weltkrieg und Nationalsozialismus. Wir werden das »es« in diesem Kapitel endlich ontologisch erörtern. Man kann grammatisch korrekt »es knallt« sagen, eleganter aber ist es, das verlaufsförmige »es« durch ein Klangquellenindividuum wie etwa eine Büchse zu ersetzen. Die sprachliche Eleganz behebt aber nicht den ontologischen Mangel, den wir in 1.1.6 notiert haben: Klangquellen sind Klangursachen, und Ursachen sind keine dinglichen Individuen, sondern Ereignisse. Um eine hinreichende Klangursache zu sein, gehört zur Büchse der Finger, der den Abzug zieht. Die Gegenprobe mit visuellen Eigenschaften, etwa geometrischen Formen oder Farben, ergibt, dass dort keine Gefahr besteht, sich holprig auszudrücken: Formen und Farben sind einfach, sie werden nicht und vergehen auch nicht. Klangentitäten sind im Fluss, sie verändern sich. Sie ereignen sich als Ganze, indem sie in mehr oder weniger gut beobachtbaren

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Zeiträumen aufkommen und verschwinden; es ereignet sich etwas in ihnen selbst, indem etwa ein charakteristischer Lautstärkenverlauf den Knall vom Donner oder eine je charakteristische innere Folge von verschiedenen Klangnuancen das Rattern vom Knattern und das Knattern vom Knistern unterscheidet. Ohne seinen extrem steilen Anstieg und das etwas langsamere, aber immer noch recht rasche Abfallen seiner Lautstärke wäre ein Knall kein Knall; ohne die typischen aperiodischen Klanghöhenspitzen wäre das Knistern kein Knistern. Ich habe nicht vor, hinter die Einsicht (1.1) zurückzufallen, dass Klänge Individuen sind. Aber bei ihr kann nicht stehengeblieben werden. Die Art, wie wir sprachlich mit Klängen umgehen, weist darauf hin, dass ihr Individuenstatus um den Charakter der Verlaufsförmigkeit ergänzt werden muss. Die innere und äußere Veränderung eines Klangs gehört zu seiner Charakteristik untrennbar dazu. Klänge sind makrozeitlich und mikrozeitlich ereignisförmig. Dass und wie das mit ihrem Individuenstatus ontologisch zusammengeht, bleibt zu klären. Eine fundamentale These dieser Abhandlung lautet somit: Klänge sind Ereignisse. Insofern wir daran festhalten, dass Klänge Individuen sind, lautet die These präziser: Klänge sind Klangereignisindividuen. Welches Ereignis aber ist damit gemeint? Ein Rettungswagen mit laufendem Martinshorn fährt an mir vorbei. Ich höre als Passant am Straßenrand das Tatütata erst leise, dann stärker bis zur beinahe schmerzhaften maximalen Lautstärke, dann wieder leiser bis zum Verklingen. Zudem höre ich die typische Frequenzschwankung, die aus dem Dopplereffekt resultiert. Dieses Klangereignis mit seiner spezifischen Verlaufsstruktur existiert in meinem Bewusstsein als der mentale Gehalt, den ich zu diesem Zeitpunkt habe. Existiert es ausschließlich dort? In einem humanen Bewussthaber, der neben mir am Straßenrand steht, könnte möglicherweise dasselbe Klangereignis existieren. Man müsste dann sagen: Wir repräsentieren mental dasselbe Klangereignis und wir repräsentieren es vermutlich identisch. In unseren Neuronen sind zwei physisch und ergo numerisch verschiedene Exemplare derselben abstrakten phänomenalen Klangereignisentität instantiiert. Aber die Sache ist vielleicht komplizierter: Ein dritter Bewussthaber repräsentiert mental ebenfalls das Klangereignis, das von der Klangquelle des Martinshorns ausgeht. Aber er sitzt in einem Auto, das hinter dem Rettungswagen herfährt. Die Verlaufsstruktur seines Bewusstseinsgehalts ist eine völlig andere. Die Lautstärkeänderung des Klangs hat für ihn andere

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makrozeitliche Quantitäten: Je nachdem, wie lange er dem Rettungswagen schon folgt und je nachdem, wie lange er ihm noch folgen wird, kann sich die zeitliche Länge seiner Klangrepräsentation von meiner erheblich unterscheiden. Der Frequenzverlauf seiner Repräsentation ist zudem qualitativ anders, denn er hört keinen Dopplereffekt. Es gibt also drei gehörte Klänge, die sich auf ein und dasselbe physische Klangereignis beziehen und doch quantitativ wie qualitativ unterschiedlich sind. Welches von den drei Ereignissen ist das Klangereignisindividuum? Diese Grundfrage lässt sich in einige Detailfragen auffächern, in denen sie freilich durchweg mitschwingt: – Sind das Klangereignis in den Bewusstseinen und das des laufenden Martinshorns verschiedene Klangereignisindividuen, freilich aufeinander durch Sinneswahrnehmung bezogen, das erstere aber phänomenal und nach den Regeln der Phänomenologie zu analysieren, das letztere real und nach den Gesetzmäßigkeiten der Mechanik? (Das wäre ein Plädoyer für eine transzendentale Phänomenologie der Klänge, der reale Rest bliebe den Akustikern überlassen.) – Ist die mentale Entität in allen Bewusstseinen, die sich auf ein bestimmtes physisches Ereignis beziehen, nicht nur dieselbe, sondern direkt an das physische Ereignis gekoppelt? (Das liefe auf einen ziemlich direkten ontologischen Realismus hinaus. Mit ihm würde sich, wie wir sehen werden, ein Kardinalproblem der Klangontologie am einfachsten lösen lassen, die Orts- und Zeitpunktabhängigkeit der Klangwahrnehmung.) – Ist die mentale Entität von der physischen Entität, auf die sie sich gleichwohl bezieht, verschieden, und zwar insbesondere hinsichtlich ihrer Ereignisstruktur, wobei sie in allen Bewusstseinen im Kern dieselbe ist und bloß eingefärbt von subjektspezifischen Dispositionen? Das wäre eine repräsentationale Ontologie, die je nach Position in der Realismusfrage entweder in einen repräsentationalen Realismus mündete und die Klangontologie sozusagen verdoppeln würde in einen realen und einen phänomenologischen Aspekt, welche stets parallel darzulegen wären. Oder sie führte in einen phänomenologischen Idealismus, bei dem man sich vor allem um das von Subjektivitäten zu reinigende Klangphänomen per eidetischer Reduktion kümmern müsste und die physischen Korrelate den Akustikern überlassen könnte. Man fragt sich freilich, was nach einer eidetischen Reduktion der Orts- und Zeitpunktbedingung an reinem Phänomen noch

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übrig bliebe. Ich werde im Folgenden eine transzendentalphänomenologische Deutung von Klangereignissen nach Husserlschem Zuschnitt nicht weiter verfolgen. Die Analyse der Ereignishaftigkeit von Klängen wird zeigen, dass Husserls transzendentales Ego, selbst wenn man es intersubjektiv auffasst, mit der ontologischen Individualität von Klängen nicht vereinbar wäre: Das Klangindividuum, das einem transzendentalen intersubjektiven Ego als Bewusstseinsgehalt erscheint, kann aufgrund der Perspektivität, die die transzendentalen Inter-Egos auch nach eidetischer Reduktion nicht abschütteln, nie den Zuschnitt des physischen Klangereignisses haben. Das ist und bleibt unplausibel, schon allein deshalb, weil eine intentionale Bezugnahme den Zeit-Raum-Wurm eines Klangereignisses nur äußerst punktuell erfasst und niemals als ganzes überhören kann. Die Verifikationsinstanz für ausgesagte Noemata von Klängen sind aber nicht andere Noemata, sondern die reale physische Materialität der Klänge. Die Konstituierung eines Klangindividuums kann aus der realen Ereignishaftigkeit des Klangs viel schlüssiger erklärt werden. Irgendwo in einer Klangontologie muss sich mit voller Härte die Seinsfrage stellen: Klang – welche Entität von den vielen, die in Frage kommen, ist das? Diese Frage kann nur über die Analyse der Ereignishaftigkeit von Klängen beantwortet werden. Das Ereigniskapitel ist die richtige Stelle, sie zu beantworten. Zunächst gehen wir das Problem der Differenz zwischen realem und phänomenalem Klangereignis an (1.2.1). Dabei wird eine insgesamt realistische Ontologie von Klängen verteidigt. Die (in der Philosophie unter dem Begriff der Qualia verhandelte) Problematik, ob die diversen Bewusstseinsrepräsentationen eines Klangs völlig identisch, graduell unterschiedlich oder völlig unterschiedlich sind, relativiert sich damit und wird an Phänomenologien nicht der Klänge selber, sondern des Umgangs mit Klängen verwiesen. Einmal mehr wird hier eine Wasserscheide zwischen Soundontologie und sound studies kulturwissenschaftlicher Couleur erkennbar, in welche eine transzendentalphänomenologische Analyse von Klängen münden würde. Eine kulturwissenschaftliche Studie zu Welten und Alltäglichkeiten des klangbezogenen Handelns kann die vorliegende Studie nicht sein – aber das heißt auch umgekehrt, die kulturwissenschaftlichen Klangphänomenologien können keine ontologischen Ansprüche erheben.

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In einem zweiten Schritt beleuchten wir die Problematik von einer anderen Seite, der Frage, auf was klangbezogene Aussagen referieren und wodurch sie wahr oder falsch werden können (1.2.2). Sie wird unterm Strich zu demselben Ergebnis führen.

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Eine schöne Problemanzeige ist das folgende von Casati und Dokic vorgeschlagene Gedankenexperiment.23 In vereinfachter Form findet es sich als Unterrichtseinheit Weckerklingeln in der Vakuumglocke in den Physiklehrplänen an deutschen Schulen und könnte so an einer Tafel im Physiksaal stehen:

Vorzustellen ist ein Behälter, der mit einem Verschluss geöffnet und geschlossen werden kann. Im Behälter ist eine Stimmgabel montiert. Im geöffneten Zustand ist das Volumen des Behälters mit Umgebungsluft gefüllt (Stadien 1, 3 usw.). Schließt er sich, wird er blitzschnell evakuiert und die Stimmgabel befindet sich so lange im leeren Raum (Stadien 2, 4 usw.), bis er sich wieder öffnet und mit Umgebungsluft füllt. Die beiden Zustände wechseln sich in rascher Folge von rund einer Sekunde oder etwas weniger ab. Kurz bevor Stadium 1 eintritt, wird die Stimmgabel angeschlagen und schwingt einige Stadien lang, bis ihre Schwingung irgendwann erloschen ist und sie sich wieder in Ruhe befindet. In der Nähe des Behälters befindet sich ein aufnahmefähiges humanes Ohr. Was hört es? Überhaupt etwas hören tut es nur in den ungeradzahligen Stadien. Es hört in diesen Zeitspannen jeweils einen Klang, der vom Ursachenereignis der

23 Casati/Dokic (2014).

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schwingenden Stimmgabel ausgeht. In den geradzahligen hört das humane Ohr nichts. Die Stimmgabel schwingt zwar weiter, aber es gibt keine Umgebungsluft, auf die sie die Schwingung übertragen und im humanen Ohr einen Reiz verursachen könnte. Soweit ist die Sache unstrittig und trivial. Casati/Dokic argumentieren nun, dass der an das humane Ohr angeschlossene Geist in der Lage ist, sich die ausbleibende auditive Wahrnehmung in den evakuierten Stadien 2, 4 usw. von zwei verschiedenen Richtungen her zu erklären. Er kann erstens von der Klangquelle her feststellen, dass es kein Schwingungssystem gibt, das bis zu ihm reicht. Er kann zweitens von seiner Wahrnehmung her bemerken, dass es ein Schwingungssystem gibt, zu dem er aber keinen wahrnehmenden Zugang hat. Diese Unterscheidung liegt der Konstituierung des Klangindividuums, so wie Casati/Dokic sie sich vorstellen, zugrunde. Zeichnen wir nach, wie das gemäß ihrer Argumentation vor sich gehen soll. Aus der Unterscheidung ergibt sich, welchen prädikativen Status die Eigenschaft, dass etwas schwingt, hier hat. In den geradzahligen Stadien schwingt die Stimmgabel und nur sie. In den ungeradzahligen Stadien schwingt die Stimmgabel und zusätzlich das Umgebungsmedium Luft. Die Schwingung des Umgebungsmediums zeigt sich so als eine Eigenschaft, die sich zu dem Sachverhalt der schwingenden Stimmgabel extrinsisch verhält. (Auf die bedeutsame Unterscheidung zwischen intrinsischen und extrinsischen Eigenschaften von Klängen kommen wir in 2.1 ausführlich zu sprechen.) Extrinsisch heißt, die Eigenschaften der Stimmgabel – und hier natürlich insbesondere die aktuelle Eigenschaft zu schwingen – bleiben dieselben unabhängig davon, wie man die Welt um das Ereignis herum zuschneidet. Der Wechsel zwischen den ungeradzahligen und den geradzahligen Stadien ist im genauen Sinn der Differenz zwischen intrinsischen und extrinsischen Eigenschaften ein Wechsel des Zuschnitts der Welt um das Schwingungsereignis der Stimmgabel herum. Somit kommen Casati/Dokic zu dem Ergebnis, dass die Entität Klang auf das Schwingen der Klangquelle beschränkt werden muss. Um präzise zu sein, die Entität Klang ist das Schwingungsereignis der Klangquelle. Sie ist nicht die Klangquelle für sich und vor allem nicht die Schwingungswellen für sich, denn schwingen und zwar identisch schwingen, aber eben extrinsisch, tut auch das Umgebungsmedium. Diese Bestimmung des Seins des Klangs nennen Casati/Dokic die »located event theory« von Klängen. Denkt man die »located event theory« von Klängen zu Ende, wird allerdings zweifelhaft, ob es sich überhaupt um eine »event theory«, eine

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Ereignisontologie von Klängen handelt. Wenn der Klang ontisch ausdrücklich auf einen eng umzirkelten Ort begrenzt wird, dann wird ein Pendent auf der phänomenalen Seite erforderlich, das das Geschehen an diesem Ort als Klang auffasst. Das phänomenale Pendent ist per ontologischer Verschränkung der ungeradzahligen mit den geradzahligen Stadien implizit in der Theorie auch enthalten. Die Theorie muss daher in irgendeiner Weise damit fertigwerden, dass es im Höreindruck zwischen den geradzahligen Stadien eine auditive Differenz gibt, die zumindest die Lautstärke, bei näherem Hinsehen aber auch weitere Klangeigenschaften betrifft. Das Postulat der Theorie ist ja, dass die Stadien durch einen kontinuierlich klingenden Klang miteinander verbunden sind. Es wird von Casati/Dokic dazu nichts ausgeführt, aber man könnte dieses Postulat damit einlösen, dass man das klassische husserlsche Verfahren der eidetischen Reduktion veranschlagt. Die eidetische Reduktion würde die Differenzen, die im Höreindruck der jeweiligen Stadien (inklusive aller psychoakustischen Effekte, die hier am Werk sind) durch logische Schlüsse reduzieren; und die logischen Schlüsse bestünden just aus den oben angeführten Erklärungen von den zwei Richtungen her. Damit wäre der jeweilige Höreindruck von allen subjektiven und situativen Bedingtheiten gereinigt und würde zu dem reinen Klangphänomen werden, auf das die Theorie hinausläuft. Ob Casati/Dokic jene transzendentale Phänomenologie husserlscher Prägung recht wäre, weiß ich freilich nicht. Diese Konsequenz nicht bedacht zu haben ist indessen gar nicht mein Haupteinwand gegen die Bestimmung der Entität Klang bei Casati/Dokic. Schwerer wiegt der Fehler anzunehmen, es gebe in allen vier (und den folgenden) Stadien ein identisches Schwingungssystem an dem Ort, den die Stimmgabel einnimmt, dazu ein weiteres in den ungeradzahligen Stadien, das uns auditiven Zugang zu ersterem ermögliche. Ob eine Stimmgabel im Vakuum schwingt oder aber umgeben von einem Medium, hat auf ihr Schwingungsverhalten nicht unwesentlichen Einfluss. Die Schwingung einer angeschlagenen Stimmgabel wird auch im Vakuum gedämpft, bis sie irgendwann gegen 0 gegangen ist. Grund der Dämpfung ist die innere Reibungsarbeit, die die Stimmgabel durch ihre Bewegung an sich selber verrichtet. Durch sie wird die Bewegungsenergie auch im leeren Raum über kurz oder lang vollständig in Wärmeenergie umgewandelt. Ist die Stimmgabel von einem Medium umgeben, kommt ein weiterer Dämpfungsfaktor

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hinzu: die Reibungsarbeit, die durch Haft- und Gleitreibung an der Kontaktfläche zwischen Stimmgabel und Medium verrichtet wird. ❮ V i s k o s i t ä t ❯ Haft- und Gleitreibung ist der Grund, warum sich die Schwingbewegung einer Stimmgabel überhaupt auf das Medium überträgt. Wie groß die Haft- bzw. Gleitreibung ist, hängt von der Viskosität des kontaktierten Mediums ab. Die per Haft- bzw. Gleitreibung auf das Medium übertragene Bewegungsenergie wird dort ihrerseits durch innere Reibung in Wärme umgewandelt. Viskosität ist nichts anderes als eine Konstante der inneren Reibung eines Materials. Man kann grob sagen, je geringer die Viskosität des Mediums, desto geringer der Gesamtbetrag an Reibung und damit an Energie, die durch Haft- und Gleitreibung dem kontaktierten Material entzogen wird. (Grob, weil so zum einen die Materialkoeffizienten von Gleitreibung und Haftreibung für die Materialkombination Stahl/Luft vernachlässigt werden und zum anderen unberücksichtigt bleibt, dass beim Kontakt zwischen einem Gas und einem Feststoff vorwiegend die weniger energieintensive Gleitreibung auftritt.) Im Spiel ist also die Viskosität von Luft, und die ist nicht so gering, wie man intuitiv denken mag. Sie beträgt bei Normalbedingungen von Temperatur und Druck rund 17 Millipascalsekunden. Zum Vergleich: Wasser hat eine Viskosität von 1, Motorenöl von 100, Honig von 10.000 Millipascalsekunden.

Bloß ein Gedankenexperiment zu machen führt daher in die Irre. Stattdessen wäre ein reales Experiment anzustellen und zu messen, um welchen Faktor Umgebungsluft die Umwandlung der Bewegungsenergie der Stimmgabel in Wärmeenergie im Vergleich zum Vakuum beschleunigt. Ich habe es nicht durchgeführt, bin mir aber sicher: Er ist signifikant größer als 1. Die Annahme, die Stimmgabel schwinge durch alle Stadien unabhängig von ihrer Umgebung einfach gemäß ihrer inneren Reibung aus, ist also schlicht falsch. In den geradzahligen Stadien wird sie durch die Umgebungsluft gedämpft, die durch sie bewegte Umgebungsluft wird durch ihre eigene Viskosität gedämpft, was wieder Einfluss nimmt auf die mechanische Rückkopplung, die die bewegte Luft auf die Stimmgabel ausübt. Und so weiter. Kurz, in den geradzahligen Stadien schwingt nicht nur die Stimmgabel, es schwingt ein Ensemble von Dingen. Ein Unterschied zwischen Klangquellen, die ein Geräusch machen, und einem Medium, in dem es sich ausbreitet, ist von der Ereignishaftigkeit der Schwingung her gedacht unsinnig. ❮ K l e i n e O n t o t h e o l o g i e d e r K l a n g q u e l l e ❯ Mit diesen Feststellungen sollte die gesamte Rede von Klangquellen ontologisch erledigt sein. Sprach-

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licher Unsinn ließ sich durch philosophische Bücher allerdings selten aus der Welt schaffen. Machen wir also in Konzession an den Sprachgebrauch nun doch noch eine Kleine Ontologie der Klangquelle und verbinden sie gleich mit dem ernsthafteren Problem der religiösen Klangquellen. Die Was-ist-das-Frage an Klänge haben wir nun schon oft gestellt. Und oft schon haben wir bemerkt, dass der sprachliche Unsinn der Rede von Klangquellen sich meist darin zeigt, dass auf die Was-ist-das-Frage mit der Nennung einer Klangquelle geantwortet wird. Sinnvolle und d.h. wahrheitswertfähige Antworten auf die Was-ist-das-Frage dagegen sind pauschale Klangeigenschaften sowie die Feststellung, dass es sich um ein (hörbares) Schwingungsereignis handelt. Ersteres ist eine (pauschale) Eigenschaft 1. Stufe, letzteres eine (pauschale) Eigenschaft 2. Stufe. Was aber ist die ontologische Bestimmung der Klangquelle? Das Rauschen da hinten im Wald ist nicht der Wasserfall, das Dröhnen hinter der Häuserzeile ist nicht der Bagger, das Poltern an der Kreuzung ist nicht die Müllabfuhr, der wunderschöne Geigenklang ist nicht die junge Wundergeigerin aus Finnland und es ist nicht ihre Guarneri Baujahr 1741. Der Klang, der die Mauern von Jericho einstürzen ließ (Jos 6,20), waren nicht die 7 Schofarhörner, es waren auch nicht die 7 Leviten, die sie 7 Tage lang bliesen. Der letztere Fall zeigt aufs schönste, woran es der Antwort mit der Klangquelle gebricht. Klangquellen wie Geigen oder Schofarhörner benennen das Klangereignis unvollständig. Sie klingen nämlich nicht von allein, was wir nun so verstehen müssen: sie schwingen nicht allein. Ebenso unvollständig ist die Angabe der Geigerin und der Leviten, die ohne ihr Instrument schwingungsund klanglos in der Luft herumfuchtelten. Aber selbst Geige plus Geigerin und Schofar plus Levit bilden noch kein vollständiges Klangereignisensemble. Ihnen fehlt der resonierende Boden unter den Füßen und die Luft, die zum Schwingen gebracht wird – Dinge, die in der Rede von Klangquellen nie genannt werden. Auf der anderen Seite sind Angaben wie Wasserfall, Bagger und Müllabfuhr übervollständig. Sie sind so pauschale Entitäten, dass unklar bleibt, ob all das, was diesen Wasserfall in der Hörschbachschlucht, jenen Bagger hinter der Häuserzeile und die Müllabfuhr dort an der Kreuzung ausmacht, zum Klangereignis auch tatsächlich beiträgt. Eine ontologisch sinnvolle Angabe der Klangquelle benennt daher alle Dinge, die in die Kausalkette des Klangereignisses involviert sind. Empirisch ist das meist schwierig bis unmöglich zu ermitteln, was aber ontologisch egal ist. Das Klangereignis in Jos 6,20 hat als Klangquellen, um das mindeste zu sagen, 7 Leviten, 7 Schofarhörner, die Mauern von Jericho und viel schwingende Luft. Bei den Mauern von Jericho haben wir allerdings eine Klangquelle – oder präziser: ein ins Klangereignis involviertes Individuum – möglicherweise

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vergessen. Der Ton aus einem hohlen Widderhorn lässt üblicherweise keine Mauern einstürzen. Es wäre ja sonst gemeingefährlich, indoor einen Schofar zu blasen, wie das in 4 Mose 29,1 für das Neujahrsfest und in 3 Mose 25,9 für das Versöhnungsfest der Juden vorgeschrieben ist. Noch dringlicher wird die Frage nach der Klangquelle im 2. Buch Mose, wo zum ersten Mal von den Schofarhörnern die Rede ist. In Kapitel 19,13ff. steigt Mose auf den Berg Sinai, nachdem von dort (nebst anderen Klangereignissen wie zum Beispiel einem Vulkanausbruch) ein Schofar ertönt war. Der Klang verbreitet beim Volk Israel Angst und Schrecken, vor allem aber war er offenbar so laut, dass er für ein humanes Ohr ab einer gewissen Nähe unerträglich wurde. Das Volk Israel befolgte jedenfalls willig die Anweisung, die zuvor an Mose und Aaron ergangen war, und vom Berg Abstand zu halten. Wer blies das Schofarhorn? Irgendwo muss ein Schofar gewesen und irgendwie muss komprimierte Luft durch das Horn hindurchgepresst worden sein. Diese Dinge haben wir bei Geige plus Geigerin umstandslos dem Klangereignisensemble zugerechnet, und sie müssen auch hier im Spiel gewesen sein. Wie man sich ›Gott‹24 hier vorstellt, ist völlig belanglos: ob als alten Mann mit Rauschebart, ob als apersonale Instanz oder irgendetwas dazwischen. Es spielt auch keine Rolle, ob man die Begebenheit für tatsächlich geschehen oder für frei erfunden oder irgendetwas dazwischen hält. Die Geschichte erzählt von Schofarklängen, und das heißt allermindestens, dass durch eine schofarähnliche Geometrie Luft geströmt sein muss, die willentlich in Bewegung gesetzt wurde, da natürliche Luftbewegungen an natürlich gegebenen Oberflächen eben nie und nimmer solche Geräusche machen. Auch der kulturwissenschaftliche Begriff der Funktion ist gänzlich fehl am Platz. Überhaupt gehört dieses Unwort aus der Musik- und Klangforschung verbannt. Die oft zu lesende Erklärung, der Klang des Schofarhorns habe die ›Funktion‹ gehabt, dem Volk Israel die Anwesenheit JHWHs zu signalisieren, erklärt nichts. Auch wenn der Schofarklang entsprechende mentale Gehalte in den Köpfen der Israeliten hervorrief, muss die Erklärung darauf zielen, dass etwas ›Göttliches‹ im Klang ist. Der Erklärungsanspruch kann freilich kein Gotteserweis sein. Aber er darf nicht dahinter zurück bleiben, dass die ontologische Stelle des Göttlichen in dem Geschehen freigelegt wird. Funktionsbestimmungen kneifen hier konsequent. Wenn es die ›Funktion‹ des Schofars sein soll, am Neujahrs- und am Versöhnungsfest zu erklingen und in irgendeiner unerklärlichen Weise die Anwesenheit JHWHs an diesen Tagen anzuzeigen, ist es dann auch seine ›Funktion‹, das Volk Israel vom Sinai fernzuhalten und die Mauern von Jericho zusammenstürzen zu lassen? Der

24 Warum ich ›Gott› und ›göttlich‹ in Anführungszeichen setze, habe ich ausführlich in Bayreuther (2010), S. 18 begründet. Kurz: weil deskriptive Ontologien (im Unterschied zu Naturwissenschaften) die Individuenentität Gott benötigen, ohne dass sie sich die Beweislast der Existenz jener Entität aufbürden können.

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offenkundige Unsinn zeigt an: Hier geht es nicht um eine dünne Kulturphilosophie der Geltung, hier geht es um harte, klare Individuenontologie. Nicht: Wofür steht der Klang? Sondern: Was ist der Klang des Schofars? Diese Was-ist-das-Frage beantworten wir sinnvoll damit (2. Stufe), ein hörbares Schwingungsereignis zu sein. In der Antwort steckt damit die Aufgabe zu sagen, welche Individuen das Klangereignis konstituieren. Da wir bei den Fragen, woher in diesen Geschichten ein Schofarhorn kommt, das keiner in Händen hat, wie Luft durch es geblasen wird, die aus keinem irdischen Mund kommt, und wie die Luft so stark geblasen wird und Mauern einstürzen lässt, dass sie nicht (nur) aus einem irdischen Mund kommen kann, keine empirisch saubere Antwort geben können, geben wir eine religiöse: ›Gott‹ ist im Spiel. Wie gesagt, es ist unerheblich, ob man die Geschichten für wahr hält oder nicht, ob man an die Existenz ›Gottes‹ glaubt oder nicht. Die Ereignislogik der Geschichten funktioniert nur, wenn man eine entsprechende Entität ins Klangereignisensemble hineinnimmt. Es ist, um auch das zu wiederholen, unwesentlich, wie man sich ›Gott‹ als Individuum der Klangquelle hier vorstellt: Fiktionale Erzählungen, wie es diese biblischen Geschichten sind, sind nicht in allen Details empirisch eruierbar (wie die Ontologie fiktionaler Gegenstände hinlänglich ausgeführt hat). So ist es auch hier müßig zu spekulieren, ob die ›göttliche‹ Instanz sich in menschenförmiger Gestalt an den Klangereignissen beteiligt hat, ob am Berg Sinai ein realer Schofar beteiligt war oder ob ›Gott‹ in anderer Weise auf die Luftschwingung eingewirkt hat, ob sie vor Jericho den levitischen Lungen übermenschliche Kräfte verliehen oder auf den Schalldruck erst außerhalb des Schofars eingewirkt hat. Auch das komplexe Ereignisensemble könnte zur Individuenentität ›Gott‹ zusammengesetzt werden, so wie man die Dinge, die am Rauschklangereignis in der oberen Hörschbachschlucht beteiligt sind, zum Individum Wasserfall zusammenfasst. Die Klangontologie des jüdischen Schofarblasens, übrigens auch die Klangontologie der Musik beim Tempeldienst (1 Chronik 25,1 zur Zeit des Königs David; 2 Chronik 29,25 zur Zeit des Königs Hiskia) ist ein Klangereignis, an dem ›Gott‹ beteiligt ist oder das in seiner gesamten Kausalität als Ereignisindividuum ›Gott‹ begriffen werden muss. Lässt sich eine ontologische Wasserscheide bestimmen, an der das Individuum ›Gott‹ aus den Klangereignissen der religiösen Musik verschwindet? Ja, sie lässt bestimmen, wenn sie auch unscheinbar ist. Alttestamentlich gesprochen liegt sie zwischen 2 Chronik 29,25 und 2 Chronik 29,30. In V.25 wird die Musik zum Tempeldienst beschrieben. V.30 benennt die Musik nach dem Tempeldienst. Immer noch sind es die Leviten, die musizieren. Immer noch blasen sie ihre Schofarhörner. Aber nun loben sie JHWH mit irdischen Klangereignissen. Hier stürzen keine Mauern mehr ein und keine Opferhandlung ist ein von JHWH angenommenes und d.h. unter tätiger Anwesenheit ›Gottes‹ stattfindendes Opferereignis. Es ist das Lob ›Gottes‹. Ob der Mensch einen Psalm zum Lob ›Gottes‹ singt (wobei man sich im Juden- bzw.

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Christentum auf Ps 33,2-3, Ps 71,22, Ps 144,9, Ps 150, Jes 12,5-6, Kol 3,16 und viele weitere Bibelstellen stützen kann), ob es sogar die himmlischen Heerscharen tun (Jes 6,3, Lk 2,13f.) – kein ›göttliches‹ Individuum ist mehr am Klangereignis beteiligt. Mehr oder weniger das gesamte evangelische Verständnis von Kirchenmusik liegt auf dieser Seite der ontologischen Wasserscheide.

Wenn eine Unterscheidung zwischen einer schwingenden Klang-›Quelle‹ und einem schwingungsübertragenden Medium hinfällig ist, werden die geradzahligen und die ungeradzahligen Stadien der Stimmgabel in der Vakuumglocke nicht nur akustisch, sondern ontologisch inkommensurabel. Der Wechsel von einem Stadium zum nächsten ist der Wechsel zwischen zwei verschiedenen Schwingungssystemen. Man kann nicht einmal sagen, im jeweils übernächsten Stadium kehre das je vorletzte Schwingungssystem wieder, bloß um ein bisschen Energie verringert. Denn es war durch das je zwischenliegende Schwingungssystem quantitativ und qualitativ so verändert worden, dass es nicht als die lineare Fortsetzung irgendeines vorherigen aufgefasst werden kann. ❮ M u s i k i n s t r u m e n t e u n d i h r K l a n g e r e i g n i s o r t ❯ Mit dieser Bestimmung wird absurden Unterscheidungen vorgebaut. Gehört die Luft im Inneren von Blasinstrumenten zum Ort der Klangquelle oder ist sie schon Medium? Wo genau an der Einblasöffnung, am Labium und am Schalltrichter verläuft die Grenze zwischen Klangquelle und Umgebungsmedium? Solche Fragen müsste eine ortspezifische Klangontologie beantworten. Aber die Grenzzonen zwischen der Luft drinnen und draußen, die Wirbelbildungen am Labium etwa, die Luft von drinnen nach draußen befördern und Luft von draußen nach drinnen, sind ja doch die klanglich entscheidenden Regionen des Schwingungsereignisses. Am Schalltrichter strömt kontinuierlich Luft von drinnen nach draußen. Es wäre unsinnig zu sagen, dort werde die Schwingung der Innenluft an die Außenluft übertragen.

Wir sind nun einer sicheren ontologischen Bestimmung der Entität Klang schon nahe. Eine Schwierigkeit muss jedoch noch ausgeräumt werden. Sie besteht in dem letzten Zweifel, den die Idealisten und Phänomenologen gegen eine realistische Klangontologie noch aufbieten können, die Tatsache des humanen Hörens. Wenn wir darauf insistieren, dass das Schwingungsereignis des gesamten Ensembles einschließlich des Umgebungsmediums der Klang ist, haben wir uns dann nicht das Gehörtwerden des Schwingungsereignisses wieder aufgehalst? Und wenn das Gehörtwerden ein konstitutiver

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Teil des Klangindividuums ist, haben wir damit nicht doch dem Phänomenalen zum Triumph über das Reale verholfen? Das Umgebungsmedium ist schließlich der Teil des Ereignisses, der erforderlich ist, damit ein Menschenohr etwas hört. Hier gibt es zwei Alternativen. Die eine ist die vermeintlich konsequente und lautet, dass das Klangindividuum einfach all das beinhaltet, was zum Ereignisensemble gehört. Das wäre gewissermaßen eine totale Ereignistheorie von Klängen. In den geradzahligen Stadien wäre das Schwingungssystem aus Stimmgabel plus Umgebungsluft der Klang. In den ungeradzahligen wäre der Klang die schwingende Stimmgabel und sonst nichts. Hier regt sich intuitiver Widerstand. Warum soll etwas ein Klang sein, das nicht nur faktisch nicht gehört wird, sondern prinzipiell unhörbar ist, und zwar nicht nur für den Menschen nicht, sondern für alle mit Hörsinn ausgestatteten Lebewesen? Die Konsequenz wäre intuitiv noch weniger erträglich. Wenn Hörbarkeit als individuenontologisches Kriterium wegfällt, dann wären alle Schwingungssysteme Klänge. Jede schwingende Kinderwippe auf dem Spielplatz wäre Klang, jedes Erdbeben wäre Klang, jeder Wechselstrom in der Leitung wäre Klang, jede elektromagnetische Schwingung wäre Klang. Solche absurden Konsequenzen machen diese Alternative zunichte. Die zweite Alternative scheint inkonsequent zu sein, ist aber die plausiblere. Sie lautet, dass das Klangindividuum das hörbare Schwingungsereignis ist. Die totale Ereignishaftigkeit der ersten Alternative wird hier durch ein Kriterium abgeschwächt, das Kriterium der Hörbarkeit. Es besagt, dass das Dingensemble des Schwingungsereignisses irgendein Element beinhalten muss, das das Ohr eines Lebewesens tangieren und in ihm einen Klangreiz verursachen kann. Eine Schwingung im Vakuum ist somit kein Klang. Führte jedoch von der Stimmgabel durch die evakuierte Glocke nach draußen eine Schnur, an die ein Plastikbecher als Schalltrichter befestigt ist, wäre das Ereignisensemble aus Stimmgabel, Schnur, Becher und der Luft um den Becher ein Klangereignisensemble. Eine elektromagnetische Schwingung für sich genommen ist kein Klang; wenn sie aber, wie etwa eine Starkstromleitung, die umgebende Luft derart in Schwingung versetzt, dass sie gehört werden kann, dann ist sie Teil eines Schwingungsereignisses, das Klang ist.

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❮ O s k a r P a s t i o r : D A S H I F I - H Ö R I C H T ❯ Prosagedicht, 1977 in einer vom Autor gelesenen Aufnahme im S. Press Tonverlag veröffentlicht: 25 »DAS HIFI-HÖRICHT IST ÄUSSERST FEIN GESPONNEN. DER Hörer vernimmt das Geräusch, das sein Ohr beim Hören von Geräuschen macht, die sein Rundfunkempfänger beim Hervorbringen von Geräuschen macht, die der das Hifi-Höricht sendende Sender beim Senden von Geräuschen macht, die das zu diesem Zwecke abgespielte Tonband beim Abspielen von Geräuschen macht, die das Mikrophon beim Aufnehmen von Geräuschen macht, die das Ohr der aufgenommenen Person beim Hören von Geräuschen macht, die eine große Windstille beim Verschlucken einer kleinenr Windstillen macht.«

Zu betonen ist, dass Hörbarkeit nicht faktisches Gehörtwerden ist. Das ist der entscheidende Unterschied zur Konzeption von Casati/Dokic. Sie konnten Kommensurabilität zwischen den Stadien nur herstellen, indem in den ungeradzahligen Stadien faktisches Gehörtwerden, also das Gegebensein eines Phänomens, unterstellt wurde, das dann auf die geradzahligen Stadien projiziert werden konnte. Daher läuft ihr Konzept auf eine phänomenologische Klangontologie hinaus. Phänomenologische Deskriptionen (und daran anschließend vielleicht Ontologien) kann es erst geben, wenn es ein Phänomen gibt. In unserer Klangontologie, die das hörbare Schwingungsereignis als Klangindividuum auffasst, muss es kein Phänomen geben. Wenn sich das Ohr eines wachen Bewusstseins am hörbaren Schwingungsereignis befindet, existiert ein Phänomen, wenn nicht, dann existiert keines.

1.2.2

Die Zeit- und Kausalstruktur von Klangereignissen

Wenn wir auf die Individualität von Klängen referieren, wenn wir also die Was-Frage in einer Klangwahrnehmung beantworten, steht die zeitliche Ausgedehntheit der Klänge nicht im Zentrum einer solchen Bezugnahme. Üblicherweise antworten wir auf die Was-ist-das-Frage mit einer pauschalen Eigenschaft. Ich kenne im Deutschen kein pauschales Klangprädikat, das einen Zeitindex hätte. (Vermutlich gilt das für alle Sprachen. Der große

25 Schriftquelle: A:Pastior, Deutsches Literaturarchiv Marbach. Orthographie und Korrekturen nach dem originalen Typoskript.

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auditive Wortschatz der indigenen amerikanischen Sprachen zum Beispiel kommt nicht durch Zeit-, sondern durch Gegenstandsindizes zustande, mit denen auf dingliche Klangquellen Bezug genommen wird.) Wie in anderen Phänomenbereichen auch haben wir bei Klängen kein explizites Zeitbewusstsein. Die Zeit liegt unter unserem phänomenalen Radar. Gesetzt zwei auditive Bewusstseinsgehalte, die beide eine Sekunde lang sind und die wir auf die Was-Frage hin als Knall und Donner voneinander unterscheiden. Um zwischen den beiden pauschalen Klangeigenschaften abzuwägen, benötigen wir offenkundig nicht die gesamte zeitliche Ausdehnung des Klangindividuums vom anfänglichen An- bis zum finalen Verklingen. Es genügen einige partikulare Eigenschaften. Implizit im Spiel ist die Zeitdimension jedoch sehr wohl. Die phänomenale Zeitspanne lässt sich nicht im Stil einer Differenzialrechnung einem reinen Zeitpunkt der Ausdehnung 0 annähern; mit viel weniger als einer Sekunde kommen wir nicht aus, um den Klang mit einem pauschalen Klangprädikat zu identifizieren. Ein Klang erhält seine Momentancharakteristik eben nicht nur von einem reinen Klangfarbenwert, sondern ebenso von kleinräumigen Entwicklungen, Modulationen oder Wechseln von Klangelementen. Alle diese Elemente haben eine Zeitdimension. Zeitliche Ausgedehntheit und zeitliche Strukturierung sind also implizite Merkmale der Weise, per pauschaler Klangprädikation einen Klang zu identifizieren. Die beiden Merkmale weisen auf den Ereignischarakter von Klängen nicht nur hin, sie sind auch die zentralen Kategorien, mit denen sich die Ereignisebene ontologisch beschreiben lässt. Als Ereignisebene haben wir bisher (1.1.6) die Kette von Ursachen- und Wirkungsereignissen bezeichnet, in der sich die ontologische Abhängigkeit der Klänge manifestiert. Dort haben wir es mit der Bewegung von physischen Körpern und am Ende mit Luftbewegungen zu tun – und Bewegung beansprucht Zeitintervalle, nicht nur Zeitpunktserien. Auch ist eine gewisse Koinzidenz der Zeitstrukturen der beiden Ebenen des ontologischen Schwingungsereignisses und der phänomenalen Klanglichkeit offenkundig: Dem kurzen Knall entspricht ein ebenso kurzes mechanisches Geschehen, bei dem Materie in sehr kurzer Zeit so schnell bewegt wird, dass die Geschwindigkeit der dadurch verdrängten und verdichteten Luft die Schallgeschwindigkeit überschreitet. Wenn ich als Hörer nun nicht neben dem Oberförster auf dem Hochsitz sitze, als er seine Büchse auf das Wildschwein abfeuert, sondern im Wald einen Kilometer entfernt dieselbe Klangquelle als einen Donner vernehme, der einige

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Sekunden lang durch den Wald hallt, dann ist das Ereigniskorrelat nicht nur die kurze Explosion in der Büchse des Oberförsters, sondern darüber hinaus alle Absorbtions- und Reflexionsflächen, die den Klang mit einer gewissen zeitlichen Erstreckung so diversifizieren und brechen, dass das phänomenale Resultat ein Donner ist. Im Donner ist die Laufzeit, die der Schall durch den Wald mit seinen Wegen und reflexionsbedingten Umwegen nimmt, implizit enthalten. Zugleich aber ist evident, dass die intrinsische Zeitstruktur des Ereignisses nicht direkt in die Zeitstruktur des Klangphänomens eingeht, denn von der anfänglichen Explosivbewegung, die vom Ereignisindividuum nicht abgelöst werden kann, ist in der phänomenalen Zeitstruktur des Donners nichts übrig geblieben. Kurz, die zeitliche Ausgedehntheit und Zeitstruktur von Klangereignisindividuen insgesamt und von den Ereignissegmenten, die phänomenal mit einem pauschalen Klangprädikat erfasst werden, haben etwas miteinander zu tun, sind aber nicht identisch. Um diese Beobachtung ontologisch in den Griff zu bekommen, gehen wir nun detaillierter in die Zeitstruktur von Klangereignissen hinein. Worin unterscheidet sich die zeitliche Erstreckung eines gesamten Klangereignisindividuums von den Segmenten des Klang-Zeit-RaumWurms, die mit einem pauschalen Klangprädikat erfasst werden? Die Antwort ist: am zeitlichen Verlauf ihrer Wahrheitswerte. Das ist alles andere als offensichtlich und bedarf der Erläuterung.26 Versuchen wir es uns am Beispiel des Donners klarzumachen. Betrachtet sei ein Zeitintervall, das an Anfang und Ende durch die Zeitstellen t0 und t4 begrenzt sei und dazwischen die Zeitstellen t1, t2 und t3 durchlaufe. Die Abstände der Zeitstellen sind unerheblich. Nun nehmen wir an, an einem bestimmten Ort, etwa in dem Wald des obigen Szenarios, sei zwischen t1 und t3 ein Donnern zu hören. Ein entsprechender prädikativer Satz »es donnert (jetzt)« ist demnach wahr, wenn er an den Zeitstellen t1, t2 oder t3 geäußert wird, hingegen falsch, wenn er zu t0 oder t4 geäußert wird. Nun verlassen wir die phänomenale Ebene der pauschalen Eigenschaften und gehen zum ontologischen Klangereignisindividuum. Im obigen Szenario könnte es so aussehen, dass der Oberförster an t1 (oder, relativ zum Hörer des Donners einen Kilometer entfernt, kurz vor t1, aber das spielt hier keine Rolle) mit dem Jagdgewehr auf das Wildschwein feuert, was eine Druckwelle auslöst, die sich durch den Wald bis hin zum Hörer ausbreitet und sich

26 Die folgende Überlegung verdankt sich Kienzle (1994), S. 434.

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dabei am Waldboden, an Baumstämmen und Baumkronen vielfach bricht, bis sie spätestens am Ort des Hörers im Medium Luft, mit dem seine Ohren in Berührung sind, den Schwingungscharakter des Donners angenommen hat. Die Ausdehnung des Schwingungsereignisses erstreckt sich von t1 über t2 bis zum Zeitpunkt t3, an dem sich die Energie der Schalldruckschwankungen vollständig in Wärme umgewandelt hat und der Druck wieder auf dem Niveau des stationären Drucks von vor t1 liegt. Eine entsprechende Aussage »eine Druckschwankungswelle läuft (jetzt) durch den Wald und bricht sich an den gegebenen Flächen« ist ebenfalls zu t1, t2 und t3 wahr sowie zu t0 und t4 falsch. Die beiden Wahrheitswertverläufe sehen gleich aus, unterscheiden sich aber in einem wesentlichen Punkt. Die erstere Aussage über den hörbaren Donner bezieht sich punktuell auf ihre jeweilige Zeitstelle t1, t2 oder t3. Wird die Aussage etwa zu t1 gemacht, so gibt es weitere Zeitpunkte, an denen eine anderweitige wahre Aussage zu dem Klangindividuum möglich ist: t2 und t3 (und im Prinzip alle dazwischen liegenden Zeitpunkte). Entscheidend ist zu erkennen, dass die Existenz des Donners zwar kontinuierlich von t1 bis t3 andauert, die Aussagen aber nicht dieses Andauern als solches und folglich auch nicht das Klangereignis als solches erfassen, sondern nur das Gegebensein des ausgedrückten Bewusstseinsgehalts zum jeweiligen Zeitpunkt. Erinnern wir uns an die Überlegungen in 1.1.5.4, wo wir den Fall erörtert hatten, dass die Wahrnehmung ein und desselben Klangindividuums unterbrochen und später wieder aufgenommen werden kann. In unserem Szenario kann etwa das Donnern für ein kleines Zeitintervall zwischen t1 und t3 an einem bestimmten Ort von einem Hundebellen überlagert werden, danach ist wieder der Donner hörbar. Das zeigt, dass spätere mögliche wahre Aussagegehalte relativ zu t1 oder t2 den Zeitstatus echter Zukünftigkeit bzw. bereits geäußerte wahre Aussagegehalte relativ zu t1 oder t2 den Zeitstatus echter Vergangenheit haben. Ob das Klangereignis zwischen t1 und t3 kontinuierlich existierte und für einen idealen Hörer an einem idealen, weil störungsfreien Ort lückenlos zu hören war, oder ob es Unterbrechungen gab, ändert an jener echten Zukünftigkeit bzw. Vergangenheit nichts. Anders verhält es sich bei der Aussage über die Ausdehnung der Schwingung. Die einzige Zukünftigkeit bzw. Vergangenheit, die es bei wahren Aussagen über das Ereignis der Ausdehnung des Schallfelds im Wald zwischen t1 und t3 gab, betrifft die Zeitpunkte der Aussage. Aber ganz gleich wann zwischen t1 und t3 wir eine wahre Aussage machen, der Aussagegehalt

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kann zwischen t1 und t3 ausschließlich den Zeitstatus der Gegenwärtigkeit haben. Relativ zu t0, wo das Ereignis noch nicht existierte, ist die Wahrheit des Aussagegehalts ausschließlich zukünftig; relativ zu t4, wo es nicht mehr existiert, ist sie ausschließlich vergangen. Der Aussagegehalt beinhaltet konstitutiv die Semantik eines kontinuierlichen und zeit-räumlichen Ausdehnens eines absolut singulären und daher individuellen Geschehens. Grammatisch und lexisch bleibt dieses ausgedehnt Vorkommnishafte oft unkenntlich. In meinem obigen Aussagesatz ist es lediglich das präsentische Ereignisverb »läuft«, das darauf hin deutet. Was haben wir mit dieser Überlegung gewonnen? Sie erlaubt uns, zwei Weisen zu unterscheiden, wie sich Entitäten in Zeiträume erstrecken: einerseits Zustände, andererseits Vorkommnisse. Die zeitliche Existenzform des Individuenaspekts des Klangs, der mit einem pauschalen Klangprädikat erfasst wird, ist der Zustand. Auch verschiedene pauschal adressierte Klänge, die zu verschiedenen Zeiträumen und eventuell mit zeitlicher Lücke existieren, können ein und denselben Zustand ausbilden. Innerhalb eines Zustands lassen sich immer Zeitstellen finden, relativ zu denen der Zustand vergangen war bzw. zukünftig sein wird. Ein Zustand ist immer eine Momentaufnahme, an der nicht zu erkennen ist, ob man sie genau so schon vorher machen konnte und zukünftig machen können wird. Unsere Beobachtung, dass auch anhaltend hörbare Klänge, sofern wir sie pauschal erfasst haben, uns in ihrer Statik erscheinen, das heißt mikrotemporale Veränderungen, Oszillationen, Modulationen gerade nicht als Veränderungen, sondern als Charakteristik der pauschalen Eigenschaft aufgefasst werden, präzisiert sich nun damit, dass die Zeitform des pauschaleigenschaftlich identifizierten Klangs der Zustand ist. Wenn wir dagegen just jene Veränderlichkeit eines Klangs erfassen wollen, dann wechseln wir nolens volens die ontologische Ebene und begeben uns auf das Feld der Ereignisse. Das, was sich ereignet, sind kausal verkettete Materiebewegungen. Hier herrscht, und man sollte sich das auf der Zunge zergehen lassen, trotz aller vergehenden Zeit und ihren Zeitpunkten, die auf der Zeitachse ein vorher/nachher, früher/später, vergangen/zukünftig abbilden, das reine Präsens. ❮ ES: V ar iat io nen üb er L ic ht enb erg und H eid eg g er❯ Aus Lichtenbergs Sudelbüchern: »Wir werden uns gewisser Vorstellungen bewußt, die nicht von uns abhängen; andere glauben, wir wenigstens hingen von uns ab; wo ist die Grenze? Wir kennen nur allein die Existenz unserer

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Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken. Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt«. 27 Aus Heideggers Dissertation: »Wie das negative Urteil stellt auch das impersonale, genauer seine organische Hineinarbeitung in die allgemeine Urteilslehre, für jede Urteilsdefinition eine Belastungsprobe dar. Das Problem wird sofort deutlich, wenn wir für die fragliche Urteilsform eine gebräuchlich gewordene Bezeichnung einführen: ›subjektlose Sätze‹. Kann in dem Satz ›es blitzt‹ die Relation gefunden werden, die als das Wesen der Relation festgelegt wurde? Man könnte sagen: ›von dem »es« gilt das Blitzen.‹ Was bedeutet nun das ›es‹? Will ich denn von einem mysteriösen ›es‹ eine Eigenschaft, einen momentanen Zustand aussagen, oder hat das Urteil einen ganz anderen Sinn? Wenn eine elektrische Entladung die bekannte Lichterscheinung am Himmel hervorruft, will ich dann, falls ich das genannte Urteil vollziehe, von dem ›Wirklichen das Blitzen‹ aussagen? Soll das reale Etwas einen Namen erhalten? Wenn auf die Frage nach dem Namen der betreffenden Naturerscheinung geantwortet werden soll, geschieht das nicht durch den Satz ›es blitzt‹, sondern etwa durch die Aussage wie: ›das nennt man Blitz‹, oder ungenauer ›das ist ein Blitz‹. Mit dem Urteil ›es blitzt‹ wird jedoch ein anderer ›Gedanke‹ geäußert, d. h. es hat nicht den Sinn eines Benennungsurteils. Das Urteil sagt vielmehr, daß etwas geschieht; auf dem Stattfinden, dem plötzlichen Hereinbrechen ruht der Gedanke. Dementsprechend findet der Sinn des Urteils seine genaue Bestimmung, wenn dem Urteil die Form gegeben wird: ›das Blitzen ist wirklich‹, ›vom Blitzen gilt das Wirklichsein‹, genauer ›das Existieren‹. Aber man sieht leicht, daß die Umformung dem nicht gerecht wird, was wir eigentlich meinen. Keineswegs soll behauptet werden, daß es wirklich ein Blitzen gibt und die so benannte Erscheinung nicht etwa eine Täuschung ist, daß allgemein so etwas wie ein Blitz überhaupt im Naturgeschehen existiert. Am allerwenigsten kann das Wirklichsein des Begriffes ›blitzen‹ gemeint sein, dagegen allerdings das Existieren des mit dem Begriff gemeinten realen Vorgangs. Endgültig treffen wir den vollen Sinn, wenn wir sagen: das mit dem Wort Blitzen Gemeinte realisiert sich; ›von dem Blitzen gilt das jetzt Stattfinden, das momentane Existieren.‹ Das impersonale Urteil fällt nicht mit dem einfachen Existenzialurteil zusammen, insofern ganz allgemein das Existieren als geltend ausgesagt ist, das Wirklichsein; genauer: das Existieren ist ein zeitlich determiniertes, oft nur auf einen Augenblick beschränktes (es blitzt) oder ein auf längere Dauer Ausgedehntes (es regnet). Die impersonalen Urteile als unbestimmte zu charakterisieren, trifft ihren Sinn nicht. Wenn ich z. B. mit meinem Freund im Manöver einer schnell voraus- und in Feuerstellung aufgefahrenen Batterie nacheile und ich im Moment, wo wir den Geschützdonner hören, sage: ›eile,

27 Lichtenberg (1793-96), S. 412.

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es kracht schon‹ – dann ist völlig bestimmt, was kracht: der Sinn des Urteils liegt in dem Krachen, in seinem jetzt (schon) Stattfinden.« 28 Ein Philosoph, der seit Víctor Farías’ Buch Heidegger y el nazismo (1987) unermüdlich Heidegger des schlampigen Umgangs mit (griechischer) Grammatik bezichtigt und das in den größeren, ja ganz großen nationalsozialistischen Zusammenhang stellt, dass Heidegger überhaupt keine wissenschaftliche Philosophie im Sinn gehabt habe29 – jener Philosoph sagt zu der zitierten Passage aus Heideggers Dissertation: »Heidegger hat sich nie darauf eingelassen, in einem ›Es schneit‹ einen unbestimmten Lokativ spatialer Art und in einem ›Es gibt Schnee‹ einen unbestimmten Lokativ temporaler Art zu sehen. Bereits in der Dissertation hält er es mit einem ganz speziellen Verständnis des ›es‹ (GA 1, 99, 185): ›Es blitzt‹ – daraus hört er das Plötzliche und Ereignishafte heraus, das ein Es-Satz als solcher zu verstehen gebe, obgleich schon ein ›Es ist kalt‹ anders zu hören ist.« 30 Später schreibt er dazu noch einmal: »Nicht von ungefähr gesellt sich zum Neutrum Dasein das Neutrum Es. Bereits 1914 greift Heidegger es auf, um auf momentanes und plötzliches Geschehen zu verweisen. Bevorzugte Beispiele sind ›Es kracht‹ und ›Es blitzt‹, mit denen er die Mystifikation des Es anbahnt, anstatt sie als unbestimmten Lokativ zu erkennen.« 31 Am Anspruch der grammatischen Genauigkeit muss sich auch meine Analyse der schon vielberaunten ES-Sätze messen lassen (und zugleich werde ich nicht müde zu betonen, dass eine grammatische Analyse der ontologischen Hinweise geben, aber nicht den Weg weisen kann). Salopp gesagt, lassen wir ES also krachen. Was ist im Deutschen ein räumlicher oder zeitlicher Lokativ? Bei Sätzen wie »es blitzt«, »es kracht«, »es rauscht«, auch wie »Es klappert die Mühle am rauschenden Bach« und »Es tönen die Lieder« kommt für einen lokativen Kasus nur das Pronomen »es« in Frage. Die pauschalen Klangprädikate werden ja nicht dekliniert. Ein Lokativ ist aber schon deshalb abwegig, weil es im Deutschen und generell in den indogermanischen Sprachen gar keinen Lokativ gibt. Modernes Migrationshintergrunddeutsch wie »Isch geh Kita« mit dem Lokativ »Kita« vom Nominativ »Kita« ist die Ausnahme von der Regel. Im Deutschen steht ein Pronomen, dem ein Verb folgt, üblicherweise im Nominativ (»er friert«, »sie friert«, »es [das Kind] friert«), manchmal im Akkusativ (»ihn friert«, »sie friert«, »es friert«). Grammatisch ist »es« in allen angeführten Sätzen zweifellos ein Pronomen. Seiner grammatischen Funktionalität als Pro-Nomen, als Stellvertreter für ein Nomen, das wiederum eine Person oder ein Ding, ein ontologisches Individuum also, bezeichnet, entspricht auch nur der Nominativ: Es wird von dem Ding

28 Heidegger (1914), S. 185f. 29 Marten (1988). 30 Marten (2013), S. 274. 31 Marten (2016), S. 46.

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eine Eigenschaft ausgesagt. Von einem spatialen oder einem temporalen Raum allein, ohne Angabe eines Individuums in ihm, können Eigenschaften wie krachen, blitzen, frieren nicht ausgesagt werden. Marten steckt also grammatisch in einem doppelten Widerspruch: Sein »es« muss ein Pronomen sein, denn nur als Pronomen könnte das »es«, wenn es einen Lokativ im Deutschen denn gäbe, im Lokativ stehen. Aber zugleich kann das »es« kein Pronomen sein, denn ein bloß räumlicher oder zeitlicher Raum, in dem es blitzt und kracht, kann nicht von einem Pronomen vertreten werden. Symptomatisch ist, dass das Wörtchen »es« nicht verschwindet, wenn man in dem gemeinten Zeit-Raum ein Individuum konkretisiert: »Es regnet auf der Stuibenhütte«, »es blitzt und kracht in Stuttgart« oder eben »Es klappert die Mühle am rauschenden Bach«. Der Lokativ in Martens Analyse des »unbestimmten Lokativs« ist also unbrauchbar. Wie steht es mit der Unbestimmtheit? Marten insinuiert, Heidegger habe am Ende der zitierten Passage die Auffassung, das »es« sei der Platzhalter für etwas nicht näher Bestimmtes, leichtfertig zurückgewiesen, ohne die Argumente zu erwägen. Nun überschreibt Heidegger das entsprechende Kapitel seiner Doktorarbeit mit »Das impersonale Urteil« und spricht von der »gebräuchlich gewordene[n] Bezeichnung« der Es-Sätze als »subjektlose[n] Sätze[n]«. 32 Mit den beiden Charakterisierungen des Impersonalen und Subjektlosen verweist Heidegger auf eine umfängliche Forschungstradition der Logik und Grammatik durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch bis zur Zeit der Abfassung, zusammengefasst etwa in dem Artikel »Subjektlose Sätze« im Wörterbuch der philosophischen Begriffe von 1904, wo zu Beginn erläutert wird: »Subjektlose Sätze (Impersonalien, wie z.B. die ›meteorologischen Sätze‹: es blitzt, es regnet. ferner: es klopft u. dgl.)«.33 Heidegger kannte offenkundig diese Tradition, kennt sie auch Marten? Gestützt auf die damals etablierte Auffassung und auch nach heutigen grammatischen Maßstäben korrekt analysiert Heidegger das »es« als ein formales Subjekt, über das eine prädikative Aussage gemacht wird. Zugleich betont Heidegger, dass man das »es« nicht als Stellvertreter für ein Subjekt auffassen kann. Nicht für ein bestimmtes Subjekt: Das »es« in »es blitzt« ist nicht der Blitz, das »es« in »es regnet« ist nicht der Regen, das »es« in »Es klappert die Mühle am rauschenden Bach« ist nicht die Mühle am rauschenden Bach. Aber auch nicht für ein unbestimmtes Subjekt: Die Subjekte in diesen Sätzen oder in dem »es kracht« im Gefecht sind gar nicht nebulös, wenn man sie nicht als dingliche, sondern als ereignishafte Individuen begreift. Kurz, das »es« ist kein Pronomen, und auch damit liegt Heidegger (im Unterschied zu lokativen Analysen) richtig. Schon in 1.1.1 mussten wir die Lektion lernen, dass das Individuum, an dem die Klangeigenschaft des

32 Heidegger (1914), S. 185. 33 Eisler (1904).

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Brummens individuiert ist, nicht das Motorrad, sondern das laufende Motorrad ist. Das Individuum, das das Klappern individuiert, ist nicht die Mühle, sondern die in Betrieb befindliche Mühle. Das Individuum, das das Krachen individuiert, ist kein unbestimmtes Zeit-Raum-Segment und auch kein Ding wie die Dicke Bertha, sondern das Schwingungsereignis, das einen konkreten Zeit-Raum-Wurm aufspannt und konkrete Dinge einbegreift. Heidegger hat also auch damit recht, die Eigenschaften statt etwas Dinglichem einem Stattfinden zuzuordnen. Diese Analyse ist in der besagten Forschungstradition nicht komplett originell, common sense war sie auch nicht. In der Zeit um 1914 gab es keine ausgearbeitete Ereignisontologie. Man sollte dem Doktoranden Heidegger daher nicht vorwerfen, dass seine Andeutungen, wie die meteorologische oder klangliche Prädikation von Ereignissen ontologisch beschaffen ist, unscharf bleiben. Aber sie treffen intuitiv einen der kritischen Punkte der Ereignisontologie, den Davidson Jahrzehnte später (wie wir in 1.2.3 sehen werden) als das verschwiegene Ereignisprädikat in Ereignissätzen herausgearbeitet hat. Das kommt etwa an dem Satz »Von dem Blitzen gilt das jetzt Stattfinden« zum Vorschein. Er ist eine unausgewiesene Umkehrung von Sigwarts Satz: »Vom Stattfinden wird das Blitzen ausgesagt, nicht vom Blitzen das Stattfinden«. 34 Im Licht von Davidson hat einmal mehr Heidegger recht, indem er das Ereignisprädikat des Stattfindens erkennt, das grammatisch in den Es-Sätzen nicht auftaucht, aber ontologisch zwingend ist. Das »es« steht also nicht stellvertretend für ein Satzsubjekt bzw. ein ontologisches Individuum. Dass in Es-Sätzen räumliche und zeitliche Aspekte des Geschehens mitschwingen, obwohl grammatisch nichts davon zu sehen ist, ist nicht erst Marten aufgefallen, es durchzieht die gesamte Forschungstradition zu den Impersonalia. Wo aber in den Sätzen sollen die Aspekte verankert sein, wenn abstruse Lokative nicht in Frage kommen? In nichtereignishaften Aussagen ist die zeit-räumliche Individuierung einer Eigenschaft durch das Individuum bestimmt. Heidegger behauptet nun, das »Subjekt« eines Es-Satzes sei die gesamte Situation. Damit ist meiner Auffassung nach absolut treffend gesagt, dass der Zeit-Raum, an dem die Ereigniseigenschaften des Blitzens, Krachens, Klapperns, Regnens individuiert sind, durch den gesamten Ereignissatz ausgedrückt wird und nicht durch seine Bestandteile. Er kann nicht durch das »es« allein definiert sein, denn im »es« steckt kein Individuum. Das »es« in »es regnet« steht also nicht für einen Ort, an dem die Eigenschaft des Regnens neben allen möglichen anderen Eigenschaften (zum Beispiel, bewaldet zu sein, schneebedeckt zu sein und auf 1640 Meter Höhe zu liegen) individuiert ist. Es konstituiert den Zeit-RaumWurm allein durch das Regnen. Alles, was ich sonst noch von diesem Ereignisort aussage, etwa dass Theresa, Christian und Anno sich dort befinden, dass

34 Sigwart (1888), S. 54.

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dort die Stuibenhütte steht, dass es dämmert, dass Schnee liegt, steht im Bann des Ereignisses. Wie steht es mit der Zeitlogik des Momentanen, des Plötzlichen, des Hereinbrechens, des Jetzt, die Heidegger unter dem Eindruck des ausgebrochenen Weltkriegs behauptet? Für Marten ist das nichts Geringeres als früher philosophischer Faschismus, der später in die Zeitlogik von »Schicksal« und »Kampf« in der Rektoratsrede ausartet. Wir sind auf dem verminten Gelände der Heideggerforschung. Bei falscher Bewegung stirbt man den Akademikertod. Anders als Marten will ich zwei Fragen getrennt voneinander stellen: Erstens, stimmt die ontologische Argumentation? Zweitens, über welche ontologischen Postulate kommt man von der Ereignisontologie von »es regnet« und »es kracht schon« zur Ereignisontologie des schicksalsbestimmten und kämpfenden deutschen Volks, und sind sie philosophisch triftig? Letztere Frage ist nicht das Thema dieser Abhandlung und muss daher andernorts erörtert werden. Erstere Frage ist Thema dieser Abhandlung und wird in der vorliegenden Scholie erörtert – aber strikt getrennt von der zweiten, mit der die erste zu vermischen ich keine guten Gründe erkennen kann, eher einige schlechte. Also zur ersten und nur zur ersten: Ist das »schon« und das »jetzt« eine plausible zeitlogische Explikation der Ereignissätze? Die zeitlogische Unterscheidung zwischen Zustand und Vorkommnis hat uns hierzu die entscheidenden Gesichtspunkte geliefert. Marten hält die Explikation der Gegenwärtigkeit für mystifizierend. Das ist selber eine recht mystische Angabe eines Grunds. Ich kann daher nur vermuten, dass Marten den Zeitpunktindex der Gegenwärtigkeit für selbstverständlich hält. Viele prädikative Sätze wie etwa »R.B. schreibt am Soundontologiebuch«, »dieser Ball ist rund« und eben »es kracht« indizieren unausgedrückt einen Zeitpunkt, an dem der Satz den in einer assertorischen Performanz stets ungesagt mitbehaupteten Wahrheitswert hat, wahr zu sein. Zur Selbstverständlichkeit dieser Zeitpunktindizes des Wahrheitswerts gehört, dass damit nichts über den Wahrheitswert derselben Aussagen zu einem vergangenen oder zukünftigen Zeitpunkt impliziert ist. Zukünftige gleichlautende Aussagen können zukunftsoffen wahr oder falsch sein. Wenn in fünf Sekunden das Telefon klingelt und ich abnehme, werde ich nicht mehr am Soundontologiebuch schreiben, wenn aber schon in drei, dann wird die Aussage schon in drei Sekunden falsch sein. Wenn der Ball in einer Stunde in die Dornenhecke der Nachbarn fliegt, wird er danach nicht mehr lang rund sein. Und wenn auf dem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs die Geschützbatterie kracht (was Heidegger, als er kurz vor Drucklegung der Dissertation die zitierte Passage schrieb, nie mit eigenen Ohren gehört hat, da er als untauglich eingestuft war, was ihm aber die kämpfenden Kommilitonen brieflich ausführlich berichteten)? Da wird keiner gelassen sagen, schauen wir mal, ob wir sie in fünf Sekunden immer noch krachen hören. Darauf zielt Heideggers »schon« und »jetzt«. Der Sinn der Zeitindizes ist, dass es aus dem Wahrheitswert der Ereignissätze kein Entrinnen gibt, so lange das Ereignis stattfindet. Die

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absolute Gegenwärtigkeit des Wahrheitswerts ist, wie wir oben gesehen haben, keine Mystifikation, sondern die korrekt erkannte Zeitlogik von Ereignissen – sofern der Zeitindex das Ereignen selbst in seiner unerbittlichen zeiträumlichen Extension indiziert und nicht einen distanzierten Beobachterstandpunkt, der sich jetzt dem Krachen widmen und im nächsten Moment woanders hinhören kann. Vielleicht liegt hierin der ganze ontologische Unterschied: Marten äußert seine Kritik aus dem warmen, distanzierten Philosophensessel. Heidegger entwirft eine Ereignisphilosophie, die das Ereignen im Zeit-Raum-Wurm ihres Ereignens erfasst. Eine Mystifikation Heideggers ist dennoch zu beklagen. Sie setzt aber nicht schon 1914 ein. Aus dem Umstand, dass das Sein in impersonalen Ereignissätzen vom Ereignis insgesamt ausgedrückt wird und nicht nur von einem prädizierten dinglichen Individuum, schloss Heidegger später, Ereignissätze könnten logisch überhaupt nicht analysiert werden. Sie bedürften »metaphysischen Anfangsgründen der Logik« 35 oder einer überhaupt nicht mehr metaphysischen Philosophie des einfachen Sagens. Von da, aber auch erst von da aus steuert Heidegger in eine Große Ereignisphilosophie, die unbeschadet ihrer vielen richtigen Gedanken eine monströse Nichtwissenschaftlichkeit vor sich her trägt. Das ist so falsch wie unnötig. Davidsons Ereignisphilosophie, die wir in 1.2.3 für die Ontologie von Klangereignissen in Anspruch nehmen, zeigt auf, dass der Weg von der triftigen Ereignisanalyse der Dissertation in die A-Logik der Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis nicht zwangsläufig ist. Unnötig ist er auch, weil er einen anderen triftigen Gedanken des späteren Heidegger durchkreuzt, den des Überbrückens der Seynsfuge zwischen Sein und Seiendem durch Technik. Wie anders als durch Logik, die gewaltsame Logik der Booleschen Algebra und der Heaviside-Funktion zwar, aber eben doch Logik, könnte die Technik gleichursprünglich mit dem Ereignis werden?

Im Folgenden stellen wir etwas knapper einige Merkmale der Unterscheidung von Zustand und Vorkommnis dar.

1.2.2.1

Anfang und Ende

Bei Klangentitäten des Zeittyps Zustand lässt sich schwerlich von Anfang und Ende sprechen. Zweifellos, der ideale Hörer aus 1.1.5.4, der kein Bedürfnis nach Nahrung, Wärme und Schlaf kennt, kann monatelang am unteren Hörschbachfall ausharren, auf die Uhr schauen und im Tauwetter nach

35 Heidegger (1928), insb. S. 86ff.

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strengem Frost protokollieren, wann das Rauschen beginnt, und ebenso, wann es im Sommer während einer längeren heißen und trockenen Wetterphase wieder erlischt. Die Menge von Zeitstellen, die er gesammelt hat, enthält einen frühesten und einen spätesten Zeitpunkt. Das bringt uns aber nicht wirklich weiter, was sofort klar wird, wenn wir uns einen zweiten idealen Hörer denken, dessen Ohren noch so sensibel sind wie die eines neugeborenen Menschenkinds. Er wird für dasselbe Phänomen des Rauschens einen leicht früheren Start- und einen etwas späteren Endzeitpunkt protokollieren. Wer hat jetzt recht? Natürlich haben beide korrekt protokolliert. Auch haben beide denselben Zustand erfasst. Allerdings haben sie je unterschiedliche Zeitstellenmengen des Zustands erfasst. Das zeigt uns, dass es keinen Sinn ergibt, die früheste bzw. späteste Zeitstelle als Anfang und Ende in dem Sinn des Währens eines Vorkommnisses aufzufassen. Klangentitäten vom Zeittyp Vorkommnis dagegen haben einen Anfang und ein Ende. Sie beginnen, wenn die Eigenschaften ko-individuiert sind, um kausal ein Schwingungsereignis auszulösen, und enden damit, dass sich die Energie der Schwingungsbewegung in Wärmeenergie umgewandelt hat. Dazwischen erstreckt sich die kausale Kette der Ko-Individuierung von Eigenschaften, die hinreichend sind, um die Schwingungsbewegung aufrechtzuerhalten. In der allgemeinen Zeitontologie sind recht sophistische Argumente zu den Fragen gesponnen worden, ob der Anfangs- bzw. Endzeitpunkt von Vorkommnissen konjunkt oder disjunkt an das Vorherige bzw. Nachherige anschließt und ob der Anfangs- bzw. Endzeitpunkt ausdehnungslos oder ausgedehnt ist. An letzterer Frage hängt auch die gesamte Theorie sogenannter instantaner Vorkommnisse. Das sollen Vorkommnisse oder Teilvorkommnisse von Vorkommnissen sein, die nur einen Zeitpunkt lang dauern.36 Wir machen um sie keine Umstände und sprechen stattdessen einfach vom ersten bzw. letzten Zeitpunkt eines Klangvorkommnisses. Das Klangvorkommnis selber ist bewegt, nicht seine einzelnen Zeitpunkte, an welcher Stelle auch immer sie liegen. Ein weiteres Argument gegen die Annahme instantaner Vorkommnisse bei Klängen ist, dass es auch für sehr kurze Klänge wie einen Knall oder ein Klicken überhaupt sinnlos erscheint, sie auf einen einzigen Zeitpunkt festzunageln. Phänomenal mögen sie nur einen Moment dauern; wechseln wir aber auf die ontologische Ereignisebene, liegt

36 Klassische Referenz ist Aristoteles: Physik VI 3.

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ihnen ebenso wie lang anhaltenden Geräuschen eine Kausalfolge von mehreren Eigenschaftskonstellationen zugrunde. Auch eine für humane Aufmerksamkeitsspannen vergleichsweise kurze zeitliche Ausdehnung mancher Klänge ist eben ausgedehnt. Ein kategorialer Unterschied zu viel längeren Zeitstrecken, in denen etwa ein Donner oder ein Rauschen sich ereignen, ist nicht zu erkennen. Kurz, instantane Vorkommnisse sind in der Klangontologie Unsinn.

1.2.2.2

Die Strukturierung von Klangvorkommnissen und das Imperfektiv-Paradox

In der Ereignisontologie hat sich eine ausgearbeitete Taxonomie der inneren Struktur von Vorkommnissen etabliert. Ausgangspunkt waren die Arbeiten des ungarisch-amerikanischen Linguisten Zénó Vendler.37 Er erkannte, dass alle Verben eine spezifische temporale Struktur des mit dem Verb ausgedrückten Vorkommnisses aufweisen, die sich in drei Dimensionen fassen lässt: (i) Handelt es sich um einen (statischen) Zustand oder ein (dynamisches) Geschehen? (ii) Läuft das Geschehen auf einen bestimmten Endzustand zu, ist es also telisch, oder hat es keinen bestimmten Endzustand und ist atelisch? (iii) Ist das Geschehen punktuell oder durativ? Lässt sich mit dieser Dimensionalität von Ereignissen (die bei Vendler zu vier Ereignistypen mit je charakteristischer Ereignisstruktur führen, was ich hier nicht weiter ausführe) für unser Thema etwas gewinnen? Betrachten wir die Dimension (i): Sind Klänge statisch oder dynamisch? Tja, sie sind beides, je nachdem, ob die phänomenale Ebene der pauschalen Prädikate oder die ontologische des Ereignisses betrachtet wird. Wenn es rauscht, dann ist für die Menge der Zeitstellen, auf die das pauschale Klangprädikat zutrifft (und eine entsprechende Aussage wahr ist), die Eigenschaft des Rauschens statisch gegeben. Zugleich aber kann das korrelierende Vorkommnis nichts Statisches sein, denn sonst würde es nicht rauschen. Ebenso ins Leere läuft die Dimension (ii): Während man bei Vorkommnissen, die Handlungen sind, durchaus sinnvoll zwischen der ziellosen Handlung »Boris baut« und der zielgerichteten Handlung »Boris baut ein Haus« unterscheidet, trifft auf Klangvorkommnisse weder das eine noch das andere zu. Auf welches Ziel 37 Vendler (1957) und (1967).

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sollte das Vorkommnis, von dem der Donnerklang im Wald ontologisch abhängig ist, nachdem der Oberförster den Abzug der Büchse betätigt hat, zulaufen? Zweifellos, wenn es nicht darauf zuläuft, dass die Munition explodiert, eine starke Druckerhöhung rund um den Explosionspunkt erzeugt wird und sich die Druckdifferenz in einem langen Schwingungsgeschehen allmählich im Wald abbaut, dann existiert ein Klangvorkommnis mit der Pauschaleigenschaft des Donners nicht. Aber dass die charakteristische Schwingung das Telos des Büchsenschusses sein soll, leuchtet ganz und gar nicht ein. Man kann zum Beispiel einwenden, dass die physikalische Kausalkette mit der Luftschwingung nicht zu Ende ist. Das besagt der 2. Hauptsatz der Thermodynamik: Die Energie der Luftbewegung wird sich weiter umwandeln in andere Energieformen. Das Vorkommnis, das uns eine Hörerfahrung beschert, ist nur ein Durchgangsstadium im ewigen Nullsummenspiel der physikalischen Kräfte. Man kann weiterhin einwenden, dass die Kausalität, mit der aus einer bestimmten Eigenschaftskonstellation hinreichend die nächste folgt, nichts Telisches hat. Telisch ist eine Entwicklung, die über viele Kausalitätsphasen einem bestimmten Zustand zustrebt. In der mechanischen Kausalität eines Schwingungsereignisses aber lässt sich aus einer Eigenschaftskonstellation die folgende nie vollständig vorhersagen, denn die ergibt sich an einem neuen Ort, an dem kontingente Bedingungen herrschen. Aus dem Ziehen des Abzugs könnte statt dem Donner auch ein Fauchen resultieren, dann nämlich, wenn der Schlaghahn auf feuchtes Pulver trifft und es nur verpuffen lässt. Physikalische Kausalität ist mit der Unterscheidung telisch/atelisch prinzipiell nicht zu fassen. Bleibt schließlich die Dimension (iii), die wir bereits oben für Klangvorkommnisse verworfen hatten: Auch (phänomenal) punktuelle Klänge haben eine Dauer, wie kurz sie auch sein mag. Im nächsten Abschnitt präsentiere ich zudem eine Überlegung, nach der auch umgekehrt gilt, dass (phänomenal) andauernde Klangentitäten eine in gewisser Weise punktuelle Vorkommnisstruktur haben. Kurz und gut, über die Geschehensstruktur von Klangvorkommnissen zu ontologisieren ist unsinnig und stiftet nur Verwirrung. Seit Dowty firmiert in der Linguistik und der Ereignisphilosophie das sog. Imperfektiv-Paradox.38 Es besteht darin, dass telische Ereignisprädikate wie zum Beispiel »ein Haus bauen« unter Umständen ihren Wahrheitswert, den sie in einer Aussage im zeitlichen Imperfekt haben, verlieren, wenn sie

38 Dowty (1979). Das folgende Beispiel ist Kienzle (1994), S. 416f. entnommen.

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ins zeitliche Perfekt umformuliert werden. Aus der Wahrheit des Satzes »Boris baute ein Haus« beispielsweise folgt nicht zwingend, dass auch der Satz »Boris hat ein Haus gebaut« wahr ist. Offenkundig werden mit den beiden grammatischen Zeitformen unterschiedliche Aspekte auf das Geschehen ausgedrückt. Im imperfektiven Tempus wird eine Zeitstelle aus derjenigen Zeitstellenmenge herausgepickt, für deren Elemente der imperfektive Satz wahr ist. Im perfekten Tempus hingegen besteht die Zeitlichkeit überhaupt nicht in einer Zeitstellenmenge. Der perfekte Satz zielt auf die Ausgedehntheit des Vorkommnisses mit explizitem Anfang und eben auch Ende. Wir sind mitten in der wichtigen Unterscheidung, die wir im obigen Abschnitt 1.2.2.1 trafen. Das Ergebnis dort war, dass nur die phänomenalen Klangentitäten in den Zeitstrukturtyp der Zeitstellenmenge fallen, also Zustände sind, während für die ereignishaften Klangvorkommnisse stets die Ausgedehntheit von Anfang bis Ende konstitutiv ist. Das veranschlagt, kann es für Klangvorkommnisse kein Imperfektiv-Paradox geben. Sofern das betrachtete Vorkommnis ein Klangvorkommnis ist, spielt es keine Rolle, ob wir es an einer singulären Zeitstelle als Momentanzustand erfassen oder ob wir auf die Ausdehnung des Schwingungsereignisses als solche abheben. In ersterem ist stets letzteres eingeschlossen. Jede imperfektive Aussage eines pauschalen Klangprädikats kann, obwohl sie immer nur für eine jeweilige Zeitpunktstelle gemacht wird, umstandslos perfiziert werden. Denn in jedem phänomenalen Moment ist gewissermaßen die gesamte Ausdehnung des kausalen Vorkommnisses eingeschlossen. Der Umstand, dass ein Klang oft mehrere pauschale Klangeigenschaften zugleich oder in zeitlicher Abfolge individuiert (eingeführt in 1.1.4, er wird uns weiter beschäftigen), steht dem nicht entgegen. Wenn es in Folge der Betätigung des Abzugs durch den Oberförster zu t2 donnerte, zu t3 grollte und zu t1 knallte, dann hat es auch gedonnert, gegrollt und geknallt. Selbst wenn pauschale Klangprädikate die vorkommnishafte Ausgedehntheit von Schwingungsereignissen nicht ausdrücklich bezeichnen, sie setzen sie voraus. Auch auf der zeitlogischen Ebene bewahrheitet sich einmal mehr, dass das phänomenale Erfassen von Klängen über sich aufs Ontologische hinausweist.

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1.2.2.3

Fallanalysen zur Verlaufsstruktur von Klangvorkommnissen

In den obigen Abschnitten haben wir eine Reihe von Merkmalen zur Klassifizierung der Verlaufsstruktur von Klangvorkommnissen verworfen. Der Grund war letztlich immer derselbe. Klang ist eine doppelgesichtige Entität. Ontologisch sind Klänge Schwingungsereignisse, also Ereignisse. Phänomenologisch aber sind diese Entitäten Klänge, und schon bei diesem pauschalsten aller pauschalen Klangprädikate verschwindet die Zeitstruktur des Vorkommnisses und wir münden ins ruhige Fahrwasser der Zustände. Verlaufsstrukturell und zeitlogisch verhalten sich die beiden Gesichter also bemerkenswert unterschiedlich. Aber ich zögere, einfach für jede der beiden Schichten eine separate Zeitontologie aufzustellen. Dafür haben sich mehrere Gründe ergeben. Zum einen sind die Verläufe des Klangereignisses und des Klangphänomens bei aller Unterschiedlichkeit physisch nicht voneinander unabhängig. Der humane Hörapparat ist in die Kausalkette des Schwingungsereignisses schließlich involviert. So erklärt sich zum zweiten, dass wir je nach Klangindividuum, Position des Hörorts im Zeit-RaumWurm des Klangereignisses, konkreter Beschaffenheit der involvierten Dinge usw. Verlaufsstrukturen der Kausalkette als Lautstärkeneffekte, als andere partikulare Klangeigenschaften oder schlicht als reine Zu- oder Abnahme der Klangdauer wahrnehmen. Drittens steckt in der Phänomenalität, in der uns Klänge gegeben sind, eine mehr als nur unterbewusste Ahnung von der Art und Weise, in der bei einer natürlichen Klangerzeugung sich Dinge relativ zueinander bewegen. Anders gesagt, die mikrozeitlichen Verlaufsstrukturen der wellenmechanischen Vorgänge schwappen dann und wann nicht nur als klangliche Pauschal- oder als psychoakustische Partikulareigenschaften, sondern in ihrer Bewegtheit selbst herüber in die phänomenale Makrozeit. Da ist es schließlich und viertens kein Wunder, dass es für die moderne Audiotechnik ein leichtes ist, unsere humane Hörschwelle zwischen den petites perceptions der Mikro- und den grandes perceptions der Makrozeit (um es einmal mit Leibniz zu sagen) zu überwinden und alle natürlichen Vorgänge, seien sie im phänomenalen Mikro- oder Makrozeitbereich, seien sie für die visuelle Beobachtung groß genug oder weit unterhalb des Auflösevermögens, zu simulieren. Die Kausalketten, mit denen die moderne Audiosynthesetechnik Klänge bestimmter Pauschal- und Partikulareigenschaften hervorbringen kann, entzieht sich freilich völlig unserem

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Vorstellungsvermögen. Die ›Bewegungen‹, die in einer softwaregesteuerten Audiohardware dazu führen, dass am Ende die Membran eines Lautsprechers zum Beispiel eine Luftschwingung von der pauschalen Klangeigenschaft des Rauschens hervorbringt, hat mit den Verlaufsstrukturen, wie wir sie etwa am Unteren Hörschbachfall vorfinden, fast keine Ähnlichkeit – aber eben nur fast: Am Ende dieser zunächst ganz andersartigen Kausalkette steht eine Schwingungscharakteristik der Luftmasse zwischen Lautsprecher und Menschenohr, die derjenigen der Luftmasse zwischen Wasserfall und Menschenohr strukturell ähnlich ist. All das fordert uns dazu auf, trotz aller Schwierigkeiten eine Ereignisontologie des Klangs zu erarbeiten, die vor dem verschlungenen Ineinander der beiden Schichten nicht kapituliert. ❮ V o n d e n W e n i g e n – Von den S e l t e n e n ❯ Die Verlaufsstruktur der audiotechnischen Klangerzeugung bis zur kausalen Phase der Schwingung der Lautsprechermembran ist, nicht anders als bei natürlichen Klängen, ereignisontologisch zu fassen. Allerdings ist die Zeit- und Ereignislogik elektrotechnischer Anordnungen eine erheblich andere als die mechanischer Schwingungsereignisse. Das bedürfte einer eigenen Analyse. Wesentliches dazu findet sich bei Martin Carlé und Wolfgang Ernst.39 Eine erste Orientierung gibt zudem die Scholie ❮Klangereignisontologie und Medienmaterialismus❯ zur Phonographie in 1.1.5.3. Wir erörterten dort, wie in der Audiotechnik von der allerletzten Phase der kausalen Ereigniskette ein Strukturbild abgenommen wird. Dieses Strukturbild, das wir mit der ontologischen Kategorie des Typs beschrieben hatten, kann beliebig instantiiert oder simuliert werden. Die letzte Ereignisphase einer phonographischen Instantiierung ist mit derjenigen in natürlichen Klangereignissen identisch. Die Zeitstruktur aller vorherigen Phasen hängt erheblich von der jeweiligen Hardund Software ab. Für das phänomenale Identifizieren von pauschalen Klangeigenschaften wie Pfeifen, Knallen, Donnern, Quietschen, Tönen heißt das mitnichten, dass es gleichgültig wäre, aus welchen vorherigen Phasen jene letzte hervorgeht, an der wir die pauschalen Eigenschaften identifizieren. Wie schon oft betont, ist die Phänomenalität einer pauschalen Klangeigenschaft mit dem Schwingungsereignis insgesamt vernäht – also auch mit den natürlichen oder eben technologischen Ereignisphasen vorher. Aus einer Geige tönt derselbe Ton anders als aus einem Sängermund und wieder anders als aus einer Lautsprechermembran, die am Ende der audiotechnischen Realisierung der Informationen eines Datenträgers mit Geigenmusik steht. Die Andersartigkeit der Luftschwingungen ist dabei wahrlich die geringste Differenz. Entscheidend ist die zeit- und ereignisontologische. Was wäre zu

39 Carlé (2019); Ernst (2015).

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tun, um jene Differenz zu entbergen? Es wäre mit dem vorgestellten zeitlogischen Kalkül die Vorkommnisstruktur der jeweiligen Signalverarbeitungstechnik zu analysieren. Das wäre anschließend in den größeren ereignisontologischen Zusammenhang zu stellen, der sich erst in 1.2.3 übersehen lässt. Dann zeigte sich, welche Schwingungsereignisindividuen durch den technischen Vorgang überhaupt in die Existenz getreten sind. Das ist nämlich radikal offen, da winzige Änderungen der Ereignisfaktoren komplett andere Ereignisindividuen zeitigen. Hörkulturell oder musiktheoretisch etablierte Kategorien werden da schnell irrelevant. Auf dieser Analyse hätte dann das klangphänomenologische oder gegebenenfalls musikwissenschaftliche Arbeiten aufzubauen. Niemand gegenwärtig ist in der Lage zu dieser Soundwissenschaft nach der Verwindung alles Klanglichen und aller humanen Klangaktivität in die Technik. Hier ist nicht mehr einfach klassische Musikgeschichte oder soundstudyartige Hörgeschichte zu schreiben. Und zwar nicht nur weil wir den Auftrag unserer Musik- und Sound-Geschichte nicht kennen. (Glücklicherweise, sonst könnte man auf die schlechte Idee kommen, Musik- und Soundgeschichtsschreibung als Abarbeiten jenes Auftrags zu begreifen.) Sondern auch weil es Wissenschaftler braucht, die sich ohne Rücksichten aufs Humane und Soziale in diese Verwindung einlassen. Dazu sind nur Wenige und Seltene bereit. Die Ausgangsdiagnose für ein entsprechendes Forschungsprogramm könnte, mit Reverenz an Friedrich Kittler, so lauten: »Alle Signale die ›Sinne machen‹, das Dasein innervieren und geistvolle Urteile [wie zum Beispiel pauschale Klangeigenschaften, R.B.] synthetisieren, bedürfen selber der zeitlichen Koordination, worin der Sinn sich fortträgt, sich die Ebene eines spezifisch zeitlichen Selbstbezugs erneut aufspannt.« 40

Bevor wir die Ereignisontologie in 1.2.3 direkt angehen, soll zur Vorbereitung die Vorkommnishaftigkeit der kausalen Verlaufsstruktur ausgewählter Klänge genauer analysiert werden. Ich beschränke mich auf die Verlaufsstruktur natürlicher Klangerzeugungsvorgänge. Was geschieht in einem Klangereignis, das phänomenal als Pfeifen identifiziert wird? Damit ein Pfeifklang entsteht, wird eine relativ eng begrenzte Konstellation von Flächen benötigt. Von welchem Material die Flächen bereitgestellt werden, spielt keine Rolle, sie müssen nur hinreichend glatt sein, damit an ihnen keine kleinräumigen Luftverwirbelungen und Absorptionen entstehen. Entscheidend ist die Geometrie der Flächen. Sie müssen einen Hohlraum mit mindestens zwei Öffnungen bilden. Durch die

40 Carlé (2019), im Kapitel 1.1 eines denkwürdigen Buchs mit langer Geschichte, in die ich noch vor Erscheinen verwunden wurde.

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eine Öffnung strömt kontinuierlich Luft (oder ein anderes Gas, beispielsweise Wasserdampf) in den Hohlraum und führt dort zu einem Überdruck. Durch die zweite, möglichst enge Öffnung entweicht das Gas. Die Geometrie der Auslassöffnung muss so beschaffen sein, dass zum einen eine hohe Strömungsgeschwindigkeit entsteht; je schneller die Strömung, desto höher der Pfeifton. Zum anderen muss durch sie eine Verwirbelung des Gases unmittelbar an der Außenseite der Öffnung erzeugt werden. Eine dritte Bedingung lautet, die Geometrie des Auslasses muss so beschaffen sein, dass der Wirbel periodisch abbricht und erneut entsteht. Es ist dieser periodisch auftretende Wirbel, der die Umgebungsluft in die charakteristische Schwingungsstruktur des Pfeifens versetzt. Notieren wir, dass beim Pfeifen keine bewegten Festkörper und keine reflektierenden Flächen im Spiel sind. Die Luft mag zwar durch die Bewegung eines festen Körpers in den Hohlraum gepresst werden, etwa durch den Hub eines Kolbens. An der Klangerzeugung direkt beteiligt ist er nicht. Notieren wir weiterhin, dass ein periodischer Wechsel der Bewegungsform gegeben sein muss: zwischen Wirbel und Stillstand. Diese Periodizität muss über eine gewisse Zeitstrecke aufrechterhalten werden. Die pauschalen Klangeigenschaften Knall und Donner behandeln wir gemeinsam. Es kann zwar Donner ohne Knall geben; die Donnermaschinen der alten Griechen, die Donnermaschine Russolos41, die Sounds aus dem Donnerschacht des Ludwigsburger Schlosstheaters oder schlicht die Instantiierung entsprechender Audiodaten mittels eines Lautsprechers sind Allgemeinwissen. Unter natürlichen Bedingungen aber hängen die beiden Klänge in der Regel zusammen. Ein Knall entsteht, wenn die Luft durch eine überschallschnelle Bewegung extrem verdichtet wird. Quer durch das Spektrum von mittleren bis hohen Frequenzen entsteht einmalig ein hoher Schalldruck, der als Knall wahrgenommen wird. Was sich da mit Überschallgeschwindigkeit bewegt, spielt für die Pauschaleigenschaft des Knalls keine Rolle. Das kann eine plötzliche Freisetzung von Energie durch eine Explosion an einem einzigen Raumpunkt sein, wie bei einem Gewehrschuss oder einem Feuerwerkskörper. Die Energie kann auch entlang einer Linie oder Fläche freigesetzt werden, wie etwa beim Gewitterblitz, dessen Explosionslinie oft kilometerlang ist. Entlang einer Linie muss auch nicht unbedingt Energie durch eine chemische Reaktion freigesetzt werden. Wenn

41 Russolo (1913), das berühmte »Futuristische Manifest«.

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Festkörper sich mit Überschallgeschwindigkeit durch die Luft bewegen, hat das denselben Effekt, wie man das vom Überschalljet kennt. Auch die Peitsche knallt, wenn das Endstück der Schnur durch die Peitschbewegung ausreichend schnell, nämlich auf Überschallgeschwindigkeit beschleunigt wird. Wir können die unterschiedlichen Erzeugungsarten so zusammenfassen, dass die Kausalkette in Gang gesetzt wird durch eine sich sehr schnell bewegende Fläche. Aus welchem Material die Fläche besteht, ist irrelevant; Festkörper wie das metallene Flugobjekt oder der Lederriemen der Peitsche sind ebenso möglich wie die Oberfläche, die die schnell expandierende Kugel von Verbrennungsgasen bei einer chemischen Explosion ausbildet. Auch die Geometrie der bewegten Fläche ist irrelevant: Bewegte Kugeloberflächen knallen ebenso wie die zylindrische Oberfläche des Blitzkanals oder der Peitschenschnur und ebenso wie die Kegeloberfläche der Flugzeugspitze. Entscheidend für den Knalleffekt ist ein gut verteiltes Gemisch an Frequenzen vor allem im mittleren und hohen Spektrum, das durch die Geschwindigkeitsunterschiede der beschleunigten Materien zustande kommt. Fehlen die mittleren und tiefen Frequenzen, geht die Pauschaleigenschaft des Geräuschs in Richtung eines scharfen Klicks; fehlen die hohen, wird es zu einem mehr oder weniger dumpfen Schlag. Wichtig ist also eine gewisse Bandbreite unterschiedlicher Beschleunigungen des Erzeugermediums innerhalb einer sehr kurzen Zeitspanne. Die Einmaligkeit und die hohe Geschwindigkeit der primären Beschleunigung der Luft erklären auch, warum der Knall bei zunehmender Entfernung nicht nur rasch an Lautstärke verliert, sondern seinen Knallcharakter insgesamt einbüßt. Bei der hohen Geschwindigkeit vergrößert sich entsprechend schnell auch die Kugeloberfläche, an der der Knall zu hören ist. Die Schalldruckmaxima nehmen rasch ab. Zudem erzeugen die hohen Druckschwankungsamplituden der hochfrequenten Luftschwingungen schnell Wärme und brechen so rasch zusammen. Die etwas länger im hörbaren Amplitudenbereich schwingenden tiefen machen keinen Knalleffekt mehr. Wie wird aus dem kurzen Knall ein langgezogener Donner? Mindestens drei Faktoren sorgen dafür, dass aus dem kleinen Volumen, das mit großen Druckamplituden schwingt, ein großes Volumen mit kleinen Druckamplituden wird, das beim Hörer für ein längeres Zeitintervall Luftschwingungen eintreffen lässt: Erstens sind manche Erzeugungsereignisse eines Knalls räumlich so ausgedehnt, dass zwischen der kürzesten und der längsten Distanz zum Hörer viele Sekunden Laufzeitdifferenz liegen können. Man

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denke etwa an die kilometerlangen Explosionskanäle von Blitzen. In dieser Zeitspanne rollt kontinuierlich der jeweilige akustische Überrest des Explosionsknalls heran. Zweitens entstehen Laufzeitdifferenzen auch bei den Schwingungssegmenten, die dieselbe Distanz zum Hörer zurücklegen. Durch Wind, Druck- und Temperaturunterschiede in der Luftmasse erfährt die ursprüngliche Knallwelle eine merkliche Dispersion. Die entstehenden Differenzen sind gering, reichen aber aus, um phänomenal aus dem Knall einen Donner zu machen. Drittens entstehen durch Brechungen des ursprünglichen Schwingungspakets am Geländerelief viele und unterschiedlich lange Umwege und damit Laufzeitdifferenzen. Alle diese Faktoren zusammen transformieren die Schwingungscharakteristik des Knalls in die des Donners und dehnen die Zeit, in der die Schallintensität sich im human hörbaren Bereich befindet. Notieren wir, dass nirgends in den Vorgängen, die als Knall oder Donner hörbar sind, spezifische Geometrien gegeben sein müssen, um die Schwingungen entsprechend zu formen. Die Geometrien in der Luft und im Geländerelief, die zur Dispersion des Knalls führen, können und müssen sogar relativ zueinander unspezifisch sein, um dispersiv zu wirken. Notieren wir zudem, dass bei Knall und Donner die Verlaufsstruktur nicht durch einen Wechsel von unterschiedlichen Einzelvorkommnissen geprägt ist. Eine einzige Expansion genügt, um die Umgebung buchstäblich erzittern zu lassen. Der basale Klang des Rauschens kann auf viele natürliche Arten erzeugt werden. Die folgende Beschreibung beschränkt sich auf das Szenario des Wasserrauschens. Auch natürliche Szenarien, in denen feste (etwa das Ausschütten von Kies) oder gasförmige (der durch die Baumkronen ›rauschende‹ Sturm) Stoffe bewegt werden, können zu einer entsprechenden Schwingungscharakteristik führen, und es sollte deutlich werden, wie man die Beschreibung des Rauschens von flüssigem Material modifizieren müsste, um die anderen Szenarien mitzuerfassen. Rauschen entsteht durch eine dichte Abfolge sehr vieler kurzer Einzelgeräusche, für die folgendes gelten muss: Erstens, die Zeitabstände zwischen den Einzelgeräuschen sind unterschiedlich und unregelmäßig, aber in Summe treten pro Zeitintervall in etwa (gemäß den Gesetzen der Normalverteilung) gleich viele Einzelgeräusche auf. Konstitutiv ist also ein Wechsel zwischen einem kurzen Klangereignis und einem Zeitintervall ohne Klangereignisse. Anders als beim Pfeifen ist dieser Wechsel aber nicht periodisch, sondern aperiodisch. Und anders als beim Pfeifen, in dem durch periodische Abfolge von ursächlichen Zuständen

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1 Schwingungsereignis resultiert, sind die Ursachen des Rauschens selbst Schwingungsereignisse, und zwar numerisch sehr viele. Es gelten die Individuierungskriterien aus 1.1.5.4! Zweitens, die jeweiligen Frequenzbänder der Einzelgeräusche verteilen sich pro (nicht mikrotemporal, sondern im niedrigen Makrobereich von einer halben bis maximal zwei Sekunden gewähltem) Zeitintervall über das ganze hörbare Spektrum. Drittens muss auch die Schallleistung der Einzelgeräusche über eine möglichst große Spanne verteilt sein, wiederum normalverteilt über alle Frequenzbänder in einem gewissen Zeitraum. Idealerweise nimmt der Schalldruck durch dämpfende Umgebungsfaktoren bei den höheren Frequenzen immer weiter ab, so dass die Schallleistung, die das Produkt aus Schalldruck (der frequenzunabhängigen Druckamplitude einer Schallwelle) und Schallschnelle (die direkt mit der Frequenz gekoppelt ist) darstellt, über das ganze Frequenzspektrum ähnlich ist. Hat man sein Ohr dicht an der rauschenden Schallquelle, wo keine dämpfenden Faktoren wirksam sind, nähert sich der Höreindruck dem Weißen Rauschen, in dem die Schallleistung der höheren Frequenzen proportional zu deren höherer Schallschnelle höher ist. Dieses Rauschen hört sich, landläufig gesagt, mehr nach elektronischen Geräten als nach einer natürlichen Schallquelle an. Natürliches Rauschen gleicht eher dem Rosa Rauschen mit seiner übers ganze hörbare Frequenzspektrum gleichen Schallleistung (wieder normalverteilt über lokale und zeitliche Schwankungen hinweg). Hier wurden die Druckamplituden der hochfrequenten Schwingungen durch Umgebungsbedingungen bereits abgeschwächt. Die dämpfenden Faktoren sind also nicht unerheblich, aber die Dämpfung ist nur ein Nebeneffekt der Gegebenheiten, die für die konstitutive Normalverteilung der Frequenzen und der Schallleistung, in gewisser Weise auch der Zeitabstände zwischen den Einzelgeräuschen ursächlich sind. (Zur Erinnerung: Ursachen sind Ko-Individuierungen von Eigenschaften.) Damit sind wir bei den geometrischen Gegebenheiten, die vor allem nahe am Ort der Schallerzeugung relevant sind. Die bisherige Beschreibung lässt erkennen, dass sie möglichst vielfältig sein müssen, um die Normalverteilung in allen Dimensionen der Wellenmechanik zu erwirken. Das besagte Einzelgeräusch entsteht beim Rauschen eines Wasserfalls durch das Auftreffen von Wassertropfen auf Stein und Wasser. Je nach Fallhöhe und Aufprallwinkel des Tropfens variieren Amplitude und Frequenz. Je gleichmäßiger die Winkel, in denen der Wassertropfen auf Untergrund trifft, zwischen 0° und 180° verteilt sind, umso normaler verteilt

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sind die Quantitäten der beiden akustischen Eigenschaften. Eine nicht unerhebliche Rolle spielen die im Wasser eingeschlossenen Luftblasen, die meist dicht unter der Wasseroberfläche liegen und die Mechanik des Aufpralls direkt beeinflussen: Sie sorgen zum einen für eine unebene Oberfläche und streuen damit die Aufprallwinkel. Zum anderen haben sie andere Dämpfungseigenschaften als das direkt angrenzende Wasser. Vor allem diese Dämpfung der Luftbläschen sorgt dafür, dass das Wasserrauschen mehr dem Rosa als dem Weißen Rauschen gleichkommt. Abschließend eine verlaufsstrukturelle Analyse der natürlichen Kausalkette, die ein Quietschen hervorbringt. Erforderlich sind zwei Festkörper, die sich relativ zueinander in entgegengesetzter Richtung auf ebenen Oberflächen bewegen. Alltagsbeispiele sind Autoreifen, die über den Asphalt rutschen, die Metallräder einer Straßenbahn in der Schienenkurve oder ein Stück Kreide, das über die Tafel bewegt wird. So lange die Räder rollen und nur Rollreibung zwischen Gummi und Asphalt entsteht, quietscht es nicht. Erst wenn ihre Oberflächen relativ zueinander rutschen, kommt es zu dem unangenehmen Geräusch. So lange die dabei auftretende Reibungskraft proportional zur Geschwindigkeit bleibt, tritt an den Kontaktflächen Gleitreibung auf. Auch das versetzt die beiden Körper zwar in Schwingung, welche wir aber eher als ein sanftes Fauchen wahrnehmen. Erst dann quietscht es, wenn die relative Geschwindigkeit unter den Wert fällt, bei dem die Bewegungskraft geringer ist als die Kraft der Haftreibung zwischen den Oberflächen. Die Oberflächen haften also für einen kurzen Moment. In dem kleinen Zeitintervall des Stillstands wird weiterhin Zugkraft ausgeübt, die nun ein Potenzial ansammeln kann, das irgendwann wieder den Schwellenwert der maximalen Haftreibung übersteigt. Ab diesem Zeitpunkt rutschen die Gegenstände mit Gleitreibung wieder ein Stückchen weiter, wobei dadurch die Geschwindigkeit erneut abgebremst wird und rasch wieder unter den Schwellenwert der maximalen Haftreibung fällt, sodass erneut Stillstand eintritt. So lange sich dieses Spiel zwischen Haften und Gleiten wiederholt, quietscht es. Den periodischen und ruckartigen (das heißt, als Sägezahnkurve darstellbaren) Wechsel zwischen Bewegung und Stillstand am Kontaktpunkt puffern die Gegenstände durch Schwingungen ab. Sie haben eine Wellencharakteristik, die in unseren Menschenohren quietscht. Nebenbemerkung: Die Rauhigkeit der Oberflächen beeinflusst nur die Lautstärke des Quietschens. Mit welcher Frequenz es quietscht, hängt einzig von der Eigenfrequenz der bewegten Gegenstände ab.

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Nun können wir zu der allgemeineren Fragestellung nach der Zeit- und Verlaufslogik derartiger akustischer Kausalketten zurückkehren. Oben hatte ich rundheraus gesagt, eine Kausalkette müsse der Logik des Vorkommnisses entsprechen. Die physikalische Kausalität verspannt die einzelnen Geschehenselemente zu einer kompakten Zeitextension, in der reine Gegenwärtigkeit herrscht und von Vergangenheit bzw. Zukunft nur für die Zeit vor Beginn bzw. nach Ende der Extension gesprochen werden kann. Wenn wir zum Beispiel der Kausalkette des Quietschens folgen, so finden wir dort die beiden mechanischen Eigenschaften Zugkraft und Reibungskraft, mechanische Elementarkräfte, die wir eigenschaftontologisch in 2.2.3.1.1 näher erörtern. Die Eigenschaften sind kontinuierlich an den gegebenen Gegenständen individuiert. Über sie wirken die Gegenstände aufeinander ein. Näher besehen, ist es aber nur jene Kontinuität des Kräftespiels, aus der sich die Verlaufsstruktur des Vorkommnisses ergibt. Betrachten wir den Verlauf quasi visuell als Film in Zeitlupe, dann sehen wir nicht die Kräfte selbst, sondern nur ihr Resultat. Und das sind zwei Phasen von Stillstand und Bewegung, von denen allenfalls die der Bewegung ein Vorkommnis ist. In die Phase des Stillstands lässt sich ohne Schwierigkeit ein Beobachtungszeitpunkt t legen, für den alle zeitlogischen Merkmale des Zustands gelten. Mehr noch, die periodische Abfolge des immer gleichen Zustands des Stillstands mit dem immer gleichen Vorkommnis des Weitergleitens erzeugt eine zweite Zeitebene, die ebenfalls in die zeitlogische Einordnung des gesamten Geschehens einbezogen werden will. Auf der zweiten Ebene herrschen keine absolut einmaligen Zustände bzw. Vorkommnisse, vielmehr sind Typen von Zuständen bzw. Vorkommnissen instantiiert. Man kann den Mikrozeitraum, den die Instantiierung eines Typs jeweils benötigt und in den sich wie gehabt Zeitstellen legen lassen (die hier eine M1 genannte Zeitstellenmenge bilden), auf der zweiten Zeitebene wiederum mit einem Zeitstellenindex versehen (die dann eine mit M2 bezeichnete Zeitstellenmenge ergeben). 𝑀" : {𝑡" , 𝑡' , 𝑡( , 𝑡) , 𝑡* , 𝑡+ , . . . , 𝑡-.' , 𝑡-." , 𝑡- } 𝑀' : {𝑡0 , 𝑡00 , 𝑡-/( 2 Die Menge M2 hat zumindest einige der zeitlogischen Eigenschaften, die wir für Zustände herausgearbeitet hatten. Namentlich hat sie die Eigenschaft, dass zwischen den Zeitpunkten in M2 echte Vergangenheit bzw. Zukünftig-

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keit herrscht. Anders als in der obigen Analyse (1.2.2) von Zuständen lassen sich allerdings zwischen die Zeitstellen in M2 nicht beliebige weitere Zeitstellen legen, zwischen denen dieselbe Eigenschaft individuiert ist. Es gibt, anders gesagt, eine ontologische Grenze für die Betrachtungstiefe der zweiten Zeitstellenmenge, und das ist die Periodendauer. Legen wir Betrachtungszeitpunkte in die jeweilige Periode, sind wir gezwungen, in die Zeitstellenmenge M1 zu wechseln – und dort herrscht die Zeitlogik der Vorkommnisse. Mit leichten Modifikationen gilt diese ineinander verschränkte Doppelung von Zeitmengenebenen auch für die aperiodisch wechselnden Vorgänge des Rauschens, allgemeiner noch für alle Klänge, in deren Kausalfolge es aperiodische Wechsel unterschiedlicher Ereignisphasen gibt. Wir hatten beim Rauschen den Wechsel von Phasen, in denen ein Klangereignis stattfindet, mit Phasen, in denen nichts derartiges geschieht, beobachtet. Die Zeitstellen dieser Phasen liegen auf der Ebene M2. Die Aperiodizität ergab sich beim Rauschen daraus, dass kein Kräftespiel mit entsprechenden Schwellenwerten abläuft, die das Umschlagen von einer Phase in die andere bewirken, sondern vielmehr die Klangereignisse kontingent zueinander sind. Der normalverteilte Wechsel der Phasen muss nicht naturnotwendig stattfinden. Findet er nicht statt, dann rauscht es eben nicht. Sogar die Phase, in der nichts geschieht, gehorcht den Eigenschaften von M2, ihre Anfangsund Endzeitstellen fallen ja ebenfalls kontingent auf den Zeitstrahl. Die Phasen der Klangereignisse allerdings würden, wenn wir ihre physikalische Kausalkette genau unter die Lupe nähmen, klar der Zeitlogik des Vorkommnisses entsprechen. Insgesamt ändert sich nichts an der Diagnose, dass auch aperiodische klangliche Ereignisketten der beschriebenen Doppelstruktur von ineinander verschränkten Zuständen und Vorkommnissen entsprechen. Ähnliches gilt für den Donner, der wie das Rauschen aus einer Serie von abgeschwächten Knallereignissen besteht. Abschwächung zeigte sich als das Resultat von Dispersionen und Umlenkungen, die deshalb kontingent sind, weil sie von zufällig zustande kommenden Wechselwirkungen untereinander oder mit gegebenen Reflexionsflächen rühren. Somit kommt ein aperiodisches Moment in die ursprünglich kompakte Serie von Knällen hinein, was wir als ursächlich nicht nur für die Modulationen im Donnergeräusch, sondern für die Charakteristik des Donnergeräuschs überhaupt erkannt hatten. Nota bene: Kontingenz der involvierten Gegenstände, das ist ein schönes Indiz für die ontologische Einsicht aus 1.1, die wir nie vergessen

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sollten. Klangereignisse sind Unikate, jeder Donnerklang existiert ein einziges Mal in der Weltgeschichte und donnert einzigartig. Das ontologische Fazit muss also lauten: Je nach gewählter mikrozeitlicher Beobachtungstiefe haben klangliche Kausalketten entweder die zeitlogischen Eigenschaften von Vorkommnissen (bei beliebig feinkörniger Wahl der Beobachtungszeitstellen) oder die zeitlogischen Eigenschaften von Zuständen (bei einer Wahl der Beobachtungszeitstellen, die oberhalb der Schwelle einer je klangtypischen Periodendauer bleibt). Versuchen wir dieses Fazit noch einmal in allgemeine physikalische Strukturbeschreibungen zu übersetzen. Am Ende einer mechanischen Kausalkette, sofern sie eine akustische ist, steht eine Luftschwingung, also eine periodische Hin-und-Her-Bewegung von Luftteilchen. Periodizität kommt in der Mechanik immer dadurch zustande, dass eine ursprüngliche Kraft und eine durch sie aktivierte Rückstellkraft einander entgegenwirken und sich mit Zeit- und Energieverbrauch über viele Perioden des Hin und Her ausgleichen. In bestimmten Fällen wird die ursprüngliche Kraft nicht allein durch die aktivierte Rückstellkraft re-aktiviert, sondern erhält weitere Nahrung durch eine kontinuierliche Krafteinwirkung von außen, die zumindest normalverteilt in gewissen Abständen auftritt und eine aperiodische Wiederholung des Kräfteausgleichs in Gang setzt. In den Phasen des Kräfteausgleichs, seien sie periodisch oder aperiodisch, läuft jeweils derselbe Typ von Ereignis ab. (Auf eine Typenontologie wollen wir uns ja nicht einlassen, in 1.1.5.3 haben wir Typen behelfsmäßig als Bündel relationaler Eigenschaften aufgefasst.) Die Ereignisse in einer Kausalkette zwischen der Ko-Individuierung von Eigenschaften, die ein Schwingungsereignis auslösen, und dem Hörer sind ihrerseits Individuen, da jedes von ihnen an einem anderen Ort und zu einem anderen Zeitpunkt stattfindet. Aber sie gleichen sich in ihrer Verlaufsstruktur. Die je typische Verlaufsstruktur einer akustischen Phase lässt sich auch beschreiben, indem man anstelle der individuierenden Orts- und Zeitpunktangaben Variablen setzt. Genau gesagt, man schreibt 1. statt dem konkreten individuellen Gegenstand (mit seinem Orts- und Zeitindex) die Eigenschaften, mit denen er in das Kräftespiel involviert ist; 2. statt einem konkreten Zeitpunkt eine abstrakte Anfang-Ende-Extension (wie in unserer obigen M1);

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3. statt einer konkreten Ortsangabe eine abstrakte Geometrie des Systems aus bewegten Dingen; 4. den Zusammenhang zwischen den Eigenschaftsvariablen des Gegenstands, der abstrakten zeitlichen Extension und der abstrakten Geometrie in mathematischen Operatoren (plus/minus, mal/geteilt), die sich durch die je wirkenden Kräfte ergeben. Auf diese Weise haben wir aus einer raum-zeitlich konkreten Dingkonstellation die individuellen Dinge und ihre individuierenden Zeit- und Ortsindizes herausgekürzt. Übrig bleiben relationale Eigenschaften mit Variablen in den Sättigungsstellen. Sättigen wir die Variablen mit den konkreten Werten, die sich aus einer Bestimmung des individuellen Ort-ZeitPunkts einer einzelnen Ereignisphase ergeben, haben wir aus der Phase wieder ein ontologisch blitzblankes Vorkommnis gemacht. Belassen wir die Variablen jedoch und abstrahieren vom individuellen Ort-Zeit-Punkt, bleiben Vorkommnistypen übrig, die über eine akustische Kausalkette hinweg sehr viele Male ziemlich identisch instantiiert sind. (Beispielrechnung: Der Vorkommnistyp der Schwingung des Knalls aus einem Gewehr wurde, wenn ich ihn in rund 1000 Metern Entfernung und folglich drei Sekunden nach der Explosion höre, allein mit seinem stärksten Frequenzbereich, der bei ca. 250 Hz liegt, 750 Mal instantiiert. Das Knallereignis selbst ist und bleibt eine unikate Individuierung.) Die Abfolge solcher identischer Typinstanzen hat den Extensionscharakter einer Folge von Zuständen. Den Zustandscharakter erhalten wir, indem wir die aufgezählten Maßnahmen zur Abstraktion vom individuierenden Ort-ZeitPunkt durchführen. Damit sollte die Zeitlogik der akustischen Kausalfolge hinreichend geklärt sein. Wir haben mit ihr einiges an Erklärungskraft gewonnen. Wir können nun zum Beispiel eine plausible Erklärung für die eingangs erwähnte Intuition geben, dass in einem auditiven Wahrnehmungsgehalt eine merkwürdige Melange aus Zustands- und Veränderungsanmutung enthalten ist. Wir haben einen Anhaltspunkt, wie die Typik pauschaler Klangeigenschaften begriffen werden kann (die in 2.2.2 ausgeführt wird). Wir können schließlich die größte und schwierigste Aufgabe angehen, eine Gesamtontologie der Ereignishaftigkeit von Klangindividuen, die das differenzierende Sowohl-Vorkommnis-als-auch-Zustand, das wir in diesem Abschnitt praktiziert haben, aufhebt. Hic (1.2.3) Rhodus, hic salta.

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1.2.3

Die Ereignishaftigkeit von Klangindividuen

Wenn wir Klangwahrnehmungen mit dem ominösen Wörtchen »es« zum Ausdruck bringen, etwa in Aussagen wie »es kracht«, »es rauscht«, »es donnert«, »es klappert die Mühle am rauschenden Bach«, dann bekunden wir, dass die pauschalen Klangeigenschaften des Krachens, Rauschens, Donnerns und Klapperns an einem konkreten raum-zeitlichen Ort individuiert sind. In den »es«-Ausdrücken muss folglich eine zweifache Bezugnahme stecken. Erstens konkretisiert das »es« die pauschale Eigenschaft hin zu einer raum-zeitlich lokalisierten, einzigartigen Individuierung. Grammatisch gesagt, holt es das jeweilige pauschale Prädikat aus dem unlokalisierten Infinitiv und überführt es in den lokalisierten (und insofern ›endlichen‹) Finitiv. Ein lokativer Kasus ist das »es«, wie wir mit der Scholie ❮ES: Variationen über Lichtenberg und Heidegger❯ nun wissen, dehalb noch lange nicht, die Lokalisierung wird nämlich nicht vom »es« allein erwirkt. Zweitens verweist nicht das »es« selbst, vielmehr der gesamte impersonale Ausdruck auf die individuellen Gegenstände, an denen die jeweilige Eigenschaft auftritt. Es verweist aber nicht auf sie als solche. Um die kardinale Einsicht der Scholie zu wiederholen: es kracht nicht der Krach, es donnert nicht der Blitz oder der Donner, es klappert nicht die Mühle. Vielmehr kracht, donnert, klappert all dasjenige, was jetzt und hier kausal zusammenhängende Veränderungen erleidet. Das sind, wie die Fallanalysen in 1.2.2.3 zeigten, meist unabschätzbar viele Dinge. Das einzige, was man vielleicht zur Grammatik des Wörtchens »es« für sich genommen sagen kann, ist sein einzahliger Numerus. Wir dürfen die logische Einzahl dessen, worauf das »es« Bezug nimmt, auch ontologisch ernst nehmen. Es gehört zu den tiefsten onto-logischen Eigentümlichkeiten von Klängen, dass sie die beinahe chaotische Vielfalt der involvierten physischen Gegenstände zu einer logischen Entität bündeln, die als solche entweder überhaupt nicht benannt werden kann und in einer black box verbleibt, auf die das »es« nur raunenden Bezug nimmt, oder die allenfalls in unscharfen Sachverhaltsbildungen wie dem rauschenden Hörschbachfall, dem donnernden Applaus und der klappernden Mühle am rauschenden Bach firmiert, bei denen charakteristischerweise unklar bleibt, was genau sie alles einbegreifen. Es muss folglich eine dritte Entität geben, die die pauschale Klangeigenschaft einerseits und die unabschätzbar vielen Individuen der Kausalkette andererseits raum-zeitlich verknüpft und ein Sichereignen von dieser Ver-

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knüpfung aussagt. Das Vertrackte ist, dass diese Entität in unseren sprachlichen Ausdrücken nicht als syntaktisches Element auftaucht. Sie bleibt zwischen den Worten verborgen, mit denen der Klang prädiziert und die involvierten Dinge benannt werden. Diese Entität hat Donald Davidson in wegweisenden Aufsätzen analysiert.42 Sein Kernargument lässt sich an der Aussage »Der Hörschbachfall rauscht« verdeutlichen. Ohne Konkretisierungsindizes von Zeit und Ort (ja, trotz der Ortsangabe »Hörschbachfall« auch der Ort, denn die genaue lokale Extension des Hörschbachfalls ist variabel) bliebe die Aussage ein schlichter ontologischer Sachverhalt, der zu bestimmten Zeiten an der entsprechenden Stelle im Schwäbischen Wald exemplifiziert sein kann und zu anderen nicht. Falls wir jedoch die Ereignishaftigkeit des Rauschens mit den zeitlogischen Eigenschaften, die wir im obigen Abschnitt an Vorkommnissen aufgefunden hatten, intendieren sollten, dann ist es offenkundig inadäquat, den Satz als Ausdruck eines Sachverhalts aufzufassen. Unsere Intention dieses konkreten, einzigartigen Rauschens des Hörschbachfalls impliziert, dass wir bei Bedarf die vielen Gegebenheiten und Nuancen, die die Einzigartigkeit des Rauschereignisses erläutern, so im Satz unterbringen können, ohne dass er seine ontologische Form verändert. Sätze dieser Art, so behauptet Davidson nun, haben ein Ereignisprädikat, das als grammatisches Element in einem normalsprachlichen Satz gar nicht auftaucht. Das Ereignisprädikat hat eine einzige leere Stelle, die mit dem Sachverhalt gesättigt wird, von dem das Prädikat das Sichereignen aussagt. Das Ereignisprädikat und seine Leerstelle lassen sich zum Beispiel formulieren als »(...) findet statt (zu t0 an l0)«. Den obigen Sachverhalt eingesetzt, erhalten wir »Es findet ein Dass-der-Hörschbachfall-rauscht-Ereignis statt (zu t0 an l0)«. Sicherlich würde in der normalen sprachlichen Kommunikation niemand solch ein Satzungetüm äußern. Es soll die logische Form von Ereignissen transparent machen, die in normalsprachlichen Äußerungen dunkel bleibt. Wir werden sehen, dass mit dieser Art der Analyse sich entscheidende ontologische Aspekte von Klangindividuen zeigen werden, die in 1.1 noch ungreifbar geblieben waren. Bevor wir in die Details einsteigen, seien die zwei wichtigsten Aspekte kurz genannt.

42 Davidson (1967) und (1969).

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Erstens wird deutlich, dass ein Klangprädikat wie »rauscht« im Satz »Der Hörschbachfall rauscht« kein Prädikat der Sorte »(...) ist rot« oder »(...) ist ein Wasserfall im Schwäbischen Wald« ist. Es drückt eine Vorkommnishaftigkeit aus. Das heißt, das Ganze, als das die vielen konkreten Individuen dort im Schwäbischen Wald wie Felsen, Wasser, Bäume, Moos usw. mit der pauschalen Eigenschaft des Rauschens identifiziert werden, ist nichts Dingliches, sondern ein Ereignis. Zweitens, das Ereignisprädikat »(...) findet statt (zu t0 an l0)« sieht zwar aus, als sei es eine Sachverhaltseigenschaft, d.h. eine Eigenschaft, die als sättigende Entität einen Sachverhalt verlangt. Tatsächlich aber wird es sich als Individueneigenschaft herausstellen. Das Bindestrich-Ungetüm »Dassder-Hörschbachfall-rauscht-Ereignis« mag, bevor es in die Leerstelle des Ereignisprädikats eingesetzt wurde, ein Sachverhalt gewesen sein. Mit der Einsetzung mutiert es zu einem Individuum. Diesen Umstand hat Davidson selber gesehen und in dem erwähnten Aufsatz von 1969 offensiv gerechtfertigt. Mit ihm ist das Merkmal verbunden, dass sich gegebenenfalls beliebig viele Einzelheiten des Ereignisindividuums nennen lassen, ohne dass man logisch einen neuen Sachverhalt und damit ein vermeintlich weiteres Ereignis gebildet hat. Dieses Merkmal ist für uns überaus bedeutsam. Wir haben bei den Fallbeispielen in 1.2.2 gesehen, dass die Analysetiefe in der Extension des Vorkommnisses beliebig groß gewählt werden kann: Zwischen zwei gewählte Zeitpunkte, an denen der Zustand des Schwingungssystems betrachtet wird, lässt sich immer ein weiterer legen, an dem noch andere Details der Fall sind. Und Details sind für sich genommen ontologische Sachverhalte. Die physikalische Einheit der im Prinzip unendlich detailreichen Kausalkette findet ihr ontologisches Pendant darin, dass es sich um ein Individuum handelt. Was wir in diesem Abschnitt folglich zu tun haben, ist, die zeitlogische Formulierung von Vorkommnissen (1.2.2) in eine ereignisontologische Formulierung zu überführen. Wie kann das methodisch und terminologisch vor sich gehen? In der zeitlogischen Formulierung zeigte sich die beliebige Analysetiefe, mit der sich eine akustische Kausalkette beschreiben lässt, als eine zeitliche Extension mit beliebig vielen Zeitstellen. Wir beschrieben den zeitlogischen Zusammenhang dieser Zeitstellenmenge (mit den in 1.2.2 herausgearbeiteten Merkmalen) und bezeichneten eine Zeitstellenmenge, die die entsprechenden Merkmale aufweist, als Vorkommnis. Nun beschreiben wir den prädikatenlogischen bzw. ereignisontologischen Zusammenhang der

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Entitäten, die an den jeweiligen Zeitstellen existieren. Diesen Zusammenhang bezeichnen wir als Ereignis. Mit Vorkommnis und Ereignis verwenden wir also zwei verschiedene Termini für ein und dieselbe Art von Entität. Der eine drückt die Zeitlogik der Entität aus, der andere ihre Ontologie. Bevor ich eine ereignisontologische Analyse von Klängen präsentiere, sei knapp dargestellt, wie Davidson vorgeht. Zu beachten ist, dass er keine natürlichen Ereignisse wie Gewitterdonner oder Wasserfälle analysiert, auch keine hörbaren Vorgänge, wie sie bestimmte menschliche Handlungen wie das Betätigen der Toilettenspülung, das Steuern eines Düsenjets, das Auslösen des Abzugs an einem Gewehr oder das Blasen in eine Klarinette nach sich ziehen. Er analysiert die menschlichen Handlungen als solche. Es wird sich aber zeigen, dass darin ereignisontologisch kein großer Unterschied besteht. Um sein berühmtes Beispiel aufzugreifen: Es geht um Ereignisprädikate wie das Prädikat »schmieren«. Daraus lassen sich zum Beispiel die Aussagen »Müller schmierte«, »Müller schmierte ein Brötchen«, »Müller schmierte ein Brötchen um Mitternacht«, »Müller schmierte ein Brötchen um Mitternacht im Badezimmer«, »Müller schmierte ein Brötchen um Mitternacht im Badezimmer mit einem Messer« formen. Handelt es sich hier um fünf verschiedene Prädikate? Denn das erste Prädikat sieht einstellig aus, das zweite zweistellig, das dritte dreistellig, das vierte vierstellig und das fünfte fünfstellig. Die Sättigungsstellen erfordern das Einsetzen von Dingen, die es zweifellos gibt: einen Menschen, zwei materielle Gegenstände, einen Ort und einen Zeitpunkt. So scheitern wir aber mit unserer Intuition, dass in allen Sätzen von ein und demselben Ereignis die Rede ist, von dem nur unterschiedliche Anzahlen von Details berichtet werden. Der fünfte Satz implizierte dann aufgrund des unterschiedlichen Prädikats nicht die vier übrigen Sätze, der vierte Satz nicht die drei übrigen Sätze, der dritte Satz nicht die zwei übrigen Sätze und der zweite Satz nicht den ersten. Hinter der Auffassung, es müssten hier fünf verschiedene Prädikate vorliegen, steckt, so Davidson, ein grundlegendes Missverständnis von Ereignisprädikationen. Als Ereignisprädikat sagt nämlich das »schmierte« im ersten Satz etwas über die nicht-ereignishafte Eigenschaft des Schmierens aus: dass es hier und jetzt stattfindet. Man könnte »schmieren« nämlich auch als nicht-ereignishafte Eigenschaft aussagen, etwa in dem Satz »Das Brötchen lässt sich schlecht schmieren«. Ebenso sagt »schmierte« als Ereignisprädikat etwas aus über diesen Ort, diese Zeit, dieses Brötchen, über Müller und das Messer und

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gegebenenfalls über weitere Umstände des konkreten Stattfindens, die man bei größerer Betrachtungstiefe hinzufügen könnte. ❮ P y t h a g o r a s e r e i g n i s o n t o l o g i s c h ❯ Ein beiläufiger Satz, der in den musikalischen Verhältniszahlen 1:2:3:4 der alten Griechen die Ereignishaftigkeit aufzeigt: »die berühmte τετρακτύς [bedeutet] übrigens – was man vielfach vergißt – nicht einfach ›Tetrade‹, sondern vielmehr ›das Operieren mit der Tetrade‹«.43

Ein Ereignis ist die ontologische Summe einer im Prinzip unendlich vermehrbaren Liste von Sachverhalten wie hier »Müller schmierte«, »es wurde um Mitternacht geschmiert«, »es wurde im Badezimmer geschmiert«, »es wurde mit einem Messer geschmiert«. Je nach Betrachtungstiefe wird die Existenz von unterschiedlichen Entitäten behauptet. So behauptet der fünfte Satz die Existenz eines Messers, die anderen hingegen nicht. Aber die Existenz einer Entität behaupten alle Sätze, nämlich die Existenz des Ereignisses. In die Existenz gerufen wird das Ereignis durch ein Ereignisprädikat, das an der grammatischen Oberfläche nirgends auftaucht. Es sagt vom per se nicht-ereignishaften Schmieren wie auch von allen anderen Entitäten das Sichereignen aus. Wir können es wieder mit »(...) fand statt (zu t0 an l0)« (1) ausdrücken und die Leerstelle mit einer beliebig detailreichen Benennung des Ereignisses sättigen: mit (1a) »Das Müller-schmierte-Ereignis«, mit (1b) »Das Müller-schmierte-ein-Brötchen-Ereignis«, (1c) »Das Müller-schmierte -ein-Brötchen-im-Badezimmer-Ereignis« und so weiter. Das Ereignis verhält sich ontologisch wie ein Individuum: Man kann von ihm je nach Betrachtungstiefe und -interesse beliebig viele Eigenschaften aussagen. Alle Sätze referieren nun auf dasselbe Ereignis, denn die Zeit-Ort-Angabe ist nun ein Index des Ereignisprädikats und nicht der Sättigungsentitäten. Der Index am Ereignisprädikat individuiert das Ereignis an immer derselben Stelle, selbst wenn die eingesetzten Sachverhalte detailliertere Pauschaleigenschaften vom Ort und von der Zeit nennen. Zusammengefasst und formalisiert: Es wird die Existenz eines Schmierensereignisses behauptet, das x genannt sei. In der Behauptung der Existenz ist die Behauptung des Stattfindens enthalten. (1) können wir daher synonym

43 Lohmann (1970), S. 107.

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mit »Es gibt ein Schmierensereignis x« und mit »Es fand ein Schmierensereignis x statt« verbalisieren. (1)

∃x

Das Ereignis lässt sich nun mit beliebigen Details näher erläutern. In (1a) ist es der Sachverhalt aus dem nicht-ereignishaften einstelligen Prädikat des Schmierens (S) »(...) schmiert (S)«, das mit dem Individuum Müller (m) gesättigt wurde (womit zugleich die Existenz von Müller behauptet wird): (1a)

∃x (∃m, S, m)

In (1b) kommt ein zweiter Sachverhalt hinzu, das Schmieren eines Brötchens (womit die Existenzbehauptung des Brötchens verbunden ist). Auch dieses Prädikat ist einstellig: »Schmieren (S) von (...)« und wird mit dem Brötchen (br) gesättigt: (1b)

∃x (∃m, S, m) ∧ (∃br, S, br)

In (1c) wird eine Ortsangabe eingefügt. Ob wir das Individuum Müller oder das Individuum Brötchen mit dem Ort des Badezimmers (ba) (dessen Existenz ebenfalls behauptet wird) zu einem Sachverhalt verbinden, ist unerheblich. Beide sind über die Konjunktion (1b) schon ins Ereignisindividuum integriert. Wählen wir Müller: (1c)

∃x (∃m, S, m) ∧ (∃br, S, br) ∧ (∃ba, m, ba)

Wie man die schrittweisen Konjunktionen der Sachverhalte aufbaut, ist letztlich irrelevant. Denn der logische Einschluss der einzelnen konjugierten Elemente in die Konjunktionen ergibt sich nicht über die Konstruktion der Sachverhalte, sondern über deren Verbindung durch das Ereignisprädikat. Worauf man beim Aufbau der Reihe einzig achten sollte, ist, dass diejenigen Prädikate in der Beschreibung der Ereignisszenerie die kürzeste Sentenz bilden, die das Geschehen am allgemeinsten charakterisieren (hier »schmieren«). Zu beachten bleibt immer, dass erst das implizite Stattfindensprädikat die Sentenz ereignisförmig macht. Das repräsentieren wir durch die unterschiedlichen Variablen x für das Ereignis insgesamt und S, das hier das allgemeinste nicht-ereignishafte Prädikat ist.44

44 Davidson (1967) selbst geht in seinen Beispielen mit der Ereignisvariable x etwas verwirrend um. Einmal bezeichnet sie das Ereignis als solches und als ganzes, so

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Analog dazu überführen wir nun Klangvorkommnisse in die Davidsonsche ereignislogische Form. Wir sind in der Lage, sie so zu formalisieren, weil die wesentlichen zeitlogischen Merkmale der Klangvorkommnisse damit korrekt repräsentiert werden: die ontische Einheit des Vorkommnisses als ganzes; die zeitlogische Gegenwärtigkeit des Vorkommnisses; die Vergegenwärtigung von per se nicht-ereignishaften akustischen Eigenschaften wie »verdichtet werden« oder »Dispersion erleiden« durch eine Konkretisierung über Zeit, Ort und involvierte Gegenstände. Als Beispiel dient wieder das Klangereignis, das durch einen Schuss aus der Büchse des Oberförsters im Wald ausgelöst wird und das nahe an der Klangquelle als Knall, in größerer Entfernung als Donner gehört wird. Die Extension des Ereignisses umfasst die gesamte Kausalkette von Schwingungen von dem Moment, in dem die Munition explodiert, bis zu dem Zeitpunkt, an dem sich die Schwingungsenergie vollständig in Wärmeenergie umgewandelt hat. Diese Kausalkette fällt, wie oben dargelegt, in die Zeitlogik des Vorkommnisses. Jene Kategorie überführen wir nun in die Ereignisontologie. Oben war das Vorkommnis formuliert als »eine Druckschwankungswelle läuft (jetzt) durch den Wald und bricht sich an den gegebenen Flächen«, wobei »laufen« (sich örtlich weiterbewegen) und »brechen« (Modifikation von Welleneigenschaften) Verlaufseigenschaften sind, die für sich Verlaufseigenschaften des Ereignisses aussagen, aber erst durch eine Konkretisierung an physischen Gegenständen sowie an Ort und Zeit ereignisförmig werden. Wie im Beispiel (1) dürfen wir sie nicht selber als Ereignisprädikate auffassen, sondern müssen als das eigentliche Ereignisprädikat wieder ein implizites Prädikat des Stattfindens annehmen, in dessen Leerstelle das gesamte Ereignisindividuum seinen Platz hat. Wie oben wird dann auch die Existenz dieses Ereignisses postuliert, das wir das Büchsenschussklangereignis nennen und mit k bezeichnen wollen: (2)

∃k (»Es existiert ein Büchsenschussklangereignis« bzw. »Es fand ein Büchsenschussklangereignis statt«.)

etwa, S. 169, Satz (5), einmal taucht sie darüber hinaus anstelle des nichtereignishaften Prädikats in den beschreibenden Sachverhalten auf, so S. 173, Satz (17). Um das Missverständnis zu vermeiden, dass die Prädikate in den Sachverhalten auf diffuse Weise identisch mit dem Ereignisprädikat sein könnten, verwende ich unterschiedliche Variablen.

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Im nächsten Schritt wird der Sachverhalt ausgesagt, der das Büchsenschussklangereignis so einfach und so pauschal wie möglich charakterisiert, so dass alle detaillierteren Beschreibungen logisch auf ihn reduziert werden können. Gemäß der Analyse in 1.2.2 sind das zum einen das Knallen (2a), zum anderen das Donnern (2b). Der Sachverhalt des Knallens ist das starke Verdichtetwerden (als nicht-ereignishaftes Prädikat P1a) von Luft (als Individuum l, dessen Existenz behauptet wird): (2a)

∃k (∃l, P1a, l) (»Es existiert ein Büchsenschussklangereignis derart, dass Luft stark verdichtet wurde.«)

Nun wird das Donnern hinzugefügt. Es geschieht, nicht-ereignishaft gesagt, dadurch, dass sich die verdichtete Luft wieder ausdehnt und es dabei zur Dispersion kommt. Das dispersive Ausgedehntwerden der Luft l fassen wir zu dem Prädikat P1b zusammen: (2b)

∃k (∃l, P1a, l) ∧ (∃l, P1b , l) (»Es existiert ein Büchsenschussklangereignis derart, dass Luft stark verdichtet wurde und dass Luft dispersiv ausgedehnt wurde.«)

Gegenüber Davidsons Beispiel gibt es nun eine Besonderheit. P1a und P1b schließen sich aus. So lange es knallt, donnert es nicht, und wenn es donnert, knallt es nicht mehr. Die Eigenschaft P1b löst das Individuiertsein von P1a ab. Technisch kann das gelöst werden, indem wir zusätzlich zu P1a und P1b ein weiteres Prädikat einfügen, das die Ablösung des Knalls durch den Donner ausdrückt: »(...) knallt zuerst und donnert dann«, formal: P1a→1b. Die Einsetzungen des Knalls und des Donners je für sich ergeben ja durch die Feststellung der Abfolge keine falschen Aussagen, sondern werden ergänzt durch den weiteren Sachverhalt der Ablösung der einen durch die andere Pauschaleigenschaft. Das Ablösungsprädikat kann also als ein Detail aufgefasst werden, um das die Beschreibung des Ereignisses weiter angereichert wird (2c): (2c)

∃k (∃l, P1a, l) ∧ (∃l, P1b, l) ∧ (∃l, P1a→b, l) (»Es existiert ein Büchsenschussklangereignis derart, dass Luft stark verdichtet wurde und dass Luft dispersiv ausgedehnt wurde und dass Luft zuerst stark verdichtet und dann dispersiv ausgedehnt wurde.«)

Damit ist die Formalisierung des Klangereignisses abgeschlossen. Die drei Prädikate P1a und P1b und P1a→b samt ihren Leerstellen, die mit einem

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gasförmigen Individuum zu sättigen sind, beinhalten das, was wir (in 1.2.2.4) als Vorkommnistypen bezeichnet haben, im vorliegenden Fall als die Vorkommnistypen des Knalls, des Donners und des Knalls → Donners. Als Typen sind es idealtypische Sachverhalte, die erst durch das implizite Ereignisprädikat des Stattfindens, das in P1a, P1b und P1a→b so noch nicht enthalten ist, individuiert werden. Wir haben damit erreicht, was wir im gesamten Abschnitt 1.2 anstrebten, die pauschalen Eigenschaften eines Klangindividuums, die für sich genommen universal sind, in die absolute Individualität eines Ereignisses zu überführen. Dazu ist es ereignisontologisch ausreichend, eine pauschale Klangeigenschaft zu benennen, anzugeben, an welchem dinglichen Individuum sie individuiert ist, und diesen Sachverhalt mit dem Ereignisprädikat des Stattfindens zu verbinden. Wie bei Davidson können wir von dieser Ebene aus in beliebige Details einsteigen. Wir können zum Beispiel die dinglichen Individuen, die am Klangereignis beteiligt sind, näher fassen. Darin steckt, implizit oder explizit, immer eine Konkretisierung von Ort und Zeit. Das Individuum l ist bereits benannt. Vielleicht scheint jenes l zunächst wie eine pauschale Eigenschaft auszusehen, nämlich die Eigenschaft, Luft zu sein. Aber das täuscht. Sobald es in einen Ereignissatz integriert wird, muss es sich um dieses oder jenes Luftsegment handeln, ein Individuum also, weswegen wir auch zu einer Existenzbehauptung gezwungen waren. Dieses Luftsegment mit jenen konkret quantifizierten partikularen Eigenschaften von stationärem Druck, Temperatur, Eigenbewegung, genauer chemischer Zusammensetzung usw. befindet sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort. Wir könnten nun wie Davidson den Ort ausdrücklich nennen, indem wir die Individuierung des Dispersionsprädikats P1b (2b) am Ort O1 konkretisieren, den wir uns etwa als ein konkretes Luftsegment am Hörschbach einhundertfünfzig Meter oberhalb des unteren Hörschbachfalls am Nachmittag des 26.12.2013 vorstellen können: (2b’) ∃k (∃l, P1a, l) ∧ (∃l, ∃O1, P1b, l, O1) Wohlgemerkt, damit ist logisch in keiner Weise gesagt, dass sich nur an O1 Luft befindet oder dass sich der Zeit-Raum-Wurm des Klangereignisses auf O1 beschränkt. Von den im Prinzip unendlich vielen Ortspunkten, die die Druckschwankung des Büchsenschussklangereignisses an jenem Silvestertag durchlief, konkretisieren wir einen zweiten, den Ortspunkt O2, an dem

Individuen

| 125

sich zum besagten Zeitpunkt aber nicht Waldluft, sondern eine feuchte, bemooste Fichte f befindet, die ihren Teil zur donnerartigen Dispersion des Büchsenknalls beiträgt. Selbstverständlich wird damit die Existenz dieser feuchten, bemoosten, zum besagten Zeitpunkt genau 18 Meter und 41 Zentimeter hohen Fichte f behauptet. Der zweite Ortspunkt wird nun als Konjunktion angefügt: (2c)

∃k (∃l, P1a, l) ∧ (∃l, ∃O1, P1b, l, O1) ∧ (∃f, ∃O2, P1b, f, O2)

Mit (2c) haben wir folgenden Satz formalisiert: »Es existiert ein Büchsenschussklangereignis derart, dass ein Luftsegment stark verdichtet wurde und dass ein Luftsegment am Ort O1 dispersiv gestreut wurde und dass ein Luftsegment durch die feuchte bemooste Fläche einer Fichtenrinde am Ort O2 dispersiv gestreut wurde.« Wie sich hier weitere Details anhängen lassen, die die Ereignisextension mit immer dichteren Orts- und Zeitpunkten anfüllen, sollte nun klar sein. Für die Dispersionsphase P1b zum Beispiel ließen sich weitere Gegenstände (jeweils mit Existenzbehauptung) an weiteren Orten benennen. Auch die kurze Phase der schnellen Verdichtung von Luft in der Knallphase P1a könnte ausdifferenziert werden. Es können auch weitere Prädikate hinzutreten, mit denen die Vorkommnistypen näher charakterisiert werden. Zum Beispiel kann die Dispersion P1b in der Donnerphase dadurch konkretisiert werden, dass an einem Ortspunkt (O3), an dem der Klang als Donnern zu hören ist, der Wind (w) stark weht. Diesen Sachverhalt können wir durch eine neue Konjunktion anhängen, wobei wir nun das pauschale Prädikat P1b aufgreifen und mit der neuen Eigenschaft des starken Wehens (P2) von Wind genauer beschreiben: (2d)

∃k (∃l, P1a, l) ∧ (∃l, ∃O1, P1b, l, O1) ∧ (∃f, ∃O2, P1b, f, O2) ∧ (∃w, ∃O3 (P1b (P2, w, O3)))

❮ G r o ß e u n d K l e i n e E r e i g n i s o n t o l o g i e ❯ Ich bezeichne die vorgestellte Ereignisontologie als Kleine Ereignisontologie. Sie kommt klein daher, weil die Beispiele klein sind. Das Schmieren eines Brötchens, quietschende Autoreifen, ein rauschender Wasserfall oder der Knall eines Gewehrschusses sind alltägliche Dinge, klein und gänzlich undramatisch. Mehr Dramatik bitte? Kein Problem, man braucht nur das (ontologisch in der Scholie ❮ES❯ in 1.2.2 bereits abgehandelte) Wörtchen »es« zu raunen: »Seltsame Vorgänge! Müller tat es langsam, vorsätzlich, im Badezimmer, mit einem Messer, um Mitter-

126 | Kapitel 1

nacht.«45 Wir könnten ohne Schwierigkeit auch größere Beispiele wählen wie das Rauschen einer Großstadt, von einem umliegenden Hügel aus gehört. Die Zahl der ereignisontologischen Konjunktionen würde halt arg lang ausfallen müssen, um die klangrelevanten Sachverhalte auch nur halbwegs zusammenzubekommen. Und natürlich könnten wir ganz große Ereignisse wie die Liebe zwischen Petrarca und Laura, die Französische Revolution, die erste Mondlandung oder den 11. September mit exakt jener Davidsonschen Analyse ontologisch adäquat formalisieren. Dass in der potenziell unendlichen Fülle an Details, die in einem einzigen sich ereignenden Laut stecken, ästhetische Möglichkeiten schlummern, ist evident. In wie vielen Filmen, bevorzugt solchen mit Gruselfaktor, ist ein einziger unbebilderter Schrei eine Ellipse für eine schreckliche Fülle an Sachverhalten, die uns mit wohligem Schauer blitzschnell durch die Phantasie zucken, die wir aber natürlich auch in endlosen Konjunktionen aufschreiben könnten. Auch Ernst Jünger ist bei der Aufzählung des Gewimmels auf dem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs wortkarg; mit einem wahrhaft ereignisontologischen Statt-dessen lässt er lieber eine Granate durch die Szene heulen. Sogar bei stummen Klangindividuen wie dem Schrei in Edvard Munchs gleichnamigem Bild funktioniert die Klangereignisontologie aufs beste. Ereignisse, ob große oder kleine, können durch einen Klang elegant zu einer numerischen Ein(s)heit zusammengefasst werden. Und umgekehrt kann ein Klang eine Sequenz von Sachverhalten eröffnen, die durch den Klang wundersamerweise zu einem Ereignis gebündelt werden. 46 Manche Philosophen wie Badiou47 oder Heidegger48 bevorzugen nicht nur in den Fallbeispielen, sondern auch in der philosophischen Darstellung eine Große Ereignisontologie. Gegen diese gigantischen Ereignisphilosophien ist im Großen und Ganzen nichts einzuwenden. Ich liebe sie beide, sie haben viele Evidenzen der menschlichen Erfahrung für sich. Nur glaube ich, sie lassen sich in einer Kleinen Ereignisontologie reformulieren. Das abgründige Geheimnis und die realitätsstiftende Gewalt des Musischen, die in einem simplen Stattfinden oder in einem einzigen Klang im Wald liegen, wird damit keineswegs banalisiert. Hier ein Reformulierungsversuch. Bei Heidegger heißt es in Großer Ereignisontologie: »Das Inzwischen des Da ist vorräumlich und vor-zeitlich zu nehmen, wenn ›Raum‹ und ›Zeit‹ den gegenständlichen Bereich des Vorhandenen und seiner orts- und zeitpunkthaften Vor-stellung meinen. Und zwar besagt ›Inzwischen‹ das gedoppelt Innige von Inmitten und Unterdessen (Augenblick des Abgrundes). Dieses Inzwischen ist

45 So der berühmte Beginn von Davidson (1967), S. 155. Hervorhebung von mir. 46 Wie das ontologisch aussehen kann, habe ich in Bayreuther (2015) gezeigt. 47 Badiou (1988). 48 Heidegger (1936) sowie die späteren seinsgeschichtlichen Abhandlungen.

Individuen

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die Lichtung im Sinne der öffnenden Durchglühung (Stimmung).« 49 »Stimmung, die Da-sein als solches stimmend erfügt.« 50 In Kleiner Ereignisontologie lies für – »Inzwischen des Da« und »Da-sein«: Extension des Ereignisses – »vor-räumlich und vor-zeitlich«: zeitlogische Merkmale von Vorkommnissen – »öffnende Durchglühung«: Stattfinden (das implizite Ereignisprädikat) – »Stimmung«: ∃k

49 Heidegger (1939), S. 117. 50 Heidegger (1939), S. 320.

2

Eigenschaften

Ein Klang kann laut, schrill, verklungen, wummernd, flötend, angenehm, donnernd, hallig, aus der Werkstatt von dort drüben kommend, einen Schalldruck von 0,07 Pascal aufweisend, stumpf, langgezogen, tief, ein Frequenzband zwischen 16 Hz und 30 Hz habend, gleichbleibend und vieles mehr sein. Ein Sound hat unendlich viele Eigenschaften, weil er in unendlich vielen Hinsichten erfasst werden kann. Je nach Hinsicht charakterisieren sie ihn unterschiedlich umfassend. Manche Eigenschaften beschreiben nur einen begrenzten Aspekt, neben dem es sehr viele weitere Aspekte gibt, mit denen erst in Summe sich eine Gesamtcharakteristik des Klangs ergäbe. Andere Eigenschaften sind globaler und reichen, wie »donnernd« und eventuell auch »wummernd«, sogar aus, um das Klangereignisindividuum als ganzes zu charakterisieren. Ein grammatisches Indiz dafür ist, dass sich aus derartigen Adjektiven, die wir als pauschale Klangeigenschaften bezeichnet haben, generische Nominalphrasen bilden lassen, also Namen für einen Typ oder eine Gattung von Klang, die nicht nur an einem Individuum, sondern als Individuum exemplifiziert sein können. In 1.1.2 hatten wir darauf hingewiesen, wie über solche Klangeigenschaften ohne weitere Prädikation existenzquantifiziert werden kann (»es gibt ein Individuum, das ein Donner ist«) bzw. demonstrativ als Hinweis auf ein Individuum (»dieses Donnern«) dienen können. Mit allen anderen Eigenschaften, die wir aufgezählt haben, geht das nicht. Wie zuverlässig aber sind grammatische Indizien? Gibt es wirklich Strukturen, die einen donnernden Klang als solchen, seinem Wesen nach also, ausmachen und ihn von einem wummernden Klang unterscheiden? Oder handelt es sich um bloße sprachliche Konventionen, die einer mehr oder weniger zufällig intendierten Eigenschaft nominalen Status verliehen

130 | Kapitel 2

haben? Anders gesagt, gibt es natürliche Gattungen von Klängen oder haben wir es nur mit konventionalisierten Bildungen einer Klasse aller donnernden Klänge zu tun, die ontologisch auf keiner anderen Ebene als die Klasse aller schrillen, aller langgezogenen oder aller aus der Werkstatt dort drüben kommenden Klänge rangieren? Es steht also die Frage im Raum, ob hinter einer pauschalen Klangeigenschaft ontologisch etwas Wesentliches oder Essenzielles steht (2.2.1). Anschließend erhellen wir die Merkmalsstruktur pauschaler Klangeigenschaften (2.2.2). Eine ganz andere Problematik wird bei der Analyse der partikularen Eigenschaften (2.2.3) berührt: Naturgesetzlichkeit. Hinter partikularen Eigenschaften wie einen Schalldruck von 0,07 Pascal aufweisend oder stumpf steht, dass sie durch irgendwelche naturgesetzlichen Bedingungen individuiert worden sind. Die Ontologie von Naturgesetzen ist für diese Kategorie von Klangeigenschaften zentral. Für die akustischen Eigenschaften (2.2.3.1) sind das die Gesetzmäßigkeiten der Schwingungsmechanik, für die psychoakustischen Eigenschaften die Gesetzmäßigkeiten der auditiven Wahrnehmungspsychologie (2.2.3.2). Vom seit Jahrhunderten brodelnden Kessel des Universalienstreits heben wir nur kurz den Deckel (2.0). Mit der Sprache sagen wir fortlaufend Klangeigenschaften aus. Aber gibt es diese Klangeigenschaften auch? Etwas sagen und von etwas eine Existenzbehauptung machen ist zweierlei. Lösen kann ich den Universalienstreit in diesem Buch nicht. Ich werde nur kurz andeuten, wie er sich von Sounds her darstellt. In 2.1 wird mit der Unterscheidung zwischen intrinsischen und extrinsischen Eigenschaften eine Eigenschaftsdimension erörtert, die sich für die gesamte folgende Analyse der Eigenschaften von Sounds als unabdingbar erweisen wird.

Eigenschaften

2.0

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GIBT ES KLANGEIGENSCHAFTEN ÜBERHAUPT?

Wir können die Eigenschaft zu donnern von einem Ereignis aussagen, dem Ereignisindividuum k des Büchsenschusses. Damit ist eine Existenzbehauptung verbunden: Es gibt etwas, das donnert, und das ist der Schuss aus der Büchse des Oberförsters. Dieses Schussereignis existiert. ∃k stand ehern am Beginn der formalen Ereignisbeschreibungen in 1.2.3. Aber gibt es darüber hinaus auch das Donnern? Nehmen wir weitere Eigenschaften, die das Ereignisindividuum haben kann, zum Beispiel, dass es an einem bestimmten Zeit-Raum-Punkt einen Schalldruck von 0,07 Pascal hat. Gibt es dann auch die Eigenschaft, einen Schalldruck von 0,07 Pascal zu haben? Seit dem Universalienstreit des 12. Jahrhunderts wird die Auffassung, dass es nicht nur die Dinge, sondern auch ihre Eigenschaften gibt, Realismus genannt. Für einen Realisten sind die Eigenschaften ebenso existent wie die Individuen, aber freilich in anderer Weise. Für sie gelten nicht die ontologischen Bedingungen aus der Raum-Zeitlichkeit von Dingen. Sie sind in Raum und Zeit individuiert, und zwar an Individuen. Sie selbst aber sind nicht raum-zeitlich, sondern abstrakt und universal. Daher firmieren sie in der Ontologie als Universalien. Die Eigenschaften des Donnerns und des Schalldrucks von so und so viel Pascal existieren in einer realistischen Ontologie als universale Abstrakta und können gleichzeitig multilokal individuiert sein. Mit sich identisch sind sie nur als universale Abstrakta. Wo sie individuiert sind, sind sie nolens volens unterschiedlich individuiert: Das Donnern der Klangereignisindividuen k und l unterscheidet sich ebenso wie der Schalldruck an k zu t1 und an l zu t1. Das eine Donnern mag zum Beispiel länger und dunkler sein als das andere, die eine Schalldruckindividuierung einen anderen Absolutdruckpegel in einem anderen Volumen haben als die andere. Auf der Ebene des Individuiertseins sind sich gleiche Eigenschaften nur ähnlich, was aber den Realisten nicht davon abhält, ihn im Gegenteil sogar motiviert zu sagen, den Ähnlichkeiten müssten identische Universalien zum ontologischen Grund liegen. Wer hingegen nur die Existenz von Individuen gelten lassen will und die von Eigenschaften komplett bestreitet, ist ein radikaler Nominalist. Für einen radikalen Nominalisten gibt es nur das Individuum k. Pauschale Klangprädikate oder eine Messgröße wie der Schalldruck sind im radikalen Nominalismus nichts weiter als Intentionalitäten, mit denen die Individuen erfasst

132 | Kapitel 2

werden und denen Namen gegeben werden, die grammatisch als Prädikate und Adjektive erscheinen. Die Ähnlichkeit, mit der die Individuen k und l uns in den Ohren klingen oder die uns ein Barometer suggeriert, das an allen erdenklichen Stellen auf einer kontinuierlichen Skala scheinbar vergleichbare Messwerte für den Luftdruck anzeigt, ist allein dem Konstruktivismus geschuldet, in den der menschliche Geist mit seinem Ausdrucks- und Kommunikationsbedürfnis verfällt. »Die spontane Philosophie jedes konstruktivistischen Denkens ist der radikale Nominalismus«, sagt Badiou treffend.1 Würde man, so glaubt diese spontane Philosophie, ohne die Konventionen und Konstrukte der Eigenschaften auf die Dinge schauen, sähe es an jedem Ort unhintergehbar anders aus. Damit sind die Extrempositionen grob skizziert. In beiden gibt es stärkere und schwächere Varianten. Es gibt mit der Ontologie der Tropen auch eine Theorie, die weder realistisch noch nominalistisch sein will und die Existenz von sogenannten Tropen akzeptiert, nicht aber ihre Universalität, da ihrer Auffassung nach Tropen immer raum-zeitlich konkret an Individuen existieren. Auch von dieser Eigenschaftsontologie gibt es mehrere Varianten, die sich vor allem an der Frage der Identität oder Ähnlichkeit verschiedener Individuierungen einer Trope entzünden. Wir können hier nicht in die Details gehen. Zwei starke Gründe sprechen meines Erachtens dafür, dass nicht nur das Individuum existiert, sondern auch seine Eigenschaften existieren.2 Erstens können wir von Klangeigenschaften höherstufige Eigenschaften aussagen, zum Beispiel: Donnern ist eine typi-sche Begleiterscheinung von Explosionen. Mit dieser Eigenschaftsbildung ist der Bezug zum raum-zeitlich konkreten Büchsenschussklangereignis verschwunden. An seine Stelle tritt etwas anderes: So wie im obigen Satz, dass der Büchsenschuss donnert, die Existenzbehauptung des Büchsenschusses eingeschlossen war, so wird nun hier die Existenz der Entität behauptet, an der eine Eigenschaft festgestellt wird, und diese Entität ist nicht mehr das Klangereignis dort im Revier des Oberförsters, sondern die abstrakte und universale Entität des Donnerns. Auch auf die partikulare Klangeigenschaft, einen Schalldruck von 0,07 Pascal zu haben, können wir als solche und unabhängig von ihrer konkreten Individuierung im Revier des Oberförsters Bezug nehmen, zum Beispiel durch die höherstufige

1

Badiou (1988), S. 323.

2

Stringent ausgeführt bei Künne (2007), S. 126-134.

Eigenschaften

| 133

psychoakustische Eigenschaft, dass ein Schalldruck von 0,07 Pascal von Lebewesen der Spezies Mensch als ziemlich laut empfunden wird. Zweitens: Auch abseits höherstufiger Prädikationen nehmen wir oft auf die Eigenschaften selbst Bezug und nicht nur auf die eigenschaftstragenden konkreten Individuen. Lassen wir zum Beispiel Saskia sagen, der Untere Hörschbachfall und der Obere Hörschbachfall seien ganz schön laut gewesen, während dem Mittleren Hörschbachfall diese Eigenschaft gefehlt habe. Sie nimmt dann auf die Eigenschaft des Lautseins Bezug, ohne dass ihr Urteil angekränkelt wäre durch die feinen Lautstärkenunterschiede, die sie zwischen dem Unteren und dem Oberen Hörschbachfall sicher wahrgenommen haben wird. Auch um subjektive Empfindungsschwellen, die es bei der Lautheit von Geräuschen nachgewiesenermaßen gibt, muss man sich bei einem solchen Urteil nicht kümmern. Wir werden später sehen, dass sich auch pauschale Eigenschaften nicht auf bestimmte akustische Merkmale festlegen lassen – was uns zum Beispiel überhaupt nicht daran hindert, leidenschaftlich darüber zu diskutieren, ob ein Plätschern oder eher ein sanftes Rauschen beim Einschlafen hilft oder keines von beiden. Alle pauschalen Klangeigenschaften und von den partikularen ein nicht unerheblicher Teil sind Eigenschaften, die es ohne die Intentionalität des Hörens nicht gäbe. Dächte man sich eine mögliche Welt ohne das Faktum der Intentionalität des Hörens, gäbe es Klangereignisindividuen, es gäbe aber nicht das Lautsein und auch nicht das Donnern dieser Individuen. Der Eigenschaftsträger des Donnerns des Büchsenschusses und des Applauses ist und bleibt dieser Schuss aus der Büchse des Oberförsters und jene Beifallsbekundung für d’Annunzios Rede auf dem Rathausbalkon von Fiume. Akustisch haben diese Schwingungsereignisse nicht viel gemeinsam. Die Wahl ein und desselben pauschalen Klangprädikats muss ein anderes ontologisches Fundament haben. Wir analysieren solche Eigenschaften, die in ihrer möglichen Welt die Existenz weiterer Dinge neben dem Ereignisindividuum benötigen, als extrinsische Eigenschaften (2.1). Hier liegt die Crux und die Pointe einer realistischen Eigenschaftsontologie. Wir müssen einerseits konstatieren, dass es weite Bereiche der Klangeigenschaften nur aufgrund des menschlichen Hörens gibt – und sollen andererseits daran festhalten, dass auch diese Eigenschaften existieren und nicht nur nominalistische Konstruktionen sind. Geht das zusammen? Ja, geht, wenn man sich eingesteht, dass eine Merkmalsanalyse von pauschalen Klangeigenschaften – wir nehmen sie in 2.2.2 vor – weder auf das konkrete

134 | Kapitel 2

Schwingungsereignis noch auf den psychischen Akt der auditiven Empfindung des Schwingungsereignisses rekurriert. Sie rekurriert auf das abstrakte Universale als solches. Gewiss gibt es von den pauschalen Klangeigenschaften im Prinzip unendlich viele. Das ist der Stachel im Fleisch einer realistischen Eigenschaftsontologie. Wir sollten den Schmerz aber nicht damit zu lindern versuchen, dass wir das mit der im Prinzip unendlichen Zahl auditiver Wahrnehmungsakte wegerklären. Genauso wie es scheitert, die pauschalen Klangeigenschaften auf physische Strukturen im Schwingungsereignis zurückzuführen (2.2.1), scheitert es, sie mit psychischen Mechanismen der auditiven Wahrnehmung zu erklären (2.2.2). Das ist freilich mehr ein Statement für eine realistische Position im Streit um die Existenz von Eigenschaften als eine gründliche philosophische Erörterung. Die müsste den Realismus detailliert gegen Einwände verteidigen und genauer sagen, was unter Existenz verstanden werden soll.3 Die Ähnlichkeitsfrage – die auf der Hand liegende Frage also, worin denn sich bei einer Verwendung derselben Eigenschaft der Untere und der Obere Hörschbachfall eigentlich gleichen sollen, wenn an den beiden Orten die Messgeräte unterschiedliche Schalldrucke messen und die Wahrnehmungssubjekte unterschiedliche Wahrnehmungen haben – diese Frage der Ähnlichkeit von individuierten Eigenschaften ist in der modernen Ontologie ausgiebig diskutiert worden. All das sprengte den Rahmen dieses Buchs. Für die Themen, mit denen ich die Eigenschaftlichkeit von Sounds erhellen möchte, wären sie auch nur an wenigen Stellen entscheidend. Kurz, für dieses Buch gelte die Hypothese, dass es all die vielen Klangeigenschaften, von denen die folgenden Kapitel handeln, gibt. Wir werden rasch sehen, dass die wirklich interessanten Unterschiede bei den Klangeigenschaften auf anderen Ebenen liegen.

3

Einen Streifzug durch neuere Positionen zum Thema unternimmt Künne (2006).

Eigenschaften

2 .1

| 135

INTRINSISCHE UND EXTRINS ISCHE EIGENSCHAFTEN

Das Rauschen des Hörschbachfalls kann die Eigenschaften haben, von mir gehört zu werden (am 26.12.2013 zwischen 10 und 11 Uhr) und von mir nicht gehört zu werden (am 26.12.2013 zwischen 11 und 11.30 Uhr). Es kann die Eigenschaft haben, laut zu sein. Diese Eigenschaften hängen nicht am Klang selber. Wir können uns alle diese Eigenschaften wegdenken und ließen doch das Klangereignis seiner Existenz wie auch seiner klanglichen Beschaffenheit nach unverändert. Auch die Eigenschaft, laut zu sein? Ja, auch diese: Für Saskia, mit der zusammen ich zur besagten Zeit in der Hörschbachschlucht bin und die sich eine dicke Wollmütze über die Ohren gezogen hat, hat der Klang die Eigenschaft, leise zu sein, obwohl wir uns beide bei unserer Prädikation auf ein und dasselbe Individuum beziehen. Anders die Eigenschaft dieses Ereignisindividuums, einen Schalldruck von 0,07 Pascal (zu t1 an l1) zu haben: Ob das Rauschen des Hörschbachfalls diese Eigenschaften aufweist oder nicht, hängt von dem Klangereignis selbst ab und von nichts sonst. Wenn schon nicht die Lautstärkeempfindung von mir oder von Saskia, dann könnte es vielleicht aber die Wollmütze über Saskias Ohren sein, die man sich nicht wegdenken kann, ohne das Ereignis zu verändern. Wenn die Luftmasse zwischen Wasserfall und Saskias Mütze, lokalisieren wir sie an l1, zum Klangereignis gehört, ebenso die Luftmasse zwischen Saskias Mütze und Saskias Ohr mit einem Schalldruck von 0,005 Pascal an l3, dann könnte auch die Mütze am zwischenliegenden l2 Bestandteil des Klangereignisses sein. Saskias Lautstärkeempfinden lässt sich wegdenken, ohne dass sich am Klangereignis in der Hörschbachschlucht etwas ändert. Eine Wollmütze am besagten Ort aber lässt sich nicht wegdenken, ohne dass sich am Klangereignis etwas änderte. Die Existenz von hunderttausend Wollmützen in der Hörschbachschlucht würde das Klangereignis ganz sicher verändern. Wenn es hunderttausend tun, dann tut es auch eine, nur eben schwächer. Eigenschaften, deren Individuiertsein an einem Individuum nur von der Beschaffenheit des Individuums selber abhängt und nicht von der Beschaffenheit anderer Individuen, firmieren in der Ontologie als intrinsische Eigenschaften. Eigenschaften, deren Individuierung an einem Individuum von der Beschaffenheit der Individuen darum herum abhängig

136 | Kapitel 2

ist, sind extrinsisch. So lässt sich das Alltagsverständnis in einer vorläufigen Definition fassen. Die Unterscheidung in diese zwei Typen von Eigenschaften, ein Standardargument in der Eigenschaftsontologie,4 ist für unser Thema offenkundig äußerst sinnfällig. Wie bei der Existenzfrage von Eigenschaften gibt es in der Philosophie allerdings auch hier einen Grundlagenstreit. Er dreht sich darum, ob die Unterscheidung überhaupt logisch konsistent ist.5 Abermals können wir hier in die formallogisch geführte Debatte nicht tief einsteigen. Intuitiv ist die Unterscheidung allemal. Eigenschaften der sinnlichen oder der ästhetischen Empfindung werden durch einen Empfindungsträger von außen an ein Individuum herangetragen. Die Lageeigenschaft eines Dings kann sich ändern, ohne dass das Individuum sich ändert: Die weinrote BMW R75/5 bleibt dieselbe unabhängig davon, ob sie sich in der nachbarlichen Garage oder am Ufer des Chiemsees befindet. Allein diese Intuition klärt ein weiteres Mal das Missverständnis, das in den phänomenologischen Klangtheorien oft auftaucht, die Beschaffenheit von Klängen sei etwas rein Phänomenales, Subjektives, Hörabhängiges. Bevor man sich auf solches Terrain begibt, ist es dringend geboten, sich die Frage zu stellen, ob die Eigenschaft eines Klangindividuums vom Klang selber oder von seiner Umgebung, einem Hörer beispielsweise, abhängig ist. Die Philosophie ist sich einig, dass die Unterscheidung auf restlos alle Eigenschaften anwendbar sein muss, damit auch auf alle erdenklichen Eigenschaften, die man an einem Klang feststellen kann. Eigenschaften werden von Individuen individuiert, und für uns heißt das: Für jede Eigenschaft muss sich entscheiden lassen, ob es für ihr Individuiertsein schon ausreicht, wenn das Klangereignisindividuum selbst sie individuiert, oder ob es dazu weiterer Individuen bedarf.

4

Siehe etwa Hoffmann-Kolss (2010).

5

Fundamentale Schwierigkeiten logischer Art hat Marshall (2014) herausgearbeitet.

Eigenschaften

2.1.1

| 137

Definition von intrinsisch / extrinsisch

Nehmen wir ein Klangereignisindividuum k an, das die folgenden Eigenschaften individuiert (grob und nicht überschneidungsfrei sortiert nach einigen Eigenschaftsklassen): Eigenschaften, die Dinge im Ereignisbereich betreffen: (P1) k involviert den Gegenstand g Akustische Eigenschaften: (P2) k hat einen Schalldruck von 0,005 Pascal an l3 Psychoakustische Eigenschaften: (P3) k ist laut (P4) k hat eine Tonhaltigkeit im Frequenzbereich 800 Hz (P5) k wird gehört von (…) (P6) k kann gehört werden von (…) Pauschale Klangeigenschaften: (P7) k knattert Eigenschaften im Ursachenbereich: (P8) k hat das Ursachenereignis u Eigenschaften im Wirkungsbereich: (P9) k führt zu einer Erwärmung des Schallfelds Mit den psychoakustischen Eigenschaften hat die Alltagsintuition keine Schwierigkeiten. (P3) bis (P6) erfordern einen Hörer, der selbst bestimmte Eigenschaften haben muss, um k mit den genannten Eigenschaften zu hören, teilweise intrinsische (P6), bei den übrigen eine Kombination von extrinsischen wie etwa dem Hörpunkt und intrinschen wie der Beschaffenheit seines Hörapparats. Wenn der Hörer sich ändert oder gar nicht existent ist, ändern sich auch die Eigenschaften (P3) bis (P6). Nach unserer obigen Alltagsdefinition sind sie folglich extrinsisch. Schwieriger zu bestimmen sind (P8) und (P9). Ereignisse beginnen ohne eine Ursache nicht zu existieren und hinterlassen Wirkungen, so auch

138 | Kapitel 2

Klangereignisse. Im Dass und im Wie seiner Existenz greift ein Klang über sich hinaus auf die Welt um ihn herum. Zum Wie zählen vor allem die akustischen Eigenschaften. (P2) ordnen wir vermutlich am leichtesten der intrinsischen Kategorie zu. Der Schalldruck gehört intuitiv zum Kern dessen, was ein Schwingungsereignis im Innersten ausmacht. Aber ein bestimmter Schalldruck kommt zustande durch eine bestimmte Ursachenkonstellation. Weist hier die Eigenschaft über sich selbst hinaus in die extrinsische Welt? Zudem: Schalldruck ist kein Absolutdruck, sondern die relative Differenz zum stationären Umgebungsdruck. Wellen ruhen auf den Eigenschaften des Trägermediums auf und sind in allen ihren physikalischen Eigenschaften nur Modifikationen der stationären physikalischen Eigenschaften des Mediums. Eine Schalldruckdifferenz vom stationären Luftdruck würde sich, vorausgesetzt dieselbe Schwingungsenergie ist im Spiel, verändern, wenn der stationäre Luftdruck anders wäre: Sie fiele bei einem höheren stationären Druck niedriger aus, da die gegebene Schallenergie dann nicht für eine Druckänderung um 0,005 Pascal ausreichte; bei einem niedrigeren stationären Druck fiele sie entsprechend höher aus. (P2) wäre demnach entgegen der Intuition eine extrinsische Eigenschaft – und mit ihr sämtliche akustischen Eigenschaften. Damit wäre auch schon die fließende Grenze zu den physikalischen Wirkungseigenschaften überschritten (P9), die gewissermaßen von Modifikationen der akustischen Eigenschaften diejenigen einsammeln, die übers Ereignisende hinaus bestehen bleiben. Mit der zeitlogischen Vorkommnisstruktur von Klangereignissen, wie sie in 1.2.2 sich ergab, könnten wir alles, was zeit-räumlich vor Ereignisbeginn und nach Ereignisende liegt, als extrinsisch auslagern. So wäre dann auch (P1) als intrinsisch klassifiziert, da Eigenschaften dieser Art gemäß Vorkommnisstruktur im Ereignis-ZeitRaum liegen. Es bleiben die pauschalen Klangeigenschaften (P7). Sie werden sich bei der Analyse in 2.2.2 als durch und durch phänomenal herausstellen. Phänomenal heißt, es ist konstitutiv ein Bewusstsein im Spiel. Bewusstseine gehören aber nicht zu den Dingen, die wie (P1) im Ereignisbereich liegen – also sind sie extrinsisch. Soweit sieht die Sache übersichtlich aus. Sie ist es aber nicht. Es reicht nämlich nicht festzustellen, ob im Eigenschaftsbereich Merkmale aus dem Binnenbereich des Klangereignisses stehen oder nicht. Im Blick behalten werden müssen auch Eigenschaften von Dingen außerhalb des Ereignis-

Eigenschaften

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bereichs, die ins Ereignis hineinwirken können. Wir machen das deutlich am involvierten Gegenstand g aus (P1) und formulieren zwei Eigenschaften, individuiert an nicht in k involvierten Gegenständen a, b, c usw., die von außen auf g Einfluss nehmen: (P1a) a, b, c usw. im Umfeld von k existieren in einer Welt, in der es keinen Gegenstand g gibt (P1b) a wirkt mittels Funkwellen während des Ereignis-Zeit-Raums von k auf g ein (P1a) ist analog zum Standardeinwand gegen die obige Alltagsdefinition formuliert.6 Ob k seine Eigenschaft (P1) individuieren kann, hängt hier offenkundig nicht nur von k selber, sondern auch von der Eigenschaft (P1a) benachbarter Drittindividuen ab. Nun könnte eingewandt werden, dass sich solche Eigenschaften, die etwas über die Art der Nachbarschaft mit dem untersuchten Erstindividuum aussagen, leicht konstruieren lassen, weil sie für die Drittindividuen selbst extrinsisch sind: Sie sind eben von k her perspektiviert und beinhalten irgendetwas, das mit k unvereinbar ist. Kritisch würde es gemäß der Alltagsdefinition für die Intrinsität einer Eigenschaft von k doch erst dann, wenn sie von einer Beschaffenheit eines anderen Individuums abhängig wäre, die ihrerseits intrinsisch ist. Man könnte die Alltagsdefinition somit verschärfen, indem man für die Intrinsität einer Eigenschaft nur fordert, dass sie unabhängig von den intrinsischen Eigenschaften eines anderen Individuums a individuiert sein kann. An dieser Stelle aber schließt sich der Zirkel: Die intrinsischen Eigenschaften von k sind durch die Unabhängigkeit von den intrinsischen Eigenschaften von a definiert – und umgekehrt müssen dann die intrinsischen Eigenschaften von a durch die Unabhängigkeit von den intrinsischen Eigenschaften von k definiert sein. Das eine Individuum soll das andere in Ruhe lassen, indem das andere Individuum das eine in Ruhe lässt? Der Zirkel ist ein Indiz dafür, dass wir bei aller Ereignishaftigkeit von Klängen nicht vergessen dürfen, dass sie nicht im leeren Raum stattfinden, sondern in einer Welt, die auch von anderen Individuen bevölkert wird und in der trotz der Existenz von Individuen alles mit allem zusammenhängt. Gerade für Individuen vom Typ Ereignis, wie sie uns in diesem Buch beschäftigen, ist die Alltagsdefinition

6

Hoffmann-Kolss (2017).

140 | Kapitel 2

unangemessen. Ereignisse hinterlassen Spuren in der Welt, und sie sind ihrerseits Resultate anderer Ereignisse. Gerade durch seine Eigenschaften verzahnt sich ein Gegenstand in der Welt und ihren anderen Gegenständen. In (P1b) ist eine Wechselwirkungseigenschaft mit einem anderen Ereignis formuliert. Wie gesagt, wir brauchen deswegen nicht an der Individualität von Klängen zu zweifeln oder in einen kulturwissenschaftlichen Kontextualismus zu verfallen. Aber wir können das logische Problem nicht ignorieren, denn logische Probleme sind ontologische Probleme. Einen Ausweg aus dem Zirkel bietet eine Definition der Unterscheidung intrinsisch/extrinsisch, die von Stephen Yablo vorgeschlagen wurde.7 Yablo denkt das fragliche Individuum als existent in einer Welt W1, die wiederum Teil einer umfassenderen Welt W2 ist. Die Welten W1 und W2 werden zudem von weiteren Individuen bewohnt. Die Grundidee der Definition besteht darin, eine Eigenschaft des Individuums dann als intrinsisch aufzufassen, wenn sie erhalten bleibt unabhängig davon, wie man die mögliche Welt um das Individuum herum zuschneidet und welche Dinge sie sonst noch enthält. Extrinsisch ist eine Eigenschaft dann, wenn sie verschwindet, wenn man statt W2 nur eine Teilwelt W1 veranschlagt. Das Kriterium für den Zuschnitt der möglichen Welt, in der W1 ein Teil von W2 ist, ist lediglich der modale Möglichkeitscharakter: Der Zuschnitt muss logisch konsistent sein. In welch anderer Ontologie zeigen sich damit die benachbarten Dinge? In der Welt W1 existiert k mit seinen Eigenschaften. Das Yablo-Kriterium prüft, wie weit man eine umgebende mögliche Welt W2 reduzieren kann, ohne dass das Trägerindividuum inexistent würde. Alle Eigenschaften des Trägerindividuums, die dabei wegfallen, ohne dass das Ereignisindividuum selbst zerstört oder zumindest in seinen anderen Eigenschaften verändert wird, sind extrinsisch. Die psychoakustischen Eigenschaften (P3) bis (P5) fallen weg, sobald man W2 um den konkreten humanen Hörer reduziert, der die Leerstelle von (P5) sättigt. Auch (P6) kann eliminiert werden, indem eine W2 überhaupt ohne humane Hörer konstruiert wird. Das ist nicht nur möglich, es war erdgeschichtlich Jahrmillionen lang tatsächlich der Fall. Alle diese Eigenschaften sind somit auch gemäß dem Yablo-Kriterium extrinsisch.

7

Yablo (1999).

Eigenschaften

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Wie sieht die kritische (P2) im Licht des Yablo-Kriteriums aus? Die W1 des Ereignisses muss auf jeden Fall den Gegenstand Luft involvieren. Die akustische Eigenschaft, periodische Druckschwankungen relativ zu einem Umgebungsdruck durchzumachen, wird wenn nicht ausschließlich, so doch maßgeblich am Individuum eines Luftvolumens individuiert. Sie zeigt sich nun klar als intrinsisch, denn das Luftvolumen ist Teil von W1. Die Eigenschaften, die das Luftvolumenindividuum für sich genommen hat, stellen für die Entscheidung kein Problem mehr dar. Der entscheidende Vorzug des Yablo-Kriteriums ist also, dass es die Teilwelten nicht nach Eigenschaften von Dingen, sondern nach Dingen selbst zuschneidet. Damit wird zum einen der Zirkel vermieden, der durch die Eigenschaftsfundierung der Alltagsdefinition entstand. Sobald die Existenz eines Dings, nennen wir es mit (P1) g, notwendig für das aktuelle Existieren des untersuchten Individuums ist, verbleibt es gemäß des Kriteriums in W1. Alle Eigenschaften von k, die mit Eigenschaften von g verschränkt sind, sind folglich intrinsische Eigenschaften. Zum anderen ist das Kriterium gerade für Individuen, die Ereignisse sind, auch intuitiv plausibel. Ereignisse sind eben primär zeit-räumlich individuiert und nicht so sehr durch den Ein- oder Ausschluss von Dingen. Ein bemerkenswertes Resultat ergibt sich bei der Ursacheneigenschaft (P8). Wie später noch deutlich werden wird, ist es erforderlich, das, was mit u in (P8) gemeint ist, auf dasjenige Ursachenereignis zu beschränken, das genau die Ko-Individuierung von Eigenschaften bewirkt, die hinreichend für den Eintritt von k ist. Wenn aus W2 ein ursächliches Ereignisindividuum u eliminiert wird, wird zugleich die Existenz von k eliminiert. Ohne die Explosion der Munition in der Büchse des Oberförsters hätte es keinen Knall gegeben, ohne den Schlag des Schlegels auf die Trommel nicht das Schwingungsereignis der Trommelhaut. Die typischen Analysen mithilfe des Yablo-Kriteriums sortieren solche Eigenschaften als extrinsisch aus, die etwas über die zeitliche oder räumliche Nachbarschaft eines Individuums aussagen. Hier aber kommt zur zeitlichen und räumlichen Nachbarschaft, die zwischen k und u besteht, eine kausale hinzu. Ohne u kein k. Daher kann (P8) nicht extrinsisch sein. Vielleicht mag es seltsam aussehen, (P8) als intrinsisch einzustufen, weil wir in 1.1.5.4 eine scharfe Trennlinie zwischen der Individualität von k und der Individualität seiner Ursachen gezogen haben. Aber meines Erachtens spricht dies nicht gegen die Intrinsität von (P8). Die Eigenschaften, die in einer Ursache stecken, haben völlig

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ungeachtet der eigenständigen Individualität der Ursache die intrinsischen Eigenschaften des untersuchten Individuums derart stark geprägt, dass sich sagen lässt, sie sind in den intrinsischen Eigenschaften von k aufgegangen. Ursacheneigenschaften zeigen also ähnlich wie die ebenso intrinsische (P1) die Verwobenheit eines Ereignisses mit seiner Umwelt an. (P1) brachte zum Ausdruck, dass g in den Raum-Zeit-Wurm von k involviert und deshalb intrinsischer Ereignisbestandteil ist. (P8) nun zeigt an, dass u, obwohl selbst nicht Teil des Zeit-Raum-Wurms von k, in die Eigenschaften der faktischen Raum-Zeitlichkeit tief verwoben ist. Die intrinsischen Eigenschaften des Raum-Zeit-Wurms von k sind gewissermaßen die modifizierten intrinsischen Eigenschaften des Ursachenereignisses, und genau das wird mit der Prädikation von (P8) ausgesagt. Auch die Wirkungseigenschaft (P9) ist mit exakt derselben Argumentation intrinsisch. Der existenzielle Abschluss von k besteht darin, dass seine intrinsischen Eigenschaften in die in (P9) benannte Eigenschaft der Erwärmung übergegangen sind. Allein schon k war hinreichend für den Übergang. Darin unterscheidet sich (P9) von den psychoakustischen Eigenschaften (P3) bis (P6). Jene sind ebenfalls Wirkungen, aber Wirkungen mit kontingenten weiteren Ursachen, nämlich der Anwesenheit hörender menschlicher Wesen. Jene Wesen können aus W2 ohne Auswirkung auf k eliminiert werden und (P3) bis (P6) verschwinden lassen. Um (P9) zum Verschwinden zu bringen, müsste W2 aber um genau die Dinge reduziert werden, die konstitutiv in k involviert sind, etwa unser g aus (P1). Solche g’s sind es ja, die wärmer aus k herauskommen als sie hineingingen. An den Beispielen ist zu sehen, dass das Yablo-Kriterium nicht räumlich verstanden werden darf. Das lässt sich an den extrinsischen psychoakustischen Eigenschaften (P3) bis (P6) erkennen. Nehmen wir an, der Hörer R.B. sei Grund für die Extrinsität der Eigenschaften. Die Teilwelt W1 kann nicht in der Weise Teil von W2 sein, dass aus W2 das Raumsegment, an dem sich R.B. befindet, herausgeschnitten wäre. Denn R.B. muss sich im Zeit-RaumWurm des Klangereignisses befinden, um überhaupt etwas zu hören. Etwas aus dem Ereignisraum herausschneiden hieße, das Ereignis selbst zu eliminieren. Es kann bei der Unterscheidung zwischen intrinsischen und extrinsischen Klangeigenschaften also nicht auf die Hörposition ankommen. Die liegt per se im Zeit-Raum des Ereignisses. W1 als Teilwelt von W2 muss vielmehr als Eliminierung all derjenigen Individuen aufgefasst werden, von denen die fragliche extrinsische Eigenschaft ontologisch abhängig ist,

Eigenschaften

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diejenigen Individuen ausgenommen, die direkt in die Kausalfolge des Klangereignisses involviert sind. Man sieht hier, dass Yablos Kriterium eigentlich nur eine Präzisierung des Kriteriums der ontologischen Abhängigkeit ist, das wir in 1.1.6 diskutiert hatten, das aber für eine allgemeine Definition der intrinsisch/extrinsisch-Dimension zu pauschal wäre. ❮ S i r e n e n s o u n d s ❯ Über keinen Klang, den niemand je hörte, ist mehr gedacht worden als über den Sound der Sirenen. Kann man Ontologie eines ungehörten Klangs betreiben? Ein Aspekt des Sirenensounds zumindest erschließt sich mit der Unterscheidung intrinsisch/extrinsisch. Als hätte Goethe anachronistisch schon Horkheimers/Adornos Dialektik der Aufklärung gelesen (oder war es anders herum und wird bloß nicht zugegeben?), lässt er in der »Klassischen Walpurgisnacht« des Faust II den Protagonisten abgeklärt sich den Sirenen nähern und wieder entfernen, als habe er den rationalisierenden und aufklärenden Verzicht, den Odysseus am Sirenenfelsen dem homerischen Wortlaut gemäß schmerzlich übte, hunderte Male durchexerziert und dadurch eine Souveränität gewonnen, nach Belieben die sinnlichen Reize der Sirenen aus der Halbdistanz cool mitzunehmen und sich ihnen doch nicht hinzugeben. Während Mephisto, der ihn begleitet, eine naturgemäße Immunität gegen die Reize der Musik hat (»Das Trallern ist bei mir verloren, / Es krabbelt wohl mir um die Ohren / Allein zum Herzen dringt es nicht.« 8), ist es bei Faust eine längst internalisierte Willensleistung, dem Sirenengesang hinter Schilfrohr zu lauschen, ihn anmutig, ja schön zu finden, mit den Sirenen zu flirten und ihr Verführungswerben im engeren Sinn souverän-gelangweilt abzuweisen. An einen Mast binden lassen muss er sich dafür bei weitem nicht. Fausts distanzierter Genuss der Sirenen ist der Musterfall des kantischen interesselosen Wohlgefallens. Die Schönheit des Sirenenklangs ist bei Faust völlig durchformt zum ästhetischen Kunstgenuss. Wie auch immer die Sirenen gesungen haben, als Faust ihnen am Peneios in Thessalien zuhörte, es muss eine Menge an extrinsischen Klangeigenschaften dabei gewesen sein. Alle ästhetischen Eigenschaften, die Faust am Sirenenklang wahrnimmt (und ästhetische Eigenschaften insgesamt in einer ästhetischen Theorie der Kunst), sind extrinsisch. Sie sind nicht unabhängig von etwas außerhalb des Klangereignisses selbst. Faust ist das ästhetische Subjekt, das über sie gebietet. Schön, anmutig, bezaubernd usw. ist der Sirenengesang hier erst, insofern Faust ihn als schön, anmutig, bezaubernd usw. empfindet. All das, was Kirke in ihrer Warnung an Odysseus dem Sirenenklang selbst zuschreibt, zieht Goethe von ihm ab und weist es dem (nach Horkheimer/Adorno) »aufgeklärten« Menschen zu. Ohne seine souveränen extrinsischen Prädikationen würden die Dinge ziemlich eigenschaftsarm. Das

8

Goethe: Faust II, V. 7175-7177.

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ist freilich eine beabsichtigte Pointe aller ästhetischen Theorie. Wie etwas an sich klingt, schmeckt, aussieht, ist, weiß nach Kant niemand. Man kennt aber sehr genau seine eigene Ohrenkrabbelei, seinen eigenen Geschmack, sein eigenes Dafürhalten. Das ist ästhetische Urteilskraft oder mindestens ihre wichtigste Bedingung. Alle Eigenschaften, die von einem ästhetischen Urteil ausgesagt werden, sind extrinsisch. In einer Teilwelt W1, in der es die jeweilige ästhetische Urteilskraft nicht gäbe, existierten sie nicht. Ist das auch die Eigenschaftsontologie des Sirenengesangs, so wie sie aus dem XII. Gesang der Odyssee spricht? Eigenschaften des Sirenengesangs werden zunächst in der Warnung benannt, die Kirke dem scheidenden Odysseus auf den Weg gibt: 9 »Erstlich erreicht dein Schiff die Sirenen; diese bezaubern Alle sterblichen Menschen, wer ihre Wohnung berühret. Welcher mit törichtem Herzen hinanfährt, und der Sirenen Stimme lauscht, dem wird zu Hause nimmer die Gattin Und unmündige Kinder mit freudigem Gruße begegnen; Denn es bezaubert der helle Gesang der Sirenen, Die auf der Wiese sitzen, von aufgehäuftem Gebeine Modernder Menschen umringt und ausgetrockneten Häuten. Aber du steure vorbei, und verkleibe die Ohren der Freunde Mit dem geschmolzenen Wachse der Honigscheiben, daß niemand Von den andern sie höre. Doch willst du selber sie hören; Siehe dann binde man dich an Händen und Füßen im Schiffe, Aufrecht stehend am Maste, mit festumschlungenen Seilen: Daß du den holden Gesang der zwo Sirenen vernehmest.« Die Eigenschaftsangaben bezaubernd, hell und hold wie überhaupt die Empfehlung, nur in Fesseln oder am besten ganz taub vorbeizufahren, wären ziemlich sinnlos, wären sie alle oder auch nur einige von ihnen extrinsisch. Wenn sich Holdheit und tödlicher Zauber nur denjenigen ästhetischen Subjekten mitteilten, die dafür empfänglich sind, ergo wenn sie extrinsisch wären, wie soll Kirke wissen, ob das bei Odysseus der Fall ist? Vielleicht ist Odysseus ja ein cooler Typ vom teuflischen Schlage Fausts. Aber Homers Text gibt keinen noch so kleinen Anlass zu vermuten, dass Odysseus in einem Anflug von Fausts ästhetischer Souveränität die geschilderten Eigenschaften als extrinsisch aufgefasst und geglaubt hätte, damit könne er zurande kommen. Vielmehr gibt er Kirkes Prädikationen unverändert an seine Seemänner weiter: 10

9

Homer: Odyssee, XII, 40ff. Kursivsetzung R.B.

10 Homer: Odyssee, XII, 158ff.

Eigenschaften

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»Erst befiehlt uns die Göttin [sc. Kirke], der zauberischen Sirenen Süße Stimme zu meiden, und ihre blumige Wiese. Mir erlaubt sie allein, den Gesang zu hören; doch bindet Ihr mich fest, damit ich kein Glied zu regen vermöge, Aufrecht stehend am Maste, mit festumschlungenen Seilen. Fleh’ ich aber euch an, und befehle die Seile zu lösen; Eilend fesselt mich dann mit mehreren Banden noch stärker.« Auch sein konkretes Handeln spricht gegen extrinsische Eigenschaften. Wie er es sagt tut er es auch, zumindest seinem Bericht im homerischen Wortlaut nach. Wäre irgendetwas davon extrinsisch, hätten sich Handlungsoptionen ergeben. Oder genauer, er tut es fast so wie er sagt.11 Er geht tatsächlich an Land und gibt sich dem Sirenengesang aus nächster Nähe hin, um anschließend quicklebendig von dannen zu segeln. Von extrinsischen Klangeigenschaften hält Kittler nicht viel, und er hat gegenüber Goethe und Adorno/Horkheimer das ontologische Recht auf seiner Seite, denn Odysseus selber hält nicht viel von extrinsischen Klangeigenschaften. Sie krabbeln vielleicht wohlig um die Ohren und drängen auch zum Herzen, aber nicht ins Gemächt. Er macht die Probe aufs Exemplifiziertsein der Sireneneigenschaften als intrinsischen. Er macht die Probe auf Leben und Tod, was man vom goetheschen Faust nicht eben sagen kann. Ergebnis: nicht exemplifiziert. Kirke und Odysseus haben aus jeweils unterschiedlichen, aber auch jeweils leicht nachvollziehbaren Gründen gelogen.

2.1.2

Fallbeispiele

Die beiden Fallbeispiele sollen die Funktionsweise des Yablo-Kriteriums für die Intrinsität/Extrinsität von Klangeigenschaften einüben und erläutern. Wir beginnen noch einmal mit dem psychoakustischen Lautstärkenempfinden (P3). In der zweiten Analyse werden wir Lageeigenschaften genauer erörtern. Diese Eigenschaftsart gilt bei Dingindividuen als der klassische Fall von extrinsischen Eigenschaften. Bei den Ereignisindividuen, wie es Klänge sind, wird sich die Sache wieder einmal als komplexer erweisen. Die Lage eines Ereignisses lässt sich vom Ereignis schon intuitiv schlechter trennen als die Lage eines Dings vom Ding.

11 So Kittler (2006), S. 43-58.

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2.1.2.1

Lautstärke eines Klangs

Das Beispiel mit Saskias Wollmütze, die die Lautstärke eines Klangs verringert, ist typisch für unsere Alltagserfahrung, dass Lautstärken von Klängen subjektiv empfunden werden. Wir müssen demnach Lautstärkenempfindungen untersuchen. Nennen wir die Eigenschaft, als laut empfunden zu werden, wie oben (P3). Das Individuum, das (P3) individuiert, sei wieder k. Intuitiv ist (P3) also extrinsisch. Mit dem Yablo-Kriterium kann das leicht bestätigt werden. Es müssen sich zwei Welten W1 und W2 auffinden lassen, in denen k in W2 (P3) individuiert und k in W1 (P3) nicht individuiert. Diese möglichen Welten sind denkbar: ein W2, in der ein entsprechender Bewusstseinszustand (samt dem lebendigen Individuum, das ihn verkörpert) existiert, und ein W1, in dem er nicht existiert. Die Unterscheidung der beiden Welten tangiert k selber in keiner Weise. Damit ist (P3) als extrinsisch erwiesen. Nun ist Lautstärke nicht die alleinige Eigenschaft eines entsprechenden Bewusstseinsgehalts. Das Bewusstsein repräsentiert etwas, und dieses Etwas ist eine akustische Eigenschaft von k, der Schalldruck. (Ontologisch exakt ist psychoakustisches Repräsentieren von Klang eine mehrstellige höherstufige Eigenschaft, deren eine Leerstelle durch eine akustische Eigenschaft von k, deren andere von einem Bewusstsein gesättigt wird. Aus dieser Eigenschaftsontologie der psychoakustischen Eigenschaften, die wir in 2.2.3.2 näher erörtern, werden wir noch bemerkenswerte Erkenntnisse gewinnen.) Der Schalldruck ist eine quantifizierte Eigenschaft unabhängig davon, ob er via Hörvorgang von einem Bewussthaber mental repräsentiert wird oder nicht. Nehmen wir an, k hat am Zeit-Raum-Punkt der beiden Hörer, von denen der eine eine Mütze trägt und der andere nicht, einen Schalldruck von 0,02 Pascal. Weiter nehmen wir an, alle Schalldrucke größer und gleich 0,015 Pascal repräsentieren die beiden Hörer als laut, alle kleineren Schalldrücke als leise. Die Mütze verringere den Schalldruck um 50%. Am Ohr der Hörerin mit Mütze herrscht damit ein Schalldruck von 0,01 Pascal und sie empfindet k als leise. Wenn nun die Lautstärkenempfindungseigenschaften extrinsisch sind, ist es auch die Eigenschaft, dass eine Mütze im Spiel ist? Dieser Schluss wäre falsch. Die Mütze mit ihren Dämpfungseigenschaften kann nicht aus W1 abgesondert werden, ohne dass sich k verändert. Der Zeit-Raum-Wurm von k involviert nicht nur das Luftvolumen zwischen der Klangquelle und der

Eigenschaften

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Mütze, sondern auch das zwischen der Mütze und Saskias Ohr. Ohne die Mütze würde das letztere Luftvolumen nicht den (intrinsischen!) Schalldruckwert von 0,01 Pascal individuieren, sondern von 0,02 Pascal. Wie gesagt: Wenn hunderttausend Wollmützen k intrinsisch verändern, dann auch eine.

2.1.2.2

Lage eines Klangs

Lageprädikate eines Individuums sind in der Ontologie das klassische Beispiel für extrinsische Eigenschaften. Welche der Lageeigenschaften, im Bett zu liegen, in Stuttgart oder am Matterhorn zu sein, das Individuum R.B. (zu t0) individuiert, spielt für das Individuum selbst keine Rolle. Konstruieren wir nämlich eine Teilwelt, in der es das Bett von R.B., die Stadt Stuttgart und das Matterhorn nicht gäbe, das Individuum würde die Lageeigenschaften verlieren, aber in seinen intrinsischen Eigenschaften unverändert bleiben. Bei den Klängen ist wieder einmal alles verwickelter. Und wieder einmal liegt das an der Ereignishaftigkeit von Klängen. In der Alltagskommunikation sind Lageprädikationen und Ortsbeschreibungen von Klängen gang und gäbe. Bevor wir einen Klang in seinen klanglichen Qualitäten beschreiben, wo die Sprache schnell dürftig wird, geben wir oft seine Position an. In der Autowerkstatt berichten wir dem Monteur von einem »merkwürdigen Geräusch«. Eine genaue klangliche Beschreibung müssen wir oft schuldig bleiben, es fällt uns aber leicht zu sagen, das Geräusch kommt von der Beifahrerseite vorn. Ist diese Positionsangabe eine extrinsische Lageeigenschaft des Klangs? Die Intuition sagt nein, denn mit der Angabe wollen wir den Monteur auf den vermuteten Zeit-Raum-Wurm des Klangereignisses und damit das Klangereignis selbst hinweisen. Und die Eigenschaften des ZeitRaums von Klangereignissen haben sich im obigen Kapitel als intrinsisch herausgestellt. Über den Zeit-Raum von k lässt sich zum Beispiel überhaupt erst das Involviertsein eines Gegenstands g (P1) bestimmen. Während die Lageeigenschaft von g während der Spanne des Vorkommnisses von k für das Individuum g selbst extrinsisch bleibt, ist sie für k intrinsisch. Im Ersten Weltkrieg lokalisiert Döblin das »unentwegte Dröhnen, Bullern, Pauken« »um Verdun«, das sich mindestens bis Saargemünd ausdehnt, von wo aus er den Brief schreibt; Adorno lokalisiert den Geschützlärm in die

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»Gegend um Belfort« und sich selbst an den Ort Hinterzarten.12 Die Ortsangaben sind Namen für bestimmte räumliche Areale mit spezifischer Bebauung, bestimmtem Bewuchs und jeweiliger Oberflächengeometrie. Mit diesen Merkmalen sind die mit Namen bezeichneten Lageeigenschaften ohne Zweifel intrinsisch für den Klang, selbst wenn sie an den extremen Hörpunkten, die Döblin und Adorno einnehmen, nur minimal ins Ereignis involviert sind. Sind die Namen Verdun, Belfort und Hinterzarten auch in der Weise, in der Namen etwa bei einem Konzertereignis eine intrinsische Lageeigenschaft benennen, intrinsische Ortsangaben für k? Von Konzertereignissen lassen sich Lageeigenschaften aussagen, die mit denselben Ortsprädikaten bezeichnet sind: In Belfort findet ein Symphoniekonzert statt, in Verdun eine Session in einem Jazzclub, in Hinterzarten ein Frühschoppen mit der Trachtenkapelle. Diese Prädikate drücken ebenfalls intrinsische Lageeigenschaften aus, aber in anderer Weise als bei Döblin und Adorno. Die genannten Ereignisse sind keine Klangereignisse, sondern komplexe Handlungsgeflechte. Ihre Lageeigenschaften sind intrinsische Eigenschaften des Konzertereignisses, weil sie die Handlungsmöglichkeiten der Akteure im Ereignis und damit einen wichtigen Aspekt der Ereignishaftigkeit selbst benennen. Sind sie es auch für die von Döblin und Adorno genannten Klangereignisse? Offenkundig nicht, woran zu sehen ist, dass die spezifische Ereignisstruktur der entscheidende Faktor ist, an dem sich die Intrinsität oder Extrinsität der Lageeigenschaften von Ereignissen entscheidet. Man vergegenwärtige sich, wie wir in 1.2.3 die Ereignisstruktur entfalteten durch eine sukzessive immer detailliertere Analyse der Klangverlaufseigenschaften und der Orte, die durch den Verlauf kausal miteinander in Beziehung gesetzt wurden. Wir bemerkten bereits dort, dass in der immer feinkörnigeren Offenlegung der Beziehungen der ins Ereignis involvierten Dinge sich implizit der Ereignisraum ergibt. Diese Dinge und Dingekonjunktionen können aus W1 nicht ausgegliedert werden, ohne dass das analysierte Ereignis sich verändern würde. Nach dem Schema wären bei dem Klangereignis, das Adorno beschreibt, ab irgendeiner Analysetiefe Belfort und Hinterzarten durch eine Konjunktion verbunden. Mit der spezifischen Kausalität, wie sie sich in den Konjunktionen der formalen Ereignisbeschreibung zeigt, ist der Ort, den die Ursachen-Wirkungen-Kette

12 Paul (2013), S. 80f. Vgl. das vollständige Zitat in 1.1.5.2.

Eigenschaften

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einnimmt, am Ende exakt umrissen. Für die intrinsische Lageeigenschaft eines Klangereignisses stellen diese Konjunktionen somit die Merkmalsmenge dar. Gegenprobe mit den Konzertereignissen in Belfort, Verdun und Hinterzarten: Man denke sich eine Formalisierung der Konzertereignisse nach dem Schema in 1.2.3. Ihr Ereignisraum wäre ein je individueller, der mit demjenigen der Klangereignisse Döblins und Adornos keinerlei Ähnlichkeit hätte. Könnte man ihn in eine W2 ausgliedern? Ja, könnte man, sofern man den obigen Vermerk beachtet, das Yablo-Kriterium nicht räumlich misszudeuten. Ausgliedern würde also nicht heißen, zum Beispiel das Areal des Hinterzartener Kurhauses von der Landkarte zu streichen. Es würde heißen, sich eine Welt ohne das Ortsgeflecht des jeweiligen Ereignisses vorzustellen. Der mit dem Namen Verdun bezeichnete Ereignisort von k zeigt sich dann für das Konzertereignis als extrinsisch, umgekehrt erweist sich der mit demselben Namen Verdun bezeichnete Ort für die Klangereignisse im Weltkrieg als extrinsisch. Die nominell gleichen Ortsbezeichnungen besagen also für sich genommen nichts. Das mit ihnen Bezeichnete sind die jeweiligen Ereignisorte. Deren Raum-Zeit-Würmer sind lauter voneinander verschiedene Unikate. ❮ S o u n d s e l i g S u e v i e n ❯ Am Morgen des 2.11.2016 gellte durch den Schacht eines S-Bahnsteigs am Stuttgarter Hauptbahnhof ein ohrenbetäubender Knall und jagte den Reisenden einen Schrecken ein. An der Oberleitung der einfahrenden S-Bahn hatte es eine laute, aber harmlose elektrische Entladung gegeben. An den Spitzen feiner Drähte, die aus der Oberleitung abstehen, können Spannungsspitzen entstehen, die sich über einen Störlichtbogen auf das Gehäuse des Zugs entladen. Es handelt sich also um einen klassischen elektrischen Blitz mit Explosionsknall. Das Klangereignis war so heftig, dass es den Weg in Pressemeldungen und Leserbriefe fand. Die individuellen Zutaten für das Klangereignis waren ein elektrisch betriebener Triebwagen, eine stromführende Oberleitung und ein unterirdischer Bahnsteig üblicher Bauweise. Die lokale Konjunktion dieser Zutaten ergibt die Lageeigenschaft des Knalls. Ist sie intrinsisch? Auf jeden Fall: Ohne sie hätte das Klangereignis nicht stattgefunden. Ist die Lageeigenschaft, im Stuttgarter Hauptbahnhof verortet zu sein, intrinsisch? Nein, man könnte sich das Individuum Stuttgart komplett wegdenken, lediglich der unterirdische Bahnsteig muss beibehalten werden. Der temporalen Unterscheidung zwischen Zustand und Vorkommnis entspricht die topologische Unterscheidung zwischen abstraktem und ereignishaftem Raum. Letzterer wird manchmal, von Heideggers Ortsbegriff her, als

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erfüllter Ort gegen einen leeren Raumbegriff abgegrenzt. Diese Unterscheidung zwischen Raum und Ort wiederum lässt sich trefflich destruieren, wenn man phänomenologisch und kulturwissenschaftlich an das Thema herangeht. 13 Solche Argumentationen enden alle vor den Türen der Ontologie. Ontologisch sind es Ereignisse, die Ereignisräume aufspannen, deren intrinsische Topologie sich erst aus den spezifischen Konjunktionen des Sichereignens bestimmt und nicht schon durch eine vorgängige Raumstruktur gegeben ist. (Man könnte das auch mit Hölderlin sagen: »Darum ist / Dir angeboren die Treue. Schwer verläßt, / Was nahe dem Ursprung wohnet, den Ort.«14) Wir konnten unbekümmert bei der Begrifflichkeit des Zeit-Raums des Ereignisses bleiben, weil der Ereignisort eben räumliche Ausdehnung hat, bei Klangereignissen sogar eine per Wellengleichung berechenbare (2.2.3.1.3). Zeit-Raum-Würmer sind Orte mit einem ereignisortspezifischen Ereignisraum, der gegebene Räume in Anspruch nimmt und den Ereignisraum ortshaft gegen den vorgängigen Raum auszeichnet. Der vorgängige Raum ist eine extrinsische Lageeigenschaft des Ereignisses, der Ereignisraum eine intrinsische. Dass für die Bezeichnung von Ereignisräumen Ortsnamen verwendet werden, spricht ontologisch Bände. Auf dieser ontologischen und terminologischen Grundlage lassen sich die Räume von Ereignissen analysieren. Klangereignisräume sind durch eine mechanische Kausalität bestimmt. Ereignisse, die durch Handlungen wie Brötchenschmieren im Badezimmer oder ein musikalisches Konzert entstehen, sind komplexer: Bei ihnen sind die mechanischen Ereignisräume, die es in ihnen auch gibt, eingebettet in Handlungen, die das Ereignis verursachen und die sich an seine Wirkung anschließen. In der Analyse der Vaterlandslieder für Wirtemberger und andere biedere Schwaben (1795) habe ich aufgewiesen, wie die Orte Schwaben und Württemberg als ein ontologisches Gebilde aufgefasst werden müssen, das gerade kein geographisch aufgespannter Raum ist.15 Ein ereignishafter Vorgang, zum Beispiel das Singen von Liedern, lässt das Schwäbische an Orten Realität werden: an der Burg Teck, am Hohenstaufen, am Württemberg, am Wunnenstein, in Lorch, Wildbad, Rosenfeld, Neuenstein, Schöntal, Schorndorf, Heilbronn, Weinsberg und einigen anderen. Alle diese Orte haben Raumpunkte auf der Landkarte. Aber es kann um sie nicht einfach eine Linie auf der Landkarte gezeichnet und die abgezirkelte Fläche dann als Schwaben oder Württemberg aufgefasst werden. Schwaben und Württemberg sind Bezeichnungen für die intrinsischen Lageeigenschaften der jeweiligen Ereignisse. Ihr Umriss wird vom Ereignis gezeichnet, nicht von der Landkarte. Sie sind in gewisser Hinsicht kleiner als die gleichnamigen geographischen Räume, weil sie nicht alle ihre Raumpunkte ins Ereignis

13 Günzel (2017), insbes. S. 45ff. 14 Friedrich Hölderlin: »Die Wanderung«. 15 Bayreuther (2016).

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involvieren. In gewisser Hinsicht sind sie größer als das geographische Württemberg, weil sie über den entsprechenden Umriss auf der südwestdeutschen Landkarte von 1795 hinausgreifen. In dieser Weise ist auch die Lageeigenschaftsbezeichnung Württemberg in dem Buch Chorkomponisten in Württemberg aufzufassen.16 Wenn die deutsche Nationalliteratur eine Generation nach 1795 »von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt« dichtet, dann zeugt das vom groben Missverstehen der Örtlichkeit von Ereignissen. Durchs bloße Besingen kommen diese Lageprädikate noch nicht zu Individuen, von denen sie dann vermeintlich intrinsische Lageeigenschaften aussagen. Dazu bedürfte es eines Ereignisses, das diese Raumpunkte tatsächlich involvierte. Kleine Ereignisontologie hat die Pflicht, zur Großen zu werden, wenn es gilt, philosophisch unterbelichteten Identitarismus in die Schranken zu weisen.

16 Bayreuther/Ott (2019).

152 | Kapitel 2

2.2

PAUSCHALE UND PARTIKULARE EIGENSCHAFTEN

»Die Eigenschaften, welche man unter dem Begriff Klangfarbe zusammenfasst, bilden eine so bunte Menge, dass man beim Überblick schier verzweifeln muss, sie wirklich unter Einen Begriff zu bringen. Wir finden als solche erwähnt: angenehm und unangenehm im Allgemeinen; dann mild, süss, weich, schmelzend gegenüber scharf, hart, rauh; dann voll, breit, pastos gegenüber leer, spitz, dünn, näselnd; dann hell, glänzend, metallisch, silbern gegenüber dunkel, dumpf, trüb, verschleiert, hölzern; dann kräftig, schmetternd, dröhnend, edel, prächtig, feurig, majestätisch, romantisch gegenüber sanft, trocken, gemein, düster, melancholisch, elegisch, idyllisch u. s. w. Man kann diesen Schatz von Beiwörtern, mit welchem sich nur derjenige der Weinhändler einigermassen vergleichen lässt, aus den Werken über Instrumentationslehre leicht noch vervollständigen; doch haben wir an diesen Beispielen schon mehr als genug Erklärungsmaterial. Auf der Hand liegt, dass hier vielfach Folgen der Tonempfindungen, associirte Vorstellungen und Gefühle, den eigentlichen Grund der Bezeichnung abgeben, und dass diese Associationen teilweise etwas zufälliger Art sind.«17 Klangpsychologie, Klangsoziologie, kulturwissenschaftliche Klangforschung, Musiktheorie sind leider keine probaten Gegengifte gegen das Weinhändlersyndrom. An Zufälle und weit hergeholte Vorstellungen bei der Prädikation von Klangeigenschaften können wir auch nicht recht glauben. Was einzig hilft, ist beharrliche ontologische Analyse. Wenn wir einen Klang als solchen benennen, kann das in mindestens vier Varianten geschehen. Wir können erstens die Klangquelle benennen: »Hör mal, eine Taube!« In dem Ausdruck stecken zwei ontologische Aspekte. Mit dem einen wird die Individualität der Entität ausgedrückt: Der Existenzquantor »eine« postuliert, dass die Eigenschaft, eine Taube zu sein, einem individuellen Ding zukommt. Der andere ist die Eigenschaft der Taubenhaftigkeit. Diese beiden ontologischen Aspekte sind für jede Verwendung eines pauschalen Prädikats grundlegend. Das pauschale Prädikat gibt dem Ding einen Namen, aber darüber hinaus auch eine qualitative Konnotation. Selten nur haben wir für die vielen Dinge, die in solchen Nominalphrasen in unseren Sätzen auftauchen, neben einem konnotativen

17 Stumpf (1890), S. 514f.

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pauschalen Prädikat auch einen Namen. Bei (kratzenden) Stiften, (surrenden) Handys, (röhrenden) Sportwagen, (brummenden) Baggern, (rauschenden) Klospülungen, (gluckernden) Heizkörpern, (summenden) Wasserrohren, (quietschenden) Autoreifen und (gurrenden) Tauben bleibt es üblicherweise bei einer Angabe der Arteigenschaft. Im Zweifelsfall lässt sich damit freilich kein Individuum individuieren. Wenn zwei Tauben auf dem Dach sitzen, bleibt unklar, welcher von beiden wir den gehörten Klang zugeschrieben haben. Namen haben wir in der Regel nur für Personen, die wir ungern mit einer ihrer Arteigenschaften Mensch, Säugetier, Allesfresser, Zweifüßler, Gottesgeschöpf und so weiter ansprechen, ausnahmsweise noch für Hausund Kuscheltiere. In manchen Dialekten werden Namen sogar wieder zu pauschalen Prädikaten rückabgewickelt, indem ihnen ein Pronomen hinzugefügt wird. Namen benennen nur und konnotieren nichts, so die semantische Standardauffassung. Aber nicht nur als süddeutscher Dialektsprachler kann man daran Zweifel haben, es gibt gute ontologische Gründe, dass selbst Namen wie »Rainer Bayreuther«, »Berliner Philharmoniker« oder »Emiliani«, eine 1703 von Antonio Stradivari gebaute Geige im Besitz einer Person mit dem Namen »Anne-Sophie Mutter«, nicht völlig nicht-konnotativ sind.18 Mag sein, dass die lautgebende Taube zu unseren Haustieren gehört und den Namen Tonia trägt; dann ließe sich die Klangquelle zweitens mit dem Satz »Hör mal: Tonia!« benennen. Was wir hören, ist freilich weder dieses taubenartige Tier noch Tonia. Wir hören das Geräuschindividuum. Dieses könnten wir drittens mit dem Satz »Hörst du auch ein Gurren?« charakterisieren. Wieder haben wir es nicht in seiner reinen Individualität, sondern mit einer Eigenschaft gefasst, und wieder mit einer pauschalen. Dieser von mir gehörte Klang ist von der Art des Gurrens. Was tun wir, wenn uns das sehr spezielle Klangprädikat des Gurrens sprachlich nicht zur Verfügung steht, was machen wir überhaupt bei den vielen Klängen, die wir gar keiner pauschalen Klangeigenschaft zuordnen können? (Ich werde im Lauf dieses Kapitels die Auffassung verteidigen, dass wir die meisten Geräusche keiner pauschalen Klangart zuordnen können.) Da bleibt viertens nur noch übrig, auf den Klang als solchen zu verweisen: »Ich höre ein Geräusch.« Und auch das ist eine pauschale Prädikation für das

18 Künne (2007), S. 170f.

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intendierte Individuum: Es hat die pauschale Eigenschaft, ein Geräusch zu sein. Namen sind die einschlägige Kategorie der menschlichen Sprache, um Individuen nicht nur als solche und als ganze, sondern als dieses ganz bestimmte Exemplar einer Individuenmenge mit einer pauschalen Eigenschaft zu bezeichnen. Gibt es Namen für Geräusche? Es wird sie geben, aber es dürften wenige sein. Geräusche sind Ereignisindividuen, es müsste sich also um Namen für Ereignisse handeln. Im menschlichen Kommunizieren gibt es normalerweise keinen Grund, flüchtige Ereignisse wie das Rascheln des Eichenlaubs in der Hecke vor meinem Haus gestern abend um fünf nach sechs, das Schlagen der Marbacher Kirchturmuhr vor zwei Minuten, das Knacken in der Holzdecke meines Schlafzimmers gestern nacht oder das Tosen des Beifalls bei Gabriele d’Annunzios Rede nach der Besetzung Fiumes 1919 mit Namen zu benennen. Ganghofer, der große auditive Landschaftsmaler, gibt den Klängen statt Namen lieber Metaphern: »Nur manchmal hörte man leis die Glocke eines Rindes – und wie ein schwermütiges Lied in weiter Ferne, so sang der Wildbach im Tal.«19 Für große Ereignisse wie die Umwälzungen in Frankreich ab 1789 oder die politischen Veränderungen in Deutschland ab 1989 erfindet der menschliche Geist durchaus Namen. (Sie haben übrigens alle einen markant konnotativen Aspekt.) Aber bei Geräuschen? Manche konkrete Klangquellenindividuen haben Namen: Waffen (der Henrystutzen, das Gewehr Old Shatterhands); andere Waffen (die Hiroshimabombe Little Boy); Schiffe (die Titanic); Haustiere (Taube Tonia); Kirchtürme (Big Ben). Auch die Namen von Musikstücken, ontologische Individuen auch sie, aber abstrakte, wie die Unvollendete, die Eroica, der Radetzkymarsch oder das Regentropfenprélude passen in diese Reihe, ebenso der auditiv sprechende Name Ferdinand Wehsal, eine Figur aus Thomas Manns Der Zauberberg. Namen können also höchst informativ und konnotativ sein, semantisch stecken sie aber alle zweifellos in der Schublade der Namen und nicht der Prädikate. An Namen für Geräuschereignisse fällt mir auch nach längerem Nachdenken nur der Urknall ein. Semantisch und ontologisch sind der menschlichen Willkür bei der Namensgebung von Klangereignissen freilich keine Grenzen gesetzt. Üblicher jedenfalls als mit Namen ist es, auf Klangereignisse mit einer pauschalen Eigenschaft sprachlich Bezug zu nehmen (pochen, rascheln,

19

Ganghofer (1899), S. 283f.

Eigenschaften

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gurren usw.) und gegebenenfalls per Demonstrativpronomen ein bestimmtes von mehreren derartigen Klangereignissen zu identifizieren (dieses Pochen, jenes Rascheln, das Gurren und nicht jenes usw.). Solche Eigenschaften, die die Zugehörigkeit eines Dings zu einer Art oder Sorte prädizieren, werden in der Ontologie sortale Eigenschaften genannt. Es sind also bemerkenswerterweise Eigenschaften, und zwar solche vom sortalen Typ, mit denen wir Klänge als solche und als ganze kennzeichnen. Offenbar steckt in dieser Art von Klangeigenschaften ein Begriff von dem, was einen Klang in seiner Gesamtheit und in seiner Fülle ausmacht. Das ist ziemlich bemerkenswert. Die pauschale Eigenschaftsebene der Ereignisindividuen dieses Buchs als Geräusch, als Klang, als Sound scheint in der menschlichen Kommunikation zu pauschal und unspezifisch zu sein. Spezifischer als die pauschalen Klangeigenschaften muss es hingegen auch nicht sein, zumindest nicht im Deutschen. Warum das so ist, kann ich nicht sagen. Ich kann zumindest im Rahmen dieses Buchs auch nicht die Frage beantworten, welche sortaleigenschaftliche Ontologie die pauschalen Klangeigenschaften haben. Sind sie natürliche Sorten, sind sie es nicht? Einige Umstände, die wir schon gestreift haben oder im Lauf des Kapitels noch näher erörtern, sprechen dagegen: zum einen die unterschiedlichen pauschalen Klangprädikate in den Sprachen, zum anderen, dass wir für viele Klänge überhaupt kein pauschales Klangprädikat haben, schließlich die Mehrfachbelegung ein und desselben Klangereignisses mit pauschalen Klangeigenschaften. Zu tun bleibt, die Pauschalität von pauschalen Klangeigenschaften in ihren beiden ontologischen Hauptaspekten aufzuklären (2.2.1): Sie machen erstens die Existenzbehauptung eines Klangindividuums. Zweitens charakterisieren sie die phänomenale Klangqualität dieses Individuums mit einem einzigen Klangprädikat, das zumindest für den jeweiligen Zeitpunkt alle anderen pauschalen Klangeigenschaften ausschließt. In diesen beiden Aspekten unterscheiden sich die pauschalen Klangeigenschaften von allen partikularen Klangeigenschaften (2.2.2). Jene machen erstens keine Existenzbehauptung. Und zweitens charakterisieren sie einen Klang nur in einer bestimmten Hinsicht, die stets weitere partikulare Klangeigenschaften zulässt, die zugleich individuiert sein können. Ein Klangereignis kann zum Beispiel zugleich laut, schrill und nervtötend sein. Es kann aber nicht zugleich ein Pochen und ein Gurren sein, sondern nur entweder das eine oder das andere. Ein einigermaßen sicheres grammatisches Indiz für die Unterscheidung ist, dass pauschale Eigenschaften als Nominalphrasen (ein Pochen, das

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Quietschen oder umgangssprachlich das Gequietsche, dieses Gurren usw.) oder adverbial (pochend, gurrend usw.) gebildet werden, partikulare Eigenschaften dagegen adjektivisch (ist laut, ist schriller als (...), ist nervtötend). ❮ E i n e M u h e i n e M ä h e i n e T ä t e r ä t ä t ä ❯ Aufgabe für groß gewordene Kinder: Worin besteht der ontologische Witz der folgenden Liedzeilen? (Von dem Lied Wenn der Weihnachtsmann kommt von Wilhelm Lindemann aus dem Jahr 1912 ist heute nur noch dieser Refrain bekannt.)

Eine Muh, eine Mäh, Eine Täterätätä, Eine Tute, eine Rute, Eine Hop hop hop, Eine Diedeldadeldum, Eine Wau wau wau, Eine Tschingderatabum.

2.2.1

Pauschale Klangeigenschaften vor dem Hintergrund der essenzialistischen Tradition

Mit pauschalen Eigenschaften werden Individuen als ganze und als solche charakterisiert. Die in diesem Buch relevanten Individuen sind Schwingungsereignisse. Mit welchen Eigenschaften können diese Ereignisse pauschal charakterisiert werden? Die basalste Charakterisierung besteht darin, aus den vielen Arten von Schwingungsereignissen, die es in der Welt gibt, diejenige hervorzuheben, um die es hier geht: Bestimmte Schwingungsereignisse sind ein Sound, ein Geräusch, ein Klang, ein Schall – welches Prädikat auch immer man verwenden will, wir machen keinen Unterschied und verstehen darunter das, was wir in 1.2.1 als hörbare Schwingungsereignisse identifiziert haben. Auf dieser untersten Ebene werden mit einer pauschalen Eigenschaft also nichts weiter als hörbare Schwingungsereignisse von allen anderen Schwingungsereignissen unterschieden. Auf der zweituntersten Ebene liegt eine Unterscheidung, die man landläufig antrifft: die Unterscheidung zwischen Sounds, die homogen oder geordnet erscheinen, und solchen, die heterogen und chaotisch sind. Die entsprechenden pauschalen Eigenschaften sind Geräusch/Klang, Geräusch/

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Klang/Ton oder sogar, wie in einer klangpädagogischen Handreichung vorgeschlagen, Geräusch/Klang/Ton/Knall.20 Bleiben wir für die unterste Ebene bei dem englischen Pauschalprädikat Sound, dann gibt es also je nach Kriterien bis zu vier Arten von Sounds, die ihrerseits mit pauschalen Eigenschaften gekennzeichnet werden. ❮ P a u s c h a l e K l a n g w ö r t e r ❯ Das sind nur die emotionsneutralen pauschalen Klangwörter. Mit evaluativer Konnotation wären im Deutschen beispielsweise zu nennen: Getöse, Lärm, Krach, Radau. Im Englischen: din, hubbub, noise, racket. Die Prädikate sind sicherlich meistens emotionalisierte Varianten des Begriffs Geräusch. Aber diese Kategorisierung ist nicht trennscharf. Auch als zu laut empfundene Klänge oder Töne sind Radau, kippen in der Wahrnehmung also ins Heterogene und Chaotische ab. Eine eher poetische als emotionale Konnotation hat zudem das pauschale Klangprädikat Laut, das sich ebenfalls nicht in die Unterscheidung Geräusch/Klang fügt. In einem schönen Satz Heideggers ist das Prädikat mit einer pauschalen Klangeigenschaft aus der ersten Ebene verbunden: »Unleugbar ist mit dem, was in der Sprache den Anhalt dafür gibt, daß sie als Symbol des Menschen gefaßt werden kann, etwas getroffen, was der Sprache doch irgendwie eignet: der Wortlaut und Schall […]«. 21

Damit nicht genug, die menschlichen Sprachen haben eine dritte Ebene von pauschalen Prädikaten ausgebildet. Das sind nun endlich die pauschalen Klangeigenschaften, die uns geläufig sind. Die bis zu vier pauschalen Klangeigenschaften der zweiten Ebene können in folgende Arten unterschieden werden (wobei ich erstens auf eine Zuordnung zu den pauschalen Prädikaten der zweiten Ebene verzichte und zweitens keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebe): Im Deutschen: bellen, blubbern, brausen, brüllen, brummen, donnern, dröhnen, fauchen, fiepen, flüstern, furzen, gluckern, glucksen, grollen, hauchen, heulen, klacken, klappern, klicken, klingeln, klingen, klirren, klopfen, knallen, knarzen, knirschen, knistern, knurren, krachen, kratzen, kreischen, läuten, mahlen, pfeifen, piepen, plätschern, ploppen, pochen, prasseln, quaken, quietschen, rascheln, rasseln, rattern, rauschen, reiben, röcheln, röhren, rumpeln, sägen, sausen, schaben, scheppern, schmatzen,

20 So in Stiftung Haus der kleinen Forscher (2012). 21 Heidegger (1936), S. 502. Hervorhebung original.

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schmirgeln, seufzen, singen, sirren, sprudeln, summen, surren, ticken, tönen, tosen, trommeln, tröpfeln, wispern, zischen, zischeln, zwitschern. Einige phonetische Eigenschaften dieses Wortschatzes springen in die Augen und Ohren: Alle Wörter sind zweisilbig; alle Wörter fangen konsonantisch an; der vokalische Kern der ersten Silbe ist so gut wie nie ein e. Darauf mögen sich Linguisten und Psychoakustiker kaprizieren. Im Englischen: barking, bawling, beating, bellowing, blaring, booming, bubbling, bumping, burping, buzzing, cackling, cawing, chattering, cheeping, chirping, clapping, clattering, clucking, cooing, crackling, crashing, croaking, crooning, crowing, crunching, crying, droning, fizzing, gasping, growling, hissing, honking, howling, humming, mewing, moaning, mooing, mumbling, murmuring, pealing, peeping, piercing, popping, ringing, ripping, roaring, rumbling, rustling, scratching, shouting, shuffling, sighing, singing, smashing, snapping, snarling, sniveling, snoring, snorting, sobbing, splashing, squealing, swishing, tapping, tearing, thumping, thundering, tinkling, tolling, trumpeting, twittering, wheezing, whining, whispering, whistling, whooping, yapping, yelling, yelping. Ein entscheidender Punkt bei dieser langen, je nach Sprachregion und Dialekt sicher noch deutlich verlängerbaren Liste pauschaler Klangeigenschaften ist mit dieser Feststellung berührt: Es handelt sich um durchweg extrinsische Eigenschaften von Schwingungsereignissen. Auf allen drei Ebenen hängen die pauschalen Eigenschaften nämlich davon ab, phänomenal gegeben zu sein. Am deutlichsten ist das auf den beiden unteren Ebenen. Ob auf der untersten Ebene ein Schwingungsereignis hörbar ist oder nicht, verändert am Ereignis selber überhaupt nichts. Sie hängt davon ab, ob Lebewesen mit einer bestimmten Fähigkeit der Sinneswahrnehmung existieren, die ihrerseits mit dem kausalen Schwingungsgeschehen überhaupt nichts zu tun haben. In 1.2.1 hatten wir denn auch die Phänomenalität der Hörbarkeit zugeben müssen, und sie war in einer Untersuchung, die auf eine Ontologie anstelle einer Phänomenologie von Sounds hinaus will, einzig deshalb akzeptabel, weil Hörbarkeit die minimalste und selber noch inhaltsleere Charakterisierung von Sound ist, mit der der Gegenstandsbereich der Untersuchung umgrenzt werden kann. Auf der mittleren Ebene ist die Phänomenalität der pauschalen Klangeigenschaften mit Händen zu greifen: Die Unterscheidungen zwischen Geräusch und Klang und erst recht zwischen Klang und Ton sind psychoakustische Quisquilien und weit entfernt von Randschärfe. Warum auch die pauschalen Klangeigenschaften

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auf der dritten Ebene phänomenal und ergo extrinsisch sind, werden die folgenden Überlegungen zeigen. ❮ A l l e V ö g e l s i n d s c h o n d a ❯ Aufgabe für jung gebliebene Erwachsene: Ordnen Sie die pauschalen Prädikate der Zeilen 3 und 4 des folgenden Lieds den drei Ebenen pauschaler Klangeigenschaften zu! (Das Lied wurde 1835 von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben gedichtet. Die heute bekannte Melodie, die schon im 18. Jahrhundert entstand, spielt wie fast immer in einer Klangontologie keine besondere Rolle. Eine allgemeine Rolle aber durchaus, so allgemein, dass sie unterm Radar der Musikwissenschaft liegt: Es wird überhaupt gesungen – und nicht gepfiffen, gezwitschert, tiriliert oder schlicht gesprochen oder noch schlichter schweigend etwas getan. Die Zeilen 5 und 6 verraten es: Der Frühling »kommt mit Sang und Schalle«, was ontisch so zu verstehen ist: Die Vögel kommen mit Schalle, der Mensch kommt mit Sang, beides zusammen macht den Frühling.)

Alle Vögel sind schon da, Alle Vögel, alle. Welch ein Singen, Musiziern, Pfeifen, Zwitschern, Tiriliern! Frühling will nun einmarschiern, Kommt mit Sang und Schalle.

Nach dem bisherigen Stand unserer Überlegungen ist die Unterscheidung zwischen pauschalen und partikularen Klangeigenschaften noch auf einer rein semantischen Ebene verlaufen. Die Semantik einer pauschalen Klangeigenschaft besteht darin, dass die Aussage einer entsprechenden Klangeigenschaft auf den Klang als solchen und als ganzen Bezug nimmt. Grammatisches Indiz einer solchen Aussage ist die Nominalphrase, in der der prädikative Ausdruck auftaucht, verbunden mit dem bestimmten Artikel (das Pochen, das Zwitschern) oder dem unbestimmten Artikel (ein Pochen, ein Zwitschern) oder dem Demonstrativpronomen (dieses Pochen, jenes Zwitschern). Die Semantik einer partikularen Klangeigenschaft ist davon klar abgrenzbar: Sie bezieht sich auf einen Teilaspekt des Klangs. Grammatisches Indiz ist die adjektivische Phrase ohne Artikel oder Pronomen, in der die partikulare Klangeigenschaft auftaucht. Das sind interessante Indizien, kann uns so aber noch nicht befriedigen. Die ontologischen Fragen nämlich, die sich dahinter verbergen, sind noch nicht einmal ansatzweise beantwortet:

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Sind die pauschalen Klangeigenschaften, von denen es offenbar in jeder Sprache auf mehreren Ebenen reichlich gibt, reine Sprachkonventionen, die kein fixes Set an intrinsischen klanglichen Eigenschaften bündeln? Oder sind sie tatsächlich eindeutig mit einer Struktur verbunden, in der mit gewisser naturgesetzlicher Notwendigkeit bestimmte akustische Parameter in bestimmter Weise ko-individuiert sind? Weiter, nehmen wir an, hinter den pauschalen Klangeigenschaften steckt tatsächlich eine angebbare akustische Struktur: Wie gehen wir dann mit der Schwierigkeit um, dass wir längst nicht allen, sondern im Grunde nur den wenigsten Klängen klar eine pauschale Klangeigenschaft zuweisen können? Man prüfe seinen Ohrenschein von Umgebungsgeräuschen. Rasch wird evident, dass kaum eines davon eindeutig der langen Listen von deutschen pauschalen Klangprädikaten zugeordnet werden kann. Heißt das, dass nur den wenigen eindeutigen eine solche Struktur innewohnt? Aber ist das logisch und ontologisch vertretbar? Dürfen Taxonomien, ontologisch besehen, derartige Lücken lassen? Noch einmal eine den pauschalen Klangeigenschaften zugrunde liegende akustische Struktur angenommen: Auf welcher Ebene der pauschalen Eigenschaften soll es diese Strukturen geben? Auf der ersten und basalsten Ebene ist die Zuordnung der pauschalen Eigenschaft, ein Sound zu sein im Unterschied zu nicht hörbaren Schwingungen, zu akustischen Eigenschaften des Schwingungsereignisses trivial. Sie ergibt sich durch die absoluten Hörschwellen des jeweiligen Lebenwesens, die durch eine Frequenzunterund -obergrenze abhängig vom Schalldruck markiert werden. Das sind intrinsische akustische Eigenschaften. Es sind aber keine notwendig koindividuierten akustischen Eigenschaften. Ob ein Materievolumen mit 15.000 Hz (für Menschen gerade noch hörbar) oder mit 22.000 Hz (für Menschen unhörbar) schwingt, hängt notwendig mit bestimmten Quantitäten der anderen mechanischen Eigenschaften des Schwingungsereignisses zusammen, aber nicht mit einer notwendigen charakteristischen KoIndividuierung bestimmter Eigenschaften selbst. Auf der zweiten Ebene könnte es den Anschein haben, als sei eine klarere akustische Charakteristik erkennbar. Geräusche werden üblicherweise von Tönen und Klängen durch den Grad der Harmonik ihrer Frequenzverhältnisse unterschieden. Aber auch hier spielen, erstens, allenthalben psychoakustische Faktoren mit. Harmonische Schwingungsanteile werden nicht als Töne wahrgenommen, weil sie durch unharmonische Schwingungs-

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anteile darum herum maskiert werden; und umgekehrt werden aus einem unharmonischen Schwingungsgemisch Töne und Klänge herausgehört, wenn bestimmte Quantitätsrelationen vorliegen, die keinerlei akustischen, sondern lediglich psychoakustischen Gesetzmäßigkeit folgen. Zweitens und grundlegender ist die Frage, ob sich harmonische und unharmonische Schwingungen überhaupt unterscheiden lassen. Üblicherweise gilt als harmonische Schwingung eine Sinusschwingung oder ihre ganzzahligen Vielfachen – aber just diese harmonische Struktur steckt in jeder beliebigen Schwingung, wie die universale Gültigkeit der Fourier-Transformation beweist. Sieht es auf der dritten Ebene besser aus? Die pauschalen Klangeigenschaften im engeren Sinn sind im Detail sicherlich Unterscheidungen auf rein phänomenaler Ebene. Der Unterschied zwischen einem Klacken und einem Klicken, einem Sirren und einem Surren dürfte auf psychoakustische Effekte zurückzuführen sein, die sich auf der akustischen Ebene als reine Quantitätsunterschiede darstellen. Geht die Unterscheidung zwischen Klacken und Quietschen oder zwischen Brausen und Rattern über reine Quantitätsunterschiede hinaus und bezeichnet irgendeine charakteristische Ko-Individuierung von bestimmten Eigenschaften überhaupt und nicht nur von den Quantitäten, in denen sie individuiert sind? Liegen ihnen jeweils unterschiedliche Ereignisszenarien mit völlig eigenständigen Bewegungsformen zugrunde? Sind es diese Eigenschaftsstrukturen, die das Wesen des Klangereignisindividuums ausmachen, wenn die pauschalen Eigenschaften auf den unteren beiden Ebenen dafür nicht in Frage kommen? Mit diesen Fragen nach einem Sachverhalt, der einer wahren Aussage über eine pauschale Klangeigenschaft zugrunde liegt oder eben nicht, ist ein Kardinalproblem jeder Eigenschaftsontologie berührt: Muss etwas der Fall sein, damit ein Klangereignisindividuum notwendigerweise das ist, was es faktisch ist und worin dann die Aussage einer pauschalen Klangeigenschaft ihren truthmaker, ihre verifizierende oder falsifizierende Referenz also, hätte? Wir berühren damit die modale Frage, ob die Behauptung der Existenz eines Klangindividuums über die Prädikation mit einer pauschalen Klangeigenschaft ihren truthmaker nicht schon in dem entsprechenden phänomenalen Bewusstseinsgehalt hätte, sondern notwendigerweise das Individuiertsein einer entsprechenden Eigenschaft am Klangindividuum erforderte, damit das Klangereignisindividuum das ist, was es faktisch ist?

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Falls wir das mit ja beantworten müssten, dann wäre die entsprechende pauschale Klangeigenschaft eine essenzielle Eigenschaft. Als essenzielle Eigenschaften eines Individuums gelten in der ontologischen Tradition Eigenschaften, die das Individuum notwendigerweise haben muss, um als dieses bestimmte Individuum zu existieren. Welche Eigenschaften sollen das bei Klängen sein? Ist es überhaupt sinnvoll, zwischen notwendigen und nichtnotwendigen, also kontingenten Eigenschaften von Klängen zu unterscheiden? Gibt es bei Ereignissen – und Klänge sind Individuen vom Typ des Ereignisses – überhaupt Notwendigkeiten? Das allgemeine Schema einer in diesem Sinn essenziellen Eigenschaft F eines Klangereignisindividuums k lautet: k ist notwendigerweise F. F ist, wie wir sehen werden, dabei in der Regel eine pauschale Klangeigenschaft aus den drei oben genannten Ebenen. Es wird sich zudem zeigen, dass ihre prädikative Funktion über eine pauschale Kennzeichnung eines Individuums noch hinausgeht. ❮ s u b s t a n t i a / e s s e n t i a / h a e c c e i t a s / W e s e n ❯ Die Ontologie seit Aristoteles (Cat 4) bezeichnet solche Eigenschaften als zweite Substanzen oder präziser substanzielle Eigenschaften. Ins Lateinische wird der aristotelische Begriff der ουσια mit essentia übersetzt, bei Duns Scotus mit haecceitas, ins Deutsche mit Wesen. – Womit eine Verbindung zu so weitreichenden Konzepten wie der Wesensontologie der mittelalterlichen Mystik oder des Deutschen Idealismus bis hin zu Heidegger gezogen ist, oft mit subtilen Unterscheidungen zwischen Substanz, Wesen, Essenz und manchmal Existenz. Für eine Klangontologie halte ich die Feinheiten für unnötig.

Ausformuliert heißt das Schema, es besteht irgendeine Notwendigkeit, dass ein Klangereignisindividuum k die pauschale Klangeigenschaft F hat, um k zu sein. Man muss klarstellen, F wird in der essenzialistischen Auffassung nicht für die schiere Existenz von k für notwendig erachtet. Die wird sogar vorausgesetzt. Die F-heit von k sorgt dafür, dass jenes existierende Individuum just k ist und nicht irgendetwas anderes. Der Eigenschaftsträger des vermeintlich essenziellen F sind auch nicht die Umstände eines Klangereignisses, die von irgendeiner notwendigen Beschaffenheit zu sein hätten, damit das Klangereignis k als Resultat eintritt. Vielmehr müsste ein essenzielles F die Eigenschaft des Klangereignisses selbst sein und die Dinge im Schwingungsereignis selbst so arrangieren, dass es k ist.

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Gemäß dem aristotelischen Begriff der zweiten Substanz läge ein essenzielles F im Bereich der pauschalen Klangeigenschaften aus den drei oben genannten Ebenen. Das analysieren wir in 2.2.1.2. Vorher (2.2.1.1) erörtern wir eine andere Spielart des Essenzialismus, die sogenannten Individualessenzen. Dieser Auffassung zufolge wäre das gesuchte essenzielle F eine Eigenschaft, die nichts weiter als die schiere Individualität eines Individuums beinhaltet. Wir werden sehen, dass der Versuch, Essenzielles zu finden, auf beiden Feldern scheitert. Eine letzte Suche nach der Essenz von Klängen wird auf dem Feld der naturgesetzlichen Gleichungen der Schwingungsmechanik unternommen (2.2.1.3). Nehmen wir vorweg, dass wir einzig auf der letzteren Ebene der physikalischen Gesetzmäßigkeiten notwendige Eigenschaften finden, die sich allerdings als etwas ziemlich anderes zeigen werden als das, was sich die klassische Wesensphilosophie unter essenziellen Eigenschaften vorstellte. Ich erläutere zunächst die individuelle und die pauschale Ebene und beginne mit der individuellen. Manche Ontologen behaupten, man muss die Frage nach der Essenz eines Individuums noch viel radikaler angehen als nur darüber, dass es eine Gattung oder Sorte, also eine sortale Eigenschaft individuiert, wie sie etwa mit den pauschalen Klangprädikaten der zweiten und dritten Ebene zur Verfügung stehen. Vielmehr individuiert es seine spezifische Individualität. Jene sei die eigentliche essenzielle Eigenschaft, die dafür sorge, dass sich das Individuum als solches und als ganzes fassen lässt. Das sähe dann beispielsweise so aus: Sokrates individuiert die essenzielle Eigenschaft der Sokratität, R.B. individuiert die essenzielle Eigenschaft der Rainerbayreutherität, jener diffuse Klang, den ich gerade aus der Richtung des östlich benachbarten Hauses höre und den, da mir alle Worte für eine Beschreibung fehlen, ich einfach kt+l nenne, die kt+lität. Natürlich sind solche Essenzen im Lauf der Welt genau ein einziges Mal individuiert. Mit unserem Alltagsverständnis von Eigenschaften hat dieses ontologische Konstrukt wenig zu tun. Aber die Behauptung ist, dass es geboten sei, eine solche essenzielle Eigenschaft anzunehmen, da nur so dargelegt werden könne, warum k eben k und nicht irgendetwas anderes ist. Völlig unserem Alltagsverständnis entsprechend dagegen ist die Annahme von essenziellen Individuen des sortalen Typs. Ein Ding ist das, was es ist, insofern es eine sortale Eigenschaft als seine Essenz individuiert. Die sortale Essenz ist dann die Antwort auf die Was-ist-das-Frage und zugleich der Grund, warum sich eine Was-ist-das-Frage überhaupt beantworten lässt.

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Die Individualität von R.B. ist demnach erst dadurch möglich, dass die Washeit von R.B. feststeht, deren Feststehen wiederum dadurch gegeben ist, dass R.B. eine essenzielle Eigenschaft des sortalen Typs individuiert. Das kann zum Beispiel die sortale Eigenschaft sein, ein Mensch zu sein. Auch umgekehrt gilt demnach: Das Individuum ist nicht (mehr) jenes Individuum R.B., wenn die essenzielle Eigenschaft des Menschseins nicht (mehr) durch es individuiert ist. Bei den Klängen kommen dafür mindestens die erste und die dritte Ebene der pauschalen Klangeigenschaften infrage: die Eigenschaft einer Materiebewegung, eine hörbare Schwingung zu sein, und die lange Liste der pauschalen Klangeigenschaften. Die mittlere können wir vernachlässigen, sie verhält sich ontologisch wie die dritte. Auf der ersten, untersten Ebene wäre k deshalb k und nicht irgendetwas anderes, weil es die vermeintlich essenzielle Eigenschaft individuiert, ein hörbarer Klang und nicht irgendeine andere Luftbewegung zu sein. Auf der dritten Ebene wäre k deshalb k und nicht irgendetwas anderes, weil k die vermeintlich essenzielle Eigenschaft individuiert, zum Beispiel ein Klacken, Quietschen, Brausen oder Rattern zu sein. (Oder eine der vielen anderen pauschalen Klangeigenschaften.) Unter die Eigenschaft der ersten Ebene fällt jeder Klang. Eine Schwierigkeit taucht bei der dritten Ebene auf. Wir haben schon mehrmals konstatiert, dass sich viele Klänge phänomenal keiner pauschalen Klangeigenschaft zuordnen lassen. Ist das bereits ein Einwand gegen die These, dass pauschale Klangeigenschaften dieser Ebene essenziell seien? Oder lässt sich auch eine schwächere Konzeption der Essenzialität pauschaler Klangeigenschaften denken, die diesen Umstand toleriert? Das alles können wir erst beantworten, wenn wir das Konzept der essenziellen Klangeigenschaften für den Gegenstandsbereich der Klänge analysiert haben und uns über seine Erklärungskraft klar geworden sind.

2.2.1.1

Individualessenzen

Mit den sogenannten Individualessenzen sind wir rasch fertig. Ich halte es aus zwei Gründen für abwegig, dass jedem Klangereignisindividuum eine essenzielle Eigenschaft innewohnt, die seine Individualität fundiert.

Eigenschaften

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Machen wir uns zunächst klar, warum einige Ontologen überhaupt zu der Annahme solcher Eigenschaften gekommen sind.22 Ihre Sorge galt der Identität von Individuen zu verschiedenen Zeitpunkten oder in verschiedenen möglichen Welten. Das Individuum R.B. war gestern dasselbe wie heute und hoffentlich auch morgen. Zudem sollte das Individuum R.B. in dieser Welt dasselbe sein wie in einer möglichen anderen Welt und nicht irgendein anderes. Dazu reicht es offenkundig nicht aus, die Individualität nur über eine sortale essenzielle Eigenschaft zu klären. Denn selbst wenn man annimmt, dass die Individualität von R.B. nicht nur mit der einen vermeintlich essenziellen sortalen Eigenschaft, ein Mensch zu sein, steht oder fällt, sondern weitere Arteigenschaften wie diejenigen aufweist, ein Musikwissenschaftler, ein Geschöpf Gottes, ein Kind der Elternindividuen v und m usw. zu sein, ist es doch denkbar, dass das Individuum, das alle diese vermeintlich essenziellen Eigenschaften in einer anderen möglichen Welt individuiert, nicht mit R.B. identisch ist. Also greifen die Verfechter von Individualessenzen zu dem radikalen Postulat, R.B. individuiere die essenzielle Eigenschaft der Rainerbayreutherität. Diese Eigenschaft würde alle genannten weiteren essenziellen Eigenschaften, insbesondere die des Ursprungs (und hier kann man je nach Weltbild die Gottesebenbildlichkeit oder die Elternschaft von v und m verstehen) einbegreifen, wäre aber nicht auf sie reduzierbar. Das Individuiertsein erst dieser umfassenden Individualessenz stellte sicher, dass R.B. nicht nur gestern, heute und morgen trotz variabler Anzahl von Haaren oder Sommersprossen und ungeachtet wechselnder Inhalte von Magen und Bewusstsein derselbe ist, sondern auch in einer möglichen anderen Welt derselbe wäre. Taugt uns dieses Postulat von Individualessenzen irgendetwas für Klänge? Immerhin sind Klänge Individuen, und wie die Überlegungen in 1.1.5.2 gezeigt haben, sind sie das auch deshalb, weil sie gewissen Kriterien der diachronen Identität genügen, ungeachtet der Veränderungen und Verläufe, die ein Klang im Lauf seiner Existenz durchmacht. Aber Klänge sind auch Ereignisse. Das widerspricht nun diametral einer vermeintlichen Eigenschaft, die in allen Sachverhalten und Welten gleichermaßen im Klang individuiert sein soll. Das Ereignis ist selbst ein Sachverhalt. Ein Klang ist konstitutiv ein, wenn man so will, Funktionswert eines Ereignisses. Ist irgendein Element des Ereignisses in einer anderen möglichen Welt nicht so

22 So etwa Mackie (2006).

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beschaffen wie bei k, dann resultiert daraus vielleicht irgendein anderes Individuum, vielleicht sogar ein Klangereignis, aber nicht k. Klangereignisse (und Ereignisse überhaupt) haben als hinreichende Bedingung genau das Ursachenereignis, das das Ereignis eintreten lässt. Würde man das dem Ereignis als Eigenschaft zuschreiben, enthielte das Ereignis sich selbst als Eigenschaft – eine logische Absurdität, die weit über die Eigenart einer individualessenziellen Eigenschaft wie der k-ität hinausginge. Zumindest für Individuen, die vom Typ der Ereignisindividuen sind, führt die Annahme einer Individualessenz also zu absurden Konsequenzen. Wie das bei Individuen aussieht, die keine Ereignisse sind, wie beispielsweise R.B. oder dieses Violoncello dort im Cellokasten in der Ecke meines Zimmers, ist eine andere Frage. Weil aber Klänge Ereignisse sind, haben sie zumindest keine essenziellen Eigenschaften derart, dass sie in die Individualität eines Klangs als solche eingreifen.

2.2.1.2

Pauschale Klangeigenschaften als Essenzen

Bleiben als nächste Möglichkeit, die Washeit eines Klangs k über essenzielle Eigenschaften zu erläutern, die pauschalen Klangeigenschaften der dritten Ebene. Sind einige, sind alle pauschalen Eigenschaften eines Klangs zugleich essenzielle Eigenschaften? Ich behaupte, die Antwort muss wie bei den Individualessenzen nein lauten. Wer auf die Was-ist-das-Frage bei Klängen üblicherweise mit einem Prädikat aus der Liste der pauschalen Klangeigenschaften der dritten Ebene antwortet, muss bei näherem Hinsehen zugeben, dass das semantisch nicht sonderlich glatt abläuft. Es gibt Merkwürdigkeiten und Ausnahmen, die für die Frage, ob die pauschalen Prädikate essenzielle Eigenschaften ausdrücken, schwer wiegen. Drei seien genannt: Erstens fallen viele Sounds für einen Deutschsprachler unter keines der pauschalen Prädikate, so lang die Liste auch ist. Ähnliches dürfte für andere Sprachkreise gelten. Zudem sind die pauschalen Prädikate nicht ohne Nuancenverlust zwischen den Sprachen übersetzbar. (In der Scholie ❮Unkraut auf den Klangwortfeldern❯ in 2.2.2 analysiere ich einige Beispiele.) Jede Sprache lässt große Lücken in der semantischen Abdeckung der Klangphänomene, und zwar jede andere. Zu vermuten ist daher, dass die pauschalen Klangeigenschaften überhaupt keine Eigenschaft des Klanger-

Eigenschaften

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eignisindividuums selber sind, sondern von einer extrinsischen Seite her den Klang prädizieren. Wir werden in 2.2.2 dieser Vermutung nachgehen. Zweitens, viele Klänge haben mehrere klangliche Komponenten. Sie fallen phänomenal sukzessive oder manchmal sogar gleichzeitig unter zwei pauschale Eigenschaften, in Einzelfällen auch mehr. Beispiele hatten wir in 1.1.4 analysiert. Selten gibt es dafür etablierte Prädikate wie im Deutschen das Donnergrollen, und selbst bei diesem Fall ist es semantisch fraglich, ob wirklich zwei Klangeigenschaften gefügt sind. Wie aber sollen zwei voneinander verschiedene Eigenschaften die Essenz ein und desselben Klangindividuums sein können? ❮ K l a n g p r ä d i k a t e k o m p o s i t a ❯ Die Grammatik des Deutschen ist berühmt für die Möglichkeit, Komposita aus mehreren Wörtern zu bilden. Prinzipiell lässt sich jede Wortart mit jeder Wortart fügen. Üblicherweise aber werden Substantive mit Substantiven (Orchesterprobe, Trompetenmundstück, Baggergeräusch usw.) oder Prädikate mit Substantiven (Hochhaus, Grünspecht) komponiert. Nach letzterem Muster finden sich auch Komposita von pauschalen Klangprädikaten der dritten Ebene mit Substantiven: Brummkreisel, Brüllmonster, Heulboje, Klopfzeichen, Knallerbse, Kratzbürste, Kreißsaal (vom mittelhochdeutschen »krîzen« = kreischen), Quietscheente, Rauschebart, Sausewind, Schreiadler, Sprudelbecken. Geht man auf die erste bzw. zweite Ebene, vervielfacht sich die Anzahl (ich zitiere nach Grimms Deutschem Wörterbuch, Auflage 1905): Klangboden, -brett, -element, -figur, -fülle, -fuß, -himmel, -holz, -malerei, -messer, -nachahmung, -reim, -saal, -satz, -spiel, -stein, -wähler, -werk, -wort; Schallboden, -büchse, -deckel, -erreger, -fortpflanzung, -gelächter, -gewölbe, -glas, -horn, -kraft, -lehre, -loch, -muschel, -rohr, -stück, -träger, -weise, -weite, -welle, -werkzeug, -wort. Die aktuellen Wörterbücher werden das durch Komposita von Sound- ergänzen. Je unspezifischer der konnotative Aspekt ist und je mehr stattdessen das pauschale Identifizieren des Individuums in den Vordergrund tritt, desto kompositionsfreudiger geht es im Deutschen zu. Nichtsdestoweniger funktionieren die Komposita semantisch auf allen drei Ebenen gleich: Klangprädikat plus Substantiv. Meistens wird eine dingliche Klangquelle prädiziert. So erklärt sich grammatisch auch das Donnergrollen mit dem Donner als Klangprädikat und dem Grollen als Substantiv. Wenn man die dingliche Klangquelle nicht nennen will oder kann, kann man im Deutschen so gut wie jedes pauschale Klangprädikat der dritten Ebene mit den Substantiven Laut, Geräusch oder Klang in umgekehrter Reihenfolge komponieren (Zischlaut, Knarzgeräusch, Röchelklang usw.). Falls ein Semantiker auf die schlechte Idee kommen sollte, darin belegt zu sehen, dass Klangeigenschaften eben doch Klangquellen prädizierten und nicht Klänge, fange er nochmal bei 1.1.1 an zu lesen. Was allerdings der deutschen Semantik schwer zuwider läuft, ist die

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Komposition von Klangprädikaten mit Klangprädikaten. Schon die wenigen nichtklanglichen Kompositionen von Prädikaten weisen ins Technische (gefriertrocknen, warnblinken, spülbohren) oder Medizinische (keuchhusten, schnappatmen), etablierte Kompositionen von Klangprädikaten der dritten Ebene gibt es überhaupt keine. So sicher wie es Klänge gibt, die zugleich rauschen und dröhnen, vielbefahrene Straßen aus gewissem Abstand etwa, wir können im Deutschen nicht rauschdröhnen oder dröhnrauschen sagen. Wind- oder Wasserdampfgeräusche fauchen und pfeifen oft zugleich, aber wir können nicht sagen, das sei ein Fauchpfeifen oder ein Pfeiffauchen. Kurz, in der grammatischen Sphäre bleibt das Faktum, dass ein Klangindividuum oft nicht durch eine pauschale Klangeigenschaft aus der dritten Ebene charakterisiert werden kann, vollkommen verschleiert.

Aus diesem Befund nährt sich der Verdacht, dass uns die grammatisch so leichtfüßige Nominalisierung von nichtkomponierten pauschalen Klangeigenschaften in die Irre führt bei der Frage, ob sie für die Individualität eines Klangs wirklich notwendig und ergo essenziell sind. Drittens, manche Klänge entfalten ihre verschiedenen pauschalen Klangeigenschaften nacheinander, ohne dass der Klang zwischendurch aufhört zu existieren. In der Übergangsphase mögen zwei pauschale Eigenschaften zugleich oder überhaupt keine individuiert sein. Auch das nährt die obige Vermutung, dass die pauschalen Klangeigenschaften keine fundierende Rolle beim principium individuationis von Klangereignissen spielen. Essenzen müssen in der ontologischen Tradition gewichtige Probleme der Individualität lösen. Sie müssen den raum-zeitlichen Umriss eines Individuums fundieren, um sicherzustellen, an welchem Individuum eine registrierte Eigenschaft individuiert ist. Wenn sie räumlich oder zeitlich nahe beieinander liegen, ist Augen- und Ohrenschein hilflos. Der Umriss zeigte sich bei einem Ereignisindividuum, wie es ein Klang ist, als Zeit-RaumWurm (1.1.5.2). Wenn man nun nach einer Eigenschaft fragt, die eine notwendige Bedingung für dieses zeit-räumliche Kontinuum eines Ereignisses ist, dann ist angesichts der drei genannten Eigentümlichkeiten evident, dass die pauschalen Klangeigenschaften dafür ungeeignet sind. Sie zeigen sich dort ja gerade diskontinuierlich individuiert an einem kontinuierlichen Schwingungsgeschehen. Essenzen müssen in der ontologischen Tradition zudem eine diachrone Identität des Individuums garantieren, die sicherstellt, dass der permanente Wechsel der partikularen Eigenschaften nicht an der Individualität des Individuums kratzt. Nicht nur bei den extrinsischen, sondern auch bei vielen

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intrinsischen Eigenschaften herrscht ständiges Kommen und Gehen an den Individuen. Das gilt nicht nur für ein dingliches Individuum wie etwa R.B., dessen Haarmenge, Hautfarbe, Mageninhalt, Körpertemperatur usw. sich täglich verändert, ohne dass sich an der Individualität von R.B. von heute auf morgen etwas verändert. Es gilt ebenso für Klangereignisse. Der Klang der fernen Autobahn, der über die Hügel mit den Stoppelfeldern zu mir ans Ufer der Plothener Teiche herüberrauscht, hat manchmal eine fixierte Tonhöhe, im nächsten Moment geht er in ein tonlich indifferentes Geräusch über. Er ist je nach Wind, der an diesem Morgen böig bläst, mal lauter und mal leiser. Die Birke vor meinem Fenster hat von den Blättern und Ästen, die sie gestern noch trug, durch den böigen Wind heute Nacht einige verloren. Die Essenzontologen argumentieren nun, diese partikularen Eigenschaften lagerten sich an eine Trägereigenschaft an oder lösten sich wieder von ihr, und diese durchgehend individuierte Trägereigenschaft sorge dafür, dass das Individuum durch alle eigenschaftlichen Veränderungen hindurch dasselbe bleibe. Könnten Arteigenschaften solche Trägereigenschaften sein? Die klassische Essenzontologie erklärt die diachrone Identität von R.B. oder des Dings vor meinem Fenster in der Tat damit, dass sie durch alle Eigenschaftswechsel hindurch die Arteigenschaft beibehalten, ein Mensch und eine Birke zu sein. Die Auffassung ist höchst strittig.23 Selbst wenn sie plausibel wäre, müsste hier zunächst bestimmt werden, welche der drei Ebenen von klanglichen Pauschaleigenschaften überhaupt analog zu den sortalen Eigenschaften von Dingen ist. In diesem Abschnitt verhandeln wir die Pauschaleigenschaften der dritten Ebene. Aber von einer Analogie mit den sortalen Eigenschaften von Dingen kann schwerlich die Rede sein. Denn offenkundig sind sie gerade nicht diachron individuiert. Es handelt sich also bei ihnen nicht einmal um Arteigenschaften im dinglichen Sinn (abgesehen davon, dass uns auch das Gegenteil nicht weiterhelfen würde). Kurz, die pauschalen Klangeigenschaften sind auch bei der Identität von Ereignisindividuen über Raum und Zeit hinweg Teil des Problems und nicht Teil der Lösung.

23 Wachter (2000), S. 60ff.

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2.2.1.3

Naturgesetze der Schwingungsmechanik als Essenzen

Mit der Analyse der Frage im vorigen Abschnitt, ob das Individuiertsein einer pauschalen Klangeigenschaft für die Existenz eines Klangindividuums k notwendig ist, hat sich klarer herausgeschält, was es mit dem modalen Merkmal der Notwendigkeit in Bezug auf die Eigenschaften von Klängen auf sich hat. Die klassische Definition der essenziellen Eigenschaft hebt darauf ab, dass ihr Individuiertsein an einem Individuum notwendig sei für die Existenz des Individuums. Was soll mit der Existenz eines Klangindividuums genau gemeint sein? Wann gibt es das hintergründige dumpfe Fauchgeräusch, das den Lesesaal, in dem ich sitze, permanent subtil beschallt, nicht mehr? Sicherlich nicht schon dann nicht, wenn die pauschale Klangeigenschaft des Fauchens verschwunden ist. Das erbrachte die obige Analyse. Es klingt dann immer noch etwas, und dieses Etwas ist immer noch ein Klangereignisindividuum gemäß den Kritierien eines Individuums, die wir in 1.1 gefunden und mit dem Ereignisbegriff in 1.2 präzisiert hatten. Nur wäre es kein Fauchen und auch keines der übrigen pauschalen Klanguniversalien mehr, für die die humanen Sprachen Prädikate parat haben. Wenn also für die Existenz von k belanglos ist, ob irgendeine pauschale Klangeigenschaft der dritten Ebene an k individuiert ist oder nicht, und erst recht alle spezielleren und alle extrinsischen Eigenschaften, auf welche basalere Ebene von Eigenschaften müssen wir dann zurückgehen, damit es für die Existenz von k wirklich brenzlig wird? Offenkundig auf die Ebene, dass etwas überhaupt ein Klang ist. Die basalste pauschale Beschreibung eines Klangs, die meines Erachtens möglich ist, hatten wir in 1.2.1 gefunden: In dem Materievolumen, an das das Organ eines hörfähigen Bewusstseins heranreicht, findet tatsächlich ein Schwingungsereignis statt. Das pauschale Universale, ein Schwingungsereignis zu sein, könnte also bei der Frage nach existenznotwendigen Eigenschaften eines Klangs eine Rolle spielen. Wenn k keine Schwingung mehr ist, dann ist die Existenz von k in allen möglichen Welten erloschen. Die basalste der pauschalen Klangeigenschaften von k, dass k ein Schwingungsereignis ist, scheint also notwendig zu sein für die Existenz von k. So weit so gut, wir kommen darauf zurück. Gemäß der traditionellen Definition der Essenz eines Individuums als der existenznotwendigen Eigenschaft eines Individuums wäre die Eigenschaft, ein Schwingungsereignis zu

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sein, also eine essenzielle Eigenschaft von k. Aber hier gibt es ein grundsätzliches Problem:24 Eine lange Liste weiterer Eigenschaften von k ist ebenso notwendig für die Existenz von k. Vergegenwärtigen wir uns die Ereignisanalyse des Büchsenschussklangereignisses k aus 1.2.3. Jenes k hat zum Beispiel die Eigenschaften, den Baum an l1 und das Moosbüschel an l2 zu involvieren, genauso wie es die Patrone in der Büchse des Oberförsters an l3 involviert. Alle diese Dinge und ihre Orte könnten in einer Merkmalsanalyse der Existenzquantifizierung ∃k auftauchen. Man hüte sich zu sagen, nur das Involviertsein der Patrone sei existenznotwendig für k: Das Involviertsein der beiden anderen, scheinbar belanglosen Dinge ist es genauso. Bei dinglichen Individuen wie etwa R.B. lässt sich schön die klassische Schiff-des-Theseus-Frage stellen, wie viele Haare man R.B. ausreißen, wie viele Gliedmaßen man ihm amputieren und wie viele Organe man ihm entnehmen darf, bevor er aufhört, R.B. zu sein. Bei Ereignisindividuen geht das, wenn man das Davidsonsche Identitätskriterium für Ereignisse zugrundelegt, ganz schnell: Bereits die Entfernung eines Teils aus der Ereignisextension, gleich ob sie in der Merkmalsanalyse auftaucht oder nicht, zerstört die Identität des Ereignisses. Schon wenn man sich den einen Baum an l1 und das eine Moosbüschel an l2 wegdenkt, wäre k nicht mehr k. Diese Eigenschaften sind also notwendige Eigenschaften von k. Aber sind es deshalb auch schon essenzielle Eigenschaften von k? Gemäß dem traditionellen Konzept des Essenzialismus wären sie das. Aber wieso sollte das Involviertsein eines einzelnen Baums oder eines Moosbüschels etwas mit dem Wesen von k zu tun haben? Die vermeintlich essenziellen, weil notwendigen Eigenschaften von k vervielfachen sich noch einmal, wenn man eine weitere Gruppe von notwendigen Eigenschaften einbezieht: Eigenschaften, die angeben, von was k alles verschieden ist und was k alles nicht involviert: k ist zum Beispiel verschieden vom Individuum l, und k involviert nicht den Ahorn an l4. Alle derartigen Eigenschaften sind existenznotwendig für k, denn würde k sie nicht individuieren, wäre k nicht k. Und von solchen Eigenschaften gibt es wahrhaft unendlich viele. Es wäre absurd zu behaupten, jede einzelne dieser notwendigen Eigenschaften würde irgendetwas über die Essenz von k aussagen.

24 Auf das nachdrücklich Fine (1994) aufmerksam gemacht hat.

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Zur Erinnerung, bei Aristoteles war die Essenz, das Wesen eines Dings, damit verbunden, was das Ding ist. Essenz in diesem intuitiven Sinn des Was-es-ist mit Notwendigkeit zu verknüpfen ist absurd. Fine schlägt vor, Essenz anstelle mit Notwendigkeit mit dem Definieren in Verbindung zu bringen: Die essenzielle Eigenschaft eines Individuums ist das, auf das ein pauschales Prädikat, mit dem das Ding identifizierend erfasst wird, referiert. Mit dieser Auffassung lässt sich eine Eigentümlichkeit der pauschalen Klangprädikate, und zwar gerade denen der ersten Ebene, besser verstehen. Wir hatten in 2.2 konstatiert, dass auch die pauschalsten Klangprädikate nicht rein identifizierend sind, sondern einen minimalen prädikativen Anteil haben. Zudem gibt es im Deutschen und sicher auch in allen anderen Sprachen mehrere davon, mit jeweils verschiedenen konnotativen Aspekten. In den Konnotationen drückt sich der phänomenale Sinn aus. Welche Bedeutung jenseits aller Phänomenalität aber hat ein pauschales Klangprädikat der ersten Ebene, mit dem das Individuum k identifiziert wird? k selber, kann man mit Frege sagen (auf dessen Unterscheidung von Sinn und Bedeutung in 2.2.2 näher eingegangen wird). Sicherlich. Aber oft ist nicht evident, was das Individuum genau ist, wo es beginnt und aufhört. Gerade bei Ereignisindividuen wie k besteht dieses Problem. Man benötigt dann eine Definition des bedeuteten Individuums, die nicht aus dem pauschalen Prädikat gewonnen werden kann, da sonst das Prädikat nur tautologisch auf sich selber verwiese. Diese Definition, so Kit Fine, ist nichts anderes als eine essenzielle Eigenschaft von k. Der semantische Zweck von essenziellen Eigenschaften besteht also darin klarzustellen, mit welchen Eigenschaften eines Individuums die Bedeutung eines pauschalen Prädikats erläutert werden kann, wenn der ontologische Umriss des prädizierten Individuums unklar ist. Die essenzielle Eigenschaft von k fällt gemäß Fines Analyse zusammen mit einer Definition von k. Die Definition muss die Aufgabe erfüllen, die Bedeutung einer sprachlichen Referenz auf k zu klären. Mit dieser Anforderung ist die traditionelle Wesenseigenschaft ungemein entlastet. Sie muss nicht mehr ein emphatischer Inbegriff des jeweiligen Individuums sein. Es reicht, wenn mit ihr ermittelt werden kann, welche Bedeutung ein prädikativer Satz über k hat. Das ist bei komplexen Ereignissen wie der Französischen Revolution oder R.B.s Besteigung der Dent d’Herens sicher nicht einfach, bei Klangereignissen ist es trivial. Der individuelle Umfang von k kann definiert werden über seine kausale Struktur. Ein spezifisches

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Kausalgeschehen, das Geschehen einer sich ausbreitenden Schwingung von Materieteilchen, konstituiert einen Zeit-Raum-Wurm und bestimmt mit ihm den Umfang des Individuums k. Das Prädikat, eine Schwingung zu sein, drückt diese Kausalstruktur aus. Mit dem Prädikat, eine Schwingung zu sein, wird demnach die essenzielle Eigenschaft von k im skizzierten Verständnis ausgedrückt. Zweifellos ist die kausale Ausbreitung einer Schwingung von Materieteilchen auch eine notwendige Eigenschaft von k. Wäre sie nicht individuiert, gäbe es im entsprechenden Zeit-Raum kein Individuum k. Aber wie gesagt, es gibt unzählige weitere notwendige Eigenschaften von k, die zur Definition seiner Bedeutung überhaupt nichts beitragen. Daher ist der modale Charakter der essenziellen Eigenschaft hier irrelevant. Wie nun erfüllt die essenzielle Eigenschaft von k, ein kausales Schwingungsgeschehen zu sein, ihre definitorische Aufgabe? Die modernen Vertreter des Essenzialismus waren nicht zuletzt von der Intuition geleitet, dass die essenziellen Eigenschaften von Dingen in ihrer naturgesetzlichen Konstitution lägen. Zwei Beispiele:25 Wasser hat die Eigenschaft, die chemische Struktur H2O aufzuweisen, eine offenkundig notwendige Eigenschaft, ohne die das betreffende Ding in meiner Gießkanne kein Wasser wäre, sondern etwas anderes. Läge zum Beispiel die chemische Struktur H2O2 vor, handelte es sich um Wasserstoffperoxyd, ein Ding, das den menschlichen Sinnen recht ähnlich wie Wasser erscheint. Ein weiteres Beispiel: Hitze, warme Luft also, die ein wärmeempfindliches Lebewesen über seinen in der Haut verorteten Temperatursinn als heiß empfindet, hat die physikalische Eigenschaft, eine schnell vibrierende Bewegung der Moleküle des Umgebungsmediums zu sein. Diese notwendige Eigenschaft, ohne die das Umgebungsmedium in meinem Arbeitszimmer nicht als Hitze wahrgenommen werden würde, hat starke Ähnlichkeit mit den Klängen. Nun wollen wir essenzielle Eigenschaften nicht mehr über ihren Notwendigkeitscharakter verstehen. Dass die chemische Struktur H2O eine notwendige Eigenschaft für die Individualität des Dings in meiner Gießkanne und die schnelle Molekülbewegung eine notwendige Eigenschaft jener Hitze in meinem Arbeitszimmer ist, braucht uns also nicht weiter zu kümmern. Aber auch abgesehen davon sind sie gute Beispiele, welcherart eine essenzielle Eigenschaft sein muss, damit sie ihrem definitorischen Zweck gerecht wird. Definitionen dürfen nicht auf der semantischen Ebene von synonymen

25 Die beiden folgenden Beispiele nennt und der Ansicht ist selbst Kripke (1972).

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Beschreibungen oder auf der pragmatischen von Funktionsbeschreibungen bleiben. Sie müssen unter die semantische oder pragmatische Ebene gelangen und auf eine ontologische Ebene führen. Das geschieht idealerweise dadurch, dass in der Definition diverse Merkmale des Individuums, von dem eine essenzielle gleich definitorische Eigenschaft gesucht wird, in einen allgemeingültigen und d.h. naturgesetzlichen Zusammenhang gebracht werden, mit dem die Extension des Individuums so vollständig wie möglich und wie nötig ausgemessen werden kann. Der entscheidende Punkt sind nicht die Merkmale selber, auch nicht irgendeine Art des Zusammenhangs, wie es etwa in der pragmatischen aristotelischen Definition von Schall als etwas, das vom Ohr gehört wird, der Fall ist.26 Auf die Allgemeingültigkeit des Zusammenhangs der Merkmale kommt es an. Nur wenn das Involviertsein eines Merkmals in das untersuchte Individuum einer naturgesetzlichen Notwendigkeit gehorcht, lässt sich sicher sagen, dass es zum Merkmalsbestand der essenziellen Eigenschaft gehört. Andernfalls ist es unwesentlich: Dem jeweiligen Individuum könnte es gegebenenfalls entnommen, ausgerissen, amputiert werden, ohne dass es seine Individualität einbüßt. In Frage für jene naturgesetzlichen Zusammenhänge kommen bei Klängen damit die Gesetzmäßigkeiten des Schwingens von Materie, wie sie in der Mechanik formuliert werden. Dort werden elementare physikalische Größen wie Geschwindigkeit, Masse, Beschleunigung usw. zueinander in eine Beziehung mathematischer Art gesetzt. ❮ V i r t u a l R e a l i t y ❯ Die klassische aristotelische Substanzeigenschaft existiert im platonistischen Ideenhimmel auch für sich. Auf die Eigenschaften, eine BMW R75/5 zu sein, ein Pferd zu sein, ein Tisch zu sein, ein Fauchen zu sein, ein Klang zu sein, kann sprachlich referiert werden, ohne eine konkrete Individuierung der Eigenschaften vor Augen oder Ohren zu haben. Auch zweitstufige prädikative Sätze sind möglich. Aber wenn man wissen will, wie diese klassischen Essenzen individuiert sind, muss man zu dem entsprechenden Individuum weitergehen: Wie es ist, die Eigenschaft, eine BMW R75/5 zu sein, zu individuieren, muss an einem konkreten Exemplar wie etwa dem weinroten Motorrad meines Nachbarn studiert werden. Wie es ist, die Eigenschaft, ein Pferd zu sein, zu individuieren, muss zum Beispiel an der Trakehnerstute Halloween in der Lüneburger Heide ermittelt werden. Entsprechend die Eigenschaft, ein Tisch zu sein, zum Beispiel an dem runden, holzwurmgelöcherten Eichentisch in meinem Arbeitszimmer, die Eigenschaft,

26 Aristoteles: De anima II 6,418.

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ein Fauchen zu sein, beispielsweise an dem Hintergrundgeräusch im Lesesaal, in dem ich gerade sitze, die Eigenschaft, ein Klang zu sein, wiederum an einem konkreten Sound wie diesem Hintergrundgeräusch im Lesesaal. Ganz anders die essenziellen Eigenschaften (nach Kit Fine) mit ihrer definitorischen und strukturbeschreibenden Eigenschaftsontologie. Denn was heißt »definitorisch« und »strukturbeschreibend« im Hinblick auf das Wie ihrer Individuierung? – Dass das Wie ihrer Individuierung in der essenziellen Eigenschaft enthalten ist. Es bedarf keines Rückgriffs mehr auf ein konkretes Exemplar. Aus der definitorischen Eigenschaft können ohne Referenzen Exemplare generiert werden. Denn das definitorische Element hat eine operative Komponente. Das ist in der Ontologie des Digitalen zum Vorschein gekommen. 27 Die digitalen Rechnerarchitekturen realisieren Ereignisindividuen, die vorher einzig als definitorische Eigenschaften existierten. (In der digitalen Emulation von Ereignissen allerdings um den ontologischen Preis, dass nicht mehr wie in 1.2.2 zwischen Zustand und Vorkommnis unterschieden werden kann.) Wenn wir hier sagen, es seien die akustischen Eigenschaften und insbesondere die Wellengleichung, die die essenziellen Eigenschaften eines Klangindividuums im Kit Fineschen Sinne sind, dann heißt das: Die akustischen Eigenschaften sind nicht (nur) Eigenschaften von einem Klangindividuum, sie sind in der Ära der digitalen Maschinen, die mathematische Strukturbeschreibungen referenzlos in Realität transformieren können, auch Eigenschaften für ein Klangindividuum, das durch digitales Prozessieren des operativen Aspekts seiner essenziellen Eigenschaft erst erschaffen wurde.

Eine vorgreifende Bemerkung zur Ontologie dieser Größen und mathematischen Beziehungen (die in 2.2.3.1 entfaltet wird): Wir fassen sie (mit Armstrong28) als mehrstellige Eigenschaften zweiter Stufe auf. Die Mehrstelligkeit besagt, dass naturgesetzliche Eigenschaften relational sind und d.h. eine Eigenschaft sind, die von mindestens zwei anderen Entitäten eine spezifische Relation beschreibt, die sie zueinander haben. Die Stellen haben den Charakter einer Variablen und können mit unterschiedlichen Entitäten gesättigt werden, wodurch dann Behauptungen entstehen, die wahr oder falsch sein können. Die Zweitstufigkeit besagt, dass die zwei oder mehr Leerstellen der relationalen Eigenschaft nicht mit beliebigen Arten von Entitäten gesättigt werden können, sondern nur wiederum mit Eigenschaften. Von jenen Eigenschaften sagt die naturgesetzliche relationale Eigenschaft

27 Medienarchäologisch und mathematikgeschichtlich eindrücklich Siegert (2018). 28 Armstrong (1983).

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also ihrerseits eine Eigenschaft aus. Nun ist nicht jede zweitstufige relationale Eigenschaft ein Naturgesetz. Das spezifisch Naturgesetzliche stellt sich erst ein, wenn die Relation zwischen den erststufigen Eigenschaften notwendig ist. Im ersten newtonschen Gesetz Kraft gleich Masse mal Beschleunigung zum Beispiel sind die beiden relationalen Eigenschaften (…) ist gleich (…) und (…) wird multipliziert mit (…) zu einer komplexen Relation verwoben. Zumindest die zweite relationale Eigenschaft kann für sich genommen noch nicht Notwendigkeit implizieren: Welche physikalischen Eigenschaften jemand miteinander multipliziert, hängt von seinem kontingenten Erkenntnisinteresse ab. Miteinander verwoben stellt sich aber der Notwendigkeitscharakter ein, denn nun wird die Gleichheit der Multiplikation mit einer dritten Eigenschaft behauptet. In die Leerstellen werden die (universalen – der Universalienrealismus ist hier zwingend) Eigenschaften Kraft, Masse und Beschleunigung eingesetzt, und zwar notwendigerweise diese auf der notwendigerweise entsprechenden Seite der Gleichung. Die allgemeine Verbindlichkeit genau dieser Einsetzungen, die für die Bestimmung ihres Wahrheitswerts keine Referenz auf einen konkreten Sachverhalt braucht, macht die Naturgesetzlichkeit der Eigenschaft aus. Während die Propositionen, wie sie bei der Sättigung von mehrstelligen Eigenschaften entstehen, die keine Naturgesetze sind, durch Referenz auf einen konkreten Sachverhalt als wahr oder falsch bestimmt werden, ist bei einem Naturgesetz die naturgesetzliche Eigenschaft, die in der Relation ausgesagt ist, selbst der Wahrmacher für die konkreten (universalen) Eigenschaften, mit denen ihre Leerstellen gesättigt werden. Damit ist das ontologische Feld abgesteckt, in dem sich die nächsten Aufgaben ergeben bei unserem Bestreben, die essenzielle Eigenschaft von Klängen, Schwingungen zu sein, über ihre naturgesetzlichen Strukturen zu entfalten: Welche Naturgesetze spielen in der Akustik eine Rolle? Welche (universalen) Eigenschaften setzen sie in Relation zueinander? Welche mathematischen Operatoren beinhaltet die jeweilige Relation? Mit diesen Entfaltungen lässt sich, so meine These zur Auffassung essenzieller Eigenschaften als definitorischen, die Anforderung einlösen, die wir an eine

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essenzielle Eigenschaft stellten, nämlich die Bedeutung einer Referenz auf k exakt und nachprüfbar zu umreißen. Die relevanten Naturgesetze sind der intensionale Merkmalsbestand unserer ontologischen Bestimmung des Klangs als eines Schwingungsereignisses (1.2.1) und der sich daraus ergebenden essenziellen Eigenschaft von Klängen, Schwingungen zu sein. Genau besehen muss von allen ins Ereignis involvierten Dingen zumindest die Luftmasse schwingen, die das wahrnehmende Ohr oder Mikrofon umgibt. Der Ereignisumfang definiert sich durch die relativen Bewegungen all der Dinge zueinander, die für die finale Schwingung der Luftmasse kausal verantwortlich sind. Diese Bewegungen sind zum Teil selbst schwingungsförmig, zum Teil haben sie aber auch andere Bewegungsformen wie zum Beispiel die lineare Lageänderung eines beweglichen Dings oder die Verformung eines unbeweglichen Dings. Nun ist freilich von der Erschaffung der Welt bis zum Jüngsten Gericht alles mit allem kausal verbunden. Der Umfang des Schwingungsereignisses muss daher beschränkt werden. Ohne noch einmal die Gründe zu erörtern, setzen wir gemäß 1.1.5 voraus, dass zu einem als 1 Klang zählbaren Schwingungsereignis der selbst nicht schwingungsförmige Ereignismoment, der einem Schwingungsgeschehen kausal unmittelbar vorausgeht, sowie das gesamte von ihm kausal in Gang gesetzte Schwingungsgeschehen zählt. Bei einem Klang, der von einem Klavier kommt, reicht mit dieser Definition der Ereignisumfang von der bewegten Anschlagsmechanik, die eine Klaviersaite in Schwingung bringt, über das dadurch angeregte Schwingen diverser Festkörper wie Gussrahmen, Resonanzboden und Gehäuse sowie diverse mitschwingende Dinge außerhalb des Instruments bis zu der Luftschwingung, die an das Hörerohr dringt. (Alles davor, also von der Körperbewegung des Pianisten an rückwärts, und alles danach, also von dem kontingenten phänomenalen Akt des Hörers, das Rezipierte als Ton mit diesen und jenen Eigenschaften aufzufassen, an vorwärts, gehört nicht zum Ereignisumfang.) Die Bewegung des Hammers zur Saite ist eine lineare Lageänderung; erst die Bewegung der angeschlagenen Saite, die zuerst eine Verformung ist, geht in eine Schwingung über, die sie teils direkt an das Umgebungsmedium Luft weitergibt, teils indirekt über die Elemente des Klaviers, die die Schwingung aufnehmen und danach ebenfalls an die Umgebungsluft weitergeben. Wir kommen darauf zurück, dass das Wechselspiel der Kräfte, das im Resultat zu einer Schwingung der Luftmasse führt, im Detail äußerst komplex und

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empirisch so gut wie nicht vollständig rekonstruierbar ist. Wichtig ist hier, dass die Bewegungen, in die sich die involvierten Dinge wechselseitig versetzen, durch das Wechselspiel der Kraft zustande kommen, die ein Teil durch seine Bewegtheit auf ein anderes ausübt, welches dadurch seinerseits in Bewegung gerät und diese in der eigenschaftlichen Form von Kraft an ein drittes Teil weitergibt usw. All dies geschieht unter Energieverlust, da nur ein Teil der anfangs des Ereignisses investierten Kraft in Bewegungsenergie umgesetzt wird, ein anderer in Wärme, so lange, bis alle beteiligten Dinge zum Stillstand gekommen und ein bisschen wärmer geworden sind. Kurz, die basale (universale) Eigenschaft eines Klangereignisses ist, dass eine Kraft wirkt. Mit dem Merkmal der Kraft allein lässt sich aber noch nicht darlegen, inwiefern die Eigenschaft, eine Schwingung zu sein, einen scharfen Umriss von k definiert. Dazu muss das Kräftespiel näher analysiert werden. Das newtonsche Naturgesetz setzt Kraft mit Masse mal Beschleunigung (Bewegtwerden) gleich. Damit sind drei (universale) Eigenschaften benannt, die gemäß unserer obigen ontologischen Bestimmung von Naturgesetzen in situationsunabhängiger Form in eine (hier dreistellige) relationale Eigenschaft eingebunden sind und damit die Aussage über die konkreten Quantifizierungen dieser Eigenschaften in einer bestimmten Situation wahr oder falsch macht. Zweifellos handelt es bei Masse und Bewegtwerden um die ersten Kandidaten für die definitorische Kraft der essenziellen Eigenschaft von k, eine Schwingung zu sein. Es sind zugleich die beiden zweitstufigen Eigenschaften der Primäreigenschaft, eine Schwingung zu sein, aus denen sich alle Naturgesetzmäßigkeiten der physikalischen Akustik ableiten lassen, indem man sie in notwendige drittstufige Eigenschaften zergliedert und aus diesen in wechselnden Kombinationen und mit wechselnden mathematischen Operatoren die bekannten Größen der Akustik bildet. Wie das eigenschaftsontologisch genau aussieht, erörtern wir in 2.2.3.1. Hier genügen einige unsystematische Überlegungen, um eine Grundlage für das hier zu erörternde definitorische Vermögen der Eigenschaft, eine Schwingung zu sein, zu gewinnen. Eine Masse zu haben und bewegt zu werden sind polare Eigenschaften. Denn im Begriff der Masse liegt der der Trägheit. Eine Masse ändert ihren aktuellen Bewegungsmodus nicht von sich aus, sie muss durch externe Energie aus ihrem Bewegungsmodus gerissen und d.h. beschleunigt werden. Die internen Trägheitskräfte und die externen

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Beschleunigungskräfte vollziehen mit der gegebenen Masse ein Wechselspiel, aus dem erst sich erklärt, wieso es zu der charakteristischen Bewegungsform des Schwingens und nicht etwa zu einer linearen Bewegung der Masse kommt. Für unsere Erörterung liegt hier ein entscheidender Punkt, denn mit der zeit-räumlichen Begrenzung der Schwingung ist zugleich die zeit-räumliche Grenze des Ereignisindividuums k gegeben. Auf eine ursprüngliche Krafteinwirkung reagiert ein unbefestigter Körper, auch der härteste, zu einem gewissen Teil immer mit einer Verformung. Das heißt, er wandelt sie in innere Reibungskraft um, die seine Materieteilchen wechselseitig aufeinander ausüben, bis sie ihrerseits in Wärme umgewandelt ist. Der größere Teil aber geht in eine lineare Lageänderung des Körpers. All dies sind noch keine Schwingungsbewegungen. Nun ist der Körper nicht allein auf der Welt, sondern gleitet an anderen Dingen mit ihren Materialeigenschaften entlang. Das können feste oder flüssige Körper sein oder einfach nur die gasförmige Luft. Diese Dinge üben Gegenkräfte aus, namentlich ihre Massenträgheit und die Reibungskraft beim Kontakt der Oberflächen. Um sich tatsächlich an ihnen entlangzubewegen, muss die Bewegungskraft des einen Körpers die Gegenkräfte der anderen im Betrag übersteigen und vermindert sich um diese entsprechend, die dann im angrenzenden Körper zu einer Verformung führen, also ein Wechselspiel der inneren Reibungskräfte in Gang setzen. In diesen Wechselspielen der Kräfte liegen die direkten Ursachen für die Schwingungsbewegungen, in die die Körper geraten. Denn oft kommt es nicht zu einem kontinuierlichen Kraftschluss, sondern zu einem mikrozeitlichen Hin und Her zwischen Kraftschluss und Entkopplung oder auch zu einem Hin und Her zwischen kraftschlüssiger Weitergabe der Bewegungsenergie und blockierter Weitergabe der Bewegungsenergie infolge Haftreibung. Es entstehen nichtlineare Bewegungsformen – das System beginnt mehr oder weniger harmonisch zu schwingen. Für unsere Problemstellung heißt das, die Eigenschaft, eine Schwingung zu sein, taugt dann als essenzielle Eigenschaft von k, wenn über ihre Merkmale genau umgrenzt werden kann, in welchem kontinuierlichen Zeit-Raum sein Schwingungssystem existiert. Die Gegenkraft, in der sich die Massenträgheit des ruhenden Körpers artikuliert, an dem der bewegte sich entlang bewegt, ist die Reibungskraft. Davon gibt es je nach Materialien und Bewegungsformen mehrere Varianten. Die für uns maßgeblichen sind Gleitreibung und Rollreibung im Fall der relativen Bewegung der Körper zueinander sowie Haftreibung im Fall des

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Stillstands. Übersteigt die Haftreibungskraft die Kraft der linearen Bewegung, so kommt es zu einem Stillstand, bei dem nichts schwingen kann. Zur Schwingung aber kommt es, und das ist ein zentrales Ursachenszenario für die Klangentstehung, wenn die Kräfteverhältnisse so sind, dass die Haftreibungskraft für einen kleinen Moment größer ist als die lineare Zug- oder Schubkraft und den bewegten Körper nur für einen winzigen Moment zum Stillstand bringt, im nächsten Moment aber ein Potenzial der Zug- oder Schubkraft aufgestaut hat, das die Haftreibung übersteigt, wodurch das Kräftewechselspiel wieder in Gleit- oder Rollreibung übergeht. Im übernächsten Moment schlägt das Kräftependel zurück – und so weiter mit dem Resultat, dass ein Körper oder auch beide einen Teil dieser Kraft neben der linearen in eine schwingende Bewegung umwandeln. Die Kombination aus der statischen Haftreibung mit den dynamischen Reibungskräften, oft auch slip-stick-Effekt genannt, ist eine der Hauptursachen für die Genese eines Schwingungsgeschehens, somit auch ein Merkmal, mit dem sich der raumzeitliche Anfang von k bestimmen lässt. Jedes Blas- und Streichinstrument klingt letztlich aufgrund des slip-stick-Effekts: Der Bogen ruckelt im slipstick über die Saite und bringt sie (und ein wenig auch sich selber) zum Schwingen; die Luft gleitet an der Holz- oder Metallfläche des Blasinstruments entlang und verbraucht einen Teil ihrer linearen Bewegungskraft durch den slip-stick-artigen Wechsel von Haft- und Gleitreibung der beiden Materialien, wodurch beide ins Schwingen geraten. Mit diesen Erläuterungen ist noch nicht die innere Reibungskraft erfasst, da sie nichts mit mehreren sich zueinander bewegenden Körpern zu tun hat, sondern in einem einzelnen Körper auftritt. (Bei flüssigen und gasförmigen Stoffen heißt sie Viskosität.) Nichtsdestoweniger resultieren nicht wenige Schwingungen aus ihr. Sie tritt auf, wenn ein Körper durch eine auf ihn ausgeübte Kraft (in Form von Druck, Stoß oder Zug) nicht (nur) insgesamt in Bewegung gerät, sondern sie (teilweise) durch Verformung absorbiert – und absorbieren heißt mechanisch, sie auf auf das Spiel der Reibungskräfte im Inneren zu verteilen. Dadurch dämpft sie die Verformungsbewegung des Körpers erst einmal; auch eine eventuelle Schwingungsbewegung, in der sich der Körper gerade befindet, wird durch sie gemindert. Das Kräftespiel der Dämpfung eines Klangs ist stets innere Reibung. Dennoch erklärt die innere Reibungskraft auch, wie ein Körper überhaupt zu schwingen beginnt. Nehmen wir als Beispiel die Schwingung der Glastüre, auf die durch den Stoß meines Fingerknöchels eine Kraft ausgeübt wurde. (Man übertrage das

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Folgende analog auf Flüssigkeiten und Gase; über die Relevanz des Gasgemisches Luft für Klänge brauchen wir kein weiteres Wort zu verlieren.) Nehmen wir idealerweise an, die Tür sitzt so straff in Schloss und Scharnieren, dass eine noch so kleine insgesamte Lageänderung unmöglich ist. Die Stoßkraft lenkt daher die Tür um eine winzige Strecke aus ihrer Lage aus, allerdings nur in einer kleinen Zone um den Punkt herum, an dem mein Knöchel die Glasplatte traf. In dieser Zone hat die Anschlagskraft die innere Reibungskraft des Glases überstiegen. Zwischen der ausgelenkten und den peripheren, in Ruhelage gebliebenen Zonen sind nun Verformungen in andere Richtungen entstanden. Das ruft die inneren Reibungskräfte auf den Plan. Sie bewirken aber nicht nur eine Rückstellung der ausgelenkten Zone in die Ausgangslage, sondern in Gegenrichtung darüber hinaus. Die Differenz der Kräftebeträge zwischen ausgelenkter Zone und der peripheren Zone wird abgebaut, so dass die periphere Zone nun ihrerseits ausgelenkt wird. Das wiederum weckt die Gegenkräfte der inneren Reibung der nächsten Peripherie – und so weiter, der Körper schwingt. Er schwingt so lange, bis der kleine Teil der Reibungsarbeit, der nicht in die Aktivierung einer gegengerichteten Reibungskraft floss, sondern in die Erwärmung, den Kräftebetrag auf null reduziert hat. Pointiert kann man sagen, jede Schwingung braucht Dämpfung, jede Dämpfung verursacht Schwingung. Dass und wie eine externe Stoßkraft als Schwingungsquelle durch einen Körper wandert, liegt ursächlich an der inneren Reibungskraft, die die externe Kraft periodisch ausgleicht. Die Eigenfrequenzen, die ein Material oder ein System hat, erklären sich wesentlich aus seinen inneren Reibungskräften. Insofern die Reibungskraft zum Merkmalsbestand der Eigenschaft, eine Schwingung zu sein, gehört, lässt sich über ihre naturgesetzliche Operationalität die zeiträumliche Ausdehnung von k auch nach seinem Ende hin berechnen. Das polare Gegenstück zur Massenträgheit im newtonschen Satz von der Kraft als Masse mal Beschleunigung ist die Eigenschaft des Beschleunigtseins. Beschleunigung ist eine bei Schwingungsvorgängen wenig anschauliche Eigenschaft. Sie ergibt sich aus der Relation zweier sehr wohl anschaulicher Eigenschaften, Weg und Zeit. Dass bewegte Dinge, wie sie im Schwingungsereignis vorkommen, einen Weg zurücklegen und dafür Zeit benötigen, ist evident. Um die Eigenschaft der Beschleunigung zu bilden, werden Zeit und Weg zunächst als Geschwindigkeit relativ zueinander gesetzt (Weg/Zeit) und dann die Geschwindigkeit noch einmal in Relation zur Zeit gesetzt, um ihre Veränderung (Beschleunigung oder Verzögerung)

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zu erfassen (Weg/Zeit/Zeit = Weg/Zeit2). Analog dazu kann die Masse eines Dings auf die Eigenschaften zurückgeführt werden, aus deren Individuiertsein sie sich mit naturgesetzlicher Notwendigkeit ergibt: aus der Dichte des Materials eines Dings multipliziert mit seinem Volumen. Damit ist die ontologische Struktur der relationalen Eigenschaft Kraft gemäß der klassischen Mechanik hinreichend in ihre höherstufigen Teileigenschaften aufgeschlüsselt. Es ergibt sich für sie die folgende siebenstellige Struktur (wobei die hier durch einfache Linien wiedergegebenen Verbindungen jene spezifischen mathematischen Operatoren sind, auf die wir noch zu sprechen kommen):

Mit dieser Struktur ist die Liste an naturgesetzlichen Eigenschaften des Schwingungsereignisses vollständig, so lange wir den Faktor Reibung vernachlässigen. Vollständig heißt ontologisch, das gesamte Schwingungsereignis, so wie wir es in 1.2.3 ontologisch formalisiert hatten, könnte theoretisch als eine Kombination aus diesen Eigenschaften reformuliert werden, eine sehr lange und umständliche freilich. Aber die Reibung darf bei Schwingungsereignissen nicht vernachlässigt werden, denn ohne Reibungskräfte begänne nichts zu schwingen, sondern sich in irgendeiner anderen Weise von der Stelle zu bewegen. Wir müssen also die Reibungskraft in das Schema der bislang siebenstelligen Eigenschaft Kraft integrieren. Da per definitionem die Reibungskraft die Gesamtheit aller Kraftkomponenten ist, also der Komponenten Gewicht und Geschwindigkeitsveränderung aus der Kraftgleichung zuzüglich aller bei Reibung relevanten Faktoren, können wir als die effektive Kraft in einem Schwingungsereignis anstelle der Eigenschaft Kraft im obigen Schema die Eigenschaft Reibungskraft setzen. Zwei neue Eigenschaften kommen mit der Reibungskraft ins Spiel: der Neigungswinkel und der Reibungskoeffizient. Welche Reibungskraft effektiv individuiert ist, hängt zum einen von den geometrischen Verhältnissen im Schwingungsereignis ab, abstrakt gesagt: vom Neigungswinkel, in dem sich die Oberflächen zweier Dinge aneinander entlang bewegen. Bei einem

?*;+1.'(23)+1%! %[a^%

Neigungswinkel von 0° ist sie bei ihrem Maximum, bei 90° bei ihrem Minimum, nämlich 0. Um das in die Reibung einzubeziehen, spaltet man die Gewichtskraft FG, die das eine Ding auf das andere ausübt, in die zwei virtuellen Komponenten der Normalkraft FN und der Tangentialkraft FT auf:

FN wirkt senkrecht zur Kontaktfläche, FT parallel. Damit ist der Neigungswinkel # der Kontaktfläche einbezogen. Die entsprechenden relationalen naturgesetzlichen Eigenschaften lauten: 56 7 89: ; < 5= 5> 7 :?@ ; < 5=

Zum anderen hängt die effektive Reibungskraft von der Materie der beiden bewegten Dinge und ihrer charakteristischen Oberflächenstruktur ab. Der Kürze halber beschränke ich mich auf die Reibungsform Gleitreibung (FR). Bei der inneren Reibung sind es aber im wesentlichen auch keine anderen als die beiden Faktoren der Normalkraft und eines materialspezifischen Koeffizienten KR, aus denen sich die entsprechende relationale naturgesetzliche Eigenschaft zusammensetzt. Bei der inneren Reibung bezieht sich KR auf ein Material, bei den anderen Reibungsformen auf je zwei kontaktierte Materialien (Holz auf Holz, Holz auf Messing, Luft auf Holz usw.). Sie lautet: 5A 7 56 < BA

Nun haben wir alle Faktoren beisammen, aus denen sich die Eigenschaft Reibungskraft als die jedes Schwingungsereignis fundierende naturgesetzliche Eigenschaft zusammensetzt: Normalkraft, Neigungswinkel (da in FN auch FG enthalten ist, ergibt sich aus beiden in Kombination indirekt die Tangentialkraft) und Reibungskoeffizient. Die Normalkraft ist prinzipiell eine naturgesetzliche Eigenschaft Kraft mit genau den eigenschaftsontologischen Leerstellen und Sättigungen, die wir oben festgehalten haben. Daher lässt sich das obige ontologische Schema der Eigenschaft Kraft in die Stellen der Normalkraft integrieren:

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Wo stehen wir nun? Wir haben die naturgesetzliche Eigenschaft Reibungskraft samt ihren Teileigenschaften, mit denen ihre Leerstellen gesättigt werden, analysiert. Diese Eigenschaften beschreiben, dass und warum die Dinge schwingungsförmig in Bewegung kommen. Sie beschreiben aber noch nicht, wie das insgesamt geschieht, welche Bewegung insgesamt also aus dem Wechselspiel unzählig vieler Reibungskräfte resultiert. Die Eigenschaft Kraft beinhaltete zwar die Eigenschaft Zeit, aber nur als Messzeitraum, in dem ein Betrag der Lage- und Geschwindigkeitsänderung ermittelt wird, um die Eigenschaft Beschleunigung konkret quantifizieren zu können. Es fehlt noch eine andere zeitlogische Ebene, diejenige nämlich, die dem Ereignischarakter von Schwingungsvorgängen im wahrsten Sinne des Wortes Rechnung trägt und die es uns in einer ereignisontologischen Analyse à la 1.2.3 überhaupt erlaubt, eine statisch anmutende Aussage wie »es donnert« in ihre Ereignisfaktoren auseinanderzulegen und die Kopula »und«, mit der sie logisch verbunden werden, als die Formalisierung des dynamisch Ereignishaften aufzufassen. Kurz, uns fehlt ein formalisierter und physisch operationalisierbarer Begriff von der Art des Durchmessens von Zeit und Raum, den wir in 1.2.2 als Vorkommnis vom Zustand unterschieden haben. Soll die Eigenschaft, eine Schwingung zu sein, der essenzontologischen Anforderung genügen, eine Definition und eine Strukturbeschreibung der Extension des Schwingungsereignisses k zu liefern, wird in ihrem Merkmalsbestand ein Merkmal für die Extension als solche gebraucht. Versuchen wir es ontologisch dingfest zu machen. Die Zeitlogik, in der die Eigenschaften Zeit und Weg in der newtonschen Kraftgleichung vorkommen, entspricht dem Zustand. Die Eigenschaften sind bloße Maße, nach denen zeitabhängig der Weg und wegabhängig die Zeit quantifiziert werden können. Das Vorkommnis erfordert darüber hinaus einen Begriff von Weg und Zeit, der die Dynamik des Durchmessens eines Weg-Zeit-Raums erfasst.

Eigenschaften

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Er ist verborgen in der Charakteristik, mit der sich die Schwingung eines Dings vollzieht: der Sinusfunktion. Analog zur Kraft als physikalischem Prinzip, das in jedem konkreten Bewegungsereignis naturgesetzlich waltet, gehen wir bei der Schwingungscharakteristik auf ihre basalste Gesetzmäßigkeit zurück, und das ist die Schwingung gemäß der Sinusfunktion. (Die Fourieranalyse gibt die Rechenschritte an, um von einer gegebenen Schwingungsform eines Teilchens, die so gut wie immer ein Skalarprodukt aus vielen sich überlagernden Schwingungen ist, auf die ihr innewohnende Sinusfunktionen zurückzurechnen.) Bekanntlich lassen sich die Winkelfunktionen über den Kreis und das Dreieck veranschaulichen. Diese geometrischen Assoziationen führen hier aber in die Irre: Weder haben Schwingungsformen etwas mit Kreisen zu tun noch die Neigungswinkel etwas mit der Sinusförmigkeit der Schwingung. Die unanschauliche arithmetische Reihenentwicklung des Sinus ist für unsere Argumentation am sinnvollsten, um die ereignishafte Dynamik von Weg und Zeit eines schwingenden Körpers zu erläutern: I

sin(𝑥) = F(−1)-JK

𝑥 '-L" 𝑥 𝑥( 𝑥* = − + ± . .. (2𝑛 + 1)! 1! 3! 5!

Diese arithmetische Formulierung der Sinusfunktion ist in genau derselben ontologischen Weise eine naturgesetzliche Eigenschaft wie die Kraftgleichungen: eine mehrstellige relationale Eigenschaft, die nicht dadurch zu einer wahren oder falschen Aussage wird, indem man an den Leerstellen die richtigen oder die falschen Entitäten einsetzt, sondern die mit ihrer relationalen Eigenschaft selbst als Wahrmacher fungiert. Welche konkreten Schwingungen auch immer man als Argument in die Leerstellen einsetzt, sie beschreibt auf der basalsten (durch Fourieranalyse erreichbaren) Ebene mit unzweifelhafter Wahrheit, welchen Zeit-Raum-Punkt ein schwingendes Individuum einnimmt. Wo aber in der Formel sind die Leerstellen? Sie bestehen in der Variable x und im Funktionswert sin (x). Daneben gibt es eine unendliche Anzahl von Koeffizienten, nämlich die ungeraden ganzen Zahlen 1, 3, 5, … Der sachliche Gehalt der Eigenschaft besteht darin, dass erstens die Variable x und die Koeffizienten durch die mathematischen Operatoren – hier sind es die vier Grundrechenarten – zueinander in Beziehung gesetzt und dass zweitens mit der Variable eine kontinuierliche Quantifizierung des eingesetzten

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Arguments gefordert wird, durch die über das Ist-gleich-Zeichen eine kontinuierliche Kette von Funktionswerten gebildet wird. Anders als bei den mechanischen Naturgesetzen bleibt die Entität an den Leerstellen der relationalen Eigenschaft, wie es die Sinusfunktion eine ist, ontisch unkenntlich. Welche Eigenschaften des Schwingungsereignisses verbergen sich hinter x und sin (x)? Die Variable x, die durch den reellen Zahlkörper läuft (und innerhalb jedes x bei der Reihenentwicklung noch einmal durch den natürlichen Zahlkörper), ist die formalisierte Eigenschaft der Zeit bzw. damit verbunden des Wegs, den das Wechselspiel der Reibungskräfte von dem Startpunkt, an dem eine auslösende Kraft auf ein Ding einwirkte, durch das Ding läuft. Wir fassen die Eigenschaft von x als Wegzeit der Reibungskraftwirkung. Der Funktionswert sin (x) gibt an, um wieviel das Segment des Dings, an dem die Reibungskraft aktuell wirkt, aus seiner Ruheposition ausgelenkt ist. Wir fassen daher die Eigenschaft, die sin (x) repräsentiert, als das Maß der Verformung eines ins Klangereignis involvierten Individuums am Wegzeitpunkt x. Der entscheidende Gesichtspunkt bei dieser ontologischen Interpretation der Sinusfunktion ist, dass wir sie als eine Eigenschaft des Schwingungsereignisses auffassen, die in genau derselben Weise naturgesetzlich ist wie die mechanischen Gleichungen. Der ontologische Sinn der Sinusgleichung ist nicht nur, für jeden Wegzeitpunkt x das Maß der Auslenkung berechnen zu können. Er ist vor allem, die verschiedenen Wegzeitpunkte je untereinander und ebenso die verschiedenen Auslenkpunkte der Dingsegmente je untereinander in eine notwendige Beziehung zu setzen: Welcher Auslenkpunkt bei x+n erreicht ist, ist implizit schon mit dem Auslenkpunkt bei x gegeben. Der Schwingungszustand zu einem zukünftigen Zeitpunkt ist in demjenigen zum jeweiligen Gegenwartszeitpunkt schon enthalten. Die zukünftigen Zustände in einem Klangereignis sind nicht, wie sonst die Zukunft globaler betrachtet üblicherweise ist, kontingent, sie haben notwendige Eigenschaften, formal angegeben in der Sinusfunktion. Genau deshalb können wir Schwingungsereignisse überhaupt individuieren und (wie in 1.1.5 beschrieben) als je 1 Individuenentität zählen. Wie bei allen naturgesetzlichen Eigenschaften ist für Aussagen den Zustand eines schwingenden Dings zu t0 an l0 betreffend nicht der empirische Sachverhalt, sondern die Sinusfunktion selbst der Wahrmacher – insbesondere für vergangene und zukünftige Zustände, an die keine Empirie herankommt.

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Anders und allgemeiner gesagt, mit der Eigenschaft der Sinusförmigkeit von Schwingungen wird die Dynamik und die Ereignishaftigkeit des Schwingungsgeschehens erfasst. Mit den zeitlogischen Begriffen aus 1.2.2 gesagt, die Sinusförmigkeit von Klangereignissen beschreibt formal, warum der Zeit-Weg-Raum, den das Schwingungsereignis eingenommen haben wird, kein Zustand, sondern ein Vorkommnis ist. Die Ausgangsfrage war, ob sich auf der naturgesetzlichen Ebene von k eine Eigenschaft finden lässt, die eine definierende Strukturbeschreibung liefert, welchen Ereignis-Zeit-Raum k einnimmt. Diese Eigenschaft genügt den Anforderungen an eine essenzielle Eigenschaft. Wie wir nun sehen, ist die Sinusförmigkeit von Schwingungen dasjenige Merkmal, durch das die Anforderung letztlich eingelöst wird. Bewegungseigenschaften sind notwendige Eigenschaften, damit k ein Klangereignis ist, aber sie lassen für sich genommen noch im Unklaren, was genau k ist. Die Reibungskrafteigenschaften sind ebenso notwendig für die Existenz von k, denn ohne sie gäbe es keine kausale Ausbreitung von Bewegungsimpulsen. Aber auch mit ihnen wird nur das Dass der Ausbreitung, nicht das Wie, Wann und Wo erläutert. Erst mit einer operativen Verrechnungsregel, über die sich aus der Krafteinwirkung auf einen Raum-Zeit-Punkt die Krafteinwirkung für alle umliegenden Raum-Zeit-Punkte ergibt, werden die essenziellen Anforderungen erfüllt: Mit ihr ist k sowohl in seinem gesamten Umriss als auch in seinem lokalen Zustand an einem beliebigen Raum-Zeit-Punkt definiert. Diese Verrechnungsregel ist die Sinusfunktion. Insgesamt ist die Frage der essenziellen Eigenschaft eines Klangereignisindividuums damit geklärt. Mit der Eigenschaft, ein Schwingungsereignis zu sein, und ihren intensionalen Merkmalen kann ein k zweifelsfrei definiert und identifiziert werden. Freilich verbleibt diese Form von Essenzialismus auf der pauschalsten der drei pauschalen Ebenen von Klangeigenschaften. Warum es von den pauschalen Klangeigenschaften der spezifischeren dritten Ebene keine Essenzen geben kann, haben wir mit einem grundsätzlichen Argument bereits geklärt: Die pauschalen Klangeigenschaften dieser Ebene sind phänomenal. Aber auch aus dem Merkmalsbestand, der k als solches definiert und identifiziert, ergibt sich nun, warum es nicht auch einen ähnlichen, aber spezifischeren Merkmalsbestand für eine Klangcharakteristik der dritten pauschalen Ebene geben kann. Klangspezifiken bilden sich durch Faktoren, die in den naturgesetzlichen Eigenschaften nominell zwar vorkamen, aber noch inaktiv blieben, die Koeffizienten. Jene individuieren

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die naturgesetzlichen Eigenschaften an einem konkreten Raum-Zeit-Punkt. Dazu müssen sie quantifiziert werden mit den faktisch gegebenen Flächengrößen und Winkelverhältnissen sowie mit den material- bzw. systemspezifischen Kennzahlen. Mindestens fünf partikulare Eigenschaften bedürfen einer solchen Konkretisierung: Ortsspezifische Kennzahlen (i) Kontaktflächengröße (ii) Massen (iii) Neigungswinkel Material- bzw. systemspezifische Kennzahlen: (iv) Materialkoeffizienten in Reibungsgleichungen (v) Eigenschwingung Die konkreten Quantitäten dieser Universalien sind allesamt kontingente Eigenschaften, ohne die die Reibungskraftgleichungen nicht operabel werden können. Sie empirisch zu ermitteln ist, wie die angewandte Akustik auf Schritt und Tritt feststellen muss, praktisch unmöglich. Kleinste Veränderungen beispielsweise eines Winkelverhältnisses verändern die Größe der Kontaktfläche. Subtile Berührungen zweier Dinge verändern die Größe und Konstellation eines Schwingungssystems und damit drastisch die Kennzahl von dessen Eigenschwingung. Eine pauschale Klangeigenschaft kann rasch in eine andere kippen. Eine partikulare Klangeigenschaft wie etwa die Tonhaltigkeit kann bei feinsten Variationen der Details auf Maximalwerte schnellen oder ganz verschwinden. Praktisch lässt sich erst dann mit dem Ausrechnen der faktischen Kräfte und am Ende dann des akustischen Output beginnen, wenn man die konkreten Verhältnisse in (i) bis (v) durch ein mehr oder minder stark abstrahiertes Modell simuliert hat.29 Zusammenfassend gesagt, es hängt in höchstem und subtilstem Maß von der Sättigung der Koeffizienten in (i) bis (v) ab, ob es quietscht oder nicht doch rattert oder gar kein Klang entsteht oder ob das Rattern mit Pfeifen oder mit Dröhnen kombiniert ist. Es gibt keine essenziellen Eigenschaften, aus denen sich ein typisches Koeffizientenmuster eines Quietschens, Ratterns oder Pfeifens gewinnen ließe. Und daher gibt es auch keine solchen typischen Koeffi-

29 Vgl. etwa Othman (2009).

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zientenmuster. Pauschale Klangeigenschaften der dritten Ebene sind über naturgesetzliche Eigenschaften nicht hinreichend beschreibbar.

2.2.2

Pauschale Klangeigenschaften und ihre Merkmale

Wir haben in den Kapiteln 1.2.1 und 2.2.1 eine bemerkenswerte Lektion gelernt. Prädikate, die ein Schwingungsereignisindividuum insgesamt charakterisieren, haben sich als ziemlich unsichere Kandidaten herausgestellt, wenn es darum geht, die Eigenschaften eines Klangs auf einen Begriff zu bringen. Man muss sogar sagen, sie tun mit ihrer grammatischen Pauschalität so, als könnten sie dies, scheitern aber kläglich, wenn man ontologisch nachhakt. Kein Schwingungsereignisindividuum ist rein von sich her ein Donnern und kein Wummern, ein Wummern und kein Donnern oder etwas drittes. Die natürlichen Sprachen haben viele derartige pauschale Prädikate, und dennoch passt oft keines von ihnen richtig, um einen Klang zu charakterisieren. Von den Übersetzungsproblemen der Prädikate von einer in eine andere Sprache gar nicht zu reden. Ein Schwingungsereignisindividuum ist rein von sich her noch nicht einmal ein Klang. Selbst diese basalere pauschale Eigenschaft ist für das Schwingungsereignis extrinsisch: Sie muss von außen in das Schwingungsereignis hineingetragen werden und perspektiviert es in einer bestimmten Hinsicht, der Hinsicht der Hörbarkeit. (Wieder einmal hat das Deutsche nur unpassende visuelle Metaphern: Perspektive und Hinsicht.) Wir haben klargestellt, dass diese Hinsichten durch humane Intentionalität zustande kommen, ohne dass damit ein Wechsel ins phänomenologische Lager verbunden wäre. Diese Bindung der pauschalen Klangeigenschaften an eine bestimmte Hinsicht soll nun ontologisch erörtert werden. Wir können die verzweigte Struktur an Detaileigenschaften, für die die pauschalen Klangeigenschaften ein eben pauschales, zusammenfassendes Prädikat sind, erst verstehen, wenn wir die Ontologie ihrer Hinsichtlichkeit verstanden haben. Es kommt dabei gar nicht auf das spezifisch Humane der Hinsicht an. Wir sind halt Menschen und haben Menschenohren, wir leben in bestimmten Kulturen und Milieus, und das mag manche Merkmalsbildungen und Pauschalisierungen von Klängen beeinflussen. Es kommt vielmehr auf das schiere Dass der Hinsichtlichkeit und seine nicht ganz triviale ontologische Struktur an. Wenn

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man sich das klargemacht hat, wird man leichter nachvollziehen, wie die Kontingenz der je eigenen Hinsicht zustandekommt und dass sich unbegrenzt viele Hinsichten auf Schwingungsereignisse einnehmen lassen. Das Individuum, auf das sich jede pauschale Beschreibung von Klängen bezieht, ist ein einzelnes, zeit-räumlich lokalisiertes Schwingungsereignis. (Nota bene: jede Beschreibung – die musikwissenschaftlichen Bibliotheken, die Abhandlungen in den sound studies, die Literatur der medizinischen Ohrenheilkunde sind voll davon.) Von diesem unserem Individuum können im Prinzip unendlich viele Eigenschaften bestimmt werden. Warum unendlich viele? Weil es unerschöpflich viele Hinsichten gibt, in denen sich eine Entität erfassen lässt. Je nachdem, ob ich Musiker, Schauspieler, Bildhauer, Maler oder Dichter bin, je nachdem, ob ich als Schneider, Klempner, Elektriker, Gärtner, Schreiner, Tischler, Physiotherapeut, Zahntechniker, Hörgeräteakustiker, Bäcker oder Geigenbauer arbeite, je nachdem ob ich als Musikwissenschaftler, Physiker oder Ontologe, als Kind oder Greis, als Frau oder Mann, als Hungriger oder Gesättigter, als Müder oder Wacher, als Kranker oder Gesunder agiere, kann ich irgendwelche Strukturen des Individuums herausgreifen, die dann meine besondere Hinsicht ausdrücken. Ich kann sie zudem miteinander kombinieren, wodurch, wie wir sehen werden, eine komplexe neue Hinsicht entsteht. In jedem Zugriff auf eine Eigenschaft dokumentiert sich meine spezifische Hinsicht. Von solchen Hinsichten hat es schon sehr viele gegeben und es wird in Zukunft unbegrenzt viele weitere geben. Auf Personen, Subjekte, Egos kommt es hier selbstverständlich nicht an. Es geht um Kontexte, die sich in der Eigenschaftsbestimmung niederschlagen. Um das zu verdeutlichen, nehmen wir im Folgenden einige pauschale Eigenschaftsbestimmungen (F’s) eines Klangs (k) in verschiedenen Hinsichten vor. Die Prädikationen normieren wir nach der Form »k ist ein F«. Man wird sehen, dass ich über die obige Liste deutschsprachiger pauschaler Klangprädikationen der dritten Ebene hinausgehe. Pauschale Klangprädikationen müssen sich keineswegs auf dieses Vokabular beschränken. Die folgenden Beispiele zeigen, wie man es mit etwas Fantasie, Sprachgefühl und Kombinationslust übersteigen kann. Jede der Eigenschaftsbestimmungen bezieht sich auf ein und dasselbe Individuum k. Wir führen dafür folgende ontologische Begrifflichkeit ein: Alle pauschalen F’s haben dieselbe Bedeutung, nämlich das eine Individuum k. k ist das Ding, das unter die diversen F’s fällt. (Mindestens k fällt darunter, muss man präzise sagen,

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vielleicht auch weitere Schwingungsereignisindividuen.) Sofern die Charakterisierungen unterschiedliche Prädikate bzw. Prädikatkombinationen verwenden, drücken sie einen je unterschiedlichen Sinn aus. ❮ S i n n u n d B e d e u t u n g ❯ Die Unterscheidung geht auf Gottlob Frege zurück, der sie 1892 in einem berühmt gewordenen Aufsatz »Über Sinn und Bedeutung« einführte: »Ein Eigenname (Wort, Zeichen, Zeichenverbindung, Ausdruck) drückt aus seinen Sinn, bedeutet oder bezeichnet seine Bedeutung. Wir drücken mit einem Zeichen dessen Sinn aus und bezeichnen mit ihm dessen Bedeutung.« 30 Meine Aneignung der Unterscheidung verdankt Einiges der souveränen Erörterung von Freges Denken durch Wolfgang Künne. 31

Aussagen der Form »k ist ein F« könnten konkret etwa so ausfallen: (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7)

»Das ist ein Klang.« »Das ist das Zeichen zum Aufstehen.« »Das ist ein Piepen.« »Das ist ein lauter werdendes Piepen.« »Das ist ein vibrierendes Piepen.« »Das ist die Fünfminutenvariante.« »Das ist die Mischung aus drittem, siebentem und neuntem Oberton von zwei Grundtönen, die 45 Hz auseinander liegen.«

Alle Ausdrücke in Leserichtung ab dem Wort »ist« sind pauschale Prädikationen mit ein und derselben Bedeutung k, aber je unterschiedlichem Sinn. Dazu einige Kommentare: (1) Wiederholt haben wir angemerkt, dass die Eigenschaft, ein Klang zu sein, ontologisch auch nichts anderes als eine pauschale Eigenschaft von k ist als etwa die pauschalen Klangeigenschaften aus den obigen Listen. Sie stehen nur auf verschiedenen Abstraktionsebenen. Dass es ontologisch keineswegs tautologisch ist, an einem Ding, das wir (in 1.2.1) ausdrücklich mit dem Kriterium der Hörbarkeit definiert hatten, Hörbarkeit festzustellen, wird erst mit der Fregeschen Unterscheidung einsichtig. Hörbarkeit ist hier die Hinsicht, in der k als solches und als ganzes erfasst wird – und eben nicht Schwingungshaftigkeit, Sinusförmigkeit der Schwingung oder anderes.

30 Frege (1892), S. 31. 31 Künne (2010), S. 219-225.

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Auch das vielleicht pauschalst mögliche aller pauschalen Prädikationen von k ist nicht rein identifizierend, sondern hat einen konnotativen Aspekt, der auf Kosten der unendlich vielen anderen konnotativen Aspekte hervorgehoben wird. Somit ist er nicht tautologisch. (2) Hier wird k als solches und als ganzes auf einen überdeutlich extrinischen Begriff gebracht. Ob k von jemandem als Zeichen zum Aufstehen auserkoren wird oder als Zeichen zum Füttern des Meerschweinchens, ändert an den intrinsischen Eigenschaften von k nichts. Halten wir dagegen eine intrinische pauschale Eigenschaft von k wie etwa diejenige, eine Schwingung zu sein. Von dieser Differenz auf der Ebene der In- bzw. Extrinsikalität wird aber die Ebene des Sinns überhaupt nicht tangiert. Sowohl die Eigenschaft, das Zeichen zum Aufstehen zu sein, wie auch die Eigenschaft, eine Schwingung zu sein, drücken eine bestimmte und partikulare Hinsicht von k aus. Man sieht, die Ebene der Hinsicht unterläuft die Unterscheidung zwischen intrinsischen/extrinischen Klangeigenschaften. (3) Die Verwendung eines der Prädikate aus der langen Liste deutscher pauschaler Klangeigenschaftswörter der dritten Ebene zeigt an, dass auch die korrekteste Verwendung eines Worts aus der Liste bei weitem nicht die einzige korrekte Weise ist, ein Klangereignisindividuum pauschal zu charakterisieren. Mit einem Wort aus der Liste wird k hinsichtlich genau der Merkmale pauschal charakterisiert, die den Sinn des Worts konstituieren. Wie sich solch ein Set von Merkmalen aufbaut, werden wir unten sehen. Jedenfalls ist es wie alle Hinsichten eng begrenzt. Und dass eine pauschale Charakterisierung gar nicht unbedingt über einen Begriff aus der Liste der pauschalen Klangeigenschaftswörter erfolgen muss, zeigen die übrigen sechs Prädikationen. Wenn die Unterkapitel unter 2.2.2 alle Kategorien pauschaler Klangprädikate und d.h. aller Hinsichten auf Klänge abbilden wollten, müssten es unendlich viele sein: 2.2.2.n Kapitel mit n → ∞. (4) und (5) kombinieren die pauschale Klangeigenschaft des Piepens mit den partikularen Klangeigenschaften des Lauterwerdens und des Vibrierens. Diese Eigenschaften sind im Merkmalskatalog des Piepens nicht vorhanden: Es kann auch piepen, ohne lauter zu werden oder ohne zu vibrieren. (Die Kategorie »Merkmal« ist mit Bedacht gewählt, wir kommen darauf zurück.) Die partikularen Eigenschaften fügen dem Sinn von Piepen jeweils eine Nuance hinzu, die einen je eigenen Sinn ergibt. Man kann also mehrere Klangprädikate, die für sich eine eigene Hinsicht auf eine Entität ausdrücken, konjugieren und erhält damit einen neuen Sinn. Der Sinn der Konjunktion ist

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aber etwas anderes als die Summe der Hinsichten der beiden Teile. Der Sinn von (4) ist nicht ein klangliches Erfassen von k zuzüglich seines Lautstärkeverlaufs, sondern ein wechselseitiges Erfassen der Klanglichkeit aus der Hinsicht des Lautstärkeverlaufs und des Lautstärkeverlaufs aus der Hinsicht der Klanglichkeit. Die eine Hinsicht perspektiviert die je andere. Das lässt sich auch einsehen, indem man probehalber eine der jeweils konjugierten Eigenschaften mit einer Eigenschaft konjugiert, die einen anderen Sinn ausdrückt, etwa mit der Hinsicht der zeitlichen Ausgedehntheit (die in (6) genannt wird). Der Sinn des Lautstärkeverlaufs ist in dem Satz »k ist die lauter werdende Fünfminutenvariante« ein völlig anderer als in (4): Er ist nun durchdrungen von der schieren zeitlichen Ausdehnung des Klangs, und das ist nicht nur ontologisch, sondern auch in unserem phänomenalen Empfinden eine qualitativ andere Art als in (4), eine Lautstärkeentwicklung wahrnzunehmen. (Mit der Anzahl eigentlich notwendiger Kapitel unter 2.2.2 wird es damit noch schlimmer: Um alle Hinsichten auf einen Klang abzubilden, die sich aus n pauschalen und m partikularen Hinsichten bilden lassen, mit n und m → ∞, bräuchten wir nun schon 2.2.2.n·m Unterkapitel.) ❮ O n t o l o g i e i m M u s i k u n t e r r i c h t ❯ Klassische Aufgabe im Tonsatzunterricht: Komponiere ein Crescendo aus. Klassische Aufgabe im Instrumentalunterricht: Gestalte ein Crescendo. Klangphilosophischer Hintergrund: die Ontologie der pauschalen Klangprädikation.

(6) Dauern sind eine Hinsicht auf Klänge, die fest im auditiven Alltagsbewusstsein verankert ist. In welcher Tonhöhe der Wecker morgens piept, wenn man im Bett liegt, tritt oft zurück gegenüber dem schieren Andauern des Weckerklangs. Die Dauer wird oft dann singulär erfasst, wenn gegebene Dauernraster vorliegen wie hier etwa eine Einstellung, dass der Klang genau fünf Minuten lang anhält und dann endet. Aber natürlich ist die Klangdauer oft konjugiert mit nichttemporalen Klangeigenschaften. Dann gilt ontologisch, was zu (4) und (5) gesagt wurde. Die Konjunktion des Sinns des Ausdrucks mit den Verläufen von Lautstärke, Tonhöhe, Tonhaltigkeit und vielen Eigenschaften mehr ergibt jeweils ganz eigene Verlaufsstrukturen und damit Hinsichten. (7) Hier wird ein Sinn von k ausgedrückt, der von der Schwingungsmechanik her kommt. Der Klang wird aufgefasst als eine Überlagerung von Schwingungen unterschiedlicher Frequenz, die mathematisch beschreib- und analysierbar ist. Auch von dieser Hinsicht her können Klänge als ganze und

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als solche erfasst werden. (Dazu sind viele dicke Bücher geschrieben worden. Wir können mangels Platz und mangels tieferer mathematischer Kenntnisse diesem Sinn von Klang nur einen ontologischen Platz zuweisen: in 2.2.2.n·m.) Der vollständige sprachliche Ausdruck der Hinsicht auf ein Klangindividuum sei bezeichnet als der Begriff des Klangindividuums. Alle Ausdrücke in den Sätzen (1) bis (7) in Leserichtung ab dem Wort »ist« sind Begriffe. Und zwar sind sie jeweils ein Begriff, selbst wenn in ihm mehrere konjugierte Eigenschaften enthalten sind. Daraus ergibt sich auch, warum es sinnvoll ist, Begriff und Eigenschaft ontologisch auseinanderzuhalten. Begriffe sind der prädikative Komplex, in dem eine Hinsicht auf einen Gegenstand zum Ausdruck kommt. Hinsichten erfassen den Gegenstand insgesamt, als solchen und als ganzen, wie wir trotz allem Geschmack von Redundanz stets hinzufügen. Sie erfassen ihn als solchen und als ganzen über einzelne oder allenfalls ein paar wenige konjugierte Eigenschaften. Das ist nicht logisch falsch und nicht paradox, die menschliche Intentionalität ist eben so gestrickt, dass sie das beständig tut. Es spielt letztlich auch keine Rolle, ob der Begriff, mit dem ein Klang charakterisiert wird, semantisch aus pauschalen Eigenschaften der langen Liste oder nur aus partikularen besteht. Es wird sprachlich im Deutschen etwas holprig, aber es ist logisch einwandfrei, aus den Begriffen (4) und (5) die pauschalen Prädikate zu entfernen und nur mit den partikularen einen Begriff eines Klangindividuums zu bilden: (4a) (5a)

»Das ist ein Lauterwerden.« »Das ist ein Vibrieren.«

Im Begriff des Lauterwerdens steckt die Eigenschaft, lauter zu werden, im Begriff des Vibrierens die Eigenschaft, zu vibrieren, ebenso wie im Begriff des Piepens die Eigenschaft zu piepen und im Begriff des Donners die Eigenschaft zu donnern steckt. Allenfalls ist die Merkmalsliste der Begriffe, die aus pauschalen Klangeigenschaften gebildet werden, etwas länger als diejenige von Begriffen aus partikularen Klangeigenschaften. Ob eine Eigenschaft pauschal oder partikular verwendet wird, hängt also nicht an ihr selber, sondern an ihrer Verwendung. Es hängt an einer phänomenalen Entscheidung, die im prädikativen Akt getroffen wird. Der prädikative Akt kann so strukturiert sein, dass er über die Prädikation das Individuum insgesamt intendiert. Er hat, wie gesagt, die Form »k ist ein F«. In diesem Fall ist der Begriff ein pauschaler Begriff. Der prädikative Akt

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kann aber auch so strukturiert sein, dass er nicht das Individuum als solches intendiert, sondern das Individuum lediglich als Zeit-Ort der Individuierung einer bestimmten Eigenschaft benötigt, um vielmehr die Eigenschaft als solche zu intendieren. Er hat dann die Form »k ist F«, und der Begriff von F ist ein partikularer Begriff. Was all das ontologisch für den partikularen Fall heißt, erörtern wir in 2.2.3. Hier geht es nur um den pauschalen. Die Überlegung stellt aber klar, dass sich die Unterscheidung zwischen Pauschalität oder Partikularität einer Klangeigenschaft nicht am einzelnen Prädikat abzeichnet, sondern am Akt der Prädikation. Daher gilt: Die Unterscheidung zwischen pauschalen und partikularen Klangprädikationen liegt auf der phänomenologischen Ebene. Um nicht abermals das Missverständnis heraufzubeschwören, damit sei das Unternehmen Klangontologie mindestens in seinem eigenschaftlichen zweiten Kapitel auf die Seite der Phänomenologie gekippt, ist es vielleicht nützlich klarzustellen: Ob die Prädikation eines Klangs pauschal oder partikular ist, genau das und nur das ist eine phänomenologische Angelegenheit. Und mit der phänomenologischen Entscheidung wird einzig und allein ein phänomenaler Aspekt in der pauschalen Prädikation verdeutlicht. Die Hinsicht, in der ein Klangquellenindividuum gegeben ist, schwingt in einer pauschalen Prädikation mit, ohne dass sie sich darin erschöpfte. Denn die pauschalen Begriffe konstituieren sich je durch Eigenschaften, und von denen wollen wir ausdrücklich nicht sagen, dass sie nichts weiter als eine phänomenale Hinsicht auf den Klang bezeichneten. (Wer das doch sagen zu müssen glaubt, ist Nominalist oder Psychologist, seine Klangontologie sähe völlig anders aus und seine Probleme wären andere. Man vergleiche, wie Frege in der erwähnten Abhandlung die Kategorie Sinn gegen eine psychologische Deutung verteidigt.) Wenn Eigenschaften den Sinn eines Begriffs konstituieren, nehmen sie die Funktion eines Merkmals ein. Wofür diese scheinbar unnötige terminologische Dopplung gut ist, wird einsichtig, wenn wir betrachten, aus welchen prädikativen Komponenten der Begriff in (4) konstituiert ist: aus den Merkmalen »wird lauter« und »ist ein Piepen«. Wie dargelegt, gibt es bei der Sinnkonstitution keinerlei ontologische Hierarchie zwischen den Komponenten. Das pauschale Prädikat ist dem partikularen nicht vorgeordnet. Beide Komponenten durchdringen einander auf ein und derselben Ebene. Beide verdienen daher die gleiche Funktionsbezeichnung: sie sind in identischer Weise Merkmale des mit (4) ausgedrückten Sinns von k.

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Jenseits der Konstituierung dieses Sinns von k betrachtet sind sie aber unterschiedlich: »Wird lauter« ist für sich genommen kein Begriff (obwohl es, wie in (4a), zum alleinigen Merkmal einer Begriffsbildung werden kann), »ist ein Piepen« aber sehr wohl. Manchen Merkmalen von Begriffen liegen also Eigenschaften zugrunde, manchen Merkmalen wiederum Begriffe. Damit ist man auf der Ebene der Prädikate von Prädikaten angekommen. Von den Logikern wird das als Prädikat zweiter Stufe bezeichnet; erststufige Prädikate sind solche, die etwas von einem Individuum aussagen. In dem Sinn, den (3) ausdrückt, ist »ist ein Piepen« ein Begriff erster Stufe. In dem Sinn, den (4) und (5) ausdrücken, ist es ein Begriff zweiter Stufe – und zwar in (4) und (5) derselbe. (Kein Psychologismus, kein Subjektivismus!) Man kann ihn selbstverständlich wiederum nach Merkmalen analysieren. Begriffe sind also reduzibel auf Merkmale, die ihren Sinn konstituieren. Merkmale sind nicht weiter reduzibel auf prädikativ enger begrenzte sinnkonstituierende Komponenten – auf enger begrenzte Eigenschaften sehr wohl, die dann aber nichts mehr zur Sinnkonstitution beitragen. ❮ U n k r a u t a u f d e n K l a n g w o r t f e l d e r n ❯ Für das Verständnis der pauschalen Klangeigenschaftswörter in den obigen deutsch- und englischsprachigen Listen (2.2.1) ist die ontologische Struktur von Begriff und Merkmal der Schlüssel. In drei methodische Schritte ausbuchstabiert: Erstens ist zu entscheiden, ob eine gegebene Prädikation eines Klangs pauschal ist oder nicht. Manifestiert sich in der Prädikation ein Sinn von k, ist sie pauschal. Zweitens ist auf Basis dieser Entscheidung eine semantische oder grammatische Untersuchung der Prädikation sinnvoll. Nota bene, auf dieser Basis. Drittens ist das Set der Merkmale zu bestimmen, das den Sinn der Prädikation konstituiert. – Auf diese Weise können Wortfelder untersucht werden, mit denen in einer vernakulären Sprache die Klanglichkeit eines bestimmten Klangbereichs (meist sind das Klangquellentypen wie zum Beispiel Tierstimmen32, die menschliche Stimme33, Autos oder Musikinstrumente) benannt wird. Wenn man dazu nur die Probanden befragt, sei es durch Interviews 34, sei es über ihre Texte, bleibt der erste Schritt im Unklaren. Das macht die Durchführung der weiteren Schritte so gut wie unmöglich. Sie erschöpfen sich typischerweise in statistischen Analysen, wie häufig in einer bestimmten Situation welches Prädikat mit welchem anderen korreliert ist. Daraus wird dann in hermeneutischen Interpretationen etwas gewonnen,

32 Tembrock (1977). 33 Für das Englische: Fischer (2004). 34 Beispielsweise Kühler (2012).

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dessen ontologischer Status ziemlich im Trüben bleibt: der Bewusstseinsgehalt des Probanden? eine typische intentionale Einstellung zu einer Klangentität? der Sinn des Prädikats? Wie die Schwierigkeiten konkret aussehen, sei an einem Beispiel verdeutlicht, das Fischer erörtert.35 Das englische Partizip »droning«, von dem das etymologisch verwandte deutsche »dröhnen« eine recht unvollkommene Übersetzung ist, wird in den Wörterbüchern über die Eigenschaften »humming« und »buzzing« (»brummen« und »summen« in wiederum unvollkommener Übersetzung) und »monotonous« definiert. Von da aus wird sogar eine emotionale Eigenschaft (»boring«) assoziiert. Derartige Bestimmungen des semantischen Felds mithilfe von Wörterbüchern sind der Musterfall einer Merkmalsbestimmung diesseits der Sprache. Die Begriffe erklären sich durch andere Begriffe. Aber lassen sich damit die Begrifflichkeit von »droning« und ihre Merkmale im ontologischen Sinn aufschlüsseln, was ja hieße, die Hinsichtlichkeit, die mit der Verwendung von »droning« auf einen Klang eingenommen wird, und seine sinnkonstituierenden Merkmale aufzudecken? Fischer zitiert als Belegstelle u.a. diesen Satz: »Most nurses droned to their patients – a steady changeless voice intend on producting sleep.« 36 Die Eigenschaften »steady« und »changeless« weisen, so Fischer, auf die Monotonie, die »droning« insgesamt eigen sei. »Steady« und »changeless« wären demnach Merkmale (2. Stufe) des Begriffs der »Monotonie« (1. Stufe), der seinerseits ein Merkmal des Sinns wäre, welcher sich mit »droning« ausdrückte. Vor dem Hintergrund unserer obigen Überlegungen ist das keine plausible Analyse. »Monotonous«, »steady« und »changeless« sind vielmehr selber Begriffskomponenten, die mit »droning« je nach Wortlaut der Aussage zu einem Gesamtbegriff konjugiert werden, dessen Merkmalsstruktur durch keine anderen Begriffe reformuliert werden kann. Man könnte sich sehr wohl »droning« als alleinigen Begriff vorstellen und erhielte schon intuitiv einen anderen Sinn als mit den konjugierten Ausdrücken »monotonous droning«, »steady droning« oder »changeless droning«. Die eiserne logische Regel, dass ein Ding, das unter einen Begriff 1. Stufe fällt, auch unter dessen Merkmale 2. und n. Stufe fällt, ist hier nicht mit letzter Sicherheit anwendbar – und damit ist klar, dass die Semantisches-FeldAnalysen zu der Art und Weise, wie ein pauschales Klangprädikat wie »droning« k pauschal und d.h. als Begriff charakterisiert, nichts beitragen. Über die Merkmalsstruktur von »droning« sagen die semantisch assoziierten Eigenschaften vermutlich etwas diffus Halbrichtiges, sicherlich aber auch einiges Falsche. Es bleibt damit kein anderer Weg, als die Merkmalsstruktur eines Begriffs über den Begriff selber zu erhellen: durch logische Analyse (so das Vorgehen im Fallbeispiel des nächsten Kapitels 2.2.2.3) oder durch

35 Fischer (2004), S. 307ff. 36 John Irving: A Widow for One Year (1998), zit. von Fischer (2004), S. 308.

198 | Kapitel 2

empirisches trial and error an dem Prüfstein, ob ein Ding, das unter den Begriff fällt, immer auch unter sein hypothetisches Merkmal fällt. Nach einer ähnlichen Methode wie Fischer eruiert Anke Grutschus Klangprädikationen für musikalische Klänge in lateinischen und französischen Quellen des Mittelalters und der Frühneuzeit.37 Die Prädikate für den als »Tonkörper« bezeichneten musikalischen Klang sortiert sie gemäß der semantischen Assoziierungen, wie sie in den Texten zu finden sind, nach den Feldern Dichte, Härte, Gewicht, Schärfe, Textur, äußere Form, Klangfarbe, statische/dynamische Lichtqualitäten, Farbcharakterisierungen. Die ontologische Klärung der Merkmalsstruktur ist hier ebenso unmöglich wie bei Fischer. – Es sei denn, man unterstellt derartigen Forschungen einen konsequenten Nominalismus. Dann ergeben sie mit einem Mal einen Sinn. Der Nominalismus ist das Credo aller Erforschung prädikativer Strukturen von Gegenstandsbereichen diesseits der Sprache. Ob es die Forscher ausdrücklich beten oder überhaupt nicht wissen, dass sie dieser philosophischen Überzeugung anhängen, ändert nichts an der Sache. Erst wenn man der Meinung ist, dass einem Individuum, einem Ton etwa, seine Eigenschaften (n. Stufe!) ausschließlich per sprachlicher Konvention zu- oder abgesprochen werden, bringen Wortfelduntersuchungen einen Erkenntnisgewinn. Man kann sich dann auch alle umständlichen Überlegungen zur Differenz von Sinn und Bedeutung sparen: Der Sinn eines per Sprachkonvention legitimierten Klangprädikats ist schon die Bedeutung. Es lässt sich nicht leugnen, dass dem Nominalismus als der »spontanen Philosophie« des Konstruktivismus,38 der Sachverhalte wie Stimm- oder Tonklangeigenschaften als sprachgezeugte kulturelle Konstrukte auffasst, gerade in den heutigen sound studies der Erfolg eines ungeahnten Mainstreamings beschieden ist.

Mit diesen Überlegungen ist das Feld bereitet für eine exemplarische Analyse. Ich wähle einen Sinn-Bereich, der bei der pauschalen Charakterisierung von Klängen im alltäglichen Dasein eine große Rolle spielt, die Ebene der dauernbezogenen Verläufe eines Klangs. (Man ahnt die begriffliche Struktur schon: es geht um einen Dauernbegriff ähnlich wie in (6), konjugiert mit weiteren Merkmalen.) Damit habe ich eines von den n·m Unterkapiteln von 2.2.2 herausgegriffen, die eigentlich zu schreiben wären.

37 Grutschus (2009), S. 199ff. 38 Noch einmal zitiert: Badiou (1988), S. 323.

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2.2.2.1

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Fallbeispiel: Klangverläufe

Wir finden den Sinn von Klängen nicht ex cathedra und durch Ontologisieren. Sinn zeigt sich in einer Hinsicht auf ein Individuum, die jemand faktisch eingenommen hat. Das dokumentiert sich zunächst in Aussagen. Notieren wir daher einige, wobei wir sie in die Liste von Sätzen aus dem obigen Kapitel einreihen, in denen sich ein Sinn von k ausdrückt. Wir beginnen mit meinem eigenen obigen Satz (6), in dem sich ein dauernbezogener Sinn von k artikuliert, und fügen einige Sätze mit Dauernbezug aus der Literatur an. (6) (6a) (6b)

(6c) (6d)

»Das ist die Fünfminutenvariante.« »Mir war, als ging ein mächtiges, unendliches Geschrei durch die Natur.«39 »Zarathustra schwieg abermals und horchte: da hörte er einen langen, langen Schrei, welchen die Abgründe sich zuwarfen und weitergaben, denn keiner wollte ihn behalten: so böse klang er.«40 »Und ewig singen die Wälder.«41 »Magister: Modus, qui pes est? Discipulus: Pyrrichius. Magister: Quot temporum est? Discipulus: Duum.«42 (Übersetzung R.B.: »Lehrer: Welcher Versfuß ist das Wort ›Modus‹? Schüler: Pyrrichius. Lehrer: Wie viele Zeiteinheiten hat er? Schüler: Zwei.«)

In wörtlich zitierten Satzgestalten wie diesen ist der Sinn eines Klangs meist schwer erkennbar. Anders als in den obigen Sätzen ist der Begriff des Sinns

39 Edvard Munch zu seinem Bild Der Schrei. Das Zitat geht auf einen Tagebucheintrag Munchs am 22.1.1892 zurück. Von dem Zitat existieren unterschiedliche deutsche Versionen. Die zitierte findet sich bei Arnold (1986), S. 45, der sie von Timm (1979), S. 71 übernimmt. 40 Nietzsche (1883), S. 297. 41 So lautet der deutsche Titel eines Erfolgsromans von Trygve Emanuel Gulbranssen aus dem Jahr 1933. 42 Augustinus: De musica, I 1, Beginn. Die Abhandlung entstand um das Jahr 389.

200 | Kapitel 2

nämlich nicht identisch mit den Prädikaten, die der Autor sprachlich jeweils verwendet hat. Bevor wir die Merkmalsstruktur des Sinns analysieren können, der in den Sätzen auf einen Begriff gebracht wird, müssen wir den Begriff erst einmal explizieren. Dafür bringen wir die wörtlichen Zitate auf eine begriffliche Normalform, in der wie oben der Begriff mit dem reformulierten Satz ab dem Wort »ist« genannt wird. Satz

Begriff

Ereigniselemente Merkmale von k (B = Begriff, E = Eigenschaft)

(6)

k ist die Fünfminutenvariante



1. Dauernraster (E) 2. Verlaufsform (B)

(6a)

k ist ein mächtiges und ein unendliches Geschrei

Natur

1. Schreien (B) 2. Verlaufsform (B)

(6b)

k ist ein langer Schrei

Abgründe

1. Schreien (B) 2. Verlaufsform (B)

(6c)

k ist ein ewiges Singen

Wälder

1. Singen (B) 2. Verlaufsform (B)

(6d)

k ist ein zwei — Dauerneinheiten lang erklingendes Wort

1. Sprechen (B) 2. Dauernraster (E) 3. Verlaufsform (B)

In den originalen Sätzen (6a), (6b) und (6c) finden sich Informationen über Dinge, die (gemäß der Ereignisontologie von 1.2.3) Elemente des Schwingungsereignisindividuums k sind. Damit soll klargestellt sein, dass sie nicht zum Begriff von k gehören. Sie sind in der Spalte »Ereigniselemente von k« gelistet. Im Romantitel von Gulbranssen sind die »Wälder« ziemlich leicht als k erkennbar. In Nietzsches Satz könnte man die »Abgründe« beim ersten Lesen vielleicht der Hinsicht als eines ihrer Merkmale zuschlagen. Die Verfechter einer »located event theory«, die wir in 1.2.1 erörtert haben, hielten das sogar für richtig. Für sie würde nämlich das Ereignisindividuum dort enden, wo die schreiende Person endet. Welche absurden Auswirkungen

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das auf die Analyse der pauschalen Klangeigenschaften hätte, kommt nun zum Vorschein. Weil die »Abgründe« als Resonanzräume nach jener Theorie nicht Element von k sein dürfen, werden sie zwangsläufig zu einem Merkmal des Sinns von k. Ist das plausibel? Sinn des Fregesche Sinns ist es, durchsichtig zu machen, dass es so viele Sinne einer Entität geben kann, wie es intentionale Bezugnahmen auf sie gibt. Konstituiert das Merkmal der »Abgründe« eine solche partielle Bezugnahme? Dann müsste Zarathustra von ihnen abstrahieren und k auch in einer Weise auffassen können, in der das Merkmal nicht vorkommt. Aber ihm bleibt gar keine andere Wahl, als die Klangeigenschaften, die durch die Geometrie des Schwingungsereignisses zustande kommen, mit dem Klang und als den Klang zu hören. Er charakterisiert den Klang über die Abgründigkeit auch nicht als solchen und als ganzen, obwohl man das mit einer entsprechenden Formulierung (»ist ein Abgrundschrei« oder ähnlich) auch tun könnte. Bei Munchs Satz erhält meine ontologische Auffassung sogar Schützenhilfe von der neueren kunstgeschichtlichen Forschung. In älteren Deutungen von Munchs berühmtem Bild glaubte man, es sei die abgebildete Person mit offenem Mund auf einer Bücke stehend und sich die Ohren zuhaltend, die schreie. Munch malte aber offenbar eine Person, die mit aufgerissenem Mund stumm dasteht und sich aus Schutz vor einem Schrei die Hände an die Ohren hält. Von wo der Schrei seinen Ausgang nahm, wird im Bild also gar nicht dargestellt; welche Elemente ins Klangereignis einbegriffen sind, dagegen sehr wohl: alles nämlich, was auf dem Bild zu sehen ist. Das spricht dagegen, dass die Entitäten Natur (6a), Abgründe (6b) und Wälder (6c) begriffskonstitutive Merkmale sind. Anders bei den Entitäten des Schreiens (6a und 6b), des Singens (6b) und des Sprechens (6c – diese Entität kommt bei Augustin expressis verbis nicht vor, ergibt sich aber in der begrifflichen Reformulierung): Sie sind entscheidende Komponenten und ergo Merkmale der Hinsicht, die sich in den Begriffen ausdrückt. Legen wir noch einmal den Grund offen, der sich andeutungsweise schon im vorigen Kapitel ergeben hatte. Sich über den Weg einer pauschalen Klangeigenschaft auf einen Klang zu beziehen ist schlicht und einfach nicht zwangsläufig. Man könnte es auch über den Weg eines Handlungsgrunds (2) oder einer Dauernangabe (6) tun. Wie kontingent die Hinsichten der pauschalen Klangeigenschaften sind, würde noch deutlicher werden, analysierte man deren Merkmale. Es würden die sprachlichen Bedingtheiten zutage kommen, wie wir sie schon andeutungsweise bei der

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Problematik des Übersetzens der deutschen in englische pauschale Klangprädikate und umgekehrt erwähnten; es würde der Zusammenhang zwischen der Onomatopoetik des Klangprädikats (die von den Möglichkeiten der Lautbildung in den einzelnen Sprachen limitiert wird) und den Klangeigenschaften des Klangs selber zutage kommen; es würde der Zusammenhang zwischen pauschalem Klangprädikat und Klangquelle zutage kommen, der zum Beispiel den Begriff des Sprechens prägt. Aus allen diesen Zusammenhängen, die ich hier recht freihändig zusammenlese (und die eingehende Spezialstudien wert wären), bildet sich das Merkmalsset, das die Hinsichten der Begriffe des Schreiens, Singens und Sprechens jeweils konstituiert. Schreien, Singen und Sprechen sind in den Sätzen (6a) bis (6d) also konstituierende Merkmale des jeweiligen Gesamtbegriffs, wie er in der Tabelle formuliert ist. Zudem sind sie selbst Begriffe mit einer jeweiligen Merkmalsstruktur, also vom Gesamtbegriff her gesehen Begriffe zweiter Stufe. Ob sich unter ihren Merkmalen wiederum Begriffe (dritter Stufe also) finden, wäre wieder eine interessante Frage für die Spezialstudien, ist aber ziemlich wahrscheinlich. Das sind nun alles lediglich Vorüberlegungen zu dem Thema, auf das dieses Unterkapitel hinaus will. Die pauschalen Klangeigenschaften in (6a) bis (6d) sind verflochten mit einem weiteren Merkmal, mit dem verschränkt sie den Sinn ihres Satzes konstituieren: dem Merkmal des Andauerns des Klangs in je bestimmter Weise. In (6b) klingt k lang, in (6a) unendlich, in (6c) ewig und in (6d) zwei Dauerneinheiten lang. Warum liegt mit diesen Dauernangaben überhaupt ein Merkmal des jeweiligen Sinns vor? Sind Klangereignisindividuen nicht per se, gemäß ihrer Bedeutung also und nicht ihrem Sinn, zeitlich ausgedehnte Entitäten? Das sind sie, und dennoch kann die zeitliche Ausdehnung als Komponente in eine Hinsicht eingehen (6a bis 6d), sogar die alleinige Hinsicht bilden (6) oder überhaupt nicht im Sinn von k auftauchen (1 bis 5 und 7). Angenommen, Gulbranssens Buch hieße »Und es singen die Wälder«. Das Merkmal des Singens in dem Sinn, in dem ein k mit diesem Titel gegeben wäre, wäre dann gewissermaßen der Sinnbestandteil, der für einen beliebigen Zeitpunkt der zeitlichen Erstreckung von k gilt. Es würde in diesem Titel nirgends angedeutet, dass für irgendeinen Zeitpunkt, an dem k klingt, der Sinn des Singens nicht gegeben wäre. Aber das ist trotzdem etwas anderes als ein »ewig« als Singen gegebenes k. Hier müssen wir uns an die zwei möglichen Zeitlogiken des Zustands und des Vorkommnisses erinnern, die wir in 1.2.2 für die Zeitextension von Klängen

Eigenschaften

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herausgearbeitet haben. In der Titelvariante »Und es singen die Wälder« entspräche die Zeitlogik des Sinns des Singens dem Zustand. Im tatsächlichen Titel mit dem Wörtchen »ewig« entspricht sie hingegen der Zeitlogik des Vorkommnisses. Der Teilsinn von »ewig« beinhaltet, dass der konjugierte Teilsinn des Singens von einem beliebigen Zeitpunkt der Extension von k aus gesehen für beliebig viele nach hinten und vorn angrenzende Zeitpunkte auch gilt. Dasselbe ist vom synonymen »unendlich« in (6a) zu sagen. Der Teilsinn von »ewig« und von »unendlich« vernäht den zustandsbezogenen Teilsinn des Singens in spezifischer Weise zwischen allen Zeitpunkten des Klangereignisses. Das Resultat im Gesamtsinn ist der vorkommnishafte Sinn des Singens. Das ist ein gewaltiger Unterschied zu dem bloß zustandsbezogenen Sinn. Ziehen wir eine Zwischenbilanz. Der Teilsinn, der mit den Dauernangaben »lang«, »unendlich«, »ewig« und »zwei Dauerneinheiten lang« ausgedrückt wird, ist eine Vorkommnisstruktur des konjugierten Teilsinns (»Schreien«, »Singen«, »Sprechen«) in jeweils spezifischer Form. Die Dauernangaben sind die Spezifizierungen der Vorkommnisstruktur. Damit ist die Merkmalsstruktur des Teilsinns, den die Dauernangaben ausdrücken, aber noch nicht vollständig aufgeklärt. Denn mit der unendlichen Länge von k bei Munch, der Länge von k bei Nietzsche und der Ewigkeit von k bei Gulbranssen dokumentiert sich ja eine gewisse Ähnlichkeit in der Vorkommnisstruktur, ein langes und d.h. über einen langen Zeitraum unverändertes Andauern des konjugierten Teilsinns. Der Unterschied liegt nur darin, dass der lange Zeitraum bei Nietzsche irgendwo doch eine Begrenzung, einen Anfang und ein Ende, hat, während er bei Munch und Gulbranssen unendlich lang währt. Die Vorkommnisstruktur des k im Augustin-Zitat ist schon auf der Ebene der Veränderlichkeit von den übrigen drei Vorkommnisstrukturen unterschieden, sie deutet nämlich auf eine Veränderlichkeit des konjugierten Teilsinns, und zwar eine, die in bestimmten identisch langen Dauerneinheiten erfolgt. Man bemerkt also, dass sich der Sinn der Verlaufsstruktur des Klangs auf verschiedenen Ebenen bilden kann. Das Prinzip der Sinnbildung ist dabei immer dasselbe. Der Verlauf strukturiert sich dadurch, ob eine Veränderung der zustandsbezogenen Klangeigenschaften erfolgt oder nicht. Sowohl bei einem unveränderten als auch bei einem veränderten Klang greift das Prinzip der Sinnbildung erneut, beim veränderten Klang sogar ein drittes Mal. Das führt zu folgender Gliederung in Teilmerkmale:

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Ein Klangverlauf kann, und das ist das erststufige Merkmal, als verändert (ja/nein) aufgefasst werden. Die verneinte Verändertheit des Klangs, also Unverändertheit, kann ihrerseits wieder als verändert (j/n) begriffen werden, allerdings nur noch in einer sehr eingeschränkten Weise: Die einzig mögliche Veränderung an einem in sich unveränderten Klang besteht darin, dass er anfängt und/oder endet. Die verneinte Unverändertheit eines unveränderten Klangs ist das Gegenstück, ein als immer und ewig klingend aufgefasster Klang. Noch einmal lässt sich die Unterscheidung unverändert/verändert nicht anwenden. Damit ist die linke Hälfte der Merkmalsstruktur der Klangdauer komplett. Auf der rechten Hälfte entfalten sich die Möglichkeiten der bejahten Veränderung des Klangs auf erster Stufe. Die Veränderung des Klangs kann selbst verändert (j/n) sein. Ist sie unverändert, zieht sie sich also ohne Unterbrechung durch die gesamte Klangdauer, ist sie transient. Das Gegenstück, die Veränderung der Veränderung des Klangs, ist die persistente Veränderung, bei der sich die Veränderung nur über eine Teildauer des Klangs erstreckt, ab der sich dann irgendetwas wiederholt. Auf die transiente Veränderung eines Klangs kann die Unterscheidung verändert (j/n) nicht mehr angewendet werden. Auf der Seite der persistenten Veränderung aber ergibt sich noch eine Teilmerkmalebene vierter Stufe. Die persistente Veränderung kann wiederum verändert (j/n) sein. Bleibt sie unverändert, erfolgt sie folglich periodisch. Verändert sie sich, erfolgt sie aperiodisch.

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Es muss klargestellt sein, auf was genau das Unterscheidungskriterium unverändert j/n angewandt werden kann. Wir wollen darunter das Kriterium verstehen, ob alle psychoakustischen Klangparameter (vgl. 2.2.3.2) über den jeweiligen Teil der Klangdauer (erststufig also über die gesamte Klangdauer, höherstufig über den jeweils veränderten oder unveränderten Teil) als unverändert j/n wahrgenommen werden. Ob sie tatsächlich unverändert sind, steht auf einem anderen Blatt, dem Blatt der partikularen Klangeigenschaften (2.2.3). Hier aber sind wir im Feld der pauschalen Klangeigenschaften, und pauschal heißt immer auch phänomenal. Ob zum Beispiel ein Klang begrenzt oder unbegrenzt lang klingt, ist eine phänomenale Tatsache. Nach den Grundgesetzen der Thermodynamik und »From God’s Perspective« (um einen Songtitel von Bo Burnham zu zitieren) hört sich die Sache anders an. Die konkreten Begriffe der langen Dauer, der ewigen Dauer und der rastrierten Dauer können nun als Spezifizierungen der Teilmerkmale der Verlaufsförmigkeit eines Klangs verstanden werden. Wenn man (mit Freges Funktionenförmigkeit von Eigenschaften gesprochen) so will, sind die konkreten Begriffe im Sinn der Verlaufsförmigkeit eines Klangs konkrete Quantitäten, die in die Variablenstelle der Teilmerkmale auf der untersten Ebene eingesetzt werden. Die Sätze (6) bis (6d), in denen explizit Dauernbegriffe vorkommen, decken leider nicht alle Teilmerkmale auf dieser feinsten Ebene ab. Ich nehme daher noch ein weiteres Beispiel hinzu, eine Passage aus Ludwig Ganghofers Roman Das Schweigen im Walde, 1899 geschrieben und voll von Beschreibungen von Geräuschen im Wald und auf dem Berg. (7) »Am Brunnen klapperte der Schwengel, das Wasser plätscherte, im Kiese knirschten die schweren Schritte der Magd, und nun ließ sich das leise Brausen des über die Blumen fallenden Sprühregens vernehmen. Dann war’s still im Garten; nur noch das Gemurmel der Quelle im Wasserbecken.«43 Die vier Begriffe, in denen sich der Sinn des Klangs ausdrückt, sind hier: (7’) k ist ein Klappern (7’’) k ist ein Plätschern (7’’’) k ist ein Knirschen

43 Ludwig Ganghofer: Das Schweigen im Walde (1899), 18. Kap., S. 268.

206 | Kapitel 2

(7’’’’) k ist ein Brausen (7’’’’’) k ist ein Murmeln Wird hier überhaupt ein dauernbezogener Teilsinn ausgedrückt? Es tauchen ja keine expliziten Dauernbegriffe auf. Beim Klappern und Knirschen ist das am Wortlaut in der Tat nicht entscheidbar. Bei den Wassergeräuschen kann es durchaus vermutet werden. Ganghofer beschreibt mit »Klappern« und »Plätschern« zwei verschiedene Wassergeräusche, die sich gleichzeitig ereignen, räumlich nahe beieinander sind und in ein und demselben Wahrnehmungsakt intendiert werden; in einem separierten Wahrnehmungsakt folgt dann »Murmeln«. Der erste intentionale Akt beinhaltet also einen Vergleich der beiden Geräusche, der auf irgendeiner begrifflichen Ebene stattfinden muss. Meine – in einem fiktionalen Text freilich nicht überprüfbare – Hypothese lautet, dass diese unausgesprochene begriffliche Ebene die Dauernstruktur der Wasserklänge ist. Überhaupt geschieht die Unterscheidung von Wassergeräuschen, bei denen wir keine parallele visuelle Anschauung haben, oft über die Dauerneigenschaften ihrer Klangelemente. Die Dauerneigenschaften werden kaum je explizit benannt, weil sie implizit in den pauschalen Klangprädikaten von Wassergeräuschen schon enthalten sind und sich in der Wahl eines bestimmten pauschalen Wasserklangprädikats ausreichend manifestieren. (Das für pauschale Wasserklangprädikate aufzuzeigen wäre eine schöne Aufgabenstellung der angewandten Klangontologie.) Die Hypothese einmal akzeptiert, können die Begriffe der Sätze (6) und (7) als konkrete Einsetzungen in die Leerstellen der Teilmerkmale auf der untersten Ebene aufgefasst werden, und zwar wie folgt: Begrenzungsform unbegrenzt: – ewiges Singen (6c) – unendlich langes Schreien (6a) Begrenzungsform begrenzt – langes Schreien (6b) – Brausen (7’’’’) Veränderungsform transient: – Knirschen (7’’’) Periodizität aperiodisch: – Plätschern (7’’)

Eigenschaften

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– Murmeln (7’’’’’) Periodizität periodisch: – Klappern (7’) – Sprechen in Versfüßen (6d)

2.2.3

Partikulare Klangeigenschaften und ihre Eigenschaften

In den Überlegungen zur Ontologie der pauschalen Klangeigenschaften (2.2.2) kam zutage, dass das Pauschale oder Partikulare der Prädikation eines Klangs sich an den verwendeten Eigenschaften selber gar nicht zeigt. Es zeigt sich erst im Akt ihrer prädikativen Verwendung. Mit ein wenig Willen zur grammatischen Umständlichkeit können Klangeigenschaften, die wir als partikular aufgefasst haben, ein Klangindividuum auch pauschal charakterisieren. Erinnert sei an die partikulare Eigenschaft eines k, fünf Minuten lang zu dauern, die wir unelegant, aber semantisch wirkungsvoll zur pauschalen Fünfminutenvariante umgebogen haben. Zugleich mussten wir feststellen, dass selbst die abstraktesten pauschalen Klangeigenschaften (der ersten Ebene) gewisse semantische Konnotationen haben. Auch sie erfassen den Klang nur in einer bestimmten Hinsicht. Hier wie dort liegt also eine Hinsichtlichkeit vor, die wir, um klarer zu sehen und zu hören, ontologisch noch schärfer gegeneinander profilieren müssen. Im Fall der pauschalen Verwendung verweist eine Klangeigenschaft auf das Klangereignisindividuum als solches. Das Weckerklingeln zum Beispiel erscheint in einer bestimmten Hinsicht, etwa einer Dauernhinsicht (Fünfminutenvariante) oder einer pauschalen Klangcharakteristik der dritten Ebene (Piepsen). Durch diesen Sinn, wie wir das mit Frege genannt hatten, hindurch wird auf das Klangereignisindividuum k als solches referiert. k ist daher, wieder mit Frege, die Bedeutung jeder pauschalen Klangprädikation von k. Auf was aber referiert eine partikulare Klangeigenschaft? (1) (1’) (2) (2’)

k dauert fünf Minuten. l dauert fünf Minuten. k ist laut. l ist laut.

208 | Kapitel 2

(3) (3’)

k hat einen maximalen Schalldruck von 0,02 Pascal. l hat einen maximalen Schalldruck von 0,02 Pascal.

Diese Eigenschaften heben bestimmte und beschränkte, eben partikulare Aspekte an den Klangindividuen k und l heraus. Nicht k oder l als solche und als ganze, sondern nur das Ob und Wie des Individuiertseins einer bestimmten Eigenschaft an k und l steht im Interesse der Prädikationen. Jede Individuierung ist individuell; die fünf Minuten, das Lautsein und das Schalldruckmaximum haben bei k jeweils eine andere Charakteristik als bei l. Das jeweilige Wie der Individuierung ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist, dass es sich um ein und dieselbe Eigenschaft, fünf Minuten lang zu dauern, handelt, die in k und in l individuiert ist. Dito die Eigenschaften in (2) und (3). Durch die je unikate Individuierung ist es also auch das Interesse einer partikularen Klangprädikation, ein bestimmtes Klanguniversale zu benennen, das da individuiert ist. k und l gleichermaßen individuieren das Universale des Dauerns (1) als solches, das Universale des Lautseins (2) als solches, das Universale des Schalldrucks (3) als solches. Klangeigenschaften als solche und ihr Individuiertsein in k – darin liegt das Interesse einer partikularen Klangprädikation. Im Unterschied dazu lag das Interesse einer pauschalen Prädikation in k als solchem. Nur weil wir bei einer pauschalen Prädikation stets durch die Eigenschaft auf k hin(durch)sehen, mussten wir in 2.2.2 die Hinsichtlichkeit oder Phänomenalität der pauschalen Klangprädikate thematisieren. Nur in der Hinsicht auf k ergab die Fregesche Kategorie des Sinns Sinn: Das pauschale Prädikat drückt einen Sinn von k aus. Wenn sich in einer partikularen Klangprädikation die Intention dagegen auf die Eigenschaft richtet, wechseln die Fregeschen Kategorien Sinn und Bedeutung den Inhalt. Der Sinn der in (1) bis (3) genannten Klangprädikate besteht nun darin, das jeweilige Wie des Individuiertseins der Universalien des Dauerns, des Lautseins und des Schalldrucks an k und an l auszudrücken. Dazu gehört beispielweise die Quantifizierung der Eigenschaften an den Indizes von Raum- und Zeitposition: k und l extensivieren diesen konkreten und d.h. quantifizierten Zeit-Raum-Wurm; sie haben an einem bestimmten Raum-Zeit-Punkt diese und jene konkret quantifizierte Lautheitsintensität; sie haben an einem bestimmten Raum-Zeit-Punkt diesen und jenen konkret quantifizierten Schalldruck. Die Hinsichtlichkeit, die sich im Prädikat ausdrückt, richtet sich also nicht mehr auf k und l, sondern auf das jeweilige

Eigenschaften

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Universale. Die Bedeutung der Klangprädikate in (1) bis (3) ist daher das jeweilige Universale.44 Kurz, die Unterscheidung zwischen pauschalen und partikularen Klangeigenschaften liegt gar nicht auf der eigenschaftsontologischen Ebene. Sie ist letztlich eine semantische. Bei der Erörterung der pauschalen Klangeigenschaften hatten wir deren Hinsichtlichkeit auf k zu erörtern. Nun haben wir die Klangeigenschaften als solche zu erörtern. Und das heißt, wir haben Eigenschaften von Eigenschaften zu erörtern. An diesem Umstand liegt es, dass die folgenden Analysen immer wieder von der 1. auf die 2. prädikatenlogische Stufe wechseln.

2.2.3.1

Akustische Eigenschaften

❮ M u s i k o l o g i e o h n e O r g a n o l o g i e u n d O n t o l o g i e ❯ »Die Diagnose von Franz Körndle [zum Sterben der Instrumentenkunde als Teil des musikwissenschaftlichen Wissens] ist leider richtig. Die Strecke zurück zur guten alten Zeit, wo die Organologie noch Teil der Musikologie war (oder besser umgekehrt), ist aber schon sehr lang. Die Idee der Nachkriegsmusikwissenschaft (die nach dem Ersten Weltkrieg, über die nach dem Zweiten wollen wir lieber gar nicht reden), musikalisches und musikgeschichtliches Wissen vom Hören her zu generieren, was in jedem musikwissenschaftlichen Seminar einen Bestand historischer Instrumente erforderte und ein Collegium musicum, hätte den Verfall aufhalten können, ersoff aber an ihrem geisteswissenschaftlichen Brimborium und an ihrer völkischen Schlagseite. Man müsste also bis Stumpf oder Helmholtz zurückgehen. Was hatten die, was den Späteren fehlte? Sie waren noch nicht benebelt von Stilen, Epochen, Kulturen und all den Engführungen übertriebenen Diltheylesens. Niemand forderte von ihnen Geisteshistorie, niemand wollte mit ihnen nichts mehr zu tun haben und wickelte sie ab, nur weil sie mehr ›Nachteil‹ als ›Nutzen‹ der Historie für das Musikwissenschaftlerleben sahen. Stattdessen konnten sie Mathe. Jeder gute Organologe hängt sicher auch an dem sterbenden deskriptiven Wortschatz der Instrumentenkunde, vor allem aber kann er Mathe. Und wenn er das kann, dann sieht die Welt der Musik und der Klänge anders aus als bei den Stilgeschichtlern, Kulturwissenschaftlern und Wertungsforschern. Ganz anders. Musikinstrumente sind Instrumente und Instrumente sind epistemische Dinge. Nebenbei dienen sie auch zum

44 Über Frege (1892) geht mein Argument hinaus. Die Frage, wie Frege über Prädikat-Bedeutungen gedacht hat, erörtert Künne (2010), S. 252ff.

210 | Kapitel 2

Abspielen musikalischer Kunstwerke. So lange die ›historische‹ Musikwissenschaft die ganz andersartige Historizität jener organologischen Episteme umbiegen will in ihren geisteswissenschaftlichen Historismus, bei Strafe der Abwicklung, wenn jene sich dagegen sträubt, werden sich die beiden Disziplinen nichts mehr zu sagen haben.« 45

2.2.3.1.1

Eigenschaftsontologie der mechanischen Elementargrößen

Was akustische Eigenschaften von Klängen sind, sagt uns kein Lehrbuch der physikalischen Akustik. Das Akustiklehrbuch benennt solche Eigenschaften einfach: Frequenz, Amplitude, Schalldruck, Schallenergie, Schallkennimpedanz und viele weitere. Es beschreibt, wie man diese Eigenschaften, die ja nicht als solche in die Augen und Ohren fallen, mit Apparaten messen oder über eine bestimmte Verrechnung der Messdaten in andere Eigenschaften transformieren kann. Zu diesen Details werden wir beizeiten kommen. Wir werden sie dann auch recht kurz abhandeln (2.2.3.1.2), zumal das jedes Akustiklehrbuch besser kann. Stattdessen zielen wir aufs Meta- der Physik und fragen, wie sich physikalische Eigenschaften in die Eigenschaftsontologie von Klängen insgesamt einfügen. Physikalische Eigenschaften eines physischen Individuums sind keine extrinsischen und keine kontingenten Eigenschaften. Die Physik zielt auf allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten. Sie bildet Sätze der Art, dass alle Individuen, die die Eigenschaft P haben, notwendigerweise auch die Eigenschaft Q haben. (Woraus folgt: Wenn P intrinsisch ist, ist es auch Q.) Damit sind wir in den Gefilden der höherstufigen Prädikatenlogik angekommen. Der Physik nun geht es nicht nur um die bloße Feststellung, dass eine Eigenschaft P oder Q an einem Ding individuiert ist, sondern auch, in welcher Quantität sie individuiert ist. Ihre Sätze haben den Anspruch zu beweisen, dass ein Ding, wenn es eine physikalische Eigenschaft P in bestimmter Quantität hat, notwendigerweise auch Q in bestimmter Quantität hat. Diese Quantitätsverhältnisse tauchen in den Sätzen der Physik als relationale Eigenschaften auf.

45 Bayreuther (2019).

Eigenschaften

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Wir hatten in 2.2.1.3 ohne weitere Erläuterung David Armstrongs Analyse von Naturgesetzen als mehrstellige relationale Eigenschaften höherer Stufe von Eigenschaften niedrigerer Stufe erwähnt.46 Gemäß dieser Analyse sind die höherstufigen relationalen Eigenschaften der ontologische Bereich, in dem wir uns bei den akustischen Eigenschaften bewegen. Das kann nun näher erörtert werden. Die basalste und, wie wir in 2.2.1.3 gesehen haben, in gewisser Weise definitorische Eigenschaft eines Klangs ist, ein Schwingungsereignis zu sein, oder prädikativer formuliert: zu schwingen. Ein Individuum k, das ein Klang ist, schwingt. Damit ist eine erststufige Eigenschaft von k festgestellt. Mit der Prädikation haben wir implizit behauptet, dass k weitere Eigenschaften individuiert, nämlich alle Eigenschaften, die in der Eigenschaft zu schwingen stecken. Schwingung impliziert zum Beispiel, dass etwas im physikalischen Sinn Massereiches im Spiel ist. Es impliziert auch, dass dieses Masse Habende sich in Bewegung befindet. Mit eine Masse haben und in Bewegung sein sind zwei zweitstufige Eigenschaften von k explizit gemacht. Die Eigenschaft von k, in Bewegung zu sein, hat ihrerseits die höherstufige Eigenschaft, dass k pro Zeiteinheit eine Lageänderung erfährt oder, anders gesagt, einen Weg zurücklegt. Das ist eine drittstufige Eigenschaft von k. Ebenso könnte man von der Eigenschaft von k, eine Masse zu haben, höherstufige Eigenschaften ermitteln, etwa die, dass die Masse eine bestimmte Dichte sowie bestimmte Materialeigenschaften an ihrer Oberfläche und in ihrem Innern hat. Es ist unschwer zu ahnen, dass diese Eigenschaften in den Begriffsbildungen der physikalischen Akustik dann als Amplitude (Weg), Frequenz (Weg pro Zeit), als Materialkoeffizienten der Schallkennimpedanz (äußere und innere Reibung) auftauchen werden. An dieser Stelle kommt Armstrongs ontologische Analyse von Naturgesetzen ins Spiel. Formalisieren wir alle höherstufige Eigenschaften von k der Einfachheit halber als P1, P2, P3 usw. (Auf welcher Stufe die Eigenschaften liegen und ob sie auf derselben oder auf unterschiedlichen Stufen liegen, spielt keine Rolle. Die Stufe einer Eigenschaft hängt letztlich nur daran, welche Eigenschaft im primären prädikativen Satz von k genannt wurde.) Armstrongs Analyse besagt nun, dass ein Naturgesetz einen notwendigen Zusammenhang zwischen solchen Eigenschaften beschreibt. Schematisch lässt sich das so formulieren:

46 Armstrong (1983).

212 | Kapitel 2

P1 verrechnet mit P2 verrechnet mit P3 ist gleich P4. Formal liegt hier eine höherstufige Eigenschaft vor, die bestimmte (niedrigerstufige) P’s in bestimmter Weise miteinander verrechnet (wobei man hier im Wesentlichen an die Grundrechenarten denken muss) und sie mit einem weiteren P gleichsetzt. Letzteres ist der entscheidende Punkt, in ihm liegt der naturgesetzliche Notwendigkeitscharakter. Die P’s links von der »ist gleich«-Relation sind diejenigen, die man bei einer Aussage über das Individuum k intentional bestimmt. Das Naturgesetz besagt dann, dass die intendierten P’s in einer bestimmten Relation stehen, aus der sich zwingend ergibt, dass in k eine weitere, höherstufige Eigenschaft P in bestimmter Quantität individuiert ist. Man muss diese zwingend individuierte P selbst überhaupt nicht intendieren, man muss von ihrem Individuiertsein unmittelbar nicht einmal etwas wissen, vielleicht weil sie empirisch umständlich oder überhaupt nicht zugänglich ist. Aufgrund des Notwendigkeitscharakters der bestimmten Weise, in der die P’s miteinander verrechnet und mit einem weiteren P gleichgesetzt werden, lässt sich der relationale Eigenschaftskomplex äquivalent jeweils so umformen, dass die nicht intendierte P rechts der »ist gleich«-Relation steht. Von der obigen relationalen höherstufigen Eigenschaft gibt es (wiederum schematisch) folgende Äquivalente: P1 verrechnet mit P2 verrechnet mit P4 ist gleich P3 P1 verrechnet mit P3 verrechnet mit P4 ist gleich P2 P2 verrechnet mit P3 verrechnet mit P4 ist gleich P1 (Zwei technische Anmerkungen: 1. Ich habe beispielhaft eine naturgesetzliche Relation aus vier P’s gewählt. Selbstverständlich können Naturgesetzeigenschaften auch aus Relationen von drei oder von mehr als vier P’s bestehen. 2. dazu, wie die Leerstellen von höherstufigen relationalen Eigenschaften gesättigt werden. Die Leerstellen klassischer erststufiger relationaler Eigenschaften wie (…) ist der Vater von (…) oder (…) ist höher als (…) werden mit Individuen gesättigt. An letzterer Eigenschaft ist aber schon zu erkennen, dass dort die Sättigungsindividuen als konkret quantifizierte Individuationen der Eigenschaft, eine Höhe zu haben, auftauchen. Vergleichbar funktioniert die höherstufige Naturgesetzrelation (…) ist gleich (…). Hier die Eigenschaften an sich einzusetzen ergäbe einen widersprüchlichen Satz. Die Stellen müssen mit individuierten und damit konkret quantifizierten Eigenschaften gesättigt werden.)

Eigenschaften

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Nun können wir definieren, was eine akustische Eigenschaft ist: Die Eigenschaft eines Individuums k ist akustisch, wenn sie Bestandteil einer höherstufigen relationalen Eigenschaft ist, die k notwendigerweise zukommt. Im Übrigen deutet sich hier eine präzisere Fassung dessen an, was wir in 1.1.5 als Ko-Individuierung von Eigenschaften eines Klangs k bezeichnet hatten. Zweck der dortigen Überlegungen war gewesen, die individuelle Gesamtheit und damit die Zählbarkeit von k so zu verstehen, dass sich der Zeit-Raum des Ereignisindividuums k dadurch bildet, dass mehrere (partikulare) Eigenschaften in einer irgendwie aufeinander bezogenen, also notwendigen Weise in k individuiert sind. Die Art und Weise der Bezogenheit der Eigenschaften, ihr »ko-« gewissermaßen, hatten wir als notwendig erkannt; denn die Ereignishaftigkeit, in der sich k entfaltet, schließt Kausalität ein, d.h. die Ko-Individuierung von Eigenschaften P1, P2, …, Pm in einem bestimmten Stadium von k impliziert kausal zwingend die Individuierung weiterer Eigenschaften Pn, mit denen ein Zustandsaspekt von k in einem späteren Stadium wahrheitsgemäß präfiguriert wird. In dem noch etwas laxen Begriff von Ko-Individuierung war also bereits angelegt, was sich nun präziser als der Relationalitäts- und der Notwendigkeitscharakter bestimmter höherstufiger Eigenschaften von k abzeichnet. Das bedarf aber der genaueren Analyse. Dazu sei ein Beispiel aufgegriffen, das wir bei der Erörterung der intrinsischen und extrinsischen Eigenschaften (2.1) beiläufig gaben. Ich stehe mit Saskia nahe am Unteren Hörschbachfall, über den bei dem herrschenden Weihnachtstauwetter reichlich Wasser fließt. Saskia hat eine dicke Wollmütze auf, ich nicht. Beide hören wir das Rauschen des Wasserfalls, aber mit deutlich unterschiedlichen partikularen Eigenschaften: ich laut und grell, Saskia weniger laut und dumpf. An zwei dicht beieinander liegenden Hörpunkten klingt also dasselbe Klangereignisindividuum k unterschiedlich. Die Vermutung liegt nahe, dass die Wollmütze ins Schwingungsereignis involviert ist. Wenn, wie wir in 2.1 küchenmathematisch rechneten, hunderttausend Wollmützen den Klang in der Hörschbachschlucht auf jeden Fall verändern, dann verändert ihn auch eine. Aber so formuliert ist das nicht nur Küchenmathematik, sondern auch Küchenphänomenologie, die noch in keiner Weise transparent macht, welche Eigenschaften hier in welcher Weise ko-individuiert sein sollen, durch die sich jenes Zeit-Raum-Segment aufspannt, in dem das Klangereignis verläuft.

214 | Kapitel 2

Die Strategie, dies durchsichtig zu machen, ist nun, für die Dinge, die hier phänomenal gegebene Eigenschaften des Involviertseins in das Ereignis sind (k involviert am Ort l1 die Luftmasse zwischen Wasserfall und Mütze; k involviert an l2 die Mütze; k involviert an l3 die Luftmasse zwischen Mütze und Saskias Ohr), höherstufige Eigenschaften zu suchen, die gemeinsamer Bestandteil relationaler notwendiger Eigenschaften der oben beschriebenen Form sind. Dann nämlich muss sich über diese notwendigen Relationen, die zwischen den höherstufigen Eigenschaften bestehen müssten, ermitteln lassen, ob die genannten drei Eigenschaften überhaupt ko-individuiert sind und – wenn ja – wie sie ko-individuiert sind. Das Ob ergäbe sich über das Wie, denn die notwendige relationale Naturgesetzeigenschaft gibt ja auch notwendige quantitative Relationen an – und wenn die jeweiligen (empirisch zu ermittelnden) Quantitäten der höherstufigen Eigenschaften in der Verrechnung zu Ungleichungen statt zu Gleichungen führen, ist entweder das Klangereignis an dieser Stelle in seiner Kausalität nicht zureichend erfasst (das »ko-« der Individuierung der Eigenschaft bleibt intransparent) oder aber es handelt sich diesseits und jenseits der Mütze nicht um dasselbe Ereignis. Wie man den in Frage stehenden Zusammenhang der phänomenal gegebenen Eigenschaften des Involviertseins der Luftmassen und der Mütze über eine solche Strategie fassen kann, erläutere ich an einigen höherstufigen Eigenschaften, die in der lehrbuchmäßigen Akustik nur selten explizit auftauchen und dort meist in noch höherstufigeren Eigenschaften versteckt sind. Wenn wir phänomenal prädizieren, das Schwingungsereignisindividuum k involviert die Luftmassen diesseits und jenseits der Mütze sowie die Mütze, dann handelt es sich ontologisch um die folgenden Entitäten: Individuen: – das Individuum I1 der Luftmasse zwischen Wasserfall und Mütze – das Individuum I3 der Luftmasse zwischen Mütze und Ohr – das Individuum I2 der Mütze zwischen I1 und I3 Eigenschaften: – die höherstufige Eigenschaft des Bewegtseins bzw. Bewegtwerdens, durch das sich jedes (hier prädikativ erststufige) Involviertsein in ein ausgreifendes Bewegungsgeschehen wie einer Schwingung auszeichnen muss. Wenn wir (gemäß 1.1.5) die Zählung eines Klangereignisindivi-

Eigenschaften

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duums als 1 mit dem Moment verknüpfen, an dem eine nichtschwingungshafte Bewegung ein kausales schwingungshaftes Bewegungsgeschehen in Gang setzt, dann können wir hier dieses Kriterium so umsetzen, dass wir I1 als bereits bewegt annehmen und diese Bewegung dann auf I3 und (quod est demonstrandum) I2 übertragen wird. I1 hat folglich eine Geschwindigkeitseigenschaft, I3 und I2 haben eine Eigenschaft des Beschleunigtwerdens; mit den physikalisch üblichen Variablen V (Geschwindigkeit) und A (Beschleunigung) gesagt: I1 hat PV1, I2 hat PA2 und I3 hat PA3. Reibungsverluste zunächst vernachlässigt (wir kommen darauf zurück), werden I2 und I3 nach einer gewissen Zeit t auf die gleiche Geschwindigkeit wie I1 beschleunigt. Im vollendeten Kausalgeschehen sind also PA2 und PA3 in PV2 und PV3 übergegangen und haben dieselbe Quantität wie PV1 angenommen. (Mit Armstrong in einer höherstufigen relationalen Naturgesetzeigenschaft gesagt 𝑉 = 𝐴𝑡: eine bestimmte Geschwindigkeit haben ist eine höherstufige Eigenschaft der Eigenschaft A, die über eine Zeitspanne t, die größer als 0 ist, an I notwendig individuiert ist.) Eine Geschwindigkeit haben und beschleunigt werden sind also höherstufige Eigenschaften der erststufigen phänomenalen Eigenschaft des Involviertseins in ein Schwingungsgeschehen. Eine weitere höherstufige Eigenschaft von A ist, dass eine Wegstrecke S zurückgelegt wird. Wieder zeitabhängig in einer notwendigen relationalen Naturgesetzeigenschaft ausgedrückt: 1 𝑆 = 𝐴𝑡 ' 2 Insofern I2 die Eigenschaft PA2 und I3 die Eigenschaft PA3 hat, kann folglich zugleich gesagt werden: I2 hat die höherstufige PS2 und I3 hat die höherstufige PS3. Für die Analyse der Wellengleichung im Kapitel 2.2.3.1.3 behalten wir zudem im Hinterkopf, dass in den Eigenschaften, eine Geschwindigkeit zu haben und beschleunigt zu werden, das Merkmal steckt, eine Lageänderung zu erfahren. Ein Individuum, das eine Geschwindigkeit hat und beschleunigt wird, hat notwendigerweise die höherstufige Eigenschaft, seine Lage im Raum zu verändern. – die höherstufige Eigenschaft, schwer zu sein (oder physikalisch gesagt: eine Masse M zu haben: PM); hätte ein Individuum diese Eigenschaft nicht, könnte es auch die Eigenschaft, in ein Schwingungsgeschehen involviert zu sein, nicht haben. Jedem der involvierten Individuen kommt somit auch PM zu: I1 hat PM1, I2 hat PM2, I3 hat PM3.

216 | Kapitel 2

– die höherstufige Eigenschaft, Energie zu haben. Ein Individuum, das eine Masse hat und in Bewegung ist, hat notwendigerweise Bewegungsenergie EKIN. Die Notwendigkeit ergibt sich aus dieser relationalen Eigenschaftbestimmung: 1 𝐸Y06 = 𝑀𝑉 ' 2 Da alle drei Individuen diese niedrigerstufigen Eigenschaften haben, hat I1 auch PE1, I2 hat PE2 und I3 hat PE3. (E immer als EKIN aufgefasst; Lage- und Wärmeenergieformen bleiben vorerst unberücksichtigt.) Um präzise zu sein bei der Umsetzung der Strategie, dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren, dass das Involviertsein von I1, I2 und I3 in ein k (vergleiche die Analysen zur Anzahl von Klangereignissen in 1.1.5!) die Hypothese ist, die am Ende belegt sein soll. Vorerst müssen wir PV1, PV2 und PV3 als Eigenschaften auffassen, die an I1, I2 und I3 je separat empirisch ermittelt wurden. Ob sie auch Eigenschaften von k sind, ob also I1, I2 und I3 in k kausal derart verkettet sind, dass PV2 und PV3 von PV1 verursacht wurden, dass entsprechend auch die Auslenkungen PS2 und PS3 und damit verbunden der kinetische Energiegehalt PE2 und PE3 kausal mit PE1 zusammenhängt, ist das, was es zu beweisen gilt. Die ontologische Aufgabe ist dementsprechend, präzise eigenschaftsontologische Analysen für den physikalischen Vorgang zu finden, dass die Eigenschaft PE1, die I1 hat, sich in PE2 verwandelt und auf den Eigenschaftsträger I2 hinüberwechselt. Und in der Übertragung des Energiegehalts wird dann auch eine korrelierte Transformation der Geschwindigkeitseigenschaften stecken: PV1 wird geringer in dem Maß, in dem PV2 sich erhöht, die unterschiedlichen Masseneigenschaften PM1 und PM2 einkalkuliert (was sich mit der obigen EKIN-Formel leicht berechnen lässt). Die Armstrongsche Notwendigkeit, mit der an einem Individuum eine höherstufige naturgesetzliche Eigenschaft individuiert ist, entfaltet ihre ontologische Pointe erst dann, wenn man sich klarmacht, dass sie nicht nur für ein isoliertes Individuum I1 gilt, sondern für schlechterdings alle beliebigen individuellen Zuschnitte der Welt. Also zum Beispiel auch für ein Individuum, das sich aus den Individuen (I1+I3) oder den Individuen (I1+I2+I3) zusammensetzt. Die Naturgesetzeigenschaft postuliert mithin, dass sich die Bewegungseigenschaften PV1, PA2 und PA3 nicht nur für die Einzelindividuen, sondern auch für den jeweiligen Individuenverbund in irgendeiner pauschalen Gesamtbewegungseigenschaft aussagen können lassen müssen.

Eigenschaften

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Wie gelingt das? Indem wir aus den oben aufgeführten Eigenschaften von I1 die Eigenschaftsbestandteile in den Blick nehmen, die einen Ereignisaspekt von I1 beinhalten. Und das sind die Eigenschaften, in Bewegung zu sein (PV1), und – darin höherstufig enthalten – einen Zeitraum zu beanspruchen (was man prädikativ als Pt1 schreiben könnte). Falls nun in der Ereignisspur von I2 sich ein weiteres Individuum I2 befindet und es zu einer Wechselwirkung kommt, wird naturgesetzlich zwingend die höherstufige Eigenschaft der Kraft F individuiert. Der springende Punkt ist hier, dass das Trägerindividuum der Eigenschaft Kraft nicht I1 ist, sondern das Ereignisindividuum der Wechselwirkung zwischen I1 und einem weiteren Individuum, das wir hier I2 nennen (es könnte aber auch I3 oder irgend ein anderes sein). Die Eigenschaft, Kraft zu haben, wird zwar umgangssprachlich von Individuen ausgesagt (die Kraft des Ringers, die power der Lautsprecherbox), präzise aber wird sie in der relationalen Eigenschaft (PF):

(…) übt im Zeitraum t1-n die Kraft F auf (…) aus

ausgedrückt. (Die beiden Leerstellen können mit I1 und I2 oder beliebigen Individuen gesättigt werden und ergeben dann eine wahrheitswertfähige Aussage.) In der relationalen Eigenschaft des Kraftausübens lassen sich die beiden Merkmale des Kraftausübens und des Beanspruchen eines Zeitraums auch extrahieren und als folgende relationale Teileigenschaften schreiben: (PF’): (…) ist über den Zeitraum t1-n in Kontakt mit (…) (PF’’): (…) übt zum Zeitpunkt t1 Kraft F(t1) auf (…) aus (zu sättigen mit den je gewählten Individuen). Mit der Eigenschaft Kraft F ist das Ereignis, in dem I1 mit einem I2 wechselwirkt, zwar relational, aber doch von dem her gefasst, was I1 macht, hin zu dem, was I2 erleidet. Der Kraftbegriff hat einen Richtungsindex. In ihrer Gesamtheit ist die Wechselwirkung zwischen I1 und I2 erst erfasst, wenn die Gesamtheit der Veränderung erfasst ist, die I2 im Ereignis erlitten hat. Dazu gehört insbesondere der zurückgelegte Weg. Drückt I1 auf I2 mit F, ohne dass I2 dadurch eine Beschleunigung und Lageveränderung erfährt, ist das Ereignis zu Ende. Die Eigenschaft PE1 ist im Ereignis nicht auf den Eigenschaftsträger I2 übergegangen, folglich existiert kein Ereignis bzw. keine Ereigniserweiterung, die über I1 und I2 hinaus dritte Individuen involviert. Ein solches Ereignis wäre entweder gar kein Schwingungsereignis oder, wenn doch, dann das Ende eines Schwingungsereignisses. Angetreten waren wir aber damit, die

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fortlaufende kausale Involvierung eines Individuums nach dem anderen in ein Schwingungsereignis eigenschaftsontologisch zu verstehen. Daher müssen wir eine Veränderung bei I2 einkalkulieren, in der zugleich das Potenzial liegt, ein I3 zu involvieren. Diese pauschale Veränderung von I2 fassen wir als den Weg PS2, den I2 aufgrund des Individuiertseins von F zurücklegt. Nota bene PS2, nicht PS1! Jetzt erst und keinen Schritt vorher sind wir da angekommen, wo wir hin wollten, nämlich die Involvierung von I2 vollständig von den Eigenschaften her zu verstehen, die an I1 individuiert waren. In der Eigenschaft der Arbeit W werden die Gesamtheit PF der Wirkung, die I2 erlitten hat, und die Gesamtheit der Veränderung PS2 verrechnet und aus ihr die notwendige höherstufige Eigenschaft der Arbeit PW gebildet. Physikalisch: Arbeit gleich Kraft mal Weg, kurz 𝑊 = 𝐹𝐴. Die relationale Teileigenschaft lautet damit: (PW): (…) verrichtet die Arbeit W an (…) Offenkundig ist es sinnlos, PW an I1 mit einem Richtungsindex oder an I2 mit einem umgekehrten Richtungsindex individuiert aufzufassen. Es ist lediglich eine Reminiszenz an die gerichtete Krafteigenschaft, dass wir PW noch relational mit zwei Leerstellen bestimmt haben, die mit I1 und I2 zu sättigen sind. Äquivalent können wir die Eigenschaft PW von einem einzigen Ereignisindividuum kI1+I2 als Eigenschaftsträger aussagen: (PW): An (kI1+I2) wurde die Arbeit W verrichtet So nämlich kommt ein fundamentaler physikalischer Umstand besser zur Geltung: Arbeit gleich Energie, oder eigenschaftsontologisch: Die Quantität von PE1 (zu Beginn des Ereignisses) ist gleich der Quantität von PW(k) gleich der Quantität von PE2 (am Ende des Ereignisses). Die Energieeigenschaft PE1 ist quantitativ auf 0 zurückgegangen, die Energieeigenschaft PE2 hat quantitativ von 0 auf den Anfangbetrag von PE1 zugelegt. Das ist empirisch messbar. Hat also Saskias Mütze in der Quantität ihres PE2 um genau den Betrag zugelegt, um den PE1 der Luftmasse zwischen Wasserfall und Mütze abgenommen hat, dann existiert ein Individuum, das die Trägerentität dieser Eigenschaftsveränderungen ist, und es ist vom Individuentyp der Ereignisse; wir nennen es k. Der ontologische Weg der kausalen Involvierung eines I2 in ein I1 kann folgendermaßen schematisiert werden:

Eigenschaften

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220 | Kapitel 2

2.2.3.1.2

Eigenschaftsontologie der Schwingungsgrößen und der Schwingungsfeldgrößen

Bisher haben wir die drei Individuen der Luftmasse zwischen Wasserfall und Wollmütze, der Wollmütze und der Luftmasse zwischen Wollmütze und Saskias Ohr behandelt, als seien sie so etwas wie glatte, harte, kugelrunde, gleich große und gleich schwere Billardkugeln, die in gleichem Abstand auf einer Linie liegen, so dass PE-KIN scheinbar von I1 vollständig auf I2 und von I2 vollständig auf I3 übergeht. Das Ereignis der kausalen Kopplung der Individuen, die PE-KIN der Reihe nach individuieren, bliebe so noch linear. Eine serielle Individuierung von PV und PS – oder höherstufig: von PE-KIN – wirkte nicht auf I1 zurück. Das Ereignis, das die Individuierung von Eigenschaften an I1, I2 und I3 kausal miteinander koppelt, wäre ein Bewegungs-, aber kein Schwingungsereignis. Wir sind also bei unserer eigenschaftsontologischen Analyse der mechanischen Naturgesetze noch gar nicht im Bezirk der Akustik angekommen. Fraglos nämlich sind Klangereignisse Schwingungsereignisse. Nun gilt es daher, diejenigen naturgesetzlichen Eigenschaften zu identifizieren, die dafür ursächlich sind, dass die Individuierungsrichtung von Geschwindigkeits- und von Wegstreckeneigenschaften in die Gegenrichtung umschlägt, von der Gegenrichtung wieder in die ursprüngliche – und so weiter. In der Physik werden solche Gegenkräfte, die durch eine lineare Kraftentfaltung aktiviert werden, Rückstellkräfte genannt. Eine grundlegende Beobachtung, die uns dorthin führt, ist, dass die Quantität der Ereigniseigenschaft PW, der von I1 an I2 verrichteten Arbeit, nur zum Teil in die (niedrigerstufigen) Eigenschaften PV2 und PS2 investiert wird. Der Rest fließt in ein Ereignis, das im Inneren von I2 abläuft und das weder eine Beschleunigung noch eine Lageänderung von I2 bewirkt, sondern eine Erwärmung. Dieses Ereignis wird als innere Reibungsarbeit bezeichnet, die sich im Inneren von I2 und ebenso I1 abspielt. Es besteht jeweils aus einer komplexen Interaktion der Lage- und Geschwindigkeitseigenschaften der kleineren Individuen, aus denen I1 und I2 zusammengesetzt sind, die sich auf der Individuenebene von I1 und I2 nicht als insgesamte PV oder PS darstellt, sondern nur als Temperatureigenschaft. Obwohl also die Quantitäten von PE1 = PE2 = PE3 = … = PEn

Eigenschaften

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sind (gemäß dem Energieerhaltungssatz), wird nur ein Teil der Bewegungsenergie von I1 in die Bewegungsenergie von I2 umgewandelt. Es ist also PF1 > PF2 > PF3 > … > PFn bis PAn und PSn gleich 0 geworden sind. Was hat das zur Folge? Nehmen wir der Einfachheit halber an, vor Eintritt des Ereignisses k hatten alle I1, I2 usw. denselben Abstand. Wenn sich nun die Differenz zwischen PFn-1 und PFn aufsummiert und die ausgelenkten Strecken PSn immer geringer werden, je länger die Kausalkette wird, desto näher rücken die Individuen zusammen. Physisch, noch nicht metaphysisch gesagt: Irgendwo bei In erhöht sich der Druck. Druck ist eine Kraft, die nach allen Seiten eines Systems wirkt, an denen der Druck geringer ist. Insofern das bei In-1 der Fall ist, wäre jene Rückstellkraft ausfindig gemacht, die das Pendel in Gang setzt. Die metaphysische Frage ist: Welches ist das Individuum, an dem die für die Schwingungsförmigkeit offenkundig entscheidende Eigenschaft Druckkraft – nennen wir sie PFp mit »p« für pressure – individuiert ist, vermutlich höherstufig? Wir hatten uns im obigen Abschnitt die investierte Energie PE1 so zurechtgelegt, dass sie (wie hier überall naturgesetzlich notwendig) ursächlich für die Individuierung der Auslenkungseigenschaft PS2 an I2 sei. Das war zum Zweck der ontologischen Analyse ein wenig zu ideal dargestellt. Die physikalische Wirklichkeit ist schmutziger. Die Kraft, mit der ein bewegtes I1 wirkt, wirkt nicht punktgenau auf ein I2. Vielmehr wirkt sie auf ein ganzes System, in dem I2 ein Individuum unter vielen ist. Wir können dieses System I2G (»G« für Gesamt) nennen. Es ist ontologisch in der Tat ein Individuum, denn die Eigenschaft PFp2 wird an ihm selbst individuiert und nicht von den einzelnen Individuen in ihm. Wie oben ist PFp2 eine höherstufige relationale notwendige Eigenschaft, gebildet aus den Eigenschaften Masse (PM2) mal Beschleunigung (PA2), die aber auch ihrerseits nicht an einem kleineren Individuum, sondern an I2G individuiert sind. Überhaupt alle involvierten Individuen müssen wir uns als solche Systeme I1G, I2G usw. vorstellen. Denn hinter den Bewegungseigenschaften, die sie individuieren und mit der sie auf die benachbarten Individuen wirken, muss bei allen beteiligten Individuen wesentlich die höherstufige Druckkraft stecken, ansonsten würde der Rückstelleffekt gar nicht hin und her pendeln. Die Welt lässt sich auf unbegrenzt viele Arten in Individuen zuschneiden. Ontologisch entscheidend

222 | Kapitel 2

für den Individuenstatus ist – neben einigen eher technischen mereologischen Bedingungen – dabei vor allem, ob der Zuschnitt Träger von intrinsischen Eigenschaften sein kann. Die Differenz zwischen der Wegstrecke, die I1 zurücklegt, und der Wegstrecke, um die I2 aufgrund der Beschleunigung durch I1 ausgelenkt wird, erklärt sich also durch den systemischen Charakter, den I1 und I2 haben. Ein Teil der Bewegungsenergie von I1 fließt in eine Lageänderung von I2, der andere aber wird durch eine erhöhte Druckenergie im Innern von I2 gepuffert, wodurch die Rückstellkraft entsteht, die in Richtung I1 zurück wirkt. Daher fassen wir die interagierenden Individuen nun durchweg als I1G, I2G usw. auf. Aufgrund der permanent pendelnden Krafteinwirkung zwischen I1G und I2G (wie auch zwischen I2G und I3G, …, In-1G und InG) und der dynamischen Pufferung eines Teils der Bewegungsenergie durch Druckenergie wechselt der Druck im Innern der Individuen ständig. Wie man die Individuen auch zuschneidet, an jedem Raumpunkt herrscht permanente Druckänderung zwischen einem Maximum und einem Minimum. Der Quantitätswechsel des Drucks lässt sich raumpunktbezogen und zeitbezogen darstellen: Raumpunktbezogen pendelt die Quantität der Eigenschaft Druck periodisch zwischen dem Maximal- und dem Minimalwert. Zeitbezogen wandert der Raumpunkt des maximalen, des minimalen, des mittleren (und aller zwischenliegenden) Druckwerts periodisch zwischen den Raumpunkten des Individuums hin und her. Zeitlich und räumlich konstant verteilten Druck gäbe es nur in einem vollkommen geschlossenen System. Die Individuen, die in ein Klangereignis involviert sind, sind aber offen. Welcherart also sind jene Individuen I1G, I2G usw., an denen eine raumzeitlich permanent fluktuierende Eigenschaft wie der Druck individuiert sein kann? Einerseits sind sie offenkundig ereignisförmig, da ihre Masse sich intern permanent umverteilt. Andererseits sind sie nicht das Schwingungsereignis k insgesamt, das sich aus der kausalen Interaktion der I1G ⇌ I2G ⇌ … ⇌ InG über seine komplette raum-zeitliche Ausdehnung bildet. Die Individuen I1G, I2G usw. entsprechen vielmehr dem, was wir oben (1.2.2) ereignisontologisch als Zustand (in Abgrenzung zum Vorkommnis als dem Schwingungsereignis insgesamt) analysierten. Der Zustand I1G, I2G usw. eines Ereignisindividuums k ist der Träger der Eigenschaft Schalldruck. Dass die Zustände jeweils Zeit-Raum-Punkt-Indizes haben, also ihre Eigenschaften zu t0 an l0 aufweisen, ergibt sich in ihrem Fall, anders als bei

Eigenschaften

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vorkommnishaften Ereignisindividuen, durch den Zeitpunkt und die räumliche Begrenzung des beobachtenden bzw. messenden Zuschnitts, der solchen systemischen Individuen überhaupt erst zur Existenz verhilft. Nun können wir ereignisontologisch formulieren, inwiefern das Bewegungsgeschehen aufgrund einer Kraft, die I1 auf ein angrenzendes I2 ausübt und von der I2 einen Teil davon an wiederum angrenzende Individuen ausübt, tatsächlich ein Schwingungsereignis und nicht eine andersartige Bewegung ist. I2 als System I2G aufgefasst hat die Eigenschaft der Druckenergie. Die Quantität dieser Eigenschaft kann – gemäß der erwähnten höherstufigen relationalen Eigenschaft Energie (bzw. Arbeit) gleich Kraft mal Weg – in die reale Ausübung von Druckkraft Fp investiert werden. Die Energieeigenschaften sind stets volumenabhängige Eigenschaften; ein Individuum, das kein Volumen hat, kann keine Energie beinhalten. Alle Schallenergiegrößen (die absolute Schallenergie bzw. Schallarbeit eines InG, in Watt angegeben; die mittlere Schallenergiedichte bezogen auf eine Volumeneinheit; die Schallintensität als Schallenergie zu einem bestimmten Zeitpunkt) beinhalten als eine Komponente der relationalen Eigenschaft das Volumen. Das bedeutet für die Entfaltung der Kraft, die ja wesentlich Druckkraft Fp ist, dass sie in alle Raumrichtungen wirkt. Anders als eine Kraft aus Bewegungsenergie, die nur in Bewegungsrichtung wirkt, wirkt die Druckkraft auf die gesamte Außenfläche des IG. Alle angrenzenden Individuen erleiden sie, und sie wird, wie wir oben ausgeführt haben, von ihnen in dreifacher Weise absorbiert: erstens durch eine insgesamte Lageänderung, zweitens durch eine raum-zeitlich kontinuierliche Druckänderung, drittens durch Erwärmung. Von I2G aus gesehen also auch I1G! Das heißt, ein Teil der Druckenergie, die von I1G an I2G in der Form von Lage- und Druckänderung geflossen war, fließt zurück an I1G. Nun ist das Kräftespiel der Schwingung in Gang gekommen. Denn dasselbe Szenario der Druckerhöhung, das wir für I2G beschrieben haben, gilt nun wiederum für I1G, das seine Druckenergie – abzüglich eines geringen Anteils an Wärmeenergie, der bei ihm verbleibt – wieder an I2G reichen wird. Und so weiter. Es kommt so zu einer Schwingung auf mehreren Ebenen: – Im Innern jedes InG schwingt ein Druckpegel zwischen Maximal- und Minimalwert hin und her.

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– Ein InG schwingt als Ganzes hin und her. Es verändert über die gesamte Ereigniszeit von k seine Lage im Raum nicht und schwingt um seinen Ausgangspunkt. An manchen Stellen von k kann es freilich trotzdem zu absoluten Lageänderungen kommen; man denke etwa an die Zone der primären Kraftentfaltung durch einen Schlag oder eine Explosion. – Da ein InG dadurch Kraft auf die angrenzenden Individuen ausübt, schwingt ein gesamter Individuenverbund I1G ⇌ I2G ⇌ … ⇌ InG hin und her. Das Schallfeld, das durch k aufgespannt wird, schwingt aufs Ganze gesehen nicht, sondern dehnt sich linear mit Schallgeschwindigkeit aus. Von hier aus lassen sich die beiden landläufig wichtigsten Schwingungsgrößen Frequenz und Amplitude eigenschaftsontologisch bestimmen. Zunächst zur Frequenz: Eine Schwingung im Innern eines InG wie auch eine Schwingung eines Individuenverbunds benötigt eine absolute Zeitdauer, in der sie sich vollendet, indem wieder die Ausgangslage erreicht ist. Das ist ihre Periodendauer. Zählt man die Perioden pro Zeiteinheit, erhält man die Frequenz, in der sich die Periode wiederholt. Eine eigenschaftsontologische Stufe unter der Frequenz liegt die Eigenschaft der Schallschnelle. Wir erhalten sie, wenn wir anstelle der – ja immer willkürlich gewählten – Referenzgröße Zeiteinheit die absolute Zeitdauer nehmen. Die Schallschnelle ist dann die lokale Geschwindigkeit, mit der ein InG seine Schwingung ausführt, und eine höherstufige Eigenschaft aus dem Quotient zwischen dem absoluten Weg und der absoluten Zeit eines InG. Genau gesagt ist es die Maximalgeschwindigkeit, die InG am mittleren Punkt zwischen ihren beiden Umkehrpunkten erreicht, an denen die Geschwindigkeit 0 beträgt. Zur Amplitude: Eine schwingende Entität legt in jeder Schwingungsperiode einen bestimmten absoluten Weg zurück, sei dies auf der Individuenebene eine räumliche Distanz (der sogenannte Schallausschlag), sei dies innerhalb eines Individuums eine Quantitätsänderung des Drucks und der Schallschnelle zwischen Maximal- und Minimalwert. Das ist ihre Amplitude. (Will man exakt sein, müssen die Amplitudeneigenschaften der absoluten Wegänderung, der relativen Druckänderung und der Pendelns der Schallschnelle zwischen 0 und Maximalgeschwindigkeit unterschieden werden. In der Tat sieht die Amplitudenfunktion, die aus der im nächsten Abschnitt erörterten Wellengleichung gewonnen wird, jeweils graduell unterschiedlich aus.)

Eigenschaften

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Somit ergibt sich für Frequenz und Amplitude folgende Eigenschaftsontologie: Die Frequenz ist eine höherstufige Eigenschaft der niedrigerstufigen Eigenschaft des Wechseldrucks, individuiert an einem InG. Sie wird notwendig individuiert durch eine Relation der Periodenanzahl pro Zeiteinheit. Die Amplitude ist ebenfalls eine höherstufige Eigenschaft der niedrigerstufigen Eigenschaft des Wechseldrucks, individuiert an einem InG. Sie wird notwendig individuiert durch den Absolutbetrag, um den sich der Druck (innerhalb des InG) bzw. die Lage (des InG selbst) pro Schwingungsperiode verändert. Für die Weg-(Amplituden) und die Geschwindigkeitseigenschaften (Frequenz, Schallschnelle) eines schwingenden Individuums haben wir bislang stets absolute Wege und absolute Zeitpunkte zugrundegelegt. Eine wichtige akustische Eigenschaft nun ergibt sich dadurch, dass anstelle der absoluten Amplitude des Wechseldrucks ein durchschnittlicher mittlerer Druck zugrundgelegt wird, der nicht an einem absoluten Raum-Zeit-Punkt an einem In oder InG individuiert ist, sondern als Rechengröße über einen bestimmten Zeitraum ermittelt wird. Diesen mittleren Druck kann man abhängig von der jeweiligen Schallschnelle des Individuums betrachten. Man kann also eine höherstufige relationale und notwendige Eigenschaft aus dem Quotienten des mittleren Schalldrucks und der jeweiligen Schallschnelle, in der das Individuum schwingt, bilden. Mit dieser Relation wird eine Materialeigenschaft von In bzw. InG ausgesagt. Denn der Druchschnittsdruck verschiedener Individuen pro einer vergleichshalber zugrundegelegten Schallschnelle wird unterschiedlich sein, je nachdem welche inneren Reibungskräfte im jeweiligen Individuum wirksam sind. Unterschiedlicher Durchschnittsdruck heißt: unterschiedliche Druckamplituden, damit auch unterschiedliche Kräfte, mit denen ein InG auf ein benachbartes wirkt. Diese Eigenschaft wird als akustische Impedanz bezeichnet. Die Impedanz ist ein Maß für den Widerstand, den ein InG einer externen Krafteinwirkung entgegensetzt. Oder anders gesagt, die Impedanz ist ein Maß für die Differenz zwischen Bewegungs- und Reibungsenergie, die dafür sorgt, dass ein System überhaupt schwingt, aber zugleich, dass es nicht ewig schwingt, sondern seine Bewegungsenergie sich irgendwann in Wärme umgewandelt haben wird.

226 | Kapitel 2

2.2.3.1.3

Eigenschaftsontologie der Wellengleichung

Die Wellengleichung sagt die Gesetzmäßigkeit aus, mit der an einem In oder einem InG zu einem bestimmten Zeitpunkt ein bestimmter Amplitudenwert individuiert ist. Mit der Gesetzmäßigkeit wird die Struktur des Bewegungsgeschehens aller Materieteilchen erfasst, die in eine Welle des Schwingungsgeschehens involviert sind. Struktur meint hier, man kann aus der Gesetzmäßigkeit der Welle ableiten, wie weit ein beliebig gewähltes Materieteilchen (In) bzw. ein Aggregat von Materieteilchen in einem Zeit-RaumSegment (InG) zu einem beliebig gewählten Zeitpunkt aus seiner Ruhelage ausgelenkt ist. Abermals also verwende ich den Begriff der Gesetzmäßigkeit. Mit ihm ist angedeutet, dass die Wellengleichung ontologisch auf derselben Linie liegt wie die Ontologie der mechanischen Elementargrößen und der mechanischen Größen im Schwingungsfeld: Sie sagt eine höherstufige, relationale und notwendige Eigenschaft des Zeit-Raum-Punkts eines Amplitudenwerts aus. Es geht in der Wellengleichung also um Lageeigenschaften und ihre Veränderung. Aber bevor wir die ontologischen Verhältnisse am Ende des Abschnitts ausführlich erörtern, müssen wir klären, aus welchen Entitäten die Wellengleichung ihre Relation baut. Die Lage einer Entität ist eine basale erststufige Eigenschaft. Saskias Wollmütze hat die Eigenschaft, sich zum Zeitpunkt t1 da und da zu befinden. Wir müssen hier physikalisch präzise sein und die Lageeigenschaft quantitativ angeben, und das heißt als quantifizierte Raum-Zeit-Koordinaten. Liegen die möglichen Lagepunkte der Mütze auf einer Ebene, sind zwei quantifizierte Raumkoordinaten und eine quantifizierte Zeitkoordinate anzugeben. Liegen die möglichen Lagepunkte auf einer Linie, wird eine quantifizierte Raumkoordinate benötigt, liegen sie im Raum, drei. In allen drei Raumdimensionen existieren Schwingungsereignisse. Eine Saite ist eine Linie und schwingt in einer Raumdimension. Flächige Klangkörper wie Becken, Gongs, die Membrane von Trommeln und Pauken, die Decke einer Geige oder Gitarre oder auch das menschliche Trommelfell schwingen in zwei Raumdimensionen. Da aber bei den human hörbaren Schwingungsereignissen, um die es in diesem Buch geht, immer auch ein bisschen Luftvolumen mitschwingt, mit dem das Trommelfell umgeben ist, geht es stets um schwingende Volumina mit drei Raumkoordinaten, von denen die schwingenden Flächen Begrenzungsflächen und die schwingenden Linien

Eigenschaften

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Begrenzungslinien darstellen. Bei den bis zu drei Raumkoordinaten und der Zeitkoordinate handelt es sich ontologisch um Merkmale der Lageeigenschaft (mit derselben ontologischen Struktur, die wir in 2.2.2 für die Merkmale von pauschalen Klangeigenschaften herausgearbeitet hatten). Wir bezeichnen die Zeitkoordinate wie bisher als t, die Raumkoordinaten als x, y und z. Eine eindimensionale Lageeigenschaft hat also die Merkmale (𝑥, 𝑡) in je bestimmter Quantität, eine zweidimensionale (𝑥, 𝑦, 𝑡), eine dreidimensionale (𝑥, 𝑦, 𝑧, 𝑡). Zu beachten ist, dass die jeweiligen Quantitäten, für die die Variablen stehen, nicht unabhängig voneinander sind. Legt man die Quantität der Zeitkoordinate unabhängig fest, sind davon abhängig die Raumkoordinaten bestimmt; legt man sich auf bestimmte Raumkoordinaten fest, wird die Zeitvariable eine davon abhängige Größe. An welchen Entitäten, die in ein Schwingungsereignis involviert sind, ist eine Lageeigenschaft in der beschriebenen Quantisierung individuiert? Selbstverständlich an dinglichen Individuen wie etwa Saskias Wollmütze oder einem bestimmten Luftvolumen, also an Individuen, die wir als In bezeichnet haben. Aber die akustischen Eigenschaften sind, wie wir gesehen haben, nicht nur an Dingen individuiert. Auch Sachverhalten kommen Raumeigenschaften zu. Sachverhalte sind festgestellte Eigenschaften an einer Entität. So können wir an einem Volumensegment einen bestimmten Dichtewert, einen bestimmten Druck oder eine bestimmte Schallschnelle feststellen. Diese Volumensegmente sind keine dinglichen Individuen, sondern abstrakt abgegrenzte Volumina, in denen sich eine unbestimmte Vielzahl von dinglichen Individuen befinden, die sich rechnerisch als ein Verbund auffassen lassen. Wir hatten sie als InG bezeichnet. Schalldichte, Schalldruck und Schallschnelle sind an solchen InG’s individuiert. Für die Aussagen zu den Quantitäten der Lageeigenschaft, wie sie die Wellengleichung macht, spielt es überhaupt keine Rolle, ob der Eigenschaftsträger ein dingliches Individuum (In) oder einer jener Sachverhalte ist, die an einem InG festgestellt wurden. Die Lageeigenschaft lässt sich in genau gleicher Weise von einem dinglichen Individuum wie Saskias Wollmütze bestimmen wie zum Beispiel von dem Sachverhalt eines Schalldruckmaximums, das an einem InG individuiert ist. Nur der ontologischen Vollständigkeit halber sollte man dazusagen, welchen Eigenschaftsträger man gerade meint. Nun sind Klänge Ereignisse, also charakteristische Veränderungen, die an Verbünden von Dingen geschehen. Die absoluten Lageeigenschaften von Dingen nach dem kartesischen Merkmalsschema (𝑥, 𝑦, 𝑧, 𝑡) sind für sich

228 | Kapitel 2

genommen uninteressant. Um die charakteristischen Veränderungen der Lageeigenschaften muss es gehen. Was uns also interessiert, ist eine ereignishafte Lageveränderung 𝑥" → 𝑥' , 𝑦" → 𝑦' und 𝑧" → 𝑧' abhängig von 𝑡" → 𝑡' . Diese Lageveränderungseigenschaft von Dingen oder Sachverhalten, die in ein Schwingungsereignis involviert sind, ist die relevante Primäreigenschaft. Die wahrhaft epochale Pointe von Schwingungen, die schon Aristoteles ahnte und die mit der Formulierung der Wellengleichung Mitte des 18. Jahrhunderts ihren Abschluss fand, ist, dass die Lageeigenschaften von Dingindividuen und Sachverhalten sich nicht chaotisch ändern, sondern charakteristisch und vorhersagbar. In mathematischer Kürze gesagt, erstens: die Lageveränderung (𝑥" → 𝑥' , 𝑦" → 𝑦' , 𝑧" → 𝑧' ) lässt sich nicht nur für den jeweiligen Einzelfall 𝑡" → 𝑡' empirisch bestimmen, sie ist eine Funktion und lässt sich für beliebige 𝑡_ → 𝑡- berechnen; zweitens: diese Funktion ist differenzierbar. Sie wird üblicherweise als 𝑢(𝑥, 𝑦, 𝑧, 𝑡) bezeichnet. Die Funktion 𝑢(𝑥, 𝑦, 𝑧, 𝑡) herauszubekommen, mit der die Lageveränderung eines Individuums In oder eines Sachverhalts (individuiert an einem InG) im Gesamtgeschehen des Klangereignisses angegeben werden kann, ist Sinn und Zweck der Wellengleichung. Die Funktion 𝑢(𝑥, 𝑦, 𝑧, 𝑡) ist damit, wie eingangs angedeutet, eine relationale, höherstufige, gesetzmäßige Eigenschaft über der Primäreigenschaft der absoluten Lageeigenschaft nach dem Merkmalsschema (𝑥, 𝑦, 𝑧, 𝑡). Die Wellengleichung, aus der sich durch eine Wahl von t sowie einiger weiterer Anfangsbedingungen u gewinnen lässt, ist dann eine dazu drittstufige Eigenschaft: eine relationale und gesetzmäßige Eigenschaft der erststufigen Lageveränderungseigenschaft 𝑥" → 𝑥' , 𝑦" → 𝑦' , 𝑧" → 𝑧' eines ins Schwingungsereignis involvierten Dingindividuums oder Sachverhalts. Die Wellengleichung für eine dreidimensionale Lageveränderungseigenschaft lautet (in der auf d’Alembert zurückgehenden Schreibweise): 1 𝜕' 𝑢 𝜕'𝑢 𝜕' 𝑢 𝜕' 𝑢 − c + + d=0 𝑐 ' 𝜕𝑡 ' 𝜕𝑥 ' 𝜕𝑦 ' 𝜕𝑧 ' Die Gleichung drückt eine relationale Eigenschaft von u aus insofern, als u in einer exakt angebbaren quantitativen Relation mit den Variablen der konkreten Situation steht. Das sind der anfängliche Raum-Zeit-Punkt (𝑥, 𝑦, 𝑧, 𝑡), von dem aus die Lageveränderung geschieht, und die Schallgeschwindigkeit c des Ausbreitungsmediums. Zudem ist die Gleichung eine notwendige Eigenschaft von u insofern, als sie unabhängig davon gilt,

Eigenschaften

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welchen Startpunkt (𝑥, 𝑦, 𝑧, 𝑡) und welches Ausbreitungsmedium (c) man wählt. Die quantitative Relation ist hier deutlich komplizierter als bei den zweitstufigen relationalen Eigenschaften der elementaren Mechanik und des Schwingungsfelds. Es handelt sich um eine hyperbolische partielle Differentialgleichung zweiter Ordnung: Die gesuchte Funktion u taucht im Argument als Differential, und zwar als zweite Ableitung 𝜕 ' 𝑢, auf.

fgh fi

ist

die zweite Ableitung des Orts (eines involvierten Individuums oder Sachverhalts) nach der Zeit, seine Beschleunigung also, in x-Richtung. Wie man diesen Gleichungstyp auflösen kann und dass man ihn überhaupt auflösen kann, wurde im 19. Jahrhundert von Augustin-Louis Cauchy in jahrzehntelanger Anstrengung ausgetüftelt und möge in der Fachliteratur nachgeschlagen werden. Bei Schwingungen im zwei- bzw. im eindimensionalen Raum vereinfacht sich die Wellengleichung: In der Klammer fallen die Summanden mit y bzw. z im Nenner weg. Um die Wellengleichung ontologisch zu verstehen, genügt uns die eindimensionale Variante: 1 𝜕' 𝑢 𝜕' 𝑢 − =0 𝑐 ' 𝜕𝑡 ' 𝜕𝑥 ' Wir machen eine weitere vereinfachende Annahme: Die Welle sei harmonisch. Das heißt, alle Größen des Schallfelds sind sinusförmig in Raum und Zeit verteilt. Vulgo, wir nehmen eine Sinusschwingung an. Die Lösungsfunktion lautet dann: 𝑢(𝑥" , 𝑡) = 𝐴 sin(𝑘𝑥" − 𝜔𝑡) Der Funktionswert u gibt für eine gewählte Ausgangsposition x1, in der sich ein In oder ein Sachverhalt (an InG) zum Zeitpunkt t befindet, die Strecke an, um die sich die Lage des Dings oder der Sachverhaltseigenschaft verändert hat. Allerdings sind mit A, k und ω neue Variablen in den Term gekommen. Das sind Randbedingungen, die bekannt sein müssen, um einen von x und t abhängigen Funktionswert zu berechnen. A ist die maximale absolute Amplitude der Schwingung, in ω steckt die Frequenz f der Schwingung (𝜔 = 2𝜋𝑓), in k (nicht zu verwechseln mit unserem Schwingungsereignisindividuum k) steckt die Länge λ einer Schwingungsperiode, also die 'n absolute Distanz zwischen zwei Amplitudenmaxima 𝑘 = o .

230 | Kapitel 2

Für das ontologische Verständnis ist es wichtig, die Hierarchie der Höherstufigkeiten nicht aus dem Blick zu verlieren. Bereits die Eigenschaften A, f und λ sind höherstufige Eigenschaften der niedrigerstufigen Eigenschaften des Schalldrucks, der Dichte und der Schallschnelle. Jede der drei konkreten Eigenschaften bildet ihre spezifische Amplitude, Frequenz und Periodenlänge aus. Um die Lösungsfunktion der Wellengleichung, die wie die Wellengleichung selbst eine höherstufige, notwendige und relationale Eigenschaft über den ihrerseits bereits höherstufigen Eigenschaften A, f und λ ist, auf der physischen Ereignisebene zu interpretieren, muss man sich im Klaren sein, von welcher der drei physischen Ereignisebenen man die Eigenschaften A, f und λ bestimmt. Wir können die Randbedingungen A, f und λ ontologisch als die Maße auffassen, die durch die kausale Ursache des Schwingungsereignisses in die Schwingung eingebracht werden. Erinnern wir uns, wie wir (in 1.1.5.3) die Ursache eines Schwingungsereignisses als Ko-Individuierung der Eigenschaften gefasst haben, die zwingend ein Schwingungsereignis von genau der Art verursachen, wie es faktisch vorliegt. Dieses Eigenschaftsbündel umfasst all die nicht-schwingungshaften Bewegungsmomente, in denen die geometrischen und mechanischen Gegebenheiten am Ort des Geschehens repräsentiert sind. Das Ursache-Wirkung-Schema beinhaltet ja, dass irgendetwas von den Eigenschaften der Ursache in den Eigenschaften der Wirkung wiederkehrt. Diesem ontologischen Umstand entsprechen mathematisch die drei Randbedingungen. A, ω und k sind ontologisch demnach Quantifizierungen derjenigen Druck-, Dichte- und Geschwindigkeitseigenschaften, die aus dem Ursachenereignis der Schwingungserzeugung in das Wirkungsereignis der Schwingung übernommen werden.

2.2.3.2

Psychoakustische Eigenschaften

Psychoakustische Eigenschaften sind, ins ontologisch Unreine gesprochen, Gesetzmäßigkeiten der Wahrnehmung von Klängen und von Klangeigenschaften. Nicht von Klängen selbst (was wir im Kapitel 1 abgehandelt haben) und auch nicht von Klangeigenschaften selbst (von denen wir, zumindest was die intrinsischen angeht, in 2.2.3.1 gehandelt haben), sondern von Klangwahrnehmungen und Klangeigenschaftswahrnehmungen. Im Zusatz

Eigenschaften

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Wahrnehmung liegt, wie man hier schon vermuten kann, denn auch die ontologische Pointe. ❮ M u s i k o l o g i e o h n e O n t o l o g i e , n o c h e i n m a l ❯ Dass es ohne den Menschen und seine kognitive Aktivität, aus den Myriaden von Schwingungswellen ganz bestimmte herauszufiltern und ihnen Sinn zu verleihen, keine Musik gäbe, steht außer Zweifel. Die psychoakustische Schlagseite aber, die sich in den Disziplinen der systematischen Musikwissenschaft zeigt, lässt sich aus diesem Umstand schwerlich rechtfertigen. Die Akustik ist dort Propädeutik für die Psychoakustik, die Musikphilosophie Handwerkszeug der Musikpsychologie und Musiksoziologie. Das Urteil ist vielleicht hie und da ungerecht. Die Tendenz ist mit ihm richtig beschrieben. Untrügliches Indiz ist, dass die Akustik ohne Psycho- längst in die Physik abgewandert ist und die Musik-philosophie ohne -psychologie, -soziologie und -kulturwissenschaft nur in der Philosophie ernsthaft betrieben wird. Am Beginn von Musik also steht eine psychoakustisch fundierte kognitive Aktivität. Die Feststellung steht in genauer Analogie zu derjenigen (in 1.2.1), dass eine Definition von Klang nicht ohne die psychische Aktivität des Hörens auskommt. Was besagt das für die systematische Wissenschaft der Musik? Es besagt zunächst nur, dass ein bestimmter Typus von Klängen nach psychoakustischen Kriterien definiert und nach psychoakustischen Kriterien in ein System gebracht wurde. (Ist der Klangtypus ein Ton, nennt man das System Tonsystem. In der Musik seit Mitte des 20. Jahrhunderts gibt es auch andere Systeme.) Die systematischen Gesetzmäßigkeiten, nach denen das musikalische Handeln (komponieren, aufführen, hören) erklärbar ist, sind daher aber noch lange nicht notwendigerweise Subkategorien einer psychoakustisch oder kognitionswissenschaftlich fundierten Ästhetik oder Phänomenologie des Hörens. Analog dazu konnte aus der Vernähung des Begriffs Klang mit der Aktivität des Hörens auch nicht abgeleitet werden, eine Ontologie von Sounds müsse auf der Psychoakustik von Sounds aufbauen. Ein auf einem Konzertflügel angeschlagener Des-Dur-Akkord, das von einer Sopranistin gesungene f’’’ oder der Sound einer Gretsch Jet Firebird sind durch die psychoakustisch motivierten Festlegungen musikalische Klänge. Trotz der anfänglichen psychoakustischen Entscheidung sind es aber eben Klänge, die uneingeschränkt den individuenontologischen Systematiken des Kapitels 1 und den eigenschaftsontologischen des Kapitels 2 unterliegen. Es mag sein, dass bei den ästhetischen Handlungsgründen selten auf die ontologischen und meist auf die phänomenologischen rekurriert wird. Aber erstens ist das kein Argument gegen den Einbezug der Klangontologie in den Disziplinenkanon der systematischen Musikwissenschaft, so wie es ja auch keines gegen den Einbezug der Akustik ist. Und zweitens rekurriert das ästhetische Handeln zuweilen eben doch auf die ontologische Ebene, etwa wenn in einer begehbaren Klangskulptur mit der (in 1.1.5 erörterten) Distanz zwischen phänomenaler und ontologischer Bestimmung von Ort und Anzahl von

232 | Kapitel 2

Klängen gespielt wird. Die humanen, empirischen, phänomenalen, psychoakustischen, ästhetischen Aktivitäten selektieren und definieren musikalische Klänge. Sie erklären das Selektierte und Definierte damit noch nicht, und sein Sein ragt über die humanen, empirischen, phänomenalen, psychoakustischen, ästhetischen Grenzen durchweg hinaus. Fazit: So wie neben Psychoakustik die Akustik Disziplin der Musikwissenschaft sein (bleiben!) muss, hat neben die Ästhetik selbstverständlich die Klangontologie als musikwissenschaftliche Disziplin zu treten.

Ich teile die psychoakustischen Eigenschaften eher pragmatisch in zwei Segmente: Eigenschaften der Klangwahrnehmung (2.2.3.2.1) und Eigenschaften der Klangeigenschaftswahrnehmung (2.2.3.2.2). Bei ersteren thematisiere ich die sogenannten Hörschwellen, bei denen eine Klangwahrnehmung überhaupt einsetzt und ab denen folglich eine Bestimmung von Klangeigenschaften, die in letzteren thematisiert werden, erst möglich ist. Das ist eine zugegebermaßen arg grobe Orientierung in dem Feld, die durch Lektüre der Fachliteratur beliebig verfeinert werden kann.47 Aber sie genügt uns, um die Ontologie der psychoakustischen Eigenschaften zu studieren. Die Ontologie ist nämlich in allen Teilbereichen mehr oder weniger dieselbe. In beiden Segmenten gehe ich so vor, dass zunächst das psychoakustische Standardwissen vorgestellt wird und anschließend eine ontologische Analyse erfolgt. Je länger das Kapitel, desto knapper kann die Analyse ausfallen, weil, wie gesagt, die Ontologie von Wahrnehmungseigenschaften immer dieselbe bleibt. Was, um auch das zu wiederholen, an dem vorgeschalteten Wahrnehmen liegt. Dass die psychoakustischen Eigenschaften zu den partikularen Eigenschaften von Klängen gehören, in deren großem Kapitel (2.2.3) wir uns befinden, dürfte sich von selbst verstehen. Die Eigenschaft, dass ein Klang gehört wird, und die Eigenschaften, wie er gehört wird, sind zweifellos partikular. Diese Eigenschaften charakterisieren einen Klang nicht als solchen und als ganzen, sondern können mit unbegrenzt vielen weiteren Eigenschaften ko-individuiert sein, zum Beispiel den intrinsischen akustischen oder den extrinsischen örtlichen und historischen Kontexten eines Klangs.

47 Etwa Zwicker/Fastl (1990).

Eigenschaften

2.2.3.2.1

| 233

Eigenschaften der Klangwahrnehmung

Wir lassen den Begriff der Eigenschaft zunächst beiseite und kümmern uns um das, was in der empirischen Wahrnehmungsforschung als absolute Hörschwelle firmiert. Die absolute Hörschwelle ist der minimale Frequenzbetrag, ab dem ein der auditiven Wahrnehmung fähiges Lebewesen eine Hörwahrnehmung hat, und der maximale, ab dem es keine mehr hat. (Relative Hörschwellen sind Grenzbeträge von Schallgrößen, bei denen sich innerhalb einer Dimension, etwa der Tonhöhen- oder der Lautstärkewahrnehmung, in der auditiven Wahrnehmung etwas verändert. Darum soll es hier nicht gehen.) Wie alle hörenden Lebewesen wird das menschliche Ohr in den Schwellenbereichen der Tonhöhenwahrnehmung unsensibler und benötigt einen an die Schmerzgrenze gehenden Schalldruck, um überhaupt etwas zu hören. Im Bereich zwischen 500 und 4000 Hz hört der Mensch am sensibelsten; hier ist der benötigte Schalldruck 20 µPa, was definitionsgemäß 0 dB entspricht. Bei um die 4000 Hz reichen sogar 11 µPa. Über 20.000 Hz hören auch neugeborene Menschenkinder nichts mehr, egal wie hoch der Schalldruck ist. Unter 20 Hz hört der Mensch ebenfalls nichts mehr. Genauer, er hört bei Klängen, die aus mehreren überlagerten Wellen bestehen, eine schnelle Serie mehrerer Klänge. Daher werden Hörschwellentests sinnvollerweise mit reinen Sinusschwingungen durchgeführt, und die werden unter 20 Hz nicht mehr wahrgenommen. Psychoakustisch aufregend, ontologisch hingegen uninteressant sind die Hörschwellen anderer Lebewesen. Elefanten, Kühe und einige Insektenarten haben auch bei Wellen, die weniger als 16 Mal pro Sekunde schwingen, eine Hörwahrnehmung. Beim Ultraschallbereich geht es im Tierreich weit über die humane Hörschwelle hinaus. Hunde hören bis 40.000 Hz, Katzen bis 70.000 Hz. Fledermäuse, Delfine und Wale kommunizieren im Ultraschallbereich und hören je nach Art Schwingungen bis zu 200.000 Hz. Den Rekord hält ein gemeiner Schmetterling, die Große Wachsmotte. Sie hört Druckschwankungen, die 300.000 Mal in der Sekunde zwischen ihrem Maximum und ihrem Minimum pendeln. Wir haben es bei den psychoakustischen Erkenntnissen über Hörschwellen also mit Sätzen der Art (1)

Schwingungen unter 20 Hz können von einem Menschen nicht gehört werden.

234 | Kapitel 2

(2)

Schwingungen über 200.000 Hz können von einem Delfin nicht gehört werden.

zu tun. Ontologisch sind das höherstufige Eigenschaftsbestimmungen. Von den erststufigen Eigenschaften (1’) (2’)

ist eine Schwingung unter 20 Hz ist eine Schwingung über 200.000 Hz

die an einem Individuum wie einem Schwingungsereignis k festgestellt werden könnten, werden die zweitstufigen Eigenschaften (1’’) (2’’)

können von einem Menschen nicht gehört werden können von einem Delfin nicht gehört werden

ausgesagt. Das sieht auf den ersten Blick nach dem ontologischen Muster der akustischen Gesetzmäßigkeiten aus. Aber es gibt einen wichtigen Unterschied. Die Zweitstufigkeit besagt, dass auf alle Individuen, von den die erststufige Eigenschaft wahrheitsgemäß ausgesagt werden kann, auch die zweitstufige Eigenschaft zutrifft. Wenn k mit unter 20 Hz schwingt, kann es vom Mensch nicht gehört werden; wenn es mit über 200.000 Hz schwingt, kann es vom Delfin nicht gehört werden. Soweit herrscht ontologisch Übereinstimmung mit den Gesetzen der Akustik, die sich ja ebenfalls als zweitstufige Eigenschaften entpuppten. Die Wissensbereiche scheiden sich beim Kriterium der Intrinsikalität. Die Gesetzmäßigkeiten der Akustik zeigten sich als intrinsische und daher notwendige Eigenschaften der erststufigen mechanischen Größeneigenschaften einer Schwingung. Die zweitstufigen Eigenschaften der psychoakustischen Gesetze sind aber keine intrinsischen Eigenschaften der erststufigen. Mit der Eigenschaft, weniger als 20 Mal oder mehr als 200.000 Mal pro Sekunde zwischen einem Druckmaximum und einem Druckminimum zu schwanken, hat es rein gar nichts zu tun, ob Menschen oder Delfine dabei einen auditiven Reiz verspüren oder nicht. Es lässt sich ohne Schwierigkeiten eine Welt vorstellen, ja diese Welt hat historisch real existiert, in der es diese Eigenschaften gab und in der sie faktisch individuiert waren, ohne dass es Menschen und Delfine gab, also ohne dass die zweitstufigen Eigenschaften irgendwo individuiert sein konnten. Delfine gibt es seit 60.000.000, Menschen seit 300.000 Jahren. Schwingungen unter 20 Hz und über 200.000 Hz aber haben schon weit vorher den Erdball durchzittert.

Eigenschaften

| 235

Die Eigenschaften (1’’) und (2’’) sind allerdings intrinsisch bezüglich einer anderen Entität, des Menschen bzw. des Delfins. Das bleibt undeutlich, so lange diese Entitäten in den höherstufigen Eigenschaften (1’’) und (2’’) verpackt sind. An ihrer Stelle könnten auch andere Entitäten eingesetzt werden, ohne dass die Wahrheitswertfähigkeit der Sätze beeinträchtigt würde. Daher ist es plausibler, das zweitstufige Prädikat als eine relationale Eigenschaft zu fassen: (n’’)

(…) kann nicht gehört werden von (…)

Manchen Ontologen ist unwohl bei negativen Eigenschaften und sie wollen nur Negationen von gesättigten Sätzen zulassen. Da wir argumentieren wollen, dass man von einer Entität mit Hörorgan eine allgemeine prädikative Aussage machen können muss, zu welcher Hörwahrnehmung ihr Hörorgan fähig ist, wodurch ex negativo auch das markiert wird, was es nicht hören kann, lässt sich die relationale Eigenschaft ohne Schwierigkeit auch positiv formulieren: (N’’) (…) kann gehört werden von (…) Man kann diese relationale Eigenschaft wahrheitswertfähig sättigen mit Individuen. Links könnte ein individuelles Klangereignis eingesetzt werden, etwa dieser Vogelruf um 6 Uhr 57 aus dem Kirschbaum in Nachbars Garten, rechts R.B. Die Pointe einer Eigenschaft des Befähigtseins zu etwas liegt freilich darin, dass man sie auch allgemeiner sättigen kann. In einer oder auch in beiden Leerstellen können Eigenschaften stehen. In der rechten müssen das natürlich Eigenschaften sein, die hörfähige Entitäten insgesamt charakterisieren, also pauschale Eigenschaften wie »ein Mensch« oder »ein Delfin«, die eine bestimmte Art von Lebewesen oder vielleicht auch technischem Gerät als solches und als ganzes bezeichnen. Die von der Eigenschaft des Fähigseins zu etwas eingeforderte Pauschalität der Eigenschaft macht die Intrinsität der Eigenschaft aus. Die Eigenschaft des Fähigseins zu etwas wird mit konstitutiv einem Typus von Entität verknüpft, was im Umkehrschluss heißt: Hätte ein Individuum die besagte Fähigkeit nicht, entspräche es nicht dem Typus. Es gehört ontologisch merkmalhaft zum Menschsein, zwischen 20 Hz und 20.000 Hz einen Hörreiz zu empfinden, und es gehört zum Delfinsein, zwischen 20 Hz und 200.000 Hz eine Hörwahrnehmung zu haben.

236 | Kapitel 2

Auch die linke Leerstelle kann mit einer Eigenschaft gesättigt werden – zum Beispiel mit der Eigenschaft eines Frequenzbereichs, der erststufig an Schwingungsereignissen individuiert ist. Also mit akustischen Eigenschaften! Durch die Sättigungsmöglichkeit nicht nur mit Individuen, sondern mit Eigenschaften kommt der Gesetzmäßigkeitscharakter der Eigenschaft zustande. Die akustischen Primäreigenschaften in der linken Leerstelle vernähen die psychoakustische Aussage mit den akustischen Sätzen, die pauschaleigenschaftliche Benennung einer Wahrnehmungsinstanz in der rechten Leerstelle vernähen sie mit dem Wissensbezirk des Wahrnehmens, von dem wir schon eingangs vermutet haben, dass er hier die ontologische Crux ist. Damit haben wir ein zweifaches Muster einer psychoakustischen Eigenschaft dingfest gemacht. Das eigenschaftsontologische Muster macht sie zu einer spezifisch gesetzmäßigen Eigenschaft. Das semantische Muster macht sie zu einer spezifisch psychoakustischen Eigenschaft. Das eigenschaftsontologische Muster lautet: Eine psychoakustische Eigenschaft ist eine relationale, höherstufige Eigenschaft, die an beiden Leerstellen mit (niedrigerstufigen) Eigenschaften gesättigt wird. Das semantische Muster lautet: Eine psychoakustische Eigenschaft wird an der einen ihrer beiden Leerstellen mit einer akustischen Eigenschaft gesättigt, an der anderen mit einer Wahrnehmungsinstanz. Der Bezug des Sachverhalts, der durch Sättigung der ersteren Leerstelle entsteht, zur Wahrnehmungsinstanz ist intrinsisch. Der Sachverhalt, der durch Sättigung der letzteren Leerstelle entsteht, zur akustischen Eigenschaft ist extrinsisch.

2.2.3.2.2

Eigenschaften der Klangeigenschaftswahrnehmung

Im obigen Abschnitt der absoluten Hörschwellen ging es um die Frage, welche Eigenschaften ein Schwingungsereignis haben muss, damit es bei einem Lebewesen bestimmter Art überhaupt eine auditive Wahrnehmung verursacht. Daher kommen entsprechende Sätze mit zweistelligen Prädikaten aus. Die meisten Sätze der Psychoakustik sind um einen Faktor komplexer. Sie setzen die schiere Tatsache einer auditiven Wahrnehmung voraus und machen Aussagen darüber, wie die Wahrnehmung beschaffen ist. Für das Wie benötigen sie eine dritte Leerstelle.

Eigenschaften

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Wählen wir als Beispiel den Bereich der Tonhöhenwahrnehmung. Aus vielen Geräuschen hört der Mensch Tonhöhen heraus, mal eine, mal mehrere, mal deutlicher, mal undeutlicher konturiert. Der Bereich ist ein klassisches großes Themenfeld der Psychoakustik. Sie bildet Sätze der Art, eine humane Wahrnehmungsinstanz (bisher die Entität in der rechten Leerstelle) über das Prädikat des Hörens mit einem Klang in Relation zu setzen, dessen akustische Eigenschaften wie bisher die linke Leerstelle sättigen. Die relationale Eigenschaft ist nun aber nicht das schiere Faktum des Hörens, sondern das Hören von etwas. Jenes Gehörte sättigt die dritte Leerstelle. Ein schöner Fall ist die Wahrnehmung virtueller Tonhöhen. Der Klang am Hörort zeichnet sich hier durch mehrere harmonische Schwingungen aus, denen die tiefste Frequenz fehlt. Aber genau auf dieser Frequenz wird eine Tonhöhe des Klangs wahrgenommen. Das semantische Muster für eine solche Aussage lautet folglich: (N’’) (1) wird gehört von (2) mit der Eigenschaft (3) Die Leerstelle (2) wird wie bisher mit der pauschalen Eigenschaft der Wahrnehmungsinstanz gesättigt, dem Menschen oder einer bestimmten Tierart in der Regel. In (1) wird die akustische Eigenschaft der harmonischen Schwingungen ohne Grundfrequenz eingesetzt. In (3) steht das eigentliche Resultat der psychoakustischen Forschung: ein Ton auf Höhe der Grundfrequenz. Das ontologische Muster einer derartigen Aussage bleibt erhalten wie oben definiert. Das Prädikat (N’’) ist eine höherstufige Eigenschaft, da nun auch die hinzugekommene dritte Sättigungsentität selbst eine (erststufige) Eigenschaft ist. An keiner Stelle wird eine Individuenentität gefordert. Die Aussage ist also an keiner Stelle an einen raum-zeitlichen Einzelfall gebunden. Sie ist allgemein und hat die Modalität der Gesetzmäßigkeit. Diesem Modell folgen sämtliche Aussagen der psychoakustischen Forschung. Wir betrachten zwei weitere Beispiele aus dem Bereich der Tonhöhenwahrnehmung, zunächst das Phänomen der Maskierung von Tonhöhen, deren Frequenz im Klangereignis mit ausreichendem Schalldruck enthalten ist, durch Rauschen im benachbarten Frequenzbereich. Die Sättigungsentitäten für eine entsprechende Aussage lauten: (1) (2) (3)

ein Klang, der sich aus einem Einzelton der Grundfrequenz f und Rauschen im Frequenzband f±n zusammensetzt ein Mensch Rauschen im Frequenzband f±n

238 | Kapitel 2

Die Variablen f und n sind natürlich nicht frei, sondern voneinander abhängig. Eine Variante davon ist das Phänomen, dass umliegendes Rauschen die Wahrnehmung einer bestimmten Tonhöhe, die im Signal in ausreichendem Schalldruck enthalten ist, nicht völlig verhindert, sondern verändert (und zwar um den Betrag m). Auch hier schlägt sich die psychoakustische Erkenntnisleistung nicht nur der Gesetzmäßigkeit selber, sondern auch im Verhältnis nieder, das f und n hier haben können. In der Aussage stecken die folgenden Sättigungsentitäten: (1) (2) (3)

ein Klang, der sich aus einem Einzelton der Grundfrequenz f und Rauschen im Frequenzband f±n zusammensetzt ein Mensch ein Klang, der sich aus einem Einzelton der Grundfrequenz f+m und Rauschen im Frequenzband f±n zusammensetzt

Anhand der sogenannten Empfindungsgrößen der Psychoakustik sei eine Bemerkung zu den Quantitäten gemacht, in denen eine akustische oder eine psychoakustische Eigenschaft individuiert ist. Sagen wir beispielsweise, das Klangereignisindividuum k habe zum Zeitpunkt t0 und am Raumpunkt l0 einen Schalldruck von 0,03 Pascal und eine Frequenz von 315 Hz. Diese Eigenschaftsbestimmungen haben eine Quantitätskomponente. Besteht irgendein Unterschied, wenn wir stattdessen die fraglichen Eigenschaften so bestimmen, k habe zu t0 an l0 einen Schalldruck und eine Frequenz? Überhaupt keiner, der unbestimmte Artikel »ein« ist nichts weiter als eine sprachliche Nebelkerze, die einen auf die falsche Fährte setzen könnte, Schalldrucke und Frequenzen seien so etwas wie pauschale Eigenschaften, die ob ihrer Pauschalität auch nicht selbst quantifikatorisch sind und zu denen eine quantifizierte Eigenschaft zusätzlich hinzutreten kann. Schalldruck und Frequenz sind Messgrößen, die Raum und Zeit nicht nur als den Punkt des prädikativen Akts benötigen, sondern als eigenschaftskonstituierende Merkmale in sich tragen. Druck ist die Dichte von Teilchen in einer räumlichen Ausdehnung, für die konstitutiv ein Maßsystem benötigt wird, über das sich die Teilchen für ein bestimmten Volumen abzählen lassen. Ohne Quantifizierung des Raums kein Abzählen, da man nicht wüsste, wo man mit Zählen fertig ist; ohne Abzählen keine Druckeigenschaft. Ähnlich ist es mit der Frequenz, die nicht nur konstitutiv den quantifizierten Raum als Merkmal benötigt, damit sich überhaupt sagen lässt, wann ein bewegtes Teilchen wieder an einen schon einmal festgestellten Ort zurückgekehrt ist,

Eigenschaften

| 239

sondern auch noch die quantifizierte Zeit, damit sich die periodische Rückkehr an denselben Ort abzählen lässt. Kurz, akustische Eigenschaften wie Schalldrucke und Frequenzen und alles, was wir im obigen Kapitel abgehandelt haben, tragen in sich eine Quantitätskomponente, gleich ob man sie mitsagt oder nicht. Ontologisch genauso verhält es sich mit einer Reihe von psychoakustischen Eigenschaften, die im Fach mit Empfindungsgrößen oder engl. intensity sensations bezeichnet werden: Lautheit (wie laut wird ein Klang wahrgenommen?), Tonheit oder Tonhaltigkeit (wie stark oder schwach ist in einem Klang eine oder mehrere bestimmte wahrgenommene Tonhöhen enthalten?), Rauhigkeit (als wie rauh wird ein Klang wahrgenommen?), Schwankungsstärke (wie stark schwankt eine Klangwahrnehmung in sich?), Schärfe (als wie scharf wird ein Klang wahrgenommen?) und Impulshaltigkeit (wie stark wird die Impulsivität eines Klangbeginns wahrgenommen?). Diese Eigenschaften von Klängen liegen der humanen auditiven Wahrnehmung immer in einer bestimmten Quantität vor; die Quantität wird durch die phänomenale Maßeinheit stärker/schwächer oder auch mehr/weniger bestimmt. Aus den unscharfen phänomenalen Maßen, die aber offenbar anthropologisch konstant sind, hat die Psychoakustik sogar DIN-genormte Messgrößen gemacht. (Die Details entnehme man wieder der Fachliteratur.) Wie alle bisher erörterten psychoakustischen Eigenschaften sind Aussagen von psychoakustischen Empfindungseigenschaften stets dreistellige relationale Prädikationen des Musters (N’’). Auch die Modalität der Notwendigkeit der Relation ist hier selbstverständlich gegeben. Das heißt, sie bringen über eine Wahrnehmungsinstanz (2) bestimmte akustische Eigenschaften (1) in notwendige Relation mit einer Empfindungseigenschaft (3). Das Beispiel sei die Rauhigkeit. Jeder auditive Wahrnehmungsgehalt hat, so lautet ein psychoakustischer Satz, eine Rauhigkeit in bestimmter Quantität. Das konkrete Satzbeispiel nach dem Muster (N’’) ist zugleich die DIN-Definition des Rauhigkeitsmaßes von 1 asper: (1)

(2) (3)

ein Klang des Schalldruckpegels 60 dB, der sich aus zwei Sinustönen mit Frequenzen von 1000 Hz und 1070 Hz zusammensetzt, wobei der erstere der lautere ist ein Mensch ein Klang, der aus einem Ton (der Frequenz 1000 Hz) mit einer Rauhigkeit von 1 asper besteht

240 | Kapitel 2

Hierin ist der psychoakustische Umstand ausgesagt, dass das menschliche Gehör von zwei Tönen, deren Tonhöhen nahe beieinander liegen, nur den stärkeren als Ton hört, der durch den schwächeren rauh gemacht wird. Je größer die Frequenzdifferenz, desto rauher, bis die Schwelle zum Wahrnehmen zweier separater Töne erreicht ist. In den Leerstellen (1) und (3) stehen quantifizierte Eigenschaften, von denen wir uns nun klargemacht haben, dass sie ihre Quantität als intrinsisches Merkmal tief in sich tragen. Und zwar ihre jeweilige Quantität, denn die Psychoakustik behauptet, dass für die Empfindungseigenschaften kein linearer Zusammenhang zwischen der Quantität der akustischen Eigenschaft und derjenigen der psychoakustischen besteht. Man kann die Quantitätenverläufe beider Eigenschaften als zwei Kurven zeichnen. Legt man sie übereinander, stellt man fest, dass sie ihrer je eigenen Logik folgen. An diesem Umstand lässt sich noch einmal verdeutlichen, wie es um die Intrinsität und Extrinsität der eingesetzten Eigenschaften steht. Wir können hierfür die These aus dem semantischen Muster psychoakustischer Sätze aufgreifen, das wir am Ende des obigen Abschnitts aufgestellt haben. Sie lautet hier, modifiziert um die hinzugekommene dritte Sättigungsstelle: Die Relation zwischen (1) und den Empfindungseigenschaften in (3), die die Psychoakustik behauptet, ist extrinsisch bezüglich der akustischen Primäreigenschaft in (1). Sie ist intrinsisch bezüglich der psychoakustischen Primäreigenschaft in (3). Anders gesagt: Klangwahrnehmungen haben viel mit Klängen zu tun, Klänge aber nichts mit Klangwahrnehmungen. Das Sein von Klängen ist eine Sache, es ist die Sache dieses Buchs. Das Sein von Klangwahrnehmungen ist eine andere, sie sei Phänomenologen, Psychologen und Kulturwissenschaftlern überlassen.

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Farías, Víctor 95 Fine, Kit 171ff. Fischer, Anne Rose 196f. Frege, Gottlob 27ff., 40, 191, 209 Ganghofer, Ludwig 154, 205f. Goethe, Johann Wolfgang 19f., 143f. Grutschus, Anke 198 Gulbranssen, Trygve Emanuel 199ff. Günzel, Stephan 150 Heidegger, Martin 93ff., 116, 126f., 149, 157, 162 Hoffmann-Kolss, Vera 136, 139 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich 151, 159 Hölderlin, Friedrich 150 Horkheimer, Max 143 Husserl, Edmund 70 Ingarden, Roman 36, 70 Irving, John 197 Jünger, Ernst 54, 57, 126 Kant, Immanuel 144 Kienzle, Bertram 91, 103 Kittler, Friedrich 26, 106, 145 Körndle, Franz 209

24 8 | Namenregister

Körner, Theodor 21 Kripke, Saul 173 Kühler, Robert Matthias 197 Künne, Wolfgang 132, 134, 153, 191, 209 Leibniz, Gottfried, Wilhelm 104 Lichtenberg, Georg Christoph 93f., 116 Lindemann, Wilhelm 156 Locke, John 12, 50 Lohmann, Johannes 120 Lucier, Alvin 75 Mackie, Penelope 165 Mann, Thomas 154 Marshall, Daniel Graham 136 Marten, Rainer 95ff. McLuhan, Marshall 32 Munch, Edvard 126, 199ff. Nancy, Jean-Luc 15f. Nietzsche, Friedrich 29, 32f., 199

O’Callaghan, Casey 12 Othman, Yacin Ben 188 Pythagoras 120 Porsche, Ferdinand 72 Quine, Willard Van Orman 50 Russolo, Luigi 107 Schafer, Raymond Murray 32 Sider, Theodore 53 Siegert, Bernhard 175 Sigwart, Christoph 97 Silesius, Angelus (i.e. Johann Scheffler) 66 Solti, Georg 62 Stumpf, Carl 152 Strauss, Richard 25f., 62, 72 Tembrock, Günter 196 Vendler, Zénó 101 Wachter, Daniel von 36, 50, 70, 169 Wagner, Richard 25 Yablo, Stephen 140ff.

Musikwissenschaft Anna Langenbruch (Hg.)

Klang als Geschichtsmedium Perspektiven für eine auditive Geschichtsschreibung Januar 2019, 282 S., kart., Klebebindung, 19 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4498-2 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4498-6

Johannes Müske, Golo Föllmer, Thomas Hengartner, Walter Leimgruber (Hg.)

Radio und Identitätspolitiken Kulturwissenschaftliche Perspektiven Januar 2019, 290 S., kart., Klebebindung, 22 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4057-1 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4057-5

Ralf von Appen, André Doehring (Hg.)

Pop weiter denken Neue Anstöße aus Jazz Studies, Philosophie, Musiktheorie und Geschichte 2018, 268 S., kart., Klebebindung, 6 Farbabbildungen 22,99 € (DE), 978-3-8376-4664-1 E-Book: 20,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4664-5

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Musikwissenschaft Wolf-Georg Zaddach

Heavy Metal in der DDR Szene, Akteure, Praktiken 2018, 372 S., kart., Klebebindung, 21 SW-Abbildungen, 11 Farbabbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4430-2 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4430-6

Jörn Peter Hiekel, Wolfgang Mende (Hg.)

Klang und Semantik in der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts 2018, 268 S., kart., Klebebindung, 42 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-3522-5 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3522-9

Eva-Maria Houben

Musikalische Praxis als Lebensform Sinnfindung und Wirklichkeitserfahrung beim Musizieren 2018, 246 S., kart., Klebebindung, 84 SW-Abbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4199-8 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation

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