Vorgängige Gemeinsamkeit: Zur Ontologie des Sozialen 9783495997789, 9783495491935

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Vorgängige Gemeinsamkeit: Zur Ontologie des Sozialen
 9783495997789, 9783495491935

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I. Einleitung
1. Die Aufgabenstellung der Sozialontologie
a) Nicht dieses oder jenes: Soziales als solches
b) Kein semantisches Problem: das Soziale selbst
c) Intrinsische statt extrinsische Bedingung des Sozialen
2. Aufriss und Thesen der vorliegenden Arbeit
Erster Teil. Aufweis des intentionalistischen Paradigmas
II. Das intentionalistische Paradigma
1. Nur eine gewisse Sorte von Intentionen
2. Der Sachbereich des menschlichen Bewusstseins: zwei Bausteine der Intentionalität
III. Der sozialontologische Individualismus
1. Das »Bewußtsein, mit den andern eine Einheit zu bilden« (Simmel)
2. Dem »gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen« (Weber)
3. Die »Konstituierung des alter ego im Bewußtsein des einsamen Ich« (Schütz)
4. »Society consists of nothing but individuals« (Searle)
5. Der dritte Baustein der Intentionalität des menschlichen Bewusstseins
IV. Der sozialontologische Kollektivismus
1. Der »objective Geist« (Hegel)
2. Die »conscience collective« (Durkheim)
a) Die Analysekategorie der sozialen Solidarität
b) Das Konzept sozialer Tatsachen
c) Das Paradox der sozialwissenschaftlichen Methodenreflexion
3. Die »plural subject theory« (Gilbert)
4. Fazit: das intentionalistische Paradigma als gemeinsame Prämisse von Individualismus und Kollektivismus
Zweiter Teil. Widerlegung des intentionalistischen Paradigmas durch den Begriff vorgängiger Gemeinsamkeit
V. Diesseits von Individualismus und Kollektivismus: hinter das Bewusstsein zurück
1. »Weltwesen« und »Weltkenntniß« (Kant)
2. Der Sachbereich der Sitte: das Mit-, Für- und Gegeneinander
a) Rousseau über »liberté morale«
b) Hegel über »Sittlichkeit«
3. Weder »présence originelle d’autrui« (Sartre) noch »Teilhabe am Erlebnis des anderen in der inneren Zeit« (Schütz)
4. »Ich folge der Regel blind« (Wittgenstein)
a) Die Gebrauchstheorie sprachlicher Bedeutung
b) Regelfolgen als Aktualisierung einer eingespielten Fähigkeit
VI. Zur Erweiterung der Evidenzbasis für die Vorstruktur des menschlichen Bewusstseins
1. Der Sachbereich nonverbaler Facetten der Interaktion
2. Der Sachbereich der Schrift: »besser zu verstehen als ihr Urheber« (Schleiermacher)
3. Die Vorstruktur des menschlichen Bewusstseins im Spiegel weiterer Autoren
a) Ryle über »knowing how«
b) Wittgenstein über »Wissen« und »Können«
c) Gadamer über »Vorurteile«
d) Polanyi über »tacit knowing«
e) Habermas über »Hintergrundwissen«
f) Brandom über »implicit knowledge«
g) »But I know it when I see it« (Stewart)
VII. Die vorgängige Gemeinsamkeit des Bewusstseins von bedeutungstragenden Phänomenen
1. Der Sachbereich der Lebenserfahrung
2. Die erste Begriffsbestimmung: vorgängig gewusste Gemeinsamkeit
Dritter Teil. Ausweitung des Begriffs vorgängiger Gemeinsamkeit
VIII. Der Sachbereich der Natur
1. Zur begrifflichen Abgrenzung von Sozialem und Natur
a) Die formale Soziologie über »Wechselwirkung«
b) Kant über »Causalität«
2. Weiter zugespitzt: Natur in der gegenständlichen Erkenntnisweise moderner Erfahrungswissenschaft
IX. Die vorgängige Gemeinsamkeit des Bewusstseins überhaupt
1. Das »ursprüngliche Miteinandersein« (Heidegger)
2. Noch einmal zur Sitte: das Neben- und Ohneeinander
3. Die zweite und abschließende Begriffsbestimmung: Gemeinsamkeit des vorgängigen Wissens
4. Der sozialontologische Aspektizismus: das soziale Individuum
X. Explikation als methodischer Sinn der Sozialontologie
1. Wittgenstein über ›Besinnung‹, Habermas über »Rekonstruktion« und Brandom über Making It Explicit
2. Vorgängige Gemeinsamkeit als Quelle, Messlatte und Ziel
3. Die Selbstbezüglichkeit sozialontologischer Erkenntnis
Literaturverzeichnis
Register

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Stephan Zimmermann

Vorgängige Gemeinsamkeit Studie zur Ontologie des Sozialen

ALBER PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495997789

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Stephan Zimmermann Vorgängige Gemeinsamkeit. Studie zur Ontologie des Sozialen

ALBER PHILOSOPHIE

A

https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Stephan Zimmermann

Vorgängige Gemeinsamkeit. Studie zur Ontologie des Sozialen

Verlag Karl Alber Freiburg / München https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Stephan Zimmermann Antecedent Commonality. Study on the Ontology of the Social Social ontology asks about the necessary and sufficient condition for something to be social. The newer and older literature shows a paradigmatic approach. According to this approach, it is the concept of human consciousness that must provide the framework for conceptualizing the social. The present study pursues the aim of documenting and refuting this paradigm and to replace it by a different one. The guiding idea is that the ontology of the social should instead start from the concept of implicit knowledge. Our consciousness must always also be analyzed from the underlying implicit knowledge, and this knowledge already has social traits.

The Author: Stephan Zimmermann, Ph.D. 2009 at the Ruprecht-Karls-University Heidelberg, habilitation 2019 at the Rheinische Friedrich-WilhelmsUniversity Bonn, research focuses are practical philosophy, social and political philosophy as well as modern hermeneutics, besides numerous articles and editorships, is published as a monograph Kant’s Categories of Freedom (2011).

https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Stephan Zimmermann Vorgängige Gemeinsamkeit. Studie zur Ontologie des Sozialen Die Sozialontologie fragt nach der notwendigen und hinreichenden Bedingung dafür, dass etwas etwas Soziales ist. Die neuere und ältere Literatur zeigt dabei einen paradigmatischen Analyseansatz. Danach ist es der Begriff des menschlichen Bewusstseins, von dem sozialontologische Entwürfe ausgehen. Die vorliegende Studie verfolgt das Ziel, dieses Paradigma zu dokumentieren, zu widerlegen und durch einen anderen Ansatz zu ersetzen. Ihr leitender Gedanke ist, dass die Ontologie des Sozialen stattdessen an den Begriff impliziten Wissens zu knüpfen ist. Unser Bewusstsein ist immer auch von dem ihm noch zugrunde liegenden impliziten Wissen her zu analysieren, und jenes trägt bereits soziale Züge.

Der Autor: Stephan Zimmermann, Promotion 2009 an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Habilitation 2019 an der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn, Forschungsschwerpunkte sind praktische Philosophie, Sozial- und politische Philosophie sowie moderne Hermeneutik, neben zahlreichen Artikeln und Herausgeberschaften liegt als Monographie vor Kants Kategorien der Freiheit (2011).

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Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben. Hans-Georg Gadamer

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort I.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Aufgabenstellung der Sozialontologie . . . . a) Nicht dieses oder jenes: Soziales als solches . b) Kein semantisches Problem: das Soziale selbst c) Intrinsische statt extrinsische Bedingung des Sozialen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aufriss und Thesen der vorliegenden Arbeit . . .

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. . . .

15 15 15 18

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Das intentionalistische Paradigma . . . . . . . . . . . . . 1. Nur eine gewisse Sorte von Intentionen . . . . . . 2. Der Sachbereich des menschlichen Bewusstseins: zwei Bausteine der Intentionalität . . . . . . . . .

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Der sozialontologische Individualismus . . . . . . . . . . 1. Das »Bewußtsein, mit den andern eine Einheit zu bilden« (Simmel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Dem »gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen« (Weber) . . . . . . . . . . . . . 3. Die »Konstituierung des alter ego im Bewußtsein des einsamen Ich« (Schütz) . . . . . . . . . . . . . . . 4. »Society consists of nothing but individuals« (Searle) 5. Der dritte Baustein der Intentionalität des menschlichen Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erster Teil Aufweis des intentionalistischen Paradigmas II.

III.

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Inhaltsverzeichnis

IV.

Der sozialontologische Kollektivismus . . . . . . . . . 1. Der »objective Geist« (Hegel) . . . . . . . . . . . 2. Die »conscience collective« (Durkheim) . . . . . . a) Die Analysekategorie der sozialen Solidarität b) Das Konzept sozialer Tatsachen . . . . . . . c) Das Paradox der sozialwissenschaftlichen Methodenreflexion . . . . . . . . . . . . . 3. Die »plural subject theory« (Gilbert) . . . . . . . 4. Fazit: das intentionalistische Paradigma als gemeinsame Prämisse von Individualismus und Kollektivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . .

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. 157 . 168 . 183

Zweiter Teil Widerlegung des intentionalistischen Paradigmas durch den Begriff vorgängiger Gemeinsamkeit V.

Diesseits von Individualismus und Kollektivismus: hinter das Bewusstsein zurück . . . . . . . . . . . . . . 1. »Weltwesen« und »Weltkenntniß« (Kant) . . . . . . 2. Der Sachbereich der Sitte: das Mit-, Für- und Gegeneinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rousseau über »liberté morale« . . . . . . . . b) Hegel über »Sittlichkeit« . . . . . . . . . . . . 3. Weder »présence originelle d’autrui« (Sartre) noch »Teilhabe am Erlebnis des anderen in der inneren Zeit« (Schütz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. »Ich folge der Regel blind« (Wittgenstein) . . . . . a) Die Gebrauchstheorie sprachlicher Bedeutung . b) Regelfolgen als Aktualisierung einer eingespielten Fähigkeit . . . . . . . . . . . . . . .

VI. Zur Erweiterung der Evidenzbasis für die Vorstruktur des menschlichen Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Sachbereich nonverbaler Facetten der Interaktion 2. Der Sachbereich der Schrift: »besser zu verstehen als ihr Urheber« (Schleiermacher) . . . . . . . . . . .

10 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

193 193 208 208 229

238 245 245 256

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Inhaltsverzeichnis

3.

Die Vorstruktur des menschlichen Bewusstseins im Spiegel weiterer Autoren . . . . . . . . . . . . . a) Ryle über »knowing how« . . . . . . . . . . b) Wittgenstein über »Wissen« und »Können« . c) Gadamer über »Vorurteile« . . . . . . . . . d) Polanyi über »tacit knowing« . . . . . . . . e) Habermas über »Hintergrundwissen« . . . . f) Brandom über »implicit knowledge« . . . . . g) »But I know it when I see it« (Stewart) . . .

. . . . . . . .

VII. Die vorgängige Gemeinsamkeit des Bewusstseins von bedeutungstragenden Phänomenen . . . . . . . . . . . . 1. Der Sachbereich der Lebenserfahrung . . . . . . . . 2. Die erste Begriffsbestimmung: vorgängig gewusste Gemeinsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

288 289 295 298 302 304 307 310

313 313 321

Dritter Teil Ausweitung des Begriffs vorgängiger Gemeinsamkeit VIII. Der Sachbereich der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur begrifflichen Abgrenzung von Sozialem und Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die formale Soziologie über »Wechselwirkung« . b) Kant über »Causalität« . . . . . . . . . . . . 2. Weiter zugespitzt: Natur in der gegenständlichen Erkenntnisweise moderner Erfahrungswissenschaft .

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IX. Die vorgängige Gemeinsamkeit des Bewusstseins überhaupt 1. Das »ursprüngliche Miteinandersein« (Heidegger) . 2. Noch einmal zur Sitte: das Neben- und Ohneeinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die zweite und abschließende Begriffsbestimmung: Gemeinsamkeit des vorgängigen Wissens . . . . . . 4. Der sozialontologische Aspektizismus: das soziale Individuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

387 387

349 349 354 369

399 411 426

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Inhaltsverzeichnis

X.

Explikation als methodischer Sinn der Sozialontologie . 1. Wittgenstein über ›Besinnung‹, Habermas über »Rekonstruktion« und Brandom über Making It Explicit . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorgängige Gemeinsamkeit als Quelle, Messlatte und Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Selbstbezüglichkeit sozialontologischer Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . 434 . . 434 . . 444 . . 452

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2019/20 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Habilitationsschrift angenommen. Für die Publikation wurde der Text an einigen Stellen gekürzt, an anderen ergänzt und teilweise überarbeitet. Die Gelegenheit dieses Vorwortes möchte ich nutzen, um all jenen Personen und Institutionen zu danken, ohne deren Unterstützung dieses Buch nicht hätte zustande kommen können und die auf unterschiedliche Weise zu seiner Entstehung beigetragen haben. Angestoßen wurde das Projekt im Jahr 2011 durch eine Vortragseinladung von Petar Bojanic und Maurizio Ferraris an das »Institute for Philosophy and Social Theory« der Universität Belgrad. Von da an habe ich es am Institut für Philosophie der Universität Bonn und dem dort angesiedelten »Internationalen Zentrum für Philosophie NRW« unter günstigsten Arbeitsbedingungen verfolgen können, bis 2013 zunächst am Lehrstuhl von Markus Gabriel, hernach am Lehrstuhl von Michael N. Forster. Beiden gilt mein besonderer Dank, für die Förderung, welche sie mir über die Jahre hinweg zuteilwerden ließen, und die geistige Atmosphäre, welche sie schufen und die stets zu einer freien Arbeit sowohl am Begriff als auch an den Phänomenen ermunterte. Die hier veröffentlichten Überlegungen habe ich im Laufe der Jahre in verschiedenen Vorträgen vorgestellt. Ich danke allen, die mich durch kritische Nachfragen vorangebracht haben. Dazu zählt mein Vortrag auf dem 2. Bonner Humboldt-Preisträger-Forum 2012; mein Dank gilt nicht nur dafür Wolfram Hogrebe sowie der »Alexander von Humboldt-Stiftung« und Steffen Mehlich. Außerdem ist mein Beitrag zum Bonner Workshop mit und über Arbeiten von Michael Quante »Zur Aktualität der Sozialphilosophie von Hegel und Marx« sowie zur Tagung »Language and the Normative Structure of Human Civilization« im selben Jahr zu erwähnen, die am 13 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Vorwort

Bonner »Käte Hamburger Kolleg »Recht als Kultur«. Centre for Advanced Study« stattfand; dessen Direktor, Werner Gephart, bin ich für die Gelegenheit dankbar, meine Ideen erstmals mit dem anwesenden John Searle zu debattieren, woran sich seitdem weitere Begegnungen und Debatten über sozialontologische Fragen angeschlossen haben. Überdies danke ich für ihre Rückmeldungen den Teilnehmern des Forschungskolloquiums von Dieter Schönecker an der Universität Siegen im Wintersemester 2018, der von Jenny Pelletier und Christian Rode organisierten Tagung »Contemporary and Medieval Social Ontologies« am Bonner Institut für Philosophie 2019 sowie des deutsch-französischen Workshops »La réalité des normes«, veranstaltet von Jocelyn Benoist, an der Université Paris 1 PanthéonSorbonne desselben Jahres. Ferner gebührt mein Dank Christian Krijnen. Zusammen richteten wir 2014 die Tagung »Social Ontology. Perspectives of German Idealism« an der Universität Bonn aus. Damit haben wir versucht, die historische Quellenlage für die gegenwärtige Forschung zur Sozialontologie zu erweitern. Im Zuge dessen danke ich ebenso den Zuhörern für die hilfreiche Diskussion meines eigenen Vortrags, insbesondere Theo Kobusch, weil er mich hier wie sonst darin bestärkt hat, Klassiker für die systematischen Fragen der Gegenwart fruchtbar zu machen. Weiterhin schulde ich Mamuka Beriashvili Dank für die wiederholte Einladung an die Ilia State University in Tiflis. Dort habe ich mit den Teilnehmern der deutsch-georgischen Sommerschule 2013 und 2014 einige Themen meines Projekts erörtern können; Walter Jaeschke, Ludwig Siep und Johannes Weiß bin ich für Gespräche und Anregungen im Verlauf der Sommerschulen zu Dank verpflichtet. Schließlich muss ich mich bei den Teilnehmern meines Seminars zur kollektiven Intentionalität im Sommersemester 2013 am Bonner Institut für Philosophie bedanken. Zu guter Letzt danke ich Christian Rode und vor allem Jens Rometsch, die mir zu einer Vorfassung der eingereichten Habilitationsschrift Kommentare zukommen ließen und dadurch entscheidende Kürzungen, Ergänzungen und Überarbeitungen nötig machten. Michael N. Forster, Markus Gabriel, Christoph Horn und Guido Kreis gilt mein Dank für die Begutachtung der Arbeit. Ihre Gutachten enthielten gleichfalls wichtige Verbesserungsvorschläge, denen die hier vorgelegte Endfassung des Textes Rechnung zu tragen sucht. Bonn, im Januar 2020

Stephan Zimmermann

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I.

Einleitung

1.

Die Aufgabenstellung der Sozialontologie

a)

Nicht dieses oder jenes: Soziales als solches

Die Ontologie des Sozialen, wie ich sie verstehe und sie auch weithin verstanden wird, jedenfalls seit den einschlägigen Schriften von John Searle, beschränkt sich nicht auf diese oder jene Art sozialer Phänomene. So will sie u. a. kein Ideal aufrichten, durch das gewisse gesellschaftliche Verhältnisse der Menschen normativ ausgezeichnet sind im Gegensatz zu möglichen anderen. Derlei als ideal erachtete Verhältnisse mögen solche sein, die sich durch vollständige gegenseitige Anerkennung der Beteiligten auszeichnen, die als gerecht oder fair gelten, als versöhnt oder vernünftig, zivilisiert, verfeinert, gottgefällig u. dgl. m. Jedoch begnügt sich die Sozialontologie mit keiner bestimmten Einrichtung der Gesellschaft, welche als Norm angesetzt wird. Auch gibt sie sich nicht bloß mit einem gewissen Teilbereich menschlicher Gesellschaft zufrieden im Gegensatz zu möglichen anderen, beispielsweise der Politik oder dem Recht, der Wirtschaft oder der Erziehung. Politologie, Jurisprudenz, Ökonomie, Pädagogik und andere Sozialwissenschaften teilen das Gebiet gesellschaftlicher Erscheinungen unter sich auf, indem sie es jeweils nach einer seiner Seiten erforschen. Der Ontologie des Sozialen hingegen bleibt jede solche Einseitigkeit fremd. Nicht hebt sie einen bestimmten Teilbereich heraus, in dem sie sich ausschließlich oder hauptsächlich einrichtet. Darüber hinaus nimmt sie sich nicht nur auf manche zwischenmenschlichen Verkehrsformen im Gegensatz zu möglichen anderen zurück. Man mag sich klassische Briefe oder elektronische Mails schreiben, vor Ort oder telefonisch kommunizieren, durch nonverbale Mienen, Gesten oder Posen, man kann dienstlich oder privat auf15 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Einleitung

einandertreffen, im Kreis einer ›echten‹ Gemeinschaft oder einer ›bloßen‹ Gesellschaft Umgang haben etc. Die Sozialontologie hält sich an keine bestimmte derartige Form, wie Menschen miteinander verkehren, um alle oder die meisten übrigen außen vor zu lassen. Schließlich erstreckt sie sich nicht auf manche Epochen gesellschaftlicher Entwicklung im Gegensatz zu möglichen anderen. Sie hat es z. B. nicht mit der Formation der Moderne anstatt der Vormoderne zu tun, mit der der bürgerlichen Gesellschaft anstatt ihrer feudalen Vorgeschichte. An solchen epochalen Einteilungen ist der Ontologie des Sozialen ebenso wenig gelegen wie an historischen Erklärungen. Sie will nicht erklären, aufgrund welcher Ereignisse und Veränderungen sich eine bestimmte Gesellschaftsformation entwickelt hat, die moderne aus der vormodernen, die bürgerliche aus der feudalen Gesellschaft. Es ließen sich hierbei noch weitere Grenzziehungen anführen. Doch gilt in jedem Fall, dass die Sozialontologie auf diese sowohl als auch auf jene Art sozialer Phänomene ausgreift. Sie ist etwas auf der Spur, das genauso solche gesellschaftlichen Verhältnisse betrifft, die eine unvollständige gegenseitige Anerkennung der Beteiligten zeigen, die ungerecht oder unfair sind, unversöhnt oder unvernünftig, unzivilisiert, roh, gottmissfällig usw. Was sie thematisiert, ist mithin keinerlei Ideal oder Norm. 1 Und es geht genauso durch die sonstigen Teilbereiche der Gesellschaft hindurch, Kunst etwa und Sport, Wissenschaft und Religion. Auch übergreift ihr Thema sämtliche Formen des zwischenmenschlichen Verkehrs und überdauert sämtliche Epochen gesellschaftlicher Entwicklung. So auch im Falle aller weiteren Grenzen, die man in Bezug auf die Gesellschaft der Menschen ziehen möchte. 2 Entsprechend erörtert die Sozialontologie auch keine gesellschaftlichen Pathologien oder Entfremdungsphänomene. Eine solche Erörterung geschieht zumeist unter dem Titel der ›Sozialphilosophie‹. Vgl. Honneth, Axel: Pathologien des Sozialen. Tradition und Aufgaben einer Sozialphilosophie, in: Ders. (Hg.): Pathologien des Sozialen. Die Aufgaben der Sozialphilosophie, Frankfurt a. M. 2000, S. 9–70; Jaeggi, Rahel: Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Frankfurt a. M. 2005. 2 Tietz richtet seine Theorie der Gemeinschaft an dem philosophischen Diskurs der Moderne aus, dessen Kernthema er mit den Worten von Habermas diagnostiziert: »das Erlahmen der sozialen Bindekräfte, Privatisierung und Entzweiung, kurz: jene Deformation einer einseitig rationalisierten Alltagspraxis, die das Bedürfnis nach einem Äquivalent für die vereinigende Macht der Religion hervorrufen«. (Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1

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Die Aufgabenstellung der Sozialontologie

Das ist indes nicht so gemeint, dass die Ontologie des Sozialen auf eine schlichte Sammlung und Wiedergabe sämtlicher sozialen Erscheinungen aus ist. Sie sammelt nicht einfach, was sich dem Blick darbietet, gibt keine besonderen Tatsachen oder Klassen von Tatsachen wieder. Schon gar nicht entscheidet sie darüber, welche Tatsachen oder Klassen von Tatsachen es gibt. Worum es der Sozialontologie zu tun ist, verlangt stattdessen, Soziales in eminenter Weise zu betrachten. Von dem, was an irgendeiner sozialen Erscheinung beiherspielt, ist abzusehen; das Trennende soll auf die Seite gesetzt werden. Und nach dem Verbindenden aller etwaigen Beispiele nur ist hinzusehen. Die Beispiele sind allein insofern von Belang, als sie etwas Soziales sind, was auch sonst noch davon zu sagen sein mag; ungetrübt durch das, was ferngehalten wird, soll lediglich ihr Sozialsein festgehalten werden. Dieses Allgemeine ist zur Betrachtung zu bringen. Ohne Zweifel hat man es dabei mit etwas zu tun, das einem keineswegs fremd ist. Soziales kennt ein jeder von uns, auch wenn er es kaum im Ganzen überschaut. Es begegnet einem allerorts, umgibt und trägt uns, beflügelt und enttäuscht, bezaubert und verbittert, aber es bietet eher das Bild einer unermesslich reichhaltigen und auseinanderstrebenden Vielfalt. Die sozialontologische Aufgabenstellung ist es zu klären, ob die fraglichen Erscheinungen, so verschiedenartig sie auch sein mögen, nicht eine Minimalbestimmtheit teilen, die alles Soziale durchzieht. Aufgegeben ist die Klärung des sprichwörtlich gewordenen sozialen Bandes (vinculum sociale), um eine beliebte Metapher der Sozialtheoretiker des 18. und 19. Jahrhunderts zu bemühen, auf das die betreffenden Phänomene gewissermaßen, um im Bild zu bleiben, wie Perlen aufgezogen sind. 3 Indem man einen ontologischen Standpunkt zu Sozialem gewinnen will, hat man sich dem Gewohnten mit einer ungewöhnlichen Blickstellung zuzuwenden. Die Ontologie des Sozialen zielt darauf 1985, S. 166) Als eines dieser Äquivalente untersucht Tietz eine u. a. durch Gemeinsinn und Gemeinwohl definierte Gemeinschaft von Menschen. Vgl. Tietz, Udo: Die Grenzen des Wir. Eine Theorie der Gemeinschaft, Frankfurt a. M. 2002, S. 9 ff. 3 So etwa bei Janet, Paul A. R.: La morale, Paris 1874, S. 124, und das in ausdrücklicher Anlehnung an das vinculum substantiale bei Gottfried Wilhelm Leibniz. Siehe auch Durkheim, Émile: De la division du travail social (1893), Paris 71960, S. 28; Tarde, Gabriel: La réalité sociale, in: Revue philosophique de la France et de l’étranger 52 (1901), S. 462. Für das 18. Jahrhundert siehe etwa Jean-Jacques Rousseaus Contract social, wo mehrfach vom »lien social« (CS 367, 368, 386, 438) die Rede ist.

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Einleitung

ab, in der reichhaltigen Fülle sozialer Phänomene eine durchgehende Einheit aufzudecken: Bei all den Verschiedenheiten, die zwischen den Phänomenen bestehen, kommt es ihr darauf an, sie in derjenigen Hinsicht zu ergreifen (wenn es denn eine solche Hinsicht gibt), worin sie unbeschadet ihrer Unterschiede übereinstimmen, insofern sie nur soziale sind. Die vielberufene Formel, welche eine solche Art des Fragens klassischerweise anzeigt, ist ›als solches‹. Dabei handelt es sich um die deutsche Übersetzung des lateinischen ut talis bzw. qua talis, in dem sich das ontologische Denken des scholastischen Spätmittelalters ausspricht und das in der Diktion der deutschen Schulphilosophie nachklingt; es entspricht seinerseits dem ᾗ der griechischen Antike. Im Schlagwort dieser Tradition formuliert, fragt die Sozialontologie danach, was etwas, das etwas Soziales ist, als solches kennzeichnet. So lautet auch die Fragestellung, der die vorliegende Studie nachgeht. 4

b)

Kein semantisches Problem: das Soziale selbst

Das ist aber keine oder, genauer gesagt, nicht nur eine Frage der Sprache. Leicht geht ja dem Ohr der Gegenwart ein, wenn von etwas als etwas Sozialem die Rede ist. Unzählige adjektivische Bildungen und Komposita sind heute in aller Munde. Selbstverständlich hören wir von Sozialpolitik und Soziallasten, von Sozialarbeit, Sozialabbau und Sozialkompetenz, Sozialprodukt und Sozialfall, oder man lobt etwas als sozialverträglich, untersucht den sozialen Strukturwandel einer Gesellschaft, schließt sich einer sozialen Bewegung an oder interessiert sich für den sozialen Hintergrund einer Person, appelliert an das soziale Gewissen oder mahnt mehr soziale Werte an u. v. a. m. Dabei hat das aus dem Lateinischen kommende Lehnwort ›sozial‹ seine Erfolgsgeschichte im Deutschen erst vor rund 200 Jahren angetreten. 5

So entwirft auch Eisler, was er »Sozialphilosophie« bzw. »Soziologie« nennt, als diejenige Wissenschaft, welche auf »das soziale Leben als solches« zielt. (Eisler, Rudolf: Kritische Einführung in die Philosophie, Berlin 1905, S. 351) 5 Siehe dazu Zimmermann, Waldemar: Das ›Soziale‹ im geschichtlichen Sinn- und Begriffswandel, in: Geck, Ludwig H. A./Kempski, Jürgen von/Meuter, Hanna (Hg.): Studien zur Soziologie, Bd. 1, Mainz 1948, S. 173–191; Geck, Ludwig H. A.: Das Aufkommen des Wortes ›sozial‹ im Deutschen, in: Muttersprache 71 (1961), S. 294–308; Über das Eindringen des Wortes ›sozial‹ in die deutsche Sprache, Göttingen 1963. 4

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Die Aufgabenstellung der Sozialontologie

Anders als social in Frankreich und social in England fand ›sozial‹ im deutschen Sprachraum bis um das Jahr 1830 noch keine nennenswerte Aufnahme. Erst von da an ist ein rasanter Anstieg zu beobachten, und das auf zwei unterschiedlichen Feldern. Auf der einen Seite kommen jene drastischen Missstände, welche die tiefgreifenden Umwälzungen der industriellen Revolution in allen westeuropäischen Ländern mit sich bringen, insgesamt als soziale Frage (question social) ins Gespräch. 6 Durch die verschiedenen, gemäßigtreformerischen bis radikal-revolutionären Strömungen, die sich unter der Sammelbezeichnung ›Sozialismus‹ aufstellen bzw. zusammengefasst werden, entsteht eine politische Marschparole, die die beunruhigenden Lebensumstände der Proletarier anklagt und die besitzenden Gesellschaftsschichten zum Kampf für die unterdrückte und ausgebeutete Arbeiterklasse aufruft. 7 Zeitgleich wird ein Drängen anderer Art spürbar, das auf die praktische Ausbildung und theoretische Begründung einer erfahrungswissenschaftlichen Erforschung gesellschaftlicher Zusammenhänge geht. Das geschieht zumeist unter dem Titel der sozialen Wissenschaft (science sociale) oder Soziologie (sociologie). 8 Seitdem hat sich der Ausdruck zu einem gängigen Bestandteil der wissenschaftlichen Fach- und gelehrten Bildungssprache ausgewachsen. Was ›sozial‹ alsdann besagen will, liegt jedoch keineswegs offen zutage. Denn was ist es, das da in Wissenschaft und Politik, Verwaltung und Presse scheinbar wahllos allem im Leben der Menschen beigelegt zu werden vermag? Eine Erläuterung durch Erbworte trägt hier nichts ein. Denn das schon aus dem Althochdeutschen stammende ›gesellschaftlich‹ überschneidet sich mit ›sozial‹ oder fällt ganz damit zusammen. Nur so werde ich es im Weiteren auch aus Gründen stilistischer Abwechslung verwenden: Gesellschaftlich ist Vgl. Fohlen, Claude: Qu’est-ce que la révolution industrielle?, Paris 1971, S. 15 ff. Heine bedient sich in seinem Pariser Artikel für die Augsburger Allgemeine Zeitung vom 30. April 1840 zuerst der deutschen Übersetzung, jedoch noch im Plural, »sociale Fragen«. (Heine, Heinrich: Lutezia. Berichte über Politik, Kunst und Volksleben. Erster Theil, DHA Bd. 13/1, Hamburg 1988, S. 32) 7 Vgl. HWP-Redaktion: Sozial, das Soziale, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9: Se-Sp, Basel 1995, Sp. 1118. 8 Der Terminus ›sociale Wissenschaft‹ findet sich erstmals 1837 in der deutschen Übersetzung de Sismondi, Jean: Forschungen über die Verfassungen der freien Völker, Frankfurt a. M. 1837. Der Name ›Soziologie‹ geht zurück auf Comte, Auguste: Système de politique positive ou Traité de sociologie, instituant la religion de l’humanité, 4 Bde., Paris 1851 ff. 6

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Einleitung

laut Duden, was die menschliche Gesellschaft betrifft, 9 und sozial ist das die Gesellschaft der Menschen Betreffende. 10 Jedoch ist die Aufgabe, welche sich der Ontologie des Sozialen stellt, keine semantische. Was erwogen werden soll, ist nicht die Bedeutung eines Wortes und seines Gebrauchs. Sondern zu fragen steht, ob sich in all den vielfältigen Erscheinungen, die wir heutzutage als ›soziale‹ anzusprechen pflegen – und vielleicht auch noch in einigen anderen Erscheinungen mehr –, wirklich ein Gemeinsames durchhält. Und, wenn ja, worin dieser einheitliche Charakter besteht. Was damit aufgegeben ist, stellt nicht nur auf den sprachlichen Ausdruck ab, obschon das so Erfragte sehr wohl die Sprache mit einschließt, sofern sie etwas Soziales ist. Es wäre aber irreführend, wollte man die Frage durch eine Analyse des Ausdrucks und seiner Verwendung abtun. Die Verwechslung, der man dabei aufsäße, ist vergleichbar der, da jemand Einsichten in Aufbau und Funktion von Zellen zu erlangen sucht, indem er sich einen Überblick über die Semantik des Wortes ›Zelle‹ verschafft. Muss doch eine gang und gäbe gewordene Wortbedeutung die betreffende Sache, ihre Natur und ihren Umfang, nicht angemessen wiedergeben. Gewiss, das Bemühen um begriffliche Durchdringung einer Sache hat mit bereits bestehenden gesellschaftlichen Deutungen zu rechnen und darf nicht über ihren sprachlichen Ausdruck hinweggehen. Doch kann das nicht heißen, sich endgültig an Deutungen zu halten, welche in der Sprache abgelagert sind. 11 Es kommt folglich darauf an, letzten Endes über die sprachliche Bedeutung hinaus- und zu demjenigen hinzugelangen, was darin zur Sprache kommt: Die Sache selbst ist es, die ins Licht treten soll. Die Sache selbst ist, wie ich in substantivierter Form sagen möchte, das Soziale. 12 Während die Redeweise von etwas als etwas Sozialem vergleichsweise jung ist, ist dasjenige, was damit bezeichnet sein will, doch außerordentlich alt. Oftmals hat ja die Sprache für das, was man erlebt oder erstrebt, nicht gleich die richtigen Worte parat; greifVgl. Duden. Deutsches Universalwörterbuch, Mannheim/Zürich 72011, S. 712. Vgl. ebd., S. 1629. 11 Jansen legt, was er »analytische Sozialontologie« nennt, als »Untersuchung sprachlicher Ausdrücke und Äußerungen« an. (Jansen, Ludger: Gruppen und Institutionen. Eine Ontologie des Sozialen, Wiesbaden 2017, S. 17) 12 So ist für von Wiese die »Kernfrage« der Soziologie: »Was ist das Soziale?« (von Wiese, Leopold: Sozial, geistig und kulturell. Eine grundsätzliche Betrachtung über die Elemente des zwischenmenschlichen Lebens, Leipzig 1936, S. 7) 9

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Die Aufgabenstellung der Sozialontologie

bare Ausdrücke treten meist erst später auf als die Realitäten, welche sie spiegeln. Immerhin haben Menschen bereits dort miteinander gearbeitet, füreinander gesorgt und gegeneinander gestritten, wo die gemeinsame Wahrheit solcher und anderer Vorgänge ihren Weg noch nicht ins Vokabular der Sprache gefunden hat. An ihrer Aufklärung aber ist die Sozialontologie und damit die hier vorgelegte Untersuchung interessiert: Sie verfolgt zuletzt ein rein sachliches Interesse, nämlich dasjenige, das Soziale selbst aufzuklären. 13 Damit steht sie sozusagen quer zu diversen Sachbereichen. Denn Sprache, einerlei ob als gesprochene oder als geschriebene, ist dafür nur ein mögliches Beispiel; insoweit Sprache eine soziale Erscheinung ausmacht, ist sie ihrerseits mit in die Frage gestellt. Doch ist es der sozialontologischen Begriffsbildung eben nicht um das Eigentümliche jener Sachbereiche zu tun, etwa darum, was Sprache zur Sprache macht. So werde auch ich mich im Folgenden mit mehreren ausgesuchten Beispielen beschäftigen: neben Sprache und Schrift etwa mit dem nonverbaler Mienen, Gesten und Posen in der Interaktion unter Anwesenden und dem der Sitte, mit dem des menschlichen Bewusstseins und dessen Intentionalität sowie mit dem des impliziten Wissens. Das aber nicht so, dass mir diese Erscheinung dabei je wesentlich ist; ich arbeite mich daran mehr nur entlang, um dort hinzukommen, worum es mir eigentlich geht. Und das ist deshalb machbar, weil die genannten Erscheinungen ebenso wie etliche andere auch stets einen, wie zu zeigen sein wird, gesellschaftlichen Zug aufweisen. Ihn allein gilt es, zur Abhebung zu bringen, weshalb ich keine eigene und erschöpfende Theorie des jeweiligen Sachbereichs entfalten werde und zu entfalten brauche.

Die sanskritische Wurzel, aus der sich die lateinische Wortfamilie um socialis ableitet, ist sac-. Durch sie kommt zum Ausdruck, dass eines zu einem anderen gehört, damit zu tun hat oder vertraut ist, verbunden oder verbündet. Vgl. Mayrhofer, Manfred: Kurzgefaßtes etymologisches Wörterbuch des Altindischen, Bd. 3: Y–H, Heidelberg 1964, S. 1418. Sie ist in das Verb sequi eingegangen, was (nach)folgen, begleiten, sich anschließen bedeutet. Daraus entwickelte sich eine Gruppe von Ausdrücken, zu der etwa societas und socius zählen. Diese haben allerdings wie das mittelhochdeutsche ›geselleschaft‹ und das althochdeutsche ›giselliscaft‹ diverse Bedeutungen. Sie beziehen sich u. a. auf Eheleute und Freunde, Gefährten und Bundesgenossen, Gäste und Handelspartner. Erst seit dem 15. Jahrhundert wird ›Gesellschaft‹ auch auf die soziale Ordnung der Menschen bezogen. Vgl. Duden. Das Herkunftswörterbuch, Berlin 52014, S. 792; Geiger, Theodor: Gesellschaft, in: Vierkandt, Alfred (Hg.): Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931, S. 202 f.

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Einleitung

Dass unser deutscher Ausdruck ›sozial‹ daneben auch noch weitere Bedeutungen besitzt, soll nicht verschwiegen oder gar geleugnet werden. Einige davon sind vom lateinischen socialis, aus dem er hervorgegangen ist, übernommen. Allerdings braucht man diese Bedeutungen nicht zu berücksichtigen. Sie bleiben belanglos, weil sie zur Bewältigung derjenigen Herausforderung nichts beitragen, welche sich in sozialontologischer Hinsicht stellt. Um das in aller Kürze zu veranschaulichen, greife ich lediglich zwei Beispiele heraus. Einerseits war socialis in der Gelehrtensprache über viele Jahrhunderte in der Formel animal sociale verbreitet. Diese auf Seneca zurückgehende Übersetzung von Aristoteles wirkungsmächtiger Charakterisierung des Menschen als ζῷον πολιτικόν 14 wurde in der mittelalterlichen Philosophie weitergereicht und zu einem vielzitierten Gemeinplatz politischen Denkens. Dass Seneca jene Charakterisierung nicht mittels des aus dem Griechischen entlehnten politicus wiedergibt, sondern stattdessen in das für seine römischen Zeitgenossen vertrauter klingende socialis hineinlegt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass da in neuem Sprachgewand Altes daherkommt. Senecas Wortprägung stellt auf die Selbigkeit des Sozialen und des (aristotelisch verstandenen) Politischen ab: Als ›sozial‹ apostrophiert er jene Lebensweise der Menschen, welche nach Aristoteles die Ausbildung höchster sittlicher Gesinnung ebenso sehr verstattet wie verlangt, und das ist die politische, der öffentlichen Sache (res publica) verschriebene Lebensweise. 15 Das wirkt bis heute nach. Denn als ›sozial‹ gilt uns ja auch das, was dem Wohl gewisser Menschen oder dem Gemeinwohl förderlich ist. So spricht man von sozialen im Sinne von gemeinnützigen Einrichtungen, und das Grundgesetz weist die Bundesrepublik Deutschland als Sozialstaat aus, weil jedem Bürger durch die öffentliche Hand ein Existenzminimum gesichert ist. Im Gegenzug können mit ›unsoVgl. Aristoteles: Pol. 1253a7 f.; EN 1162a18, 1169b18 f. »[…] inter nos, qui hominem sociale animal communi bono genitum videri volumus […]«. (Seneca: Clem. I.3.2) Vgl. Seneca: Benef. VII.1.7. Siehe schon Cicero: Off. I.4.12. Obzwar selber im aristotelischen Denken verwurzelt, hebt Thomas von Aquin den sozialen Charakter des Menschen erstmals sprachlich gegen dessen ethisch-politische Lebensweise ab, wo er vom »animal sociale et politicum« redet. (Thomas Aq.: De reg. princip., I, 1; vgl. S. theol., I-II, 72, 4) Dieser Vorstoß bleibt jedoch auf halbem Wege liegen. Denn Thomas verwendet socialis und politicus an anderen Stellen doch wieder austauschbar: »Homo naturaliter est animal politicum, vel sociale.« (Thomas Aq.: S. c. gent., III, 85, 11) Siehe dazu Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960, S. 27 f.

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Die Aufgabenstellung der Sozialontologie

zial‹ (bzw. ›asozial‹ oder ›antisozial‹) Meinungen, Verhaltensweisen, Institutionen oder Ähnliches belegt werden, wenn sie dem Wohl gewisser Menschen oder dem Gemeinwohl zuwider sind. Wenn etwa gefordert wird, unsoziale Mietrechtsverschärfungen zu stoppen, liegt darin die Kritik, dass die entsprechende Novelle Bürger mit geringem Einkommen benachteiligt. Oder jemandem wird ein unsozialer Charakter nachgesagt, weil er bei dem, was er tut, für gewöhnlich darauf bedacht ist, ohne Rücksicht auf Andere einen Nutzen einzig für sich selbst zu erzielen. 16 Andererseits spricht der Zoologe Tiere als soziale an, wenn sie mit Artgenossen in einem Staat, einem kooperativ-arbeitsteiligen Verband, zusammenleben. Dabei geht es um die Weise, in der die Brutpflege sowie die Beschaffung und Verteilung von Nahrung betrieben wird. Ferner gehört dazu, dass manche Mitglieder des Verbandes fruchtbar und andere unfruchtbar sowie dass mehrere Generationen einbegriffen sind. Schon Aristoteles erwähnt als Beispiel für ein ζῷον πολιτικόν, ein politisches Lebewesen im Sinne der Kooperation und Arbeitsteilung, u. a. Bienen. 17 Für die Sozialontologie ist jedoch weder das eine noch das andere von Belang. Denn in der ersten Bedeutung bringt ›sozial‹ etwas normativ Aufgeladenes zum Ausdruck; solches nur wird damit hervorgehoben, das dem Wohl gewisser Menschen oder dem Gemeinwohl förderlich ist, im Gegensatz zu anderem, das dem zuwider ist und dementsprechend herabgesetzt wird. Der ontologische Begriff des Sozialen muss aber das eine sowohl als auch das andere abdecken. Und in der zweiten Bedeutung stellt das Wort auf eine Form des Zusammenlebens von Tieren ab. Die Ontologie des Sozialen beschränkt sich allerdings auf den Menschen; was der Mensch womöglich mit irgendwelchen Tieren gemeinsam hat oder nicht, will sie gar nicht erörtern. Die Herausforderung, die ihr gestellt ist, gilt einzig und allein der sozialen Seite des menschlichen Daseins, für die sie noch dazu, wie bereits bemerkt, kein Ideal anbieten, sondern die sie ganz im Allgemeinen betrachten will. Alle sonstigen Äquivokationen des Ausdrucks ›sozial‹ stellt sie daher und stelle auch ich hier beiseite.

Mit diesem Wortsinn fragt etwa Schindler, Jörg: Die Rüpel-Republik. Warum sind wir so unsozial?, Frankfurt a. M. 32013. 17 Vgl. Aristoteles: Pol. 1253a7 f. In seiner Geschichte der Tiere erwähnt Aristoteles außerdem Wespen, Ameisen und Kraniche (vgl. Hist. an. 488a7 ff.). 16

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Einleitung

c)

Intrinsische statt extrinsische Bedingung des Sozialen

Es liegt im Wesen der Sache, dass das für diejenigen Wissenschaften nicht irrelevant ist, die sich selbst als Sozialwissenschaften verstehen. Für die Selbstverständigung derartiger Wissenschaften verspricht die laufende, von Searle in den 1990er Jahre angestoßene sozialontologische Diskussion weiteren Anstoß und Aufschluss. Freilich hat insbesondere die moderne Soziologie schon in ihrer Gründerzeit auf den Begriff zu bringen gesucht, was ein soziales Phänomen, es mag im Besonderen sein, was es will, allgemein charakterisiert. Um 1900 verdichtet sich in Deutschland und Frankreich das Ringen der Soziologie um ein explizites Selbstverständnis. Dazu gehört auch ein begrifflicher Entwurf ihres Forschungsfeldes, für das sie im Kanon der alteingesessenen wissenschaftlichen Disziplinen einen exklusiven Anspruch anzumelden vermag. Dabei steigt das Soziale zu einem terminus technicus und sogar dem Grundbegriff auf, welcher all das namhaft machen soll, worauf sich das soziologische oder sonst ein sozialwissenschaftliches Erkennenwollen richtet. Die Schriften von Émile Durkheim, Georg Simmel, Max Weber und anderen legen davon beredtes Zeugnis ab. Dass die moderne Soziologie seit ihrer Entstehung im ausgehenden 19. Jahrhundert durchaus bereits eine Kontroverse zur Ontologie des Sozialen geführt und seither mehr oder minder intensiv fortgeführt hat, wird dadurch nicht getrübt, dass im Zuge dessen noch nicht von einer Ontologie des Sozialen die Rede ist. Meines Wissens war es Michael Theunissen, der in seiner Habilitationsschrift Der Andere aus dem Jahr 1964 als Erster im Deutschen das Wort von der ›Sozialontologie‹ aufgebracht hat. In seiner Monographie setzt er sich allerdings mit entsprechenden Überlegungen von Philosophen auseinander, darunter Edmund Husserl, Jean-Paul Sartre und Martin Heidegger. Diese haben ebenfalls nicht von Sozialontologie gesprochen. 18 Dass sich das Bedürfnis nach einer ontologischen Konzeptualisierung des Sozialen naturgemäß auch stellt und immer wieder aufs Neue stellt, wo soziologische bzw. sozialwissenschaftliche Interessen zu sich selber erwachen, kann und soll selbstverständlich nicht sagen, dass ein Anlass zur grundbegrifflichen Klärung der sozialen Welt des Vgl. Theunissen, Michael: Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin/New York 21977.

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Die Aufgabenstellung der Sozialontologie

Menschen einzig und allein dort besteht und nicht genauso gut auch anderswo bestehen kann. Die Ontologie des Sozialen ist keine Theorie der Soziologie oder irgendeiner Sozialwissenschaft; sie darf nicht als deren hauseigene Reflexionstheorie missverstanden werden. Dennoch bleibt sie für deren konzeptuelle Grundlegung einschließlich ihrer methodologischen Durchformung nicht ohne Relevanz. Überhaupt vermag die Sozialontologie für jede Wissensbemühung, die sich mit Erscheinungen der menschlichen Gesellschaft beschäftigt, weiträumig orientierende Einsichten bereitzustellen, die über unmittelbar andrängende Tagesfragen, den Takt von Fallstudien und Untersuchungsreihen sowie die Wellenschläge wissenschaftlicher Moden hinausreichen. Auch die philosophische Beschäftigung mit Sachgebieten wie etwa Sprache und Schrift, der Interaktion unter Anwesenden sowie dem menschlichen Bewusstsein und seiner Intentionalität kann davon profitieren. Den Zusatz ›als solches‹ lege ich, wie es auch gemeinhin geschieht, in sensu strictissimo aus. Die Sozialontologie fragt demnach nicht nach einer Bedingung von Sozialem, die nur eine notwendige ist, sondern nach derjenigen, welche außerdem hinreichend und somit für sämtliche Fälle ein und dieselbe ist. Am Ende mag sich ggf. erweisen (wenn sich denn auf die sozialontologische Frage überhaupt eine befriedigende Antwort finden lässt), dass es nicht bloß eine einzige, sondern mehrere notwendige Bedingungen gibt, die erst zusammen hinreichend sind. So oder so geht die Ontologie des Sozialen allerdings darauf aus, eine Voraussetzung freizulegen, ohne deren Erfülltsein eine Sache keine soziale sein kann, die aber, wenn sie erfüllt ist, macht, dass die betreffende Sache eine soziale sein muss. Und es gilt dann auch die Umkehrung. Man hat es wie immer mit einer logischen Äquivalenz zu tun, wo ein Bedingungsverhältnis notwendig und hinreichend ist. Die fragliche Voraussetzung ist dann und nur dann gegeben, wenn etwas etwas Soziales ist; ihr Gegebensein ist mitgesetzt, insofern etwas etwas Soziales ist. Allerdings gibt es noch weitere verschiedene Typen von Bedingungen. Eine solche Verschiedenheit ist auch in Sachen Sozialontologie in Rechnung zu stellen. Dadurch lässt sich weiter präzisieren, worum sich die sozialontologische Problematik genau dreht. Und zwar unterscheide ich zwischen extrinsischen und intrinsischen Bedingungen. Eine derartige Unterscheidung wird, soweit ich sehen kann, in der Regel nicht eigens getroffen. Trotzdem weicht die folgende Präzisierung nicht von der Masse der Entwürfe zur Ontologie des 25 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Einleitung

Sozialen ab. Denn sie macht lediglich ausdrücklich, was darin unterstellt bleibt. 19 Eine extrinsische Bedingung sei eine Bedingung in Bezug auf die Modalität einer Sache; eine solche Bedingung ist notwendig oder hinreichend für deren modale Bestimmtheit. So ist beispielsweise die Luft, welche Menschen zum Atmen brauchen, eine notwendige Voraussetzung jeder Gesellschaft; ohne das Erfülltsein dieser Voraussetzung kann menschliche Gesellschaft nicht sein. Aber sie ist nicht nur nicht hinreichend dafür; wenn sie erfüllt ist, macht das nicht schon, dass menschliche Gesellschaft sein muss. Sie ist auch eine für die Existenz von Mensch und Gesellschaft. Um diesen Typ von Bedingung ist es der Sozialontologie nicht zu tun. Das Problem, welchem sie nachfragt, ist nicht, unter welcher Voraussetzung etwas Soziales existieren kann und muss. Dagegen soll eine intrinsische Bedingung eine Bedingung in Bezug auf die Qualität einer Sache sein; sie ist notwendig oder hinreichend für deren qualitative Bestimmtheit. So ist es z. B. eine notwendige Voraussetzung dafür, dass jemand Junggeselle ist, dass er ein Mann ist; ohne ihr Gegebensein kann einer kein Junggeselle sein. Die hinreichende Voraussetzung ist allerdings erst dann gegeben, wenn der fragliche Mann sowohl unverheiratet als auch heiratsfähig ist; alle diese Merkmale machen, dass er ein Junggeselle sein muss. Diesem Typ von Bedingung spürt die Ontologie des Sozialen nach. So wie die genannten Bedingungen solche sind für die Beschaffenheit von Junggesellen, indem sie ihr Junggesellesein ausmachen, hat die Sozialontologie ihre Problemstellung darin, die Bedingung (oder Bedingungen) aufzufinden, unter der etwas etwas Soziales sein kann und muss. Es geht ihr nicht um irgendwelche äußerlichen Voraussetzungen sozialer Phänomene, wie etwa Luft eine ist, sondern darum, dasjenige Merkmal (bzw. diejenigen Merkmale) anzugeben, welches deren Sozialität innerlich ist.

Die Unterscheidung geht zurück auf die zwischen extrinsic und intrinsic properties. Vgl. Lewis, David: Extrinsic Properties, in: Philosophical Studies 44/2 (1983), S. 197– 200.

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Aufriss und Thesen der vorliegenden Arbeit

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Aufriss und Thesen der vorliegenden Arbeit

Eine mögliche Antwort auf die sozialontologische Frage nach der intrinsischen Bedingung des Sozialen selbst und als solchen ist die folgende. Der erste Teil dieser Arbeit gewinnt einen Anfang, indem er den Stand der jüngeren und älteren Forschung dokumentiert. Ich werde darlegen – so lautet meine erste und interpretatorische These –, dass der Forschungsstand einen paradigmatischen Analyseansatz im ontologischen Nachdenken über Soziales erkennen lässt. Diesen Ansatz hat Searle weniger neu eingeführt als vielmehr erneuert, denn er ist über den Rand seines Œuvres hinaus nicht erst heute, sondern länger schon vorherrschend in der Ontologie des Sozialen. Danach ist es das menschliche Bewusstsein und dessen Intentionalität (dass es also Bewusstsein von etwas ist), welches die Rahmenvorstellung herzugeben hat, in deren Blickbahn sich die Analyse des Sozialen hält: Es sollen die intentionalen Zustände des ersteren sein, an denen das letztere auf die eine oder andere Weise zu knüpfen sei. Der erste Teil ist dem Aufweis dieses intentionalistischen Paradigmas gewidmet. Dazu gehe ich auf die Schriften einiger Gründervater der modernen Soziologie wie Durkheim, Simmel, Weber und Alfred Schütz sowie diverser Gegenwartsphilosophen wie Wilfrid Sellars, Anthony Quinton, Margaret Gilbert und Searle ein. Sie alle knüpfen, wie aufzuweisen sein wird, das Merkmal des Sozialen an den intentionalen Gehalt oder an die intentionale Form des Bewusstseins, sprich an das dasjenige, was intendiert wird, oder daran, wie es intendiert wird. Die notwendige und hinreichende Bedingung von Sozialem sehen sie allesamt darin, dass das Bewusstsein der Menschen irgendwie auf etwas Bestimmtes oder auf irgendetwas in bestimmter Weise gerichtet ist. Dadurch zeichnen sie allerdings lediglich eine gewisse Sorte bewusstseinsförmiger Intentionen – diese mögen ansonsten volitiver, kognitiver, affektiver oder welcher Art auch immer sein – im Gegensatz zu anderen gesellschaftlich aus. Demnach hat der Einzelne etwas Soziales dann nur und nur in dem Umfang an sich, wenn und als sein Bewusstsein einen gewissen Gehalt oder eine gewisse Form besitzt, er also etwas Bestimmtes oder auf bestimmte Weise intendiert. Searle etwa spricht hierbei von kollektiven Intentionen (collective intentions). Nicht ist dieser jemand selbst und darüber vermittelt sämtliche seiner bewusstseinsförmigen Intentionen in der einen oder anderen Hinsicht in Gesellschaft verwickelt. In Searles Sprache trifft das 27 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Einleitung

nicht auf individuelle Intentionen (individual intentions) zu. Die Kehrseite der intentionalistischen Sozialontologie ist mithin eine einseitig individualistische Auffassung vom intentionalen Subjekt des menschlichen Bewusstseins. Von demjenigen, der da intendiert, wird offen oder unausgesprochen alles Soziale, jedes Verhältnis zu Anderen abgehalten. Solch einem sozialontologischen Individualismus, wie ich diese Auffassung nenne, scheint entgegenzustehen, was üblicherweise als Kollektivismus verworfen wird. Bei den Exponenten des Individualismus nämlich kursiert er als die und die einzige Gegenposition. Demnach muss das Ich des Bewusstseins nicht ein einzelner Mensch, sondern kann genauso ein Kollektiv sein. Anstelle des Individuums mag eine supraindividuelle Instanz (von einer Kleingruppe über eine Organisation oder Klasse bis hin zu einem ganzen Volk) den Träger der entsprechenden Intentionen abgeben. Jedoch handelt es sich beim sozialontologischen Kollektivismus, wie ich diese Gegenposition bezeichne, entweder um eine bloße Fremdunterstellung; notorisch wird sie einigen Autoren aus der Geschichte der Philosophie wie der Soziologie ohne Belege untergeschoben, allen voran Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Jean-Jacques Rousseau. Oder gegenwärtige Autoren, die ankündigen, selber zu so etwas wie einem kollektivistischen Standpunkt vordringen zu wollen, lassen ihre individualistische Haltung schlussendlich keineswegs hinter sich, so etwa Gilbert und Frederick Schmitt. Und mehr noch. Zum einen untersteht der Kollektivismus geradeso dem intentionalistischen Paradigma. Das kommt nicht von ungefähr, überträgt er doch aus der Sicht von Parteigängern des Individualismus ins Große, was diesen im Kleinen unstrittig ist; er legt sich – oder, besser, jene legen sich – das Kollektivsubjekt ganz nach Maßgabe eines individuellen Ich zurecht. Zwar findet sich das nirgendwo auch nur annähernd ausgearbeitet, doch scheint das kollektive Ich (einer Kleingruppe, Organisation, Klasse oder eines ganzen Volkes) durch eigene intentionale Bewusstseinszustände bestimmt sein zu sollen. Und ein menschliches Individualsubjekt sei dann nur und nur in dem Umfang in Gesellschaft verstrickt, wenn und als sein Bewusstsein daran teilhat bzw. damit übereinstimmt, es also dasselbe oder auf dieselbe Weise intendiert. Zum anderen lassen beide, Individualismus und Kollektivismus, den Träger bewusster Intentionen durch reine Individualität charakterisiert sein. Statt dass das menschliche Selbst Bezüge zu Anderen aufweist, werden diese abermals in 28 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Aufriss und Thesen der vorliegenden Arbeit

seine mentalen Zustände, und auch nur einige davon, abgedrängt. Es bleibt dabei, dass der Mensch ein solches Individuum ist, auf dem alles Soziale aufbaue, das aber nichts Soziales an sich haben soll, wo es nicht mentale Zustände hat, die dadurch charakterisiert sind, auf Andere bezogen zu sein. 20 Meines Erachtens vermag diese bewusstseinstheoretische Antwort nicht zu überzeugen. Gleichgültig in welcher näheren Gestalt sie auftritt, das intentionalistische Paradigma halte ich für verfehlt. Die alles entscheidende Frage ist, und der nimmt sich der zweite Teil an: ob das Bewusstsein der Menschen tatsächlich ein »unreduzierbar Letztes« 21 ist, wie der Neukantianer Paul Natorp stellvertretend für eine große neuzeitliche Tradition, in der auch und gerade die Ontologie des Sozialen größtenteils steht, formuliert (wenn Natorp das auch nicht im Hinblick auf die Ontologie des Sozialen formuliert). Und: ob sich daher auch Soziales im Umkreis einer auf sich selber beruhenden Intentionalität analysieren lässt. Das eine wie das andere möchte ich in Zweifel ziehen. Der zweite Teil der vorliegenden Untersuchung dient der Widerlegung des intentionalistischen Paradigmas. Die Opposition von sozialontologischem Individualismus und Kollektivismus ist mitnichten vollständig, wenn es darum geht, den Träger bewusster Intentionen zu denken. Das lässt sich motivieren, wenn es darzulegen gelingt, dass der Ansatz des Intentionalismus, in welchem sowohl individualistische als auch kollektivistische Analysen ihre Wurzel haben, zu kurz greift. Mit anderen Worten halte ich mich aus der in Rede stehenden Alternative von Individualismus und Kollektivismus heraus und stelle mich diesseits davon auf, indem ich die Problematik der Sozialontologie zunächst einmal an einen anderen Ort rücke, und zwar gleichsam hinter das Bewusstsein und dessen Intentionalität zurück. Denn wenn es nachzuweisen gelingt, dass Soziales nicht erst im intentionalen Bewusstsein, sondern bereits früher zu verorten ist,

Wenn ich hier und im Weiteren von ›bewussten Intentionen‹ oder Ähnlichem spreche, dann nicht im Sinne von Intentionen, die ihrem Träger als solche bewusst sind. Ich meine damit stattdessen bewusstseinsförmige oder bewusstseinsmäßige Intentionen, wie ich aus Gründen stilistischer Abwechslung gleichbedeutend sage, solche also, die Intentionen des Bewusstseins sind (im Gegensatz zu all dem, welchem man vielleicht sonst noch Intentionalität zusprechen mag, etwa der Sprache). 21 Natorp, Paul: Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode, Bd. 1: Objekt und Methode der Psychologie, Tübingen 1912, S. 27. 20

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Einleitung

und zwar in dessen Träger, dann ist damit eine weitere Option motiviert, jenen zu denken. Zu diesem Zweck ziehe ich einige Autoren heran, die zwar keine eigentlichen Interessen auf dem Feld der Sozialontologie haben. Jedoch helfen vereinzelte Bemerkungen von Immanuel Kant sowie ausgewählte Überlegungen von Rousseau, Hegel und hauptsächlich Ludwig Wittgenstein dabei, der Ontologie des Sozialen schrittweise einen neuen Horizont zu erschließen. Historisch angeleitet, aber sachlich ambitioniert lässt sich eine von Bewusstsein und Intentionalität verschiedene Ausdehnung des menschlichen Selbst in den Blick bringen. Im Fokus steht dabei der Phänomenkreis der Sitte oder die, mit Wittgenstein gesprochen, Regeln unserer Sprachspiele. Anhand dessen werde ich auseinandersetzen – so lautet meine zweite und systematische These –, dass sich der intentionalistische Analyseansatz nur dank einer Verkennung der Voraussetzungshaftigkeit bewusster Intentionen erhält: Nicht nur an diesen Intentionen ist Soziales festzumachen, sondern auch an demjenigen, was sie voraussetzen. Im intentionalistischen Paradigma prägt sich die grundsätzliche Vorstellung aus, dass das Soziale ein Bestandteil der geistigen Realität des menschlichen Daseins ist. Dass beispielsweise alle Menschen Haare auf dem Kopf haben oder der Nahrung bedürfen, ist eine natürliche Gegebenheit. Sie ist von sich her nichts Geistiges – was dem paradigmatischen Analyseansatz zufolge besagt: nicht abhängig von irgendjemandes Bewusstsein und Intentionalität – und ebenso nichts Soziales. Wie die Menschen jedoch zu dem stehen, was von Natur aus ist, wie sie etwa ihre Haare frisieren oder ihre Nahrung zubereiten, das ist oder kann von dieser Art sein. Das Frisieren von Kopfhaaren und das Zubereiten von Nahrung ist kein natürliches Geschehen, sondern eine geistige Betätigung des Menschen – was dem Intentionalismus zufolge besagt: abhängig von dessen Bewusstsein und Intentionalität –, und sie kann ebendarum auch etwas Soziales an sich haben. Zum Beispiel mag einer seine Haare frisieren, wie er es tut, wegen eines bestimmten Anderen, oder er mag seine Nahrung zubereiten, wie er es tut, weil es so allgemeine Sitte ist. Dieser Vorstellung, dass menschliche Sozialität etwas Geistiges ausmacht, schließe ich mich zwar grundsätzlich an. Die Gemeinsamkeit bloß natürlicher Eigenschaften, welche für eine ganze Gattung kennzeichnend sind und den Einzelnen mit anderen Vertretern dieser Gattung verbinden, etwa dass sie alle Haare auf dem Kopf haben oder Nahrung bedürfen, ist tatsächlich noch nichts Soziales. Jedoch will ich 30 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Aufriss und Thesen der vorliegenden Arbeit

ihr eine andere Ausprägung geben. Ich werde argumentieren, dass der menschliche Geist mehr umfasst als Bewusstsein und Intentionalität. Ohne eine eigene und erschöpfende Theorie des menschlichen Geistes zu entwickeln und entwickeln zu müssen, werde ich dartun, dass dazu auch und gerade eine unsere bewussten Intentionen grundierende Dimension zählt. Das intentional verfasste Bewusstsein des Menschen weist eine Vorstruktur auf, und diese Vorstruktur hat schon einen sozialen Aspekt. Jene Dimension analysiere ich unter der sprachlichen, mit Bedacht unterminologischen Bezeichnung des ›Erfahrenseins‹. Den zur Erwerbung, Festigung und Erweiterung solcher Erfahrenheit in den Dingen des menschlichen Lebens nötigen Bildungsprozess durchlaufen wir alle. Die anfängliche Entwicklung der Persönlichkeit eines Menschen sowie ihre spätere und beständige Fortentwicklung geschieht sowohl absichtlich als auch unabsichtlich, etwa in der Gestalt von Erziehung oder sonst einem Geschehen, an dem wir mit, für und gegen Andere teilhaben. Dabei bilden sich stets auch relativ feste und dauerhafte Dispositionen volitiver, kognitiver, affektiver oder welcher Art auch immer, die die Identität einer Person mit ausmachen. Die Erfahrung aber, darauf kommt es an, die jemandem aus solchen und anderen Prozessen in der Vergangenheit erwachsen ist und die Intentionalität seines künftigen Bewusstseins fundiert und orientiert, bleibt für gewöhnlich unbewusst und kann das auch bleiben. Davon zeugen Autoren wie beispielsweise Gilbert Ryle, Hans-Georg Gadamer, Michael Polanyi, Jürgen Habermas und Robert Brandom. Und auch die Vermittlung solcher Erfahrung mit kommenden Situationen geschieht, ohne dass das extra intendiert wird; man muss sich durch sie nicht orientieren lassen wollen, und ist es trotzdem. Mehrere terminologische Benennungen sind dafür in Umlauf, von »knowing how« über »Vorurteil« oder »tacit knowing« bis hin zu »Hintergrundwissen«. Weil ich mich jedoch nicht auf den einen oder anderen Theorierahmen verpflichten will, der über dasjenige weit hinausgeht, was mich hier interessiert, schließe ich mich weder der einen noch der anderen Sprache an. Damit soll nicht gesagt sein, dass der menschliche Geist schon deshalb einen sozialen Zug besitzt, weil es viele Menschen gibt. Auch die abstrakte Gemeinsamkeit einer geistigen Dimension, wie sie für die menschliche Gattung im Ganzen kennzeichnend ist und den Einzelnen mit anderen Angehörigen dieser Gattung verbindet, reicht nicht hin. Dass etwa alle Menschen Bewusstsein haben und (ab ir31 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Einleitung

gendeinem Alter) ein gewisses Erfahrensein mitbringen, ist ebenfalls noch nichts Soziales. Ich werde also nicht sagen, dass alles Geistige sozial ist, wenngleich sich wohl keiner zu einem geistigen Wesen entwickelt ohne gesellschaftliches Umfeld. Allerdings gilt es anzuerkennen, dass jede echte Teilhabe an einer konkreten gesellschaftlichen Praxis in Anspruch nimmt, dass man ebendarin bereits mehr oder weniger erfahren ist: Nur wer sich mit deren jeweiligen Regeln schon auskennt, kann nach Maßgabe solches Sichauskennens sinnvoll und verständlich an Kommunikation mitwirken. Davon künden auch die hermeneutischen Schriften eines Friedrich Schleiermacher. Die betreffende Lebenserfahrung hat ein soziales Moment, was das intentionalistische Paradigma übersieht, sofern sie ein Bekanntoder gar Vertrautsein mit den entsprechenden Konventionen der Praxis einer gewissen Gesellschaft ist. Das Selbst eines Individuums schließt immer auch ein implizites Wissen um Soziales, um die gemeinsamen Konventionen des Miteinander, Füreinander und Gegeneinander der Menschen, ein. Derlei Wissen lässt ein Individuum, dessen Identität es mitbestimmt, auch dort ein soziales sein, wo das Wissen gerade einmal nicht in Anspruch genommen wird. Gesellschaftliche Beziehungen verdanken sich nicht einer nachträglichen Zusammenfindung zunächst asozialer Einzelner; sondern Einzelne, die sich zusammenfinden können, sind bereits soziale, stehen schon in gesellschaftlichen Beziehungen. In diesem Sinne fasse ich in einer ersten Begriffsbestimmung einiges Soziale als die dem Bewusstsein von bedeutungstragenden und daher verstehbaren Phänomenen – wie geschriebener und gesprochener Sprache oder nonverbaler Mienen, Gesten und Posen in einer Interaktion unter Anwesenden – vorgängige Gemeinsamkeit. Nachdem das intentionalistische Paradigma derart widerlegt ist, geht der dritte und letzte Teil dem Begriff vorgängiger Gemeinsamkeit weiter nach. Bis dahin ist der Sozialontologie ja bestenfalls eine neue Adresse erwirkt, indem eine extrinsische Bedingung von Sozialem namhaft gemacht worden ist. Wie jede menschliche Gesellschaft Luft voraussetzt, so setzt sie auch, wie der Intentionalismus mit Recht behauptet, Bewusstsein aufseiten der Beteiligten voraus und jenes wiederum, was der Intentionalismus verkennt, eine entsprechende Erfahrenheit: Bewusstsein verlangt Lebenserfahrung, und solche Erfahrung ist eine u. a. in den Regeln gesellschaftlichen Lebens. Durch solch eine mögliche Neuverortung der Frage, um die es eigentlich geht, nämlich derjenigen nach der intrinsischen Bedingung 32 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Aufriss und Thesen der vorliegenden Arbeit

von Sozialem, ist diese noch nicht beantwortet. Das bleibt noch auszuführen, was das Soziale ist. Ich werde allerdings zeigen, dass die Antwort auf diese alles entscheidende Frage mit dem in Rede stehenden Erfahrensein der Menschen zusammenhängt: dass sie bei näherem Zusehen bereits in dem bis dahin Ausgeführten enthalten liegt. Der dritte Teil dieser Studie leistet eine Ausweitung des Begriffs vorgängiger Gemeinsamkeit. Dazu wende ich mich einem Kreis von Phänomenen zu, die nicht nur keinen symbolischen Gehalt in sich tragen, sondern nicht einmal von Menschenhand gemacht sind, nämlich natürlichen Gegebenheiten. Diese sind nichts Geistiges und nichts Soziales. Dass Soziales und Natur einen begrifflichen Gegensatz bilden, wird in der Literatur zur Ontologie des Sozialen vielfach angenommen. Auch ich trenne beide, und zwar unter einem ganz bestimmten Gesichtspunkt, und das ist der der Kausalität. Den Anhaltspunkt dafür liefert der in der formalen Schule der Soziologie – zu welcher etwa Simmel, Alfred Vierkandt und Leopold von Wiese rechnen – grundlegende, aber auch von anderen wie Wilhelm Dilthey bemühte Gedanke, menschliche Gesellschaft sei durch Wechselwirkung bestimmt. Ich werde darlegen, dass gesellschaftliche Verhältnisse keine der Wechselwirkung sind, was schon Werner Sombart kritisiert. Anders als der Bereich des Natürlichen begreifen sie keine Kausalität (in einer Interpretation des Begriffs) ein, wenn anders jeder geistige Vollzug einer rückwärtigen, nicht mit der Elle des Bewusstseins und seiner Intentionalität zu messenden Anwendung von Lebenserfahrung entspringt. Und ich werde argumentieren, dass die Verhältnisse der menschlichen Gesellschaft obendrein keine der Wechselwirkung sein müssen. Denn Gesellschaftliches bringt sich nicht minder im Nebenund sogar Ohneeinander der Menschen zur Geltung. Ein Grenzfall ist die für moderne Wissenschaft typische Weise der Erfassung natürlicher Phänomene. Diese findet sich erstmals in Francis Bacons wirkmächtiger Konzeption von Erfahrungswissenschaft artikuliert. Was dort begegnet und Durkheim später auf das wissenschaftliche Erkennen sozialer Erscheinungen überträgt, ist die methodische Maxime, sich die Dinge als Gegenstände gegeben sein zu lassen; das erlaube ein objektives und intersubjektiv nachprüfbares Wissen. Für die Sozialontologie birgt das eine Herausforderung. Denn wissenschaftlich soll die Behandlung einer Sache zugehen, wenn der Wissenwollende das zu Erkennende aus all seinen Bezügen u. a. zur menschlichen Gesellschaft herausreflektiert. Die Herausforderung, welche sich der Onto33 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Einleitung

logie des Sozialen stellt, ist, ob selbst die gegenständliche Art des Erfassens von Naturphänomenen, welches einer neben oder ganz ohne andere Menschen bewerkstelligt, nichtsdestotrotz noch einen gesellschaftlichen Zug aufweist. Ein wertvoller Ansprechpartner, um das aufzuarbeiten, ist Martin Heidegger. Denn in seiner ersten Freiburger Vorlesung bietet er zwei Beispiele auf, die aus dem Repertoire der Standardbeispiele, welche von der Sozialontologie in der Regel beigebracht werden, herausfallen. Sie sind nicht nur Beispiele dafür, dass mehrere Personen nebeneinander oder gar ohneeinander tätig sind; sie begreifen auch noch Natur ein als dasjenige, wozu sich diese Personen auf die eine oder andere, obgleich nicht vergegenständlichende Weise verhalten. Durch Zuhilfenahme und Ausdeutung dieser Beispiele lässt sich das Soziale in einer abschließenden Begriffsbestimmung als die dem Bewusstsein überhaupt vorgängige Gemeinsamkeit von Menschen angeben. Die Idee ist dabei im Kern die folgende. Wenn etwas Gemeinsames vorgängig gewusst wird, wie im zweiten Teil gezeigt, nämlich die Gepflogenheiten gesellschaftlicher Praxis, dann schließt das doch mit ein, dass auch dieses vorgängige Wissen selbst ein gemeinsames und also etwas Soziales ist. Denn nicht nur einer allein weiß ja um die Gepflogenheiten derjenigen gesellschaftlichen Praxis, an der er teilnimmt, sondern alle an der gesellschaftlichen Praxis Teilnehmenden wissen als ebensolche darum. Und diese Gemeinsamkeit des betreffenden Wissens bleibt, wenn man davon absieht, was da gewusst wird. Sofern sich daher ein Fall finden lässt, der ein vorgängiges Wissen um etwas ist, das nicht etwas Gemeinsames und also nichts Soziales ist (der naheliegende und in der Literatur vieldiskutierte Kandidat ist eben der große Bereich der Natur), kann es dennoch der Fall sein, und das tue ich im dritten Teil dar, dass dieses vorgängige Wissen gleichwohl ein gemeinsames und damit soziales ist. Das ist die minimale Bestimmtheit des Sozialen – so lautet meine dritte und systematische These –, die Gemeinsamkeit jenes unthematischen Wissens (sei dies auch ein Wissen um natürliche Erscheinungen). Den Begriff vorgängiger Gemeinsamkeit derart auszuweiten, dass sich diese selbst darauf noch erstreckt, wo sich jemand, indem er neben Anderen oder ganz ohne Andere ist, zu etwas Natürlichem verhält, bedeutet, dass jede Sorte an bewusstseinsmäßigen Intentionen ein soziales Moment aufweisen kann. Nicht nur geht, dass jemand ein vergesellschaftetes und vergesellschaftendes Wesen ist, 34 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Aufriss und Thesen der vorliegenden Arbeit

nicht darin auf, dass er ausdrücklich ebendarum weiß. Auch schafft, dass er auf etwas Bestimmtes oder in bestimmter Weise darauf gerichtet ist, nicht erst sein Sozialsein; er geht dessen nicht sogleich wieder verlustig, wo er sich auf etwas anderes oder in anderer Weise darauf richtet. Statt dass alles, was etwas Soziales ist, sich entweder von einer bewusstseinsmäßigen Intention mit einem gewissen Gehalt oder einer gewissen Form ableitet bzw. selbst eine solche ist, wie der intentionalistische Analyseansatz meint, ist in Wahrheit dasjenige sozial, was entweder selbst ein implizites Wissen ist bzw. sich von einem solchen herleitet. Die vorbewusste und vorintentionale Erstreckung der Identität eines Menschen hat in mehrerlei Hinsicht ein soziales Moment; und jenes erbt sich an all das fort, was auf dem Boden dieser Konditionen steht. Die Behauptung einer vorgängigen Gemeinsamkeit hat also das grundständige Sozialsein des ganzen menschlichen Bewusstseins zur Folge. Die vorgelegte Arbeit zieht daraus zu guter Letzt die Konsequenzen für die der Ontologie des Sozialen zugehörige Methode. Wie tut jene, was sie da tut? Der Grundzug dieses Tuns besteht in der Explikation. Ich meine damit, dass die in all unser Bewusstsein eingebaute Prämisse vorgängiger Gemeinsamkeit, welche normalerweise hinter unseren mentalen Zuständen zurücktritt, nach vorn gebracht und explizit gemacht wird. Wenn nämlich eine unausdrückliche Erfahrenheit in den Dingen des menschlichen Lebens als Basis derjenigen Intentionen fungiert, welche wir bewusst haben, und wenn ebendaran das gesuchte Merkmal des Sozialen hängt, dann ist das sozialontologisches Erkennen, indem es sich dieses Merkmal thematisch zueignet, immer auch und wesentlich dessen Kostgänger: Die erstere bildet nicht nur das Ziel, sondern auch die Quelle und Messlatte des letzteren. Solche Erkenntnis ist insofern eine selbstbezügliche. Die Einsichten, welche die Sozialontologie zu erbringen und zu bestätigen hat, gelten auch noch für sie selber, weshalb sie sich aus dem, was etwas Soziales ist, nicht ausnehmen kann.

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Erster Teil Darstellung des intentionalistischen Paradigmas

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II. Das intentionalistische Paradigma

1.

Nur eine gewisse Sorte von Intentionen

Searles Ansatz zur Ontologie des Sozialen, den er in seiner Monographie The Construction of Social Reality im Jahre 1995 vorgelegt und seitdem in etlichen größeren und kleineren Schriften wiederholt sowie ausgebaut hat, erfreut sich einer breiten Rezeption. So liegt es nahe, mit derjenigen Deutung des Sozialen einzusetzen, welche er vorschlägt. Und Searle hängt seine sozialontologischen Überlegungen an der begrifflichen Opposition von Gesellschaft und Natur, Sozialem und Natürlichem auf. Im Anschluss an Elizabeth Anscombe differenziert er zwischen sozialen Tatsachen (social facts) einerseits und rohen Tatsachen (brute facts) andererseits. 1 Darunter versteht Searle die Unterscheidung zwischen solchen Tatsachen, »that exist independently of us«, und solchen, »that are dependent on us for their existence« 2. Das natürliche Universum denkt er als den Inbegriff derjenigen Entitäten, die von Vorstellungen des menschlichen Geistes unabhängig entstehen, bestehen und vergehen. Diese Entitäten »exist independently of our representations of them«, ihr Entstehen, Bestehen und Vergehen sei »intrinsic to nature«. Dazu rechnet Searle alles Organische und Anorganische, was in den Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften wie Physik, Chemie und Biologie fällt: die Bewegung von Atomen und Molekülen, die Dichte fester Stoffe, die Laufbahn der Planeten, das Vorkommen von Pflanzen- und Tierarten, ihre Evolution usf. 3 Anders die Vgl. Anscombe, Gertrude E. M.: On Brute Facts, in: Analysis 18 (1958), S. 69–72. Searle, John R.: The Construction of Social Reality, New York 1995, S. 9. Ähnlich bereits in Searle, John R.: Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language, Cambridge 1969, S. 50 ff., wo allerdings von institutionellen Tatsachen (institutional facts) die Rede ist. 3 Schon Aristoteles denkt die φύσει ὄντα (allerdings im Kontrast zu den τέχνη ὄντα) als das, »was in sich selbst einen Anfang [ἀρχή] von Bewegung [κίνησις] und Still1 2

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Das intentionalistische Paradigma

soziale Welt. Diese gebe es nur, weil es Wesen mit geistigen Vermögen gibt. Dass menschliche Gesellschaft überhaupt ist und wie sie jeweils ist, das soll sie im Großen wie im Kleinen in Abhängigkeit von den Menschen sein, welche ihr angehören und an ihr mitwirken. Und zwar sei ihr Dass- und Wassein »relative to the intentionality of observers, users, etc.« Anderswo drückt Searle dies dahingehend aus, dass natürliche Tatsachen »observer-independent« und soziale Tatsachen, indem sie »depend on us for their existence«, demgegenüber »observer-relative« 4 sind. 5 Searle veranschaulicht das gern am Phänomen des Geldes. Hat doch ein Geldschein seine Funktion als Tauschmittel sowie seinen jeweiligen Tauschwert nicht aufgrund derjenigen unter seinen Eigenschaften, die beobachterunabhängig sind. Dass er aus einem bestimmten Material gefertigt ist, ein gewisses Aussehen hat und Gewicht besitzt, macht ihn noch nicht zu einer Banknote. Das ist laut Searle eine beobachterrelative Eigenschaft. Und für solch eine sei entscheidend, dass es Menschen gibt, welche denken, dass die fragliche Sache Geld ist: »To put the matter crudely, a necessary condition of its being money is that people have to intend it to be, and think it is money. [Herv. d. Verf.]« 6 Wohl mag sich ein Geldschein einmal als Blüte erweisen, weshalb die Einstellung der Beteiligten, die ihn als echt anerkennen, gewiss keine hinreichende Bedingung ausmacht. Allerdings soll gelten: »a type of thing is money over the long haul only if it is accepted as money.« 7 Dass eine Banknote soundso viel stand [στάσις] hat« (Phys. 192b13 f.). Für einen Überblick über die einschlägige Ideengeschichte seit den Vorsokratikern siehe Collingwood, Robin G.: The Idea of Nature, Oxford 1945. 4 Searle, John R.: Social Ontology. Some Basic Principles, in: Anthropological Theory 6/1 (2006), S. 13. Siehe auch Social Ontology and the Philosophy of Society, in: Analyse und Kritik 20 (1998), S. 147 f. 5 Die Unterscheidung von Gesellschaft und Natur geht bis auf das 13. Jahrhundert zurück. Seitdem wird die Seinsweise der Natur (esse naturae) begrifflich abgehoben gegen die des Moralischen (esse morale). Zu diesem geschichtlichen Hintergrund siehe Kobusch, Theo: Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, Darmstadt 21997. 6 Searle, John R.: Social Ontology. Some Basic Principles, a. a. O., S. 14. 7 Searle, John R.: Mind, Language and Society. Philosophy in the Real World, New York 1998, S. 112 f. Von Akzeptanz (acceptance) spicht Searle auch in Responses to Critics of The Construction of Social Reality, in: Philosophy and Phenomenological Research 57/2 (1997), S. 452; Social Ontology and the Philosophy of Society, a. a. O., S. 152; Making the Social World. The Structure of Human Civilization, Oxford 2010, S. 8.

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Nur eine gewisse Sorte von Intentionen

wert ist und entsprechend getauscht werden kann, beruhe darauf, dass Menschen dies akzeptieren. Und Searle zieht das ins Allgemeine aus: »what goes for money, goes for social and institutional reality generally.« 8 Regierungen und Staatspräsidenten, Universitäten und Cocktailparties, die Institution der Ehe und des Eigentums, Sprache sowie alle sonstigen gesellschaftlichen Erscheinungen sollen unter diese Beschreibung fallen. Sie alle seien nur, insofern sie als das, was sie sind, intendiert werden. 9 Ich lasse die weiterführende Frage außen vor, ob Searles Sozialontologie dadurch nicht in einen Konflikt gerät mit seiner Philosophie des Geistes. Denn einerseits sollen sich ja Gesellschaft und Natur ausschließen. Was etwas Soziales ist, soll insofern nicht natürlich, und was etwas Natürliches ist, soll insofern nicht sozial sein. Andererseits scheint Natur doch Gesellschaft einzuschließen, denn in seiner Theorie der Intentionalität redet Searle einem biologischen Naturalismus (biological naturalism) das Wort. Er expliziert das Bewusstsein, welches seinerseits den Referenzpunkt für die Explikation des Sozialen abgibt, als »ordinary biological, that is, physical, feature of the brain« 10. Wohl vertritt Searle zugleich die »irreducibility of consciousness« 11. Er setzt das Bewusstsein nicht einfach mit den es verursachenden Zuständen unseres Gehirns gleich, sondern fasst es als höherstufige Eigenschaft des Gehirns. Dass allerdings beides zueinanderpasst, sich also die These der Irreduzibilität des Bewusstseins zusammendenken lässt mit der Naturalisierung mentaler Phänomene, welche sowohl durch biologische Prozesse im Gehirn verursacht als auch selbst Eigenschaften des Gehirns seien, haben einige in Zweifel gezogen. 12 Im Hinblick auf die Ontologie des Sozialen jedenfalls Searle, John R.: Mind, Language and Society. Philosophy in the Real World, a. a. O., S. 113. 9 Auch Tönnies zufolge hat es die Soziologie mit solchen Dingen zu tun hat, »die Erzeugnisse menschlichen Denkens und […] nur für ein solches Denken vorhanden« sind. (Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft, in: Vierkandt, Alfred (Hg.): Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931, S. 184) 10 Searle, John R.: The Rediscovery of the Mind, Cambridge, Mass. 1992, S. 13. 11 Searle, John R.: Biological Naturalism, in: Velmans, Max/Schneider, Susan (Hg.): The Blackwell Companion to Consciousness, Oxford 2007, S. 327. 12 Vgl. Nagel, Thomas: Searle: Why We Are Not Computers, in: Other Minds. Critical Essays 1969–1994, New York 1995, S. 96; Chalmers, David J.: The Conscious Mind. In Search of a Fundamental Theory, Oxford 1996, S. 370, Anm. 2; Collins, Corbin: Searle on Consciousness and Dualism, in: International Journal of Philosophical Studies 5/1 (1997), S. 15–33. 8

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Das intentionalistische Paradigma

ergibt sich vor diesem Hintergrund die Schwierigkeit, ob zwischen Sozialem und Natürlichem tatsächlich ein Ausschlussverhältnis besteht, oder ob es sich nicht um ein Einschlussverhältnis handelt, indem Soziales bloß eine Manifestation von Natürlichem ist. Wie es darum auch bestellt sein mag, Searles Deutungsvorschlag gelten meine nächsten Überlegungen. Und nicht nur ihm. Denn diese Art von Ansatz, die Sozialontologie auf die Grundbegriffe des Bewusstseins und seiner Intentionalität aufzupflanzen, genießt nicht erst seit Searle große Popularität. Wohl hat Searle in einem zunächst handlungstheoretischen Aufsatz über Collective Intentions and Actions von 1990 und seither in vielen nachfolgenden, genuin sozialontologischen Schriften für eine solche Analyse Partei ergriffen. Dadurch hat er eine philosophische und zunehmend breiter geführte, in benachbarte Disziplinen wie die Soziologie und Politikwissenschaft, Entwicklungspsychologie und Kognitionswissenschaft hinübergreifende Debatte in Fahrt gebracht. Jedoch steht Searles Denkungsart in der Erbfolge zahlreicher renommierter Vorreiter. Dazu zählen die seit den 1960er Jahren vereinzelt vorgetragenen Bemerkungen von Sellars über shared oder intersubjective intentions, 13 welche in den späten 80ern von einigen Handlungstheoretikern aufgegriffen 14 und durch Raimo Tuomela erstmals im Format einer Monographie ausgearbeitet wurden. 15 Vor allem aber sind hierbei einige der angesehenen und einflussreichen Stammväter der modernen Soziologie wie Durkheim und Simmel, Weber und Schütz zu nennen. Das rechtfertigt es – und wir werden die genannten Autoren noch näher kennenlernen sowie weitere, welche zu dieser Traditionslinie gehören –, von einer paradigmatisch gewordenen Art von Analyseansatz im ontologischen Nachdenken über das Soziale zu sprechen. Nach Maßgabe dieses intentionalistischen Paradigmas bilden Vgl. Sellars, Wilfrid: Imperatives, Intentions, and the Logic of ›Ought‹, in: Castañeda, Hector-Neri/Na-khnikian, George (Hg.): Morality and the Language of Conduct, Detroit 1965, S. 159–214; Science and Metaphysics. Variations on Kantian Themes, London 1968, S. 215 ff.; Essays in Philosophy and its History, Dordrecht 1974; On Reasoning About Values, in: American Philosophical Quarterly 17/2 (1980), S. 81–101. 14 Vgl. Gruner, Rolf: On the Action of Social Groups, in: Inquiry 19 (1976), S. 443– 454; Londey, David: On the Action of Teams, in: Inquiry 21 (1978), S. 213–221; Brooks, David H. M.: Joint Action, in: Mind 90 (1981), S. 113–119; Power, Richard: Mutual Intention, in: Journal for the Theory of Social Behavior 14/1 (1984), S. 85– 102. 15 Vgl. Tuomela, Raimo: A Theory of Social Action, Dordrecht 1984. 13

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Nur eine gewisse Sorte von Intentionen

das menschliche Bewusstsein und seine Intentionalität den Boden, auf dem in der einen oder anderen Weise die Kennzeichnung des Sozialen zu erfolgen hat: Letzteres sei, so meint man offen oder unterstellt stillschweigend, an den Zuständen des ersteren festzumachen. Die vorliegende Studie ist in der Folge (wenn sich denn jenes Paradigma tatsächlich aufweisen lässt) keineswegs auf eine Auseinandersetzung allein mit Searles Philosophie angelegt. Statt in die Grenzen von dessen Ontologie des Sozialen gebannt zu bleiben, greift sie alsdann weiter aus. Was ich infrage stellen möchte, ist die in einer Gruppe von Theorien verbreitete sozialontologische Denkweise, nämlich der Intentionalismus im Allgemeinen, und nicht nur diese oder jene seiner besonderen Ausformungen. Der Ausdruck ›Intentionalität‹ entstammt bekanntlich der mittelalterlichen Scholastik. In Anlehnung an die übertragene Wortbedeutung des lateinischen intendere, welches u. a. so viel besagt wie (den Sinn) nach etwas richten, (die Aufmerksamkeit) darauf lenken oder (den Geist) einer Sache zuwenden, 16 spricht bereits die scholastische Philosophie, darunter Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus, mit einem technischen Sinn von intentio. 17 Allerdings tut sie das in höchst unterschiedlichen Sachbereichen, etwa auch in der Sprachphilosophie, wo es um die Beziehung von Worten auf die von ihnen benannten Dinge geht. Und selbst innerhalb desjenigen Bereichs, der mit dem menschlichen Bewusstsein markiert ist, zieht sie das nicht ins Grundsätzliche aus; sie weist nicht sämtlichen unserer geistigen Leistungen eine intentionalitas zu. 18 Das macht erst Franz Brentano. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts weitet er unter Aufnahme des scholastischen Ausdrucks das Vorkommen der dadurch bezeichneten Struktur aus. In seiner PsyIn der wörtlichen Bedeutung ist es beispielsweise der Bogen, den man spannt und auf ein Ziel richtet, um den Pfeil loszuschießen (sagittam intendere). Vgl. Vergil: Aen. IX.590. 17 Ursprünglich war es Seneca, der mit intentio einen der zentralen Begriffe der Stoa und des Neuplatonismus, das griechische τόνος, ins Lateinische übersetzt. Zur Begriffsgeschichte siehe Engelhardt, Paulus: Intentio, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4: I-K, Basel 1976, Sp. 466– 474; Knudsen, Christian: Intentions and Impositions, in: Kretzmann, Norman/Kenny, Anthony/Pinborg, Jan (Hg.): The Cambridge History of Later Medieval Philosophy. From the Rediscovery of Aristotle to the Disintegration of Scholasticism 1100–1600, Cambridge 1982, S. 479–495. 18 Für einen Überblick über mittelalterliche Intentionalitätstheorien siehe Perler, Dominik: Theorien der Intentionalität im Mittelalter, Frankfurt a. M. 22004. 16

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Das intentionalistische Paradigma

chologie vom empirischen Standpunkt (1874) bietet er Intentionalität als Kriterium auf, um zwischen Psychischem und Physischem zu differenzieren, womit er gegen die Tendenz seiner Zeit anläuft, das Bewusstsein zu naturalisieren. Denn mittels dieses Kriteriums soll sich die Gesamtheit der mentalen Zustände eines Menschen von allen physikalischen, chemischen oder biologischen Vorkommnissen absetzen lassen; es gestatte, die Grenze zwischen Geist und Natur unzweideutig zu ziehen. Danach inhäriert mentalen Zuständen eine Gerichtetheit, die natürlichen Vorkommnissen abgeht. Unser Erleben soll die Grundstruktur der Intentionalität haben: Es sei stets ein Erleben von etwas, wobei dieses etwas weder zurzeit existieren noch jemals existiert haben muss. Jedweder Akt des Denkens, Wollens und Fühlens, des Vorstellens, Wahrnehmens, Erinnerns u. dgl. m. birgt laut Brentano den Verweis auf ein anderes, welches sein Inhalt ist. Wenn wir überzeugt sind, sind wir von etwas überzeugt, wenn wir beabsichtigen oder befürchten, ist es etwas, das wir beabsichtigen oder befürchten; wenn wir vorstellen, stellen wir etwas vor, wenn wir wahrnehmen bzw. erinnern, ist es etwas, das wir wahrnehmen bzw. erinnern. 19 Durch Brentano lernt auch Husserl die Intentionalität sehen. Er hat dessen Verdienst, Intentionalität zum terminus technicus der Bewusstseinsphilosophie angehoben zu haben, prinzipiell anerkannt und in seiner transzendentalen Phänomenologie fortgeführt. 20 In den 1950er Jahren ist es Roderick Chisholm, der Brentanos These von der Gerichtetheit alles Psychischen in die angelsächsische sprachanalytische Philosophie einführt. Er untersucht sie anhand von Kriterien für Sätze, die intentionale Zustände beschreiben, und macht sie gegen behavioristische Reduktionsversuche stark. 21 Und noch in zeitgenössischen Diskussionen zur philosophy of mind wird die Annah-

Brentano spricht u. a. von der »Beziehung auf einen Inhalt« oder der »Richtung auf ein Objekt«, die unser Bewusstsein hat. (Brentano, Franz: Psychologie vom empirischen Standpunkte, Bd. 1, Leipzig 1874, S. 115) Dem Inhalt oder Objekt komme dabei »intentionale […] Inexistenz« zu; denn das Bewusstsein soll »einen Gegenstand in sich« (S. 116) enthalten, jener existiere in diesem. 20 Zu Husserls Kritik an Brentano siehe Prechtl, Peter: Die Struktur der Intentionalität bei Brentano und Husserl, in: Brentano Studien 2 (1989), S. 117–130. 21 Vgl. Chisholm, Roderick M.: A Note on Carnap’s Meaning Analysis, in: Philosophical Studies 6 (1955), S. 87–89; Perceiving. A Philosophical Study, Ithaca, New York 1957, Kap. 11. 19

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Nur eine gewisse Sorte von Intentionen

me vertreten, Intentionalität sei das oder ein entscheidendes Merkmal des Mentalen, beispielsweise von Fred Dretske und Alex Byrne. 22 Andere hingegen stellen das in Zweifel. Sie weisen auf so etwas wie Gefühle und Stimmungen hin (was auch immer damit im Einzelnen gemeint sein mag), für die das nicht gelten soll. Die Gefühle und Stimmungen der Menschen seien nicht in jedem Fall auf etwas gerichtet und beeinflussen doch das Erleben desjenigen, welcher sie hat. 23 Colin McGinn und Ned Block etwa unterscheiden zwischen prototypischen intentionalen Bewusstseinszuständen wie den vorbesagten Überzeugungen, Absichten und Befürchtungen, Vorstellungen, Wahrnehmungen und Erinnerungen auf der einen Seite und sog. phänomenalen Bewusstseinszuständen auf der anderen Seite. Letztere seien nicht auf etwas bezogen, sondern im Gegenteil dadurch charakterisiert, wie es ist, sie zu haben, dadurch also, wie man fühlt oder gestimmt ist, wenn man sie hat. 24 Dass sich nicht alles am menschlichen Bewusstsein in Intentionalität auflösen lässt, spricht freilich nicht dagegen, dass alles Bewusstsein intentional ist. Fraglich ist immerhin, ob sich die beiden Arten von Bewusstseinszuständen wirklich derart sauber voneinander trennen lassen oder ob es sich nicht vielmehr um Momente unserer Bewusstseinszustände handelt. Es mögen dann durchaus noch andere Momente als solche der Intentionalität einige oder gar alle Bewusstseinszustände auszeichnen, das ist jedenfalls kein Beleg dafür, dass unsere Bewusstseinszustände nicht immer auch ein intentionales Moment zeigen. Doch wie dem auch sei, auch Searle bricht mit Brentano. Ausdrücklich nimmt er in seiner Abhandlung über Intentionality aus dem Jahr 1983 von Beginn an »forms of elation, depression and anxiety« 25 aus. Denn bei gewissen psychischen ZustänVgl. Dretske, Fred: Naturalizing the Mind, Cambridge, Mass./London 1995; Tye, Michael: Ten Problems of Consciousness. A Representational Theory of the Phenomenal Mind, Cambridge, Mass. 1995; Byrne, Alex: Intentionalism Defended, in: The Philosophical Review 110/2 (2001), S. 199–240. 23 »The obvious objection to defining the mental as the intentional is that pains are not intentional – they do not represent, they are not about anything.« (Rorty, Richard: Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton 1979, S. 22) 24 Vgl. McGinn, Colin: The Character of Mind. An Introduction to the Philosophy of Mind, Oxford 1982, S. 8 ff.; Block, Ned: On a Confusion about a Function of Consciousness, in: Behavioral and Brain Sciences 18/2 (1995), S. 230 ff.; Chalmers, David J.: The Conscious Mind. In Search of a Fundamental Theory, Oxford 1996, S. 24 f. 25 Searle, John R.: Intentionality. An Essay in the Philosophy of Mind, Cambridge 1983, S. 2. 22

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Das intentionalistische Paradigma

den, Gefühlen oder Stimmungen, soll man nicht sinnvoll fragen können, was ihr Inhalt ist, worauf sie sich beziehen. Sie seien nicht »directed at or about or of objects and states of affairs in the world« 26 und insofern keine intentionale Weise von Bewusstsein. Diese Ansicht erweist sich als äußerst folgenreich im Hinblick auf den Umstand, dass Searle in seinen späteren, sozialontologischen Schriften das Problemfeld des Sozialen im Rückgang auf das Problemfeld des Mentalen entwickelt. Wenn nämlich die Intentionalität des Bewusstseins den grundlegenden Begriff der Sozialontologie ausmacht, zugleich jedoch manche Zustände des Bewusstseins nicht durch Intentionalität ausgezeichnet sind, heißt das, dass letztere prinzipiell nicht von der Art der ersteren sind: Aufgrund von Festlegungen, welche Searle schon früh in seiner Theorie der Intentionalität getroffen und seitdem wiederholt und bekräftigt hat, sind seiner darauf fußenden Theorie des Sozialen bestimmte Phänomene entzogen. A limine scheidet Searle all jene »mental states and events«, die nach seiner Einschätzung »not intentional« sind, aus dem intentionalistisch charakterisierten Bereich dessen aus, was sozial ist oder zu sein vermag. Jene »forms of elation, depression and anxiety«, die er anspricht, ohne sie näher auszubuchstabieren, können von vornherein nichts Soziales an sich haben. 27 Das versteht sich mitnichten von selbst. Man hat es hier mit einer nicht unerheblichen Verengung der möglichen Reichweite von Sozialem und damit der Sozialontologie zu tun, die doch allererst in ihrem Recht zu erweisen wäre. Dagegen sind seit Kurzem gemeinsam geteilte Gefühle zu einer eigenen philosophischen Fragestellung erhoben worden. Denn abgerechnet Simmels verstreute Darstellungen zentraler Achsen einer Emotionssoziologie, welche sich mit der Rolle von Gefühlen für Genese und Reproduktion sozialer Beziehungen befasst, 28 und Max Schelers phänomenologische Untersuchung zur

Ebd., S. 1. Dass es sich dabei um eine Konstante in Searles Denken handelt, dafür siehe Searle, John R.: The Rediscovery of the Mind, a. a. O., S. 130 f.; Mind, Language and Society. Philosophy in the Real World, a. a. O., S. 77; The Problem of Consciousness, in: Consciousness and Language, Cambridge 2002, S. 12; Making the Social World. The Structure of Human Civilization, a. a. O., S. 26 f. 28 Vgl. Schützeichel, Rainer: Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, in: Senge, Konstanze/Ders. (Hg.): Hauptwerke der Emotionssoziologie, Wiesbaden 2013, S. 311–332. 26 27

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Sympathie, die das »Mit-einander-fühlen« anstreift, 29 hat die Philosophie dem in ihrer Geschichte eher weniger Beachtung geschenkt. In der rezenten Kontroverse zur Ontologie des Sozialen, jedenfalls soweit sie sich auf den von Searle gelegten begrifflichen Gleisen bewegt, ist das bisher gleichfalls weitgehend unbeachtet geblieben. Hans Bernhard Schmid hat mittlerweile einige Schriften vorgelegt, die dem Sozialcharakter von Gefühlen gewidmet sind. 30 Zugleich sind Arbeiten zu diesem Thema entstanden, die sich entweder einem verstärkten Interesse an der Rezeption Schelers 31 oder dem Wiederaufleben der Phänomenologie in Verbindung mit Problemen der analytischen Philosophie verdanken. 32 Inwiefern auch Stimmungen etwas gemeinsam Geteiltes sind oder sein können, hat bereits Martin Heidegger in seinem frühen Hauptwerk Sein und Zeit aus dem Jahre 1927 vorgeschlagen. Wo auch immer ich bin und was auch immer ich tue, unausweichlich befinde ich mich demnach in irgendeiner Stimmung: Ich bin von Freude oder Trauer ergriffen, von Liebe oder Furcht, Gleichgültigkeit, Langeweile, Angst usw. Und Heidegger hebt solche Befindlichkeiten von Gefühlen ab. Die ersteren seien umfassender und lägen den letzteren ebenso wie Gedanken, Absichten und allen sonstigen mentalen Zuständen zugrunde. Immer soll mein Denken, Wollen, Fühlen und also die Art und Weise, wie mir Dinge begegnen, so etwas wie eine unterschiedliche Färbung haben; wenn ich freudig gestimmt bin, erscheinen sie mir anders, als wenn ich traurig bin, wenn ich verliebt bin anders, als wenn ich mich fürchte etc. Und Heidegger spricht diesbezüglich von »Mitbefindlichkeit« 33. Das zeigt an, dass eine solche Gestimmtheit nicht notwendig die eines Einzelnen allein sein Vgl. Scheler, Max: Die Sinngesetze des emotionalen Lebens, Bd. 1: Wesen und Formen der Sympathie, Bonn 1923, S. 9 f. 30 Vgl. Schmid, Hans B.: Shared Feelings. Towards a Phenomenology of Collective Affective Intentionality, in: Ders./Schulte-Ostermann, Katinka/Psarros, Nikos (Hg.): Concepts of Sharedness. Essays on Collective Intentionality, Heusenstamm 2008, S. 59–86; The Feeling of Being a Group: Corporate Emotions and Collective Consciousness, in: von Scheve, Christian/Salmela, Mikko (Hg.): Collective Emotions: Perspectives from Psychology, Philosophy, and Sociology, Oxford 2014, S. 3–16. 31 Vgl. Schloßberger, Matthias: Die Erfahrung des Anderen. Gefühle im menschlichen Miteinander, Berlin 2005, Kap. 5; Krebs, Angelika: Max Scheler über das Miteinanderfühlen, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 35/1 (2010), S. 9–44. 32 Vgl. Vendrell Ferran, Íngrid: Die Emotionen. Gefühle in der realistischen Phänomenologie, Berlin 2008. 33 Heidegger, Martin: Sein und Zeit (1927), GA 2, Frankfurt a. M. 71977, S. 188, 215. 29

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muss, sondern er sich gemeinsam mit Anderen darein teilen kann. Die Art und Weise, wie sich ihm die Dinge darstellen, mag durchaus eine soziale sein. 34 Doch damit nicht genug. Die Searle’sche Sozialontologie lässt daneben noch eine weitere Verengung der gesellschaftlichen Wirklichkeit erkennen. (In Kapitel III.2 werden wir sogar noch eine dritte kennenlernen.) Und diese wiegt, an Searles eigenen Ansprüchen gemessen, ungleich schwerer. Denn sie macht, und zwar noch vor und unabhängig von all dem, was Searle im Detail zu kollektiver Intentionalität (collective intentionality) ausführt, dass sein Theoriegebäude im Ganzen Gefahr läuft, problematisch zu werden. Dieses droht, regelrecht in seine einzelnen Bausteine auseinanderzufallen. Und das aus dem folgenden Grund. Searles Entwurf zur Ontologie des Sozialen ist aus der speziellen Frage hervorgegangen, wie das gemeinsame Handeln mehrerer Akteure zu fassen ist. Nachdem das Geteiltsein kognitiver Zustände wie z. B. Überzeugungen und Wahrnehmungen länger schon die Bemühungen philosophischer Forschung auf sich gezogen hat – David Lewis behandelt dies unter der Bezeichnung »common knowledge« 35, und Stephen Schiffer spricht von »mutual knowledge« 36 –, hat Searles Rede von kollektiven Intentionen (collective intentions), der Titel seines Aufsatzes Collective Intentions and Actions sagt es schon, zunächst eine volitive Stoßrichtung. Sie zielt auf Handlungen ab. Searle will klären, wodurch sich der genannte Fall von dem des einsamen Handelns eines Einzelnen unterscheidet. Zwei oder mehr Personen können ja nicht nur zufällig in derselben Weise handeln; sie können, was sie tun, eben auch absichtlich zusammen tun. Searle ist damit jedoch auf dem Sprung, einen Beitrag zur Bestimmung des Sozialen überhaupt zu leisten. Die Fähigkeit, sich mit anderen Menschen in Unternehmungen zu engagieren, gehört siVon einigen wenigen Textstellen abgesehen, wo der Wortgebrauch vollauf unterminologisch bleibt, meidet Heidegger den lateinischstämmigen Ausdruck ›sozial‹. In Sein und Zeit findet sich dieser nur einmal als alleinstehendes Adjektiv und zweimal in dem Kompositum ›Soziologie‹ (vgl. ebd., S. 38, 68, 162). Gewiss vermutet Heidegger in dessen Geschichte so wie in anderen Fällen der überlieferten philosophischen Fachsprache sachentstellende Ablagerungen, welche er von vornherein zu umgehen und durch eine eigene, in phänomenologischer Manier aus der Sache selbst zu schöpfende Begriffsbildung zu ersetzen trachtet. 35 Vgl. Lewis, David: Convention. A Philosophical Study, Cambridge, Mass. 1969, Kap. 2.1. 36 Vgl. Schiffer, Stephen: Meaning, Oxford 1972, S. 30 ff. 34

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cherlich mit zum begrifflichen Bestand dessen, was uns als vergesellschaftete und vergesellschaftende Wesen auszeichnet. Und den Drehund Angelpunkt von Searles Darlegungen zu dem einen wie zu dem anderen bildet seine Konzeption kollektiver Intentionalität. Diese ist elementar sowohl für seine Analyse des Miteinanderhandelns als auch seine Analyse des Sozialen als solchen; sie macht die erstere zu einem Sonderfall der letzteren. Searle hat sie im Weiteren in voller Allgemeinheit als Kernstück seiner Sozialontologie entfaltet, insbesondere in der Monographie The Construction of Social Reality und dann erneut in Making the Social World aus dem Jahr 2010. Etwas zu intendieren, bedeutet Searle bereits in seinem Buch Intentionality nicht bloß so viel wie beabsichtigen. Es geht ihm nicht nur um so etwas wie Handlungsabsichten. Er vermeidet die Engführung des Intentionalitätsbegriffs mit einer bestimmten Art von Intentionalität, volitiver, kognitiver oder affektiver. 37 Der Ausdruck deckt vielmehr sämtliche mentalen Zustände ab, welche auf etwas gelenkt sind, d. h. einen Inhalt haben: »on my account intending to do something is just one form of Intentionality along with belief, hope, fear, desire, and lots of others« 38. Und auch die Rede von kollektiven Intentionen ist sodann in Searles sozialontologischen Texten nicht einseitig zu verstehen im Sinne kollektiver Handlungsabsichten. Sie meint stattdessen jedwedes Gelenktsein unseres Bewusstseins auf etwas, volitives sowohl als auch kognitives oder affektives, sofern dieses nur kollektiver Art ist. 39 Dass sich Searle nach seiner vielbeachteten Studie über Speech Acts aus dem Jahr 1969, welche essenzielle Anregungen aus der SpätAnders Anscombe, Gertrude E. M.: Intention, Oxford 1957. Searle, John R.: Intentionality. An Essay in the Philosophy of Mind, a. a. O., S. 3. Vgl. Searle, John R.: Mind, Language and Society. Philosophy in the Real World, a. a. O., S. 85 f.; Mind. A Brief Introduction, New York 2004, S. 28; Seeing Things as They Are. A Theory of Perception, New York 2015, S. 13 f. 39 Wenn Searle auch Gefühle im Sinne von affektiven Intentionen unerörtert lässt, unterscheidet er doch allgemeinen zwischen dem »content« und dem »mode« eines mentalen Zustandes. Dass es regnet, kann ich wahrnehmen, hoffen oder befürchten. Der erstere legt die »conditions of satisfaction«, der letztere die, wie Searle im Anschluss an Austin, John L.: How to Talk. Some Simple Ways, in: Proceedings of the Aristotelian Society 53 (1952/53), S. 227–246 sagt, »direction of fit« des mentalen Zustandes auf die Welt fest. Vgl. Searle, John R.: Intentionality. An Essay in the Philosophy of Mind, a. a. O., Kap. 1; Mind, Language and Society. Philosophy in the Real World, a. a. O., S. 99 ff.; Mind. A Brief Introduction, a. a. O., S. 166 f.; Making the Social World. The Structure of Human Civilization, a. a. O., S. 27 ff. 37 38

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philosophie Wittgensteins bezieht, unerwartetermaßen dem Thema der Intentionality widmet, haben manche mit Bedenken registriert. Schien Searle doch mit dem Fortgang von der philosophy of language zur philosophy of mind, so lautet der kardinale Vorwurf von KarlOtto Apel und Habermas, zu jenem alten, mit Wittgenstein unter Verdacht geratenen Standpunkt der Philosophie zurückzugehen, an dessen endgültiger Verabschiedung seine eigene Sprechakttheorie mitwirkte. Unversehens stehe im Brennpunkt von Searles Denken nicht mehr die Beschäftigung mit der gesellschaftlichen Praxis des Sprechens, sondern das einsame Bewusstsein und dessen Bezug zur Welt. Es hat sonach den Anschein, vermutet Apel, dass Searle nicht weniger als die linguistische und pragmatische Wende widerruft, unter deren Zeichen die Gegenwartsphilosophie seit dem 20. Jahrhundert aufgestellt ist, und auf den Subjektivismus der Bewusstseinsphilosophie zurückfällt. 40 Searle selbst sieht sich von solcherlei Angriffen nicht getroffen. Zwischen Speech Acts und Intentionality soll keine Zäsur bestehen. Vielmehr halte die Untersuchung der Intentionalität, so wehrt er ab, an bisherigen Ideen fest und schreite kontinuierlich in der Bewältigung alter Aufgabenstellungen voran. Anstatt Reflex eines rückschrittlichen »intentionalistic turn« 41 zu sein, wie Habermas beanstandet, diene die Beschäftigung mit dem Bewusstsein vielmehr dem generellen Ziel, welches schon die Sprechakttheorie verfolgt hat, nun allerdings unter den Prämissen der, so Searles Formulierung von 1992, philosophisch wiederentdeckten Region des Mentalen. 42 In seiner Abhandlung Mind, Language and Society aus dem Jahr 1998, welche die verschiedenen Problemfelder seines philosophischen Werkes zusammenführen will, betont Searle dementsprechend, es sei das Ziel seiner »general theory« 43, Phänomene, die weder durch die Physik noch die Chemie oder die Biologie zureichend erklärt werden können, in unser naturwissenschaftlich fundiertes Weltbild einzupasVgl. Apel, Karl-Otto: Is Intentionality more Basic than Linguistic Meaning?, in: Lepore, Ernest/van Gulick, Robert (Hg.): John Searle and his Critics, Oxford/Cambridge, Mass. 1991, S. 35 ff. 41 Habermas, Jürgen: Comments on John Searle: »Meaning, Communication, and Representation«, in: Lepore, Ernest/van Gulick, Robert (Hg.): John Searle and his Critics, Oxford/Cambridge, Mass. 1991, S. 18. 42 Vgl. Searle, John R.: The Rediscovery of the Mind, a. a. O. 43 Searle, John R.: Mind, Language and Society. Philosophy in the Real World, a. a. O., S. 161. 40

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sen. Und dazu sollen die Problemfelder des Mentalen, der Sprache und des Sozialen gehören, Problemfelder, die Searle zufolge aufeinander verweisen und nicht unabhängig voneinander beleuchtet werden können. 44 Diese Versicherung macht jedoch Apels und Habermasens Befürchtung nicht gegenstandslos. In einer wohlwollenden Lektüre hat Schmid vorgeschlagen, dass Searle selber zwar am Entstehen gewisser Missverständnisse nicht ganz unschuldig sei. Doch der Weg von der Sprechakttheorie zur Theorie der Intentionalität habe die sie verknüpfende Mitte lediglich übersprungen: Searle habe in seinem umfassenden philosophischen Projekt anfangs eine offene Stelle gelassen, diese jedoch im Nachgang, nämlich mit dem zwölf Jahre späteren Erscheinen von The Construction of Social Reality und sodann erneut mit Making the Social World, geschlossen. 45 Nach dieser Lesart verläuft der Weg von der Erforschung der Sprache hin zu der des Mentalen über das Soziale, exakt dem also, was für Apel und Habermas abhandengekommen scheint. Ob Searle deren Vorwurf überzeugend zu parieren vermag, das Moment des Intersubjektiven aus der Hand gegeben zu haben, entscheidet sich folglich anhand seiner Erforschung des dritten Problemfeldes. Seine Sozialontologie trägt damit eine nicht geringe Bürde; mit ihr steht und fällt nicht weniger als die Einheit seines Philosophierens. Wenn Searles Konzeptualisierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht in der Lage sein sollte, die Brücke zu schlagen von seiner Linguistik und Sprachpragmatik hinüber zu seiner Intentionalitätstheorie, brechen beide entzwei. Und sie ist dazu nicht in der Lage. Man muss sich nur vor Augen halten, dass Searle die Ontologie des Sozialen als eine Analyse kollektiver intentionaler Akte des menschlichen Bewusstseins konstruiert. In The Construction of Social Reality stellt er kurz und bündig fest: »By stipulation I will henceforth use the expression ›social fact‹ Obgleich Searle seine Analyse der Intentionalität des Mentalen an der Intentionalität von Sprache orientiert, identifiziert er das eine doch nicht mit dem anderen. Vielmehr erklärt er die letztere durch die erstere. Vgl. Searle, John R.: Intentionality. An Essay in the Philosophy of Mind, a. a. O., S. 5, 22 ff.; Mind. A Brief Introduction, a. a. O., S. 160 f. Umgekehrt versucht hingegen Barz, mentale Intentionalität auf sprachliche Intentionalität zurückzuführen. Vgl. Barz, Wolfgang: Das Problem der Intentionalität, Paderborn 2004. 45 Vgl. Schmid, Hans B.: Wir-Intentionalität. Kritik des ontologischen Individualismus und Rekonstruktion der Gemeinschaft, Freiburg 2005, S. 181 ff. 44

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to refer to any fact involving collective intentionality. So, for example, the fact that two people are going for a walk together is a social fact.« 46 Danach ist kollektive Intentionalität, und zwar einerlei wie sie von Searle näherhin ausgelegt wird, die minimale Bestimmtheit des Sozialen. Sie soll sich in allen möglichen Fällen durchhalten und nicht in einfachere Elemente auflösen lassen. Sie gebe das Band ab, welches sämtliche gesellschaftlichen Realitäten, die sich prima facie doch so unterschiedlich ausnehmen, miteinander verknüpft: All dasjenige ist nach Searle sozial, was entweder von einer kollektiven Intention abhängt wie z. B. das Mit-, Für- und Gegeneinanderhandeln der Menschen oder aber selber eine solche ist. Wohl qualifiziert Searle selbst das menschliche Bewusstsein nirgendwo als ein soziales. Durchweg spricht er von kollektiven Intentionen, im Gegensatz zu individuellen Intentionen (individual intentions), und davon, dass soziale Tatsachen derlei Intentionen involvieren. 47 Das ist allerdings nur eine Sache der Sprache. Nicht führt Searle Soziales, indem er es auf kollektive Intentionen zurückführt, auf Nichtsoziales zurück. Denn die Kollektivität solcher Intentionen macht er (wie die Individualität individueller Intentionen), so werde ich in Kapitel III.4 darlegen, an deren intentionalem Gehalt fest. In der Sache sind sie durchaus sozial, insofern sie etwas Soziales, eine sog. soziale Tatsache wie etwa mit, für oder gegen jemand Anderen zu handeln, intendieren. Mithin erläutert Searle den Begriff des Sozialen als die kollektive Intentionalität unseres Bewusstseins. Und darin liegt der Sprengsatz, welcher die Problemfelder, auf denen sich sein philosophisches Nachdenken bewegt, auseinanderreißt oder, besser noch, gar nicht erst zusammenwachsen lässt. Denn keineswegs unterläuft Searle auf diese Weise, wie es das Ansehen haben könnte, die gegen ihn vorgebrachten Einwände. In der Tat greift er eine Prämisse an, welche die neuzeitliche subjektivistische Intentionalitätstheorie geradeso wie die intersubjektivistische Searle, John R.: The Construction of Social Reality, a. a. O., S. 26. »Collective intentionality is the psychological presupposition of all social reality and, indeed, I define a social fact as any fact involving collective intentionality of two or more human or animal agents.« (Searle, John R.: Social Ontology. Some Basic Principles, a. a. O., S. 16 f.) Siehe auch Responses to Critics of The Construction of Social Reality, a. a. O., S. 452; Searle, John R./Smith, Barry: The Construction of Social Reality: An Exchange, in: American Journal of Economics and Sociology 62/1 (2003), S. 304; Making the Social World. The Structure of Human Civilization, a. a. O., S. 156.

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Intentionalitätskritik des 20. Jahrhunderts über weite Strecken stillschweigend voraussetzt, indem Intentionen hier wie dort selbstverständlich als singuläre angesetzt werden. Diese Intentionalität, welche Searle als individuelle apostrophiert (individual intentionality), drückt sich in Sätzen der ersten Person Singular aus wie ›Ich bin überzeugt, dass‹, ›Ich beabsichtige, dass‹ oder ›Ich befürchte, dass‹. Aber daneben gibt es, wie Searle zu Recht geltend macht, auch eine plurale Intentionalität, welche er eben als kollektive apostrophiert. Sie artikuliert sich in Sätzen der ersten Person Plural wie ›Wir sind überzeugt, dass‹, ›Wir beabsichtigen, dass‹ oder ›Wir befürchten, dass‹. Um diese Differenz von Ich- und Wir-Intentionen zu illustrieren, bemüht Searle etwa das Beispiel einer Geigenspielerin, die in einem Orchester musiziert; sie spielt ihren Teil nur im Zusammenhang der gemeinsamen Aufführung einer Symphonie, und ihr Verhalten bleibt seinem Sinn nach auf das der anderen Beteiligten bezogen. Oder, wie Searles zweites Beispiel lautet, wenn jemand an einem Footballspiel als Stürmer teilnimmt; er wird den Verteidiger der gegnerischen Mannschaft blocken, aber er tut dies als Mitspieler des eigenen Teams und als Teil eines gemeinsamen Angriffsspiels. 48 Ohne hier schon in die Feinheiten der Interpretation gehen zu müssen, ist unschwer zu sehen, dass entgegen Schmids Versuch, Searles Behandlung der Problemfelder Sprache und Mentales als durch seine »Philosophy of Society« 49 miteinander verleimt zu betrachten, die Sorge von Apel und Habermas keinesfalls vom Tisch ist. Nicht werden die Vorwürfe an Searles Adresse dadurch haltlos, dass dieser die bewusste Intentionalität des Menschen nicht auf eine singuläre beschränkt, sondern ebenso eine plurale kennt. Denn in Searles Augen – und das allein ist entscheidend –, haben nicht sämtliche intentionalen Zustände des menschlichen Bewusstseins eine gesellschaftliche Couleur. Da er das Kriterium, wonach eine Intention oder das, was von einer solchen abhängt, etwas Soziales ist, unmissverständlich identifiziert als die Kollektivität der betreffenden Intention (was auch immer dies besagen könnte), sind Intentionen nicht in genere von dem Verdacht befreit, gesellschaftlich unberührt zu sein. Das trifft ausdrücklich nur auf eine bestimmte Ausprägung von Bewusstsein zu, eben auf kollektive Intentionalität. Individuelle IntenVgl. Searle, John R.: The Construction of Social Reality, a. a. O., S. 23. Searle, John R.: Making the Social World. The Structure of Human Civilization, a. a. O., S. 5.

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tionalität hingegen, die andere Ausprägung von Bewusstsein, welche Searle unterscheidet, bleibt von seiner Behandlung des Problemfeldes des Sozialen ausgespart. Eine Intention oder das, was von einer solchen abhängt, kriteriell durch Individualität auszuzeichnen (was auch immer dies besagen könnte), benimmt der entsprechenden Intention jedwede gesellschaftliche Hinsicht. Man kommt daher nicht umhin festzustellen, dass auch weiterhin eine Lücke klafft zwischen Searles Philosophie der Sprechakte und seiner Philosophie des Bewusstseins. Diese Lücke wäre offensichtlich nur dadurch aus der Welt zu schaffen, dass Searle stattdessen behauptet, dass es keinen intentionalen Akt des menschlichen Bewusstseins gibt, der nicht gesellschaftlich eingeformt ist. Searle müsste sich, um die Möglichkeit einer ganz und gar solitären Stellung zu den Dingen auszuräumen und damit den inneren Zusammenhalt seines philosophischen Opus in dem von ihm angedachten Sinne gegen die diesbezüglichen Einlassungen Apels und Habermasens in Schutz nehmen zu können, zu der These bereitfinden lassen, dass nicht bloß eine gewisse Sorte, sondern dass jedwede bewusstseinsförmige Intentionalität des Menschen irgendeine soziale Seite besitzt. Es mag sich um plurale oder singuläre Intentionen handeln, um volitive, kognitive, affektive, oder welche Klassifizierungen hierbei angebracht sein mögen: Jegliche geistige Zuwendung zu etwas müsste sich ohne Ausnahme erweisen, irgendwie gesellschaftlich aufgeladen zu sein. 50 Nur sofern sich das dartun lässt, verliert die linguistisch-pragmatisch motivierte Kritik, welche gegenüber einer im Medium des bloß Subjektiven sich haltenden Theorie der Intentionalität Intersubjektivismus anmahnt, den Punkt, an welchem sie ansetzen und verfangen kann. Die Kluft zwischen einem Reich des monologisch verfassten Mentalen und einem Reich dialogisch geregelter Sprachpraxis ist überbrückt, wenn anders beide grundsätzlich ins Reich des Sozialen fallen. Ich sage ›bewusstseinsförmige‹ Intentionalität und setze mich damit von Ansätzen ab, die das Problem der Intentionalität aus dem Begriffsrahmen des Bewusstseins herausdrehen und stattdessen im Hinblick auf die Zuschreibung intentionaler Zustände anpacken. Abgewehrt werden soll mit diesem Vorgehen ein Verständnis derartiger Die Dreiteilung der menschlichen Gemütsvermögen in Denken, Wollen und Fühlen hat im 18. Jahrhundert Tetens geprägt. Sie soll hier keineswegs verteidigt oder auch nur unterstellt werden. Vgl. Tetens, Johann N.: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung, 2 Bde., Leipzig 1777.

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Zustände, wie es wohl unsere Alltagspsychologie weitestgehend durchzieht. Danach stehen diese Zustände hinter unserem Handeln; sie gehen ihm vorher und lösen es aus, und sie gehen mit ihm mit und steuern es. 51 Nach Willard Van Orman Quine dient zwar solch eine askriptive Praxis, wie sie uns allen, die wir in Gesellschaft leben, aufgrund von Einübung lebendige Gewohnheit ist, im alltäglichen Leben erfolgreich dem Verstehen des Verhaltens Anderer; sie sei aber letztlich grundlos und bleibe rein metaphorisch. 52 Dass jemandem eine Intention zugeschrieben wird, egal welcher Art sie sein mag, ein Fall von Denken, von Wollen oder von Fühlen, heißt danach nicht, dass der Betreffende wirklich in einem entsprechenden psychischen Zustand ist. Vielmehr wird er von Anderen auf gewisse Möglichkeiten des Verhaltens festgelegt, die anschlussfähig und erwartbar sind. Derselbe eliminative Grundgedanke findet sich bei Paul Churchland 53 und Daniel Dennett. 54 Ich setze meine weiteren Überlegungen von derlei Ansätzen ab. Nicht nur deshalb, weil Searle selber und mit ihm die meisten derer, welche sich an der laufenden Debatte zur Ontologie des Sozialen beteiligen, Intentionen nicht im Spiegel einer askriptiven Praxis, sondern als mentale Zustände ansehen. Sie knüpfen Intentionalität, und zwar kollektive ebenso sehr wie individuelle, an das menschliche Bewusstsein. 55 Sondern das eine widerstreitet dem anderen auch gar nicht. Selbst wenn jemand kraft gesellschaftlicher Zuschreibungen auf erwartbare Möglichkeiten des Anschlussverhaltens festgelegt ist, stellt das keineswegs in Abrede, dass er daneben nicht auch bewusst intendiert. Immerhin ist nicht schlechthin von der Hand zu weisen, dass Menschen hie und da ihre Überzeugungen überdenken, Absichten schmieden oder sich über ihre Gefühle klar zu werden versuchen. Schon Wittgenstein fragt in seinen Philosophischen Untersuchungen: »Und das Problem entsteht: was ist das, was übrigbleibt, wenn ich von der Tatsache, daß ich meinen Arm hebe, die abziehe, daß mein Arm sich hebt?« (PU 621) 52 Vgl. Quine, Willard V. O.: Word and Object, Cambridge, Mass. 1960, S. 221. 53 Vgl. Churchland, Paul M.: Eliminative Materialism and the Propositional Attitudes, in: Journal of Philosophy 78 (1981), S. 67–90. 54 Vgl. Dennett, Daniel: Intentional Systems, in: The Journal of Philosophy 68 (1971), S. 87–106; Real Patterns, in; Journal of Philosophy 88 (1991), S. 27–51. 55 Gegen Dennett argumentiert Searle, indem er auf die originäre (»intrinsic«) Intentionalität geistiger Zustände im Gegensatz zur abkünftigen (»derived«) Intentionalität der Sprache sowie einer metaphorischen (»metaphorical«) Zuschreibung von Intentionalität verweist. (Searle, John R.: The Realistic Stance, in: Behavioral and Brain Sciences 11/3 (1988), S. 527) 51

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Noch dazu kann das sowohl vor dem als auch beim Handlungsvollzug geschehen (sofern der Situationsdruck dies gestattet) und dessen weiteren Verlauf beeinflussen. 56 Nicht zu vergessen, dass Akteure auf Nachfrage hin in der Lage sind, einzuhalten und über ebendiese ihre Überzeugungen, Absichten oder Befürchtungen (einige) Auskunft zu geben. Und es ist ja gerade das, was infrage steht: ob nicht auch das intentionale Bewusstsein, welches jemand hat, etwas Soziales ausmacht, gleichviel was ihm durch Andere zugeschrieben werden mag. Ich möchte also die Eignung des Intentionalismus für die Ontologie des Sozialen einer Prüfung unterziehen. Die Frage lautet, ob sich das Soziale adäquat begreifen lässt mit Blick bloß auf eine gewisse Klasse von Intentionen, Wir-Intentionen etwa im Kontrast zu IchIntentionen. Gibt das doch die andere Intentionenklasse unvermeidlich der Privatheit eines auf sich selber vereinzelten Bewusstseins preis. Und dies betrifft wohlgemerkt nicht nur und nicht erst die Philosophie Searles. Die Schriften etlicher Vorreiter dieser Denkungsart, in deren Erbfolge Searle (wissentlich oder unwissentlich) steht, werden dabei mit in die Frage zu stellen sein, zurück bis zu den Pionieren der modernen Soziologie. 57 Die Vermutung, von der ich mich dabei leiten lasse, ist die, dass die intentionalen Leistungen des Bewusstseins der Menschen in Wahrheit in vollem Umfang von Sozialem betroffen sind, wie ja Apel und Habermas insinuieren. Ich werde gegen das intentionalistische Paradigma und für diejenige These argumentieren, welche Searle vertreten müsste, aber nicht vertritt, dass sich nämlich irgendeiner Sache zuzuwenden niemals jedweder Öffentlichkeit entbehrt: dass ein jeglicher Vollzug des menschlichen Geistes sich als das, was er seiner Art nach ist, lediglich mit Rekurs auf gesellschaftliche Praxis zureichend verstehen lässt. Aus dieser Vermutung eine Einsicht zu machen, ist ein Ziel der vorliegenden Studie. In Fortführung der etwa von Donald Davidson entwickelten kausalen Handlungstheorie trifft Searle hinsichtlich volitiver Intentionen die Unterscheidung zwischen solchen Intentionen, die einer Handlung vorausgehen (»prior intention«), und solchen, die im Ablauf der Handlung wirksam sind (»intention in action«). (Searle, John R.: Intentionality. An Essay in the Philosophy of Mind, a. a. O., S. 84) Siehe auch Rationality in Action, Cambridge, Mass. 2001, S. 44 f. 57 Und noch weiter zurück, spricht doch bereits Reid von »Social Operations of Mind«, welche »necessarily suppose an intercourse with some other intelligent being«, im Gegensatz zu denjenigen Operationen des Geistes, die »solitary« sind. (Reid, Thomas: Essays on the Intellectual Powers of Man, Edinburgh 1785, S. 72) 56

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Der Sachbereich des menschlichen Bewusstseins

2.

Der Sachbereich des menschlichen Bewusstseins: zwei Bausteine der Intentionalität

Bevor sich prüfen lässt, ob das intentionalistische Paradigma für die Sozialontologie geeignet ist, muss dieses Paradigma natürlich als ein ebensolches dokumentiert werden. Das ist das Ziel des ersten Teils dieser Arbeit. Ich werde zunächst zum Aufweis bringen, dass es sich dabei tatsächlich um einen in der Ontologie des Sozialen weitverbreiteten, ja paradigmatischen Analyseansatz handelt. Und weiter: woran genau das Soziale da festgemacht zu werden pflegt, wenn es an der intentionalen Verfasstheit des Bewusstseins der Menschen festgemacht wird. Die sorgfältigste Darstellung der einschlägigen Meinungen über das Soziale bleibt allerdings blind, wenn nicht vorab geklärt ist, woraufhin diese Meinungen darzustellen sind. Alles Sammeln und Sichten von Positionen muss sich, um nicht willkürlich zu geschehen, unter gewissen Gesichtspunkten vollziehen. Um diese Gesichtspunkte im Voraus festzulegen, ist sicher keine vollumspannende Theorie des Bewusstseins und seiner Intentionalität vonnöten. Weder darf man sich dabei in Details verlieren, noch braucht man aufs Ganze auszugreifen. Ich will stattdessen mit so wenigen Strukturmomenten bewusstseinsmäßiger Intentionalität wie möglich auskommen und diese auch lediglich mit so viel Tiefgang entwickeln wie nötig, um in der Lage zu sein, jene Positionen zu sammeln und auf das Wesentliche hin zu sichten. Und man muss sich nicht lang umschauen. Diejenigen Momente der Intentionalitätsstruktur des menschlichen Bewusstseins herauszugreifen, welche ich herausgreife, bezieht seine Rechtfertigung allein schon daraus, dass sie im sozialontologischen Denken und auch darüber hinaus weithin akzeptiert sind. Nicht nur das Gros der Beiträge zur aktuellen Auseinandersetzung mit der Sozialontologie, sondern desgleichen frühere Versuche einer ontologischen Verbegrifflichung des Sozialen, welche dieses allesamt in Bezug auf unser intentionales Bewusstsein zu analysieren unternehmen und mit denen ich mich darum gleichfalls befassen werde, operieren, wie zu sehen sein wird, ausdrücklich oder unausdrücklich mit ebendiesen Bausteinen (wenngleich nicht immer unter denselben Bezeichnungen). Durch deren Zuhilfenahme lassen sich die betreffenden Theorieangebote daher nach Rücksichten ordnen und abarbeiten, die in ihnen selber wirksam sind. 57 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Das intentionalistische Paradigma

Die hierbei zu veranschlagenden Bausteine bewusster Intentionalität sind zunächst einmal die folgenden zwei. (In Kapitel III.5 wird sich noch ein dritter hinzugesellen.) Kann man doch alle intentionalen Akte des menschlichen Bewusstseins mindestens dahingehend zergliedern, dass man zwischen so etwas wie ihrem intentionalen Gehalt und ihrer intentionalen Form differenziert. Auf diese Weise seziert beispielsweise schon Natorp, Mitbegründer der Marburger Schule des Neukantianismus, unser Erleben, indem er ganz ähnlich zwischen dessen »Inhalt«, wie sich auch Brentano ausdrückt, und seiner »Bewußtheit« 58 eine Differenz zieht. 59 In der zeitgenössischen englischsprachigen philosophy of mind ist es neben Searle etwa Tim Crane, der das Sachfeld des Bewusstseins ganz ähnlich nach »Content« und »Intentional Mode« 60 vermisst. 61 Und schließlich klassifiziert Michael Wilby Ansätze zur kollektiven Intentionalität entlang der, wie er sagt, »distinct features« unserer Intentionalität in solche, die die Kollektivität an deren »content« oder »mode« 62 binden. Was mit intentionalem Gehalt und intentionaler Form gemeint sein soll, will ich so schlank wie möglich definieren. Und ich möchte das in einem unverfänglichen Vokabular tun; diese terminologischen Fixierungen sollen nämlich jeglichen Anklang an irgendwelche der genannten oder andere Autoren vermeiden und uns so aus dem Fahrwasser ihrer jeweiligen Überlegungen heraushalten. Das erste Element bewusster Intentionen, deren Gehalt, ist dasjenige, was intendiert wird. Zu jedem Fall von intentionalem Bewusstsein gehört irgendetwas, zu dem sich das Bewusstsein verhält; es gibt keinen Fall von Bewusstsein, da man nicht irgendetwas bewusst ist. Dieses Was der Intentionalität des Menschen, das grammatikalisch im Sinne eines Genitivus objectivus zu jener tritt, nenne ich das ›Intendierte‹. Und jeder Fall von intentionalem Bewusstsein ist eben irgendein Verhalten Natorp, Paul: Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode, Bd. 1: Objekt und Methode der Psychologie, a. a. O., S. 24. 59 Vgl. Brentano, Franz: Psychologie vom empirischen Standpunkte, Bd. 1, a. a. O., S. 115. 60 Crane, Tim: Elements of Mind. An Introduction to the Philosophy of Mind, Oxford 2001, S. 32. 61 Vgl. Searle, John R.: Intentionality. An Essay in the Philosophy of Mind, a. a. O., Kap. 1; Mind, Language and Society. Philosophy in the Real World, a. a. O., S. 99 f.; Mind. A Brief Introduction, a. a. O., S. 166 f.; Making the Social World. The Structure of Human Civilization, a. a. O., S. 27 ff. 62 Wilby, Michael: Subject, Mode, and Content in »We-Intention«, in: Phenomenology and Mind 5 (2012), S. 94. 58

58 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Der Sachbereich des menschlichen Bewusstseins

dazu; das ist das zweite Element bewusster Intentionen, nämlich wie etwas intendiert wird. Es gibt keinen Fall von Bewusstsein, da man etwas nicht auf bestimmte Weise bewusst ist. Dieses Wie menschlicher Intentionalität, deren Form, spreche ich als das ›Intendieren‹ an. 63 Es sei sogleich hinzugefügt und unterstrichen, dass die Diktion des Intendierens und des Intendierten in sensu latiore zu nehmen ist. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch heißt intendieren eher nur so viel wie beabsichtigen; das Intendierte wäre demnach das Beabsichtigte. Doch sind hier nicht bloß Absichten zu handeln gemeint, mit denen sich einer trägt. Die Termini bezeichnen stattdessen jegliche Gerichtetheit des Bewusstseins auf etwas, sei das nun eine volitive oder aber kognitive, affektive oder sonst eine; und es mag sich dabei um eine Überzeugung oder Befürchtung, eine Vorstellung, Wahrnehmung, Erinnerung u. dgl. m. handeln. Entsprechend muss dasjenige, worauf das menschliche Bewusstsein gerichtet ist, keine Handlung, sondern kann alles Mögliche sein, etwas, wovon jemand überzeugt ist oder was er befürchtet, was er vorstellt, wahrnimmt, erinnert u. v. a. m. Mithin soll die bereitgestellte Terminologie die gesamte Intentionalität des Menschen abdecken, wie das auch Natorp, Searle, Crane und Wilby mit ihren begrifflichen Unterscheidungen im Sinn haben. 64 Unausgemacht kann man dabei allerdings lassen, ob das Intendieren in vielerlei Abarten auftritt. Wie Crane im Anschluss an Searle glaubt, zeigt Bewusstsein immer irgendein bestimmtes Wie: wie jemand intendiert, was er intendiert. Es könne sich zu derselben Sache mit unterschiedlichen intentionalen Modi verhalten, qua Überzeugung, Absicht oder Befürchtung, qua Vorstellen, Wahrnehmen, Erinnern usw. 65 Oder ob mit Brentano eine dieser Arten als Grundart Der frühe, mehr noch der Phänomenologie seines Lehrers Husserl nahestehende Heidegger der 1920er Jahre spricht hierbei ähnlich von »Intentum« und »Intentio«. (Heidegger, Martin: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (1925), GA 20, Frankfurt a. M. 31994, S. 60) Siehe auch Heidegger, Martin: Die Grundprobleme der Phänomenologie (1927), GA 24, Frankfurt a. M. 21989, S. 81 f. 64 Heidegger wendet sich mit seiner Unterscheidung gegen die von ›noema‹ und ›noesis‹ bei Husserl. Jene bleibe nämlich einseitig, weil der Sphäre »theoretischen Erkennens« verhaftet; das »praktische Bewußtsein« soll von ihnen her lediglich »analogisierend behandelt« werden können. (Heidegger, Martin: Einführung in die phänomenologische Forschung (1923/24), GA 17, Frankfurt a. M. 1994, S. 82 f.) Diese Kritik findet sich bereits in Heidegger, Martin: Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem (1919), in: Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, Frankfurt a. M. 1999, S. 84 ff. 65 Crane zählt beispielshalber auf »loving or hating«, »contemplating/thinking«, 63

59 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Das intentionalistische Paradigma

gelten muss, die in allen anderen mit eingeschlossen ist. Bewusstsein sei überhaupt nur intentional verfasst, weil es ein Akt des Vorstellens ist bzw. einen solchen zur Grundlage hat; Überzeugungen, Absichten und Befürchtungen, Wahrnehmungen, Erinnerungen etc. seien bloß verschiedene Variationen der einen Funktion des Vorstellens. 66 Oder aber ob, wie Natorp annimmt, alle derartigen Unterschiede solche des Intendierten sind; Bewusstsein verhalte sich stets auf dieselbe Weise zu einem andersartigen Was, namentlich zu Überzeugungen, Absichten oder Befürchtungen, Vorstellungen, Wahrnehmungen, Erinnerungen usf. 67 Damit soll nicht in Abrede gestellt sein, dass über solch eine abstrakte Betrachtung hinaus, die allein mithilfe der begrifflichen Differenz von Inhalt und Form angestellt wird, nicht noch etliches mehr zum intentionalen Aufbau unseres Bewusstseins zu sagen wäre. Die Verständigung, welche man anhand dieser allenthalben anwendbaren Reflexionsbegriffe über das jeweilige Thema zu gewinnen vermag, dringt gewiss nicht einmal zu dessen Eigentlichem vor. Lässt sie doch außer Acht, was den fraglichen Inhalt und die fragliche Form darüber hinaus im Konkreten auszeichnet, dass sie wie Unzähliges anderes auch Inhalt einer Form und Form eines Inhalts sind. 68 Und trotzdem. So äußerlich diese Herangehensweise erscheinen mag, sie ist keineswegs unangemessen. Und sie reicht noch dazu für meine Zwecke hin. Denn worauf es mir ankommt, ist lediglich, anhand der soeben auseinandergelegten Bausteine das intentionalistische Paradigma in der jüngeren und älteren Geschichte des ontologischen Nachdenkens über Soziales nachzuweisen. Sie bilden die Gesichtspunkte, auf die man hinblicken und unter denen man die Schriften verschiedener Autoren daraufhin abklopfen kann, wie sie »memory«, »imagination«, »belief«, »hope«, »[d]esire, thought, intention, perception, love, fear, regret, pity«. (Crane, Tim: Elements of Mind. An Introduction to the Philosophy of Mind, a. a. O., S. 31 f.) 66 »Dieses Vorstellen bildet die Grundlage des Urtheilens nicht bloss, sondern ebenso des Begehrens, sowie jedes anderen psychischen Actes. Nichts kann beurtheilt, nichts kann aber auch begehrt, nichts kann gehofft oder gefürchtet werden, wenn es nicht vorgestellt wird.« (Brentano, Franz: Psychologie vom empirischen Standpunkte, Bd. 1, a. a. O., S. 104) 67 »Gewiß ist als zweierlei durch Abstraktion auseinanderzuhalten: das Dasein des Inhalts und sein Verhalten zum Ich. […] Die Spezifikation gerade liegt einzig und allein im Inhalt.« (Natorp, Paul: Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode, Bd. 1: Objekt und Methode der Psychologie, a. a. O., S. 43) 68 So Utz, Konrad: Bewusstsein. Eine philosophische Theorie, Paderborn 2015, S. 30.

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Der Sachbereich des menschlichen Bewusstseins

das Soziale verbegrifflichen. Es ergibt sich dann, dass keiner von ihnen die bewusstseinsmäßige Intentionalität des Menschen samt und sonders gesellschaftlich durchdrungen sein lässt. Keiner der im Folgenden angeführten Autoren meint, dass deren Was oder Wie in jeder seiner Instanziierungen das Merkmal des Sozialen zukommt. Und mehr noch. Ich nehme beide Momente zusammen und behandle sie in einem Aufwasch. Denn es wird sich ferner herausstellen, dass der Intentionalismus sich unterschiedslos in ebendiese beiden Elemente der intentionalen Architektur des menschlichen Bewusstseins zusammennimmt. Es macht letzten Endes keinen Unterschied, ob das Soziale an den Richtungsgehalt unserer geistigen Zustände, das Intendierte, oder an deren Richtungsform, das Intendieren, gebunden wird, solang es sich dabei nur um einen bestimmten Gehalt bzw. eine bestimmte Form neben anderen handelt. Wenn nämlich das Soziale nur an einen bestimmten Gehalt bzw. eine bestimmte Form gebunden wird, sind alle anderen Instanziierungen von Bewusstsein und Intentionalität, die es daneben auch noch gibt, kein Bestandteil der sozialen Welt. Die fraglichen Autoren sind damit auf eine individualistische Auffassung desjenigen festgelegt, der da irgendwelche bewussten Intentionen hat. Das ist der Generalnenner aller zur Verhandlung anstehenden Autoren, dass sie mit ihren Ansätzen Stellung beziehen zugunsten eines, wie ich sagen werde, sozialontologischen Individualismus.

61 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

III. Der sozialontologische Individualismus

1.

Das »Bewußtsein, mit den andern eine Einheit zu bilden« (Simmel)

Ich gehe in chronologischer Reihenfolge vor. Den Reigen eröffnet Simmel. In seiner großen Soziologie aus dem Jahre 1908 – von ihm selber ihres Umfangs halber ›groß‹ genannt, von der Nachwelt wegen ihrer wissenschaftlichen Bedeutung – streut Simmel in die, wie der Untertitel ankündigt, Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung mehrere Exkurse ein, von denen einige eine gewisse Berühmtheit erlangt haben. Einer davon und der erste, der sich gleich im Eröffnungskapitel »Das Problem der Soziologie« findet, steht unter der Überschrift »Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?« Er ist von eigentlichem Interesse, enthält er doch Simmels ontologische These über das Soziale. Simmels Darstellung desjenigen Problems, vor das er die zu seiner Zeit noch junge Disziplin der Soziologie gestellt sieht, gehört in die Reihe der Entwürfe einer neuen Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft, die im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert damit ringen, jener einen unverwechselbaren Forschungsgegenstand anzuweisen und dessen Erforschung auf die sicheren Füße methodischen Vorgehens zu stellen. Das erwähnte erste Kapitel der Soziologie skizziert diesen Gegenstand mitsamt der dazugehörigen Methode. Und der besagte Exkurs trägt dazu bei, indem er das bis dahin Ausgeführte vertieft. Die nachfolgenden Kapitel des Werkes bauen sodann darauf auf, indem sie die Fruchtbarkeit der vorausgeschickten Grundlagenreflexion anhand von Einzeluntersuchungen veranschaulichen. Gemäß Simmel beschäftigen sich die bereits bestehenden Sozialwissenschaften jeweils mit einem besonderen Bereich des gesellschaftlichen Lebens der Menschen. Da jegliche Wissenschaft auf Abstraktion beruht, insofern sie die unverkürzte Realität der Gesellschaft 62 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Das »Bewußtsein, mit den andern eine Einheit zu bilden« (Simmel)

unter dem Gesichtspunkt eines je leitenden Begriffs auffasst und auf diese Weise ihr dementsprechendes Objekt gewinnt, haben die »Nationalökonomie wie die Systematik der kirchlichen Organisationen, Geschichte des Schulwesens wie der Sitten, Politik wie die Theorien des sexuellen Lebens usw. […] das Gebiet der sozialen Erscheinungen unter sich aufgeteilt« 69. Folglich wird auch die Soziologie nur einen Stand als eigene Wissenschaft gewinnen, wenn sie sich gleichfalls einer Spezialisierung unterwirft, obzwar auf andere Weise als die restlichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen. Sie muss eine neuartige Linie durch die gesellschaftliche Wirklichkeit ziehen, so dass gewisse, bisher unter anderweitigen Leitbegriffen zur Auffassung gebrachte Phänomene als zusammengehörig und damit als Objekt einer Wissenschaftsdisziplin in Augenschein treten. »Dieser Gesichtspunkt nun ergibt sich«, so Simmel, »vermittels einer Analyse des Gesellschaftsbegriffes, die man als Unterscheidung zwischen Form und Inhalt der Gesellschaft bezeichnen kann« 70. Anhand der begrifflichen Dichotomie von Form und Materie sowie ihrer Anwendung auf den Komplex menschlicher Gesellschaft gewinnt Simmels Auffassung von der Problemstellung der Soziologie ihre Kontur. »Ich gehe dabei von der weitesten […] Vorstellung der Gesellschaft aus: daß sie da existiert, wo mehrere Individuen in Wechselwirkung treten.« In ihrem Mit-, Für- und Gegeneinanderhandeln üben die Menschen Wirkungen aufeinander aus, und sie erleiden Wirkungen voneinander. Überall, wo solche wechselseitigen Einwirkungen statthaben, bilden die daran Beteiligten eine Einheit, welche laut Simmel als ›Gesellschaft‹ anzusprechen ist. 71 Und diese Wechselverhältnisse der Menschen lassen sich in einen formalen und einen materialen Aspekt zerlegen. Der »Inhalt, gleichsam die Materie der Vergesellschaftung«, soll all das sein, was »in den Individuen, den unmittelbar konkreten Orten aller historischen Wirklichkeit, als Trieb, Interesse, Zweck, Neigung, psychische Zuständlichkeit und Bewegung derart vorhanden ist, daß daraus oder daran die Wirkung auf andre und das Empfangen ihrer Wirkung entsteht« 72. Die dazu komplementäre Form der Vergesellschaftung, auf welche SimSimmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1908, S. 9. 70 Ebd., S. 5. 71 »Denn Einheit im empirischen Sinne ist nichts anderes als Wechselwirkung von Elementen« (ebd.). 72 Ebd., S. 6. 69

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Der sozialontologische Individualismus

mel abstellt, sei »die, in unzähligen verschiedenen Arten sich verwirklichende Form, in der die Individuen auf Grund jener […] Interessen zu einer Einheit zusammenwachsen, und innerhalb deren diese Interessen sich verwirklichen.« Nicht, dass die vergesellschaftende Form jemals ohne einen durch sie bestimmten und so vergesellschafteten Inhalt oder dieser ohne jene vorkommt, will Simmel sagen. Aber die Form lässt sich doch vom Inhalt gesondert betrachten, die allgemeinen Weisen sozialer Wechselwirkung wie Hierarchie und Kooperation, Konkurrenz und Freundschaft, Partei und Klasse, Armut und Beruf sowie viele weitere mehr. Sie lassen sich unabhängig davon einer Betrachtung unterziehen, warum die Individuen in ihnen stehen und wie sie diese jeweils verbesondern. 73 Und es kann durchaus sein, dass dieselbe Vergesellschaftungsform mit alternierenden Inhalten auftritt, wie umgekehrt derselbe Vergesellschaftungsgehalt sich in alternierende Formen kleiden mag. Simmel vergleicht das mit der Geometrie, wo sich »die gleichen geometrischen Formen an den verschiedensten Materien finden und die gleiche Materie sich in den verschiedensten Raumformen darstellt« 74. Worauf Simmel hinauswill, ist, dass sich die Arbeitsteilung unter den schon vorhandenen Sozialwissenschaften auf die Unterschiedlichkeit der Inhalte stützt. Und: dass die Soziologie als eine eigene und neue Sozialwissenschaft sich demgegenüber auf die Form zu konzentrieren hat. Während das Studium des Inhalts gesellschaftlicher Wechselbeziehungen anderen Disziplinen überlassen bleibt, soll der Soziologie vorbehalten sein, die Form solcher Wechselbeziehungen, die »reine Tatsache der Vergesellschaftung« sowie »ihre mannigfaltigen Gestaltungen« 75, zu untersuchen: »Soll es also eine Wissenschaft geben, deren Gegenstand die Gesellschaft und nichts andres ist, so kann sie nur diese Wechselwirkungen, diese Arten und Formen der Vergesellschaftung untersuchen wollen. Denn alles andre, was sich sonst noch innerhalb der ›Gesellschaft‹ findet, durch sie und in

Vgl. ebd. Ebd., S. 8. Siehe auch S. 6, 12, 15, 24. Nicht zu Unrecht hat man daher festgestellt, dass Simmel die Soziologie, welche er zu den exakten Wissenschaften rechnet, als eine »géométrie du monde social« konzipiert. (Aron, Raymond: La sociologie allemande contemporaine, Paris 1935, S. 6) 75 Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, a. a. O., S. 9. 73 74

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Das »Bewußtsein, mit den andern eine Einheit zu bilden« (Simmel)

ihrem Rahmen realisiert wird, ist nicht Gesellschaft selbst, sondern nur ein Inhalt, der sich diese Form oder den sich diese Form der Koexistenz anbildet« 76.

Ob der Begriff der Wechselwirkung, unter den Simmel die von ihm aus der Taufe gehobene formale Schule der Soziologie stellt (und der sich ebenso bei anderen Repräsentanten dieser Schule findet), tauglich ist, um sich des Sozialen qua talis zu vergewissern, werde ich in Kapitel IX.2 diskutieren. Soziales geht womöglich gar nicht in Gegenseitigkeit auf, darin also, dass Individuen aneinander orientiert sind und aufeinander einwirken. Und ich komme auf diesen Begriff auch noch in anderem Zusammenhang zu sprechen. Denn in Kapitel VIII.1 werde ich erörtern, ob man es beim Mit-, Für- und Gegeneinander der Menschen überhaupt mit einer Wechselwirkung zu tun hat. Das wird sich gleichfalls als zweifelhaft herausstellen, jedenfalls in einem bestimmten Verständnis von wirken. Hier gilt es dagegen nachzuverfolgen, wie Simmel seine bis dahin geleisteten Überlegungen weiter vorantreibt, indem er an die Philosophie Kants anknüpft. Das leistet der vorbezeichnete Exkurs. Sicher hat es nicht an Versuchen gefehlt, die Geburtsprobleme der Sozialwissenschaften mit den Bordmitteln der Kant’schen Philosophie anzugehen, zumindest wo sich das Bedürfnis nach einer philosophischen Begründung einstellte und die Annahmen der hegelianisierenden Soziologie eines Karl Marx nicht oder nicht mehr befriedigten. Ob diese Inanspruchnahme Kants als Mentor der modernen Sozialwissenschaften unterm Strich schlüssig ausfällt, ist hier nicht Ebd., S. 7. Simmel sieht die Soziologie dadurch dem zeitgenössischen Streit um die Erkenntnisabsicht der Sozialwissenschaften entwunden: »Auffindung zeitlos gültiger Gesetze« oder »Darstellung und […] Begreiflichmachen einmaliger, historisch-realer Verläufe« (S. 13). Die Notwendigkeit einer Entscheidung soll gar nicht bestehen, weil das eine ebenso sehr wie das andere möglich sei. Die menschliche Gesellschaft lasse sich »auf die Gesetzlichkeiten hin ansehen, die, rein in der sachlichen Struktur der Elemente gelegen, sich gegen ihre zeitlich-räumliche Verwirklichung gleichgültig verhalten«; das eben soll die Obliegenheit der Soziologie sein. »Andrerseits aber können jene Vergesellschaftungsformen ebenso«, und das falle ins Metier der restlichen Sozialwissenschaften, »auf ihr Vorkommen in einem Dort und Dann, auf ihre geschichtliche Entwicklung innerhalb bestimmter Gruppen hin angesehen werden.« Mit anderen Worten markiert für Simmel die Dichotomie von nomothetischen und idiographischen Wissenschaften (Wilhelm Windelband) bzw. generalisierender und individualisierender Begriffsbildung (Heinrich Rickert) gar nicht den Unterschied zwischen Natur- und Sozialwissenschaften, sondern eine Differenz, welche durch die Disziplinengruppe der letzteren hindurchgeht.

76

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zu bilanzieren. 77 Simmel immerhin rekurriert anders als Durkheim, der Anregungen aus Kants praktischer Philosophie aufnimmt, wie noch zu sehen sein wird, auf dessen theoretische Philosophie. Und er geht dabei um ein Beträchtliches konservativer mit dem Meister um als jener, weswegen die von Simmel begründete formale Soziologie mit größerem Recht noch ein soziologischer Kantianismus genannt zu werden dient. 78 Schon früh spricht sich Simmel für die von Kant hergeleitete erkenntnistheoretische Idee aus, wonach »wir fortwährend nach den Bedingungen forschen müssen«, wie es im Aufsatz Was ist uns Kant? von 1896 heißt, »die, in uns selbst gelegen, jedem Gebiete der Erfahrung seine allgemeinen Normen und Formen aufprägen, weil sie die Gesetze des Geistes selbst sind, der jenes Gebiet für sich erschafft, indem er es vorstellt« 79. Im Hintergrund steht eine der Ecksäulen der Kant’schen Transzendentalphilosophie, die Ansicht nämlich, wonach in der reinen Struktur menschlicher Subjektivität gewisse Vorstellungen ursprünglich beschlossen sind, die unserem empirischen Erkennen zugrunde liegen und die Ordnungsgesetze auch noch der erkannten Objekte ausmachen. Kant formuliert das 1781 in seiner Kritik der reinen Vernunft mit den Worten: »die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung« (KrV A 158). Diese Bedingungen, wozu u. a. die von Kant auf den Namen ›Kategorien‹ getauften Begriffe gehören, sind Formen der von unserem Intellekt ein übers andere Mal geleisteten Tätigkeit der Synthesis von Mannigfaltigem, welches uns in der Wahrnehmung gegeben ist. Jenes wird dadurch in einem einheitlichen Bewusstsein verbunden und als Ob-

Siehe dazu Weiß, Johannes: Ist eine ›Kantische‹ Begründung der Soziologie möglich?, in: Henrich, Dieter (Hg.): Kant oder Hegel? Über Formen der Begründung in der Philosophie, Stuttgart 1983, S. 531–546. 78 Andere Anwälte dieser soziologischen Strömung, welche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland dominant ist, greifen zu deren Rechtfertigung nicht mehr auf Kant zurück. Siehe etwa Vierkandt, Alfred: Gesellschaftslehre. Hauptprobleme der philosophischen Soziologie, Stuttgart 1923, S. 13 ff., der die formale Soziologie methodisch mit der Phänomenologie zu vereinen bestrebt ist, oder von Wiese, Leopold: Beziehungssoziologie, in: Vierkandt, Alfred (Hg.): Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931, S. 66–81, der stattdessen von ›Beziehungslehre‹ spricht und dieser eine Lehre sozialer Prozesse und Gebilde beifügt. 79 Simmel, Georg: Was ist uns Kant? (1896), in: Aufsätze und Abhandlungen 1894– 1900, GA 5, Frankfurt a. M. 1992, S. 150. 77

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jekt vorgestellt. Und die Kategorien dieser synthetischen Ordnungstätigkeit des Bewusstseins finden sich an den daraus hervorgehenden Gegenständen unserer Vorstellungen als Formen der Einheit des wahrgenommenen Mannigfaltigen wieder. Allerdings schätzt Simmel damals schon Kants Vernunftkritik als in ihrem Radius begrenzt ein. Denn so wahr und unaufgebbar diese auch sein soll, bleibe sie doch eine Philosophie lediglich für den Bereich der Natur und ihr Potenzial infolgedessen noch unausgeschöpft. »Auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften« soll ihr »noch eine unermeßliche Wirksamkeit bevor[stehen]«; auch »die historischen Erkenntnisse werden nicht einfach von der Tatsächlichkeit der Dinge abgelesen«, sondern seien »von der Auffassung nicht nur des Berichterstatters, sondern des Historikers selbst a priori abhängig«. 80 Diese Einschätzung bildet Jahre später das Rückgrat von Simmels Soziologie. Die Frage, mit der er sich im »Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?« auseinandersetzt, ist im Anhalt an Kant und »die fundamentale Frage seiner Philosophie: Wie ist Natur möglich?« 81 gestellt. Simmels Plan ist kein geringerer, als Kants kritische, aber vorgeblich auf die Natur restringierte Erkenntnistheorie in die Erfahrungsregion der sozialen Welt auszuziehen und um eine, wie er es nennt, »Erkenntnistheorie der Gesellschaft« 82 zu ergänzen. Ich sage ›vorgeblich‹, weil Kant selbst seine Transzendentalphilosophie keineswegs als derart beschränkt erachtet. Sein Begriff der (empirischen) Natur will kein enger sein, so dass ihm der der sozialen Welt entgegensteht; auf diese Weise interpretiert ihn Simmel. Sondern es handelt sich um einen weiten Begriff von (empirischer) Natur, der jenen der sozialen Welt mit einbegreifen will. Unter (empirischer) Natur versteht Kant nicht so etwas wie dasjenige, was vom Bewusstsein des Menschen und dessen Intentionalität unabhängig ist. Sie ist ihm vielmehr all das, was den Bedingungen möglicher Erfahrung unterliegt, mithin qua Wahrnehmung in Raum und Zeit anAuch das historische Erkennen kritisch zu wenden, indem Simmel »im Kantischen Sinne« fragt »Wie ist Geschichte möglich?«, ist der Anspruch, den Simmel im »Vorwort« zur zweiten Auflage seiner Studie zur Geschichtsphilosophie erhebt. (Simmel, Georg: Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie, Leipzig 21905, S. v) 81 Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, a. a. O., S. 27. 82 Ebd., S. 32. 80

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getroffen werden kann. 83 Und dazu zählt ihm geradeso der Mensch mit seinem inneren Gemüts- und äußeren Handlungsleben sowie die menschliche Gesellschaft. 84 In Wahrheit also ist es Simmels Interpretation der Kant’schen Transzendentalphilosophie, welche diese beschränkt und darüber Platz schafft für seine eigene, durch Kant inspirierte Grundlegung der formalen Soziologie. Und die elementare Parallele zwischen Kants Transzendentalphilosophie und seiner eigenen Grundlegung der formalen Soziologie sieht Simmel darin, dass es »Bedingungen« gebe, von denen man in der Vergangenheit keinerlei Notiz genommen habe, aber »durch die die Beziehungen, die wir allein als die gesellschaftlichen kennen, möglich werden – ungefähr wie bei Kant die Kategorien […], die die unmittelbaren Gegebenheiten zu ganz neuen Objekten formen, doch allein die gegebene Welt zu einer erkennbaren machen« 85. Das Bewusstsein der sozialen Realität soll, beim Laien ebenso wie beim Wissenschaftler, ganz so wie das der natürlichen Wirklichkeit ein Problem der Synthesis darstellen. Diese Synthesis soll hier geradeso wie dort einem eigenen Apriori unterstehen, welches durch den Soziologen bzw. Transzendentalphilosophen auszuheben und anzugeben sei. Auch der Soziologe liest, womit er da zu tun hat, nämlich die Formen des gesellschaftlichen Lebens, »nicht einfach von der Tatsächlichkeit der Dinge ab«. Die sozialen Phänomene unterstehen vielmehr »Bedingungen«, die, in ihm »selbst gelegen«, diesen allererst ihre »allgemeinen Normen und Formen aufprägen«. Für den Sozialwissenschaftler gilt wie für seinen naturwissenschaftlichen Kollegen, dass er »jenes Gebiet für sich erschafft, indem er es vorstellt«. Die Formen der Wechselwirkungen unter den Menschen sind ein Reflex der Formen ihres Bewusstseins dieser Wechselwirkungen. So wie die mannigfaltigen Elemente der Natur in ihren raumzeitlichen Verhältnissen von demjenigen, der sich ihnen zuwendet, durch begrifflich Genaugenommen hat Kant drei Begriffe von Natur. Unter Natur überhaupt versteht er die Existenz von Dingen unter Gesetzen (vgl. KrV B 165; Prol IV 294; KpV V 43). Darauf aufbauend unterscheidet er zwischen intelligibler und empirischer Natur; die erstere betrifft solche Dinge, die nur dem Denken zugänglich sind, die letztere solche, die qua Wahrnehmung gegeben sein können (vgl. KrV B 163, 165, 263; Prol IV 295; KpV V 43). Und es ist die empirische Natur, auf die Simmel abhebt, wenn er Kant betreffend kurz von der Natur spricht. 84 Siehe etwa KrV B 37; KpV V 67. 85 Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, a. a. O., S. 35. 83

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geregelte Verbindung konstituiert werden, sollen auch die der Gesellschaft, nämlich die Individuen, nach Maßgabe dementsprechender Begriffe verknüpft und in ihren sozialen Beziehungen begründet sein. Simmel spricht diesbezüglich von den »gesellschaftlichen Kategorien« 86. Und diese Kategorien sind gleichermaßen »Gesetze des Geistes«. Die soziale Wirklichkeit ist von demjenigen, der seine Aufmerksamkeit darauf lenkt, nicht minder »a priori abhängig« als die natürliche Realität. Die Formen des Bewusstseins menschlicher Wechselverhältnisse und damit die Formen dieser Wechselverhältnisse selbst gehören mit zur reinen Struktur unserer Subjektivität: Sie sollen gegenüber den variierenden Inhalten konstant und zu allen Zeiten sowie in allen Kulturen dieselben, wenn auch nicht unausbleiblich als solche durchschaut oder gar zu begrifflicher Klarheit geläutert sein. Simmel spricht von ihnen daher als von »apriorisch wirkenden Bedingungen« 87, »reinen Formen der Vergesellschaftung« 88 oder dem »soziale[n] Apriori« 89. Es bestehen jedoch auch signifikante Unterschiede. Abgesehen davon, dass die Sozialkategorien »nicht wie die Kantischen Kategorien«, sprich die der Natur, »mit einem Worte benennbar sind« 90, entsteht das Bewusstsein von der Gesellschaft nicht nur und nicht erst außerhalb, sondern auch und bereits inmitten einer Gesellschaft. Die »entscheidende Differenz der Einheit einer Gesellschaft gegen die Natureinheit« ist nach Simmel die, dass »die letztere […] ausschließlich in dem betrachtenden Subjekt zustande kommt, […] wogegen die gesellschaftliche Einheit von ihren Elementen, da sie bewußt und synthetisch-aktiv sind, ohne weiteres realisiert wird und keines Betrachters bedarf« 91. Die am sozialen Geschehen beteiligten Individuen selbst erbringen die dafür nötigen apriorischen Synthesen. Die Formen menschlicher Wechselbeziehungen entspringen den Formen des Bewusstseins ebender Menschen, die in diesen Wechselbeziehungen stehen. Sie gehen aus einer Leistung der Mitwirkenden hervor; ein außenstehender, zumal wissenschaftlicher, Beobachter ist dazu nicht vonnöten. Wo dieser doch auftritt, kommt er immer zu spät. Er findet 86 87 88 89 90 91

Ebd., S. 36. Siehe auch S. 32, 33, 40, 44, 45. Ebd., S. 32. Siehe auch S. 28, 35. Ebd., S. 9. Siehe auch S. 13. Ebd., S. 35. Siehe auch S. 34, 38, 43, 44. Ebd., S. 32. Siehe auch S. 45. Ebd., S. 28.

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Der sozialontologische Individualismus

ein durch die betreffenden Individuen bereits kategorial geformtes Sozialgeschehen vor. Allein, das Bewusstsein, welches er sich davon zu bilden vermag, untersteht grundsätzlich genauso Kategorien: Es sind dieselben geistigen Formkräfte, die Soziales für den Teilnehmer wie den Sozialwissenschaftler möglich machen. Subjekt und Objekt fallen hier insofern zusammen. Wie Simmel sich ausdrückt, ist das »soziologische Apriori« 92 – die »soziologischen Formen« 93, die »soziologischen Kategorien« 94 oder die »soziologischen Aprioritäten« 95 – gar kein anderes als das des Nichtfachmanns. 96 Allerdings gehört es doch wesentlich mit zur sozialwissenschaftlichen Erkenntnis hinzu, zuweilen über das Selbstverständnis der Probanden hinauszugehen und Zusammenhänge aufzudecken, welche diesen verborgen bleiben. Wie Simmel einbekennt, sei dies sogar das »tiefste, psychologisch-erkenntnistheoretische […] Problem der Vergesellschaftung«, dass nämlich »dieses Für-Sich des Andern uns nun dennoch nicht verhindert, ihn zu unsrer Vorstellung zu machen, daß etwas, das durchaus nicht in unser Vorstellen aufzulösen ist, dennoch zum Inhalt, also zum Produkt dieses Vorstellens wird« 97. So mag es durchaus passieren, dass die betrachteten Objekte, die ihrerseits Subjekte sind, andere Formen in Anschlag bringen, um sich in ihren Wechselwirkungen zur Gesellschaft zu verbinden, als ihr Betrachter bei seinem Mit- und Nachvollzug tut. Die Anwendung der Sozialkategorien kennt mithin keine vergleichbar zwingende Eindeutigkeit wie die der Naturkategorien. 98 Was z. B. die einen als Familienbeziehung ansehen, erachtet der Andere als ein bandenmäßiges Verhältnis, wen der eine als Fremden ansieht, halten die Anderen für einen Feind. Insofern können Subjekt und Objekt hier zugleich doch Ebd., S. 40. Ebd., S. 12. Siehe auch S. 15, 23. 94 Ebd., S. 23. 95 Ebd., S. 31. 96 Man hat darum (fälschlich) kritisiert, dass Simmel nicht genügend zwischen sozialem und soziologischem Apriori unterscheide. Vgl. Jeng, Chih-Cheng: Ein Stiefkind oder ein Gründervater der modernen Soziologie? Wieviel Renaissance braucht Simmel noch?, in: Gephart, Werner (Hg.): Gründerväter. Soziologische Bilder, Opladen 1998, S. 93. 97 Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, a. a. O., S. 30. Siehe auch S. 29. 98 Vgl. Bubner, Rüdiger: Ist eine transzendentale Begründung der Gesellschaft möglich?, in: Henrich, Dieter (Hg.): Kant oder Hegel? Über Formen der Begründung in der Philosophie, Stuttgart 1983, S. 497 f. 92 93

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Das »Bewußtsein, mit den andern eine Einheit zu bilden« (Simmel)

auch auseinanderfallen. Dass sich darin eine Eigenheit des sozialen Sachbereichs anmeldet, von der der Sachbereich der Natur nichts weiß, und dass aus diesem Unterschied ein Unterschied des jeweiligen Erkennens herfließt, wird von Simmel nicht erwogen. 99 Es ließen sich darüber hinaus noch weitere gewichtige Divergenzen zwischen Simmels Entwurf einer formalen Soziologie und Kants Transzendentalphilosophie belegen, welche Simmel allerdings nicht selber vorbringt. Ich will ihnen nur kurz Erwähnung tun: dass Simmel anders als Kant die Kategorien, denen er nachspürt, nicht in Gestalt einer systematisch durchgegliederten Tafel exponiert 100 und dass er für diese Kategorien keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt wie Kant für seine Tafel. 101 Ferner weist Simmel sie nicht durch eine, wie Kant das in der zweiten Auflage der Kritik von 1787 nennt, »metaphysische Deduction« (KrV B 159) als Begriffe a priori auf, die ihren Sitz in der Verfassung des menschlichen Intellekts haben, und er weist sie nicht durch eine »transscendentale Deduction« (KrV B 117) in ihrer Geltung a priori aus. Stattdessen müsse man in Ansehung der Methode das »Odium auf sich nehmen, von intuitivem Verfahren zu sprechen«, wie Simmel im Vorbeigehen hinwirft, »so weit es auch von der spekulativ-metaphysischen Intuition abstehe« 102. Gemeint ist »eine besondere Einstellung des Blickes, mit der jene Scheidung« von Form und Materie der Vergesellschaftung und damit die Gewinnung der letzteren in Abhebung von der ersteren »sich vollzieht« und zu der, »bis sie später einmal in begrifflich ausdrückbare und sicher führende Methoden gefaßt sein wird, nur durch Vorführung von Beispielen angeleitet werden kann«. Worauf es mir dementgegen ankommt, ist, Simmels ontologischen Begriff des Sozialen herauszupräparieren, der darin vorhanden ist. Das soll unter demjenigen Gesichtspunkt geschehen, den ich in Kapitel II.2 ausgegeben habe, nämlich bzgl. der intentionalen Struktur des Bewusstseins. Tatsächlich haben wir gesehen, dass Simmel Mit der Möglichkeit solch eines Auseinandergehens von sozialer und soziologischer Form befasst sich Junge, Matthias: Zur Rekonstruktion von Simmels soziologischen Aprioris als Interpretationskonstrukten, in: Simmel Newsletter 7 (1997), S. 42– 48; Ambivalente Gesellschaftlichkeit. Die Modernisierung der Vergesellschaftung und die Ordnungen der Ambivalenzbewältigung, Opladen 2000, S. 69 ff. 100 Vgl. KrV B 106. 101 Vgl. KrV B 89, 92, 96, 105, 106 f. 102 Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, a. a. O., S. 15. 99

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Sozialität an die Einwirkungen knüpft, die Menschen mit-, für- und gegeneinander handelnd aufeinander ausüben und voneinander empfangen. Ausschlaggebend an diesen Wechselwirkungen ist, und das soll sie von all denen abheben, welche sich in der Natur ereignen, dass sie bewusst vollzogen werden. Das Tun und Lassen von Ego und Alter sei nur dann und nur in dem Maße ein soziales, wenn und als sie dabei wechselweise aneinander ausgerichtet sind. Simmel sagt es selbst: Was »ich hier meine und was als der generelle Begriff der Vergesellschaftung auf seine Bedingungen geprüft werden soll«, ist »etwas Erkenntnisartiges: das Bewußtsein, sich zu vergesellschaften oder vergesellschaftet zu sein« 103. Der Ausdruck vom »Bewußtsein, sich zu vergesellschaften oder vergesellschaftet zu sein«, enthält freilich eine Unschärfe. Dreht es sich bloß darum, auf einen Zustand aufzumerken, in dem wir uns ohnehin befinden? Oder sind wir in diesem Zustand allein dank eines entsprechenden Aufmerkens? Im einen Fall wären wir je schon soziale Wesen, wo wir eine Rückbesinnung darauf anstrengen, so dass sich die Sozialontologie den Zugang zu dem von ihr Erfragten nicht alternativlos über die Intentionen der Betroffenen erarbeiten könnte. Im anderen Fall schüfen wir durch die Aktivität des Bewusstseins überhaupt erst die soziale Wirklichkeit, welche ohne jene Aktivität ausbliebe, so dass die Ontologie des Sozialen das von ihr Erfragte ohne Alternative in den Intentionen der Betroffenen fände. Doch Simmel lässt keinen Zweifel aufkommen: »das Bewußtsein, mit den andern eine Einheit zu bilden«, bemerkt er, »ist hier tatsächlich die ganze zur Frage stehende Einheit« 104. Simmels »Ontologie des gesellschaftlichen Seins« 105, wie er sich selber ausdrückt, entspricht damit ganz dem, was ich als das intentionalistische Paradigma ausgegeben habe. Alle drei Kriterien, die dafür maßgeblich sind, finden sich hier erfüllt. Denn erstens stellt Simmel die Gesellschaft auf das intentionale Bewusstsein der Individuen. Er wendet die Reflexionsbegriffe Form und Materie, mit denen er von Kant herkommend arbeitet, auf nichts anderes als die bewusste IntenEbd., S. 32. Ebd., S. 29. »[…] jenes Bewußtsein der Vergesellschaftung ist unmittelbar deren Träger oder innere Bedeutung« (S. 32). Siehe bereits Simmel, Georg: Zur Methodik der Socialwissenschaft, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 20/2 (1896), S. 579. 105 Weiß, Johannes: Ist eine ›Kantische‹ Begründung der Soziologie möglich?, a. a. O., S. 533. 103 104

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tionalität der Menschen an. Die Form der Vergesellschaftung, welche er der Soziologie als ihren eigentümlichen Gegenstand reserviert, ist ihm die Form des Bewusstseins von den Wechselwirkungen unter Menschen. Und die Materie der Vergesellschaftung versteht er komplementär dazu als die Materie des Bewusstseins von solchen Wechselwirkungen. Zweitens stellt Simmel die Gesellschaft auf die intentionale Form statt auf den intentionalen Gehalt des Bewusstseins der Individuen. Die sozialen Kategorien, welche er aushebt und angibt, sind verschiedene Weisen des Intendierens; sie machen das Wie des Bewusstseins aus. Das meint nicht, Simmel streicht es selbst heraus, »das abstrakte Bewußtsein des Einheitsbegriffes« der Gesellschaft. Wie nach Kant das alltägliche Bewusstsein etwa konkrete kausale Vorgänge, nicht aber den Begriff der Kausalität in seiner Reinheit vor sich hat, was erst die transzendentale Reflexion nachträglich vollbringt, so auch die »unzähligen singulären Beziehungen […] dem andern gegenüber« 106, in denen die Einheit einer Gesellschaft nur unabgehoben mit da ist. Aber das Soziale ist Simmel zufolge doch eine Sache des Verhaltens unseres Bewusstseins zu etwas, dessen also, wie etwas intendiert wird. Noch dazu ist die Gesellschaft drittens eine Sache lediglich einiger intentionaler Formen des Bewusstseins im Gegensatz zu anderen. Konstituieren die Individuen doch nur vermittels mancher apriorischer Begriffe soziale, vermittels anderer jedoch natürliche Phänomene. Wo die Erfahrung durch die Naturkategorien geformt ist, wie sie Simmel bei Kant vorzufinden und als abgemacht voraussetzen zu können glaubt, da besitzt sie ebenso wie ihr Objekt keinen sozialen Anstrich. Unser Geist synthetisiert dann ein wahrgenommenes Mannigfaltiges gemäß gewisser kategorialer Ordnungsgesetze zur Einheit von etwas Natürlichem. Diejenigen geistigen Gesetze kommen dabei aber nicht zur Anwendung, welche wir anwenden, wo wir ein Mannigfaltiges der Wahrnehmung durch Synthesis stattdessen zur kategorialen Ordnung von etwas Sozialem vereinheitlichen. Und so auch umgekehrt. Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, a. a. O., S. 29. »Das Bewußtsein, Gesellschaft zu bilden, ist zwar nicht in abstracto dem Einzelnen gegenwärtig, aber immerhin weiß jeder den andern als mit ihm verbunden, so sehr dieses Wissen um den andern als den Vergesellschafteten, dieses Erkennen des ganzen Komplexes als einer Gesellschaft – so sehr dieses Wissen und Erkennen sich nur an einzelnen, konkreten Inhalten zu vollziehen pflegt.« (S. 31)

106

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2.

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Ideengeschichtlich hat sich die Vorstellung, welche Simmels Grundsteinlegung für eine eigenständige soziologische Wissenschaft beherrscht, durchgesetzt, nämlich gesellschaftliche Phänomene auf das intentionale Bewusstsein der Individuen zu gründen. Sie wirkt bis in die momentane sozialontologische Diskussion hinein. Auch wenn die Soziologie ihren formalen Zuschnitt trotz der Weiterentwicklung bei Vierkandt und von Wiese bis zum Ende der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bereits wieder aufgegeben hat, ist Simmel zum Wegbereiter einer Gedankenlinie geworden, auf die nach ihm, ob mit Wissen um seine Vorarbeit oder ohne, die meisten eingeschwenkt sind. Mit ihm ist das Soziale in die Bahn einer intentionalistischen Analyse geraten. Als Nächster sei in dieser Reihe Weber genannt. Das Forschungsprogramm, auf welches er die Erkenntnisbemühungen der empirischen Soziologie verpflichtet wissen möchte, hebt damit an, die geistige Dimension zu erläutern, die das Handeln der Menschen im Gegensatz zu ihrem bloßen Verhalten aufweist. Die Fundamentalkategorie der verstehenden Soziologie stellt der Begriff des Sinns dar. Dieser markiert das von jener zu erforschende Gebiet. »Soziologie« nämlich, so heißt es in § 1 der Soziologischen Grundbegriffe, ist diejenige »Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will« 107. Und Weber definiert: »›Handeln‹ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. [Herv. d. Verf.]« Der Sinn eines Verhaltens wird von Weber in die diesbezügliche Sinnsetzung des Sichverhaltenden gelegt. Dieses erweitert sich dadurch zum Handeln, dass jener ihm eine gewisse Richtung steckt, wobei nicht schon ein Bezug auf andere Menschen vorliegen muss. Hier beginnt die Domäne des Verstehens, und daran hängt auch das methodische Problem der verstehenden Soziologie. Sinn ist der für »die Handelnden« selber bestimmende Faktor ihres jeweiligen Tuns und Lassens. Sie selbst stellen ihr Tun und Lassen unter eine BedeuWeber, Max: Soziologische Grundbegriffe (1921), in: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 51980, S. 1.

107

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tung – dass sie damit beispielshalber Zwecke verfolgen oder Werten entsprechen, dass sich darin Traditionen fortschreiben oder Affekte Ausdruck verschaffen. Und den vom Akteur beigemessenen geistigen Wasgehalt hat der Soziologe deutend zu verstehen und daraus das respektive Handeln in seinem Ablauf und seinen Auswirkungen ursächlich zu erklären. Dass Weber den Sinn einer Handlung als einen »subjektiven« anspricht, bekundet, dass es dem Soziologen nicht um Wahrheit, sondern um Meinung zu tun sein soll. Synonym ist in Webers begrifflichem Apparat auch vom »gemeinten Sinn« und einige Male sogar mit verstärkender Doppelung vom »subjektiv gemeinten Sinn« 108 die Rede. Und nicht nur das, Weber sagt es gleich zu Anfang seiner methodologischen Ausführungen ganz unverblümt: »Nicht etwa irgendein objektiv ›richtiger‹ oder ein metaphysisch ergründeter ›wahrer‹ Sinn. Darin liegt der Unterschied der empirischen Wissenschaften vom Handeln: der Soziologie und der Geschichte, gegenüber allen dogmatischen: Jurisprudenz, Logik, Ethik, Ästhetik, welche an ihren Objekten den ›richtigen‹, ›gültigen‹, Sinn erforschen wollen.« 109

Der Unterschied, den Weber aufmacht, um daran ganze Wissenschaftsdisziplinen zu sortieren – die Disziplinen der »Soziologie« und »Geschichte« einerseits, die der »Jurisprudenz, Logik, Ethik, Ästhetik« andererseits –, ist keiner der Seins-, sondern der Betrachtungsweise des jeweiligen Phänomenbereichs. Die »empirischen« Wissenschaften, denen Weber eine Methodenlehre vorzustecken unternimmt, haben es nicht mit einer bestimmten Art von Sinn zu tun, demjenigen nämlich, der ein bloß subjektiver, lediglich gemeinter ist und dessen Gegenart, mit welchem sich die »dogmatischen« Wissenschaften beschäftigen, der »objektiv ›richtige‹«, »wahre«, »gültige« Sinn ist. Sondern sie sollen Sinn lediglich auf bestimmte Art betrachten, und zwar dergestalt, dass er als ein nur subjektiv gemeinter in den Blick tritt. Sie lassen außen vor, ob er »objektiv ›richtig‹«, »wahr«, »gültig« ist oder nicht. Schon gar nicht darf der wissenschaftliche Beobachter etwas hinzusetzen oder weglassen. Nicht darum soll es ihm gehen, was die Bedeutung einer Handlung sonst noch, d. h. über die Selbsteinschät-

108 109

Vgl., ebd., S. 2, 4, 349. Ebd., S. 1.

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zung des Probanden hinaus ist: nicht um Bezüge, die sich lediglich dem Soziologen auftun, oder Zusammenhänge, welche nur er herstellt. Genauso wenig darum, was die eigentliche, sprich in der Selbsteinschätzung des Probanden vernachlässigte Bedeutung der Handlung ist: nicht um Bezüge, die sich bloß dem Wissenschaftler anders gewichten, oder Zusammenhänge, welche er allein in den Mittelpunkt rückt. Der Soziologe soll ebenso wie der Historiker eine Sinngebung so stehen lassen, wie die Akteure sie mit dem Anspruch auf vermeinte Richtigkeit, Wahrheit, Gültigkeit hinstellen. 110 Das bedeutet jedoch nicht, dass derjenige Sinn, welchen ein Sichverhaltender seinem Verhalten beilegt, ihm jedes Mal und durchgängig in aller Klarheit vor Augen steht oder zu stehen braucht. Im Gegenteil vollzieht sich, wie Weber einräumt, das menschliche Tun und Lassen durchaus mit einer gradmäßig unterschiedlichen und das meiste davon sogar nur mit einer geringen Aufmerksamkeit des betreffenden Akteurs: »Das reale Handeln verläuft in der großen Masse seiner Fälle in dumpfer Halbbewußtheit oder Unbewußtheit seines ›gemeinten Sinns‹.« 111 Das gilt nach Weber besonders für den großen Kreis des traditionalen und erst recht des affektualen Verhaltens der Menschen, dass seine für Andere verstehbare Bedeutung dem Akteur selber kaum vor dem Bewusstsein steht. »Aber das darf nicht hindern«, wendet Weber ein, »daß die Soziologie ihre Begriffe durch Klassifikation des möglichen ›gemeinten Sinns‹ bildet, also so, als ob das Handeln tatsächlich bewußt sinnorientiert verliefe. Den Abstand gegen die Realität hat sie jederzeit […] in Betracht zu ziehen und nach Maß und Art festzustellen.« 112 Verständnis verlangt demnach kein Einverständnis. Wenn der Soziologe nicht einverstanden ist mit dem als »objektiv ›richtig‹«, »wahr« oder »gültig« vermeinten Sinn einer Handlung, tue das seinem Verstehen des Handlungssinns keinen Abtrag. In Auseinandersetzung mit Weber behauptet Habermas demgegenüber, dass man ein Verhalten nur dann vollends versteht, wenn man alle der damit explizit und implizit erhobenen Geltungsansprüche u. a. auf Wahrheit, Richtigkeit und Aufrichtigkeit für akzeptabel hält. Vgl. Habermas, Jürgen: Was heißt Universalpragmatik? (1976), in: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1995, S. 389 f.; TkH I 143 f., 374 f. 111 Weber, Max: Soziologische Grundbegriffe (1921), a. a. O., S. 10. 112 Ebd., S. 11. Schon die »Grenze sinnhaften Handelns«, stellt Weber fest, »gegen ein bloß (wie wir hier sagen wollen:) reaktives, mit einem subjektiv gemeinten Sinn nicht verbundenes, Sichverhalten ist durchaus flüssig. Ein sehr bedeutender Teil alles soziologisch relevanten Sichverhaltens, insbesondere das rein traditionale Handeln (s. u.) steht auf der Grenze beider.« (S. 2) 110

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Die soziologische Betrachtung ist für Weber eine typenbildende. Sie hat die Sinngebung, welche das Verhalten der Beteiligten orientiert, an eigens dafür aufgestellten Begriffen zu messen, den sog. Idealtypen. Dazu gehören ganz elementar die Begriffe zweckhaften (im Rationalitätsfall zweckrationalen), werthaften (im Rationalitätsfall wertrationalen), traditionalen und affektualen Handelns. Diese Handlungstypen sollen sich zwar in der Wirklichkeit niemals unvermischt finden; schon gar nicht bräuchten die Probanden ihrerseits über diese Begriffe zu verfügen. Aber der Soziologe hat mithilfe dieser Idealtypen einen gegebenen Fall nicht nur zu klassifizieren, sondern auch und gerade dessen Abweichung davon herauszustellen, um so seine Einzigartigkeit als ein historisches Individuum zu fassen zu bekommen. 113 Dabei zeige die Selbsteinschätzung der Probanden einen unterschiedlichen Grad an Verständlichkeit. Bei zweck- und werthaftem Handeln soll dieser am größten sein, hin zum traditionalen und affektualen Handeln nehme er ab. Und das soll darum so sein, weil sich die letztgenannten Arten des Verhaltens in »dumpfer Halbbewußtheit« und an der Grenze zur »Unbewußtheit« vollziehen. Die erstgenannten hingegen, insbesondere im Falle einer rationalen Durchformung, verlaufen »tatsächlich bewußt sinnorientiert«. 114 Es besteht demnach für Weber eine Korrelation zwischen der Sinnhaftigkeit des Verhaltens eines Menschen und dessen Verstehbarkeit für Andere. Und zwar soll das Ausmaß der Sinnhaftigkeit eines Verhaltens, mit dem dasjenige seiner Verstehbarkeit Schritt hält, daran hängen, wie bewusst, halbbewusst oder nahezu unbewusst der betreffende Akteur ihm eine Bedeutung zumisst. Sinnsetzung gilt in der Methodik der verstehenden Soziologie als eine intentionale

Das Konzept des historischen Individuums, das auf Rickert zurückgeht, wird erläutert in Weber, Max: Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 19/1 (1904), S. 22–87 sowie in dem zeitgleich entstandenen ersten Teil der Abhandlung Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/05), in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie 1, Tübingen 1920, S. 30 ff. Zum Gebrauch von Idealtypen siehe Rossi, Pietro: Max Weber und die Methodologie der Geschichts- und Sozialwissenschaften, in: Kock, Jürgen (Hg.): Max Weber, der Historiker, Göttingen 1986, S. 28–50. 114 »Der Grund der Flüssigkeit liegt in diesen wie andren Fällen darin, daß die Orientierung an fremdem Verhalten und der Sinn des eigenen Handelns ja keineswegs immer eindeutig feststellbar oder auch nur bewußt und noch seltener: vollständig bewußt ist.« (Weber, Max: Soziologische Grundbegriffe (1921), a. a. O., S. 12) 113

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Funktion des menschlichen Bewusstseins. Je bewusster diese geschieht, desto sinnvoller – oder, vielleicht besser, sinnerfüllter – ist das betreffende Handeln und, als Konsequenz daraus, desto verständlicher. Mag der Soziologe sie auch erst hinterher abfragen, ist sie doch vor und während dem Handlungsvollzug wirksam, sofern wir es nur nicht mit einem bloßen Verhalten zu tun haben. Mithin ist Sinn nach Weber das, was der Proband selber im Sinn hat und vorher, währenddessen oder nachher introspektiv zu explizieren vermag: dasjenige, was dieser mehr oder minder bewusst intendiert. 115 Im Anschluss daran führt Weber in § 1 den Begriff des Sozialen ein. Dadurch bestimmt er dasjenige Handeln, welches den Gegenstandsbereich der Soziologie bildet. Soziales ist danach überhaupt nur dort zu finden, wo Menschen sich äußerlich oder innerlich verhalten und in dieses Verhalten, ein Tun oder ein Lassen, irgendeinen verstehbaren, geistigen Gehalt hineinlegen: »›Soziales‹ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist« 116. Das Verhalten einer Person gilt dem Soziologen genau dann als ein soziales, wenn es sich durch das vergangene, gegenwärtige oder künftig zu erwartende Verhalten mindestens eines anderen oder aber vieler anderer Menschen bestimmt. Ein Fall von bloßem Verhalten ist damit ausgeschlossen. Ein solches ist nicht Teil der von der Soziologie zu untersuchenden sozialen Welt. Was dem bloßen Verhalten abgeht, ist eine geistige Bestimmtheit, welche die Voraussetzung dafür abgibt, dass man es dabei nicht nur überhaupt mit einem Fall von verstehbarem und erklärbarem Handeln zu tun hat, sondern dass es überdies auch ein Fall von sozialem Handeln sein kann. Doch selbst dann, wenn es sinnhaft orientiert und also verstehbar und erklärbar ist, muss das betreffende Verhalten nicht auch ein soziales sein. Wenn etwa bei beginnendem Regen Menschen »gleichzeitig den Regenschirm aufspannen, so ist (normalerweise) das Handeln des einen nicht an dem des andern orientiert, sondern das Handeln aller gleichartig an dem Bedürfnis nach

Vgl. Schluchter, Wolfang: Verantwortungsethik und verstehende Soziologie, in: Individualismus, Verantwortungsethik und Vielfalt, Weilerswist 2000, S. 40 f.; Weiß, Johannes: Max Webers Grundlegung der Soziologie. Eine Einführung, München 1975, S. 55. 116 Weber, Max: Soziologische Grundbegriffe (1921), a. a. O., S. 1. 115

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Schutz gegen die Nässe« 117. Und nicht einmal jede menschliche »Berührung« tut dem Genüge. Weber gibt auch dafür ein Beispiel: »Nicht jede Art von Berührung von Menschen ist sozialen Charakters, sondern nur ein sinnhaft am Verhalten des andern orientiertes eignes Verhalten. Ein Zusammenprall zweier Radfahrer z. B. ist ein bloßes Ereignis wie ein Naturgeschehen. Wohl aber wäre ihr Versuch, dem andern auszuweichen und die auf den Zusammenprall folgende Schimpferei, Prügelei oder friedliche Erörterung ›soziales Handeln‹.«

Entscheidend am sozialen Handeln ist und bleibt das Bewusstsein der Beteiligten. Einer muss mehr oder weniger bewusst auf einen Anderen hin orientiert sein. Sozial ist ein Fall von Handeln nur, wenn der Akteur selber es durch einen Akt der Sinnsetzung als ein ebensolches bestimmt. Und das erstreckt sich keineswegs allein auf Fälle von einträchtigem Miteinander und Füreinander der Menschen, nicht nur auf Fälle also, da einer zusammen mit einem Anderen oder aber an seiner Stelle tut, was auch immer er da tut. Weber hat anderes noch im Blick. Und zwar ebenso Fälle menschlichen Gegeneinanders, Fälle also, da jemand gegen einen Anderen tut, was er da tut: »Vom blutigen, auf Vernichtung des Lebens des Gegners abzielenden, jede Bindung an Kampfregeln ablehnenden Kampf bis zum konventional geregelten Ritterkampf […] und zum geregelten Kampfspiel (Sport), von der regellosen ›Konkurrenz‹ etwa erotischer Bewerber um die Gunst einer Frau, dem an die Ordnung des Markts gebundenen Konkurrenzkampf um Tauschchancen bis zu geregelten künstlerischen ›Konkurrenzen‹ oder zum ›Wahlkampf‹ gibt es die allerverschiedensten lückenlosen Übergänge.« 118

All diese Erscheinungsformen der Durchsetzung des eignen Willens gegen Widerstände Anderer will Weber mit dem Begriffsapparat seiner verstehenden Soziologie mit abdecken. Das sind uns ja auch ganz selbstverständlich soziale Phänomene, so etwas wie eine auf Sieg und Niederlage angelegte Partie Fußball oder eine Gerichtsverhandlung, sich übertrumpfende Gebote während einer Versteigerung, der Wahlkampf in modernen Demokratien, das Ringen mit Mitbewerbern um die Gunst des Vorgesetzten, die mit Waffengewalt ausgetragene Auseinandersetzung zwischen zwei verfeindeten Heeren oder der terroristische Anschlag einer verschworenen Gruppe auf einen Staat. Derlei Phänomene sind nicht nur ein möglicher Bestandteil im Le117 118

Ebd., S. 11. Ebd., S. 20.

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bensgang menschlicher Gesellschaft, sie sind zudem auch von Anbeginn ein genuines Thema für die Soziologie. 119 Demgegenüber verengt Searle die gesellschaftliche Realität und damit die Reichweite der Sozialontologie über die in Kapitel II.1 schon genannten beiden Hinsichten hinaus noch in einer weiteren, dritten. Das sei der Vollständigkeit halber erwähnt, dass seine Analyse des Sozialen mittels des Konzepts kollektiver Intentionalität auch dahingehend zu eng bleibt, als jenes Konzept das Merkmal der Kooperation einbefasst. Was eine kollektive Intention intendiert, eine soziale Tatsache, soll die Kooperation mit Anderen sein: »The notion of a we-intention, of collective intentionality, implies the notion of cooperation.« 120 Searle verengt Soziales darauf, dass sich einer mit einem Anderen verhält, sie also beispielsweise zusammen spazieren gehen. Doch wo das Verhalten des einen für das des Anderen einspringt oder gegen dessen Widerstand anläuft, hat man es gar nicht (jedenfalls nicht im eigentlichen Sinne) mit einer kooperativen Tätigkeit zu tun. Der ontologische Begriff des Sozialen muss aber in der Lage sein, jenen anderen und nicht weniger relevanten Tätigkeiten gleichfalls zu genügen. Kooperation ist keine notwendige Bedingung für Soziales. Und auch das leibhaftige Zugegensein eines Anderen ist für Weber keine notwendige Bedingung des Sozialen. Der Kontakt mit Anwesenden hat eine zeitliche Grenze, einen Anfang und ein Ende; man trifft sich, trennt sich und kommt nach einer gewissen Unterbrechung ggf. wieder zusammen. Und er ist räumlich gebunden; das letzte Mal haben wir uns da und da getroffen, heute gehen wir woanders hin. Man muss sich jedoch nur vergegenwärtigen, dass die meisten menschlichen Gesellschaften, soweit wir das überschauen können, in irgendeinem Maße Sinnträger ausgebildet haben, die derartige Zeit- und Raumbarrieren zu überwinden und ihren Weg zu So auch Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, a. a. O., S. 5. Sombart nennt Gesellschaft alles »Mit-Für-Gegeneinander« der Menschen. (Sombart, Werner: Soziologie: Was sie ist und was sie sein sollte, Berlin 1936, S. 23) Und von Wiese spricht vom Menschen nicht nur als Mitmensch, sondern ebenso als Gegenmensch. Vgl. von Wiese, Leopold: Der Mitmensch und der Gegenmensch im sozialen Leben der nächsten Zukunft, Köln/Opladen 1967. 120 Searle, John R.: Collective Intentions and Actions, in: Cohen, Philip R./Morgan, Jerry L./Pollack, Martha E. (Hg.): Intentions in Communication, Cambridge, Mass. 1990, S. 406. Vgl. Searle, John R.: Social Ontology. Some Basic Principles, a. a. O., S. 16; Making the Social World. The Structure of Human Civilization, a. a. O., S. 49. 119

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Empfängern auch noch später und an einem ganz anderen Ort zu finden vermögen. In der modernen Gesellschaft ist hierzu neben Schrift und Buchdruck in erster Linie elektronische Nachrichtenübermittlung via Telegraphie, Telefonie, Fax, Funk und Fernsehen sowie digitalem Datenverkehr zu nennen. Wohl mag das Verstehen einer Mitteilung unter diesen Umständen schwieriger werden und die Schwelle der Ablehnung einer Kommunikationsofferte sinken, da die Deutungshilfen und der Annahmedruck der konkreten Situation fehlen. Den Ausschlag macht jedoch, dass solche, wie Niklas Luhmann sich ausdrückt, »Verbreitungsmedien« 121 soziale Zusammenhänge über die Schranken der Kopräsenz hinaus erweitern und den Kreis erreichbarer Adressaten um ein Erhebliches, mitunter ins Unüberschaubare und Unkontrollierbare steigern. Und schließlich ist für Weber auch Wechselseitigkeit keine notwendige Bedingung für etwas Soziales. Solch einen Fall fasst er mit ausdrücklichen Worten erst im Anschluss daran und aufbauend darauf als eine sog. soziale Beziehung. Darunter will er »ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer [Herv. d. Verf.]« 122 verstanden wissen. Die elementarste Ausprägung des Sozialen ist folglich nach Weber dann schon gegeben, wenn sich jemand zu einem Anderen verhält, ohne dass jener Andere darum zu wissen, geschweige denn darauf zu reagieren braucht. Damit sind natürlich nicht zuletzt auch die Untersuchungen des Soziologen, der dem Trachten und Treiben der Menschen nachforscht, als ein solches Verhalten gekennzeichnet, das sich nicht nur etwas Sozialem zuwendet (dem sozialen Handeln mindestens eines Akteurs), sondern das seinerseits etwas Soziales ist (ein soziales Handeln). 123 Man kann hierbei auch, um das Thema der vorgenannten Verbreitungsmedien fortzuführen, an jemanden denken, der in einer alten Schrift liest oder eine noch ältere Höhlenmalerei betrachtet. Dieses Tun muss Weber zufolge immer noch als ein soziales gelten, Luhmann, Niklas: Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, in: Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Soziologische Aufklärung 3, Opladen 1981, S. 28. Siehe ausführlicher Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997, S. 202 ff. 122 Weber, Max: Soziologische Grundbegriffe (1921), a. a. O., S. 13. 123 Sander kritisiert dies, dass nach Webers Konzeption sozialen Handelns jedwede Fremdeinstellung, etwa die bloße Wahrnehmung eines anderen Menschen, diesen Tatbestand erfüllt. Vgl. Sander, Fritz: Der Gegenstand der reinen Gesellschaftslehre, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 54/2 (1925), S. 336. 121

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weil der Betreffende auf einen Anderen bezogen ist (wie auch schon dessen Schreiben oder Malen ein soziales Verhalten war, sofern er nur für Leser bzw. Betrachter geschrieben oder gemalt hat). Der Andere ist zwar schon lang nicht mehr, seine Lebensäußerung aber sehr wohl, durch die er sich weiterhin mitteilt. Die Verlaufsrichtung dieses Bezugs ist so eine einseitige, insofern sich Egos Lesen oder Betrachten zwar an das, was Alter geschrieben bzw. gemalt hat, hält, es versteht oder missversteht, bezweifelt oder bestaunt, sich dafür öffnet oder dagegen versperrt. Eine Erwiderung jedoch bleibt ausgeschlossen, wie man sie aus der raumzeitlich integrierten Begegnung unter Anwesenden kennt, da im Hin und Her der Rede, bedeutungsvoller Mienen, Gesten und Posen eines zum anderen führt. Natürlich existieren, was das angeht, verschiedene Abstufungen. Wenn ich z. B. eine auf einem akustischen Speichermedium festgehaltene Orchesteraufführung von vor drei Monaten anhöre oder den aktuellen Tagesmeldungen des Nachrichtensprechers im Fernsehen folge, ist zwar desgleichen keine Gegenreaktion meinerseits möglich. Aber doch nur keine unmittelbare, wie ich sie anschließen könnte, wären die betreffenden Personen anwesend. Hinterher bin ich in der Lage, Kontakt aufzunehmen. Für Weber macht das allerdings keinen prinzipiellen Unterschied. Halten wir fest, dass das Soziale nach Webers ontologischer Begriffsbildung in einer besonderen Sinnorientierung neben möglichen anderen liegt. Das entscheidende Kriterium, welches ein Handeln zu einem sozialen und damit zu einem Teil der von der Soziologie zu untersuchenden menschlichen Gesellschaft macht, ist, dass jemand auf einen Anderen eingestellt ist und die Bedeutungsrichtung seines Verhaltens aus dieser Einstellung zu dessen möglichem oder tatsächlichem Verhalten festlegt. Das aber heißt eben, dass Weber das Soziale – wie Simmel – lediglich im Hinblick auf einige Zustände bewusster Intentionalität fasst. Und mehr noch, dass Soziales in der Sinngebung eines Handelnden liegen soll, heißt des Näheren, dass es zum Was seines Bewusstseins gehört, dem Intendierten. Webers Sozialontologie verlegt es in dasjenige, zu dem sich einer bewusst verhält, sofern er nämlich mit seinem Tun und Lassen an einem oder mehreren anderen Menschen orientiert ist: Das Soziale ist ihm – anders als Simmel – eine Angelegenheit des intentionalen Gehalts. 124 So etwas hat vor Weber auch schon Tönnies vor Augen, wenn er notiert, die Soziologie habe diejenigen Dinge zum Gegenstand, welche »aus dem sozialen Leben und

124

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Die »Konstituierung des alter ego im Bewußtsein des einsamen Ich« (Schütz)

3.

Die »Konstituierung des alter ego im Bewußtsein des einsamen Ich« (Schütz)

Dieser intentionalistische Analyseansatz findet seine Fortführung bei Schütz. Wohl hat Weber im engeren Sinne keine eigene Schule hervorgebracht, was u. a. daran liegt, dass nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Jahre 1933 aufgrund von Berufsverbot, Entlassung und Emigration zwangsläufig auch bestimmte soziologische Paradigmen in Deutschland ausdünnten. 125 Erst nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich seit dem Heidelberger Soziologentag 1964 die Beschäftigung mit Webers Werk und Bedeutung wieder spürbar belebt. Schütz allerdings ist einer derer, die Weber bereits zur Zeit der Weimarer Republik rezipieren. Und er stellt seine Dissertation Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt von 1932 expressis verbis in die Nachfolge Webers, lautet doch allein schon der Untertitel dieser frühen Schrift auf Eine Einleitung in die verstehende Soziologie. Der »Erste Abschnitt«, der noch hinführenden Charakter besitzt, lässt den Leser wissen, dass Schütz in Webers Konzeption einer verstehenden Soziologie letztlich die gleiche Grundhaltung am Werk sieht wie davor in Simmels Idee einer formalen Soziologie, nur rigoroser und insgesamt überzeugender umgesetzt. Weber habe nämlich »alle Arten sozialer Beziehungen und Gebilde, alle Kulturobjektivationen und Regionen des objektiven Geistes auf das ursprünglichste Geschehenselement des sozialen Verhaltens Einzelner zurückführt. Zwar behalten alle komplexen Phänomene der Sozialwelt ihren Sinn, aber dieser Sinn ist eben derjenige, den die in der Sozialwelt Handelnden mit ihren Handlungen verbinden. […] Niemals vorher war das Prinzip, die ›Welt des objektiven Geistes‹ auf das Verhalten Einzelner zu reduzieren, dermaßen radikal durchgeführt worden, wie in Max Webers Gegenstandsbestimmung der verstehenden Soziologie als einer Wissenschaft, welche die Deutung des subjektiven (nämlich des durch den oder die Handelnden gemeinten) Sinnes sozialer Verhaltensweisen zum Thema hat.« 126

nur aus dem sozialen Leben hervorgehen«. Denn das seien »die Erzeugnisse menschlichen Denkens«. (Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 184) 125 Vgl. Lepsius, M. Rainer: Die Soziologie der Zwischenkriegszeit: Entwicklungstendenzen und Beurteilungskriterien, in: Ders. (Hg.): Soziologie in Deutschland und Österreich 1918–1945. Materialien zur Entwicklung, Emigration und Wirkungsgeschichte, Opladen 1981, S. 7–23. 126 Schütz, Alfred: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Wien 1932, S. 3 f.

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Nach Schützens Dafürhalten hat Weber jedoch mehr nur Resultate geliefert, zu denen die Prämissen nachzureichen sind. Denn so unbestechlich auch dessen Blick für die Schwierigkeiten soziologischer Begriffsbildung gewesen sei und so Bedeutendes er als Methodologe geleistet habe, »an der radikalen Rückführung seiner Ergebnisse auf eine gesicherte philosophische Grundposition lag ihm ebensowenig, wie an der Erhellung der Unterschichten der von ihm aufgestellten Grundbegriffe« 127. Webers verstehende Soziologie beruht auf einer »Reihe stillschweigend gemachter Voraussetzungen« 128, meint Schütz, die einzuholen ein umso drängenderes Desiderat bleibt, als nur eine bis zur allgemeinen Wurzel aller Manifestationen menschlicher Gesellschaft hinabreichende Analyse die Forschungsarbeit des Soziologen grundzulegen vermag. Weber soll vorzeitig in einer Schicht abgebrochen haben, welche das gemeinsame Element alles sozialen Lebens nur in scheinbar nicht weiter reduzierbarer Gestalt sichtbar macht. Mit einem Wort, es ist die Kategorie des Sinns, welche für Schütz eine vielverzweigte und der weiteren Durchdringung bedürftige Problematik bereithält. 129 Damit ist die Problemstellung umrissen, welche Schütz zu erledigen sich vorsetzt. Sein Interesse gilt von Anfang an und bis in seine späte Schaffensphase hinein einer philosophischen Begründung der empirischen Soziologie. Diese habe vordringlich eine tiefer schürfende Aufklärung der Konstitution und dann auch Interpretation von Sinn, will sagen dessen zu leisten, wie sich die von einem Akteur subjektiv gemeinte Ausrichtung seines Handelns aufbaut und von anderen Menschen verstehen lässt, als Weber das getan hat. Und Schütz glaubt, dies unter Heranziehung der Bewusstseinslehre von Henri Bergson, vornehmlich aber der von Husserl erreichen zu können: »Nur mit Hilfe einer allgemeinen Theorie des Bewußtseins, wie Bergsons Philosophie der Dauer oder Husserls transzendentaler Phänomenologie, kann die Lösung der Rätsel gefunden werden, mit denen die Problematik der Sinnsetzungs- und Sinndeutungsphänomene umlagert ist. Die vorliegenden Untersuchungen machen den Versuch, von der Fragestellung Max Webers ausgehend, den Anschluß an die gesicherten Ergebnisse der beiden vorgenannten Philosophen herzustellen und mit Hilfe der Konstitutionsanalyse das Sinnphänomen exakt zu bestimmen.« 130 127 128 129 130

Ebd., S. 5. Ebd., S. 4. Vgl. ebd., S. 4 ff. Ebd., S. 10. Die terminologischen Anleihen hingegen, die Schütz unübersehbar bei

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Wie Weber peilt Schütz eine bewusstseinstheoretische Fassung jener geistigen Bestimmtheit an, die ein Akteur seinem Tun und Lassen beimisst. Der Aufbau von Sinn soll bewusstseinsmäßig geschehen. Doch mithilfe der Studien von Bergson und Husserl gedenkt er, die von Weber »aufgestellten Grundbegriffe« zu untermauern und dessen »stillschweigend gemachte Voraussetzungen« auszuarbeiten. 131 Auf diese Weise liefert Schütz eine phänomenologische Theorie sinnsetzender und sinndeutender intentionaler Akte des menschlichen Bewusstseins, die dem Anspruch nach von der Soziologie, ja jeder Sozialwissenschaft zugrunde gelegt werden muss und insofern als eine Art Protosoziologie verstanden werden darf. 132 Erst nachdem Schütz das Fundamentalkonzept des Sinns derart aufgefächert hat, was der »Zweite Abschnitt« des Buches bewerkstelligt, entfaltet er in anschließenden Überlegungen Schritt um Schritt die Sinnstruktur der gesellschaftlichen Welt. Dabei greift er Webers Begrifflichkeit auf, die nunmehr als in einem festen Grund verankert zu gelten haben soll. Im Zuge dessen nimmt Schütz wohl auch einige Korrekturen daran vor; doch kann es mir hier nicht darum gehen, inwiefern er Weber besser zu verstehen meint, als sich dieser selbst verstand. Mein Augenmerk muss lediglich der Stelle gelten, wo in der von ihm begründeten phänomenologischen Soziologie das Soziale ins Bild tritt. Seit Husserls Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie aus dem Jahr 1913 wissen wir, so lautet die relevante These, dass »Sinngebung nichts anderes ist, als eine

Heidegger macht (»Mitwelt«, »Entwurfcharakter«, »Man«), bleiben rein sprachlicher Natur. Wie er selbst betont, übernimmt er nicht auch deren Bedeutung, noch viel weniger den Heidegger’schen Denkrahmen. Vgl. S. 28, 57, 154. 131 Und das sogar mit Husserls Beifall. In einem Brief an Schütz, der auf den 3. Mai 1932 datiert, schreibt Husserl in Reaktion auf Schützens Sinnhaftem Aufbau der sozialen Welt: »Ich bin begierig einen so ernsten u. gründlichen Phänomenologen kennen zu lernen, einen der ganz Wenigen, die bis zum tiefsten u. leider so schwer zugänglichen Sinn meiner Lebensarbeit vorgedrungen sind u. die ich als hoffnungsvolle Fortsetzung derselben, als Repräsentanten der echten philosophia perennis, der allein zukunftsträchtigen Philosophie ansehen darf.« (Husserl, Edmund: Briefwechsel, Hua III, Bd. 4: Die Freiburger Schüler, Dordrecht et al. 1994, S. 483) 132 Vgl. Eberle, Thomas S.: Schütz’ Lebensweltanalyse: Soziologie oder Protosoziologie?, in: Bäumer, Angelica/Benedikt, Michael (Hg.): Gelehrtenrepublik – Lebenswelt. Edmund Husserl und Alfred Schütz in der Krisis der phänomenologischen Bewegung, Wien 1993, S. 293–320.

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Leistung der Intentionalität« 133. Als Ausgangspunkt wählt Schütz den von Bergson aufgestellten Gegensatz von passivem Hinleben im Bewusstseinsstrom (durée) und aktivem Achtgeben auf das Erleben (attention à la vie). 134 Ersteres kennt keine klar getrennten Zustände, nur ein stetiges Werden und Vergehen von Erlebnissen. Doch können wir uns auf die Phänomene unseres Bewusstseins in mannigfacher Weise zurückwenden, was Schütz mit Husserl als »Reflexion« bezeichnet. Diese mögen gewesene oder kommende sein: einerseits gerade abgelaufene, aber noch bewusste (»Retention«) oder schon vergangene und modo präterito rückerinnerte (»Reproduktion«), andererseits unmittelbar bevorstehende, aber inhaltlich noch unbestimmte (»Protention«) oder künftige und modo futuri exacti antizipierte (»Vorerinnerung«). 135 Man greift dann das betreffende Phänomen heraus und grenzt es ab. Und in diesem Aufmerken nimmt man Stellung dazu, begreift man es als das und das, verleiht man ihm mithin eine gewisse Bedeutung: »Wir definieren ›Verhalten‹ als durch spontane Aktivität sinngebendes Bewußtseinserlebnis« 136. Verhalten – Webers nicht weiter kommentierte Basis für die Einführung des Sinnbegriffs – wird bei Schütz zu einer bestimmten Art von Intention. Es wird zu einem Erlebnis, welches sich auf etwas Erlebtes bezieht, einer reflexiven, stellungnehmenden und so sinnstiftenden Funktion des Bewusstseins. 137 Demgemäß ist der »›Sinn‹ eines Erlebnisses«, wie Schütz schlussfolgert, »nichts anderes als die intentionale Leistung von schichtenweise aufeinander aufgebauten Akten der Zuwendung« 138. Schütz, Alfred: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, a. a. O., S. 33. Schütz bezieht sich dabei auf Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Buch I: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie (1913), Hua I, Bd. 3.1, Den Haag 1976, S. 200 ff. 134 Vgl. Bergson, Henri: Essay sur les données immédiates de la conscience, Paris 1889; Durée et simultanéité. À propos de la théorie d’Einstein, Paris 1922. 135 Vgl. Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Buch I: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie (1913), a. a. O., S. 93 f., 162 f., 250 f. Siehe auch Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1928), in: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), Hua I, Bd. 10, Den Haag 21969, S. 19–72. 136 Schütz, Alfred: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, a. a. O., S. 53. Siehe auch S. 54 f. 137 Vgl. Grathoff, Richard: Alfred Schütz, in: Käsler, Dirk (Hg.): Klassiker des soziologischen Denkens, Bd. 2: Von Weber bis Mannheim, München 1978, S. 397 ff. 138 Schütz, Alfred: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die 133

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An sich sei Erleben sinnlos, es werde erst sinnvoll, indem durch eine eigenständige Tätigkeit des menschlichen Bewusstseins, nämlich vermöge einer vergangenheits- oder zukunftsbezogenen Reflexion, der kontinuierliche Erlebnisstrom diskontinuiert wird. Derart durch Rückwendung der Aufmerksamkeit zu einem wohlunterschiedenen ausgegrenzt, werde dem Erleben ein bestimmter Wasgehalt prädiziert. Im reflexiven Blickstrahl avanciere das als gewesen oder kommend vorgestellte Bewusstseinsphänomen zu einem sinnerfüllten. Das aber bedeutet, dass Sinn etwas ist, das angesichts der Anlage all unseres bewussten Intendierens, wie ich sie in Kapitel II.2 herausgestellt habe, in demjenigen zu verorten ist, was intendiert wird. In dieser Sache hält Schütz an Weber fest und weiß sich zudem in Übereinstimmung mit Husserl: dass Sinn ein möglicher intentionaler Gehalt des Bewusstseins der Menschen ist. 139 Mit dem Fortgang zum »Dritten Abschnitt« vollzieht sich sodann ein einschneidender Bruch. Thematisch geht es dort um das Fremdverstehen, welches Schütz in seinen Grundzügen darlegt, bevor er im »Vierten Abschnitt« die Strukturen der sozialen Welt beleuchtet. 140 Nachdem die Konstituierung von Sinn »im einsamen Seelenleben« aufgedeckt ist, wie Schütz selber bemerkt, geht er nun die »spezifische Sinngebung in der Sozialwelt« 141 an. Diese ist ihm, wie schon aus der Äußerung ersichtlich, nicht mehr als nur ein besonderer Fall dessen, was er vorher ganz im Allgemeinen ausgeführt hat. Und der Abstieg aus der abstrakten Prinzipiensphäre hinab zu einem konkreten Prinzipiat bedeutet deshalb einen Bruch, und einen einschneidenden noch dazu, weil damit »die streng phänomenologische

verstehende Soziologie, a. a. O., S. 77. »Das heißt aber nichts anderes, als daß die Aussage: ›auf ein Erlebnis werde hingeblickt‹, und die Aussage: ›ein Erlebnis sei sinnvoll‹ äquivalent sind« (S. 72). Oder: »Gemeinter Sinn eines Erlebnisses ist nichts anderes als eine Selbstauslegung des Erlebnisses von einem neuen Erleben her.« (S. 83) 139 Vgl. Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Buch I: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie (1913), a. a. O., S. 295 ff. 140 Zur Problematik des Fremdverstehens bei Schütz siehe Eberle, Thomas S.: Sinnkonstitution in Alltag und Wissenschaft. Der Beitrag der Phänomenologie an die Methodologie der Sozialwissenschaften, Bern 1984, S. 45 ff.; Hitzler, Ronald: Mundane Reflexivität. Zur Verständigung mit und über Alfred Schütz, in: Sociologia Internationalis 25/2 (1987), S. 143–161. 141 Schütz, Alfred: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, a. a. O., S. 106.

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Betrachtungsweise« verlassen wird. Stattdessen nimmt Schütz im Weiteren »die Existenz der Sozialwelt in naiv natürlicher Weltanschauung so hin, wie wir es im täglichen Leben unter Menschen lebend, aber auch Sozialwissenschaft betreibend, zu tun gewohnt sind. Damit verzichten wir auf jedes Eingehen in die eigentliche transzendental-phänomenologische Fragestellung nach der Konstituierung des alter ego im Bewußtsein des einsamen Ich.« 142

Anlass für diesen Sprung ist der simple Umstand, dass Husserl jene »transzendental-phänomenologische Fragestellung nach der Konstituierung des alter ego im Bewußtsein des einsamen Ich« bis dahin noch nicht geklärt hatte. Zurzeit der Niederschrift und Veröffentlichung des Sinnhaften Aufbaus der sozialen Welt standen Schütz schlicht keine dementsprechenden Überlegungen seines Lehrers zur Verfügung, auf die er hätte zurückgreifen können. Und dass er seinerseits diese Frage gar nicht erst stellt, wie also »alter ego im Bewußtsein des einsamen Ich« konstituiert wird, lässt erahnen, dass auch er selber sie damals noch nicht zu beantworten vermochte. Trotzdem war Schütz von der Möglichkeit und Notwendigkeit ihrer Beantwortung überzeugt. Lang hat er damit gerechnet, dass es Husserl gelingen würde, die Sache des Sozialen durch phänomenologische Reduktion zur Erledigung zu bringen, womit das Gebiet der menschlichen Gesellschaft und die Disziplinen ihrer wissenschaftlichen Erforschung auf dem unwankbaren Sockel der Transzendentalphilosophie aufgerichtet wären. 143 Husserl war sich dieser Problematik bewusst. Um die Idee, dass jeder Mensch ein transzendentales Ego ist, rechtfertigen zu können, hätte er nachweisen müssen, dass und wie man bereits auf dem Standpunkt des phänomenologisch reduzierten Ich Kenntnis hat von

Wie Schütz bereits an früherer Stelle ankündigt: »Die Analysen der Konstitutionsphänomene im inneren Zeitbewußtsein […] werden innerhalb der ›phänomenologisch reduzierten‹ Sphäre des Bewußtseins durchzuführen sein. […] Die Absicht dieses Buches, die Sinnphänomene in der mundanen Sozialität zu analysieren, macht […] ein weiteres Verbleiben in der transzendental-phänomenologischen Reduktion nicht erforderlich.« (Ebd., S. 41 f.) 143 So hält Schütz Weber vor, dass er »die sinnhafte Vorgegebenheit des alter ego […] überhaupt nicht behandelt. Er setzt die sinnhafte Existenz des Andern als schlechthin vorgegeben voraus, wenn er von der Deutung fremden Verhaltens spricht.« (Ebd., S. 16) 142

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Alter. Jener Standpunkt wird ja durch den Vollzug einer ἐποχή erreicht, welche das in natürlicher Einstellung als unproblematisch angesehene Dasein der äußeren Welt dahinstellt. Man suspendiert seine alltäglichen Gewissheiten hinsichtlich raumzeitlicher Dinge sowie seine Überzeugungen von der Gültigkeit wissenschaftlicher Aussagen darüber. Existenz und Beschaffenheit solcher Entitäten werden durch die Urteilsenthaltung nicht etwa dementiert, sondern lediglich offengelassen; die Frage wird bloß eingeklammert, ob es sie und wie es sie gibt. Sie werden zu Phänomenen im technischen Sinne, zu Erscheinungen für das Bewusstsein, ungeachtet, wie es um ihr Ansich bestellt ist. Die hierdurch eingenommene reflexive Blickstellung eröffnet Husserl zufolge den Zugang zum reinen Bewusstsein. Sie soll das Wesen der apriorischen Akte des Ich erkennen lassen, welche die nur scheinbar vorgefundene Welt in Wahrheit formen. Und dazu gehöre genauso die Konstitution anderer, für mich da seiender Personen und einer intersubjektiven, für jedermann da seienden Welt. Solch einen Nachweis transzendentaler Intersubjektivität zu führen, hat Husserl in unterschiedlichen Anläufen mithilfe einer transzendentalen Erfahrung Anderer versucht, 144 am durchdachtesten sicherlich in der fünften seiner 1950 erst in deutscher Sprache publizierten Cartesianischen Meditationen. Schütz jedoch beurteilt diese Lösungsversuche als ungenügend. Später meldet er überdies massive Zweifel an, dass Husserls ichnaher Lösungsansatz überhaupt Aussicht auf Erfolg zu versprechen vermag. 145 Im »Dritten Abschnitt« des Sinnhaften Aufbaus der sozialen Welt indessen nimmt Schütz in noch uneingelöster transzendentalphänomenologischer Hoffnung auf eine erfahrungsfreie, aber Erfahrung ermöglichende Sozialität vorlieb mit der bloßen »Generalthesis

Vgl. Husserl, Edmund: Zur Philosophie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß, Hua I, Bd. 13: 1905–1920, Bd. 14: 1921–1928 und Bd. 15: 1929–1935, Den Haag 1973. 145 Zwei Jahre vor seinem Tod zieht Schütz die Bilanz, dass »Husserls Versuch, die Konstitution der transzendentalen Intersubjektivität aus den Bewußtseinsleistungen des transzendentalen Ego zu begründen, nicht gelungen ist«. Ferner könne »mit Bestimmtheit gesagt werden, dass nur eine solche Ontologie der Lebenswelt, nicht aber eine transzendentale Konstitutionsanalyse jenen Wesensbezug der Intersubjektivität aufzuklären vermögen wird, der die Grundlage sämtlicher Sozialwissenschaften bildet«. (Schütz, Alfred: Das Problem der transzendentalen Intersubjektivität bei Husserl, in: Philosophische Rundschau 5/2 (1957), S. 105 f.) 144

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des alter ego in der natürlichen Anschauung« 146. Zum Zweck der Auseinandersetzung mit dem Verstehen fremder Lebensäußerungen, wie also der von Ego gesetzte Sinn seines Handelns durch Alter ausgelegt werden kann, muss Schütz faute de mieux unterstellen, dass auch das Bewusstsein des Gegenübers kraft seiner intentionalen Leistungen sinnsetzend ist: »daß auch das Du Bewußtsein überhaupt habe, daß es dauere, daß sein Erlebnisstrom die gleichen Urformen aufweise wie der meine« 147. Das steht mit Husserl in völligem Einklang. Denn trotz der Konzentration auf die nichtempirische Subjektivität hat dieser die Phänomenologie nie als einen transzendentalen Solipsismus begriffen. In der synthetischen Weltformierung Egos soll sehr wohl auch Alter vorkommen. Die Intersubjektivität, mit der sich Schütz infolgedessen beschäftigt, ist die, wie er sich ausdrückt, »mundane Sozialität« 148. Ähnlich wie Weber setzt er beim Faktum des sinnhaften Gegebenseins Anderer an, mit dem Unterschied allerdings, dass er das im Vorgriff auf eine dereinst noch auszuführende Untersuchung der zugrunde liegenden Synthesen unserer Intentionalität macht, woran Weber niemals dachte. In seinem späten, postum erschienenen Hauptwerk Strukturen der Lebenswelt bescheidet sich Schütz sodann allerdings mit ebendiesem Faktum. Er erachtet es nicht für bedürftig oder auch nur fähig, und rückt damit von Husserl ab, egologisch grundgelegt zu werden. 149 Und auch bei seiner Charakterisierung des Sozialen bleibt Schütz im Sinnhaften Aufbau der sozialen Welt Weber im Wesentlichen treu. Dessen Definition sozialen Handelns, wo der Begriff des Sozialen zum ersten Mal und maßgebend für alles Weitere im Apparat der verstehenden Soziologie auftaucht, paraphrasiert Schütz mitSchütz, Alfred: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, a. a. O., S. 106. 147 Ebd., S. 107. 148 Ebd., S. 42. Erst nach dem Sinnhaften Aufbau der sozialen Welt differenziert Schütz in nachgelassenen Schriften feiner zwischen einem Problem der Sozialität und einem der Intersubjektivität. Vgl. Srubar, Ilja: Alfred Schütz’ Konzeption der Sozialität des Handelns, in: Elisabeth List, Ilja Sruba (Hg.): Alfred Schütz. Neue Beiträge Zur Rezeption Seines Werkes, Amsterdam 1988, S. 146. 149 Vgl. Schütz, Alfred: Strukturen der Lebenswelt, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1975/84. Siehe dazu Grathoff, Richard: Das Problem der Intersubjektivität bei Aron Gurwitsch und Alfred Schütz, in: Ders./Waldenfels, Bernhard (Hg.): Sozialität und Intersubjektivität. Phänomenologische Perspektiven der Sozialwissenschaften im Umkreis von Aron Gurwitsch und Alfred Schütz, München 1983, S. 87–120. 146

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hilfe seiner bis dahin entwickelten, auf Bergson und Husserl fußenden Terminologie. Worin genau sich für Schütz Verhalten und Handeln unterscheiden, braucht uns dabei nicht weiter zu interessieren; denn schon das bloße Verhalten, das noch kein Fall von Handeln ist, soll gegen Weber ein soziales sein können. 150 Und mit Blick auf den Sozialcharakter sozialen Verhaltens und Handelns spricht Schütz »von intentional auf ein alter ego bezogenen Bewußtseinserlebnissen« 151. Einbegriffen sind darin aber nicht solche Erlebnisse, wie Schütz anders als Weber unterscheidet, welche bloß auf den »Leib des Anderen als physisches Ding der Außenwelt« gerichtet sind. Allein solche Erlebnisse sollen hierhergehören, die sich auf den »Anderen eben als alter ego, nämlich auf den Leben, Dauer und Bewußtsein habenden Nebenmenschen« beziehen. Schütz illustriert das an drei Beispielen, deren eines von Weber stammt: »Nach ihm ist der Zusammenstoß zweier Radfahrer noch kein soziales Handeln, wohl aber die darauf etwa folgende Auseinandersetzung. Der Arzt, welcher an dem narkotisierten Patienten eine Operation ausführt, handelt zwar ›auf dessen Leib zu‹, aber auch er handelt im Sinne Webers nicht sozial. Der in der Kolonne marschierende Soldat, welcher seine Leibesbewegungen an seinem Vordermann orientiert, indem er mit ihm Schritt halt, handelt ebenfalls nicht sozial, denn er orientiert sein Handeln […] bloß an dessen Leib als Gegenstand der Außenwelt, nicht an einem bestimmten Sosein dieses Leibes als Anzeichen für fremde Bewußtseinserlebnisse.«

Natürlich zählt zu jenen »intentional auf ein alter ego bezogenen Bewußtseinserlebnissen« u. a. auch das Fremdverstehen, welches Schütz eingehend behandelt. Aber auch jede sonstige »Fremdeinstellung« 152 – Husserl redet in der fünften Cartesianischen Meditation von »Fremderfahrung« 153 – wie etwa das »Fremdwirken« 154. Darunter

Und zwar sei Handeln »entworfene[s] Verhalten«. (Schütz, Alfred: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, a. a. O., S. 61) Siehe dazu Hanke, Michael: Alfred Schütz. Einführung, Wien 2002, S. 29 ff. 151 Schütz, Alfred: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, a. a. O., S. 162. 152 Ebd., S. 164. 153 Husserl, Edmund: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Hua I, Bd. 1, Den Haag 21963, S. 121. 154 Schütz, Alfred: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, a. a. O., S. 165. 150

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versteht Schütz jedweden Versuch, auf Andere einzuwirken und sie zu irgendeinem Verhalten zu veranlassen. Schütz setzt demnach wie Husserl Soziales erstens in die Intentionalität des menschlichen Bewusstseins, genauer in eine von diesem erbrachte Funktion subjektiver Sinnsetzung. Ego ist dann mehr oder minder aufmerksam auf einen Anderen, was jedoch zweitens nicht immer der Fall sein muss; das ist nur manchmal so. Und er gibt diesem seinem Erleben des Anderen in der stellungnehmenden Reflexion eine washafte Bestimmung, eine vermeinte Bedeutung, was Schütz als soziales Verhalten adressiert und zum Grundstock für den darauf aufgestockten Fall sozialen Handelns nimmt: »Tauchen solche intentional auf ein alter ego bezogene Erlebnisse im Bewußtsein in der Form spontaner Aktivität auf, so wollen wir von sozialem Verhalten […] sprechen.« 155 Das bedeutet drittens, dass sozial für Schütz ggf. das Was des Bewusstseins der Menschen ist. Jenes ist dann und nur dann etwas Soziales, wenn darin auf die eine oder andere Weise ein Alter, d. h. ein anderes Bewusstsein, mit enthalten ist, zu dem sich das eigene verhält. Mithin betrifft das Soziale Schützens ontologischer Konstruktion des Begriffs gemäß ganz so wie bei Weber das Intendierte.

4.

»Society consists of nothing but individuals« (Searle)

In der von Simmel herkommenden und von Weber und Schütz überkommenen Tradition des intentionalistischen Ansatzes in der Analyse von Sozialem steht schließlich auch Searle. Auf den ersten Anhieb ist das allerdings nicht ersichtlich, denn Searle scheint sich gerade davon absetzen zu wollen. In seinem Aufsatz über Collective Intentions and Actions aus dem Jahre 1990 ist es weder das Sachfeld noch die Methodik der Sozialwissenschaften, was er erörtert. Und seine Erörterung besitzt auch nicht das generelle Ausmaß der Sozialontologie, wie es erst die späteren Monographien The Construction of Social Reality und Making the Social World erreichen; von einer solchen ist hier noch nicht einmal die Rede. Searle geht es da zunächst noch um die Erklärung eines speziellen Phänomens, dass nämlich mehrere Akteure gemeinsam handeln. In eins damit stehen, wie er den Leser eingangs wissen lässt, seine 155

Ebd., S. 162.

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»Society consists of nothing but individuals« (Searle)

früheren Ausführungen in Intentionality auf dem Prüfstand, welche 1983 noch wie selbstverständlich auf das einsame Handeln Einzelner beschränkt waren, jedenfalls nichts von einem möglicherweise problematischen Unterschied zwischen beiden Fällen wussten. Searle will dartun, dass sie in der Lage sind, auch diese bisher vernachlässigte Erscheinung angemessen zu erklären. Nichtsdestotrotz greift, was Searle dort entwickelt, seiner Ontologie des Sozialen vor. Das gilt hauptsächlich für das Konzept kollektiver Intentionen. 156 Searle hebt in Collective Intentions and Actions mit der Feststellung an, dass dieselbe Art von äußerlich beobachtbarer Körperbewegung, die jemand ausführt, sowohl einen individuellen Akt ohne andere Personen ausmachen als auch Bestandteil eines kollektiven Akts mit anderen Personen sein kann. Er illustriert dies durch ein (wohl unwissentlich an Weber erinnerndes) Beispiel. Danach rennt eine verstreute Menge von Menschen, die sich in einem Park aufhalten, zu einem schützenden Unterstand, als es zu regnen anfängt. Dieses Geschehen soll (wie bei Weber) von der ersten Sorte und damit kein soziales sein. Denn jeder der Beteiligten bestimmt sein Verhalten unabhängig von den Anderen, indem er je für sich zu dem nächstmöglichen Schutz vor Nässe hineilt. Liefen jedoch dieselben Menschen unter sonst gleichen Bedingungen, so Searle weiter, verabredetermaßen zu jenem Unterstand, wäre dieses Geschehen von der zweiten Sorte und ein soziales. Worin genau besteht der Unterschied? Es ist einer, der die hinter den Handlungen stehende geistige Einstellung angeht. Die Absichten, welche die Akteure mit ihrem Tun umsetzen, legt fest, was für eine Art von Tun dieses ist: »So if there is anything special about collective behavior, it must lie in some special feature of the mental component, in the form of the intentionality.« 157 Die Differenz zwischen individuellem und kollektivem Handeln verlangt also eine Differenzierung der zugrunde liegenden Intentionen in individuelle und kollektive. 158 Und Searles diesbezügliche Intuition lautet, dass die einen gar nicht wie die anderen sind. Die begriffliche Unterscheidung zwischen Wohlgemerkt geht es Searle in Intentionality nicht bloß um volitive Intentionalität wie in Collective Intentions and Actions. Ausdrücklich sind dort kognitive und affektive Intentionalität mit eingeschlossen. Vgl. Searle, John R.: Intentionality. An Essay in the Philosophy of Mind, a. a. O., S. 3. 157 Searle, John R.: Collective Intentions and Actions, a. a. O., S. 402. 158 Vgl. Searle, John R.: Making the Social World. The Structure of Human Civilization, a. a. O., S. 25 f. 156

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zwei Typen von Intentionalität, welche er vornimmt, geht auf einen klaren Nichtreduktionismus hinaus: »the collective intention is somehow not reducible to a conjunction of singular intentions«. Wenn man analysieren will, wie mehrere Akteure miteinander handeln, muss man von Wir-Absichten (we-intentions) reden und darf nicht bei bloßen Ich-Absichten (I-intentions) stehen bleiben und diese nur irgendwie addieren. Eine solche Addierung bedeutet, wie Searle in Anbetracht eines Textes von Raimo Tuomela und Kaarlo Miller kritisiert, 159 dass Egos Intention beim singulären wie pluralen Handeln ein und dieselbe ist, jedoch im letzteren Fall noch etwas hinzutritt, was im ersteren Fall fehlt. Und das ist etwas, was diese Intention mit Alter verknüpft, nämlich die Meinung, Erwartung, Überzeugung oder Ähnliches, dass Alter ein bestimmtes Handeln vorhat oder ein gewisses Ziel verfolgt und dass er seinerseits eine derartige Meinung, Erwartung, Überzeugung oder Ähnliches in Bezug auf Ego hegt. Nach diesem Modell bleibt die volitive Intention in ihrer inneren Verfasstheit unberührt davon, ob aus ihr ein individuelles oder kollektives Handeln hervorgeht; den Unterschied macht eine hinzutretende kognitive Intention, durch welche sie mit dem jeweiligen Gegenüber verknüpft wird. 160 Hiergegen setzt Searle, dass »we-intentions« eine »primitive form of intentionality« darstellen, »not reducible to I-intentions plus mutual beliefs« 161. Denn, so lautet die Begründung, zur singulären Handlungsabsicht einer Person, welche als solche keinen anderen Menschen mit einschließt, eine Meinung, Erwartung, Überzeugung oder Ähnliches über die gleicherweise singuläre Handlungsabsicht des letzteren hinzuzufügen, führt niemals zu einer pluralen Handlungsabsicht, die doch als solche den betreffenden Anderen mit einschließt und das jeweils beabsichtigte Handeln der Beteiligten irgendwie aufeinander bezieht und miteinander abstimmt. Wenn das gemeinschaftliche Tun mehrerer Individuen auch gegenseitig gehegVgl. Tuomela, Raimo/Miller, Kaarlo: We-Intentions, in: Philosophical Studies 53/3 (1988), S. 367–389. Wie Tuomela später allerdings herausstellt, geht Searles Kritik ins Leere. Es soll sich um ein Missverständnis handeln, er und Miller hätten anderes gemeint. Vgl. Tuomela, Raimo: We-Intentions Revisited, in: Philosophical Studies 125/3 (2003), S. 327–369. 160 Zur Nichtreduzierbarkeit kollektiver auf individuelle Intentionen siehe auch Searle, John R.: The Construction of Social Reality, a. a. O., S. 24 f.; Making the Social World. The Structure of Human Civilization, a. a. O., S. 45 ff. 161 Searle, John R.: Collective Intentions and Actions, a. a. O., S. 407. 159

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ter Meinungen, Erwartungen, Überzeugungen oder Ähnlichem sicher nicht entraten kann, kommt es doch nicht ohne ein Wollen zustande, das von demjenigen markant absticht, welchem das solitäre Tun eines Individuums entspringt: »Well, part of the difference is that the form of the intentionality in the first case is that each person has an intention that he could express without reference to the others, even in a case where each has mutual knowledge of the intentions of the others. But in the second case, the individual ›I intend‹s are in a way we will need to explain, derivative from the ›we intend‹s.« 162

Damit kehren sich die Verhältnisse um. Statt dass Wir-Intentionen fundiert sind in Ich-Intentionen, stehen die letzteren unter der Voraussetzung der ersteren. Unschwer lassen sich ja Beispiele konstruieren, in denen mehrere Akteure dasselbe machen oder dasselbe Ziel verfolgen und dabei sogar wechselweise voneinander wissen und dennoch allein für sich agieren. Identisches Verhalten oder identische Zwecke sind trotz gegenseitigem Wissen noch lang kein gemeinsames Verhalten und keine gemeinsamen Zwecke. 163 Dazu gehört vielmehr, dass die betreffenden Personen ihre respektive Handlung als eine Teilhandlung verstehen. Die Absichten der an einem kollektiven Geschehen Mitwirkenden müssen, um Beitragsabsichten zu diesem Geschehen zu sein, durch eine geteilte Absicht bedingt oder, wie schon Sellars sagt, »we-derivative« 164 sein. Meine Ich-Intention ist eine Beitragsintention nur, wenn sie aus einer Wir-Intention, mit Anderen zusammen aktiv zu werden, hervorgeht: Ich sitze neben dir im Hörsaal, wie ich es tue, nicht weil ich zufällig hier zum Sitzen gekommen bin, sondern weil wir den Vortrag, der da gehalten wird, zusammen hören wollen. In Searles eigenen Worten aus Making the Social World: »If we are cleaning the yard together, then in my head I have the thought, ›We are cleaning the yard together‹ and in your head you have the thought ›We are cleaning the yard together‹.« 165 Ebd., S. 403. Gilbert gibt dafür ein Beispiel: »For instance, to say that Fred and Martha are sitting together in the auditorium may not be to say more than ›Fred is sitting by (next to) Martha‹.« (Gilbert, Margaret: On Social Facts, London/New York 1989, S. 154) Siehe auch S. 155 ff. 164 Und Sellars kontrastiert sie mit »primary I-referential action intentions«. (Sellars, Wilfrid: On Reasoning About Values, a. a. O., S. 99) 165 Searle, John R.: Making the Social World. The Structure of Human Civilization, a. a. O., S. 47. Siehe auch The Construction of Social Reality, a. a. O., S. 24 f. Searle stellt darum fest, dass die individuelle Beitragsintention oft einen anderen Inhalt auf162 163

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Was also ist das Eigentümliche beider Typen von Intentionalität? Woran macht sich der kollektive Charakter kollektiver Intentionen fest? Woran der individuelle Charakter individueller Intentionen? Es nimmt den Anschein, dass das gesuchte Kriterium in der Antwort auf die Frage besteht, wer es ist, der jeweils dieses oder jenes intendiert. Immerhin formuliert Searle die Sätze, in welchen sich die einen Intentionen ausdrücken, grammatisch in der ersten Person Plural, »we intend to do such-and-such« oder »we are doing such-and-such«, und diejenigen, in welchen die anderen zum Ausdruck kommen, in der ersten Person Singular, »I intend to do such-and-such« oder »I am doing such-and-such« 166. Der Intendierende wäre demnach im Falle individueller Intentionen ein singuläres Subjekt, ein Ich (»I«), und im Falle kollektiver Intentionen ein plurales Subjekt, ein Wir (»we«). Die einen hießen so, weil es ein Individuum ist, die anderen, weil es ein Kollektiv ist, welches sie hat. Das aber soll gerade nicht sein. Searle stemmt sich mit Entschiedenheit gegen das Aufkeimen jedweden Verdachts, für eine, wie er es nennt, »›collectivist‹ or ›socialist‹ solution« 167 zu plädieren. Ebenso vehement, wie er seinen Nichtreduktionismus vertritt, macht er darauf Anspruch, für einen Nichtkollektivismus Partei zu nehmen. Denn solcherlei kollektivistische Konzeptionen, die Searle zufolge dadurch gekennzeichnet sind, wie er mit einigen höchst sparsamen Hinweisen allenfalls anklingen lässt, dass sie auf die Annahme von »group minds, the collective unconscious, and so on« 168, »some mysterious group mind« 169 bzw. »a group mind or group consciousness« setzen, hält Searle für »at best mysterious and at worst incoherent« 170. Oder wie es in dem Aufsatz Social Ontology and the Philosophy of Society aus dem Jahr 1998 heißt, handelt es sich dabei lediglich um »perfectly dreadful metaphysical excrescences« 171. weist als die kollektive Bezugsintention, von der sie sich herschreibt: »Another clue that collective intentions are different from a mere summation of individual intentions is that often the derived form of an individual intention will have a different content from the collective intention from which it is derived.« (Collective Intentions and Actions, a. a. O., S. 403) 166 Searle, John R.: Collective Intentions and Actions, a. a. O., S. 401. 167 Ebd., S. 411. 168 Ebd., S. 404. 169 Ebd., S. 406. 170 Ebd., S. 404. 171 Searle, John R.: Social Ontology and the Philosophy of Society, a. a. O., S. 150. Siehe auch The Construction of Social Reality, a. a. O., S. 25; Mind, Language and

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Mit seinem Urteil steht Searle nicht allein. Sogar auf höchste Staatskreise vermag er sich damit zu berufen. So erschien in der Ausgabe vom 31. Oktober 1987 in der Zeitschrift Woman’s Own ein Interview mit der damaligen Premierministerin des Vereinigten Königreichs, Margaret Thatcher, welches damals großes Aufsehen erregte und auch heutzutage noch zum beliebten Fundus für Zitate dient. Denn im Verlaufe des Gesprächs antwortet Thatcher auf die von ihr selber gestellter Frage, wer denn die Gesellschaft sei, mit dem Ausspruch: »And, you know, there is no such thing as society. There are individual men and women«. Der Kontext dieser Bemerkung ist allerdings ein sozialpolitischer. Thatcher geht es um den Umfang der Hilfeleistungen, welche die Gesellschaft dem Einzelnen angedeihen lassen soll, wenn er sich in einer Notsituation befindet. Nicht nur steht bereits das gesamte Interview unter dem vielsagenden Titel Aids, education, and the year 2000! Es ist vor allem eine kultur- und zeitkritische Diagnose in Beziehung auf das rechte Maß individueller und gesellschaftlicher Verantwortlichkeit, die Thatchers Diktum vorausgeht und dieses einleitet: »I think we’ve been through a period where too many people have been given to understand that if they have a problem, it’s the government’s job to cope with it. ›I have a problem, I’ll get a grant.‹ ›I’m homeless, the government must house me.‹ They’re casting their problem on society.« 172

Und im direkten Anschluss daran trifft Thatcher sodann die vorerwähnte Feststellung. Mit dieser aber, das darf man nicht übersehen, bestreitet Thatcher keineswegs die Existenz von Kollektivgebilden innerhalb der Gesellschaft, von Familien beispielsweise, sondern nur die jenes umfassenden kollektiven Gebildes der Gesellschaft. Denn die Fortsetzung der Aussage lautet, was nicht unterschlagen werden darf: »and there are families. And no government can do anything except through people, and people look to themselves first.« Eine nicht unerhebliche Rolle ist in diesem Zusammenhang wohl dem Berater Thatchers, Anthony Quinton, zuzuschreiben. 173 Society. Philosophy in the Real World, a. a. O., S. 118; What is an Institution?, in: Journal of Institutional Economics 1/1 (2005), S. 21. 172 Ein Transkript des von der Downing Street routinemäßig aufgezeichneten Gesprächs, welches auf den Internetseiten der Margaret Thatcher Foundation verfügbar ist, weicht in einigen Details, nicht aber in der Substanz von der Druckversion ab. Vgl. www.margaretthatcher.org/document/106689. 173 Darauf hat aufmerksam gemacht Pettit, Philip N.: Groups with Minds of their

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Denn Quinton, seines Zeichens Politiker und Philosoph, u. a. Präsident der Aristotelian Society und Vizepräsident der British Academy, gehörte in den 70er und 80er Jahren zu denjenigen Akademikern, die unter Premierministerin Thatcher das politische Profil der Conservative Party mitprägten. Und Quinton hat in einem neuerdings wiederentdeckten Aufsatz über Social Objects von 1975 eine Position bezogen, die Thatchers politischen Ausspruch philosophisch zu ermächtigen scheint. Dort schreibt er etwa: »We do, of course, speak freely of the mental properties and acts of a group in the way we do of individual people. Groups are said to have beliefs, emotions, and attitudes and to take decisions and make promises. But these ways of speaking are plainly metaphorical. To ascribe mental predicates to a group is always an indirect way of ascribing such predicates to its members. […] To say that the industrial working class is determined to resist anti-trade union laws is to say that all or most industrial workers are so minded.« 174

Offenbar steht Quinton gleichfalls auf einem nichtkollektivistischen Punkt, nur dass er diesen noch ausgreifender versteht als Thatcher. Danach sollen Aussagen über Soziales, sprich Gruppen oder Institution, in jedem Fall logisch äquivalent sein mit Aussagen über diejenigen Menschen, welche Mitglieder der jeweiligen Gruppe oder Institution sind. Die Zuschreibung von Meinungen, Gefühlen, Einstellungen an die ersteren sei immer zu durchschauen als eine bloß übertragene Weise, die betreffenden Meinungen, Gefühle, Einstellungen den letzteren zuzuschreiben, welche sie alle oder mehrheitlich teilen. Das ist es, was Quintons sozialontologischer Standpunkt besagen will, dass es keine Kollektivsubjekte, sondern lediglich Individualsubjekte gibt und dass diese dann und in dem Maße ein soziales Objekt, d. h. eine Gruppe oder Institution, ausmachen, wenn und als sie in gewissen Meinungen, Gefühlen, Einstellungen übereinstimmen: »I am an ontological individualist in believing statements about social objects to be statements about individuals, interrelated in certain ways.« 175 Das kommt in gewisser Weise dem gleich, was vor Quinton schon Sellars vorschwebt, wo er seine Auffassung von »shared intenOwn, in: Schmitt, Frederick F. (Hg.): Socializing Metaphysics. The Nature of Social Reality, Lanham 2003, S. 179 f. 174 Quinton, Anthony: Social Objects, in: Proceedings of the Aristotelian Society 75 (1975), S. 17. 175 Ebd., S. 5.

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tions« 176 bzw. »intersubjective intentions« 177 in Vorschlag bringt. Diese Auffassung begegnet im Zusammenhang von Sellars praktischer Philosophie und soll eine Antwort auf die Frage nach der Logik moralischen Sollens geben. Darauf treffe nämlich zum Mindesten das zu, dass es sich dabei um Absichten handelt, die in gewissem Sinne intersubjektiv sind, als sie von mehreren geteilt werden. 178 Und an einer Stelle seines Aufsatzes On Reasoning About Values aus dem Jahr 1980 streift Sellars die Problematik möglicher Kollektive. »It must also be carefully borne in mind«, schreibt er da, um Missverständnisse auszuräumen, »that although the concept of a group intention and a group action is a perfectly legitimate one, the […] intentions we are considering are intentions had by individuals. It is individuals who intend« 179. Danach ist es immer ein Ich, ein Individuum, welches eine »group intention« hat und sich an einer »group action« beteiligt. Ein darüber hinausreichendes und davon unterscheidbares Wir, ein »group mind« 180, wie Sellars sich bereits 1963 in Imperatives, Intentions, and the Logic of ›Ought‹ ausdrückt, gibt es nicht. Und auch Searles Ansicht zufolge sind niemals Kollektive, sondern stets Individuen der Träger sowohl individueller als auch kollektiver Intentionen. Daran kann keinerlei Zweifel bestehen, argumentiert er doch in seinem Aufsatz über Collective Intentions and Actions für einen Nichtkollektivismus, indem er aufstellt, dass alles, was wir über kollektive Intentionalität sagen, gewisse Bedingungen erfüllen muss. Die erste dieser Bedingungen (die zweite braucht uns nicht zu interessieren) ähnelt nicht allein dem Wortlaut nach Thatchers Behauptung; sie entspricht sogar mehr noch der Sache nach der Grundidee von Quinton und Sellars. Searle schreibt: »It must be consistent with the fact that society consists of nothing but individuals. Since society consists entirely of individuals, there cannot be a group mind or group consciousness. All consciousness is in individual minds, in individual brains. [Herv. d. Verf.]« 181

Sellars, Wilfrid: Imperatives, Intentions, and the Logic of ›Ought‹, a. a. O., S. 159. Sellars, Wilfrid: Science and Metaphysics. Variations on Kantian Themes, a. a. O., S. 219. 178 Siehe etwa Sellars, Wilfrid: Essays in Philosophy and its History, a. a. O., S. 40. 179 Sellars, Wilfrid: On Reasoning About Values, a. a. O., S. 98. 180 Sellars, Wilfrid: Imperatives, Intentions, and the Logic of ›Ought‹, a. a. O., S. 203. 181 Searle, John R.: Collective Intentions and Actions, a. a. O., S. 406. 176 177

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Diese Meinung hat Searle seitdem mehrfach wiederholt und bekräftigt, u. a. durch den Wiederabdruck des besagten Textes in der 2002 erschienen Aufsatzsammlung Consciousness and Language. 182 So auch und davor bereits in The Construction of Social Reality von 1995 183 sowie in dem Aufsatz Responses to Critics of The Construction of Social Reality 184 und später in Making the Social World aus dem Jahr 2010. 185 Es handelt sich demnach um eine Konstante in Searles Denken, nicht nur seiner anfänglichen Überlegungen zur besonderen Frage des Miteinanderhandelns, sondern auch der nachfolgenden und daraus hervorgegangenen zum allgemeinen Thema der Sozialontologie. Und die Behauptung lautet, dass jedwede Intentionalität – singuläre ebenso sehr wie plurale, volitive genauso wie kognitive oder affektive – allein einzelnen Menschen beizulegen ist. Das Subjekt, welches sie hat, soll vollständig mit individualistischen Begriffen zu beschreiben sein. Searles Weg zwischen der Scylla des Reduktionismus und der Charybdis des Kollektivismus hindurch besteht in der Annahme, dass es nicht Kollektive, sondern Individuen sind, die kollektive Intentionen (ganz so wie individuelle Intentionen) haben. Jene seien stets »in individual minds, in individual brains«. Alles, was über sie gesagt wird, sei es in spezieller Hinsicht auf das Miteinanderhandeln, sei es in ontologischer Hinsicht auf das Soziale überhaupt, müsse der Voraussetzung genügen, dass »society consists of nothing but individuals«. 186 Ich will, was sich darin zum Ausdruck bringt, als sozialontologischen Individualismus bezeichnen und unter dieser Bezeichnung nach sachlichen Gesichtspunkten darstellen. Den Referenzpunkt gibt dafür das menschliche Bewusstsein und dessen Intentionalität her, welches für die voranstehenden Betrachtungen leitend war. Die These

Vgl. Searle, John R.: Collective Intentions and Actions, in: Consciousness and Language, Cambridge 2002, S. 96. 183 Vgl. Searle, John R.: The Construction of Social Reality, a. a. O., S. 25 f. 184 »The collective’s existence consists entirely in the fact that there is a number of individual agents who think of themselves as part of the collective.« (Searle, John R.: Responses to Critics of The Construction of Social Reality, a. a. O., S. 450) 185 Vgl. Searle, John R.: Making the Social World. The Structure of Human Civilization, a. a. O., S. 44. 186 In nahezu wörtlicher Wiederholung von Thatchers Ausspruch behauptet auch Elster: »There are no societies, only individuals who interact with each other.« (Elster, Jon: The Cement of Society. A Study in Social Order, Cambridge 1989, S. 248) 182

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des sozialontologischen Individualismus lässt sich dann sowohl negativ als auch positiv formulieren. Negativ ausgedrückt lautet sie, um damit zu beginnen, dass aus dem Begriff dessen, der da intendiert, Soziales fernzuhalten sein soll: Das Soziale betreffe nicht den Träger bewusstseinsförmiger Intentionen. Denn Searle, indem er das Soziale, und zwar als solches, durch kollektive Intentionen expliziert, wie wir in Kapitel II.1 gesehen haben, und jene Intentionen, wie wir nun erfahren haben, geradeso wie individuelle Intentionen auch Individuen zuschreibt als denen, welche sie haben, lässt die besagten Individuen außen vor; sie bleiben bei ihm sozial unqualifiziert. Nur bisweilen sollen sie Intentionen tragen, die als soziale qualifiziert sind, kollektive eben, und ansonsten nicht, so im Falle individueller Intentionen. Mithin eliminiert die Vorstellung vom Individuum, mit welcher Searles ontologische Begriffsbildung des Sozialen operiert, jenes offensichtlich aus diesem: Der Intendierende sei allemal ein Individuum, und das wird von Searle de facto (wenn er es auch nicht explicite ausspricht) als etwas vollauf Asoziales veranschlagt, als etwas eben, darüber sich die Ontologie des Sozialen ausschweigen darf, ohne ihre Aufgabe zu verfehlen. 187 Und es ist exakt derselbe sozialontologische Individualismus, der sich bei den übrigen Theoretikern, welche wir im Vorstehenden durchgenommen haben, registrieren lässt. Darin wenigstens unterscheiden sich diese um kein Jota voneinander, dass sie allesamt Fälle einräumen, da die Intentionalität des Bewusstseins der Menschen nicht in Soziales verwickelt ist: für Simmel diejenige Erfahrung nicht, die einer auf dem Gebiet der Natur und also ohne die Anwendung von Sozialkategorien macht, für Weber dasjenige Handeln nicht, das Ego seinem subjektiv gemeinten Sinn nach nicht auf Andere bezieht, und für Schütz dasjenige Verhalten nicht, das keine auf Alter gerichtete Sinnkonstituierung ausmacht. So wenig, wie für Searle jedwede Intention auf die eine oder andere Weise eine gesellschaftliche Seite besitzt, so wenig ist für Simmel jedwede kategorial geordnete Erfahrung, für Weber jedwedes Handeln und für Schütz jedwedes Verhalten gesellschaftlich gefärbt. Das Soziale charakterisieren sie statt-

Der von mir hier eingeführte Begriff des Individualismus wird also nicht in wertender Bedeutung genommen. Er meint keine normative Hervorhebung des Individuums und seiner Individualität vor der Gesellschaft, keinen Maßstab dessen, wie man leben soll. Zu solch einem Individualismusbegriff siehe Taylor, Charles: The Malaise of Modernity, Concord, Ontario 1991, S. 13 ff.

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dessen lediglich als eine besondere Art des Erfahrens, Handelns und Verhaltens im Gegensatz zu anderen, welche davon unbetroffen sind. Das aber bedeutet, dass derjenige, welcher da erfährt, handelt oder sich verhält, in sozialontologischer Rücksicht unbestimmt verbleiben kann. Das Subjekt ist ihnen faktisch (ob nun mit voller Absicht oder eigentlich contra intentionem) ein ganz und gar auf sich vereinzeltes Ich, ein aus dem Kreis jedes Wir entrückter Privatier, was allerdings nicht hindern soll, dass die Ontologie des Sozialen zu einem glücklichen Ende kommt. 188 Und so auch bei etlichen Handlungstheoretikern. Das kommt nicht von ungefähr, denn richtungsweisend für die anfängliche Beschäftigung mit der Sache gemeinschaftlichen Handelns war deren Herkommen aus der analytischen Handlungstheorie der 1950er bis 1970er Jahre. 189 Jene hat sich bevorzugt auf die Analyse der Vorbereitung und Durchführung von Elementarhandlungen einsamer Akteure beschränkt und diese sang- und klanglos für eine Erklärung menschlichen Handelns überhaupt genommen. Handeln wird als ein Tätigsein analysiert, das durch eine einzelne Person instanziiert wird und an das bei Bedarf, wie man in der späteren Hinwendung zum vereinten Handeln zunächst glaubte, weitere Personen angestückt werden können, ohne dass sich die Natur der Tätigkeit ändert. Ein Ausläufer dieser Analysestrategie ist in der gegenwärtigen Diskussion darin mit Händen zu greifen, dass vorwiegend solche Aktivitäten, die man allein oder zusammen mit Anderen ausführen kann, als Modellfall herangezogen werden: spazieren gehen, 190 eine Weber notiert: »Handeln im Sinn sinnhaft verständlicher Orientierung des eignen Verhaltens gibt es für uns stets nur als Verhalten von einer oder mehreren einzelnen Personen.« Zwar mag es in anderen Zusammenhängen unvermeidlich sein, »soziale Gebilde (›Staat‹, ›Genossenschaft‹, ›Aktiengesellschaft‹, ›Stiftung‹) genau so zu behandeln, wie Einzelindividuen (z. B. als Träger von Rechten und Pflichten oder als Täter rechtlich relevanter Handlungen)«. Für die Soziologie dagegen sind derlei Gebilde »lediglich Abläufe und Zusammenhänge spezifischen Handelns einzelner Menschen, da diese allein für uns verständliche Träger von sinnhaft orientiertem Handeln sind«: »Und jedenfalls gibt es für sie keine ›handelnde‹ Kollektivpersönlichkeit.« (Weber, Max: Soziologische Grundbegriffe (1921), a. a. O., S. 6) 189 Für einen Überblick siehe White, Alan R. (Hg.): The Philosophy of Action, Oxford 1968; Meggle, Georg (Hg.): Analytische Handlungstheorie, Bd. 1: Handlungsbeschreibungen, Frankfurt a. M. 1977; Beckermann, Ansgar (Hg.): Analytische Handlungstheorie, Bd. 2: Handlungserklärungen, Frankfurt a. M. 1977. 190 Vgl. Gilbert, Margaret: Walking Together: A Paradigmatic Social Phenomenon, in: Midwest Studies in Philosophy 15 (1990), S. 1–14. 188

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Wasserpumpe bedienen, 191 kochen, 192 einen Baum fällen 193 oder einen liegen gebliebenen Kleinbus anschieben. 194 Dabei wird übersehen, dass manche und vielleicht sogar die meisten Aktivitäten, auf die wir uns verstehen, so geartet sind, dass man sie ausschließlich mit Anderen praktizieren kann. Man denke etwa an das Unterzeichnen eines Vertrages, ans Heiraten oder ans Grüßen. Das sind Aktivitäten, die Andere zwingend mit einschließen. Einen Vertrag zu unterschreiben, zu heiraten oder zu grüßen, erfordert ja stets jemanden, dem man sich vertraglich verpflichtet, den man heiratet und den man grüßt. 195 Diese Herangehensweise, das Allgemeine vom Besonderen her, das Handeln überhaupt vom singulären Handeln aus zu fassen, tendiert zu einem sozialontologischen Individualismus. Dieser bricht dann in der Frage nach dem pluralen Handeln mehrerer Akteure auf. Denn wenn die Konzeption des individuellen Tätigseins einer Person nicht in irgendeiner Weise schon Soziales in Rechnung zieht – was leicht unterbleibt, weil eben kein Anderer involviert ist –, sondern erst im kollektiven Tätigsein vieler Personen Soziales am Werk sieht, dann gerät die Konzeption auf eine individualistische Spur. Sie nimmt keinerlei Notiz von Gesellschaftlichem und darum den Akteur als ein von Gesellschaftlichem unbeflecktes Selbst. Dieser soll, wie sich aus der analytischen Tradition der Handlungstheorie ergibt, nur manchmal in gesellschaftlichen Zusammenhängen stehen, dann nämlich, wenn ein anderer Handelnder beteiligt ist, auf den er sich bewusst bezieht und an dem er seine Intentionen orientiert; ansonsten aber nicht. Mithin ist er (mag das in aller Ausdrücklichkeit vertreten oder unausdrücklich angesetzt werden) keineswegs von sich aus ein vergesellschaftetes Wesen. Sonst müsste sein Gesellschaftlichsein als vorauszusetzender Erklärungsgrund fruchtbar gemacht werden für diejenigen Tätigkeiten, welche er mit Anderen gemeinsam verrichtet, was aber nicht geschieht. Und es braucht nicht zu geschehen, weil dessen Ausbleiben der gegebenen Erklärung offenbar keinen Abbruch tun soll. Vgl. Bratman, Michael E.: I Intend that We J, in: Holmstrom-Hintikka, Ghita/ Tuomela, Raimo (Hg.): Contemporary Action Theory, Bd. 2: Social Action, Dordrecht 1997, S. 54 ff. in Anlehnung an Anscombe, Gertrude E. M.: Intention, a. a. O., S. 37 ff. 192 Vgl. Searle, John R.: Collective Intentions and Actions, a. a. O., S. 410 f. 193 Vgl. Miller, Seumas: Joint Action, in: Philosophical Papers 21/3 (1992), S. 278. 194 Vgl. Tuomela, Raimo: We Will Do It: An Analysis of Group-Intentions, in: Philosophy and Phenomenological Research 51/2 (1991), S. 254 f. 195 Vgl. Baier, Annette C.: The Commons of the Mind, Chicago 1997, S. 26 f. 191

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Der sozialontologische Individualismus

Tatsächlich votieren viele Handlungstheoretiker dem eigenen Bekunden nach für einen individualistischen Standpunkt. Und dieser Individualismus entspricht durchaus, wenn sie so etwas auch nicht extra bekunden, der von mir gegebenen Charakterisierung. Ich möchte hier nur drei einschlägige Namen herausgreifen, deren Ansätze in der beschriebenen Weise unterkomplex bleiben. Seumas Miller expliziert gemeinsames Handeln in zahlreichen Publikationen über die gemeinsamen Zwecke, welche dabei verfolgt werden. Und er gibt seine diesbezügliche »Collective End Theory« als »strong form of individualism« aus; denn »the constitutive attitudes involved in joint actions are individual attitudes; there are no sui generis we-attitudes« 196. Michael Bratman untersucht das spezifische Phänomen der Shared Cooperative Activity, einer zwang- und autoritätslosen Form gemeinschaftlichen Tuns, »in terms of attitudes and actions of the individuals involved«. Die Untersuchung sei insofern »broadly individualistic in spirit« 197. Zuletzt vermerkt auch Tuomela in Anbetracht der von ihm eingeführten Kategorie der we-intention bzw. des wemode einer Intention: »It is not necessary to regard groups as entities in an ontological sense«. Worin auch immer Wir-Absichten oder der Wir-Modus des Beabsichtigens bestehen mag, »›groupness‹ is in the last analysis attributed to individuals« 198. Ich behaupte nicht, dass die aufgeführten Denker für dasjenige Stellung beziehen, was ich als sozialontologischen Individualismus erläutert habe. Nirgendwo proklamieren sie etwas der Art, dass der Träger von Bewusstsein und Intentionalität asozial sei oder dass ein Mensch nicht stets Verwicklungen in Soziales aufweise. Und doch; indem sie denjenigen, welcher da bewusst intendiert – der irgendetwas erfährt, irgendwie handelt oder sich verhält, der ein collective end verfolgt, an einer shared cooperative activity teilnimmt oder sich Miller, Seumas: Joint Action: The Individual Strikes Back, in: Tsohatzidis, Savas L. (Hg.): Intentional Acts and Institutional Facts. Essays on John Searle’s Social Ontology, Dordrecht 2007, S. 73. Zum Begriff kollektiver Zwecke siehe bereits Miller, Seumas: Lewis on Conventions, in: Philosophical Papers 11/2 (1982), S. 5 f.; Conventions, Interdependence of Action, and Collective Ends, in: Noûs 20/2 (1986), S. 117– 140; Social Action. A Teleological Account, Cambridge 2001, S. 56 ff. 197 Bratman, Michael E.: Shared Cooperative Activity, in: The Philosophical Review 101/2 (1992), S. 341. Siehe auch Shared Intention, in: Ethics 104/1 (1993), S. 112 f. 198 Tuomela, Raimo: The Importance of Us. A Philosophical Study of Basic Social Notions, Stanford 1995, S. 199. Tuomela »eschews«, wie er sagt, »spooky holistic entities« (S. ix). Siehe auch A Theory of Social Action, a. a. O., S. 11; Cooperation. A Philosophical Study, Dordrecht 2000, S. 65. 196

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»Society consists of nothing but individuals« (Searle)

mit einer we-intention bzw. einer Absicht im we-mode trägt –, nicht zur Erklärung der jeweiligen Phänomene und deren Sozialität heranziehen, drückt sich darin die Behauptung aus, dass die Phänomene und deren Sozialität auch nicht daraus zu erklären sind. Die genannten Autoren unterstellen implicite, dass im menschlichen Selbst nichts liegt, wodurch dieses den Grund hergibt für die Möglichkeit bewusstseinsmäßigen Intendierens, des Erfahrens, Handelns und Verhaltens sowie des Verfolgens eines collective end, der Teilnahme an einer shared cooperative activity und des Sichtragens mit einer we-intention bzw. einer Absicht im we-mode. Sie behandeln jenes so, und bleiben damit unterhalb der nötigen Komplexität, dass es kein vorauszusetzendes Potenzial zu den je fraglichen sozialen Erscheinungen in sich schließt. Worin aber besteht dann für Searle das Kennzeichnende beider Intentionalitätstypen? Die Frage bleibt: Woran macht sich der kollektive Charakter kollektiver Intentionen fest, woran der individuelle Charakter individueller Intentionen? Wir haben gesehen, dass Simmel das Soziale durch diejenige Erfahrung charakterisiert, die einer auf dem Gebiet der Gesellschaft und also durch die Anwendung gewisser, nämlich gesellschaftlicher, Kategorien macht, Weber durch dasjenige Handeln, bei dem Ego seinem subjektiv gemeinten Sinn nach an anderen Menschen orientiert ist, und Schütz durch dasjenige Verhalten, das eine auf Alter bezogene Sinnkonstituierung darstellt. Und wir haben uns klargemacht, dass das Soziale damit dem intentionalen Gehalt des menschlichen Bewusstseins oder dessen intentionaler Form beigelegt wird. Und auch bei Searle verhält es sich nicht anders. Denn wenn die Absichten, welche Akteure mit ihrem Tun und Lassen realisieren, in singuläre Ich-Absichten und plurale Wir-Absichten zu differenzieren sind – was Searles Nichtreduktionismus behauptet –, und wenn das Wir der letzteren nicht auf einen irgendwie differenten Träger referiert, der da beabsichtigt, weil dieser stets das Ich der ersteren ist – wie Searles Nichtkollektivismus behauptet –, dann gleitet das Wir zwangsläufig ab in die von mir (und Searle selbst) unterschiedenen Strukturelemente bewusster Intentionalität, entweder in deren Was oder in deren Wie. Einerseits sind nach Searle volitive Intentionen andere, je nachdem, ob ein individuelles oder kollektives Handeln aus ihnen hervorgeht; sie sollen nicht nur äußerlich durch eine kognitive Intention begleitet, sondern innerlich verschieden geartet und so eine »primitive form of intentionality« sein. Andererseits aber ist 105 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

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das intentionale Subjekt Searle zufolge immerzu das gleiche; individuelle sowohl als auch kollektive Intentionen sollen »in individual minds, in individual brains« sein. Beides geht aber doch nur derart zusammen, dass die Individualität individueller Intentionen und die Kollektivität kollektiver Intentionen in Wahrheit das Intendierte oder das Intendieren anbelangt. Eine weitere Möglichkeit steht nicht zur Verfügung. Ich kann unkommentiert lassen, dass Searle mit der Option zu liebäugeln scheint, wonach die Kollektivität kollektiver Intentionen das Was des Bewusstseins, sprich das Intendierte, anbelangt. Das Soziale an einer Intention ist ihm allem Anschein nach, dass sie etwas Soziales, eine soziale Tatsache (social fact), intendiert, wie etwa die Geigenspielerin intendiert, mit den Anderen des Orchesters zu musizieren, oder der Stürmer intendiert, mit Anderen an einem Footballspiel teilzunehmen. Es genügt für meine Zwecke, herausgestellt zu haben, dass das Wer des intentionalen Bewusstseins, das Ich, für ihn kein Wir ist. 199 Die These des sozialontologischen Individualismus lässt sich nun ohne Schwierigkeit ins Positive kehren. Sie läuft darauf hinaus, dass das Soziale in der einen oder anderen Weise jene und nur jene Komponenten des Bewusstseins der Menschen angeht, welche ich bisher namhaft gemacht habe. Es soll entweder den Inhalt oder die Form menschlicher Intentionalität betreffen: Im Begriff desjenigen, was einer intendiert, oder dessen, wie er es intendiert, habe allein das Soziale zu liegen. Beide Analyseansätze, die dem intentionalistischen Nachdenken über das Soziale möglich sind und auch wirklich ihre Befürworter gefunden haben, wie das Beispiel von Simmel, Weber, Schütz und Searle vor Augen führt, heften dieses – und müssen das auch tun, wenn anders derjenige, dessen Bewusstsein sich auf irgendeine Weise zu irgendetwas verhält, davon ausgenommen bleiben soll – ausschließlich an das, zu dem sich das Bewusstsein verhält, oder an sein Verhalten dazu. 200

Wie Searle andeutet, seine These »requires us to postulate that mental states can make reference to collectives«. (Searle, John R.: Collective Intentions and Actions, a. a. O., S. 407 f.) 200 Wie Stoutland mit Blick auf Bratman, Searle und Tuomela sagt: »But the antisocial bias remains because even when the content of the attitudes is social, the attitudes themselves are ascribed not to social groups per se but to their members.« (Stoutland, Frederick: Why are Philosophers of Action so Anti-Social?, in: Alanen, 199

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»Society consists of nothing but individuals« (Searle)

Und so ebenfalls bei den drei aufgezählten Handlungstheoretikern. Ohne auf Details eingehen zu müssen, lässt sich sagen, dass gemäß Miller »there are irreducibly collective entities«, dass aber »such entities can and do figure in the content of individual attitudes, e. g. John Searle believes that Finland but not Australia or the USA is a member of the European Union [Herv. d. Verf.]« 201. In seiner Darlegung gemeinsamen Handelns (joint actions) lokalisiert Miller das Gemeinsame solchen Handelns einzig in den Zwecken, welche die Beteiligten verfolgen und die kollektive Zwecke (collective ends) sind, sowie in den Überzeugungen, welche die Beteiligten voneinander hegen. 202 Bratmans Analyse dessen, was er geteiltes kooperatives Handeln (shared cooperative activity) nennt, platziert das Soziale allein in dem von den Akteuren Gewollten. Nicht beabsichtigen diese zusammen mit Anderen, ein Haus zu streichen, wie eines seiner Beispiele geht, sondern jeder von ihnen beabsichtigt, das Haus zusammen mit Anderen zu streichen. Wie es der Titel eines Aufsatzes von Bratman auf den Punkt bringt: I Intend that We J.203 Schließlich behauptet Tuomela, dass zwar »the ›sociality‹ or ›social relatedness‹ central to people’s acting together in a basic sense comes from their relevant weattitudes« 204. Doch jemand wir-beabsichtigt eine Handlung, wie Tuomela ausführt, insofern er diese als Teil eines vereinten Handelns mit Anderen versteht und gewisse Überzeugungen über jene hat. Das Soziale wird abermals exklusiv in einen Zustand des Bewusstseins neben anderen verlegt. 205

Lilli/Heinämaa, Sara/Wallgren, Thomas (Hg.): Commonality and Particularity in Ethics, Basingstoke 1997, S. 46) 201 »However, the existence of collective entities does not entail the existence of collective agents, and specifically, it does not entail the existence of supra-individual or we-attitudes.« (Miller, Seumas: Joint Action: The Individual Strikes Back, a. a. O., S. 74) 202 Vgl. ebd., S. 76; Joint Action, a. a. O., S. 277 ff.; Social Action. A Teleological Account, a. a. O., S. 57; Intentions, Ends and Joint Action, in: Philosophical Papers 24/1 (1995), S. 52 ff. 203 »Just what are the relevant intentions of the individuals, and how are they interrelated when there is shared intention – when we intend that we J? My answer was that when you and I together intend to to J we each intend that we J« (Bratman, Michael E.: I Intend that We J, a. a. O., S. 49). Siehe auch Shared Cooperative Activity, a. a. O., S. 333 f.; Shared Intention, a. a. O., S. 106. 204 Tuomela, Raimo/Miller, Kaarlo: We-Intentions, a. a. O., S. 370. 205 Vgl. ebd., S. 375; The Importance of Us. A Philosophical Study of Basic Social Notions, a. a. O., S. 37 ff., 145 ff.; Cooperation. A Philosophical Study, a. a. O., S. 36 f.;

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Gewiss wird oft unterschieden, und keineswegs nur auf dem Feld der Sozialontologie, zwischen einem starken, ontologischen und einem schwachen, methodologischen Individualismus. Zu dem letzteren bekennt sich beispielsweise prominent Weber in seinen Methodenreflexionen, ohne allerdings den Ausdruck zu verwenden. Danach sind »Kollektivgebilde Vorstellungen von etwas teils Seiendem, teils Geltensollendem in den Köpfen realer Menschen […], an denen sich deren Handeln orientiert« 206. Sie sollen durchaus eine, mitunter geradezu beherrschende Rolle für die Wahl und den Ablauf des Verhaltens der Menschen spielen. Insofern dürfe die verstehende Soziologie sie keineswegs ignorieren. Doch bleibe das soziologische Verstehen gleichwohl strikt der »individualistische[n] Methode« 207 verpflichtet. Ausnahmslos sollen Kollektivgebilde aus dem subjektiv gemeinten Handlungssinn der Akteure erklärt werden. Dadurch sinken sie zu etwas subjektiv Gemeintem herab, dem jenseits des Handlungssinns der Akteure nichts entsprechen muss. Searle hingegen spricht in seinem Aufsatz Collective Intentions and Actions von »methodological individualism« 208. Mit diesem Etikett versieht er die beiden Bedingungen, denen seiner Meinung nach jedwede Auseinandersetzung mit dem Phänomen gemeinsamen Hadelns zu genügen hat. Und er behält diese Redeweise auch in seinen nachfolgenden Schriften zur Ontologie des Sozialen bei. 209 Wie der methodologische Individualismus zu präzisieren ist, bleibt notorisch schillernd. 210 Die Aufschlüsselung der Momente, aus denen sich das menschliche Bewusstsein zusammensetzt, kann jedoch Abhilfe schaffen. Anhand der von mir eingeführten intentionalistischen Terminologie kann man eine Präzisierung erreichen, womit nicht behauptet sein soll, dass sich dazu nicht noch mehr sagen

The Philosophy of Social Practices. A Collective Acceptance View, Cambridge 2002, S. 23. 206 Weber, Max: Soziologische Grundbegriffe (1921), a. a. O., S. 7. 207 Ebd., S. 9. 208 Searle, John R.: Collective Intentions and Actions, a. a. O., S. 415 Anm. 209 Vgl. Searle, John R.: Responses to Critics of The Construction of Social Reality, a. a. O., S. 449 f.; The Construction of Social Reality, a. a. O., S. 25; Social Ontology and the Philosophy of Society, a. a. O., S. 149; Making the Social World. The Structure of Human Civilization, a. a. O., S. 47. 210 Siehe dazu Hodgson, Geoffrey M.: Meanings of Methodological Individualism, in: Journal of Economic Methodology 14/2 (2007), S. 211–226.

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ließe. 211 Danach scheint sich der methodologische Individualismus damit zu begnügen, lediglich vorzugeben, wie man ein bestimmtes Phänomen, das Soziale beispielsweise, zu betrachten hat. Jenes soll im Ausgang vom Individuum, und d. h. eben vom Bezugsgehalt oder der Bezugsform seiner bewussten Intentionalität, geschehen. 212 Demgegenüber trifft der ontologische Individualismus Aussagen darüber, was die betreffende Sache, in unserem Fall das Soziale, ist. 213 Und zwar sei jenes ein Attribut des Individuums, nämlich des Bezugsgehalts oder der Bezugsform seiner bewussten Intentionen. Bei der einen Sorte von Individualismus scheint sonach die Betrachtungsweise eines Themas im Vordergrund zu stehen, bei der anderen dessen Seinsweise. 214 Doch die Entgegensetzung von ontologischem und methodologischem Individualismus ist trügerisch. Denn der eine kommt in Wirklichkeit gar nicht ohne den anderen aus. Eine bestimmte Art der Betrachtung zu verordnen, muss doch davon ausgehen, dass diese auch imstande ist, die betreffende Art von Erscheinung zu Gesicht zu bekommen. Ein bestimmtes Verfahren des Erkennens ist allein unter der Voraussetzung aussichtsreich, dass es nicht an dem zu Erkennenden vorbeigeht, ihm vielmehr entspricht. Das eine bleibt von dem anderen abhängig: Die Methodik ist, wenn man so will, relativ auf die Ontologie. Und auch das Soziale lässt sich nur in den Begriff bringen, wenn das Begreifen sachangemessen vorgeht. Wer dafürhält, dass sich das Soziale im Rückgang auf das Was oder das Wie des Bewusstseins der Individuen erschließen lässt, der präsumiert, Aufgebracht hat den Terminus Schumpeter, Joseph: Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, Leipzig 1908, S. 88 ff. 212 Ähnlich Elster: »all social phenomena – their structure and their change – are in principle explicable in ways that only involve individuals – their properties, their goals, their beliefs and their actions«. (Elster, Jon: Making Sense of Marx, Cambridge 1985, S. 5) Zu nennen ist in diesem Zusammenhang neben Karl Popper, auf den ich in Kapitel IV.1 noch zu sprechen komme, Watkins, John W. N.: The Principle of Methodological Individualism, in: The British Journal for the Philosophy of Science 3/10 (1952), S. 186–189. 213 »Ontological individualism asserts a kind of dependence of the social on the individual.« (Epstein, Brian: Ontological Individualism Reconsidered, in: Synthese 166/1 (2009), S. 189) 214 So auch Ruben, der dem »methodological individualism« allerdings den »metaphysical individualism« entgegenstellt. (Ruben, David-Hillel: The Metaphysics of the Social World, London 1985, S. 131) Siehe dazu neuerdings Zahle, Julie/Collin, Finn (Hg.): Rethinking the Individualism-Holism Debate. Essays in the Philosophy of Social Science, Dordrecht 2014. 211

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und sei es auch stillschweigend, dass die Individuen neben dem Was oder Wie ihres Bewusstseins nicht sozial bestimmt sind: dass alles, was etwas Soziales ist, hier zu suchen oder von daher abzuleiten ist. Der vermeintlich schwache methodologische Individualismus impliziert mithin einen starken ontologischen Individualismus, wenn auch derjenige, welcher dem ersteren das Wort redet, den letzteren für gewöhnlich von sich weist. 215

5.

Der dritte Baustein der Intentionalität des menschlichen Bewusstseins

Wir sind im Vorigen zum ersten Mal an die Grenze gestoßen, welche intentionalistische Ansätze ziehen. Danach legt sich die so betriebene Ontologie des Sozialen, dieses Fazit ist festzuhalten, auf eine individualistische Analyse fest. Denn wo man die notwendige und hinreichende Bedingung dafür, dass etwas etwas Soziales ist, in intentionale Akte des menschlichen Bewusstseins, genauer in das Intendierte oder das Intendieren, verlegt und der Träger des Bewusstseins – was nur die andere Seite der Medaille darstellt – ohne jeden Belang sein soll, um diese Bedingung ausfindig zu machen, da weist das Bewusstsein des Menschen nicht als solches einen sozialen Schlag auf. Lediglich eine bestimmte Klasse der Intentionen, welche jemand bewusst hat, ist auf diese Weise gesellschaftlich ausgezeichnet, nicht aber auch dieser jemand selbst und dadurch womöglich sämtliche seiner bewussten Intentionen. Das eben ist die selbstgezogene Grenze, über welche die genannten Autoren nicht hinauskommen. Der sozialontologische Individualismus ist nicht gewillt, das zu denken. Ob man es denken muss, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt freilich noch nicht erwiesen. Sollte es sich aber erweisen lassen, ist das intentionalistische Paradigma entkräftet und dokumentiert, dass und inwiefern es der Sache des Sozialen nicht gewachsen ist. Die Ansicht, welche ich unter der politisch und auch sonst gänzlich desengagierten Signatur des ›Individualismus‹ fasse, durchzieht

So auch Bühler, Axel: Wir-Absichten in der individualistischen Sozialontologie, in: Baurmann, Michael (Hg.): Perspectives in Moral Science, Frankfurt a. M. 2009, S. 85 f. Anm.; Currie, Gregory: Methodological Individualism: Philosophical Aspects, in: Smelser, Neil J./Baltes, Paul B. (Hg.): International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, Bd. 16, Oxford 2001, S. 9755.

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aber ganz und gar nicht nur handlungstheoretische oder sozialontologische Bemühungen. Sie ist überhaupt kein alleinstellendes Merkmal philosophischer Theoriekonstruktion, sondern geht bei Weitem darüber hinaus. Die gesteigerte, zuweilen übersteigerte Betonung von Individualität und die Ausbildung einer entsprechenden Semantik ist grosso modo vielmehr ein Spezifikum der Moderne, das in der Philosophie, welche diese denkend begleitet oder vorantreibt, ebenso wie anderswo widerscheint. Es ist dies ein Individualismus, der sich mit seinen vielfältigen Gesichtern vielleicht keinem einheitlichen Verständnis einfügt (was hier auch gar nicht versucht werden soll), der aber infolge historischer Umbrüche auf verschiedensten Gebieten der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu einer Grundfeste der neuzeitlichen Geisteshaltung emporgestiegen ist. Und diese individualistische Geisteshaltung trägt in einer ihrer Erscheinungsformen durchaus ontologische Züge. 216 Gemäß der von Ulrich Beck aufgebrachten soziologischen Individualisierungsthese etwa hat die allmähliche Heraufkunft und Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft zum einen die Auflösung stabiler und fragloser traditioneller Bindungen etwa in Familie und Gemeinde, Stand und Klasse vollzogen sowie zum anderen deren Ablösung durch eine neue Vielfalt ungekannter Verhaltensspielräume und experimenteller Lebensformen sowie den wachsenden Zwang zu reflexiver Lebensführung. 217 Identitäts- und Sinnfindung ebenso wie Art und Ausmaß des Eingebundenseins in gesellschaftliche Verhältnisse mitsamt der Integration unterschiedlicher, mitunter widersprüchlicher Rollenerwartungen bleiben zunehmend dem Individuum überlassen; sie werden zu einer individuell zu erbringenden »Modern culture has developed conceptions of individualism which picture the human person as, at least potentially, finding his or her own bearings within, declaring independence from the webs of interlocution which have originally formed him/ her, or at least neutralizing them. It’s as though the dimension of interlocution were of significance only for the genesis of individuality, like the training wheels of nursery school, to be left behind and to play no part in the finished person.« (Taylor, Charles: Sources of the Self. The Making of Modern Identity, Cambridge, Mass. 1989, S. 36) Siehe auch MacIntyre, Alasdair: After Virtue. A Study in Moral Theory, Notre Dame 1981, Kap. 3. 217 Vgl. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986. Im Anschluss an Luhmanns Theorie moderner, funktional differenzierter Gesellschaften auch Schimank, Uwe: Funktionale Differenzierung und reflexiver Subjektivismus. Zum Entsprechungsverhältnis von Gesellschafts- und Identitätsform, in: Soziale Welt 36 (1985), S. 447–465. 216

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und zu verantwortenden Leistung. Die nunmehrige Lebensrealität, gelegentlich zur »Wahlbiographie« 218 oder »Bastelexistenz« 219 sicherlich überspitzt, ermöglicht und verlangt in größerem Umfang als ehedem, dass der Einzelne selbst die vielschichtige Balance wieder und wieder für sich interpretiert und herstellt zwischen dem Aufgehen in Erwartungen der Gesellschaft und einem die eigene Individualität auskostenden Anderssein. Immer öfter soll er sich vor eine Wahl zwischen Gegensätzlichem gestellt finden, aus denen er sich seine Identität und einen Lebenssinn zusammenzubasteln habe. Mehr von dem einen heißt dabei weniger von dem anderen und umgekehrt: Soziales oder Individuelles. 220 Der Gegensatz von Sozialem und Individuellem ist jedoch nicht in jedem Fall ein ausschließender. Die Aufmerksamkeit auf die lebendig gesprochene Sprache unserer Tage gibt darauf Anzeige. Nicht nur, dass der Gebrauch des Wortes ›individuell‹ mitnichten auf den Bereich menschlicher Gesellschaft eingeschränkt ist. Auch jenseits dessen machen wir in der belebten und unbelebten Natur Individuen aus: diesen Fuchs im Unterschied zu jenem, diese Linde, diesen Kieselstein usw. Auf solche Weise sprechen wir an, was nicht allen Füchsen, Linden und Kieselsteinen als Vertretern ihrer Gattung gemeinsam ist und an jedem sich gleichermaßen wiederfindet. Gemeint ist das tierische, pflanzliche oder mineralische Einzelne, und zwar so, dass neben der Übereinstimmung, welche es mit anderen Vertretern seiner Gattung verbindet, seine Eigentümlichkeit herausgestellt wird, die es von den anderen abhebt. Individualität als solche, die Einzelnheit eines Einzelnen, ist sonach keineswegs gleichzusetzen mit dem, was im Falle des Menschen Sozialem entgegengesetzt ist. 221 Vgl. Ley, Katharina: Von der Normal- zur Wahlbiographie?, in: Kohli, Martin/ Robert, Günther (Hg.): Biographie und soziale Wirklichkeit. Neue Beiträge und Forschungsperspektiven, Stuttgart 1984, S. 239–260. 219 Vgl. Hitzler, Ronald/Honer, Axel: Bastelexistenz. Über subjektive Konsequenzen der Individualisierung, in: Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1994, S. 307–315. 220 Diesen Gegensatz sieht auch Habermas in seiner Übersicht über die Geschichte des Wortes ›Individuum‹ in der »philosophischen Bildungssprache«. (Habermas, Jürgen: Individualisierung durch Vergesellschaftung. Zu G. H. Meads Theorie der Subjektivität, in: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 1988, S. 192) 221 Zum philosophiegeschichtlichen Hintergrund dieser Semantik siehe Kobusch, Theo: Individuum, Individualität, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): His218

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Und selbst innerhalb des Bereichs menschlicher Gesellschaft meldet der sprachliche Ausdruck ›individuell‹ gar nicht automatisch etwas an, das nichts Soziales ist. Einesteils proklamiert der Soziologe mit Individualisierung keineswegs das historische Ende jedweder Art von Gesellschaft, nicht die Vereinsamung der Menschen zu abgenabelten, in sich verschlossenen Existenzen. Beck meint damit gerade einen eigenen Modus der Vergesellschaftung. Der Einzelne wird dann anstatt qua Zugehörigkeit zu Familie oder Gemeinde, Stand, Klasse oder Ähnlichem von nun an direkt, d. h. qua Einzelner, durch die Gesellschaft berücksichtigt und in Anspruch genommen. Das Verhältnis zwischen Einzelnem und Gesellschaft wird zu einem unmittelbaren. 222 Anderenteils zeichnet es gewisse Sozialbeziehungen gerade aus, Individualität großzuschreiben. Das trifft hauptsächlich auf moderne Freundschafts-, Liebes- und Familienbeziehungen zu. Sie gestalten sich und sollen sich in erheblichem Maße nach der Besonderheit der beteiligten Personen gestalten. Insofern sind sie sowohl individualisierungsfähig als auch individualisierungsbedürftig, ohne dadurch ihres gesellschaftlichen Charakters verlustig zu gehen. Eltern etwa mögen ihre Kinder individuell erziehen, zugeschnitten auf deren momentane Bedürfnisse oder spätere Aufgaben; und ein Grandhotel mag damit werben, seine Gäste individuell zu betreuen. 223 Und doch, wenn die Rede von Individuellem auch nicht allemal das andere des Sozialen nennt, kündigt sich hier gleichwohl ein zentrales Problem für die Ontologie des Sozialen an. Keineswegs gibt es ja nichts, das nicht etwas Soziales ist; niemand ist in jeglicher Hinsicht sozial. 224 Generell gilt, dass ein jedes, das überhaupt nur etwas torisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4: I-K, Basel 1976, Sp. 300–304. Im Grimm’schen Wörterbuch findet sich 1877 noch kein Eintrag zu ›Individuum‹ oder ›individuell‹. Vgl. Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 4, 2: H, I, J, Leipzig 1877, Sp. 2112. 222 Vgl. Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth: Nicht Autonomie, sondern Bastelbiographie. Anmerkungen zur Individualisierungsdiskussion am Beispiel des Aufsatzes von Günter Burkart, in: Zeitschrift für Soziologie 22 (1993), S. 178–187. 223 Zur gesellschaftlichen Individualisierung von Liebe und Familie siehe Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth: Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt a. M. 1990. 224 Eine ausufernde Wortverwendung von ›sozial‹, die suggeriert, dass es scheinbar nichts gibt, das nicht etwas Soziales ist, beklagt von Hayek, Friedrich A.: Was ist und was heißt ›sozial‹ ?, in: Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung. Aufsätze zur Politischen Philosophie und Theorie, GS 5, Tübingen 2002, S. 251–260.

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Bestimmtes ausmacht, das, was es ist, immer auch im Gegensatz zu dem ist, was es nicht ist. Insofern aber ein jedes seine Bestimmtheit mit aus den mannigfaltigen Bezügen zu anderem empfängt, das es jeweils nicht ist, heißt eine Sache in ihrer Bestimmtheit sehen immer auch sie in Abgrenzung zu Ähnlichem und Verschiedenem sehen. In diesem Sinne muss der ontologischen Frage nach dem Sozialen die nach dem Verhältnis zu immerhin einigem Nichtsozialem – wie ich wieder substantivisch und allgemein, sprich innerer Differenzierungen ungeachtet, formulieren will – zur Seite gehen. Nicht als eine Schwierigkeit, der man sich genauso gut auch verweigern kann, vielmehr drängt sich der Sozialontologie damit eine zweite Aufgabe an, die sich mit der ersten zu einer zusammennimmt. Denn je nachdem sich das eine gegen das andere abhebt, ist es eben anders begrifflich zu bestimmen. Das Soziale ist mit dem Nichtsozialen zusammenzusehen und seinem Begriff nach dagegen abzugrenzen. 225 Dieses Problem stellt sich im Hinblick auf die geistige Dimension des Menschen. Insofern sich nämlich die Rede von Individuellem nicht auf die natürliche Seite des Menschen bezieht, sondern wie die von Sozialem allein auf seine geistige Realität (wie auch die bislang behandelten Autoren durch ihre Fokussierung aufs Bewusstsein und dessen Intentionalität unterstellen und auch ich von Beginn an unterstellt habe), und insofern es der einzelne Mensch ist, den man, indem er als ›Individuum‹ angesprochen wird, in irgendeiner Hinsicht gegen die Gesellschaft abgrenzt, hebt man damit auf dessen Partikularität, also auf dasjenige ab, was an ihm einzigartig, unverwechselbar und bei Anderen so nicht auch zu finden ist: auf das Individuelle als etwas am menschlichen Geist, das nicht etwas Soziales ist. Keiner von uns geht ja in der gesellschaftlichen Welt, welcher er angehört, auf, ohne dass nicht immer auch gewisse Eigenheiten, Unterschiede, Abweichungen seine Persönlichkeit mit ausmachen. Die gesellschaftliche Ordnung wiederum kann das in unterschiedlichem Maß zulassen oder sogar fordern. Derart verstanden ist der Gegensatz von Sozialem und Individuellem gar ein kontradiktorischer. Bezogen auf die geistige Realität des einzelnen Menschen bildet das Individuelle das durch bloße Ähnlich setzt Steffen die Fundamentalaufgabe einer, wie er es nennt, allgemeinen Gesellschaftswissenschaft als die Doppelfrage an: »Worin besteht überhaupt das Wesen des Sozialen zum Unterschiede von allem andern Dasein?« (Steffen, Gustav F.: Der Weg zu sozialer Erkenntnis, Jena 1911, S. 11) Siehe auch S. 8.

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Negation zu erreichende Gegenteil von Sozialem. Das eine ist dem anderen nicht nur entgegengesetzt: Was an der geistigen Seite eines Menschen etwas Individuelles ist (z. B. an seinem Bewusstsein und dessen Intentionalität), das ist nicht sozial, und was an ihm etwas Soziales ist, das ist nicht individuell. Sondern die Entgegensetzung fällt sogar derart aus, dass es kein Drittes gibt. Was auch immer dabei infrage kommen, sprich sozial oder individuell sein mag, ist entweder von dieser oder von jener Art: Wenn an der geistigen Seite eines Menschen etwas nicht etwas Individuelles ist, dann ist es sozial, und wenn etwas nicht etwas Soziales ist, dann ist es individuell. Sozial heißt dann in Entsprechung zu individuell – nicht, wie bei den durchgenommenen Autoren, Andere bewusst zu intendieren, sondern – so viel wie nicht von Anderen abweichen, sich nicht von ihnen unterscheiden, nicht einzigartig sein. Oder positiv gesprochen: in irgendeiner Hinsicht mit ihnen übereinstimmen. In Bezug auf die geistige Dimension des Menschen ist das Individuelle das Nichtsoziale. In dieser Weise hat etwa Vilfredo Pareto vorgeschlagen, das ontologisch verstandene Gegenteil zu sozial sei »individuell« 226. Und auch der Begriff des menschlichen Individuums, mit dem Simmel, Weber und Schütz, Searle, Miller, Bratman, Tuomela sowie andere arbeiten, liegt ganz auf dieser Linie. Er steht auf die besagte Art und Weise im Gegensatz zum Begriff der menschlichen Gesellschaft. Individualität ist den genannten Autoren ebenso wie Pareto, auch wenn sie sich nicht derart ausdrücken, innerhalb des Bereichs des Geistigen das Nichtsoziale. In Kapitel VIII werde ich mich in Gestalt der Natur mit einem weiteren Gegenteil von Sozialem beschäftigen. Durch Searles an Anscombe angelehnte Unterscheidung zwischen social facts und brute facts beispielsweise ist dieser Unterschied in der Ontologie des Sozialen gleichfalls präsent. Jedoch liegt die Natur gerade außerhalb des Bereichs des Geistigen. Insofern die Natur dem Geist entgegensteht als etwas Nichtgeistiges, ist die Natur, weil nur der Geist sozial sein kann, nichts Soziales. Ob dieser Gegensatz desgleichen ein kontradiktorischer ist, mag dahingestellt bleiben. Die vorerwähnten Autoren reizen den Begriff des menschlichen Individuums allerdings bis aufs Äußerste aus. Sie verstehen das Individuelle am Menschen dergestalt, dass es ohne sein anderes vorkommen kann: dass jener fallweise nichts Soziales an sich hat und bloßes Pareto, Vilfredo F.: Das Individuelle und das Soziale (1904), in: Ausgewählte Schriften, Frankfurt a. M. et al. 1976, S. 153.

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Individuum ist. Nicht ist ihnen der Einzelne selber ein soziales Wesen, sondern lediglich die Intentionen, welche er bewusst hat, sind es, und auch nur einige davon, die sozial sind. »Der tiefste Grund unsres Daseyns«, wie schon Johann Gottfried Herder notiert, »ist individuell, so wohl in Empfindungen als Gedanken.« 227 Es ist dies eine vollendete Aufspreizung von Einzelnheit und Allgemeinheit. Die Individuen sollen einzig durch erstere definiert sein, wohingegen die letztere – so lautet das eine, positive Kennzeichen des sozialontologischen Individualismus, welches ich aufgestellt habe – in gewisse mentale Zustände abrutscht, in denen sich diese gelegentlich befinden. In der althergebrachten Begrifflichkeit der Philosophie gesagt, bildet Individualität, das Einzelnersein des Einzelnen, die bleibende Substanz des Menschen, Sozialität hingegen, sein Allgemeinersein, ein wechselndes Akzidens. 228 Dabei handelt es sich allerdings lediglich um eine mögliche Ausdeutung der Individualität des menschlichen Geistes. Mit einer der Physik abgeborgten und nicht zuletzt in der gegenwärtigen Sozialontologie durchaus gebräuchlichen Metapher kann man von einer atomistischen Konzeption des Individuums reden. Wie Hegel in anderem, rechtsphilosophischem Kontext einmal bemerkt, wird »[d]as Allgemeine in die Atome der absolut vielen Individuen zersplittert« (PhG, S. 260). 229 Diese Vorstellung bewahrt den semantischen Kern, welchen die Wortfamilie, zu der ›individuell‹ gehört, besitzt (durch Lehnübersetzung vom griech. ἄτομος) und der ein Unteilbares indiziert. 230 Die menschlichen »Individuen« sollen als die »Atome« der gesellschaftlichen Welt figurieren: als kleinste, nicht weiter teilbare Grundelemente, aus denen sich jene fügt, die jedoch im eigenen Gefüge ihrer Individualität nicht durch »Allgemeine[s]« bestimmt und zusammengehalten sind, sondern in vollumfänglicher Andersheit verloren und so in »absolut viele […] zersplittert«. Das ist ja das andere, negative Kennzeichen des sozialontologischen Individualismus, Herder, Johann G.: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume, Riga 1778, S. 55. 228 Schweikard problematisiert diese Auffassung unter dem Stichwort des ›Singularismus‹. Vgl. Schweikard, David P.: Der Mythos des Singulären. Eine Untersuchung der Struktur kollektiven Handelns, Paderborn 2011. 229 Siehe auch EPW, § 98 A; GPR, § 273 A, 308; GPR, § 156 Z, 290 Z. 230 Vgl. Kaulbach, Friedrich: Individuum und Atom, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4: I–K, Basel 1976, Sp. 299–300. 227

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wie ich es aufgestellt habe, dass er, indem Soziales vom Individuum her gedacht wird, ein Letztes beizubringen meint, was nicht selber sozial ist, aber am Grunde alles Sozialen liegt. 231 In diesem Sinne können wir uns eine drastische Bemerkung Alexis de Tocquevilles zu eignen machen, welche sich in dessen Studie De la démocratie en Amérique (1840) findet. Wohl enthält Tocquevilles Hauptwerk eine kulturelle Analyse der seinerzeit noch jungen USamerikanischen Demokratie. Jedoch können wir, was er über den Individualismus (individualisme) in der demokratischen Kultur der Vereinigten Staaten ausführt – »ein neuer Ausdruck, den eine neue Anschauung schuf« 232 –, in ontologischer Absicht adoptieren. Tocqueville nämlich nimmt von seiner Amerikareise den Eindruck mit, dass die Mitglieder der dortigen Gesellschaft »einander gleichgültig und wie Fremde [étrangers] füreinander« 233 sind. Die Demokratie werfe einen jeden »auf sich selbst zurück [ramène] und droht, ihn gänzlich in die Einsamkeit [solitude] seines eigenen Herzens einzusperren« 234. Tocquevilles Sprache ist aufgrund ihrer besonderen Drastik geeignet, auf den Punkt zu bringen, was in der Sache die atomistische Quintessenz des sozialontologischen Individualismus ausmacht. Denn wenn die Individuen im umfassenden ontologischen Sinne und nicht bloß in dieser oder jener kulturellen Hinsicht nichts Soziales an sich haben, wo sie gerade nicht in bestimmten mentalen Zuständen sind, dann sind sie ihrem Wesen nach einander Fremde; sie sind auf sich selbst zurückgeworfen und zur Einsamkeit verdammt, mithin keine vergesellschafteten Individuen. Obgleich im Zusammenhang der Ontologie des Sozialen die Rede von Atomismus für gewöhnlich den Status einer Abgrenzungsvokabel besitzt, weil man wohl Individualist, nicht jedoch Atomist sein möchte – so will etwa Philipp Pettit vom Individualismus (individualism), den er befürwortet, den Atomismus (atomism), welchen er ablehnt, unterschieden

Vgl. Rammstedt, Otthein: Soziologischer Atomismus, in: Fuchs-Heinritz, Werner/Lautmann, Rüdiger/Ders./ Wienold, Hanns (Hg.): Lexikon zur Soziologie, Opladen 31994, S. 66; Albert, Gert: Warum und wann die verdinglichende Rede vom Sozialen richtig ist! Eine realistische Alternative zum sozialontologischen Fiktionalismus, in: Ders./Greshoff, Rainer/Schützeichel, Rainer (Hg.): Dimensionen und Konzeptionen von Sozialität, Wiesbaden 2010, S. 320. 232 de Tocqueville, Alexis: De la démocratie en Amérique, Bd. 3, Paris 1840, S. 195. 233 Ebd., S. 198. 234 Ebd., S. 199. 231

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wissen –, 235 sind viele von denen, die sich für ersteres ausgeben, in Wahrheit gar nichts anderes als letzteres, wie ich dargetan habe. 236 So ist auch nicht verwunderlich, dass es im Grunde die derart ausgedeutete menschliche Individualität ist, die der sozialontologischen Agenda ihren Stempel aufdrückt. Denn auf diesem Hintergrund ist die Herausforderung doch die, zeigen zu müssen, wie Menschen, die im atomistischen Sinne als Individuen angesehen werden, zusätzlich zu ihrem Individuumsein am Wir sozialer Gebilde, z. B. einer Interaktion unter Anwesenden, teilhaben können: unter welchen weiterführenden Bedingungen jemand, der an sich kein gesellschaftliches Wesen ist, doch ab und an in gesellschaftliche Lagen und Umstände einrückt. 237 Vom Gesichtspunkt des Atomismus aus kommen Sozialgebilde nicht anders in den Blick denn als nachträgliche Zusammenstückung vorgeordneter Einzelner. Jene gewinnen an diesen erst und so lang nur teil, wenn und wie sie ihr Bewusstsein irgendwie auf Andere lenken. Schon die bloße Rede von kollektiver Intentionalität meldet das genaugenommen an. Bedeutet doch das lateinische colligere so viel wie ansammeln, zusammenlesen. Nimmt man die Sprache beim Wort, welche Searle mit seiner Rede von kollektiver Intentionalität aufgebracht hat (eigentlich war es Durkheim, wie wir in Kapitel IV.2 sehen werden), wird jedes Wir als eine kontingente und vorübergehende Verbindung von auseinanderliegenden Individuen vorgestellt. Ego verbindet sich mit Alter, indem er sein Bewusstsein irgendwie auf ihn lenkt und also eine kollektive Intention ausbildet. 238 Vgl. Pettit, Philip: The Common Mind. An Essay on Psychology, Society, and Politics, New York/Oxford 21996, S. 117 ff., 165 ff. 236 Meijers zeigt auf, dass Searles Individualismus Pettits Verständnis von Atomismus entspricht. Vgl. Meijers, Anthonie W. M.: Can Collective Intentionality be Individualized?, in: The American Journal of Economics and Sociology 62/1 (2003), S. 173 f. Schon in der gesellschaftskritischen Kontroverse mit den Liberalisten ist eine der abschätzig gemeinten Leitmetaphern, deren sich die Kommunitaristen, insbesondere Charles Taylor und Alasdair MacIntyre, bedienen, die des Atomismus. Siehe dazu Reese-Schäfer, Walter: Die Metaphorik kommunitaristischer Zeitdiagnosen, in: Junge, Matthias (Hg.): Metaphern soziologischer Zeitdiagnosen, Wiesbaden 2016, S. 161–180. 237 So auch Schmid, Hans B./Schweikard, David P.: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Kollektive Intentionalität. Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen, Frankfurt a. M. 2009, S. 17 f. 238 Heidegger bezeichnet ein Wir, das in dem genannten Sinne als eine »Summe von Ich« vorgestellt wird, als das »zerbrochene Wir«. (Heidegger, Martin: Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache (1934), GA 38, Frankfurt a. M. 1998, S. 43) 235

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Dagegen ist Protest einzulegen. Ich will der Vermutung nachgehen, ob nicht die Intentionalität des Bewusstseins zwangsläufig und dauerhaft sozial gesättigt ist. Dafür ist eine andere Auslegung der Individualität desjenigen zu entwickeln, um dessen Bewusstsein und Intentionalität es sich handelt. Diese alternative Auslegung muss eine Art Vermittlung vollbringen, welche darauf hinauskommt, die Gesellschaft begrifflich in das Individuum zurückzunehmen oder, andersherum gesagt, jenes begrifflich in diese aufzuheben. Beide sind derart zu denken, dass die Vorstellung der einen allein im Zusammenhang mit der Vorstellung des anderen erläutert werden kann. Ich vermute, dass die ontologische Konzeptualisierung des Sozialen eine Einstellung zur sozialen und individuellen Seite unseres Daseins zu gewinnen hat, der zufolge jede der anderen gleich- und beigeordnet ist: dass das menschliche Individuum dann erst begrifflich ausgewogen ist, wenn es von vornherein als ein durch die Gesellschaft mitbestimmtes, wenn es als soziales Individuum durchschaut wird. Mit anderen Worten muss es seinem Begriff nach von Substanz in Relation überführt werden. Dem Einzelnen kommen nicht dann und wann gewisse, seiner Partikularität akzidentelle Beziehungen zu anderen Menschen zu. Solche gehören stattdessen mit zu seiner Existenz; wesensmäßig ist er, wer er je ist, immer auch in einem Bezug zu Anderen. Es wird sich aber herausstellen, dass dies nicht nur und nicht zuerst eine Sache seines Bewusstseins und dessen Intentionalität ausmacht. Damit wende ich mich zugleich gegen die Auffassung, die menschliche Gesellschaft sei ein Aggregat aus Individuen. Oder mit Searles Formel: »society consists of nothing but individuals«. 239 Dem möchte ich entgegenhalten, dass kein Mensch lediglich individuell, aber auch keiner lediglich sozial ist, was zu behaupten die Kritiker der von Ralph Linton begründeten soziologischen Rollentheorie in die Schuhe geschoben haben (insbesondere ihrer Aufnahme in Ralf Dahrendorfs Konzept des homo sociologicus). 240 Ein jeder von uns So etwa bei Pareto: »Der Begriff Gesellschaft […] bezeichnet im allgemeinen ein Aggregat dieser Individuen, die in ihrer Gesamtheit gesehen werden.« (Pareto, Vilfredo F.: Das Individuelle und das Soziale (1904), a. a. O., S. 153) Siehe auch Durkheim, Émile: Leçons de sociologie. Physique des mœurs et du droit (1890–1900), Paris 1950, S. 63. 240 Der Gedanke der soziologischen Rollentheorie ist gar nicht, dass der Mensch das Bündel seiner sozialen Rollen, also der durch die Gesellschaft an ihn herangetragenen Erwartungen, ist. Vielmehr wird durch den Rollenbegriff lediglich ein Ausschnitt aus 239

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zeichnet sich stattdessen durch das eine sowohl als auch das andere aus, wobei es nicht ein für alle Mal feststehen muss, was da jeweils von der einen und was von der anderen Art ist. Es kann Kulturen und Epochen ebenso wie Phasen im Leben eines einzelnen Menschen geben, in denen bald dieses und bald jenes überwiegt. Die begriffliche Opposition von menschlicher Gesellschaft und menschlichem Individuum ist damit keineswegs geleugnet. Neben Sozialem zeigt der Geist des Einzelnen auch anderes, das etwas Nichtsoziales ist. Aber sie wird in eine Opposition verschiedener Aspekte überführt. Der Geist des Einzelnen zeigt das eine nur zusammen mit dem anderen, Soziales nicht ohne Individuelles und jenes nicht ohne dieses. Die These, welche ich aufstellen will und im Weiteren zu belegen habe, ist also, dass Menschen – mit Tocqueville gesprochen – niemals vollkommen einsam oder einander fremd sind. Jeder hat, sofern er ein Individuum ist, stets auch in der einen oder anderen Hinsicht eine soziale Seite; und umgekehrt hat jeder Mensch, sofern er ein soziales Wesen ist, stets auch in der einen oder anderen Hinsicht eine individuelle Seite. Wie weit die eine oder andere Seite jeweils reicht, bleibt eine empirische Frage; das ist eine Sache des Einzelfalls und lässt sich nicht ein für alle Mal statuieren. Um für diese These einen Namen zu haben, werde ich mangels eines besseren den Ausdruck ›Aspektizismus‹ gebrauchen und von ›sozialontologischem Aspektizismus‹ sprechen. Die Auslegung des Individuums, welche ich entwickeln werde, ist mithin eine aspektizistische. 241 Dass ich derart vom sozialontologischen Individualismus abgehen und mit jeder einseitigen Überzeichnung von Individualität brechen will, heißt nun aber in Ansehung der von mir behandelten Theoretiker nichts anderes, als dass ich in Abrede stellen möchte, wofür sich diese erklären. Nicht kann der Erfahrung des Einzelnen (Simmel), seinem Handeln (Weber) oder Verhalten (Schütz) Sozialität dem Dasein des ganzen Menschen herausgegriffen und so das Forschungsgebiet der Soziologie gegenüber dem von Psychologie und Biologie abgesteckt. Siehe dazu die klassische Begriffsbestimmung bei Linton, Ralph: The Study of Man. An Introduction, New York 1936. 241 Das Gegenteil von Atomismus nennt man gemeinhin ›Holismus‹. Ich vermeide diese Benennung, weil die Unterscheidung von Ganzem (ὅλος) und Teilen notorisch vieldeutig bleibt und nur in einer möglichen Deutung dem entspricht, was ich sagen will. Für einen Überblick über verschiedene Spielarten von Holismus und Atomismus siehe Esfeld, Michael: Atomism and Holism: Philosophical Aspects, in: Smelser, Neil J./Baltes, Paul B. (Hg.): International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, Bd. 2, Oxford 2001, S. 859–864.

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bloß sekundär zugeschrieben werden. Stattdessen ist derjenige, welcher da erfährt, handelt oder sich verhält, von Grund auf immer auch als allgemeines geistiges Wesen einzusehen. Die einfache Idee ist, eine Auffassung vom Menschen zu entwickeln, in der das Besondere, welches ihn von Anderen abtrennt, und das Gemeinsame, welches ihn mit Anderen zusammenschließt, verklammert sind: dass dessen Selbst stets durch beides definiert ist und ebendarüber all sein geistiges Sichbeziehen auf eine Sache. Kein »individual end« 242 (Miller), kein »I intend to A« 243 (Bratman), keine »I-intention« 244 bzw. kein »I-mode« 245 von Intentionen (Tuomela) und keine »individual intentionality« 246 (Searle) kann jemals vollends ins Private eines einsamen Bewusstseins verkapselt sein. Jedes der so beschriebenen Phänomene muss (ohne dass ich mich auf eine dieser Beschreibungen festzulegen brauche) vermittelt über dasjenige intentionale Subjekt, welches sie hat, an einer Erstreckung von Öffentlichem partizipieren und infolgedessen eine gemeinsam geteilte, nur durch Rekurs auf Gesellschaft zu definierende Art von Intentionalität ausmachen. Was ist als Nächstes zu tun? Die intentionale Verfassung des Bewusstseins der Menschen habe ich zunächst bloß nach Inhalt und Form unterschieden. Und ich habe aufgewiesen, dass Soziales paradigmatisch daran und nur daran geknüpft zu werden pflegt. Inzwischen hat sich allerdings ergeben, dass diese Unterscheidung unvollMiller, Seumas: Conventions, Interdependence of Action, and Collective Ends, a. a. O., S. 133. Siehe auch Joint Action, a. a. O., S. 281; Social Action. A Teleological Account, a. a. O., S. 10 ff.; Joint Action: The Individual Strikes Back, a. a. O., S. 75 ff.; Intentions, Ends and Joint Action, a. a. O., S. 52 f. 243 Bratman, Michael E.: Two Faces of Intention, in: The Philosophical Review 93/3 (1984), S. 396. 244 Tuomela, Raimo/Miller, Kaarlo: We-Intentions, a. a. O., S. 367. Siehe auch A Theory of Social Action, a. a. O., S. 33; The Importance of Us. A Philosophical Study of Basic Social Notions, a. a. O., S. 114 ff.; Cooperation. A Philosophical Study, a. a. O., S. 61 ff. 245 Tuomela, Raimo: The We-Mode and the I-Mode, in: Schmitt, Frederick F. (Hg.): Socializing Metaphysics. The Nature of Social Reality, Lanham 2003, S. 93. Siehe auch The Philosophy of Social Practices. A Collective Acceptance View, a. a. O., S. 36 ff. 246 Searle, John R.: Collective Intentions and Actions, a. a. O., S. 403. Siehe auch The Construction of Social Reality, a. a. O., S. 24 f.; Responses to Critics of The Construction of Social Reality, a. a. O., S. 449; Mind, Language and Society. Philosophy in the Real World, a. a. O., S. 118; Social Ontology and the Philosophy of Society, a. a. O., S. 149; Social Ontology. Some Basic Principles, a. a. O., S. 16; Making the Social World. The Structure of Human Civilization, a. a. O., S. 43. 242

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ständig bleibt. Die Zergliederung, der ich die Zustände bewusster Intentionalität unterzogen habe und auf die sich der sozialontologische Intentionalismus beschränkt, ist darum zu ergänzen, dass jene immer auch auf jemanden verweisen, der sie hat. Darauf sind wir bereits gestoßen, dass die Architektonik des Bewusstseins und seiner Intentionalität im Ganzen eine Relation mit zwei Relaten darstellt. Freilich ist damit, um das zu wiederholen, lediglich das Allermindeste gesagt. Ungesagt bleibt, was die Relate und die Relation darüber hinaus kennzeichnet, dass sie wie vieles sonst auch Relate sind, die in einer Relation stehen. Noch dazu ist diese Einsicht keine Neuentdeckung. Natorp, den ich in dieser Sache bereits beigezogen habe, zergliedert das menschliche Erleben ebenso in insgesamt drei Bestandteile und spricht hierbei vom »Ich« 247. Crane, den ich gleichfalls schon zitiert habe, nennt es das »Subject« 248. Und so auch Wilby, der Ansätze zur kollektiven Intentionalität nach diesem dritten »distinct feature« unserer Intentionalität als solche klassifiziert, die die Kollektivität an deren »subject« 249 binden. Und doch. In jedem Fall von Bewusstsein gibt es einen, dessen Bewusstsein es ist, das sich da auf irgendeine Weise zu irgendetwas verhält, und der mehr ist als sein jeweiliges bewusstes Verhalten. Ich will diesen dritten Baustein wieder terminologisch fixieren. Passend zu dem einen Relat, dem Intendierten, und der Relation, dem Intendieren, will ich dieses andere Relat den ›Intendierenden‹ nennen. Dieses Wer der Intentionalität, das sprachlich im Sinne eines Genitivus subjectivus zu jener gestellt ist, haben wir unter die Lupe zu nehmen. Es steht zu zeigen, dass unsere Sozialnatur nicht nur und nicht erst am Was oder Wie bewusster Intentionen aufzudecken ist, wie das intentionalistische Paradigma meint, sondern auch noch und schon an deren Träger, also an demjenigen, der da intendiert. Unter den Elementen, aus welchen sich unsere intentionalen Leistungen zusam»Es wären demnach im ganzen drei Momente, die in dem Ausdruck ›Bewußtsein‹ eng in Eins gefaßt, aber durch Abstraktion doch auseinanderzuhalten sind: 1. Das Etwas, das einem bewußt ist; 2. das, welchem etwas oder das sich dessen bewußt ist; 3. die Beziehung zwischen beiden: daß irgend etwas irgendwem bewußt ist. Ich nenne […] das Erste den Inhalt, das Zweite das Ich, das Dritte die Bewußtheit.« (Natorp, Paul: Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode, Bd. 1: Objekt und Methode der Psychologie, a. a. O., S. 24) 248 Crane, Tim: Elements of Mind. An Introduction to the Philosophy of Mind, a. a. O., S. 32. 249 Wilby, Michael: Subject, Mode, and Content in »We-Intention«, a. a. O., S. 94. 247

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mensetzen, kann dasjenige, welches als Basis und Quelle der sozialen Bestimmtheit all dieser Leistungen zu fungieren vermag, kein anderes sein als das, welches die aufgeführten Autoren allesamt außen vor lassen; bleibt dieses Element doch als einziges noch übrig. Ich will daher fragen, ob nicht der Intendierende, statt ein Individuum im verengten Sinne des Atomismus zu sein, vielmehr Individuum in einer umgreifenden Bedeutung ist. Und: ob nicht in der Folge Soziales ungleich vielfältiger in die intentionale Verfassung des Bewusstseins der Menschen eingelagert ist. Dem scheint zu entsprechen, was in der laufenden Debatte zur Sozialontologie und auch darüber hinaus unter der Bezeichnung des ›Kollektivismus‹ gehandelt wird. Der sozialontologische Kollektivismus, wie ich sagen werde, vertritt, so scheint es, gerade so etwas wie das, wonach ich frage. Das Wer des Bewusstseins und seiner Intentionalität gilt ihm nicht für einen einzelnen Menschen, sondern für ein Kollektiv: Nicht Individuen, sondern größere Einheiten, mag es sich dabei um eine Kleingruppe wie im Falle der Interaktion unter Anwesenden, um eine Organisation mit formalisierten Mitgliedschaftsrollen, eine sozioökonomische Klasse oder sogar um ein ganzes Volk handeln, sollen das Subjekt kollektiver Intentionen abgeben. Doch wie genau man sich das zurechtzulegen hat, lässt sich nicht ohne Schwierigkeiten angeben. Denn nicht nur, dass diese Position von jenen, die sich für den sozialontologischen Individualismus starkmachen, ohne großes Aufheben verworfen wird und insofern überaus blass bleibt. Sie wird außerdem des Öfteren mit einigen klassischen Denkern u. a. der Philosophiegeschichte in Verbindung gebracht, insbesondere mit Hegel, aber auch mit Rousseau, wobei gar nicht so leicht entscheidbar ist, ob diese Verbindung mit Recht gezogen wird.

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IV. Der sozialontologische Kollektivismus

1.

Der »objective Geist« (Hegel)

Vorgehen möchte ich erneut in chronologischer Reihenfolge. Ich steige ein mit Hegel. Dieser muss im sozialontologischen Richtungsstreit zwischen Individualismus und Kollektivismus, und keineswegs nur da, vielfach als das philosophiegeschichtliche Negativbeispiel katexochen herhalten. Dass Hegel Kollektivist sei, behauptet beispielsweise Quinton, den wir bereits kennengelernt haben. In seinem Aufsatz über Social Objects von 1975 stellt er sich als Individualisten auf, indem er die gegenteilige Meinung, zu welcher er auf Abstand geht, folgendermaßen umreißt: »The version of ontological collectivism about social objects put forward by Hegelian idealism is comparably radical in maintaining that social objects are somehow more real than the individual human beings involved in them. This principle is ordinarily derived from a very strong interpretation of the thesis that man is essentially a social being. It is often associated, furthermore, with the idea that a social object, a group or institution, is itself a mind or person, of a higher, more ›objective‹ sort than an individual mind or person.« 250

Worauf sich Quinton hierbei bezieht, ist, wie er kurz darauf unmissverständlich klarlegt, Hegels Rechtsphilosophie, genauer dessen Theorie des objektiven Geistes, noch genauer die darin enthaltene Lehre der Sittlichkeit. 251 Danach besteht der sozialontologische Kollektivismus (»ontological collectivism«) generell in der Behauptung, für die ich mich ausgesprochen habe und gegen die Quinton anschreibt, dass der Mensch wesensgemäß sozial ist (»man is essentially a social being«). Das aber soll heißen, wie Quinton – anders als die meisten Autoren – immerhin einigermaßen präzisiert, dass erstens 250 251

Quinton, Anthony: Social Objects, a. a. O., S. 5. Vgl. ebd., S. 6, 13 f.

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Der »objective Geist« (Hegel)

jedes Individuum stets Teil eines sozialen Objekts, will sagen Mitglied einer Gruppe oder Institution (»group or institution«), ist, dass diese Gruppe oder Institution zweitens höher steht (»higher«) oder realer ist (»more real«) als seine Mitglieder und dass sie schließlich drittens einen anderen, von dem der Individuen unterschiedenen Geist hat (»is itself a mind or person«). 252 So etwas hat auch Searle vor Augen. Wie bereits dargelegt, erachtet er den Kollektivismus für den nicht näher spezifizierten Glauben an ein »group mind« oder »group consciousness«. Und er verweist in diesem Kontext mehrfach auf Hegel. Allerdings bringt er dessen Namen lediglich versicherungsweise und wie zur Abschreckung in Erinnerung, ohne auch nur im Ansatz zu konkretisieren, in welchem Sinne Hegel Kollektivist sein soll. In The Construction of Social Reality z. B. unterstreicht Searle die Vereinbarkeit seines Konzepts kollektiver Intentionalität als einer »primitive form of mental life« mit dem »methodolocigal individualism«; er verteidigt die Einführung dieses Konzepts gegen den etwaigen Verdacht, er verpflichte sich dadurch auf die Annahme, dass »there exists some Hegelian world spirit, a collective consciousness, or something equally implausible« 253. Genauso in dem späteren Aufsatz What is an Institution? aus dem Jahr 2005: »There is no such thing as a group mind or an Oversoul or a Hegelian Absolute of which our particular minds are but fragments.« 254 Demgemäß sei es bald der Weltgeist (»world spirit«), welcher Hegels Lehre vom objektiven Geist beschließt, bald der absolute Geist (»Hegelian Absolute«) aus dem gleichnamigen Teil des Hegel’schen Systems, welcher die Bereiche Kunst, Religion und Philosophie befasst, darin sich eine kollektivistische Denkhaltung kundtut. Und so auch weitere Theoretiker. In seiner 1993 erschienenen Abhandlung The Common Mind. An Essay on Psychology, Society, and Politics merkt Pettit an, der »collectivism […] was well and truly mined in the explorations of Hegelian and Post-Hegelian philoso»Hegel’s theory of objective mind clearly affirms three propositions mentioned earlier as central to the radical form of ontological collectivism. First, man is essentially social, he is always a member of groups and institutions and is made what he is by that fact. Secondly, the group is more real, more concrete and substantial than its members. Thirdly, groups are themselves minds or persons, they are self-conscious and have minds and wills of their own.« (Ebd., S. 6 f.) 253 Searle, John R.: The Construction of Social Reality, a. a. O., S. 36. 254 Searle, John R.: What is an Institution?, a. a. O., S. 21. 252

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Der sozialontologische Kollektivismus

phy«; Pettit zufolge ballt sich das in Hegels »notion of the Volksgeist, the spirit of the people«, »a notion that was easily reified into a collective agency, which supposedly acted through individuals, dictating all that they felt and did« 255. Es sei der Volksgeist, wiederum ein Begriff aus Hegels Philosophie des Rechts, der sich durch die einzelnen Individuen hindurch äußert, indem er ihnen ein bestimmtes Fühlen und Handeln diktiert. Und Tuomela konstatiert in seiner 2013 veröffentlichten Monographie Social Ontology. Collective Intentionality and Group Agents eine »extreme group-centeredness of German idealism« 256. Ohne sich eingehender darüber auszulassen, hebt er lediglich Hegel namentlich heraus, und zwar als denjenigen, der »has become well known for his idea of the collective spirit, the Absolute« 257. Hiernach soll es nun wieder der absolute Geist sein, der eine kollektivistische Fasson besitzt. Denselben Grundton schlägt ebenfalls Bratman an. Allerdings kommt er ohne jede Anspielung auf Hegel aus. In seinem Aufsatz über Shared Intention (1993) schaltet er die Versicherung ein, »a shared intention is not an attitude in the mind of some superagent consisting literally of some fusion of the two agents. There is no single mind which is the fusion of your mind and mine.« 258 Obgleich Bratman hierbei weder von Kollektivismus spricht noch der Überzeugung, welche er da zurückweist, eine andere Bezeichnung verpasst, scheint er doch ebensolches im Sinn zu haben. Denn ein Kollektiv, dessen Existenz Bratman abstreitet, stellt er sich als einen »superagent« vor, will sagen als einen aus der Verschmelzung (»fusion«) der beteiligten Individuen (»of the two agents«) hervorgehenden dritten Akteur mit einem eigenen Geist (»single mind«). Schlussendlich darf in dieser Auflistung Karl Popper nicht fehlen. Entwirft der doch im zweiten Band seiner Abhandlung The Open Society and its Enemies, erstmals 1945 aufgelegt, ein sozialtheoretisches Modell von der offenen Gesellschaft. Auserwählter Widersacher dieses Gesellschaftsmodells soll die wirkungsvolle, auf Platon zurückgehende und laut Popper dem Totalitarismus zugeneigte Tradition der politischen Philosophie und in der neuen Zeit speziell Pettit, Philip: The Common Mind. An Essay on Psychology, Society, and Politics, a. a. O., S. 126. Siehe auch S. 167 f., 307. 256 Tuomela, Raimo: Social Ontology. Collective Intentionality and Group Agents, Oxford 2013, S. 4. 257 Ebd., S. 3. 258 Bratman, Michael E.: Shared Intention, a. a. O., S. 98. 255

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Der »objective Geist« (Hegel)

Hegel sein, dessen Auffassung vom modernen Staat diese platonische Tradition fortführe. Popper reitet seine Attacken gegen das, was er für »Hegel’s radical collectivism« hält, gegen die Doktrin, der zufolge »the state is everything, and the individual nothing« 259 bzw. »the state and the nation is more ›real‹ than the individual who owes to it everything« 260. Der Wortlaut der letzten Bemerkung (»more ›real‹«) gleicht derjenigen, welche Quinton später verwendet. Und Popper verortet die Hegel zur Last gelegte Doktrin eines »radical collectivism« ausdrücklich in »his ›objectiv spirit‹« 261, in dessen Theorie der Sittlichkeit, wo der Begriff des politischen Staates entfaltet wird. Popper apostrophiert den Kollektivismus, welchen er bei Hegel am Werk sieht, jedoch nicht als einen ontologischen, sondern gibt ihn für einen methodologischen aus. Während der »methodological individualism« darin bestehe, »that all social phenomena […] should always be understood as resulting from the decisions, actions, attitudes, etc., of human individuals«, setze der »methodological collectivism« auf eine »explanation in terms of so-called ›collectives‹ (states, nations, races, etc.)« 262. Doch gilt für diesen methodologischen Kollektivismus das Nämliche wie schon für den methodologischen Individualismus. Er wirkt lediglich zurückhaltend, ist aber in Wahrheit ungleich ambitionierter. Denn scheint er auch bloß festzusetzen, wie ein bestimmtes Phänomen zu betrachten ist, spricht er damit doch zugleich aus, was die betreffende Sache ist. Muss doch das Erkennenwollen hier wie sonst voraussetzen, dass der Weg, den es beschreitet, zu demjenigen hinführt, was da erkannt werden soll. Wer »all social phenomena« so behandelt, dass er sie einer »explanation in terms of socalled ›collectives‹« unterwirft, unterstellt, dass es derartige »collectives« tatsächlich gibt, dass sämtliche sozialen Phänomene entweder damit einerlei oder in ihnen verwurzelt sind. Der methodologische Kollektivismus, den Popper Hegel ankreidet, schließt folglich ganz analog zum Individualismus einen ontologischen ein. 263 Popper, Karl R.: The Open Society and its Enemies, Bd. 2: The High Tide of Prophecy: Hegel, Marx, and the Aftermath, London 21947, S. 29. Siehe auch S. 35, 43, 66, 92, 214, 225. 260 Ebd., S. 92. 261 Ebd., S. 293, Anm. 31. 262 Ebd., S. 91. Siehe auch S. 87. 263 Der Unterschied von »methodological individualism« und »methodological collectivism« findet sich bereits bei von Hayek, Friedrich A.: The Counter-Revolution of Science. Studies on the Abuse of Reason, Glencoe, Ill. 1952, Kap. 4 und 6; Nagel, 259

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Der sozialontologische Kollektivismus

Wir brauchen hier nicht um jedes Wahr und Falsch zu streiten, was die Behauptung der soeben versammelten Autoren anbelangt, die Hegel’sche Philosophie sei das Vorzeigebeispiel für einen sozialontologischen Kollektivismus. Viel wichtiger für die weiteren Überlegungen ist, durch deren Versammlung dokumentiert zu haben, dass sich zahlreiche Handlungs- und Sozialtheoretiker ebenso wie Sozialontologen von solch einer Position distanzieren und, mehr noch, was sie eigentlich darunter verstehen. Bevor ich dazu ein Resümee ziehe, will ich aber die zitierten Äußerungen nicht ganz unwidersprochen stehen lassen. Mit Blick auf Hegels einschlägige Schriften sei wenigstens drei Punkten kurze Erwähnung getan. Erstens benutzt Hegel, was die Sprache anbelangt, das Wort ›sozial‹ genauso wie eines seiner Derivate noch kaum, a fortiori benutzt er es nirgendwo terminologisch. Ich habe gleich zu Beginn der vorliegenden Arbeit in Kapitel I.1 einige wenige etymologische Stationen der Entwicklung des Ausdrucks angerissen und im Zuge dessen darauf hingewiesen, dass eine nennenswerte Diffusion in die deutsche Sprache (anders als social im Französischen oder social im Englischen) erst seit den 1830er Jahren zu verzeichnen ist. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, die als ein begleitendes Kompendium für die Zuhörer seiner Vorlesungen an der Berliner Universität gedacht waren, sind mehr als zehn Jahre zuvor, nämlich im Jahre 1820, erschienen. Ferner findet sich bei Hegel überhaupt nicht die Rede von einem Kollektiv, ebenso wenig die von so etwas wie einem Kollektivgeist (»collective spirit«), wie Tuomela suggeriert. 264 Zweitens betreibt Hegel auch der Sache nach in keinster Weise eine Ontologie des Sozialen. Es geht ihm nicht entfernt um das Soziale überhaupt, um die notwendige und hinreichende intrinsische Bedingung dafür, dass etwas etwas Soziales ist. Seine Philosophie des »objectiven Geistes« 265, die bei den genannten Autoren am meisten den Ernest: The Structure of Science. The Problems in the Logic of Scientific Explanation, London 31971, S. 435 ff. 264 In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie führt Hegel hinsichtlich der schottischen Moralphilosophie aus, und gebraucht dabei ›sozial‹ offenbar synonym mit ›gesellschaftlich‹ : »Z. B. die Sozialität ist ein Moment, das sich in der Erfahrung findet; Menschen in Gesellschaft erwächst der mannigfaltigste Nutzen. Worin gründet sich nun die Notwendigkeit der Gesellschaft? In einer sozialen Neigung.« (VGP III, S. 282 f.) Ansonsten spricht er bzgl. des frühneuzeitlichen Naturrechts gelegentlich vom »Socialitätstrieb«. (GPR, § 258 A; PG, S. 522, 527) 265 Vgl. GPR, § 57 A, 71 A, 258 A; EPW, § 483.

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Der »objective Geist« (Hegel)

Argwohn eines Kollektivismus erregt, soll stattdessen erklärtermaßen Rechtsphilosophie sein. Nicht umsonst tragen die Grundlinien der Philosophie des Rechts den Titel, den sie tragen. Reduziert aufs Allerwesentliche geht es hier also um Rechte und die ihnen korrespondierenden Pflichten, und zwar solche Rechte und Pflichten, die der Mensch von Natur aus hat. Was auch immer das im Einzelnen heißen mag, die Lehre des objektiven Geistes setzt sich, von der Warte der Sozialontologie aus gesprochen, nicht mit dem Allgemeinen aller Formen menschlicher Verhältnisse auseinander. Sie ist lediglich dem Besonderen der vernünftigen, rechts- und pflichtförmigen Verhältnisse auf der Fährte, welche unter den Menschen von Natur aus bestehen. Infolgedessen handelt es sich um kein Theorem, mit dem man in Hegels rechtstheoretischen Ausführungen (oder sonst wo in seinem philosophischen System) rechnen darf, dass, wie Quinton sich ausdrückt, »man is essentially a social being«. In Wirklichkeit schiebt Quinton und schieben das andere Hegel unter, er verwende sich in seiner Lehre vom objektiven Geist (oder anderswo) für die Annahme, dass jedes menschliche Wesen ein soziales, d. h. Teil eines sozialen Objekts bzw. Mitglied einer Gruppe oder Institution, ist. Das Sozialsein des Menschen ist nicht selbst eine rechtliche Bestimmung, wenn man auch zugestehen kann, dass es das Medium abgibt, in dem Rechtsverhältnisse wirklich sind. Wohlgemerkt soll damit nicht bestritten sein, dass Hegels Rechtsphilosophie auf die eine oder andere Art etwas zur Bewältigung der sozialontologischen Fragestellung beizutragen vermag; ich selber werde in Kapitel V.2 versuchen, begriffliche Anleihen bei seiner Lehre von der Sittlichkeit zu machen. Nicht jedoch darf man meinen oder so tun, als läge jene bereits in deren eigener Absicht. 266 Der Schwung dieser Richtigstellung wirft sich desgleichen gegen Quintons und Poppers Unbehagen, der objektive Geist sei für Hegel »higher« oder »more real« als das Individuum. Objektiv ist für Hegel der Geist eines Menschen, indem die Rechte und Pflichten, durch welche er sich bestimmt, solche Bestimmungen sind, deren Vorliegen notwendig das Vorliegen derselben oder einer komplementären Be-

So spricht etwa Neuhouser Hegels Theorie des objektiven Geistes als »social ontology« an und vermutet, diese gebe ein »understanding of the nature of social reality«. (Neuhouser, Frederick: Hegel on Social Ontology and the Possibility of Pathology, in: Testa, Italo/Ruggiu, Luigi (Hg.): »I that is We, We that is I«. Perspectives on Contemporary Hegel, Leiden/Boston 2016, S. 31)

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Der sozialontologische Kollektivismus

stimmung bei vielen oder allen anderen Menschen mit sich führt. Wenn mir, um ein Beispiel aus dem Bereich des von Hegel sog. abstrakten Rechts zu nehmen, etwas als Eigentum gehört, ich also das Recht habe, eine Sache nach freiem Belieben zu benutzen, bedeutet das unmittelbar die Pflicht aller übrigen, die fragliche Sache nicht oder nicht ohne meine Einwilligung zu benutzen. Das Recht des einen hat zur Kehrseite die Pflicht der anderen. 267 Demzufolge ist das Objektive am menschlichen Geist – wenigstens handelt es sich dabei um ein Moment seines Objektivseins –, dass er Allgemeines zum Inhalt hat, solches nämlich, das ihn und andere Menschen gemeinsam betrifft. 268 Und man kann in der Tat sagen, dass manche Rechte und Pflichten »higher« oder »more real« sind als die übrigen, sogar, dass sämtliche dieser Bestimmungen höher stehen oder realer sind als die, durch welche der bloß subjektive Geist bestimmt ist. In Hegels Systemaufbau folgt auf die Theorie des subjektiven Geistes die des objektiven (und auf diese wiederum die des absoluten Geistes) und folgen innerhalb der letzteren auf die abstrakten Rechte und Pflichten die moralischen und sodann die sittlichen. Und jede spätere Bestimmung ist umfassender, reichhaltiger als die frühere, aus der sie herkommt und die sie in sich fortbewahrt. 269 Drittens schließlich bedarf Quintons Einschätzung, wonach für Hegel der objektive Geist einen anderen, vom subjektiven Geist des Menschen unterschiedenen Geist ausmacht (»is itself a mind or person«), einer Differenzierung. In einer möglichen Lesart darf man das für eine treffende Charakterisierung der Hegel’schen Philosophie nehmen. Beide nämlich erklärt Hegel (ebenso wie dann den absoluten Vgl. EPW, § 486. Dieses Allgemeine fällt jedoch im abstrakten Recht anders aus als in der Moralität und wieder anders in der Sittlichkeit. Die Art der Gemeinsamkeit ist jeweils eine andere. Vgl. GPR, § 155. 269 Der Geist eines Menschen ist nach Hegel subjektiv, indem die Bestimmungen, durch welche er sich bestimmt, von der Art sind, dass ihr Vorliegen bei einem Menschen nicht notwendig das Vorliegen derselben oder einer komplementären Bestimmung bei irgendeinem anderen mit sich führt. Wenn ich z. B. eine Empfindung verspüre, etwas anschaue oder denke, mich an etwas erinnere oder mir etwas einbilde, heißt das erst einmal nichts für Andere. Das Subjektive des subjektiven Geistes besteht darin – ohne dass damit sein Subjektivseins gänzlich ausgemessen ist –, dass er Partikuläres, d. h. solches zum Inhalt hat, was ihn allein und andere Menschen nicht mit betrifft. Siehe dazu Stederoth, Dirk: Hegels Philosophie des subjektiven Geistes. Ein komparatorischer Kommentar, Berlin 2001, S. 393 ff. 267 268

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Der »objective Geist« (Hegel)

Geist) als Gestalten der einen menschlichen Geistnatur. 270 Sie haben sich in einem von weither angelegten historischen Bildungsprozess entfaltet, und die Philosophie zeichnet deren Struktur unter Absehung von den unwesentlichen, kontingenten Umständen ihrer jeweiligen Realisierung in begrifflicher Reinheit nach. 271 Dabei handelt es sich des Näheren um eine Geschichte der Selbstentfaltung des menschlichen Geistes. Dieser manifestiert nach Hegel peu à peu die Fülle seiner Wesenspotenz, bringt in einem langwierigen Gang durch unterschiedliche Stufen hindurch zur Wirklichkeit, was er an sich schon ist. 272 Und ebendas wird für ihn. Auf jeder dieser Durchgangsstufen geht ihm ein neues Wissen von sich selber auf; er ist jeweils das, wie Hegel sagt, was er von sich weiß. 273 In diesem Sinne kann man sehr wohl durch Quintons Formulierung ausdrücken, dass der Geist in seiner subjektiven und objektiven (ebenso wie dann in seiner absoluten) Gestaltung ein je anderer ist, dass er dabei auf einer je anderen Stufe der Manifestation seiner selbst steht und je anderes über sich weiß. Allerdings wäre gegen Popper darzulegen, wofür hier nicht der rechte Ort ist, dass der moderne Staat für Hegel seinen Tiefgang darin beweist, dem Individuum zu erlauben, sich in seinen Institutionen und Gesetzen berücksichtigt zu finden. Der politische Staat soll Teil der Freiheit des Individuums sein. 274 Und gegen Pettit wäre zu verdeutlichen, was hier gleichfalls nicht geleistet werden kann, dass der Begriff des Volksgeistes, welcher von Charles de Montesquieu und Voltaire über Herder bis zu Hegel die französische Aufklärung mit der deutschen Antwort im Geschichtsdenken verbindet, der nämlichen Logik folgt. Das freie Individuum soll sich in der Moderne auch in den übrigen Dimensionen des geistigen Lebens seines Volkes wiederfinden. 275 Hingegen ist es eine andere Lesart, die Quinton zu befürworten scheint. Von all den Annahmen, welche er dem sozialontologischen Kollektivismus zuschreibt und am Beispiel Hegels exemplifiziert wisSiehe dazu Stekeler-Weithofer, Pirmin: Philosophie des Selbstbewußtseins. Hegels System als Formanalyse von Wissen und Autonomie, Frankfurt a. M. 2005, S. 26 ff. 271 Vgl. EPW, § 377. 272 Vgl. EPW, § 383. 273 Vgl. EPW, § 385 Z. Siehe auch PhG, S. 429 f.; VGP I, S. 39 ff.; VGP III, S. 31, 33, 75. 274 Vgl. Avineri, Shlomo: Hegel’s Theory of the Modern State, Cambridge 1972, S. 102, 138, 181 f. 275 Vgl. Bubner, Rüdiger: Welche Rationalität bekommt der Gesellschaft? Vier Kapitel aus dem Naturrecht, Frankfurt a. M. 1996, S. 133 f. 270

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Der sozialontologische Kollektivismus

sen will, hat man es hierbei mit derjenigen zu tun, die ihm am meisten ablehnungswürdig, um nicht zu sagen abwegig vorkommt. Es wäre allerdings ein Missverständnis zu meinen, dass der objektive Geist für Hegel etwas ist, das den Menschen äußerlich ist und gleichsam über ihren Köpfen schwebt. 276 Nicht daran stört sich Quinton, dass der objektive Geist wie der subjektive (und der absolute) Geist eine Ausprägung des inneren Selbst der Menschen, ihrer eigenen geistigen Natur ist. Womit er hadert und so offenbar auch die restlichen der angeführten Autoren, ist, dass der objektive Geist selbständig existiert: dass es nach Hegel ein Kollektiv geben soll, welches auch ohne die einzelnen Individuen vorkommt und das in deren Denken, Wollen und Fühlen von außen einbrechend sich Geltung zu verschaffen vermag. 277 Ich halte indes fest, dass, wenn so etwas unter sozialontologischem Kollektivismus zu denken ist, die besagten Theoretiker selber das nur mit großer Vagheit vorstellen. Und vor allem, dass Hegel, mit dem sie dabei scharf ins Zeug gehen, derlei gar nicht vertritt. 278

2.

Die »conscience collective« (Durkheim)

a)

Die Analysekategorie der sozialen Solidarität

Der nächste Autor, welcher hierhergehört, obwohl er in der laufenden Debatte zur Ontologie des Sozialen erstaunlicherweise kaum als Referenz für eine kollektivistische Position herhalten muss, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, ist Durkheim. Denn bei der Wendung, anhand deren beispielsweise Searle dem sozialontologischen So eine Formulierung von Schweikard und Schmid: »the attitude in question requires no group mind capable of belief or intention over and above the heads of the participating individuals« (Schweikard, David P./Schmid, Hans B.: Collective Intentionality, in: Zalta, Edward N. (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2013 Edition), http://plato.stanford.edu/archives/sum2013/entries/collectiveintentionality. 277 Diese Deutung hat gewisse Tradition im Lager der Linkshegelianer. Siehe dazu Ottmann, Henning: Individuum und Gemeinschaft bei Hegel, Bd. 1: Hegel im Spiegel der Interpretationen, Berlin/New York 1977, Kap. II. 278 So auch Fetscher, Iring: Individuum und Gemeinschaft im Lichte der Hegelschen Philosophie des Geistes, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 7/4 (1953), S. 512 ff. und neuerdings, in direkter Auseinandersetzung mit Popper Ostritsch, Sebastian: Hegels Rechtsphilosophie als Metaethik, Münster 2014, S. 42 ff. 276

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Die »conscience collective« (Durkheim)

Kollektivismus Ausdruck verleiht, nämlich »collective consciousness« oder »group consciousness«, handelt es sich um eine, die der französischen Durkheim-Schule entstammt. Durkheim selber war es, der den Begriff der conscience collective aufgebracht und ihm in seiner theoretischen Fundamentierung der empirischen Soziologie sogar die Stelle eines Zentralbegriffs angewiesen hat. Ich will daher sehen, ob sich aus diesem Klassiker soziologischen Denkens Einsichten gewinnen lassen in das, was sub specie der Sozialontologie den allseits schlecht gelittenen Kollektivismus auszeichnet. Das sprechendste Zeugnis aus Durkheims Feder bietet dafür seine Dissertation De la division du travail social aus dem Jahr 1893. Dort führt Durkheim den Begriff der sozialen Solidarität (solidarité sociale) ein. Anders als bei dem später aufkommenden Kampfbegriff der Arbeiterbewegung handelt es sich dabei jedoch nicht um einen politisch engagierten Begriff, sondern um eine rein analytische Kategorie des Soziologen. Sie soll dasjenige benennen, was es ist, das eine menschliche Gesellschaft integriert: was Menschen Angehörige der betreffenden Gesellschaft sein lässt. ›Solidarität‹ ist Durkheims Name für die Integration, den Zusammenhang und Zusammenhalt einer Gesellschaft. 279 In der Geschichte menschlicher Sozialverbände hat sich das in eine Vielzahl verschiedener Formen auseinandergelegt. Durkheim verbindet mit der Analysekategorie eine geschichtliche Blickrichtung, wenn er zwei Grundformen sozialer Solidarität unterscheidet. Er macht einen Unterschied zwischen solchen Verbänden, in denen der mechanische (mécanique), und solchen, in denen der organische (organique) Solidaritätstyps vorherrschend ist. Während der eine Typ die Ordnung der vormodernen Gesellschaften repräsentiert, steht der andere für die der modernen Gesellschaften. In den großen Industriegesellschaften des 19. Jahrhunderts, die durch Arbeitsteilung gegliedert sind, ist der Einzelne, so Durkheim, nicht mehr in die Gesellschaft integriert, indem er nur gewisse Attribute mit allen Anderen teilt, wie das in den kleinen Agrargesellschaften der Fall war. Sondern er hat an einer der ausdifferenzierten, spezialisierten und – wie die

Seit Lockwood hat sich eingebürgert, stattdessen von systemischer Integration zu sprechen, »the orderly or conflictful relationships between the parts«, im Gegensatz zur sozialen Integration, »the orderly or conflictful relationships between the actors«. (Lockwood, David: Social Integration and System Integration, in: Zollschan, George K./Hirsch, Walter (Hg.): Explorations in Social Change, London 1964, S. 245)

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Der sozialontologische Kollektivismus

Organe eines Organismus – funktional wechselweise voneinander abhängigen Tätigkeitssphären teil. Nicht Gleichheit, sondern Ungleichheit gilt nun als Kitt der Gesellschaft. 280 Man muss das im Spiegel der Zeit sehen. Im 19. Jahrhundert treten die politische Welt des Staates und eine demgegenüber marktförmige Gesellschaft immer deutlicher auseinander. In Deutschland gerät die überkommene Sozialstruktur jedoch um einiges später in Bewegung als in Frankreich mit der 1789 ausgebrochenen Revolution oder in England mit der dortigen industriellen Revolution, die sich bereits bis zum Ende des 18. Jahrhunderts durchgesetzt hatte. Erst seit 1800 wird hierzulande die Gesellschaft als eine vom Staat verschiedene soziale Wirklichkeit entdeckt. Bis zur allgemeinen sprachlichen Anerkennung dieser Verschiedenheit unter dem Namen der ›bürgerlichen Gesellschaft‹ vergehen noch einmal rund vierzig Jahre. Von da an begegnet auch im Umkreis der Theorien, die das Neue und Eigentümliche der bürgerlichen Gesellschaft zu erfassen versuchen, das Wort ›sozial‹, nunmehr und ganz selbstverständlich auf Deutsch. Mit dem Heraufziehen des Kapitalismus, der voranschreitenden Industrialisierung und dem Anschwellen des Handels beginnt der Niedergang des alten Feudalismus, seines Lehns- sowie grundherrschaftlichen Güter- und Besitzwesens. Dagegen steigen die Bedeutung und der Einfluss neuer gesellschaftlicher Kreise, insbesondere von Berufsgruppen wie Kaufleuten und Handwerkern, Bankiers, Verlegern, Manufakturbesitzern, Reedereiunternehmern, Beamten und Angehörigen freier Berufe. Für diese seit der Jahrhundertwende merklich anwachsende, ungemein heterogene Großgruppe von Besitzenden, akademisch Gebildeten und professionsmäßig Ausgebildeten findet die Bezeichnung ›bürgerlich‹ eine neue Verwendung. Zum nichtadeligen Besitz- und Bildungsbürgertum zählt, wer seine gesellschaftliche Stellung mehr den Mechanismen der aus dem Feld des Politischen sich immer stärker herauslösenden und verselbständigenden Sphäre des Marktes verdankt. 281 Die Beschreibung als bürgerliche Vgl. Durkheim, Émile: De la division du travail social (1893), a. a. O., S. 73 f., 98 ff. Vgl. Kocka, Jürgen: Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert, in: Ders. (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 30 ff.; Koselleck, Reinhart/ Spree, Ulrike/Steinmetz, Willibald: Drei bürgerliche Welten? Zur vergleichenden Semantik der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland, England und Frankreich, in: Puhle, Hans-Jürgen (Hg.): Bürger in der Gesellschaft der Neuzeit. Wirtschaft – Politik – Kultur, Göttingen 1991, S. 14 ff.

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Die »conscience collective« (Durkheim)

Gesellschaft streicht, verbunden mit unterschiedlichen Hoffnungen oder Befürchtungen, den ökonomischen Tausch, seine Logik, Prozesse und Institutionen, als strukturbildend für die Gesamtgesellschaft heraus. Sie leitet mithin (von einem vormals politischen und naturrechtlichen) zu einem wirtschaftlich orientierten Selbstverständnis der Gesellschaft über. 282 Dass das Wort von der »civil society« 283 mit diesem Verständnis zuerst 1767 in der politischen Ökonomie des Schotten Adam Ferguson fällt, dass es hernach über Adam Smiths Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations aus dem Jahre 1776 zu Hegel gelangt, der es in seiner Rechtsphilosophie von 1820 mit »bürgerliche Gesellschaft« (GPR, § 181) übersetzt und als Erster im Deutschen inhaltlich neu prägt, 284 schließlich dass Marx und seine Epigonen in ihrer Kritik an der politischen Ökonomie den Ausdruck abschätzig und synonym mit dem der ›kapitalistischen Gesellschaft‹ gebrauchen, sei hier nur am Rande erwähnt. 285 Von Interesse ist vielmehr, dass es im Zuge dieses gesellschaftsstrukturellen Umbruchs erstmals zu einer umfassenden Thematisierung des Sozialen kommt. Hier ist es, dass unser deutsches Wort ›sozial‹ allmählich in seine heutige Bedeutung hineinwächst, was in zwei voneinander abhebbaren Entwicklungsschritten vor sich geht. In der ersten Phase, die bis in die 1840er Jahre hinein anhält, erstarkt in Deutschland zunächst das Bewusstsein einer Differenz zwischen Politischem und Sozialem. Der Staatsrechtler Lorenz von Vgl. Luhmann, Niklas: Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1994, S. 260 f. Der Begriff des Bürgers büßt damit seinen politischen Sinn ein, wie er in der aristotelischen Denktradition selbstverständlich war und wonach der πολίτης durch »Teilhabe am Richten und an der Herrschaft« (Pol. 1275a22 f.) definiert ist. Während sich im modernen Staat die politische Bürgerrolle ausbreitet, aber zu der eines Untertanen verkümmert, blüht daneben die wirtschaftliche Rolle des Bürgers als eines Marktteilnehmers auf, dessen Begriff eine ökonomische Bedeutung gewinnt. Der Ausdruck ›Bürger‹ wird doppeldeutig. 283 Vgl. Ferguson, Adam: An Essay on the History of Civil Society, Dublin 1767. 284 Vgl. Riedel, Manfred: Hegels Begriff der bürgerlichen Gesellschaft und das Problem seines geschichtlichen Ursprungs, in: Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1969, S. 135–168. 285 Daneben besteht der alte Begriff der societas civilis unvermindert fort, welcher ›bürgerlich‹ nicht im ökonomischen, sondern politischen Sinne nimmt. Siehe dafür Kants Metaphysik der Sitten (vgl. RL VI 314) oder, für Hegel zeitlich näher, von Haller, Carl L.: Restauration der Staats-Wissenschaft oder Theorie des natürlichgeselligen Zustands, der Chimäre des künstlich-bürgerlichen entgegengesetzt, Bd. 1, Winterthur 1816, S. xxviii. 282

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Stein hat dafür 1850 die eingängige Formel »Staat und Gesellschaft« geliefert, die beides trennt und zugleich nebeneinander nennt. Damit verbindet er die Erkenntnis, dass die Dynamik der modernen Gesellschaft mit ihren vorwiegend wirtschaftlichen Spannungen zunächst und zumeist relativ selbständig, jenseits des politischen Kräftespiels im Staat, oft sogar gegen jenen sich entfaltet. 286 Der Ausdruck ›sozial‹, den von Stein selbst allerdings nicht verwendet, erfährt in der Konfrontation mit den veränderten Gegebenheiten der Zeit eine Erweiterung seines Bedeutungsgehalts. Damit kann nun alles die Gesellschaft überhaupt Betreffende angesprochen werden, aber noch im bewussten Gegensatz zum Staat. Gemeint ist das andere, das nicht ins Metier der Politik schlägt, der ganze vielschichtige Komplex, dessen eigentlicher Nerv das bürgerliche Markt- und Wirtschaftsgeschehen bildet. Die kritischen Randglossen, die der junge Marx 1844 zu dem Zeitungsartikel Der König von Preußen und die Sozialreform notiert, veranschaulicht diese neue Semantik von ›sozial‹. Soziales und Politisches werden hier sauber voneinander geschieden, wenn Marx einesteils die »politische Ohnmacht Deutschlands« anprangert und anderenteils dessen »soziale Anlage« würdigt: »Man muß gestehen, daß Deutschland einen ebenso klassischen Beruf zur sozialen Revolution besitzt, wie es zur politischen unfähig ist.« 287 Das laut Marx durchaus vorhandene Potenzial auf dem einen Gebiet bestehe neben dem Unvermögen auf dem anderen. Deswegen soll eine eventuelle Umwälzung im sozialen Bereich nicht automatisch eine politische mit einschließen. Mit dieser Bedeutung greift in Deutschland sodann die Rede von der ›sozialen Frage‹ Platz, die den grassierenden Auswüchsen des neuen ökonomischen Regimes Gehör verschaffen will. 288 In einer zweiten Phase wird der Sinn des Ausdrucks ›sozial‹ dann noch allgemeiner und erreicht endlich seine für uns heute nach wie vor verbindliche Fassung (neben der freilich auch andere bestehen). Er benennt nun nicht mehr lediglich ein Bestandstück der bürgerlichen Gesellschaft, die Gesellschaft in Abgrenzung zum Staat, sonVgl. von Stein, Lorenz: Geschichte der socialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, Bd. 1: Der Begriff der Gesellschaft und die Geschichte der französischen Revolution bis zum Jahre 1830, Leipzig 1850, S. xxix ff. 287 Marx, Karl: Kritische Randglossen zu dem Artikel »Der König von Preußen und die Sozialreform. Von einem Preußen« (1844), MEW 1, Berlin 1956, S. 405. 288 Vgl. Wasserrab, Karl: Socialwissenschaft und sociale Frage. Eine Untersuchung des Begriffs social und seiner Hauptanwendungen, Leipzig 1900, S. 20 ff. 286

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Die »conscience collective« (Durkheim)

dern die Integration des letzteren in die erstere, sprich die bürgerliche Gesellschaft als Ganze. Das Soziale greift gewissermaßen über das Politische über und verleibt sich dieses als eine besondere Sphäre neben anderen ein: ›Sozial‹ bringt jetzt als das gegenüber ›politisch‹ höher gestellte und umfassendere Wort zum Ausdruck, was – mit der Stein’schen Formel gesprochen – Staat und Gesellschaft miteinander verbindet. 289 In Frankreich erweist sich social so bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts in immer neuen Kombinationen als überaus produktiv, um mit dieser alles einbegreifenden Bedeutung die gemeingesellschaftliche Natur einer Sache antönen zu lassen. Der Frühsozialist Charles Fourier z. B. spricht von monde social, méchanisme social, génie social, progrès social, mouvement oder problème social. 290 Im deutschen Sprachraum entsteht ca. seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gleichfalls eine Vielfalt neuartiger Wortfügungen, die diese semantische Weite besitzen. So redet man jetzt etwa von sozialer Kultur, sozialer Funktion, sozialen Strömungen bzw. Bewegungen oder von sozialen Kräften; und es kommt das seinerzeit geflügelte Wort in Umlauf vom Alkoholismus als der schlimmsten sozialen Geißel. 291 Ein solcher Einsatz von ›sozial‹ findet sich beispielsweise in dem von Ferdinand Tönnies im Jahre 1887 veröffentlichten Grundlagenwerk Gemeinschaft und Gesellschaft, dem ersten explizit als soziologisch ausgewiesenen Werk in deutscher Sprache. Darin will Tönnies nach eigenem Bekunden eine »neue Analyse der Grundprobleme des socialen Lebens« 292 unternehmen. Gemeinschaft und Gesellschaft In eins damit erweitert sich auch der Gebrauch von ›Gesellschaft‹. Seitdem kann man ohne jedes Beiwort von der Gesellschaft sprechen und damit wie selbstverständlich die Gesamtgesellschaft mit all ihren unterschiedlichen Lebensbereichen meinen, wozu u. a. auch der Bereich des Politischen und des Staates gehört. 290 Zitiert nach Silberling, Edouard: Dictionnaire de sociologie phalanstérienne. Guide des œuvres complètes de Charles Fourier, Paris 1911, S. 411 ff. 291 Beide Wortbedeutungen bekundet bereits eine der frühesten Definitionen unseres deutschen ›sozial‹, die von dem Nationalökonomen Winkelblech (unter dem Pseudonym Karl Marlo) stammt: »Das Wort: social umfasst im weitesten Sinne alle Verhältnisse, die aus dem Zusammenleben der Menschen hervorgehen, im engeren Sinne hingegen nur diejenigen, welche sich nicht auf die Ausübung der Staatsgewalt beziehen.« (Winkelblech, Karl G. (Marlo, Karl): Untersuchungen über die Organisation der Arbeit oder System der Weltökonomie, Bd. I.1: Historischer Theil, Kassel 1850, S. 5) 292 Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie (1887), Darmstadt 21970, S. xv. 289

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versteht er dabei als »zwei Typen socialer Verhältnisse« 293, als »Normaltypen […], zwischen denen sich das wirkliche sociale Leben bewegt« 294. Dieser Gegensatz von Gemeinschaft und Gesellschaft war freilich bereits in der deutschen Sprache vorbereitet und klingt, potenziert durch die deutsche Romantik, noch heute in unserem Reden mit, wonach eine Gemeinschaft enger zusammensteht als eine Gesellschaft. Etwa fühlen sich Familienmitglieder, Nachbarn oder Freunde durchschnittlich oder annähernd in stärkerem Ausmaß miteinander verbunden und durch gegenseitige Loyalität gebunden als beispielsweise eine eigennützig motivierte, auf punktuellen Tausch abgezweckte Beziehung zwischen Verkäufer und Kundschaft, die einander ansonsten fremd bleiben. 295 Tönnies benutzt das Begriffspaar aber zugleich als sozialevolutionäres Erklärungsmodell. Es bezeichnet nicht nur zwei unterschiedliche, begrifflich sich ausschließende reine Typen sozialer Verhältnisse, die in der Realität menschlicher Praxis sehr wohl nebeneinander bestehen können. Es soll darüber hinaus die für die Neuzeit kennzeichnenden makrosoziologischen Transformationsprozesse beschreibbar machen. Diese seien im Wesentlichen ein Übergang von der Vorherrschaft des einen Typs zu der des anderen. Die Folie für den Begriff der Gesellschaft findet Tönnies also in der modernen bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, und zwar in Entgegensetzung zur älteren, vormodernen Gemeinschaft, aus der sie allmählich hervorgegangen ist. 296 Was ist es jedoch, das Gemeinschaft und Gesellschaft teilen, so dass sie zwei Erscheinungsformen desselben sind? Wie muss man den Ebd., S. xxxv. Ebd., S. xlv. 295 Schleiermacher war es, der zum ersten Mal begrifflich zwischen ›Gesellschaft‹ und ›Gemeinschaft‹ differenziert. Vgl. Schleiermacher, Friedrich D. E.: Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799), in: KGA I/2: Schriften aus der Berliner Zeit 1796–1799, Berlin/New York 1984, S. 163–184. Und in Webers Begriffsapparat lebt diese Unterscheidung dann innerhalb der Soziologie als die von »Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung« fort. Vgl. Weber, Max: Soziologische Grundbegriffe (1921), a. a. O., S. 21 ff. 296 Vgl. Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 191; Die Entstehung meiner Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 7 (1955), S. 464 f. Siehe dazu Osterkamp, Frank: Gemeinschaft und Gesellschaft: Über die Schwierigkeiten einen Unterschied zu machen. Zur Rekonstruktion des primären Theorieentwurfs von Ferdinand Tönnies, Berlin 2005. 293 294

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begrifflichen Einteilungsgrund angeben, der von Tönnies nach der einen Seite als Gemeinschaft und nach der anderen Seite als Gesellschaft ausgefaltet wird? Oder: Was ist das Soziale am »socialen Leben« bzw. den »socialen Verhältnissen«, und zwar an den gegenwärtigen der Moderne ebenso sehr wie den vergangenen der Vormoderne? Diese Frage nach dem Prinzipiellen bleibt bei Tönnies im Argen. 297 Der Ausdruck ›sozial‹ ist zum damaligen Zeitpunkt allem Anschein nach nicht nur in seiner Bedeutung voll ausgereift. Er ist sogar schon wieder zur Blässe eines Vertrauten verblichen, das sich unauffällig im (wissenschaftlichen) Reden herumtreibt und über das ohne zu zögern hinweggeredet werden kann. Tönnies begriffliche Vermessung der menschlichen Gesellschaft nach Art, Dichte und Dauer überspringt, was er bei seinen Lesern offenbar als nicht weiter erklärungsbedürftig voraussetzen zu können glaubt. Wie Tönnies ist auch Durkheim an einer Aufarbeitung der zeitgenössischen bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Absetzung von historisch vorangegangenen Organisationsweisen des gesellschaftlichen Lebens gelegen. Sein Interesse geht dahin, die Entstehung der organischen Solidarität moderner Gesellschaften aus der mechanischen Solidarität vormoderner Gesellschaften nachzuzeichnen. 298 Das aber teilt Durkheim mit Tönnies nicht, dass er darüber hinweggeht, worin die durchgängige Bestimmtheit des so Unterschiedenen besteht. Auch in Frankreich ermöglicht die Semantik von ›social‹ eine vergleichende Beschäftigung mit dem Neuen im Gegensatz zum Früheren und Vergangenen, indem sie das beiden Gemeinsame bezeichenbar macht – die solidarité sociale. Das war nicht immer so. Rousseau noch steht im 18. Jahrhundert semantisch auf aristotelischem Boden. Denn seine politische Vertragslehre denkt den Vertrag nicht als Gründungsgeste gesellschaftlichen Zusammenlebens überhaupt. Vielmehr soll er solch einem Zusammenleben seine einzig richtige Herrschaftsform aufstellen. Rousseaus Wortbildung vom Contract social ver-

In einem späten Lexikonartikel aus dem Jahr 1931 bemerkt Tönnies lediglich, dass »soziale Verbundenheit« eine »gegenseitige Abhängigkeit« bedeutet, d. h. »daß der Wille des einen auf den Willen des anderen wirkt, fördernd oder hemmend oder beides«. (Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 183) 298 Tönnies Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft hat Durkheim eine eigene Rezension gewidmet, worin seine volle Sympathie für diese Begriffsbildung zum Ausdruck kommt. Vgl. Durkheim, Émile: Communauté et société elon Tönnies, in: Revue philosophique 27 (1889), S. 416–422. 297

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wendet social in einer Weise, dass es ununterschieden ist von politique. 299 Die neue Selbstverständlichkeit jedoch verführt Durkheim nicht dazu, die begriffliche Aufbereitung des trotz aller Veränderung Weiterbestehenden für überflüssig zu erachten. Ganz im Gegenteil sogar, er spricht das selbst an: »la nature sociale de la solidarité« 300, die soziale Natur jener Solidarität. Worin besteht sie? Was ist das Soziale an der sozialen Solidarität? In De la division du travail social legt Durkheim das und damit die beiden Grundformen sozialer Solidarität, welche er unterscheidet, in einer intentionalistischen Begrifflichkeit dar. Das Bindemittel menschlicher Gesellschaft soll allemal eine Sache des Bewusstseins ihrer Mitglieder sein. Im Zuge dessen ist es, dass das Konzept einer conscience collective begegnet. Denn was die Menschen verbindet und zu Mitgliedern einer Gesellschaft macht, sei nichts anderes als ebendies, ihr kollektives Bewusstsein.

b)

Das Konzept sozialer Tatsachen

Wo immer Menschen auf die eine oder andere Weise zusammenleben, schickt Durkheim im Vorwort zur zweiten Auflage von De la division du travail social voraus, entwickeln sie unausbleiblich über kurz oder lang ein »Gefühl für das Ganze [sentiment du tout]« 301 ihres Zusammenlebens. Es sei dies eine »Bindung [attachement]« an etwas, was »das Individuum überschreitet [dépasse l’individu]«. Im Vorwort zur ersten Auflage hat Durkheim das, woran man da gebunden ist, bereits als die Tatsachen des moralischen Lebens identifiziert, welche empirisch zu erforschen der Soziologie aufgegeben sein soll. Die faits de la vie morale gilt es – in den zwei Jahr später erscheinenden Règles de la méthode sociologique wird stattdessen von sozialen Tatsachen (faits sociaux) die Rede sein –, nach der Methode der sog. Bereits der Untertitel des Werkes, der auf Principes du droit politique lautet, lässt erahnen, dass die Gesellschaft für Rousseau den politischen Bund meint. Wahlweise spricht er dann auch mit derselben Bedeutung entweder vom »corps social« (CS 370) oder vom »corps politique« (CS 362). Dasselbe gilt für seine Verwendung des Adjektivs in Wendungen wie »l’ordre social« (CS 352), »l’état social« (CS 357), »l’union sociale« (CS 375), »lien social« oder »système social« (CS 367). Seinem Sinn nach kann politique hier jederzeit an die Stelle von social treten. 300 Vgl. Durkheim, Émile: De la division du travail social (1893), a. a. O., S. 32. 301 Durkheim, Émile: De la division du travail social (1893), a. a. O., S. xvii. 299

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positiven Wissenschaften zu untersuchen, um so auch die Soziologie zu einer echten Wissenschaft umzuschaffen. Und dergleichen Tatsachen, wie Durkheim präzisiert, bestehen in »Verhaltensregeln [règles d’action], welche man an bestimmten Merkmalen erkennen kann« 302. Im Vergleich dazu holt Durkheim in Les Règles de la méthode sociologique aus dem Jahr 1895 weiter aus. 303 Was er dort unternimmt, ist, für das erfahrungswissenschaftliche Studium sozialer Tatsachen eine begriffliche Spezifizierung der Besonderheit solcher Tatsachen zu geben. Die Frage, welche er sich vorsetzt, lautet, woran man denn erkennen kann, dass es sich bei einer Tatsache um ein potenzielles Untersuchungsobjekt der Soziologie, sprich um eine soziale Tatsache, handelt. Was er sucht, ist eine »Definition [définition]« 304 ihres Begriffs. Und dabei stellt er den Regeln des äußeren Verhaltens solche des inneren Denkens und Fühlens gleichwertig zur Seite. 305 Durkheim will dem »Wort ›sozial‹« 306 einen bestimmten Sinn geben. Den soll es aber einzig unter der Voraussetzung haben, dass »lediglich die Erscheinungen damit benannt werden, die in keine andere schon bestehende und benannte Kategorie fallen. Sie bilden also das der Soziologie eigene Gebiet.« Und zwar sei der spezielle Charakter dieser Erscheinungen darin zu sehen, dass sie »außerhalb der Individuen [extérieures à l’individu]« stehen und »mit Zwangsgewalt [pouvoir de coercition] ausgestattet sind, kraft deren sie sich ihnen aufdrängen [s’imposent à lui].« 307 Wenn man etwa geltendes Recht übertritt, wendet es sich durch den zu seiner Einhaltung bzw. zur Ahndung seiner Verletzung abgestellten Stab von Personen gegen einen. Oder wenn man gewisse ungeschriebene Konventionen missachtet, in seiner Kleidung z. B. von den Sitten einer Region oder Klasse abweicht, muss man Reaktionen der Missbilligung von praktisch jedermann gewärtigen. Doch hat der Zwang, den Durkheim im Auge Ebd., S. i. Die Règles waren zunächst 1894 als Artikel in der Revue philosophique und sind erst 1895 in Buchform erschienen. 304 Durkheim, Émile: Les règles de la méthode sociologique (1895), Paris 181973, S. xx, xxi, 7, 12, 14 und passim. 305 Inwiefern die Règles eine Selbstkorrektur gegenüber der Division du travail social darstellen, dafür siehe Alexander, Jeffrey C.: The Inner Development of Durkheim’s Sociological Theory: from Early Writings to Maturity, in: Ders./Smith, Philip (Hg.): The Cambridge Companion to Durkheim, Cambridge 2005, S. 136 ff. 306 Durkheim, Émile: Les règles de la méthode sociologique (1895), a. a. O., S. 5 f. 307 Ebd., S. 5. 302 303

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hat, keinesfalls ausschließlich die Gestalt einer Maßregelung durch andere Menschen. Er kann ebenso und früher noch in dem Widerstand bestehen, den das betreffende Phänomen, durch Sozialisation und Erziehung internalisiert, schon dem bloßen Sinnen und Trachten entgegensetzt, sofern dieses damit nicht konform geht: »Eine soziale Tatsache [fait social] ist an der äußerlichen Zwangsgewalt [pouvoir de coercition externe] zu erkennen, die es über die Individuen ausübt oder auszuüben imstande ist; und das Vorhandensein dieser Gewalt zeigt sich wiederum an entweder durch das Dasein einer bestimmten Sanktion [sanction déterminée] oder durch den Widertand [résistance], den die Tatsache jedem individuellen Beginnen [entreprise individuelle] entgegensetzt, das sie zu verletzen geeignet ist.« 308

Als soziale Tatsache adressiert Durkheim sonach solches, was einerseits qua Tatsache dem Individuum äußerlich und so, wie wir noch erfahren werden, der wissenschaftlichen Erforschung fähig ist. Hier ist aber zunächst das entscheidend, dass in der Rede von sozialen Tatsachen speziell diejenige Sorte von Tatsachen gemeint ist, welche andererseits qua soziale mit Zwangsgewalt ausgestattet sind, kraft deren sie sich dem Einzelnen nötigenfalls auferlegen, wenn er seinen Sinn davon ab- und sein Verhalten gegen sie wendet. Und das sollen, so bestimmt Durkheim nun anders als in De la division du travail social mit voller Weite, die »Weisen des Handelns, Denkens und Fühlens [manières d’agir, de penser et de sentir]« 309 sein, welche auf unterschiedliche Art sanktionsbewehrt das Leben aller oder zum Mindesten einer überwiegenden Zahl der Beteiligten flexibel, aber kontinuierlich vereinheitlichen. Durkheim rückt damit als Erster die Normstruktur des Sozialen in den Blickpunkt, was keineswegs darauf hinausläuft, dass gesellschaftliches Leben und Enkulturation insEbd., S. 11. So auch im Vorwort zur zweiten Auflage: »Wir lassen diese [sozialen Tatsachen; d. Verf.] in besonderen Arten des Handelns oder Denkens [manières de faire ou de penser] bestehen, die an der Eigenheit erkennbar sind, dass sie auf das Bewusstsein der Einzelnen einen zwingenden Einfluss [influence coercitive] auszuüben vermögen.« (S. xx) 309 Ebd., S. 4, 5. Daneben ist von »Formen des Denkens oder Handelns [façons de penser ou d’agir]« (S. xvii), »Weisen zu handeln oder zu denken [manières de faire ou de penser]« (S. xx), »kollektive Handlungs- und Denkweisen [manières collectives d’agir ou de penser]« (S. xxii), »Typen des Verhaltens und des Denkens [types de conduite ou de pensée]« (S. 4) oder »Formen zu handeln oder zu fühlen oder zu denken [façons d’agir ou de sentir ou de penser]« (S. 13) die Rede. Siehe auch Durkheim, Émile: De la division du travail social (1893), a. a. O., S. xxxvii; Leçons de sociologie. Physique des mœurs et du droit (1890–1900), a. a. O., S. 5, 6, 20. 308

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gesamt ein repressiver Vorgang sei. Und er tut das im Gegensatz zu dessen Nachahmungsstruktur nach Gabriel Tarde sowie lang vor der an das Spätwerk von Wittgenstein sich anschließenden Debatte seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. 310 Man hat diese Sozialtheorie nicht zu Unrecht als soziologischen Kantianismus betitelt. Nimmt sie doch in der Tat substanzielle Impulse aus der Kant’schen Differenz von Sein und Sollen auf. 311 Anders als Kant verfolgt Durkheim jedoch kein metaphysisches Programm. Er will die Sozialphysik (physique sociale), welche in den 1830er Jahren Adolphe Quételet und Auguste Comte propagieren, 312 in eine historisch-komparative Wissenschaft umschmelzen, die zur Erkenntnis sozialer Tatsachen statt auf Deduktion konsequent auf Induktion, statt auf Spekulation konsequent auf Beobachtung und Vergleich setzt. Dazu muss vor allem festgelegt werden, wie eine derartige Tatsache gegenüber anderen Sorten von Tatsachen unterscheidbar ist. Und Durkheim lässt sich herbei von Kants Moralphilosophie inspirieren. Deren Einsichten will er in die Erfahrungswissenschaft übernehmen, die Metaphysik der Sitten sozusagen in eine Soziologie der Sitten überführen. 313 Im Ergebnis bedeutet das, dass der imperative Charakter der Moral, den Kant herausstellt, dem Soziologen zum Signum des Sozialen wird. Durkheim denkt das Soziale als eine der Kant’schen Moralauffassung gegenüber empirisierte Sphäre des Sollens: Die Gepflogenheiten des äußeren Handelns sowie inneren Denkens und Fühlens, welche in einer Gesellschaft in Kraft sind und die zum ureigenen Objekt der Soziologie erhoben werden, sind ihm durch eine normatiTarde sieht im gesellschaftlichen Geschehen einen im Menschen selbst angelegten Nachahmungsdrang am Werk. Vgl. Tarde, Gabriel: Les lois de l’imitation. Étude sociologique, Paris 1890. Für Durkheim hingegen ist die Nachahmung nicht Ursache, sondern die durch Gesellschaft ggf. erzwungene Wirkung. Vgl. Durkheim, Émile: Les règles de la méthode sociologique (1895), a. a. O., S. 12 Anm. 311 Vgl. Schluchter, Wolfgang: Grundlegungen der Soziologie. Eine Theoriegeschichte in systematischer Absicht, Bd. 1, Tübingen 2009, S. 107 ff. 312 Vgl. Quételet, Lambert A. J.: Sur l’homme et le développement de ses facultés, ou essai de physique sociale, 2 Bde., Paris 1835; Comte, Auguste: Cours de philosophie positive, Bd. 4–6, Paris 1839 ff. 313 Durkheim will so etwas früh schon in der in Deutschland damals betriebenen positiven Moralwissenschaft vorgebildet gefunden haben. Vgl. Durkheim, Émile: La science positive de la morale en allemagne, in: Revue philosophique 24 (1887), S. 33– 58, 113–142, 275–284; La philosophie dans les universités allemandes, in: Revue international de l’enseignement 13 (1887), S. 313–338, 423–440. 310

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ve Potenz gekennzeichnet. Denn sie fordern von dem Einzelnen, etwas zu tun oder zu lassen, wo dieser im Begriff steht, dem nicht von selber nachzukommen. Und für den Fall des Zuwiderhandelns sehen sie Sanktionsmittel verschiedenster Art vor. 314 Doch damit ist keineswegs schon alles abgetan. Durkheim verneint dies nachdrücklich. Im Vorwort zur zweiten Auflage der Règles setzt er sich gegen namentlich nicht genannte Kritiker zur Wehr, er habe das Soziale allein durch externen oder internen Zwang definieren wollen. Ganz im Gegenteil, gerade um den Resultaten der positiven Forschung nicht vorzugreifen, der er allererst die Gasse freizuräumen trachtet, jedoch um sie vorab zu orientieren, so dass der Forscher soziale Tatsachen nicht übersieht oder mit anderen verwechselt, wolle er lediglich einige »äußere Kennzeichen« 315 zusammentragen, welche die in Rede stehenden Tatsachen zuverlässig anzeigen. Nur darum sei es ihm zu tun, eine »vorläufige Definition« 316 oder »Initialdefinition« 317 anzubieten, die mitnichten schon sämtliche Kriterien sozialer Tatsachen befasst, aber mit deren Hilfe derartige Tatsachen jederzeit »erkennbar« 318 sind. Und es seien eben beabsichtigte oder ins Werk gesetzte Abweichungen von allgemeinen Regeln des Handelns, Denkens und Fühlens, welche die betreffenden Regeln auffällig werden lassen und überdies erlauben, diese hinsichtlich der Sanktionen, welche sie für Fehlverhalten in Aussicht nehmen, zu klassifizieren (in rechtliche, konventionale usf.). Das Konzept sozialer Tatsachen, welches in den Règles de la méthode sociologique begegnet, besitzt nun aber seinen Unterbau in der Vorstellung eines Kollektivbewusstseins. Das letztere ist in die ersteren involviert und macht sie zu dem, was sie sind. In den Règles selber findet sich das kaum; lediglich im Vorwort zur zweiten Auflage sowie einer dafür nachträglich hinzugefügten Fußnote fällt der Aus-

Später machen moralische Tatsachen für Durkheim nur noch einen Unterfall der sozialen Tatsachen aus. Denn moralische Tatsachen seien niemals nur normativ, was sie als soziale Tatsachen auszeichnet, sondern entgegen Kant überdies auch »erstrebenswert«. In ihnen drücke sich aus, was in einer Gesellschaft als »das Gute«, nicht das individuell, sondern kollektiv Erstrebenswerte angesehen wird. (Durkheim, Émile: Détermination du fait moral (1906), in: Sociologie et philosophie, Paris 1924, S. 50 f.) 315 Durkheim, Émile: Les règles de la méthode sociologique (1895), a. a. O., S. xv, xx, xx f. Anm. 316 Ebd., S. xx. 317 Ebd., S. xxi. 318 Ebd., S. xx. 314

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druck »conscience collective« 319 zweimal. Einschlägig ist dafür vielmehr Durkheims Doktorarbeit De la division du travail social. Man muss beide Schriften daher aufeinander beziehen. Diejenige Art sozialer Solidarität, die Durkheim in Analogie zu anorganischen Körpern als ›mechanisch‹ betitelt, 320 soll in »einer bestimmten Übereinstimmung des Bewusstseins aller Individuen mit einem gemeinsamen Typ« 321 bestehen. Sie ist durch weitreichende Homogenität ihrer Elemente charakterisiert. Der Mensch sei Teil der Gesellschaft, indem er mit Anderen eine gemeinsame Gestalt des Bewusstseins teilt; er sei insofern eines ihrer Mitglieder, als er die für alle typischen Handlungsformen, Überzeugungshaltungen und Empfindungsweisen an den Tag legt. Dagegen soll diejenige Art sozialer Solidarität, die Durkheim in Analogie zur Physiognomie lebender Wesen als ›organisch‹ anspricht, 322 ein »System von verschiedenen und speziellen Funktionen« ausmachen, »die bestimmte Beziehungen vereinigen« 323. Sie konstituiert sich immer auch durch eine gewisse Heterogenität seiner Elemente. Der Einzelne sei in die Gesamtgesellschaft eingebunden, indem er an einem ihrer unterschiedlichen Teilbereiche partizipiert; er sei insofern eines ihrer Mitglieder, als er die für die Angehörigen einer der ausdifferenzierten und spezialisierten Tätigkeitssphären, welche wie die Organe eines Organismus funktional verschränkt sind, charakteristische Bewusstseinsgestalt zeigt, die jeweiligen Handlungsformen, Überzeugungshaltungen und Empfindungsweisen. Das kollektive Bewusstsein des Menschen bestimmt sich bei Durkheim prinzipiell, will sagen mit Geltung sowohl für den Fall mechanischer wie für denjenigen organischer Solidarität, gegen das individuelle Bewusstsein (conscience individuelle): »Wir haben zwei Weisen von Bewusstsein [deux consciences] in uns: die eine enthält Zustände [états], die nur jedem von uns eigen sind [sont personnels à chacun de nous] und die uns charakterisieren, während die der anderen jedem Mitglied der Gesellschaft gemeinsam sind [sont communs à toute la société]. Die erste Weise stellt nur unsere individuelle Persönlichkeit [personnalité individuelle] dar und konstituiert diese; die zweite stellt

319 320 321 322 323

Ebd., S. xvii, 103 Anm. Vgl. Durkheim, Émile: De la division du travail social (1893), a. a. O., S. 100. Ebd., S. 73. Vgl. ebd., S. 101. Ebd., S. 99.

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den Kollektivtyp [type collectif] dar und folglich die Gesellschaft, ohne die er nicht existierte.« 324

Die conscience individuelle heißt so, weil es sich dabei um das einem Menschen allein eigentümliche Bewusstsein handelt. In ihr kondensiert Durkheim die partikuläre Qualität, die Einzelnheit des Einzelnen. Das Individualbewusstsein schließt diejenigen Zustände ein, welche bei jedem die je persönlichen sind und ihn von den anderen Mitgliedern der Gruppe, zu der er gehört, trennen. 325 Hingegen ist die conscience collective das überpersönliche, mit Anderen geteilte Bewusstsein eines Menschen. Darin sieht Durkheim die gemeinschaftliche Qualität, die Allgemeinheit des Individuums beschlossen. Das Kollektivbewusstsein enthält diejenigen Zustände, welche jedem gemeinsam sind und ihn mit den restlichen Angehörigen seiner Gruppe verbinden. Die Betreffenden folgen in ihren Praxisvollzügen denselben »règles d’action« bzw. leben dieselben »manières d’agir, de penser et de sentir« dar. Darauf lautet auch Durkheims vielzitierte Worterklärung des Kollektivbewusstseins: »Die Gesamtheit der gemeinsamen Überzeugungen und Gefühle im Durchschnitt der Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft bildet ein umgrenztes System, das sein eigenes Leben hat; man könnte sie das kollektive oder gemeinsame Bewusstsein [conscience collective ou commune] nennen.« 326 Das kollektive Bewusstsein steht in einem invertierten arithmetischen Verhältnis zum individuellen Bewusstsein. Je größer die Extension, Intensität und Stabilität des ersteren, desto kleiner die des letzteren und vice versa. 327 Im Fall mechanischer Solidarität bleibt das je Besondere der Menschen ohne Berechtigung. Diese kann sich Ebd., S. 74. »Im Bewusstsein eines jeden von uns gibt es zwei Bewusstseine [deux consciences]; das eine, das wir mit der ganzen Gruppe gemeinsam [commune] haben und das folglich nicht uns gehört, sondern der lebendigen und in uns wirkenden Gesellschaft; das andere, das im Gegenteil dazu in uns das repräsentiert, was uns persönlich [personnel] und unterscheidbar [distinct] eigen ist und uns dadurch zu einem Individuum [individu] macht.« (S. 99) Ähnlich in Leçons de sociologie. Physique des mœurs et du droit (1890–1900), a. a. O., S. 95 f., wo Durkheim allerdings lediglich auf die »conscience collective« zu sprechen kommt. 325 Es ist, wie Durkheim sich auch ausdrückt, das »partikuläre Bewusstsein [consciences particulières]«. (Durkheim, Émile: De la division du travail social (1893), a. a. O., S. 46, 73, 83, 125, 178, 268) 326 Ebd., S. 46. Für den Ausdruck »conscience commune« siehe auch S. 46 ff., 67, 69 ff., 99, 119, 124 ff., 265, 267 ff., 285 ff., 296, 392, 396 und passim. 327 Vgl. ebd., S. 99, 124 f. Siehe dazu Kippele, Flavia: Was heißt Individualisierung? Die Antworten soziologischer Klassiker, Opladen/Wiesbaden 1998, S. 97 ff. 324

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nur reproduzieren, indem jenes in seine Schranken gewiesen bleibt. 328 Die überindividuellen Handlungsformen, Überzeugungshaltungen und Empfindungsweisen der Angehörigen einer vormodernen Gesellschaft überragen an Umfang, Stärke und Beständigkeit deren bloß individuelle um ein Beachtliches. Anders im Fall organischer Solidarität. Mit ihr gelangt das Trennende in sein Recht; sie verlangt gerade, dass jenes sich bis zu einem gewissen Grade auswächst. Die Eigenheiten der Gesellschaftsmitglieder finden fortan Raum zu gedeihen. 329 Das heißt aber nicht, dass das Allgemeine und Verbindende in der modernen Gesellschaft von völligem Verschwinden bedroht ist. Es zieht sich auf abstrakte, die Einheit arbeitsteiliger Differenzierung und Spezialisierung betreffende Aspekte der menschlichen Handlungsformen, Überzeugungshaltungen und Empfindungsweisen zurück. Unter deren überwölbendem Dach blüht ein Reichtum konkreter Differenzen, welche die Struktur gesellschaftlicher Arbeitsteilung wahren und mittragen. 330 »Das Kollektivbewusstsein muss also einen Teil des Individualbewusstseins freigeben, damit dort spezielle Funktionen entstehen, die es nicht regeln kann.« 331 Was die sozialontologische Frage anbelangt, gehört Durkheim damit zu jenem Kreis von Denkern, auf den wir bereits getroffen sind. Wie Simmel, Weber, Schütz, Searle und andere gibt er dem Sozialen eine bewusstseinstheoretische Fassung. Noch dazu spricht er auch ausdrücklich vom »psychischen Leben der Gesellschaft [vie psychique de la société]« 332, und den jeweiligen Typ sozialer Solidarität bezeichnet er auch als »psychischen Typ der Gesellschaft [type psychique de la société]« 333. Der ontologische Begriff des Sozialen, den Durkheim konstruiert, ist dabei ganz auf jene Kollektivität berechnet, welche die kollektiven Zustände des Bewusstseins der Menschen kennzeichnet. Sozial ist danach all dasjenige, was entweder vom kollektiven Be-

Vgl. Durkheim, Émile: De la division du travail social (1893), a. a. O., S. 73 f. Vgl. ebd., S. 141. Der gesellschaftliche Körper bewegt sich nun, indem die »sozialen Moleküle«, aus denen er sich zusammensetzt, eine »eigene Bewegtheit« (S. 100) besitzen. Zu Durkheims einschlägiger Rede vom neuzeitlichen culte de l’individu siehe Lotter, Maria-Sibylla: Kult des Individuums. Zum Verhältnis von Autonomie und Anomie bei Durkheim und Guyau, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 53/2 (1999), S. 237 ff. 330 Vgl. Durkheim, Émile: De la division du travail social (1893), a. a. O., S. 146 f., 396. 331 Ebd., S. 101. 332 Ebd., S. 46. Siehe auch S. 46 Anm., 154, 175. 333 Ebd., S. 73. Siehe auch S. 46. 328 329

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wusstsein abhängt, namentlich die Gepflogenheiten im Handeln, Denken und Fühlen, darin eine mehr oder weniger große Zahl von Personen konvergiert, oder aber selber ein Zustand solch eines Kollektivbewusstseins ist. Anders als Searle qualifiziert Durkheim das menschliche Bewusstsein in De la division du travail social immerhin einmal als ein soziales. 334 Zumeist jedoch redet er von der »conscience collective« (im Gegensatz zur »conscience individuelle«). Als etwas Soziales spricht Durkheim stattdessen in der Regel solche Tatsachen an, die »manières d’agir, de penser et de sentir« sind. Aber die betreffenden »manières d’agir, de penser et de sentir« involvieren doch die »conscience collective« (anstatt die »conscience individuelle«); durch jene werden sie erst als etwas Soziales begründet. Und Durkheim konzeptualisiert gleichfalls das Nichtsoziale in Bezug auf das Bewusstsein. Er setzt dieses in die Individualität, welche die individuellen Zustände des Bewusstseins charakterisiert. Nichtsozial ist demnach all dasjenige, was vom individuellen Bewusstsein abhängt, namentlich die Gepflogenheiten des Handelns, Denkens und Fühlens eines Individuums, welche von denen Anderer divergieren, oder selber ein Zustand solch eines Individualbewusstseins ist. 335 Und Durkheims Rede von Zuständen des Bewusstseins 336 legt nahe, dass das Kollektive am Kollektivbewusstsein ebenso wie das Individuelle am Individualbewusstsein das Was oder das Wie der Gerichtetheit des Bewusstseins betrifft: das eine seiner Relate, das Intendierte, oder die Relation des Intendierens. Dass die Mitglieder Vgl. ebd., S. 46. Durkheim weist zwar einmal darauf hin, dass, weil »man die Ausdrücke kollektiv und sozial oft miteinander verwechselt«, »man leicht annehmen könnte, dass das kollektive Bewusstsein das ganze soziale Bewusstsein ist« (Ebd., S. 46). Allerdings ist das, wie der Rest des Absatzes zeigt, lediglich auf die »conscience collective« in Gesellschaften mit fortgeschrittener arbeitsteiliger Organisation hin gesagt. Vermutlich hat Durkheim hier vor Augen, dass wir auch innerhalb jedes funktional differenzierten und spezialisierten gesellschaftlichen Teilbereichs in zusätzlichen Aspekten unseres Handelns, Denkens und Fühlens mit Anderen übereinstimmen, die wie wir da tätig sind (darauf läuft das für Durkheims Studie bedeutsame Stichwort der »professionellen Gruppierungen« (S. i) mitsamt deren »professioneller Moral« (S. ii) hinaus), und so ein durchaus reichhaltigeres »conscience sociale« haben. Allerdings ändert das nichts grundsätzlich an Durkheims bewusstseinsförmigem Verständnis des Sozialen: »Mit dem Wort [des Kollektivbewusstseins; d. Verf.] bezeichnen wir einfach die Gesamtheit der sozialen Ähnlichkeiten [similitudes sociales]« (S. 47 Anm.). 336 Vgl. ebd., S. 47, 67, 68, 73, 74, 78, 97 und passim. 334 335

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einer Gruppe in »règles d’action« bzw. »manières d’agir, de penser et de sentir« übereinstimmen, heißt demnach, dass sie sich bewusstseinsmäßig zu demselben oder auf dieselbe Weise verhalten. Was jemand intendiert oder wie er es intendiert, soll eine soziale Bestimmtheit aufweisen. Wenn sich Soziales allerdings ausschließlich auf den intentionalen Gehalt oder die intentionale Form erstreckt, weist das Bewusstsein, wir kennen das bereits, nicht schlechterdings eine soziale Prägung auf. Lediglich manche »états de conscience« sind dann gesellschaftlich bestimmt, eben die kollektiven. Allen übrigen, den individuellen nämlich, geht das gänzlich ab; das intentionale Subjekt, welches sie hat, wäre ein rundherum nichtsoziales Individuum. Anders gesagt erfüllt Durkheims Begriffskonstruktion alle Kriterien des intentionalistischen Paradigmas. Und sie ist entsprechend dem sozialontologischen Individualismus zuzuschlagen. Allein, Durkheim bedient sich in De la division du travail social doch auch Ausdrucksweisen, die in eine andere Richtung deuten. Beispielsweise spricht er von der »moralischen Persönlichkeit«, welche »über den partikulären Persönlichkeiten« steht, und das soll »das Kollektiv [la collectivité]« 337 sein; von der »moralischen Kraft«, die »über dem Individuum« steht und Durkheim als »Kollektivkraft« 338 bezeichnet; vom »kollektiven Leben« 339 einer Gesellschaft sowie den »kollektiven Gefühlen« 340 und »kollektiven Vorstellungen« 341 ihrer Mitglieder; von der »Kollektivseele« 342 oder »gemeinsamen Seele« 343, die eine Gruppe erfüllt; schließlich vom »sozialen Körper« 344, ein alter Topos, dessen Herkommen bis in die politische Philosophie der Antike zurückverfolgt werden kann und der die Einheit der Polis mit der des menschlichen Körpers bzw. der Seele des Menschen vergleicht 345,

Ebd., S. v. Ebd., S. 52. 339 Ebd., S. iii, vii, xxviii, xxxiv, 15, 37, 94 und passim. 340 Ebd., S. 43 f., 47 ff., 69, 73, 77, 127, 131 f. und passim. 341 Ebd., S. 144, 146. In Durkheim, Émile: Les règles de la méthode sociologique (1895), a. a. O. ist im Vorwort zur zweiten Auflage sowie im Haupttext insgesamt dreimal von »kollektiven Vorstellungen« (S. xvii, xviii, 105) und zweimal von »gemeinsamen Gefühlen« (S. 7) bzw. »kollektiven Gefühlen« (S. 105) die Rede. 342 Durkheim, Émile: De la division du travail social (1893), a. a. O., S. S. 77. 343 Ebd., S. 97. 344 Ebd., S. xxxv, 26, 38, 72, 75, 85, 204, 375 und passim. 345 Vgl. Meyer, Ahlrich: Organismus, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6: Mo-O, Basel 1984, Sp. 1348 ff. 337 338

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oder vom, wie Durkheim auch und weitaus öfter noch sagt, »sozialen Organismus« 346. Die Organismusmetapher, wonach die Integration einer Gesellschaft in Analogie zum Gliederbau lebender Wesen zu denken ist, gewinnt im 19. Jahrhundert in all denjenigen Sozialtheorien an Boden, welche ähnlich der Durkheim’schen im Sozialen eine das Individuum irgendwie transzendierende Realität erblicken. 347 Für die Soziologie ist sie geradezu von wissenschaftsbegründendem Charakter. Denn die organische Metaphorik bildet das Vehikel, mittels dessen sie sich im Jahrhundert von Comte, 348 Herbert Spencer 349 und Tönnies 350 ihres eigenen Gegenstandsgebiets zu versichern und als selbständige Wissenschaftsdisziplin einzurichten beginnt. 351 Im 20. Jahrhundert wird das von der soziologischen Systemtheorie beerbt, deren Konzeption autopoietischer Systeme zuerst von den Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela zur Beschreibung der Eigenart von Lebewesen entwickelt, dann aber von Luhmann aufgegriffen und verallgemeinert wird. Durkheim allerdings hat seine Rede vom »sozialen Organismus« niemals als bloße, metaphorische oder analogische Übertragung gewertet. Wie er in der »Einleitung« zu De la division du travail social das grundlegende Problem aufreißt, macht deutlich, dass sich die Ordnung differenzierter und spezialisierter Funktionen seines Erachtens in Organismen und Gesellschaften gleichermaßen findet. Die soziale Arbeitsteilung soll nur eine besondere Form des allgemeinen Lebensgesetzes darstellen: »Seit den Arbeiten von Wolff, von Baer, de Milne-Edwards wissen wir in der Tat, dass sich das Gesetz der Arbeitsteilung auf Organismen und GeDurkheim, Émile: De la division du travail social (1893), a. a. O., S. xxvii, 84, 184, 198, 289, 332, 398 Anm. und passim. 347 Zur Geschichte der organischen Metaphorik im Gesellschaftsdenken siehe Lüdemann, Susanne: Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären, München 2004, S. 79 ff. 348 Vgl. Comte, Auguste: Système de politique positive ou Traité de sociologie, instituant la religion de l’humanité, Bd. 2, Paris 1852, S. 263 ff. 349 Vgl. Spencer, Herbert: The Social Organism, in: Westminster Review 17 (1860), S. 90–121; The Principles of Sociology, Bd. 1, London 21877, Kap. II.2. 350 Tönnies charakterisiert die Gesellschaft als »mechanisches Aggregat«, während die Gemeinschaft ein »lebendiger Organismus« sei. (Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie (1887), a. a. O., S. 5) 351 Vgl. Meyer, Ahlrich: Mechanische und organische Metaphorik politischer Philosophie, in: Archiv für Begriffsgeschichte 13 (1969), S. 133. 346

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sellschaften in gleicher Weise bezieht […]. […] Es handelt sich also nicht mehr um eine soziale Institution, die ihre Wurzeln in der Intelligenz und im Willen des Menschen hat, sondern um ein Phänomen der allgemeinen Biologie, dessen Bedingungen man anscheinend in den Wesenseigenschaften der organisierten Materie suchen muss. Die Teilung der sozialen Arbeit erscheint damit nurmehr eine besondere Form dieses allgemeinen Prozesses zu sein, und die Gesellschaften scheinen sich, indem sie sich nach dem Gesetz richten, einer Strömung zu überlassen, die lange vor ihnen entstanden ist und die ganze lebendige Welt in die gleiche Richtung führt. [Herv. d. Verf.]« 352

Diese Ausdrucksweisen sind es wohl, die Theodor Adorno und neuerdings Pettit dazu bewogen haben, Durkheim für einen Wortführer dessen auszugeben, was ich unter der Bezeichnung des ›sozialontologischen Kollektivismus‹ aufgestellt habe. 353 Zu Unrecht allerdings. Ich möchte gar nicht anzweifeln, dass einige von Durkheims zitierten Formulierungen missverständlich, weil unterschiedlich auslegbar sind; womöglich sind sie auch irreführend, weil unangemessen, um dasjenige zu fassen, was sie fassen sollen. Doch wie es um diese semantischen und sachlichen Streitfragen auch immer bestellt sein mag, eine Auslegung der fraglichen Bedeutung immerhin und damit eine Fassung der fraglichen Sache schließt Durkheim explicite aus. Und das reicht für unsere Zwecke hin. Denn nicht nur, dass Durkheim im ganzen Text von De la division du travail social nirgendwo von dem Kollektiv als dem Substrat des Handelns, Denkens und Fühlens spricht; einmal lediglich verwendet er das Wort »collectivité« 354. In erster Linie ist darauf zu verweisen, dass es sich bei der »conscience individuelle« und der »conscience collective« mitnichten um das Bewusstsein zweier verschiedener

Durkheim, Émile: De la division du travail social (1893), a. a. O., S. 3. So auch Ratzenhofer, Gustav: Die sociologische Erkenntnis. Positive Philosophie des socialen Lebens, Leipzig 1898, S. 221. Das ist nicht unwidersprochen geblieben. Tarde etwa ist ein Kritiker der »Idee vom ›sozialen Organismus‹«: Diese sei bloß die »positivistische Verschleierung eines Wahngebildes«. (Tarde, Gabriel: L’idée de ›l’organisme social‹, in: Revue philosophique de la France et de l’étranger 41 (1896), S. 640) 353 Vgl. Adorno, Theodor W.: Notiz über sozialwissenschaftliche Objektivität, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 17/3 (1965), S. 417 f.; Pettit, Philip: Individualism versus Collectivism: Philosophical Aspects, in: Smelser, Neil J./ Baltes, Paul B. (Hg.): International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences, Bd. 11, Oxford 2001, S. 7310 f.; The Common Mind. An Essay on Psychology, Society, and Politics, a. a. O., S. 131. 354 Durkheim, Émile: De la division du travail social (1893), a. a. O., S. v. 352

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Subjekte handeln soll, das des Individuums einerseits und das eines etwaigen Kollektivs andererseits. Es sind dies vielmehr zwei verschiedene Weisen von Bewusstsein ein und desselben Subjekts. »Ohne Zweifel«, erklärt Durkheim zum Kollektivbewusstsein, »findet es sein Substrat [substrat] nicht in einem einzigen Organ; definitionsgemäß ist es über die ganze Gesellschaft verbreitet [diffuse]« 355. Wenn es aber auch sein Substrat nicht nur in einem Einzelnen findet wie das jeweilige Individualbewusstsein, hat es dieses doch in jedem Einzelnen, der Mitglied der Gesellschaft ist: »Obwohl sich die beiden Weisen von Bewusstsein unterscheiden, sind sie dennoch aneinandergebunden, denn sie bilden zusammen nur ein Bewusstsein und haben zusammen nur ein einziges und gleiches organisches Substrat. [Herv. d. Verf.]« 356 Dem scheint eine Aussage Durkheims diametral entgegenzustehen, welche sich in Les règles de la méthode sociologique findet. Ich will sie nicht unter den Teppich kehren, zumal sie mit dem gleichen Wortlaut daherkommt. Durkheim führt dort nämlich die sozialen Tatsachen, wie er sich nun ausdrückt, zwar auch zurück auf »psychische Phänomene [phénomènes psychiques]« 357. Und er unterscheidet sie ebenfalls von den Tatsachen, welchen das »individuelle Bewusstseins« 358 zugrunde liegt. In dem neuen Vorwort jedoch, das Durkheim für die zweite Auflage des Werkes angefertigt hat, steht zu lesen: »Die sozialen Tatsachen weichen nicht bloß in der Qualität von den psychischen Tatsachen [faits psychiques] ab; sie haben ein anderes Substrat [un autre substrat], sie entfalten sich nicht in derselben Umgebung, sie hängen nicht von denselben Bedingungen ab.« 359 Demnach sollen soziale Tatsachen, Durkheim selber streicht das durch Kursivierung heraus, doch ein anderes Substrat haben. 360 Allerdings hat man es hierbei weder mit einem Widerspruch zu tun, der zwischen zwei Schriften Durkheims aufbricht, noch mit einem Meinungswandel, den Durkheim von der einen Schrift hin Ebd., S. 46. Ebd., S. 74. 357 Durkheim, Émile: Les règles de la méthode sociologique (1895), a. a. O., S. ix, xvii, 5, 30, 66 Anm., 103, 111 Anm. und passim. 358 Ebd., S. xvi, xvii, 5, 101, 109, 110 und passim. 359 Ebd., S. xvii. 360 So auch im ersten Kapitel des Haupttexts der Règles: »Denn da ihr [der sozialen Tatsachen; d. Verf.] Substrat nicht im Individuum gelegen ist, so verbleibt für sie kein anderes als die Gesellschaft« (ebd., S. 5). 355 356

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zur anderen durchmacht. Zunächst ist zum richtigen Verständnis der Textstelle in den Règles zu bemerken, dass mit den dort erwähnten »psychischen Tatsachen«, von denen die »sozialen Tatsachen« abgehoben werden, nichts anderes gemeint ist, wie sich im Fortgang der Ausführungen ergibt, als die »Zustände des Individualbewusstseins [états de la conscience individuelle]« 361 oder, wie Durkheim manchmal kurz schreibt, die »individuellen Tatsachen [faits individuels]« 362. Behauptet wird also nicht, dass soziale Tatsachen »nicht in gewisser Weise ebenfalls psychisch sind«; sie bestehen ja »insgesamt aus Formen des Denkens und Handelns [façons de penser ou d’agir]« 363. Wie die individuellen Tatsachen auch sind und bleiben sie für Durkheim psychische Tatsachen. Sondern gesagt sein soll stattdessen, wie Durkheim erläuternd hinterherschickt, dass »die Zustände des Kollektivbewusstseins [les états de la conscience collective] von anderer Natur sind«, dass es sich um »Vorstellungen einer anderen Art [représentations d’une autre sorte]« handelt. Die Zustände des kollektiven Bewusstseins sind von anderer Art als die des individuellen, und zwar deshalb, weil sie jeweils Vorstellungen anderer Art beinhalten. Das ist der Schlüssel zum richtigen Verständnis. Man darf die Aussage, sozialen Tatsachen »haben ein anderes Substrat« als die individuellen, nicht so interpretieren, als widerspräche Durkheim damit seinen nur zwei Jahre zuvor veröffentlichten Darlegungen in De la division du travail social, oder als revidierte er diese. Es ist nicht der Fall, dass er das Soziale nun an jenes zweite Relat bindet, das zu der Relation, welche unser intentionales Bewusstsein ausmacht, hinzugehört: Durkheim will durchaus nicht Anspruch darauf erheben, das Wer der Intentionalität, sprich derjenige, welcher intendiert, sei im Falle des Kollektivbewusstseins ein anderes als im Falle des Individualbewusstseins. Denn das Wort »Substrat« bezieht sich hier schlicht und ergreifend auf etwas ganz anderes. Wie Durkheims beigegebene Erläuterung klarmacht, zielt es gar nicht auf den Intendierenden, der sich auf irgendeine Weise bewusst zu irgendetwas verhält. Sondern es hebt auf eine spezielle Klasse seiner »Vorstellungen« ab.

»Es scheint uns völlig evident zu sein, dass sich der Stoff [la matière] des sozialen Lebens nicht aus rein psychischen Faktoren, d. h. aus Zuständen des individuellen Bewusstseins erklären lässt.« (Ebd.) 362 Ebd., S. 9, 44. 363 Ebd., S. xvii. 361

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Eine Bemerkung aus dem zweiten Kapitel der Règles verhilft in dieser Angelegenheit zu weiterem Aufschluss. Dort geht es um die erste und grundlegende Verfahrensregel, an die man sich nach Durkheim halten muss, wenn man soziale Erscheinungen einer wissenschaftlichen Behandlung unterziehen will. Im Zuge dessen gibt Durkheim jene Regel auch unter Rekurs auf gewisse Vorstellungen des menschlichen Bewusstseins an. Er schreibt: »Wir müssen also die sozialen Erscheinungen in sich selbst betrachten [considérer en euxmêmes], losgelöst von den bewussten Subjekten, die sie sich vorstellen; wir müssen sie von außen, als äußere Dinge untersuchen [comme des choses extérieures].« 364 Worauf es dabei ankommt, ist, die »Vorstellungen einer anderen Art« aus dem obigen Zitat des Vorworts zusammenzubringen damit, dass es in diesem Zitat aus dem Haupttext »bewusste Subjekte« sind, die sich soziale Erscheinungen »vorstellen«. Soziale Erscheinungen sind, wie Durkheim im zweiten Kapitel sagt, unabhängig von den bewussten Subjekten, welche sie vorstellen, und also von sich selber her zu betrachten. Was etwas Soziales ist, die Konventionen des Handelns, Denkens und Fühlens, soll durch methodisch geregeltes Vorgehen von allen Beteiligten wie auch vom Wissenschaftler selbst, nämlich davon abgelöst werden, wie sie alle dieses vorstellen und so überhaupt erst als etwas Soziales begründen, und als ein ihnen äußerliches Ding genommen werden. Und das ist eben das Bewusstsein der Menschen, genauer jene »Vorstellungen einer anderen Art«, die Durkheim andernorts beim Namen nennt, die »kollektiven Vorstellungen« 365, welche die Betreffenden von den jeweiligen Konventionen des Handelns, Denkens und Fühlens haben. Unsere Kollektivvorstellungen sind es, in Beziehung worauf das Vorwort der Règles feststellt, dass sie die »Bedingungen« hergeben, von denen soziale Phänomene abhängen. Nimmt man somit beide Passagen zusammen, die aus dem Vorwort und die aus dem Haupttext, führt das zu dem Ergebnis, dass »Substrat« in der einen Passage, anstatt auf den Träger des Bewusstseins, auf die kollektiven Vorstellungen gemünzt ist, welche dieser hat und davon sich soziale Erscheinungen herschreiben, wie die andere Passage untermauert. Mit Durkheim zu sprechen nimmt »Substrat« nicht auf den Vorstellen-

364 365

Ebd., S. 28. Ebd., S. xvii, xviii, 105.

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den Bezug, sondern auf das von ihm Vorgestellte oder sein Vorstellen. 366 Meine Deutung, wonach Durkheim in sozialontologischer Hinsicht sehr wohl Individualist ist, erhält zusätzliche Bestätigung durch einen weiteren Umstand. Denn auch Durkheim gefällt sich darin, was einer gewissen Ironie nicht entbehrt, Hegel den schwarzen Peter zuzuschieben; er klebt ihm – nicht wortwörtlich, aber doch in der Substanz – das Prädikat eines Kollektivisten an. In den Vorlesungen, die Durkheim von 1890 bis 1900 wiederholt unter dem Titel Leçons de sociologie. Physique des mœurs et du droit an der Faculté des lettres der Universität Bordeaux hält, grenzt er in der Frage nach dem Aufgabenprofil des modernen Staates eine individualistische von einer kollektivistischen Antwort ab. Dem nachgelassenen Vorlesungsmanuskript zufolge besteht die »individualistische Lösung« darin, dass die »Gesellschaft […] das Individuum zum Gegenstand« hat; »denn das Individuum ist das einzig Reale in der Gesellschaft. Da die Gesellschaft nur ein Aggregat von Individuen darstellt, kann sie keinen anderen Zweck haben als die Entwicklung des Individuums.« 367 Die entgegengesetzte Lösung, welche sich in Durkheims Namensgebung zur »mystischen Lösung« verschleiert, habe »in vieler Hinsicht ihren systematischsten Ausdruck in Hegels gesellschaftstheoretischen Vorstellungen gefunden«: »Nach dieser Auffassung besitzt die Gesellschaft einen den Zwecken der Individuen übergeordneten und davon unabhängigen Zweck. Aufgabe des Staates ist es danach, für die Verwirklichung dieses wahrhaft gesellschaftlichen Zwecks zu sorgen, wobei dem Individuum die Rolle eines InstruÄhnlich sind auch in dem Vortrag Détermination du fait moral, den Durkheim 1906 vor der Société française de philosophie hält, Behauptungen der Art zu lesen: dass »die Gesellschaft als eine Person [une personnalité] betrachtet werden kann, die sich von den Einzelpersonen [personnalités individuelles], aus denen sie sich zusammensetzt, qualitativ unterscheidet«. (Durkheim, Émile: Détermination du fait moral (1906), a. a. O., S. 53) Oder: dass die Gesellschaft ein »Subjekt sui generis« darstellt, das »durch eine Pluralität individueller, zu einer Gruppe assoziierter Subjekte gebildet wird«, ein »kollektives Subjekt [sujet collectif]«, das »etwas anderes sein muss als die Summe der Individuen, aus denen sie sich zusammensetzt« (S. 104). Jedoch ist, wie Durkheim klarstellt, »die Gesellschaft […] dem Bewusstsein der Einzelnen, über das sie hinausreicht, zugleich immanent« (S. 77): »Die Gesellschaft wollen heißt somit einerseits, etwas wollen, das über uns hinausreicht; es heißt aber auch, uns selbst wollen.« (S. 80) 367 Durkheim, Émile: Leçons de sociologie. Physique des mœurs et du droit (1890– 1900), a. a. O., S. 63. 366

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ments zufällt; es hat Pläne in die Tat umzusetzen, die es nicht selbst entworfen hat und die ihn auch nichts angehen.« 368

Durkheim überspannt hier freilich die Sehne des Bogens der Kritik bis zur Verfehlung des Hegel’schen Denkens. Jenes gibt sich ihm wie den anderen Autoren, die ich zusammengetragen habe, nicht wirklich her. Man darf daran jedoch abnehmen, dass Durkheim selber wohl nicht verficht, was er Hegel vorhält. Und das ist, dass der Staat einen den Zwecken der Einzelnen übergeordneten, ja davon unabhängigen Zweck verfolge und die Einzelnen vom Staat als Werkzeug in Dienst genommen würden, um diesen Zweck zu realisieren, welchen sie selber nicht nur nicht entworfen hätten, sondern der sie auch nichts angehe. 369 Wie also Durkheim die Hegel’sche Rechtsphilosophie liest, unterscheiden sich das individuelle Bewusstsein des Einzelnen und das kollektive Bewusstsein des Staates nicht nur begrifflich, sondern substanziell. Der Einzelne habe sich darauf zu werfen, für den Ruhm und die Größe des Staates zu wirken; dadurch aber gebe er sich an etwas weg, was jenseits seiner existiert. Darin liegt, dass man es hierbei mit zwei Instanzen, in meiner Terminologie mit zwei Intendierenden, zu tun haben soll, die jeweils bewusst ihre Zwecke verfolgen, welche sich nicht unbedingt mit denen der je anderen Instanz decken. Das ist es, woran Durkheim Anstoß nimmt: die Meinung, gemäß der der Träger des Bewusstseins zwei eigenständig vorkommende Subjekte sind, Individuum und Staat. Und: gemäß der das erstere sozial zu nennen ist, insofern der letztere vermag, es für sich zu instrumentalisieren. Das aber ist ebendas, was ich unter der Chiffre des ›sozialontologischen Kollektivismus‹ rekonstruiert habe und was, wie gesehen, auch andere Hegel vorhalten. In Absetzung davon sind folglich Durkheims Äußerungen zu seiner eigenen Auffassung zu nehmen. Dass das Soziale etwas sein soll, das »das Individuum überschreitet«, wie es in De la division du travail social heißt, dass es »außerhalb der Individuen« und ihnen gegenüber »mit Zwangsgewalt ausgestattet« sei, wie die Règles sagen, ist tatsächlich, so darf man bekräftigen, im Sinne des sozialontologischen Individualismus zu verstehen. 370

Ebd., S. 66. Der »Kult des Individuums [culte de l’individu]« wird ersetzt, wie Durkheim sagt, durch den »Kult des Staates [culte de la Cité]«. (Ebd., S. 81) 370 Vgl. Koenig, Matthias: Wie weiter mit Émile Durkheim?, Hamburg 2008, S. 29 ff. 368 369

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c)

Das Paradox der sozialwissenschaftlichen Methodenreflexion

In diesen Kontext gehört schließlich auch das Paradoxon, welches Durkheims sozialwissenschaftliche Methodenreflexion birgt und im Vorigen bereits angeklungen ist. Der rasante theoretische Fortschritt der Naturwissenschaften sowie die ihm verdankte Steigerung der technischen Naturbemächtigung hat im 19. Jahrhundert viele dazu verführt, das naturwissenschaftliche Methodenideal, in dem man den ausschlaggebenden Grund für jenen Fortschritt vermutete, an die in der Entwicklung begriffenen Sozialwissenschaften zu adaptieren. Während die Soziologie in Deutschland durch die Arbeiten u. a. von Dilthey, Weber und Schütz eine eher hermeneutische Richtung eingeschlagen hat, ist sie in Frankreich schon früh unter die Botmäßigkeit jenes Positivismus geraten, der damals allgemein in der Zeit lag. Auch Durkheim steht ganz in seinem Bann. Angetrieben von dem Wunsch, das Recht auf echte Wissenschaftlichkeit auch seiner eigenen, noch jungen Disziplin zu vindizieren, hält er an dem positivistischen Pathos seines Lehrers Comte fest. Und mit diesem Pathos führt er in Les règles de la méthode sociologique den Begriff der sozialen Tatsache ein. 371 Zwar beschäftigt sich Durkheim bereits in De la division du travail social mit der »Methode der positiven Wissenschaften [sciences positives]« 372. Die positiven Wissenschaften sind für ihn die modernen Naturwissenschaften. Ihre Methode möchte er in die Sozialwissenschaften übernehmen, um diese ebenfalls auf die Heerstraße richtiggehender Wissenschaft einzuschwenken. In den Règles allerdings gelangt sein szientistisches Programm einer methodischen Uniformierung des wissenschaftlichen Wissenserwerbs zu mehr Ausführlichkeit und Ausdrücklichkeit. Dort geht er nicht nur der Frage nach, wie bereits gesehen, wie sich diejenige Sorte von Tatsachen, denen die Soziologie verschrieben sein soll, charakterisieren lässt, was mithin das Soziale an den sozialen Tatsachen ist. Sondern er stellt desgleiComte selbst spricht noch undifferenziert von »Tatsache«, wenn er etwa in seinem Discours sur l’esprit positif bemerkt, im letzten Stadium der geistigen Entwicklung des Menschen, dem »positiven Stadium«, das sowohl die Naturwissenschaften als auch die Sozialwissenschaften umgreift, gelte die »Grundregel«, »dass keine Behauptung, die nicht genau auf die einfache Aussage einer besonderen oder allgemeinen Tatsache zurückführbar ist, einen wirklichen oder verständlichen Sinn enthalten kann«. (Comte, Auguste: Discours sur l’esprit positif, Paris 1844, S. 12 f.) 372 Durkheim, Émile: De la division du travail social (1893), a. a. O., S. xxxvii. 371

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chen die Frage, auf welchem Weg deren Untersuchung zu geschehen habe. Relevant ist dafür das zweite Kapitel. »Die erste und grundlegende Regel«, schreibt Durkheim dort, »besteht darin, die sozialen Tatsachen als Dinge zu betrachten [considérer les faits sociaux comme des choses].« 373 Und wie er diese Grundregel des Verfahrens wissenschaftlicher Erkenntnis auslegt, lässt das erwähnte Paradoxon heraustreten. 374 Durkheim lehnt seine sozialwissenschaftliche Methodenlehre an Francis Bacon an, den großen Vordenker der Naturwissenschaften. 375 Wo ein neuer Seinsbereich zum Thema wissenschaftlicher Studien aufrückt, sei dieser bereits durch unsystematisch gewonnene und holzschnittartig entwickelte Begriffe vorerschlossen. Könne doch der Mensch, da er inmitten diverser Zusammenhänge lebt, nicht umhin, gewisse Auffassungen davon zu haben und sein Verhalten daran zu orientieren. »Das Nachdenken [la réflexion] geht eben der Wissenschaft voraus, die es nur mit mehr Methode [avec plus de méthode] zu handhaben versteht.« 376 Vom Wissenschaftler müsse man erwarten, dass er nicht bei den Vulgärmeinungen des lebensweltlichen Bildungsprozesses stehen bleibt, welche vor- und außerwissenschaftlichen Bedürfnissen entspringen. Das habe schon Bacon zu Recht für das naturwissenschaftliche Erkennen ausgerufen, dass dieses die Erfahrungen, welche wir im geschäftigen Treiben des Alltagslebens mit unserer physischen Umwelt sammeln, hinter sich zu lassen, zu korrigieren und zu erweitern habe: »Die Begriffe, von denen hier gesprochen wird, sind die notiones vulgares oder praenotiones, die er am Grunde aller Wissenschaften aufweist oder die an der Stelle der Tatsachen stehen.« 377 Und auch der Sozialwissenschaftler bringt unweigerlich Ansichten über Recht Durkheim, Émile: Les règles de la méthode sociologique (1895), a. a. O., S. 15. Ich übersetze chose wie üblich in der deutschen Literatur mit ›Ding‹ und nicht mit ›Sache‹. Denn es kommt darin nicht einfach so etwas wie der phänomenologische Appell ›Zu den Sachen selbst!‹ zum Ausdruck. Durkheim selber weist auf die Vorläuferrolle von Montesquieu und Rousseau für seinen Sprachgebrauch hin. Vgl. Durkheim, Émile: Montesquieu et Rousseau. Précurseurs de la sociologie (1892), Paris 1966, S. 29 ff. 375 Vgl. ebd., S. 17 f., 31 f. Für Bacons Präsenz in den sozialmethodologischen Diskursen des 19. Jahrhunderts siehe Turner, Stephen P.: Search for a Methodology of Social Science. Durkheim, Weber, and the Nineteenth-Century Problem of Cause, Probability, and Action, Dordrecht 1951, S. 107 ff. 376 Durkheim, Émile: Les règles de la méthode sociologique (1895), a. a. O., S. 15. 377 Ebd., S. 17 f. 373 374

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und Moral, Familie, Staat und Gesellschaft mit, in welchen sich sein Leben abspielt. Die Gewöhnung an diese pragmatisch vielfach bewährten, aber unreflektierten, notwendig partikulären und häufig unangemessenen Ansichten mag ihn deswegen verleiten zu glauben, von daher bereits das soziale Leben im Ganzen vorgreifend überschauen zu können. Derartiges Spekulieren soll nach Durkheim die methodisch disziplinierte Art des Vorgehens unterbinden. Diese verstatte, das Wissen sicher auszubilden und zu steigern, nämlich »objektive Resultate zu liefern« 378. Und sie könne objektive Resultate ebendadurch liefern, dass man soziale Erscheinungen als Dinge betrachtet. Soziale Erscheinungen als Dinge zu betrachten, bedeutet dabei zunächst einmal nichts anderes, als sie der »Methode der positiven Wissenschaften« zu unterwerfen. Der Sozialwissenschaftler soll in Bezug darauf so verfahren, wie der Naturwissenschaftler das in Bezug auf natürliche Phänomene tut. ›Ding‹ heißt Durkheim fortan das, was gegeben ist: »Die Erscheinungen als Dinge zu behandeln, heißt, sie in ihrer Eigenschaft als data zu behandeln, welche den Ausgangspunkt der Wissenschaft darstellen.« 379 Für den Theoretiker der Soziologie als einer Erfahrungswissenschaft klingt darin der metaphysikkritische Nebensinn des wahrhaften Seins mit, das sich der sinnengestützten Beobachtung anbietet und wogegen das von der Metaphysik ehemals intendierte übersinnliche Wesen zu spekulativem Schein zerfällt. Doch gibt sich etwas keineswegs von sich aus als Ding. Wie es im Vorwort zur zweiten Auflage der Règles heißt: »Tatsachen einer bestimmten Ordnung als Dinge zu behandeln, bedeutet also nicht, sie in diese oder jene Kategorie des Seienden einzureihen, sondern dass man ihnen gegenüber eine bestimmte geistige Einstellung [certaine attitude mentale] annimmt. Es bedeutet vor allem, an ihre Erforschung mit dem Prinzip heranzugehen, dass man absolut nicht weiß [ignore absolument], was sie sind, und dass ihre charakteristischen Eigenschaften sowie die sie bedingenden unbekannten Ursachen durch Introspektion [introspection] nicht entdeckt werden können, mag sie auch noch so aufmerksam sein. [Herv. d. Verf.]« 380

Ebd., S. 16. Ebd., S. 27. 380 Durkheim, Émile: Les règles de la méthode sociologique (1895), a. a. O., S. xiii. Ähnlich auf S. xiv: »Unsere Regel […] stellt lediglich die Forderung auf, dass sich der Soziologe in den geistigen Zustand [état d’esprit] versetzt, in welchem sich der 378 379

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Wir also sind es, die etwas allererst zum Ding machen, die es in seiner Dinghaftigkeit konstituieren. Und wir machen etwas zum Ding, indem wir der jeweiligen Realität gegenüber eine bestimmte geistige Einstellung einnehmen. Diese Einstellung soll dadurch gekennzeichnet sein, dass sich der Soziologe beim Zugreifen auf die zu erkennende Materie so verhält, als ob er absolut nicht wüsste, womit er es da zu tun hat. Das aber ist genau dann der Fall, wenn er sich mit unermüdlichem Willen gegen sich selbst kehrt und sein gesamtes Vorwissen beiseiteschiebt: »Es ist notwendig, alle Vorbegriffe [prénotions] systematisch auszuschalten [écarter].« 381 Der rigorose Zweifel an der Richtigkeit vorgefasster Meinungen soll das universale Schrittgesetz wissenschaftlicher Erkenntnis und folgerecht auch in der empirischen Soziologie zu befolgen sein, so diese eine echte Wissenschaft sein will. 382 Der methodologische Begriff des Dings besagt in den eigenen Worten des Autors: »Das Ding steht der Idee entgegen [s’oppose] wie das, was man von außen kennt, dem entgegensteht, was man von innen kennt. Ein Ding ist jeder Gegenstand der Erkenntnis, der der Vernunft nicht von Natur aus zugänglich ist, von dem wir uns aufgrund einfacher mentaler Analyse [analyse mentale] keinen angemessenen Begriff machen können, all das, was unserem Geist nur zu erfassen gelingt, wenn er aus sich selbst hinausgeht [sortir de lui-même] und auf dem Weg der Beobachtung und des Experiments von den äußerlichsten und unmittelbar zugänglichsten Eigenschaften zu weniger leicht sichtbaren und tieferliegenden fortschreitet. [Herv. d. Verf.]« 383

Durkheim spielt den freien Blick des sozialwissenschaftlichen Beobachters gegen die Perspektive des vorurteilsverhafteten Lebensweltbewohners aus. Das markiere überhaupt erst den Übergang von der vor- und außerwissenschaftlichen zur wissenschaftlichen Weltstellung, dass diese mit den alltagsweltlichen Benommenheiten radikal bricht, in die jene einbehalten bleibt. Der Sozialwissenschaftler Physiker, Chemiker und Physiologe befindet, sobald er an einen noch unerforschten Bereich herantritt.« 381 Ebd., S. 31. 382 Ähnlich schreibt Durkheim bereits in De la division du travail social: »die Wissenschaft setzt hier wie überall eine völlige geistige Unvoreingenommenheit [entière liberté d’esprit] voraus. Man muss sich von den Ansichten und Vorurteilen freimachen [se défaire de ces manières de voir et de juger], die eine lange Gewöhnung in uns verfestigt hat; man muss sich rigoros der Disziplin des methodischen Zweifels unterwerfen [se soumettre rigoureusement à la discipline du doute méthodique].« (Durkheim, Émile: De la division du travail social (1893), a. a. O., S. xlii) 383 Durkheim, Émile: Les règles de la méthode sociologique (1895), a. a. O., S. xii f.

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muss beim Vordringen in die soziale Welt offen sein für Altes und Neues, muss bereit sein, sich überraschen, aus der Fassung bringen zu lassen – ganz so wie der Naturforscher, wenn er in die entlegenen, noch ungelüfteten Geheimnisse der Natur eindringen will. So über seine »Vorbegriffe« hinauszugehen und zu den Sachen selbst vorzustoßen, wie Durkheim fordert, impliziert jedoch, auf diese Vorbegriffe achtzuhaben. Nicht geradehin, sondern in bewusster Opposition dazu soll der Soziologe das Gegebene, die sozialen Phänomene, erfahren. ›Ding‹ (chose) ist Durkheims terminologischer Ausdruck für etwas, insofern es in gewisser Weise betrachtet wird. Seine Dinghaftigkeit ist eine bestimmte Art des Gegebenseins neben möglichen anderen, eine, wie Seiendes infolge unserer Zuwendung dazu für uns ist. 384 Und eine soziale Erscheinung als Ding betrachten meint sie als etwas von meinen »Vorbegriffen« Losgelöstes betrachten. Das wissenschaftliche Selbst soll die betreffende Realität als etwas seinem bisherigen, nun aber einstweilen außer Kraft gesetzten Verhältnis dazu Äußerliches ansehen. Durkheim schwört den Soziologen nach dem Vorbild seines naturwissenschaftlichen Kollegen darauf ein, das, was wirklich ist, wie ein unbeteiligter Zuschauer und damit so zu erkennen, wie es jeder andere an seiner Stelle auch erkennen kann. Die methodische Selbstsicherung wissenschaftlichen Erkennens bestehe darin, lebensgeschichtliche Bezüge des Erkennenden zu tilgen zugunsten einer neutralen und wiederholbaren Beobachtung dessen, was die fragliche Sache von sich her ist. Das ist Durkheims Hoffnung, dass soziologisches Wissen infolgedessen mit demselben Recht wie das des Naturwissenschaftlers auch Anspruch machen darf darauf, ungeschmälert für jedermann zu gelten. Das Adjektiv ›positiv‹ fügt daher dem Begriff der Wissenschaft gar nichts hinzu. Wissenschaftliches Wissen ist für Durkheim stets positives Wissen, Wissen von solchem, was gesetzt (lat. ponere), will sagen so von uns zurechtund vor uns hingesetzt ist, dass es sich als Ding gibt und objektiv gewusst zu werden erlaubt. 385

»In diesem Sinn lässt sich in der Tat von jedem Gegenstand der Wissenschaft behaupten, dass er ein Ding sei«. (Ebd., S. xiii) 385 Die Idee von der Einheit aller Wissenschaften, welche sich darin ausprägt, ist freilich schon alt. Seit Beginn der Neuzeit dominieren Versuche wie der von Durkheim, diese an eine Universalmethode zu knüpfen. Siehe dazu McRae, Robert: The Problem of the Unity of the Sciences: Bacon to Kant, Toronto 1961. 384

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Doch damit nicht genug. Wir wissen jetzt zwar, was für Durkheim ein Ding, noch nicht aber, was eine Tatsache ist. Beides steht zwar in einem engen Verhältnis und überschneidet sich mitunter. Das kann man schon daran ersehen, dass es in De la division du travail social bald Tatsachen sind, welche auf bestimmte Art behandelt werden sollen (»pour traiter les faits de la vie morale d’après la méthode des sciences positives« 386), bald irgendetwas, das als eine Tatsache behandelt werden soll (»traiter comme un fait objectif« 387). Tatsache kann dort entweder das irgendwie zu Handhabende oder eine Weise seiner Handhabung sein. Im Jahr 1895 aber formuliert Durkheim, dass Tatsachen, und zwar soziale Tatsachen, als Dinge zu betrachten sind (»considérer les faits sociaux comme des choses«). Die Frage ist daher, was dasjenige, welches da als Ding erscheinen und erfasst werden soll, ausmacht, dass es eine Tatsache darstellt. Was bedeutet es, dass Soziales für Durkheim den Charakter des Tatsächlichen besitzt? Denn es darf nicht unterschlagen werden, dass Durkheim mehr noch in seine Verwendung des Wortes chose mit hineinnimmt, als bislang herausgelegt worden ist. Und: dass auch das sich hie und da mit seinem Gebrauch des Ausdrucks fait deckt. Ding ist nämlich für Durkheim zugleich doch auch ein klassifikatorischer Begriff. Statt nur die Weise des Erscheinens und Erfasstwerdens einer Sache, welche darauf beruht, wie wir uns ihr zuwenden, enthält er ebenso eine Eigenschaft, die manch einer Sache an sich zukommt. Bezüglich der naturwissenschaftlich erforschten Phänomene etwa schreibt Durkheim in der ersten Auflage der Règles: »in der Natur gibt es nur Dinge [il n’y a que des choses dans la nature]« 388. Und beide Dingbegriffe stehen einmal sogar in einem einzigen Satz beisammen, jetzt mit Blick auf die von der Soziologie zu untersuchenden Phänomene: »Und dennoch sind die sozialen Erscheinungen Dinge [sont des choses] und müssen wie Dinge behandelt werden [doivent être traités comme des choses]. [Herv. d. Verf.]« 389 Im Vorwort zur zweiten Auflage, wo Durkheim auf nicht namentlich genannte Kritiker reagiert, scheint er hierüber Klarheit zu schaffen: »Wir behaupten also mitnichten, dass die sozialen TatDurkheim, Émile: De la division du travail social (1893), a. a. O., S. xxxvii. Ebd., S. 9. 388 Durkheim, Émile: Les règles de la méthode sociologique (1895), a. a. O., S. 19. 389 Ebd., S. 27. »Sofern wir also die sozialen Erscheinungen als Dinge betrachten, passen wir uns lediglich ihrer Natur an [conformer à leur nature].« (S. 29) Siehe auch S. 141. 386 387

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sachen materielle Dinge [choses matérielles] sind, sondern dass sie mit dem gleichen Recht Dinge [choses] sind wie die materiellen Dinge, wenn auch solche anderer Art.« 390 Nichtsdestotrotz kommt in Durkheims Sprachgebrauch mehr zum Ausdruck. Was heißt, in der Natur gibt es nur Dinge? Und dass soziale Phänomene gleichfalls Dinge sind? Wenn Durkheim soziale Phänomene auch nicht mit den Phänomenen der Natur gleichgesetzt wissen will, nähert er sie ihnen doch verdächtig an, indem er sie beide als Dinge qualifiziert. Die Faszination durch die Erfolge der Naturwissenschaften seiner Zeit veranlasst ihn, in den empirischen Sozialwissenschaften eine methodische Kontinuität zu postulieren. Die Einheit der Methode soll die Stringenz aller wissenschaftlichen Erkenntnis als einer solchen garantieren. Die Art, wie die einen ihr Sachgebiet durchmessen, müsse auf die anderen übertragen werden, um diese gleichfalls als ebenbürtige positive Wissenschaften einzurichten: Auch sie sollen auf ein Wissen ausgehen, das keinerlei Spuren des Wissenden an sich trägt und darum für alle Wissenwollenden sonst grundsätzlich genauso zu haben ist. Zwar nimmt Durkheim einige Korrekturen vor, die erklärterweise auf die Rechnung der Eigenheit sozialer Wirklichkeit kommen sollen. Doch diese Korrekturen sind keine tiefgehenden; vorwiegend betreffen sie nur die behauptete Unmöglichkeit einer Einsetzbarkeit von Experimenten im Bereich menschlicher Gesellschaft (an deren Stelle die historische Komparation zu treten habe). 391 Ein Paradoxon liegt nun darin, dass die als Dinge zu betrachtenden sozialen Phänomene doch auch ohne ihre derartige Betrachtung Dinge sein sollen. Durkheim hält seinen methodologischen und seinen klassifikatorischen Begriff des Dings nicht immer sauber auseinander. Das führt zu einer insgesamt paradoxen Textlage in den Règles, dass er chose auf doppelte Weise denkt. Ebd., S. xii. Vgl. ebd., S. 124. Dagegen verpasst Weber der Soziologie eine antipositivistische Wendung. Vgl. Weber, Max: Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, a. a. O. Das soziologische Erkennen soll seinen Ausgang davon nehmen, dass eine gegebene Sache unter eine sog. Wertbeziehung tritt: Die durch den Bezug »auf Wertideen« (S. 50) des Forschers festgelegte Bedeutung sei es, die aus etwas ein sozialwissenschaftliches Datum macht und seine »Qualität« (S. 37) mitbestimmt. Vgl. Oakes, Guy: Die Grenzen kulturwissenschaftlicher Begriffsbildung, Frankfurt a. M. 1990, S. 30 ff.; Schluchter, Wolfgang: Religion und Lebensführung, Bd. 1: Studien zu Max Webers Kultur- und Werttheorie, Frankfurt a. M. 1988, S. 57 f.

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Denn einerseits soll sozial sein, was von der »conscience collective« der Menschen abhängt. Andererseits jedoch soll ein Ding zu sein und als solches betrachtet zu werden heißen, von der »conscience collective« der Menschen unabhängig betrachtet zu werden und sogar zu sein. Soziale Phänomene sind nicht nur – das ist die methodologische Bedeutung von chose – abgelöst von den bewussten Subjekten, welche sie vorstellen, zu betrachten, nicht nur zu veräußerlichen, indem sie unabhängig von den Bedingungen, welche sie erst zu sozialen machen, den »représentations collectives«, genommen werden. Sondern sie sollen nach Durkheim zugleich auch – das ist die klassifikatorische Bedeutung von chose – gar nicht vom Kollektivbewusstsein der Menschen abhängig sein: »wir hier vor einem Ding stehen, das nicht von uns abhängig ist [ne dépend pas de nous]« 392. Sie seien den kollektiven Vorstellungen der Menschen äußerlich, von ihnen losgelöst und durch sie unbedingt, was aber dann eigentlich heißt, dass sie nichts Soziales sind. 393 Die Auszeichnung der Tatsächlichkeit kommt demnach nicht allem Möglichen zu. Sie bleibt solchem vorbehalten, das auf spezifische Weise existiert; das ist die eine Wortbedeutung von chose neben der anderen einer spezifischen Weise, vorgestellt zu werden. Dinghaftigkeit meint ebenso eine Art des Existierens, die einiges Seiende im Gegensatz zu anderem auszeichnet und sich nicht von unserem Vorstellen herschreibt. Man kann also in Durkheims nicht immer einheitliche Wortverwendung eine gewisse Ordnung bringen, wenn man sagt, dass etwas, das ein Ding ist, eine Tatsache ausmacht und dass solch eine Tatsache vom Wissenschaftler als ein Ding zu betrachten ist: »considérer les faits sociaux comme des choses«. Und das gehört noch mit zu Durkheims Konzept positiver Wissenschaft hinzu. Objektives Wissen ist ihm nur möglich von Tatsachen in dem dargelegten Sinne. Im Falle sozialer Tatsachen aber ist das ungereimt. Definiert er diese doch gerade über »Vorstellungen einer anderen Art«. Wenn Tatsache solches sein soll, was jedem Vorstellen der Menschen gegenüber eigenständig und darum für jedermann vorfindbar ist, Durkheim, Émile: Les règles de la méthode sociologique (1895), a. a. O., S. 29. Damit ist der notorische Hinweis überflüssig, die Formel »considérer comme des choses« meine nicht, soziale Tatsachen als, sondern sie wie Dinge zu betrachten. Siehe etwa Feichtinger, Johannes: Wissenschaft als reflexives Projekt. Von Bolzano über Freud zu Kelsen: Österreichische Wissenschaftsgeschichte 1848–1938, Bielefeld 2010, S. 315. Denn die erste Übersetzung entspricht dem methodologischen Dingbegriff, die letztere dem klassifikatorischen.

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können soziale Phänomene keine Tatsachen abgeben, weil sie ja gerade nicht ohne das kollektive Bewusstsein, ohne die Kollektivvorstellungen der Menschen sein sollen. Mithin scheint zur Definition des Sozialen, welche Durkheim gibt, der Charakter eines Tatsächlichen nicht zu passen, wodurch seine theoretische Grundlegung der Sozialwissenschaften ins Wanken gerät. Zustande kommt das Paradoxon dadurch, dass Wendungen wie »das Individuum überschreitet« oder »außerhalb der Individuen« doppeldeutig sind und bei Durkheim auch bleiben. Denn es ist eines, dass dem Individuum selbst Soziales erscheint als seiner eigenen Individualität äußerlich, ein ganz anderes aber, dass der sozialwissenschaftliche oder sonst ein Beobachter dieses außerhalb des ganzen Menschen ansiedelt. 394 Talcott Parsons erst wird den Finger auf diesen Unterschied zwischen subjektiver und objektiver Perspektive legen, Durkheim aber pendelt beständig zwischen beiden hin und her. 395 Das verleitet ihn zu der Idee, soziale Phänomene könnten nicht bloß als Dinge angegangen werden, sondern wären auch ebensolche. Dasjenige, was etwas Soziales ausmacht, ist das eine Mal dergestalt dem Individuum äußerlich, dass es nicht zum Individualbewusstsein eines Menschen gehört, zu den individuellen Gepflogenheiten seines Handelns, Denkens und Fühlens. Allerdings heißt das im Gegenzug nur, dass es zum Kollektivbewusstsein, und zwar desselben Menschen, gehört, zu seinen kollektiven Gepflogenheiten im Handeln, Denken und Fühlen. Durkheim aber geht noch einen Schritt weiter. Irrigerweise denkt er Soziales doch auch als unabhängig vom Bewusstsein des Menschen überhaupt; er identifiziert diesen mit dem Individuum. Wie natürliche Phänomene glaubt er Soziales doch auch vom Menschen, dem Individuum, losgelöst und infolgedessen durch die Sozialwissenschaften ähnlich erforschbar, wie es in den Naturwissenschaften bewährte Praxis ist. Es ist dies eine von Durkheim selber nicht durchschaute folgenschwere Doppeldeutigkeit. Wohl hat es durchaus sein Richtiges, dass Lindenberg moniert, dass der Mensch, indem Durkheim seine individuelle Seite von der sozialen lostrennt, zum passiven Material gesellschaftlicher Formkräfte verzerrt wird. Vgl. Lindenberg, Siegwart: Zur Kritik an Durkheims Programm für die Soziologie, in: Zeitschrift für Soziologie 12/2 (1983), S. 142. 395 Zwischen »from the point of view of the person thought of as acting« und »from the point of view of an outside observer«. (Parsons, Talcott: The Structure of Social Action. A Study in Social Theory with Special Reference to a Group of Recent European Writers, Glencoe, Ill. 21949, S. 345) 394

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er anderwärts anerkennt, die conscience collective bilde sich durch Sozialisation und Erziehung. In seiner Selbstmordstudie von 1897 etwa sagt er durch »pénétration« und »fusion« 396; die kollektiven Gepflogenheiten im Denken, Wollen und Fühlen entständen qua Durchdringung und Verschmelzung der consciences individuelles der Beteiligten und könnten deswegen unter Bezugnahme auf die Umstände, welche die Einzelnen vorfinden und in die sie sich auf die eine oder andere Weise hineinfinden, erklärt werden. 397 Nur so vermag es ja inneren Widerstand zu geben, einen Widerstand, den die Gesellschaft in mir ausübt, wo die individuellen Gepflogenheiten meines Denkens, Wollens und Fühlens abweichen, obwohl keine anderen Menschen zugegen sind, die das übernehmen. Und das ist die Auflehnung meines Kollektivbewusstseins gegen mein Individualbewusstsein. 398 Mag der Einzelne seine Enkulturation in eine Gruppe auch als Abfolge äußerer Beeinflussung erleben, sticht davon doch die für einen Dritten sinnenfällige Geformtheit seines Selbst ab, sobald er einmal ein Stück weit enkulturiert, in die betreffende Gruppenkultur hineingewachsen ist. Die Art, wie er bestimmte Strukturen, die vor ihm schon und ohne ihn weiterbestehen, subjektiv erfährt, sagt nichts aus über das Ausmaß seiner etwaigen, objektiv ersichtlichen Internalisierung ebendieser Strukturen (wodurch fremder Zwang (»coercition«) gewissermaßen in einen sanften Selbstzwang transformiert wird und in das Vollgefühl von Autonomie und Gewissensautorität resultieren kann). Man darf das eine nicht mit dem anderen verwechseln, Durkheim aber unterläuft diese Verwechslung. Wenn der Mensch jedoch Individuum und nichts weiter sein soll, hat man im Ergebnis zu bezweifeln, dass Durkheim gelingt, was er sich – wie nach ihm Searle – vornimmt, nämlich die »Überwindung des psychologischen

Durkheim, Émile: Le suicide. Étude de sociologie, Paris 1897, S. 111. Vgl. Durkheim, Émile: Les règles de la méthode sociologique (1895), a. a. O., S. 103. 398 So bemerkt Durkheim auch in den Règles, dass »die ganze Erziehung in einer ununterbrochenen Bemühung besteht, dem Kinde eine gewisse Weise des Sehens, des Fühlens und des Handelns aufzuerlegen, zu der es spontan nicht gekommen wäre. […] Wenn mit der Zeit dieser Zwang nicht mehr empfunden wird, so geschieht das deshalb, weil er nach und nach Gewohnheiten [habitudes] und innere Tendenzen [tendances internes] zur Entstehung bringt, die ihn überflüssig machen; aber sie ersetzen ihn nur, weil sie ja von ihm herstammen.« (Ebd., S. 7 f.) Das ist, was man heute Internalisierung nennt. Siehe dazu Durkheim, Émile: L’éducation morale (1902/03), Paris 1925; Éducation et sociologie, Paris 1922. 396 397

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Atomismus« 399. Das Paradoxon seiner sozialwissenschaftlichen Methodenreflexion speist sich aus nichts anderem als seinem sozialontologischen Individualismus. Im Anschluss an Durkheim hat das Wort von der sozialen Tatsache sodann seine Karriere angetreten. 400 Und das nicht nur in der empirischen Soziologie und den sie begleitenden theoretischen Erwägungen, wo es sich rasch und bis heute einer weitum beliebten Verwendung erfreut. Auch in philosophische Denkanstrengungen unterschiedlichster Art, handlungstheoretische etwa, hat es Eingang gefunden 401 und seit einigen Jahren sogar in die ontologische Besinnung auf das Soziale, insbesondere bei englischsprachigen Autoren. Als eine der Ersten hat sich Gilbert, und das mit ausdrücklichem Verweis auf Durkheim, dessen Sprache zugeeignet; unter dem Titel On Social Facts versucht sie Aufschluss darüber zu geben, »what a social phenomenon is, as opposed to phenomena of other types« 402. Daneben haben wir Searle als einen kennengelernt, der von social facts spricht (jedoch wohl ohne ein geschichtliches Bewusstsein um das Herkommen des Ausdrucks) und diese von brute facts unterscheidet. Dem haben sich seither viele angeschlossen, die sich in der Debatte zur Ontologie des Sozialen zu Wort gemeldet haben. Freilich bedeutet das nicht oder nicht automatisch, dass die fraglichen Autoren sich auf die ganze Komplexität verpflichten, welche bei Durkheim die Rede von sozialen Tatsachen besitzt. Sie glauben nicht auch, dass solche Tatsachen auf gewisse Art existieren, in gewisser Weise zu behandeln und darüber zu einem dementsprechend objektiven Wissen zu führen sind. 403

König, René: Einleitung, in: Durkheim, Émile: Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt a. M. 1984, S. 35. 400 So bereits in der frühen Weiterentwicklung zum Begriff der fait social total. Damit sollen nach Maus soziale Tatsachen gemeint sein, die sämtliche Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens (rechtliche, politische, ökonomische etc.) in sich vereinen. Vgl. Mauss, Marcel: Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques, in: L’année sociologique 1 (1923/24), S. 179 f. 401 So bei Mandelbaum, der bei der Explikation menschlichen Handelns von societal facts spricht. Vgl. Mandelbaum, Maurice H.: Societal Facts, in: British Journal of Sociology 6 (1955), S. 305–317. 402 Gilbert, Margaret: On Social Facts, a. a. O., S. 1. Der Verweis auf Durkheim findet sich auf S. 2. 403 Siehe etwa die Aufsatzsammlung Meggle, Georg (Hg.): Social Facts and Collective Intentionality, Frankfurt a. M. 2002. 399

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Der sozialontologische Kollektivismus

3.

Die »plural subject theory« (Gilbert)

Ein weiterer Denker, der gelegentlich durch die Diskussion zur Ontologie des Sozialen irrlichtert und entweder direkt oder auf dem Umweg seiner Wirkungsgeschichte in die Nähe einer kollektivistischen Denkweise gerückt wird, ist Rousseau. So spricht beispielsweise Gilbert in ihrer Monographie On Social Facts aus dem Jahre 1989 und seither in etlichen weiteren Publikationen zwar nicht ausdrücklich von sozialontologischem Kollektivismus. Aber sie tritt doch in ihren eigenen Überlegungen zum Sozialcharakter sozialer Erscheinungen dafür in die Bresche, dass eine Vielheit von Menschen, falls gewisse Voraussetzungen erfüllt sind, eine Art Kollektivsubjekt ausmacht; sie sagt ein ›plurales Subjekt‹ und nennt ihre diesbezüglichen Betrachtungen »plural subject theory« 404. Und im Zuge dessen beruft sie sich anerkennend auf Rousseau, genauer auf dessen politische Philosophie im Contract social (1762). 405 Andere Interpreten glauben, Rousseau betreibe dort eine politisch gefährliche Huldigung des Kollektivs. Dass er gar einen ontologischen Kollektivismus vertritt, damit liebäugelt etwa Christopher Bertram. 406 Ich will darum überprüfen, wie diese Art Wertschätzung bzw. Bezichtigung gemeint ist und inwieweit sie Rousseau wirklich trifft. Ich beginne mit Gilberts Theorie des Pluralsubjekts. In dem nur ein Jahr später erschienenen Aufsatz Walking Together: A Paradigmatic Social Phenomenon von 1990 illustriert sie diese Theorie mithilfe eines anschaulichen Beispiels. Im Mittelpunkt steht eine Interaktion unter Anwesenden. 407 Das heißt, mehrere sind hier und jetzt in ihrem Tun und Lassen wechselweise aufeinander bezogen und agieren mit-, für- oder gegeneinander. Bei Gilbert treffen wir auf zwei Personen, Sue und Jack, die zusammen spazieren gehen. 408 Doch die Analyse will von Beginn an höher hinaus. Nicht geht es Gilbert um Gilbert, Margaret: On Social Facts, a. a. O., S. 415. Vgl. ebd., S. 198, 206, 415 f.; Gilbert, Margaret: A Theory of Political Obligation. Membership, Commitment, and the Bonds of Society, Oxford 2006, Kap. 4, 5 und 10. 406 Vgl. Bertram, Christopher: Rousseau’s Legacy in Two Conceptions of the General Will: Democratic and Transcendent, in: The Review of Politics 74/3 (2012), S. 403– 419. 407 Den Ausdruck entlehne ich Luhmanns soziologischer Systemtheorie. Vgl. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1984, S. 551 ff. 408 In On Social Facts ist das Beispiel, dass zwei Personen, Jill und Jack, zusammen nach London reisen. Vgl. Gilbert, Margaret: On Social Facts, a. a. O., S. 161. 404 405

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eine Erklärung des engeren Phänomens gemeinsamen Handelns oder einer Interaktion unter Anwesenden. Dieses dient ihr bloß als paradigmatischer Fall, um daran Strukturen zum Aufweis zu bringen, die weiter sind und sämtliche gesellschaftlichen Erscheinungen durchziehen. Die fraglichen Strukturen sollen für jedwede soziale Gruppe konstitutiv sein. 409 Der Sache nach entwirft Gilbert diese Strukturen gegen diesbezügliche Verkürzungen. Denn die Veranschlagung einer wie auch immer beschaffenen volitiven und kognitiven Intention aufseiten sämtlicher Akteure – eine von allen geteilte Absicht zu gemeinsamem Handeln und eine ggf. dazukommende gegenseitige Kenntnis davon – genügt laut Gilbert nicht, um das Gemeinsame solchen Handelns begrifflich einzufangen. Etwas Weiteres und Entscheidendes noch gehöre dazu. Am Beispiel des Spaziergangs von Sue und Jack macht Gilbert die Gegenprobe. Sie weist darauf hin, dass beide, wenn sie denn wirklich gemeinsam spazieren und nicht nur zufällig ein Stück desselben Weges nebeneinanderher laufen, in ihrem Tun und Lassen einer gewissen Normativität unterstehen. Sue darf, wenn Jack z. B. unvermittelt sein Tempo anzieht und aus unerfindlichem Anlass vorausläuft, dem mit bestimmten Unangemessenheitsreaktionen entgegentreten, etwa nach dem Grund dafür fragen oder zu mehr Gemächlichkeit auffordern. Jack nämlich hat dann versäumt, dasjenige zum gemeinsamen Spazierengehen mit Sue beizutragen, was er dazu beitragen soll. Jeder Mitwirkende hat, wie Gilbert erläutert, eine »obligation«, das von allen gewollte und als solches gewusste Handeln umzusetzen, sowie ein entsprechendes »entitlement« 410, den Anderen nötigenfalls zu rügen oder anzutreiben, wo er dem nicht nachkommt. Diese Normstruktur soll aber weder eine moralische oder rechtliche sein, 411 noch verdanke sie sich Klugheitserwägungen im Hinblick auf die eigenen partikulären Ziele der Beteiligten oder der Sorge um den Vgl. Gilbert, Margaret: Walking Together: A Paradigmatic Social Phenomenon, a. a. O., S. 2; Concerning Sociality: The Plural Subject as Paradigm, in: Greenwood, John D. (Hg.): The Mark of the Social. Discovery or Invention?, Lanham 1997, S. 17 ff. 410 Gilbert, Margaret: Walking Together: A Paradigmatic Social Phenomenon, a. a. O., S. 3. Vgl. What is It for Us to Intend?, in: Holmstrom-Hintikka, Ghita/Tuomela, Raimo (Hg.): Contemporary Action Theory, Bd. 2: Social Action, Dordrecht 1997, S. 67 f. 411 Gilbert, Margaret: Walking Together: A Paradigmatic Social Phenomenon, a. a. O., S. 4. 409

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Anderen als individuellen Einzelnen. 412 Gilberts These ist – ein Erbe Durkheims, wie sie einbekennt –, dass alle sozialen Phänomene mit einer basalen, das Soziale qua talis charakterisierenden normativen Potenz aufgeladen sind, die in Moral und Recht nur mögliche Ausformungen findet. Sie erst mache die betreffenden Menschen zu Angehörigen einer sozialen Gruppe oder eines, wie Gilbert technisch sagt, plural subject. 413 Nun schlittert man allerdings nicht jählings unter die Botmäßigkeit von derlei Verpflichtungen und Berechtigungen. Gilbert sagt: einer gemeinsamen Festlegung, eines »joint commitment« 414. Jene Verpflichtungen und Berechtigungen entstehen vielmehr dadurch, dass Sue und Jack zu einem gewissen Handeln bereit sind und diese ihre Bereitschaft auf die eine oder andere Weise, sei es verbal oder nonverbal, erkennen lassen: »in order to go for a walk together each of the parties must express willingness to constitute with the other a plural subject of the goal that they walk along in one another’s company« 415. Sue und Jack muss jeweils durch Äußerungen voneinander bekannt sein, dass der Andere ebenfalls willens ist, zusammen spazieren zu gehen, dass sie also beide denselben Zweck haben, um miteinander darauf festgelegt zu sein, ihr je eigenes Tun und Lassen zur Umsetzung dieses beiderseitigen Zwecks, eines gemeinsamen Spaziergangs, zu bestimmen: »once this willingness to form the plural subject of the goal in question has been expressed on both sides, in conditions of common knowledge, the foundation has been laid for each person to pursue the goal in his or her capacity as the constituent of a plural subject of that goal.« Ein alle Mitwirkenden verpflichtendes und berechtigendes norVgl. ebd., S. 6. So lautet auch der Befund, den Gilbert aus dem Reisebeispiel von Jill und Jack zieht: »This suggests that genuine travelling together involves rights and duties that are something other than moral rights and duties« (Gilbert, Margaret: On Social Facts, a. a. O., S. 162). 414 Gilbert, Margaret: On Social Facts, a. a. O., S. 198, 205, 382, 412 ff. Vgl. Living Together. Rationality, Sociality, and Obligation, Lanham 1996, S. 2 ff.; Obligation and Joint Commitment, in: Utilitas 11/2 (1999), S. 143–163; The Structure of the Social Atom: Joint Commitment as the Foundation of Human Social Behavior, in: Schmitt, Frederick F. (Hg.): Socializing Metaphysics. The Nature of Social Reality, Lanham 2003, S. 39–64; Acting Together, in: Meggle, Georg (Hg.): Social Facts and Collective Intentionality, Frankfurt a. M. 2002, S. 65 ff. 415 Gilbert, Margaret: Walking Together: A Paradigmatic Social Phenomenon, a. a. O., S. 7. 412 413

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matives Regiment soll von den Mitwirkenden selbst ins Leben gerufen werden dadurch, dass jeder seine volitive Intention zum gemeinsamen Handeln mit dem Anderen bekundet, diesem also eine dementsprechende kognitive Intention zuteilwerden lässt. Über solches Wollen und Wissen vermittelt kämen joint commitments zustande. Die daraus hervorgehende soziale Gruppe und die in sie eingebaute Normbestimmtheit darf darum, das will Gilbert sagen, nicht verwechselt werden mit dem, woraus sie erst hervorgeht: »When a goal has a plural subject, each of a number of persons (two or more) has, in effect, offered his will to be part of a pool of wills which is dedicated, as one, to that goal. It is common knowledge that, when each has done this in conditions of common knowledge, the pool will have been set up. Thus what is achieved is a binding together of a set of individual wills so as to constitute a single, ›plural will‹ dedicated to a particular goal.« 416

Gilberts Beschreibung der Entstehung eines pluralen Subjekts weckt nicht von ungefähr Anklänge an die politische Vertragslehre Rousseaus, aber auch an die seiner Vorgänger, Thomas Hobbes und John Locke. Nur allzu deutlich zeichnet sich darin die Silhouette jener Argumentationsfigur ab, welche Hobbes an der Schwelle zur Moderne inauguriert und damit in Lossagung von den überkommenen, durch das scholastische Mittelalter hindurch gültigen aristotelischen Kategorien des Politischen das Tor zu dessen begrifflicher Neuvermessung aufgestoßen hat: jener Argumentationsfigur, der sich nach ihm auch Locke und Rousseau je auf ihre Weise bedient haben, die eines sog. Gesellschaftsvertrags. Gilbert zieht die offenbaren »analogies« 417 mit den Klassikern kontraktualistischen Denkens – selber zitiert sie in ihrem Aufsatz lediglich Hobbes und Rousseau, anderwärts bezieht sie gleichfalls Locke mit ein – 418 wohl nicht als Beweis für ihre plural subject theory heran. Doch sollen ihr diese gleichwohl einigen historischen Rückhalt verschaffen.

So auch im Beispiel von Jill und Jack: »Given that such attitudes on both sides have been made clear, a foundation has been laid for each person to pursue the goal that he and the other travel from A to B and to do so in his capacity as the constituent of a plural subject of that goal.« (Gilbert, Margaret: On Social Facts, a. a. O., S. 163) 417 Vgl. Gilbert, Margaret: Walking Together: A Paradigmatic Social Phenomenon, a. a. O., S. 11. So auch On Social Facts, a. a. O., S. 416. 418 Siehe etwa Gilbert, Margaret: Reconsidering the »Actual Contract« Theory of Political Obligation, in: Ethics 109/2 (1999), S. 258; A Theory of Political Obligation. Membership, Commitment, and the Bonds of Society, a. a. O., S. 56. 416

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Das Eindringen des Vertragsmotivs ins Zentrum philosophischen Nachdenkens über Politik, wie das bei Hobbes zu verzeichnen ist, hat mehrere Ursachen. 419 Mittelbar empfiehlt es sich aufgrund von Hobbes an die Mathematik angelehntem Methodenbegriff. Das 17. Jahrhundert war in der Philosophie das Jahrhundert der Einheitsmethode. Der zeitgenössische Rationalismus steht weithin unter dem Bann der Idee, diejenige Exaktheit und Gewissheit, welche den geometrischen Erkenntnissen seit den Στοιχεῖα des Euklid zugeschrieben werden, auf die Wissensbemühungen der Philosophie auszudehnen. Und dazu sei, so meint man ohne Beachtung der spezifischen Natur des Sachgebiets der letzteren, der Demonstrationsweise der ersteren nachzueifern. 420 Nach diesem euklidischen Vorbild verpasst auch Hobbes seinen Elementa philosophiae den Zuschnitt eines geschlossenen Systems. Alles philosophisch erreichbare Wissen soll more geometrico, aus höchsten Definitionen und deren Verbindung zu Axiomen schlussfolgernd vorgeführt werden. Nach Hobbes wachsen der politischen Theorie ihre Einsichten aus der Anthropologie, der Lehre von den ihrerseits aus der Physik herkommenden Gesetzen menschlicher Vorstellungs- und Begehrensdynamik, zu. Diese sollen sich mit begrifflicher Eindeutigkeit und unwiderleglicher Gewissheit aus jener deduzieren lassen. 421 Hobbes Methoden- und Systemkonzeption mag jedoch bestenfalls erklären, inwiefern der Staat im Interesse jedes Menschen liegt, nicht aber, weshalb die Brücke von dem einen hin zum anderen ausgerechnet durch einen Vertrag zu schlagen sein soll. Dafür zeichnet ein anderer Umstand verantwortlich. Sicher beschert das geometrische Beweisverfahren der politischen Philosophie ihre Basis in einer rein physikalisch gestrickten Anthropologie. Die Physik, welche Hobbes genauso wenig wie die übrigen Systemteile als ErfahrungsDer Vertragsgedanke hat natürlich eine Vorgeschichte. Er findet sich schon in den Sozialphilosophien der Sophisten, nach Auskunft des Aristoteles etwa bei Lykophron (vgl. Pol. 1280b8 ff.), ebenso im Gnomologium von Epikur (vgl. Kyriai Doxai XXXIII). Siehe dazu Höpfl, Harro/Thompson, Martyn P.: The History of Contract as a Motif in Political Thought, in: The American Historical Review 84/4 (1979), S. 919–944. 420 Die aristotelisch-scholastische Tradition sperrt sich gegen einen solchen Methodentransfer. Vgl. Kersting, Wolfgang: Thomas Hobbes zur Einführung, Hamburg 1992, S. 38 ff. 421 Zu Hobbes Methoden- und Systemkonzeption siehe Fiebig, Hans: Erkenntnis und technische Erzeugung. Hobbes operationale Philosophie der Wissenschaft, Meisenheim am Glan 1973; Weiß, Ulrich: Das philosophische System von Thomas Hobbes, Stuttgart-Bad Canstatt 1980. 419

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wissenschaft, sondern als Anwendung mathematischer Gesetze auf die Bewegungen raumzeitlicher Körper versteht, führt in anthropologischer Konsequenz dazu, dass Aristoteles teleologische Annahme von der politischen Wesensnatur des Menschen hinweggefegt wird. 422 Und trotzdem. Die gegenüber dem politischen Aristotelismus neuartige Fragestellung, deren Beantwortung Hobbes dringlich wird und die bis heute Aktualität genießt, bezieht ihre Radikalität aus einer anderen Quelle. Anstelle der eudaimonistischen Qualität verschiedener Herrschaftsformen, sprich deren Eignung für die Realisierung des höchsten Guts eines gelungenen, glücklichen Lebens, ist es die Legitimität politischer Herrschaft überhaupt, die Hobbes problematisch wird: ob und, wenn ja, unter welcher Bedingung sich rechtfertigen lässt, dass der Staat mit zwangsbewehrter Autorität seine Bürger regiert? 423 Das ist aber lediglich dann rechtfertigungsbedürftig, wenn dem Einzelnen so etwas wie ein angeborenes Freiheitsrecht zugestanden wird. Locke erst wird dieses explizit machen, 424 und Rousseau wird es mit derselben Ausdrücklichkeit fortführen; 425 bei Hobbes dagegen bleibt es noch nahezu unausgesprochen und mit seiner physikalistischen Seinsformel eigentlich sogar inkompatibel. 426 Doch nur unter der Voraussetzung, dass jedes Individuum das gleiche vorstaatliche Recht darauf besitzt, unabhängig von der Nötigung durch Andere sein Leben nach eigenen Vorstellungen zu führen, sieht sich die Möglichkeit staatlicher Herrschaft infrage gestellt: Es ist das individuelle Recht auf Selbstbestimmung, dem die erforderlichenfalls abzunötigende Fremdbestimmung durch Gesetze und Institutionen widerstreitet, vor dem der freiheitseinschränkende Zwang durch die Organe des Staates zum Problem gerät. Mithin verschiebt sich für Hobbes infolge des Aufkeimens eines seiner selbst zunächst noch unbewussten und durch dessen kontraktualistische Nachfolger erst bewusst geVgl. Chwaszcza, Christine: Anthropologie und Moralphilosophie im ersten Teil des Leviathan, in: Kersting, Wolfgang (Hg.): Thomas Hobbes. Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates, Berlin 1996, S. 83–107. 423 Vgl. Schottky, Richard: Die staatsphilosophische Vertragstheorie als Theorie der Legitimation des Staates, in: Politische Vierteljahresschrift Sonderheft 7 (1976), S. 81–107. 424 Vgl. Treatises II.1, § 4. 425 Vgl. CS 351, 352, 356. 426 Im Leviathan ist nur einmal vom »Right of Governing my selfe« die Rede. (Hobbes, Thomas: Leviathan, or The Matter, Forme, and Power of a Common-Wealth Ecclesiasticall and Civill, London 1651, S. 87) 422

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Der sozialontologische Kollektivismus

machten Menschenrechtsgedankens der Schwerpunkt des Politischen in Richtung auf den legitimen Einsatz physischer Gewalt. 427 Dieser Ausgangslage ist unmittelbar geschuldet, dass die juridische Figur des Vertrages für die politische Philosophie interessant wird. Denn mithilfe dieser Figur bahnt sich eine Lösung an, lässt sich der Widerstreit zwischen berechtigter Freiheit und unberechtigtem Zwang zum Ausgleich bringen. Ich habe hier nicht über Wahrheit und Unwahrheit des Kontraktualismus zu richten, aber die epochemachende Idee ist die, dass Gewaltanwendung vonseiten des Staates nur unter der Bedingung legitim ist, dass sie sich auf das (ausdrückliche oder stillschweigende) Einverständnis der betroffenen Individuen zu stützen vermag: dass solche Fremdbestimmung letztlich ein Ausfluss individueller Selbstbestimmung ist. 428 Gemäß der sprichwörtlich gewordenen, von Ulpian überlieferten altrömischen Rechtsmaxime volenti non fit iniuria, dem Einwilligenden widerfährt kein Unrecht, 429 lautet das rechtfertigungstheoretische Credo der Lehre vom Gesellschaftsvertrag bei Hobbes, Locke und Rousseau gleicherweise auf Legitimation politischer Ordnung durch deren Rückführung auf die selbstbeschränkende Autorisierung vonseiten der Betroffenen. In Form eines Vertrages, welchen diese miteinander eingehen, verpflichten sie sich freiwillig dazu, jene Ordnung einzuhalten, die darum, falls nötig, erzwungen werden darf, wo jemand seiner Verpflichtung nicht nachkommt. 430 Der Berührungspunkt der plural subject theory mit dem klassischen Kontraktualismus liegt deutlich auf der Hand. Gilberts Rede Dass Hobbes Anhänger des traditionellen Naturrechts ist, vertritt Taylor, Alfred E.: The Ethical Doctrine of Hobbes, in: Philosophy 13/52 (1938), S. 406–424. Doch hat schon Brown mit Recht eingewandt, dass dies mit Hobbes physikalistischer Anthropologie, welche die menschliche Vernunft auf die Wahl kluger Mittel festlegt, unverträglich ist. Hobbes verleiht der alten Naturrechtsterminologie, die er übernimmt, unter der Hand eine neue, zweckrationale Bedeutung. Vgl. Brown, Stuart M.: Hobbes: The Taylor Thesis, in: The Philosophical Review 68/3 (1959), S. 303–343. 428 Die Unterscheidung von »express consent« und »tacit consent« ist bei Locke zentral. (Treatises II.8, § 119) Prominente Kritik hat daran Hume geäußert. Vgl. Hume, David: Of the Original Contract (1748), in: Essays, Moral, Political, and Literary, Bd. 1, London 1875, S. 443–460. 429 In den Digesten des Justinian, wo Ulpians Äußerung aus dem 56. Buch seines Kommentars Ad edictum wiedergegeben ist, heißt es wortwörtlich: »nulla iniuria est, quae in volentem fiat« (D. 47.10.1.5). 430 Vgl. Kersting, Wolfgang: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Darmstadt 1996, S. 15 ff. 427

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Die »plural subject theory« (Gilbert)

von »analogies« weist indessen genauso sehr auf Unterschiede wie Gemeinsamkeiten hin. Kombiniert doch eine Analogie stets beides. Im strikten Sinne zeigt sie an, dass sich a zu b verhält wie c zu d; die Relate sind verschieden, aber ihr jeweiliges Verhältnis zueinander ist dasselbe. Und so auch im vorliegenden Fall. Ein Unterschied ist etwa, dass Gilbert gar nicht vom privatrechtlichen Institut des Vertrages spricht, den Hobbes, Locke und Rousseau zur Gründungsgeste des öffentlichen Rechts hinauftreiben; ein anderer, dass es ihr nicht wie jenen um die Aufrichtung des gewaltmonopolistischen Staates, sondern jedweder Art von Normativität sozialer Gruppen geht. Trotzdem besteht eine maßgebliche Gemeinsamkeit. Und zwar handelt es sich dabei um eine Verhältnisgleichheit, welche die Genese betrifft. Denn sowohl das Gewaltmonopol des Staates in den Gesellschaftsvertragslehren von Hobbes, Locke und Rousseau als auch die soziale Gruppen durchgreifende Normstruktur in Gilberts Theorie des Pluralsubjekts wird durch die beteiligten Individuen dank einer wechselseitig getätigten freiwilligen Selbstverpflichtung und korrelativen Fremdberechtigung gestiftet. Beide sollen auf ebenso voluntaristische wie konsensualistische Weise, aus einem einmütig vollzogenen Akt der Zustimmung durch die Betroffenen, geboren sein. 431 Vor diesem Hintergrund liegt nun aber als die eigentliche Frage an, ob sich Gilberts plural subject theory und womöglich auch Rousseaus politische Vertragslehre, sofern sie darin präsent ist, auf einen sozialontologischen Kollektivismus belaufen. Das zu entscheiden, hat insofern dem Geist und nicht dem Buchstaben nach zu geschehen, als weder Gilbert noch Rousseau jenes Etikett zur positiven oder negativen Selbstbeschreibung verwendet. Ich habe damit die Auffassung gekennzeichnet (soweit man diese überhaupt bei einigen ihrer Widersachern, von denen sie insgesamt nur mit spitzen Fingern angefasst wird, notdürftig nachzeichnen kann), dass es gegenüber den einzelnen Menschen ein selbständiges Supersubjekt gibt, welches jene Gilbert selber spricht davon, »that humans create plural subjects by volunteering for community service«. Das soll jedoch nicht die Möglichkeit erzwungener Zustimmung zur sozialen Gruppe ausschließen: »The type of ›volunteering‹ at issue […] is such that it is possible to be coerced into it.« (Gilbert, Margaret: On Social Facts, a. a. O., S. 410) Vgl. Gilbert, Margaret: Agreements, Coercion, and Obligation, in: Ethics 103/4 (1992/93), S. 679–706. Ähnlich lässt Hobbes eine Regierung zu, die zunächst »is acquired by Force« und dann nachträglich ihre Anerkennung durch die Bürger erhält. (Hobbes, Thomas: Leviathan, or The Matter, Forme, and Power of a Common-Wealth Ecclesiasticall and Civill, a. a. O., S. 101)

431

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Der sozialontologische Kollektivismus

quasi von oben mit Beschlag zu belegen und für sich einzuspannen sucht. Der Einzelne hätte demnach insofern und insoweit ein soziales Gepräge, als er solcherart vereinnahmt und dadurch seiner Individualität beraubt ist. Etliches mag auf Anhieb dafürsprechen, dass Gilbert tatsächlich etwas dieser Art im Auge hat. Denn nicht nur, dass sie seit On Social Facts ihre Beschäftigung mit der grundsätzlichen Struktur sozialer Gruppen unter das Konzept des Pluralsubjekts stellt und dabei wie selbstverständlich von »collective agent« 432 oder »collectivities« 433 spricht. Auch versichert Gilbert in der im Jahr 2000 erschienenen Aufsatzsammlung Sociality and Responsibility, mit diesem Konzept »beyond individualism« 434 zu gehen. Wie sie in der Einleitung zu verstehen gibt, soll das sogar nicht bloß ein methodologischer, sondern ein ontologischer Individualismus sein, den sie da hinter sich lassen will. Ihre Theorie sozialer Gruppen »goes beyond individualism both with respect to the concepts and its understanding of what there is«. Gemeint ist damit der von Gilbert schon in On Social Facts benannte »singularism«, den sie mit dem Namen Webers assoziiert und der in der Ansicht bestehen soll, dass »our vernacular collectivity concepts […] are explicable solely in terms of the conceptual scheme of singular agency« 435. Und schließlich schreibt Gilbert Kollektiven nicht allein die Fähigkeit zu absichtlichem Handeln zu, sondern auch weitere geistige Zustände, wie man sie von Individuen kennt. Auch Einstellungen, Überzeugungen und Gefühle sollen die von pluralen Subjekten sein können. 436 Gilbert, Margaret: On Social Facts, a. a. O., S. 15. Ebd., S. 2, 34, 147, 224, 355, 410 und passim. 434 Gilbert, Margaret: Sociality and Responsibility. New Essays in Plural Subject Theory, Lanham 2000, S. 3. Vgl. Gilbert, Margaret: Joint Action, in: Smelser, Neil J./ Baltes, Paul B. (Hg.): International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, Bd. 2, Oxford 2001, S. 7992. 435 Gilbert, Margaret: On Social Facts, a. a. O., S. 12. Vgl. Gilbert, Margaret: A Theory of Political Obligation. Membership, Commitment, and the Bonds of Society, a. a. O., S. 125 f.; Joint Commitment. How We Make the Social World, New York 2014, S. 3 ff. 436 »However, it will be the main thrust of this book that there is an important and theoretically respectable sense in which collectivities can act, and, indeed, think, have attitudes, and hold to principles of their own.« (Gilbert, Margaret: On Social Facts, a. a. O., S. 15) Siehe auch S. 17, 153, 168, 201. Vgl. Gilbert, Margaret: Remarks on Collective Belief, in: Schmitt, Frederick F. (Hg.): Socializing Epistemology. The Social Dimensions of Know-ledge, Lanham 1994, S. 235–256; Collective Guilt and Collective Guilt Feelings, in: The Journal of Ethics 6/2 (2002), S. 115–143. 432 433

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Die »plural subject theory« (Gilbert)

Allein, der Eindruck täuscht. Gilberts Analyse des Sozialen kann und will den Haltegriff jenes individualistischen Kalküls, wie es für die kontraktualistische Argumentation symptomatisch ist, nicht abschütteln. Wie die Fundierungsstrategie im letztgenannten Fall von den Individuen aus- und vorangeht zum Staat, verläuft sie im erstgenannten Fall von den Individuen hin zur sozialen Gruppe. Das aber bedeutet, dass diejenigen, welche das Zustandekommen des einen wie der anderen schultern, Einzelne sind, solche, die vor und unabhängig von der zu etablierenden Ordnung staatlicher Herrschaft bzw. sozialer Normativität da sein sollen: vorstaatlich gedachte Individuen in der politischen Philosophie, vorsozial gedachte Individuen in der Sozialontologie. So sehr Gilbert auch das plurale Subjekt beschwört, es entsteht aus dem Wollen und Wissen von »singular agents« 437 oder »singular subjects« 438, zu deren Begriff nicht schon die Zugehörigkeit zu irgendeiner sozialen Gruppe gehört. Es gebe »personal commitments« 439 bzw. »individual commitments« 440, Festlegungen also im Hinblick auf Ziele, die einer für sich allein verfolgt, und zwar losgelöst von der normativen Potenz jedweder joint commitments. Mithin sind Kollektive für Gilbert eine kontingente und vorübergehende Aufgipfelung menschlicher Individuen, welch letztere eben auch ganz ohne solche vorkommen. 441 Gilberts Theorie des Pluralsubjekts erfüllt sogar alle drei Kriterien dessen, was ich als sozialontologischen Individualismus aufgestellt habe.

Gilbert, Margaret: On Social Facts, a. a. O., S. 418, 421, 429, 430, 431, 433 und passim. »One acts as a singular agent in so far as one acts in the light of one’s own goals.« (S. 12) 438 Ebd., S. 164, 313. 439 Ebd., S. 302. »A personal commitment is a commitment that is brought into existence by one person alone.« (Gilbert, Margaret: Acting Together, a. a. O., S. 65) Vgl. Gilbert, Margaret: What is It for Us to Intend?, a. a. O., S. 72; Obligation and Joint Commitment, a. a. O., S. 145 f.; The Structure of the Social Atom: Joint Commitment as the Foundation of Human Social Behavior, a. a. O., S. 47. 440 Gilbert, Margaret: Living Together. Rationality, Sociality, and Obligation, a. a. O., S. 12 f.; Concerning Sociality: The Plural Subject as Paradigm, a. a. O., S. 28, 35. 441 Gilbert selber spricht in On Social Facts von »weak analytic individualism«: »Let weak analytic individualism be the view that our collectivity concepts are analysable in terms of a conceptual scheme appropriate to human beings, with all their possibilities and capacities for understanding.« (Gilbert, Margaret: On Social Facts, a. a. O., S. 436) 437

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Der sozialontologische Kollektivismus

Erstens trägt sie ihre Theorie in bewusstseinstheoretischer Begrifflichkeit vor: Sie bindet die Erscheinung des Sozialen an das menschliche Bewusstsein und dessen Intentionalität. Um einer Gruppe anzugehören, soll es nicht genügen, irgendwelche nichtgeistigen Eigenschaften mit Anderen zu teilen: »Thus the population of lefthanded people, or the population of women, is not automatically a social group by virtue of having members with a common property.« 442 Die Wirklichkeit pluraler Subjekte soll in einer bestimmten Geisteshaltung ihrer Mitglieder beruhen. Und Gilbert selber bezeichnet ihre Theorie, was das angeht, als »Simmelian« 443. Denn der Funke, an dem sie sich entzündet habe, soll jene Äußerung Simmels gewesen sein, die wir bereits behandelt haben: »das Bewußtsein, mit den andern eine Einheit zu bilden, ist hier tatsächlich die ganze zur Frage stehende Einheit«. Gilbert verwandelt sich die Idee an, wonach die Zugehörigkeit zu einem Pluralsubjekt eine Sache der bewussten Intentionalität der betreffenden Individuen ist. Sie nimmt das Dasein eines pluralen Subjekts für einerlei mit dem Bewusstsein, welches die Einzelnen von ihrer Mitgliedschaft in einem solchen haben. Genauer gesagt erklärt Gilbert das letztere für eine notwendige Bedingung des ersteren: »a social group’s existence is basically a matter of the members of a set of people being conscious that they are linked by a certain special tie« 444. Zweitens verlegt Gilbert die Existenz eines Pluralsubjekts in die Zustände des Bewusstseins der Beteiligten: Worauf es ankommt, ist der intentionale Gehalt und nicht die intentionale Form. Laut Gilbert gibt es bewusste Intentionen, die solche nicht eines pluralen, sondern eines singulären Subjekts sind. Dabei handelt es sich um »personal intentions« 445, die im Gegensatz zu »shared intentions« lediglich auf

Ebd., S. 9. Ebd., S. 146. 444 Gilbert, Margaret: On Social Facts, a. a. O., S. 148 f. Vgl. S. 13, 17, 146 ff., 204, 222. Siehe auch Gilbert, Margaret: A Theory of Political Obligation. Membership, Commitment, and the Bonds of Society, a. a. O., S. 63. So auch Sellars: »It is a conceptual fact that people constitute a community, a we, by virtue of thinking of each other as one of us« (Sellars, Wilfrid: Science and Metaphysics. Variations on Kantian Themes, a. a. O., S. 222). 445 Gilbert, Margaret: Shared Intention and Personal Intentions, in: Philosophical Studies 144/1 (2009), S. 167–187. Vgl. Gilbert, Margaret: What is It for Us to Intend?, a. a. O.; Joint Action, a. a. O., S. 7987; Joint Commitment. How We Make the Social World, a. a. O., S. 94 ff. 442 443

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Die »plural subject theory« (Gilbert)

»personal goals« 446 und nicht auf »group goals« bzw. »collective goals« aus sind. Nicht die Weise des Intendierens also, das Wie des Bewusstseins, sondern dessen Was, das Intendierte, sei entscheidend. Gilbert zufolge soll Soziales eine Sache nicht des Verhaltens unseres Bewusstseins zu etwas, d. h. dessen sein, wie etwas intendiert wird, sondern desjenigen, wozu sich unser Bewusstsein verhält. Die besagten »group goals« bzw. »collective goals« machen nämlich das aus, was da intendiert wird. Drittens bezieht Gilbert Soziales nicht auf das gesamte Bewusstsein des Menschen. Das »intentionalist programme« 447, das sie seit On Social Facts ausarbeitet, versteht sich als ein »nonsocial account of intention« 448, mithin aus der Grundannahme, dass »thought is logically prior to society« 449. Der Begriff des intentionalen Bewusstseins soll nicht nur nichts Soziales in sich fassen, er soll überdies explanatorisch primär sein für den Begriff des Sozialen. Damit wird der Vorstellung widersprochen, dass »meaningful action as such has an intrinsically social nature« 450. Obwohl Gilbert also andernorts versichert, Individuen seien »social individuals« 451, erachtet sie deren Wollen und Wissen sowie ihr dementsprechendes Handeln doch nicht in jedem Fall für gesellschaftlich bestimmt. Teil einer sozialen Gruppe zu sein, mache die Funktion lediglich gewisser Zustände des Bewusstseins aus: »Meanwhile, an acceptable ontological individualism would be the view that human collectivities are ›nothing‹ over and above some special set of states of the individual human beings which are their members. This amounts to the view that all that is needed to produce a human collectivity is a set of human beings in some as yet unspecified states. [Herv. d. Verf.]« 452

Gilbert, Margaret: On Social Facts, a. a. O., S. 417 ff. Vgl. Gilbert, Margaret: Living Together. Rationality, Sociality, and Obligation, a. a. O., S. 1 ff.; A Theory of Political Obligation. Membership, Commitment, and the Bonds of Society, a. a. O., S. 123. 447 Gilbert, Margaret: On Social Facts, a. a. O., S. 58. Vgl. 12 f., 17, 128. Siehe auch Gilbert, Margaret: Reconsidering the »Actual Contract« Theory of Political Obligation, a. a. O., S. 254. 448 Gilbert, Margaret: On Social Facts, a. a. O., S. 61. 449 Ebd., S. 58. »This supposes that the concept of intention is logically independent of the concept of a social group.« (S. 128) 450 Gilbert, Margaret: On Social Facts, a. a. O., S. 59. 451 Gilbert, Margaret: Living Together. Rationality, Sociality, and Obligation, a. a. O., S. 1. 452 Gilbert, Margaret: On Social Facts, a. a. O., S. 430. Vgl. S. 427. 446

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Der sozialontologische Kollektivismus

Es kann sonach kein Zweifel bestehen, in Wahrheit propagiert Gilberts Theorie des Pluralsubjekts mitnichten einen sozialontologischen Kollektivismus. Nicht soll es so etwas wie ein den individuellen Subjekten gegenüber- und allein auf sich selber stehendes Supersubjekt geben. Wie Gilbert bemerkt, »human collectivities are ›nothing‹ over and above […] the individual human beings which are their members«. 453 Stattdessen warten Gilberts Überlegungen ganz im Gegenteil, indem soziale Gruppen von einem »special set of states« der beteiligten Individuen abhängen sollen, mit einer atomistischen Konzeption des Individuums auf. Die Individualität der Letztgenannten, die den Einzelnen von anderen Menschen trennende Besonderheit, kommt ohne Sozialität, die verbindende Gemeinsamkeit des Einzelnen mit anderen Menschen, vor, welche eben nur »some« der Erstgenannten betrifft. Wir finden hier mithin dasselbe Auseinanderklaffen von Einzelnheit und Allgemeinheit, das den sozialontologischen Individualismus auszeichnet. Das menschliche Individuum ist für Gilbert bloßes Individuum; sozial an ihm sind lediglich bestimmte Zustände seines Bewusstseins, manche nur seiner Intentionen. 454 Ähnlich verhält es sich bei Frederick Schmitt. Mit seinem Aufsatz Joint Action: From Individualism to Supraindividualism aus dem Jahr 2003 legt er einen Versuch über gemeinsames Handeln vor, der sich ebenfalls verheißungsvoll anlässt. Jedem platten Individualismus will er entsagen. Schon der Titel des ›Supraindividualismus‹, unter dem Schmitt seine Bemühungen antritt, stellt in Aussicht, über eine individualistische Herangehensweise hinausgehen zu wollen (lat. supra, oberhalb, darüber). Tatsächlich verwirft Schmitt den, wie er Wie Velleman richtig bemerkt, Gilbert »is using talk of a plural subject as a mere façon de parler, a convenient way of summarizing facts about a collection of subjects who never actually meld«. (Velleman, James D.: How to Share an Intention?, in: Philosophy and Phenomenological Research 57/1 (1997), S. 31) 454 Tönnies ist die Rede von »Kollektivpersonen« in Analogie zu individuellen Personen gleichfalls geläufig: »Jedem verbundenen Willen kann ein besonderer Name gegeben werden, aber auch der Name eines Subjekts, der also die verbundene Mehrschaft oder Menge bezeichnet und von den Personen, die ihr angehören, vorgestellt und gedacht wird als eine Person nach Art der einzelnen selber, mithin als Kollektivkörper.« Doch darf man das nicht buchstäblich und damit im Sinne des sozialontologischen Kollektivismus nehmen. Denn es sind die »Willen« der einzelnen Individuen, die zu einer kollektiven Person »verbunden« sind: »Wenn nun das Wollen des einen mit dem des anderen zusammentrifft, sich verbindet oder vermischt, so ergibt sich ein gemeinsames Wollen«. (Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 183) 453

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Die »plural subject theory« (Gilbert)

sagt, »strict individualism« 455, welchen er am Beispiel von Miller und Bratman in verschiedenen seiner Spielformen erörtert, als unzureichend, um das fragliche Phänomen begrifflich einzuholen. Und im Gegenzug behauptet sein »supraindividualist account« für den Fall, dass mehrere Personen gemeinsam handeln, die Existenz eines »single agent that acts, in a sense closely analogous to that in which an individual agent acts«. 456 Das klingt wiederum nach einer Position, die dem sog. sozialontologischen Kollektivismus gleichkommt. Kollektives Handeln scheint nach Schmitt einer überindividuellen Instanz, eines Kollektivsubjekts, zu bedürfen, welches da handelt. Und doch, der Schein trügt, auch hier. Denn Schmitts Ausführungen enden mit einer überraschenden Pirouette. In der abschließenden Partie seines Aufsatzes steht er nicht an darzulegen, dass und warum der Supraindividualismus, den das Scheitern des »strict individualism« doch nahelegt, fehlerhaft sei. Mag die Zuschreibung von joint actions eingelernte Alltagspraxis sein und mag die supraindividualistische Darstellung von joint actions diese Praxis treffend reflektieren, sei sie doch »not literally true« 457. Die Gründe, welche Schmitt dafür ins Feld führt, brauchen uns nicht aufzuhalten. Nur das ist wichtig, dass es keinen Akteur oberhalb der Individuen, kein Kollektivsubjekt, geben soll und damit auch kein gemeinsames Handeln. Was der naive Lebensweltbewohner problemlos praktiziert, soll nicht existieren, weil der Philosoph Probleme hat, dieses auf den Begriff zu bringen: »Perhaps the most troubling consequence of our supraindividualist account of joint action is its eliminativism about joint action. Supraindividualism is of course a thesis about what we’re attributing when we make our everyday casual attributions of joint actions. It is a thesis about what joint actions, as we ordinarily conceive them, would involve if they existed. But the account has ontological consequences: in the presence of innocuous claims about the nature of mentality, it entails eliminativism about joint actions: there aren’t any. There could be joint agents and actions as conceived on supraindividualism, but in fact there are none.« 458

Schmitt, Frederick F.: Joint Action: From Individualism to Supraindividualism, in: Ders. (Hg.): Socializing Metaphysics. The Nature of Social Reality, Lanham 2003, S. 129. 456 »An action j is a joint action only if (1) there is an agent C who performs j from C’s intention of performing j; and (2) C is not an individual.« (Ebd., S. 155) 457 Ebd., S. 129. 458 Ebd., S. 156. 455

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Der sozialontologische Kollektivismus

Wie Hans Bernhard Schmid nicht ganz zu Unrecht unterscheidet, exorzieren Miller, Bratman und andere Autoren das Gespenst des Kollektivsubjekts, wohingegen Gilbert und Schmitt sich dem zumindest sprachlich gewogen zeigen, es aber der Sache nach zuletzt doch domestizieren. Gilbert einerseits verwendet den kollektivistisch anmutenden Begriff des Pluralsubjekts, schmuggelt in ihm allerdings individualistische Konterbande. Schmitt andererseits redet ähnlich von einem supraindividuellen Akteur, das aber nur, um diese und andere philosophisch unhaltbare Redeweisen als uneigentliche zu demaskieren. 459 Wie steht es nun aber mit Rousseau? Für die Beschreibung der Ausbildung eines pluralen Subjekts verwendet Gilbert eine an Rousseau angelehnte Formel, die nämlich vom »pool of wills«. Dazu notiert sie: »One is willing to be the member of a plural subject if one is willing […] to put one’s own will into a ›pool of wills‹ dedicated, as one, to a single goal (or whatever it is that the pool is dedicated to).« 460 Insofern Gilbert diese Metapher nicht auch durch Hobbes oder Locke abgestützt sieht, muss sie damit etwas vor Augen haben, was über das Allgemeine der klassischen Gesellschaftsvertragslehre hinaus- und eine Besonderheit allein von Rousseaus Contract social anzielt. Das ist nichts Geringeres als der Gedanke, in welchem sich Rousseaus politische Philosophie verdichtet: der Gedanke eines Gemeinwillens (volonté générale), welcher den Staat beseelt, und eines gemeinsamen Ich (moi commun), welches den Gemeinwillen trägt. Dass sich also Individuen zu einer sozialen Gruppe zusammenfinden, soll Gilbert zufolge darin bestehen, dass sie ihre Willen zu einem allgemeinen Willen zusammenfließen lassen und ihre vielen Iche zu einem gemeinschaftlichen Ich zusammenschließen. Da Gilbert hierbei nicht kritisch, sondern affirmativ auf Rousseau Bezug nimmt, scheint sie ihn dergestalt zu lesen, dass sie bei ihm die gleiche indiVgl. Schmid, Hans B.: Wir-Intentionalität. Kritik des ontologischen Individualismus und Rekonstruktion der Gemeinschaft, a. a. O., S. 219 ff. 460 Gilbert, Margaret: On Social Facts, a. a. O., S. 18. Vgl. 204, 211, 220, 409 ff. und passim. Gilbert zitiert dazu auf S. 198 eine Stelle aus dem 6. Kapitel des 1. Buches von Rousseaus Contract social: »Da die Menschen nun keine neuen Kräfte hervorbringen können, haben sie kein anderes Mittel, sich zu erhalten, als durch Zusammenschluss eine Summe von Kräften zu bilden, stärker als jener Widerstand, und diese aus einem einzigen Antrieb einzusetzen und gemeinsam wirken zu lassen.« (CS 360) Siehe auch Gilbert, Margaret: Walking Together: A Paradigmatic Social Phenomenon, a. a. O., S. 7 f.; Living Together. Rationality, Sociality, and Obligation, a. a. O., S. 9 f. 459

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Fazit: das intentionalistische Paradigma als gemeinsame Prämisse

vidualistische Logik am Werk findet wie in ihrer Sozialontologie. Dagegen knüpft der zu Anfang erwähnte Bertram seine ganz entgegengesetzte Einschätzung, den Zug zum sozialontologischen Kollektivismus, welchen er bei Rousseau diagnostiziert, genauso an dessen zentrale Idee einer volonté générale und eines moi commun. Ob die eine oder die andere Partei recht behält, ob Rousseaus politisches Denken von individualistischer oder von kollektivistischer Machart ist, hängt folglich davon ab, wie dessen Vorstellung vom Gemeinwillen und gemeinsamen Ich auszulegen ist. Das lässt sich nicht im Vorübergehen bewerkstelligen. Ich schiebe das daher einstweilen noch auf und komme in Kapitel V.2 darauf zurück. Es wird sich dann nicht nur herausstellen, dass die unterschiedlichen Lesarten ihren Grund in einer Unstimmigkeit haben, die Rousseaus politischer Philosophie immanent ist. Sondern vor allem wird sich dann zeigen, und für uns von alleinigem Interesse, dass Rousseau einer ist – und zwar ganz genauso wie Hegel –, dem man, obzwar er die sozialontologische Frage gar nicht stellt, durchaus eine rechte Ahnung nachsagen kann. Zusammen mit Hegel werde ich Rousseau fruchtbar zu machen versuchen, um die Problemstellung der Ontologie des Sozialen zu bewältigen.

4.

Fazit: das intentionalistische Paradigma als gemeinsame Prämisse von Individualismus und Kollektivismus

Ausgegangen bin ich von der interpretatorischen These eines intentionalistischen Paradigmas sowohl in den derzeit vorherrschenden als auch in älteren Bemühungen um eine ontologische Verständigung über das Soziale. Zum Aufweis dieses Paradigmas habe ich in einem ersten Schritt eine Auswahl der betreffenden Autoren wiedergegeben, insbesondere Simmel, Weber, Schütz und Searle. Der Gesichtspunkt, unter dem die Autoren ausgewählt sind, ist der, dass sie alle das Soziale an einer gewissen Sorte intentionaler Zustände des menschlichen Bewusstseins festmachen, an einem bestimmten intentionalen Gehalt oder einer bestimmten intentionalen Form. Und es hat sich gezeigt, dass ein derartiger Ansatz auf einen Individualismus hinausläuft. Was nämlich aus der Bestimmung des Sozialen herausgehalten wird, ist im Gegenzug der Träger des Bewusstseins; in sozialer Hinsicht soll er vollauf unangetastet sein. Es ist dies eine atomistische Deutung des menschlichen Individuums. Mein diesbezügliches 183 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Der sozialontologische Kollektivismus

Unbehagen – welches zunächst mehr nur einer Ahnung entspringt und seine Rechtfertigung erst noch erhalten muss – hat die Aufmerksamkeit vom Intendierten sowie dem Intendieren weg- und über die Grenze hinaus gelenkt, welche durch individualistische Analysen gezogen wird. Die abweichende Auslegung, welche ich vom intentionalen Subjekt des Bewusstseins zu versuchen mir vorgenommen habe, hat sich dabei als ein Aspektizismus empfohlen. Dessen einfache Idee ist, dass jenes neben einer individuellen, besonderen Seite stets auch eine soziale, allgemeine Seite besitzt und in der Folge sämtliche Zustände seines Bewusstseins. Eine Position, die dem a prima vista entgegenkommt, wird in der Kontroverse zur Ontologie des Sozialen als Kollektivismus gehandelt. Unter den namhaften Köpfen jener Kontroverse und Fürsprechern des Atomismus wird sie als der maßgebliche Gegenspieler herumgereicht. Erweckt sie doch den Eindruck, das Soziale nicht an das Erleben der Menschen zu knüpfen, weder an dessen Was noch an dessen Wie, und insofern vom Intentionalismus abzustehen. Stattdessen scheint sie das Ich des Erlebens in den Blickpunkt zu rücken. Dieses sei, und das ist der Grund, weswegen solch eine kollektivistische Position durchweg einem harschen Urteil verfällt, eine von den Einzelnen nicht nur begrifflich unterschiedene, sondern sogar ohne sie existierende Instanz. Das habe ich herauspräpariert, weil es mehr in der Luft liegt als in den einschlägigen Texten niedergeschrieben steht, was denn eine solche supraindividuelle Instanz (von einer Kleingruppe über eine Organisation oder Klasse bis hin zu einem ganzen Volk) genau ausmachen soll. Und es handelt sich dabei in Wahrheit um den Unbegriff einer anderen Autoren anlastenden Suggestion. Wie sich nämlich in einem zweiten Schritt ergeben hat, vertreten diejenigen eine derartige Anschauung gar nicht, Hegel beispielsweise und Durkheim, welchen sie nachgesagt wird. Selbst Autoren, die zu kollektivismusfreundlicheren Ufern unterwegs zu sein sich den Anschein geben, bleiben bei näherem Zusehen doch in individualistischen Gewässern stecken, so Gilbert und Schmitt. Dessen ungeachtet liegt nur allzu deutlich am Tage, dass es sich beim sozialontologischen Kollektivismus gar nicht um etwas wie dasjenige handelt, was ich mit dem sozialontologischen Aspektizismus vor Augen habe. Aus den vorausgegangenen Betrachtungen ist das Fazit zu ziehen, dass jene Ansicht weit davon entfernt ist, eine Art aspektizistische Deutung des Intendierenden zu liefern. Ja, sie ist dem

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Fazit: das intentionalistische Paradigma als gemeinsame Prämisse

sozialontologischen Individualismus bei näherem Zusehen gar nicht einmal so unähnlich. Ganz im Gegenteil sogar. Das erste Fazit lautet, dass der Kollektivismus exakt dasselbe Paradigma zur Prämisse hat. Er zeigt den gleichen paradigmatischen Analyseansatz wie sein vorgeblicher Kontrahent, der Individualismus. Zieht dieser doch schlicht ins Große hinein aus, was jenem im Kleinen unstrittig ist; er modelliert das kollektive Subjekt eins zu eins nach dem Vorbild individueller Subjekte. Wohl kommt die viel geschmähte Ansicht des Kollektivismus überhaupt nur so zustande, dass diejenigen, welche in der rezenten Debatte dem Individualismus das Wort reden, Merkmale menschlicher Individuen anstandslos auf gesellschaftliche Gebilde übertragen. Darin trifft sich der eine mit dem anderen, dass er den Intentionalismus präsumiert. 461 Denn nicht nur, dass auch das Kollektivsubjekt mit eigenen intentionalen Zuständen vorgestellt wird. Die Individualsubjekte sind vor allen Dingen dann nur und nur in dem Umfang Teil eines Kollektivs, wenn und als ihr Bewusstsein daran teilhat oder damit übereinstimmt: sich also zu demselben oder auf dieselbe Weise dazu verhält wie jenes. Diese Vorstellung der Gegner des Kollektivismus ist jedoch in argumentativer Hinsicht unmotiviert und in phänomenaler Hinsicht durch nichts belegt. In die Bewertung wenigstens, welche Searle und andere Anhänger des Individualismus abgeben, darf man daher wohl getrost einstimmen. Bei einem solchen Sozialgebilde handelt es sich tatsächlich um ein ens fictivum. Wir stoßen hiermit ein weiteres Mal, so lautet das zweite Fazit, an diejenige Grenze, welche intentionalistische Ansätze auf dem Feld der Sozialontologie ziehen. Denn wo, um die notwendige und hinreichende Bedingung dafür namhaft zu machen, dass etwas etwas Soziales ist, auf die Teilhabe der intentionalen Zustände des menschlichen Bewusstseins an oder deren Übereinstimmung mit solchen abgestellt wird, die einem Träger von Bewusstsein zugehören, der, mit Heidegger gesprochen, »größer« 462 sein soll als der Einzelne, ein

Vgl. Schmid, Hans B.: Wir-Intentionalität. Kritik des ontologischen Individualismus und Rekonstruktion der Gemeinschaft, a. a. O., S. 37 f., 233. 462 So spricht sich schon Heidegger gegen eine kollektivistische Denkhaltung aus: »Die gefährlichsten sind jene, in denen das weltlose ›Ich‹ sich scheinbar aufgegeben und hingegeben hat an ein Anderes, das ›größer‹ ist als es und dem es stückhaft oder gliedweise zugewiesen ist.« (Heidegger, Martin: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (1936–1938), GA 65, Frankfurt a. M. 32003, S. 321) 461

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»Großsubjekt« 463, mit Habermas gesagt, da ist doch das erstere überhaupt nicht als solches in einer Dimension von Sozialem angesiedelt. Nur dann, wenn – und nur in dem Umfang, als – das Bewusstsein eines einzelnen Menschen an dem letzteren teilhat oder damit übereinstimmt, d. h. dem von jenem Intendierten oder seinem Intendieren, soll es ein gesellschaftlich eingestelltes sein. Folglich bleibt auch unter den Vorzeichen des sozialontologischen Kollektivismus alles beim Alten; seine Analyse hat, was das anbelangt, dem sozialontologischen Individualismus nichts voraus. Lediglich eine gewisse Sorte bewusster Intentionen, seien sie ansonsten volitiver, kognitiver, affektiver oder sonst irgendeiner Art, steht auf gesellschaftlichem Boden. Diese erste Grenze setzt sich das intentionalistische Paradigma in beiden seiner Spielarten selbst. 464 Und damit nicht genug. Gemäß der Komplementarität von Intentionalismus und Individualismus, dass nämlich der eine das ergänzende Gegenstück des anderen ist, hat der Individualismus sogar noch mehr mit seinem scheinbaren Widerpart, dem Kollektivismus, gemein. Sie sind auch deshalb gar nicht so verschieden, wie man zunächst vermuten möchte, weil sie sogar noch etwas Weiteres teilen. Und zwar kommen sie desgleichen unter dem Gesichtspunkt auf eins heraus, wie das dritte und letzte Fazit lautet, als was sie das individuelle Subjekt, das menschliche Ich konzipieren. Dieses wird von beiden ganz selbstverständlich so behandelt, als sei das ein Selbst, dessen Identität durch nichts anderes denn reine Individualität charakterisiert, das in die Eigenwelt seiner vorsozialen Einzelnheit eingekapselt ist. Der Intendierende erfährt jeweils dieselbe Auslegung; das ist die zweite Grenze, welche sich intentionalistische Analyseansätze in beiden Spielarten selber setzen, dass der Mensch ein von aller Allgemeinheit mit Anderen abgeschnittener Besonderer sein soll. Folglich ist der Kollektivismus in Wirklichkeit eine Frucht vom Baume des Individualismus, die Travestie eines nichtindividualistischen Standpunktes mittels individualistischer Begriffsinstrumente. 465 Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a. M. 1992, S. 134. 464 Allerdings sagt man dem Kollektivismus totalitäre Tendenzen nach. Der Einzelne müsse sich nämlich gegen die einsaugende Dominanz des Kollektivs zur Wehr setzen, um seine Individualität zu erhalten. Vgl. Hartshorne, Charles: Elements of Truth in the Group-Mind Concept, in: Social Research 9/2 (1942), S. 248–265; Tuomela, Raimo: The We-Mode and the I-Mode, a. a. O., S. 125. 465 Man mag sich in dem Zusammenhang vielleicht an das Titelkupfer der Erstaus463

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Es fragt sich allerdings, ob damit sämtliche Alternativen ausgeschöpft sind. Womöglich ist gerade das der Fehler, den es zu vermeiden gilt, hinzunehmen, dass im Verfolgen der sozialontologischen Frage lediglich zwei Möglichkeiten zur Verfügung stehen, das Wer von Bewusstsein und Intentionalität zu denken: ein Individualismus auf der einen Seite, der dieses zu einem bloß individuellen oder, mit Dilthey zu sprechen, vom »Stamme der Gesellschaft losgelösten Individuum« 466 degradiert, und auf der anderen Seite ein Kollektivismus, der es zu einem supraindividuellen Individuum überhöht. Vielleicht hat man sich von beidem gleichermaßen freizumachen, einem verstiegenen Individualismus sowohl als auch einem verblasenen Kollektivismus. Solch eine vorauseilende Beschränkung infrage kommender Theorieoptionen bleibt nicht nur weithin unausgesprochen; in eins damit bleibt sie auch unausgewiesen. Die Ontologie des Sozialen aufzuziehen, indem man derlei ungeprüfte Hypothesen in ihre Grundmauern einzieht, ist jedoch untunlich. Wohin also ist der nächste Schritt zu richten? Es steht zu prüfen, ob es sich bei Individualismus und Kollektivismus tatsächlich um die einzigen Standpunkte handelt, auf die man sich in Sachen Sozialontologie stellen kann. Ich will das derart in Angriff nehmen, dass ich die ihnen gemeinsam zugrunde liegende Motivationstheorie einer Prüfung unterziehe. Wenn es nämlich richtig ist, dass der Individualismus und der Kollektivismus aller sonst zwischen ihnen bestehenden Unterschiede zum Trotz das intentionalistische Paradigma teilen, dann ist ebendem auf den Grund zu gehen. Zu erwägen ist, ob über Soziales adäquat nachgedacht wird, wenn man es ausschließlich an die Intentionalität des menschlichen Bewusstseins, genauer an dessen Zustände, heftet, deren intentionalen Gehalt oder deren intentionale gabe von Hobbes Leviathan (1651) erinnern. Dort wird der übermächtige Staat in Reminiszenz an Platons Bild der gerechten Polis als μάκρος ἄνθρωπος (vgl. Rep. 368d f.) in Gestalt eines großen Menschen veranschaulicht, dessen Körper sich aus den Untertanen aufbaut. Die Untertanen beschirmen nicht bloß den Leib des Leviathans wie ein Schuppenpanzer; sie sind seine Glieder, und ihr Verhalten wird durch Gesetze als Ausdruck seines Willens regiert, wie der Einzelne die Bewegungen seiner Körperglieder willentlich steuert. Doch ist das kein sozialontologischer Kollektivismus, weil die Position des Herrschers erst durch einen Vertrag, den alle Beteiligten miteinander eingehen, geschaffen wird und es immer eine natürliche Person (oder mehrere) ist, welche jene Position versieht. 466 Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und Geschichte. Erster Band (1883), GS 1, Stuttgart 91990, S. 31.

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Form. Sollte es gelingen, das wirksam in Zweifel zu ziehen, stürzt die Opposition von Individualismus und Kollektivismus, die darauf aufbaut, in sich zusammen. Dem Aufbruch zu einer nicht durch selbstgezogene Grenzen restringierten Erfassung des Sozialen sind dann die Hindernisse aus dem Weg geräumt. Ich will also zum einen dartun, dass der Gegensatz zwischen sozialontologischem Individualismus und sozialontologischem Kollektivismus keineswegs vollständig ist. Die Lösung, welche sie anbieten, um über denjenigen Rechenschaft zu geben, der da intendiert, ist nicht die einzige, welche zu haben ist. Anstatt mich für das eine Glied des Gegensatzes und gegen das andere zu entscheiden, werde ich weder auf das eine noch auf das andere setzen. Ich habe es vielmehr darauf abgesehen, aus dem Bannbereich dieser ganzen Gegenüberstellung und der in ihr verfilzten Schwierigkeiten, welche die Forschungsdebatte zur Ontologie des Sozialen überladen, herauszukommen. Nein, besser noch: gar nicht erst hineinzukommen. Ich möchte mich diesseits der Alternative von Individualismus und Kollektivismus aufstellen. Und ich will das dadurch bewerkstelligen, dass ich zum anderen die Unangemessenheit des Intentionalismus offenlege, jenes Tertium comparationis von Individualismus und Kollektivismus. Denjenigen dritten Weg, das intentionale Subjekt zu denken, einzuschlagen, welchen ich als sozialontologischem Aspektizismus in Aussicht gestellt habe, verlangt, das zunächst nur geahnte Ungenügen des paradigmatisch gewordenen intentionalistischen Ansatzes für die Verbegrifflichung des Sozialen nun zu rechtfertigen. Der Neukantianer Natorp, von dem bereits die Rede war, erklärt das Bewusstsein und dessen Intentionalität als »unreduzierbar Letztes« 467; es soll sich lediglich als »Faktum« würdigen, nicht aber auf anderes zurückführen lassen. 468 Diejenigen, welche in puncto Sozialontologie Individualisten sind, genauso wie die, welche diese sich unter einem Kollektivisten vorstellen, folgen Natorp darin, jedenfalls der Sache nach. Stehen ihre Theorieentwürfe doch fest unter der Generalherrschaft des inNatorp, Paul: Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode, Bd. 1: Objekt und Methode der Psychologie, a. a. O., S. 27. 468 »Das unmittelbare Erlebnis des Bewußtseins verlangt, […] als schlechthin erstes, ursprünglichstes Faktum gewürdigt zu werden« (ebd., S. 23). »Fragt man aber weiter: was ist dieses Beziehung? So kann die Antwort nur lauten: ein Letztes, das, eben als solches, keiner weiteren Erklärung oder Reduktion mehr fähig noch bedürftig ist.« (S. 27) 467

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tentional verfassten Bewusstseins, von dem her sie die Sozialität des Menschen begreiflich zu machen versuchen. Ich entnehme daraus einen Wink auf die Richtung, in der ich mich umzuschauen habe. Zu erörtern ist danach, ob man Soziales in der Tat aus dem Umkreis einer auf sich selber beruhenden Intentionalität analysieren kann: Ist der Begriff bewusster Intentionen wirklich »logically prior«, wie Gilbert vermeint, als der des Sozialseins menschlicher Existenz? Die Einsicht in eine etwaige Voraussetzungshaftigkeit unseres Bewusstseins könnte die alles wendende Widerlegung des intentionalistischen Paradigmas sein, weil sie zugleich die sozialontologische Problematik an ihren rechten Platz rückt. Mit Gilberts Worten könnte sie Aussicht gerade auf einen »social account of intention« eröffnen, darauf nämlich, dass der Begriff des intentionalen Bewusstseins nicht nur Soziales in sich fasst, sondern dass der Begriff des Sozialen überdies explanatorisch primär ist. Ich will also zusehen, ob sich ein Griff tun lässt zurück hinter das Bewusstsein. Dazu nehme ich mir Hilfe. Searle hat zwar mit großer Geste den befremdlichen Verdacht geäußert, das die soziologischen Klassiker, aber auch die der Philosophie, von Rousseau über David Hume bis zurück zu Aristoteles, allesamt kaum bis gar kein Potenzial für die systematischen Interessen der zeitgenössischen Sozialontologie bergen. So ist es bloß folgerichtig, dass er sie konsequent aus seinen eigenen Überlegungen ausblendet. 469 Nach Lage der Dinge scheinen sich dem die meisten derer angeschlossen zu haben, welche zu diesem Thema mit eigenen Vorschlägen hervorgetreten sind. Nur wenige historische Bezugnahmen lassen sich als begrüßenswerte Ausnahme anführen, etwa Gilberts Rezeption von Simmels Analyse des Gesellschaftsbegriffs, auf die ich bereits eingegangen bin, oder Pettits kritische Beschäftigung mit Durkheim. 470 Allerdings droht die mangelnde Einbeziehung soziologie- und philosophiegeschichtlicher Zusammenhänge die Reflexion hier wie sonst auch mit Blindheit zu schlagen. Muss sich doch jedes wahrhaft sachbezogene Nachdenken mit Meinungen, welche die Vergangenheit zu der betreffenden Sache hervorgebracht hat, gleichzeitig und durch sie ebenso herausgefordert Vgl. Searle, John R.: Social Ontology. Some Basic Principles, a. a. O., S. 14. Sein Befremden über diese Ausblendung äußert auch Waldenfels, Bernhard: Sozialontologie auf sozialbiologischer Basis. Searles Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in: Philosophische Rundschau 45/2 (1998), S. 97 f. 470 Vgl. Pettit, Philip: The Common Mind. An Essay on Psychology, Society, and Politics, a. a. O., Kap. 2. 469

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wie belehrbar wissen (sollte das schlussendlich auch lediglich dazu dienen, die eigene Auffassung davon abzusetzen und dagegen zu schärfen). Eine Bereicherung für den Umgang mit der vorliegenden Schwierigkeit erhoffe ich mir daher aus der Konfrontation mit einigen ausgewählten Denkern. Was die Überlegung von der Stelle bringen und das intentionalistische Paradigma widerlegen helfen soll, ist der Rückgang auf Kants, wie ich ihn nennen werde, anthropologischen Begriff von Welt, auf Rousseaus politiktheoretische Konzeption sittlicher Freiheit (liberté morale) in Verbindung mit Hegels rechtsphilosophischer Idee von Sittlichkeit sowie schließlich und hauptsächlich auf Wittgensteins Umgang mit dem semantischen Problem des Regelfolgens. Es wird sich zeigen, dass diese doch so unterschiedlichen Denker mit ihren jeweiligen Theoremen nur scheinbar wahllos zusammengesucht sind und durchaus eine einheitliche Argumentation in Bezug auf das Selbst von Bewusstsein und Intentionalität erlauben. Wie dessen Identität gedacht werden muss, ist an dieser Stelle die entscheidende Frage. Und im Mittelpunkt der Argumentation, um dort hinzugelangen, steht dabei der ausgedehnte Sachbereich der menschlichen Sitte.

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Zweiter Teil Widerlegung des intentionalistischen Paradigmas durch den Begriff vorgängiger Gemeinsamkeit

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V.

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Diesseits von Individualismus und Kollektivismus: hinter das Bewusstsein zurück

»Weltwesen« und »Weltkenntniß« (Kant)

Einsetzen will ich mit einem Autor, den man in diesem Kontext wohl eher nicht erwarten möchte. Ist es doch Johann Gottlieb Fichte, der im Umfeld des deutschen Idealismus zum ersten Mal in der Geschichte der Philosophie nicht weniger als eine apriorische Deduktion der sozialen Daseinsweise des Menschen vorzulegen scheint. In seiner Grundlage des Naturrechts von 1796 leitet er, anders als Kant in dessen ein Jahr zuvor erschienener Schrift Zum ewigen Frieden, den Begriff des Rechts gemäß den Prinzipien seiner Wissenschaftslehre aus dem Bewusstsein des Menschen ab. Man hat das als Entdeckung der unserer Subjektivität wesenhaft einliegenden Intersubjektivität, als Einbruch gesellschaftlichen Denkens in die nachkantische Egologie gelobt. Laut Wilhelm Weischedel beispielsweise mache Fichte dort »den Menschen als ursprünglich soziales Wesen« 1 einsichtig. 2 Das ist so allerdings nicht korrekt. Denn Fichtes erklärtes Beweisziel gilt gar nicht Sozialem in seinem unbeschränkten Wirkungskreis, geschweige denn der notwendigen und hinreichenden Bedingung des Sozialen als solchen. Sondern das Beweisziel gilt einzig und allein der vernünftigen, naturrechtlichen Form menschlicher Gesellschaft. Diese, nicht aber jenes, soll in der Struktur unseres transzendentalen Ich angelegt sein und mit dem Anspruch auf apodiktische Gewissheit daraus entwickelt werden können. »In der gegenwärtigen Schrift«, so vermerkt Fichte selber einleitend, »ist der

Weischedel, Wilhelm: Der Aufbruch der Freiheit zur Gemeinschaft. Studien zur Philosophie des jungen Fichte, Leipzig 1939, S. 122. 2 Vgl. Weber, Marianne: Fichte’s Sozialismus und sein Verhältnis zur Marx’schen Doktrin, Tübingen 1900, S. 28 ff. 1

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Diesseits von Individualismus und Kollektivismus: hinter das Bewusstsein zurück

Begriff des Rechts als Bedingung des Selbstbewußtseyns […] deducirt worden« (SW III 11). 3 Anders bei Kant. Ich berufe mich dabei nicht auf Gedanken, die man sonst rasch bei der Hand hat: nicht auf Kants Transzendentalphilosophie in der Kritik der reinen Vernunft (1781) oder seine Moralphilosophie in der Kritik der praktischen Vernunft (1788), wo das Grundgerüst theoretischer bzw. moralischer Vernunftsubjektivität freigelegt wird, welches bei jedem Menschen, sofern er eben nur ein vernünftiges Wesen ist, dasselbe sein soll. Genauso wenig berufe ich mich auf die Kant’sche Ästhetik in der Kritik der Urtheilskraft (1790), die lehrt, dass reine Geschmacksurteile über Schönes und Hässliches zu Recht eine Zustimmung von jedermann reklamieren dürfen. Was ich stattdessen vor Augen habe, findet sich ein wenig abseits der großen Werke, in Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht aus dem Jahr 1798, der letzten von ihm eigenhändig publizierten Schrift. Worum es im Folgenden gehen soll, möchte ich als Kants ›Weltbegriff des Menschen‹ bezeichnen und herausarbeiten. 4 Interessant daran ist Kants bemerkenswerte Rede von Welt. Diese ist nämlich nicht zu verwechseln mit derjenigen, welche prominent in der ersten Kritik begegnet. Dort entfaltet Kant im »Ersten Buch« der transzendentalen Dialektik die Vorstellung der Welt neben der von Seele und Gott als eine sog. Vernunftidee. Nicht nur der menschliche Verstand sei eine Quelle reiner Begriffe, sondern gleichfalls unsere Vernunft. Und der Beitrag, welchen diese zum Aufbau empirischer Erfahrungserkenntnis beisteuert, soll es sein, wie Kant zum Ende des Kapitels hin verdeutlicht, das durch die Verstandeskategorien bereits geordnete Mannigfaltige der sinnlichen Anschauung, will sagen die daraus erwachsene Vielzahl unserer Erfahrungen raumzeitlicher Erscheinungen, selber noch einmal unter eine höhere, ja die »höchste Einheit des Denkens« (KrV B 355) und so in einen allseitigen Zusammenhang miteinander zu bringen. Aufs Wesentliche komprimiert ist Welt qua Idee der reine Begriff eines empirische Erkenntnis ermöglichenden, weil Letzteinheit stiftenden Ganzen: einer, wie Kant zu Beginn des Antinomien-Kapitels im »Zweiten Buch« der Das kündigt sich bereits in Fichtes zweiter Vorlesung Über die Bestimmung des Gelehrten (1794) an. Vgl. SW VI 301 ff. 4 Siehe ausführlich Zimmermann, Stephan: In sozialontologischer Absicht: Kants Weltbegriff des Menschen und seine Zuschärfung bei Heidegger, in: Ders./Krijnen, Christian (Hg.): Sozialontologie in der Perspektive des deutschen Idealismus. Ansätze, Rezeptionen, Probleme, Berlin/Boston 2018, S. 41–73. 3

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»Weltwesen« und »Weltkenntniß« (Kant)

Dialektik erklärt, »absolute[n] Totalität in der Synthesis der Erscheinungen« 5. Dieser Begriff der Welt, wie ihn die Transzendentalphilosophie aufstellt, ist schon auf den Menschen bezogen. Soll er doch in der apriorischen Struktur unseres Intellekts beschlossen liegen und dessen Endlichkeit geschuldet sein. Nach Kant sind wohl reine Geistwesen wie beispielsweise Gott und ihm untergeordnete transzendente Gestalten denkbar, allerdings haben sie wesensmäßig keine solche Vorstellung, ja überhaupt keine Ideen, wie sie auch nicht über Kategorien verfügen. Schließlich sind sie von vornherein gar keiner auf sinnlicher Anschauung fußenden empirischen Erfahrungserkenntnis von Gegenständen in Raum und Zeit fähig. 6 Damit sind wir unmittelbar bei einer anderen Bedeutung angelangt, mit der Kant den Weltbegriff auflädt. Insbesondere in späteren Texten, der dritten Kritik und der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), spricht er vom Menschen mehrfach als von einem vernünftigen »Weltwesen« (KU V 353). Da diese Charakterisierung im Gegensatz zu Gott als »höchstem« oder »Urwesen« auftritt, ist sie dahingehend zu nehmen, dass der Mensch qua Weltwesen für Kant offenbar ein endliches Wesen ist. 7 Anders als in der christlichen Tradition jedoch, u. a. bei Augustinus und Thomas von Aquin, besteht die Endlichkeit des Menschen nicht in seiner Geschöpflichkeit; Kant will nicht so sehr sagen ens creatum. 8 Genauso wenig ist damit auf die Sterblichkeit der Menschen als Naturwesen angespielt, auf ihr unentrinnbares Sein zum Tode. Was Kant im Sinn hat, ist vielmehr eine prinzipielle Bedingtheit unserer Rationalität: dass der menschliche Intellekt in jeder Weise seiner Betätigung auf etwas angewiesen bleibt, wofür er nicht selber zu sorgen vermag. In seinem theoretischen Gebrauch etwa ist er daran gebunden, dass ihm Objekte in sinnlicher Anschauung gegeben werden, und in seinem praktischen Gebrauch bedarf er allemal Gefühle als Triebfedern, um Gegenstände (unsere Handlungen und deren absehbare Folgen) her»Ich nenne alle transscendentale Ideen, so fern sie die absolute Totalität in der Synthesis der Erscheinungen betreffen, Weltbegriffe« (KrV B 434). Vgl. KrV B 447. Siehe dazu sowie zu den Schwierigkeiten, welche diesem Weltbegriff bei Kant anhängen, Kreis, Guido: Negative Dialektik des Unendlichen. Kant, Hegel, Cantor, Berlin 2015, Kap. I. 6 Vgl. KrV B 72, 138 f., 145. 7 Vgl. KU V 393, 439, 444, 445, 451; RGV VI 60, 74 Anm., 103. 8 Was aber hie und da doch mitschwingt. Vgl. KU V 443. 5

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vorbringen zu können. Die hier in Rede stehende Welthaftigkeit menschlichen Daseins liegt mithin darin, dass wir gerade keine bloß geistigen Wesen sind. 9 Mit diesem Verständnis von Welt als der Grundverfassung mancher Vernunftwesen vertieft sich deren Zugehörigkeit zum Menschen merklich. Nicht nur hat der Mensch kraft seiner jederzeit endlichen Vernunftsubjektivität eine Vorstellung der Welt, welche die Struktur seines theoretischen Intellekts birgt und durch die sich sämtliche Erscheinungen in Raum und Zeit zu einer Totalität zusammenfügen. Er selber wird von Kant mit ›Welt‹ angesprochen: Der Mensch ist eine weltförmige, endliche Existenz. Und die Weltförmigkeit, die damit in Betracht steht, ist eine nicht nur unseres Erkenntnis- und Erfahrungslebens, sondern der gesamten Bandbreite menschlicher Rationalität; sie manifestiert sich etwa auch in unserem Wollen und Handeln. Allein, das ist vom Menschen gewiss nicht ausschließungsweise zu sagen, sondern gilt nicht minder im Falle aller sonstigen etwaigen endlichen Intelligenzen, deren Vorkommen sich ausmalen lässt. Solche heißen in Kants Sprache gelegentlich auch »Weltwesen«; allerdings drückt er sich nur äußerst selten so aus. 10 In der Anthropologie spielt sodann noch eine weitere Bedeutung in den Weltbegriff hinein. Um diese ist es mir zu tun. Kant lässt die »Vorrede« mit der Erklärung anheben, was man überhaupt von einer Anthropologie in pragmatischer Hinsicht zu erwarten hat. Den Menschen, so heißt es da, »seiner Species nach, als mit Vernunft begabtes Erdwesen zu erkennen, verdient besonders, Weltkenntniß genannt zu werden, ob er gleich nur einen Theil der Erdgeschöpfe ausmacht« (Anth VII 119). Die sprachliche Trennung zwischen Welt einerseits und der Erde mitsamt den auf ihr lebenden Wesen andererseits, von welchen der Mensch nur eines unter vielen ausmacht, bereitet die Festsetzung der Aufgabe vor, welche Kant seiner Anthropologie steckt. Und zwar konzipiert er diese, wie der Folgesatz eröffnet, als die »Lehre von der Kenntniß des Menschen, systematisch abgefaßt«. Damit nimmt Kant eine Zuordnung vor, die aufhorchen lässt: Anthropologie soll »Weltkenntniß« sein, das aber soll heißen »Kenntniß des Menschen«. Das begriffliche Verhältnis von Welt und Mensch erreicht hier seinen Höhepunkt in der Vorstellung einer ausschließDen Kant’schen Schriften ist die Rede von einem Gebrauch unseres Intellekts (usus intellectus) geläufig. Vgl. KrV B XXV, 5, 76, 88, 90, 92, 355; KpV V 15 und passim. 10 Vgl. RGV VI 6 Anm., 26 Anm. 9

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»Weltwesen« und »Weltkenntniß« (Kant)

lichen Zusammengehörigkeit: Durch die erstere wird unter den vielerlei Geschöpfen der Erde lediglich der letztere gedacht. Welt versteht Kant jetzt als Eigentümlichkeit einzig des Menschen. Kant detailliert das, indem er kurz darauf unterscheidet zwischen »die Welt kennen und Welt haben« (Anth VII 120). Und er führt aus, dass »der Eine nur das Spiel versteht, dem er zugesehen hat, der Andere aber mitgespielt hat«. Welches Spiel hat Kant im Auge? Nicht das »Spiel der Natur«, welches er an dieser Stelle gleichfalls erwähnt und explicite abgrenzt; aus diesem gingen »Thiere, Pflanzen und Mineralien in verschiedenen Ländern und Klimaten«, selbst die »Menschenrassen« als »Producte« hervor. Dasjenige Spiel hingegen, welches Kant im Munde führt, ist augenscheinlich auf den Menschen berechnet. Denn er fährt fort: »Die sog. große Welt aber, den Stand der Vornehmen, zu beurtheilen, befindet sich der Anthropologe in einem sehr ungünstigen Standpunkte«. Warum dem so sein mag, dürfen wir dahingestellt sein lassen. Nur das ist wichtig, dass Kant hier abermals (eine bestimmte Art) Welt und (eine bestimmte Art) Mensch gleichsetzt, indem er die »große Welt« durch den Einschub »Stand der Vornehmen« erklärt. 11 Aufschluss liefert eine Nachschrift zu Kants Anthropologievorlesung aus dem Wintersemester 1791/92. Dort liest man nämlich mit ähnlichem Wortlaut: »Ein Mann von Welt ist Mitspieler im großen Spiel des Lebens.« 12 Die Welt, um die es geht, ist danach das »große Spiel des Lebens«. Und dieses besteht u. a. im Trachten und Treiben der Menschen miteinander, füreinander und gegeneinander. Denn ein »Mann von Welt« sei derjenige, der in jenem Spiel bewandert ist: »Weltmann heißt die Verhältnisse zu anderen Menschen und wie’s im menschlichen Leben zugeht, wissen.« Dementsprechend bringt die Wendung »Welt haben« für Kant zum Ausdruck, dass einer mitspielt im Geschehen menschlicher Gesellschaft; und »die Welt kenSo auch Schiller in Kabale und Liebe (1784). Als Lady Milford die freiwerdende Stelle ihrer Kammerjungfer der Musikertochter Louise Miller anträgt, sagt sie: »was in der Welt könnte Sie abhalten, einen Stand zu erwählen, der der einzige ist, wo Sie Manieren und Welt lernen kann, der einzige ist, wo Sie sich Ihrer bürgerlichen Vorurteile entledigen kann?« (Schiller, Friedrich: Kabale und Liebe, SSW 3, Stuttgart/ Berlin 1904, S. 382.34 f.) Die »Welt lernen« heißt da so viel wie »Manieren« lernen, nämlich die vornehmen Manieren des adeligen Standes. 12 Kant, Immanuel: Die philosophischen Hauptvorlesungen Immanuel Kants. Nach den neu aufgefundenen Kollegheften des Grafen Heinrich zu Dohna-Wundlacken, Leipzig/München 1924, S. 71. 11

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nen« bedeutet demgegenüber sich auf Abstand halten und unbeteiligter Zuschauer bleiben. Der eine verfügt über praktische Bildung, der andere bloß über theoretische Kenntnisse: »Welt haben, heißt Maximen haben und große Muster nachahmen. Es kommt aus dem Französischen. Zum Zweck gelangt man durch Conduite, Sitten, Umgang usw.« 13 Kurzum, die Welt, welche jemand Kants Ausdrucksweise zufolge hat, macht allem Anschein nach einen elementaren Faktor im Dasein des Menschen aus, mit dem sich in Gestalt der Anthropologie noch dazu eine eigene philosophische Fragestellung verbindet. Sie weist jenen über sich als einen bloß Einzelnen hinaus, indem sie so etwas wie das gesellschaftliche Geformtsein eines Individuums bezeichnen soll. Welt haben bedeutet bei Kant so viel wie Manieren haben, Mitspieler sein in der großen Welt der Vornehmen oder welcher auch immer, durch »Conduite, Sitten, Umgang usw.« gebildet sein. 14 Wirft man derart belehrt einen Blick zurück in das Kant’sche Œuvre, so trifft man bereits im Jahr 1785 auf diesen anthropologischen Begriff der Welt, und zwar in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Dort notiert Kant in einer Fußnote: »Das Wort Klugheit wird in zwiefachem Sinn genommen, einmal kann es den Namen Weltklugheit, im zweiten den der Privatklugheit führen. Die erste ist die Geschicklichkeit eines Menschen, auf andere Einfluß zu haben, um sie zu seinen Absichten zu gebrauchen. Die zweite die Einsicht, alle diese Absichten zu seinem eigenen daurenden Vortheil zu vereinigen.« (GMS IV 416 Anm.)

Auch hier besagt ›Welt‹ ganz klar nicht »Totalität in der Synthesis der Erscheinungen«, geschweige denn Endlichkeit, sei es als Bedingtheit menschlicher Rationalität, sei es als Kreatürlichkeit oder Sterblichkeit unserer Existenz. ›Welt‹ ist der Titel für den Menschen allein, nicht aber nach seiner ihn jeweils von Anderen unterscheidenden IndiviSiehe auch die Reflexion 1502a, die von Erich Adickes auf die Jahre 1790/91 datiert wird: »Alle Menschen bekommen eine zwiefache Bildung: 1. durch die Schule, 2. durch die Welt (worunter Menschen verstanden werden) […]. In der ersteren sind sie blos passiv als Lehrlinge. In der Zweyten selbst Mitspielend (als Gesellschafter) im großen Spiel des Lebens.« (Refl XV 799 f.) Vgl. Brandt, Reinhard: Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), Hamburg 1999, S. 68 ff. 14 Den sozialen Aspekt, der hier in den Weltbegriff hineinkommt, übersieht Düsing, Klaus: Die Teleologie in Kants Weltbegriff, Bonn 1968, S. 25 f. 13

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»Weltwesen« und »Weltkenntniß« (Kant)

dualität, sondern hinsichtlich seiner sozialen Bezüglichkeit, die ihn in eine Reihe mit seinen Nächsten stellt. Wer »Weltklugheit« besitzt, also klug ist in Beziehung auf die Welt, der kennt sich aus mit dem »großen Spiel des Lebens«, der weiß um »die Verhältnisse zu anderen Menschen und wie’s im menschlichen Leben zugeht«. Denn nur dank dieses Sichauskennens, das ihm aus seiner bisherigen Mitwirkung am Mit-, Für- und Gegeneinander der Menschen erwachsen ist – will sagen dank des Wissens um so etwas wie Sprach- und Benimmformen, Traditionen und Riten, Geschmackstendenzen, Rechtsmaßstäbe u. dgl. m. –, kann er ja unter gegebenen Umständen imstande sein, »auf andere Einfluß zu haben, um sie zu seinen Absichten zu gebrauchen«. Weltklugheit ist in Kants Sprache diejenige Form von Urteilskraft, die sich aus »Conduite, Sitten, Umgang usw.« speist und jeden weiteren Sozialkontakt entsprechend anweist. 15 In dem von Gottlob Benjamin Jäsche besorgten Handbuch zu Kants Logikvorlesungen findet sich eine vergleichbare Unterscheidung. Und zwar unterscheidet Kant da zwischen einem Schul- und einem Weltbegriff der Philosophie: »Philosophie ist also das System der philosophischen Erkenntnisse oder der Vernunfterkenntnisse aus Begriffen. Das ist der Schulbegriff von dieser Wissenschaft. Nach dem Weltbegriffe ist sie die Wissenschaft von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft.« (Log IX 23) 16 Hier kommt mit der Rede von Welt gleichfalls eine genuin menschliche Rücksicht in die Philosophie. Während es nämlich der Schulphilosophie lediglich um die systematische Einheit aller Erkenntnis aus Begriffen gehe, sei diese für die Weltphilosophie allein insofern von Belang, als sie in Beziehung auf die Bestimmung des Menschen, die wesentlichen Zwecke der »menschlichen Vernunft«, steht. Die gesellschaftliche Dimension fehlt hier allerdings. Indem Kant anderswo die Zugehörigkeit des Menschen zu seinesgleichen als die Weltlichkeit von dessen Existenz fasst, führt er Kant steht sich damit in derjenigen prudentia-Tradition, die seit den Tagen der deutschen Frühaufklärung unter dem Einfluss romanischer Vorgängerliteratur die aristotelische φρόνησις, also die zu einer ethisch-politischen Lebensführung erforderliche Urteilskraft, in die private Sphäre des menschlichen Gesellschaftslebens, des Hauswesens und der ökonomischen Geschäfte, der Konversation und Freundschaft, verschiebt (wenngleich dieser neuartige Typ des φρόνιμος den öffentlichen Auftritt keineswegs zu scheuen braucht). Vgl. Bubner, Rüdiger: Polis und Staat. Grundlinien der Politischen Philosophie, Frankfurt a. M. 2002, S. 94 ff. 16 Vgl. KrV B 866 f. 15

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Diesseits von Individualismus und Kollektivismus: hinter das Bewusstsein zurück

nur eine von weit herkommende, ebenso menschliche wie gesellschaftliche Semantik des Ausdrucks ›Welt‹ fort. 17 Denn über das mittelhochdeutsche werlt und das althochdeutsche weralt ist unser heutiges Wort ›Welt‹ seiner Herkunft nach ein Kompositum, dessen erstes Glied das alte germanische Substantiv wer bildet. Dieses bedeutet Mensch oder Mann. Das in Sage und Dichtung sich herumtreibende Wesen des Werwolfs beispielsweise ist wörtlich ein Mannwolf, ein Mensch, der sich zeitweilig in ein Tier verwandelt. Den zweiten Bestandteil bildet das germanische Substantiv, das mit unterschiedlicher Stammbildung im Altnordischen mit ǫld (Lebenszeit, Zeitalter), im Gotischen mit alds (Menschenalter, Zeit) und im Altenglischen mit ieldo (Zeitalter, Zeitraum, Lebenszeit, Alter) überliefert und dessen Wurzel dieselbe ist wie in unseren Ausdrücken ›alt‹ und ›Alter‹, namentlich al- (wachsen, wachsen lassen, nähren). Etymologisch genommen steht ›Welt‹ folglich für Menschenzeit, Zeitalter der Menschen. Die heidnischen Schöpfungsmythen germanischer Völker nämlich, soweit uns darüber glaubhafte Berichte überliefert sind, unterscheiden verschiedene Epochen in der Entstehung der Götter, der Erde und der Menschen. Dazu zählt etwa das Riesenalter, das Wind- und Schwertalter, die Wolfszeit, das Zwergensowie Goldalter. Und die gegenwärtige Epoche, diejenige, in welcher der Mensch in Erscheinung tritt, das Menschenalter also, ist die Welt. 18 Im Laufe der Jahrhunderte haben sich dazu vielzählige Ableitungen gebildet und bis in den heutigen Sprachgebrauch hinein erhalten. Der zeitliche Sinn ist dabei zwar verloren gegangen, der menschliche und gesellschaftliche aber hat sich bewahrt. Einige Beispiele mögen dies kurz veranschaulichen. 19

Für das Folgende siehe Adelung, Johann C.: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart, Bd. 5: W-V, Leipzig 1786, Sp. 158 ff.; Duden. Das Herkunftswörterbuch, a. a. O., S. 921. 18 Die Schöpfungsvorstellungen der Germanen sind uns hauptsächlich durch die mittelalterliche Edda-Literatur erhalten. Diese gibt jedoch die westnordischen Sagen des Mittelalters wieder, die in unterschiedlichem Maße bereits von christlichem Gedankengut beeinflusst sind. Vgl. Hultgård, Anders: Schöpfungsmythen, in: Beck, Heinrich/Geuenich, Dieter/Steuer, Heiko (Hg.): Reallexikon der germanischen Altertumskunde, Bd. 27, Berlin/New York 22004, S. 242 ff. 19 Zahlreiche Beispiele gibt dafür in seiner Habilitationsschrift Löwith, Karl: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. Ein Beitrag zur anthropologischen Grundlegung der ethischen Probleme, München 1928, S. 15 f. 17

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»Weltwesen« und »Weltkenntniß« (Kant)

Hartmann von Aue etwa charakterisiert in den Prologzeilen seiner Verserzählung Der arme Heinrich aus den letzten Jahren des 12. Jahrhunderts seine Hauptfigur u. a. dadurch, dass er angibt: »So konnte er Anerkennung und Beifall / der Welt gewinnen [alsus kunde er gewinnen / der werlte lop unde prîs]« 20. Wir fragen hier, wessen »Anerkennung und Beifall« Heinrich gewinnen konnte. Und jene Welt, die darauf die Antwort gibt, ist die menschliche Gesellschaft, welcher er angehört. Die »weltlichen Ehren [werltlîchen êren]« 21, die Heinrich nach Auskunft des Dichters zuteil sind, machen einen zentralen Wert ritterlicher Lebensart aus. Und sie sind das Ergebnis eines dem Kodex des mittelalterlichen Adelsstandes gemäßen Lebens. Ganz ähnlich in einer von Karl Mays Reiseerzählungen aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert. In Die Felsenburg (1896/97) verschlägt es dessen populäre literarische Gestalt, den erfahrenen Westläufer Old Shatterhand, nach einer »weltentlegene[n] Hazienda« 22. Der Ort, an welchem jene Hazienda zu suchen sein soll und das Abenteuer seinen Lauf nimmt, irgendwo in Mexiko, liegt von der Welt entfernt. Und d. h. entfernt vom gesellschaftlichen Getriebe der Menschen in den nächstgelegenen Städten. Und auch außerhalb der Belletristik finden sich entsprechende Wendungen. Wenn einer weltabgewandt oder gar weltflüchtig lebt, lebt er ja immer noch in derjenigen Welt, von der Kant im Gefolge der deutschen Schulphilosophie sagt, dass sie den Inbegriff alles dessen ausmacht, was überhaupt nur ist. Lediglich seine Mitmenschen hat er weitestgehend hinter sich gelassen; sie sind es, von denen er sich zurückgezogen hat und deren Gesellschaft er meidet. ›Weltfremd‹ nennen wir, wem es an Bildung mangelt, der nicht weiß, wie es im menschlichen und gesellschaftlichen Leben zugeht; wie Georg Friedrich Meier in seiner Cosmologie (1756) anmerkt, kann man auch sagen, »man lerne die Welt kennen, wenn man die Menschen kennen lernt« 23. ›Alle Welt weiß doch‹ soll besagen: jedermann weiß. ›Das hat die Welt noch nicht gesehen‹ heißt, so etwas hat bislang noch keiner gesehen. Oder einer gilt in den Augen der Welt als Lügner, während ein Anderer, was er tut, vor den Augen der ganzen Welt tut. Und wer

Hartmann von Aue: Der arme Heinrich, Tübingen 2001, V. 72 f. Ebd., V. 57. 22 May, Karl: Die Felsenburg (1896/97), GW 20, Bamberg 1950, S. 50. 23 Meier, Georg F.: Metaphysik. Zweyter Theil: Die Cosmologie, Halle 1756, § 291, S. 19. 20 21

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zur Welt kommt, der tritt nicht einfach bloß ins nackte Dasein; er stößt zur menschlichen Gesellschaft, wird in ihre Geschichte und Institutionen hineingeboren und darin auferzogen. Der Weltbürger schlussendlich – jener Leitgedanke der Aufklärungsepoche, dem Kant den abschließenden Platz in seiner Rechtslehre einräumt – ist Bürger jenes virtuellen Gemeinwesens, welches alle Menschen beherbergt. In allen Staaten außerhalb seines Vaterlandes soll er nämlich ein Besuchsrecht genießen. 24 Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass Kant zur »Weltkenntniß« auch die sog. Physische Geographie zählt. So lautet der Titel einer Vorlesung, die er seit 1756 durchgängig bis zum Ende seiner Lehrtätigkeit im Jahre 1796 an der Königlichen Albertus-Universität zu Königsberg hielt, die 1802 von seinem Schüler Friedrich Theodor Rink auf der Grundlage verschiedener, seither verschollener Manuskripte aus den 1750er und 1770er Jahren erstmals zur Publikation gebracht und 1923 in Band neun der Akademie-Ausgabe von Kant’s gesammelten Schriften aufgenommen wurde. 25 Abwechselnd hat Kant in jedem Sommersemester über physische Geographie und ab 1772 in jedem Wintersemester über Anthropologie gelesen. Dieser Umstand bereits (nebst dem, dass er dank eigener ministerieller Genehmigung ohne ein, wie sonst vorgeschrieben, etabliertes Lehrbuch zu kommentieren vortrug) 26 lässt erkennen, dass Kant beiden Sachbereichen einen nicht eben geringen Stellenwert zugemessen, ja sie sogar ebenbürtig behandelt hat. »Die physische Geographie und Anthropologie machen also die Weltkenntniß aus« (V-Anth/Collins XXV 9), heißt es in einer Nachschrift von Kants erster Anthropologievorlesung im Jahre 1772/1773. Und bereits 1755 bemerkt er selber in der Ankündigung seiner ersten Geographievorlesung: »Die physische Geographie, die ich hiedurch ankündige, gehört zu einer Idee, welche ich mir von einem nützlichen akademischen Unterricht mache, den ich die Vorübung in der Kenntniß der Welt nennen kann. Diese Weltkenntniß ist es, welche dazu dient, allen sonst erworbenen Wissenschaften und Geschicklichkeiten das Pragmatische zu verschaffen, dadurch sie nicht Vgl. RL VI 352 ff.; ZEF VIII 357 ff. In seiner Eigenschaft als Herausgeber von Kants handschriftlichem Nachlass hat Adickes Zweifel an der philologischen Zuverlässigkeit von Rinks Edition aufgebracht. Vgl. Adickes, Erich: Untersuchungen zu Kants physischer Geographie, Tübingen 1911. 26 Vgl. Stark, Werner: Die Formen von Kants akademischer Lehre, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 40 (1992), S. 548. 24 25

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»Weltwesen« und »Weltkenntniß« (Kant)

bloß für die Schule, sondern für das Leben brauchbar werden.« (VvRM II 443)

Die physische Geographie wird von Kant ebenso wie die Anthropologie erklärtermaßen in pragmatischer Hinsicht angegangen. Beide haben die Obliegenheit, Schule und Leben miteinander zu vermitteln, wie es in dieser frühen Anmerkung heißt; sie sollen dem Wissen und Können, welches die Erstgenannte lehrt, Eingang verschaffen in das Letztgenannte. 27 Sie leisten dies, indem sie uns in die Lage versetzen, den Gegenständen sämtlicher Beobachtungen, welche wir selber anstellen, und von Erzählungen, die uns durch Andere erreichen, »ihr Verhältniß im Ganzen, worin sie stehen und darin ein jeder selbst seine Stelle einnimmt«, zu bestimmen. 28 Dazu hat man allerdings vorab einen »Abriß nöthig«, um alle gemachten sowie »künftige Erfahrungen darin nach Regeln ordnen zu können«: einen Entwurf vom Ganzen, seiner äußeren und inneren Grenzen. 29 Und es liegt hier ein insgesamt »zwiefaches Feld« vor uns, »nämlich die Natur und der Mensch«. Kant führt diese Zweiteilung darauf zurück, dass wir einen doppelten Sinn haben, einen äußeren und einen inneren. Der eine eröffnet uns die Natur um uns, der andere unsere Seele. 30 Beide Erfahrungsfelder gilt es, vorbereitend zu strukturieren. »Die erstere Unterweisung nenne ich physische Geographie […], die zweite Anthropologie«. 31 In diesen programmatischen Aussagen zum vollen Umfang einer von Kant zunächst noch in Aussicht gestellten »Kenntniß der Welt« waltet allerdings unverkennbar die kosmologische Weltbedeutung vor. Explizit definiert Kant Welt dann auch in der Physischen Geographie mit den Worten: »Das Ganze ist hier die Welt, der Schauplatz, auf dem wir alle Erfahrungen anstellen werden.« (PG IX 158) »Die Kenntniß, die Wissenschaften gehörig anzuwenden, ist die Weltkenntniß.« (V-Anth/Collins XXV 9) 28 »[…] jeder gemachten Erfahrung ihre Classe und ihre Stelle in derselben anzuweisen.« (PG IX 158) 29 Vgl. Kaulbach, Friedrich: Weltorientierung, Weltkenntnis und pragmatische Vernunft bei Kant, in: Ders./Ritter, Joachim (Hg.): Kritik und Metaphysik. Studien, Berlin 1966, S. 62 f. 30 »Die Welt, als Gegenstand des äußern Sinnes, ist Natur, als Gegenstand des innern Sinnes aber, Seele oder der Mensch.« (PG IX 156) 31 Dafür, dass Anthropologie und physische Geographie die beiden Komponenten der Weltkenntnis ausmachen, siehe auch Anth VII 122 Anm.; PG IX 157; NEV II 312 f. So auch ein undatierter Brief an Marcus Herz gegen Ende des Jahres 1773 (vgl. Br X 146). 27

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Diesseits von Individualismus und Kollektivismus: hinter das Bewusstsein zurück

Wenn man von jemandem sagt, »er kenne die Welt: so versteht man darunter dies, daß er« beides, also »den Menschen und die Natur kenne«. 32 Freilich schließt das mitnichten aus, dass Kant den Ausdruck ›Welt‹ unterschiedlich verwendet und nur in einer seiner Verwendungen mit der anhand der Anthropologie und Grundlegung-Schrift herausgestellten Bedeutung benutzt. Gewiss wäre es zu viel gesagt, wollte man mit Michel Foucault, der Kants Anthropologie 1961 ins Französische übersetzt und mit einer (mittlerweile auch gedruckten) Einleitung versieht, behaupten, der reife Kant löse Weltkenntnis vollends in Menschenkenntnis auf und betrachte ihre Behandlung als Aufgabe ausschließlich der Anthropologie. 33 Immerhin erwähnt Kant dort – wenigstens ein einziges Mal, äußerst kurz und auch nur in einer Fußnote am Ende der »Vorrede« – das Thema der physischen Geographie und seine Zusammengehörigkeit mit dem der Anthropologie, und das unmissverständlich unter der gemeinsamen Rubrik der »Weltkenntniß« 34. Worauf sich demgegenüber allerdings mit gutem Recht beharren lässt, ist, dass an den oben zitierten Textstellen in Kants Rede von einer Welt, die man nicht kennt, sondern hat, und einer demgemäßen Weltklugheit sehr wohl jene menschliche und gesellschaftliche Bedeutung hervorleuchtet, wie soeben dargelegt. Halten wir fest, dass Kant den Ausdruck der ›Welt‹ auf durchaus disparate Weise gebraucht. Und in einer solchen Gebrauchsweise, welche sich jenseits des streng geformten Denkens der drei Kritiken erschließt, schreibt der Ausdruck Bedeutungsdimensionen fort, die ihm von seinem geschichtlichen Ursprung her anhaften. Anthropologie ist danach »Weltkenntniß«, und das besagt Lehre vom Menschen, weil dieser ein welthaftes, ein »Weltwesen« ist. In Kants Rede von derjenigen Welthaftigkeit, die ein Spezifikum unseres ExistieWie Kant 1772/73 angibt, soll Welt der »Inbegriff aller Verhältniße« sein, »in die der Mensch kommen kann, wo er seine Einsichten und Geschicklichkeiten ausüben kann« (V-Anth/Collins XXV 9). 33 Vgl. Foucault, Michel: Introduction à l’Anthropologie, in: Kant. Anthropologie du point de vue pragmatique, Paris 2008, S. 20. 34 »In meinem […] Geschäfte der reinen Philosophie habe ich einige dreißig Jahre hindurch zwei auf Weltkenntniß abzweckende Vorlesungen, nämlich (im Winter-) Anthropologie und (im Sommerhalbenjahre) physische Geographie gehalten […]; von deren ersterer dies das gegenwärtige Handbuch ist, von der zweiten aber ein solches aus meiner zum Text gebrauchten, wohl keinem Anderen als mir leserlichen Handschrift zu liefern mir jetzt für mein Alter kaum noch möglich sein dürfte.« (Anth VII 122 Anm.) 32

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»Weltwesen« und »Weltkenntniß« (Kant)

rens ausmacht, sowie von einer demgemäßen Weltklugheit leuchtet eine menschliche und gar gesellschaftliche Bedeutungsnuance entgegen. Man darf daher in den Worten von Quinton zum Wenigsten so viel sagen, dass Kant derjenigen Idee anhängt, für die auch ich zu argumentieren versuche und der zufolge gilt, »man is essentially a social being«. Dank der Brosamen von Kants Andeutungen, und um mehr handelt es sich klarerweise nicht, bin ich damit wohl noch nicht weit gekommen. Und doch, wir finden hier schon angetippt, was noch deutlicher zu fassen sein wird. Eine Wegscheide immerhin ist genommen, so dass wir aus der Sackgasse des intentionalistischen Paradigmas herausbleiben und auf den richtigen Pfad einschwenken können. 35 Und zwar ist die Idee Kants, an welche sich zu halten verlohnt, die, dass wir »Welt haben«, d. h. als »Mitspieler im großen Spiel des Lebens« um »die Verhältnisse zu anderen Menschen und wie’s im menschlichen Leben zugeht, wissen«. Denn im Hintergrund steht dabei doch die ganz unbezweifelbare Beobachtung, dass alle historisch aufgetretenen Gesellschaften, jedenfalls soweit die Geschichte Nachricht gibt, sich zu bestimmten Formen organisiert haben. Schlechthin determiniert weder durch unsere biologische Ausstattung noch die natürliche Umwelt spiegeln sich darin nicht lediglich gewisse Konstanten der conditio humana. Sie tragen ebenso den jeweils vorfindlichen Lebensbedingungen Rechnung wie sie dem Wechsel der Zeit unterliegen und bewähren sich trotzdem ein ums andere Mal in der fortlaufenden Regelung der Praxis unseres Miteinander, Füreinander und Gegeneinander; anderenfalls verlören sie sich in der Bedeutungslosigkeit und sänken ins Vergessen ab. Darauf aufbauend besagt Kants Weltbegriff des Menschen: dass der Einzelne insoweit ein »Weltwesen« ist, als er auf solche gesellschaftlichen Praxisformen im weitesten Sinne sich versteht. Im Deutschen finden wir sie durch Kants anthropologischer Begriff von Welt hat nach ihm weitergewirkt. Das 19. Jahrhundert hat im Anschluss an die unter den Vorzeichen der Transzendentalphilosophie neu formulierte kosmologische Weltproblematik mit verschiedensten Absichten Wege gesucht, u. a. in Gestalt des Positivismus und des Neukantianismus, sich des Phänomens zu vergewissern. Ausdrückliche und produktive Aufnahme aber findet Kants Weltbegriff des Menschen im 20. Jahrhundert bei Heidegger und dessen Schüler Karl Löwith. Vgl. Heidegger, Martin: Einleitung in die Philosophie (1928/29), GA 27, Frankfurt a. M. 22001, § 34; Löwith, Karl: Welt und Menschenwelt (1960), in: Mensch und Menschenwelt. Beiträge zur Anthropologie, SS 1, Stuttgart 1981, S. 295–328.

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das ältere, heutigentags etwas aus der Mode gekommene Wort der ›Sitte‹ bezeichnet. Das und damit das Phänomen der Sitte ist es, woran ich anschließen möchte (ohne insinuieren zu wollen, dass sich Soziales in sittlichen Erscheinungen erschöpfe). 36 Zuvor aber noch ein Wort der Klarstellung. Denn auch Kant spricht von Sitten, so allein schon im Titel der bereits zitierten Grundlegung zur Metaphysik der Sitten sowie in dem der späteren Metaphysik der Sitten (1797). Diese und andere Schriften enthalten Überlegungen zur Moralphilosophie. Ich habe daher darauf hinzuweisen, dass ich dasjenige gerade nicht meine, was dort in Rede steht. Die Kant’sche Moralphilosophie verrichtet ihre Aufgabe nämlich unter völliger Absehung von Geschichte; das Fundament einer Metaphysik der Sitten, wie Kant sie versteht, bildet ein ahistorischer Vernunftbegriff. Sie denkt die moralischen Gebote und Verbote, unter denen der Mensch steht, nicht aus der Mitte der gelebten Sitten einer historischen Gesellschaft, nicht aus der Dynamik des faktischen menschlichen Tuns und Lassens heraus, sondern gewissermaßen transfaktisch, im Überstieg zu denjenigen Sitten, welche unendliche, rein geistige Wesen pflegen. Derartige Wesen, zu denen Kant Engel und nicht zuletzt Gott selbst zählt, 37 verfügen anders als wir über keine sinnliche Seite und damit über keinerlei widerständige Handlungsmotive. Ihr Wollen ist allemal ein gesetzmäßiges und hinreichend für ihr Handeln. Die Eingangsbedingung sagt also, dass in jenem Reich eine ungetrübte Vernunftherrschaft waltet. Die betreffenden Gesetze nennt Kant ›praktische‹. Sie sind, da von allen empirischen Bedingungen unabhängig, die Gesetze einer »Verstandeswelt« (GMS IV 453) oder »intelligibelen Welt« (GMS IV 454), wie man in der Grundlegung liest, einer »höhere[n], unveränderliche[n] Ordnung der Dinge« (KpV V 107) und »bleibende[n] Naturordnung« (KpV V 44), wie die Kritik der praktischen Vernunft u. a. bemerkt. 38 Und an diesem Vernunftreich ungehinderter praktiMarquard spricht statt von Sitten von Üblichkeiten. Diese gibt er für unvermeidlich aus im menschlichen Leben und drückt ihre kontinuitätsstiftende Funktion durch die griffige Wendung aus, dass Zukunft Herkunft brauche. Vgl. Marquard, Odo: Über die Unvermeidlichkeit von Üblichkeiten, in: Oelmüller, Willi (Hg.): Materialien zur Normendiskussion, Bd. 3: Normen und Geschichte, Paderborn et al. 1979, S. 332–342. 37 Siehe dazu GMS IV 389; KpV V 32. 38 In der Kritik der reinen Vernunft spricht Kant von »einer intelligibelen, d. i. der moralischen, Welt, in deren Begriff wir von allen Hindernissen der Sittlichkeit (der Neigungen) abstrahiren« (KrV B 837). Und in der zweiten Kritik ist von einer »intel36

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scher Gesetzmäßigkeit hat der Mensch so wie jede andere Intelligenz teil, insofern er auch ein intelligentes, obzwar endliches Wesen ist. Die Gesetze, welche dort geschichtslos, von Ewigkeit zu Ewigkeit gelten und Kant gleichbedeutend als ›moralische‹ oder ›sittliche‹ apostrophiert, beschreiben, wie auch die Menschen sowie alle sonstigen Vernunftwesen sich ausnahmslos verhielten, wenn denn Vernunft volle Herrschaft über ihr Wollen und Handeln besäße. Da dem nicht so ist, gebieten bzw. verbieten sie ihm, was auch er – und zwar entgegen den potenziellen Hindernissen und Widerständen vonseiten seiner sinnlichen Handlungsmotive – tun oder lassen, Sitten also, welche er pflegen soll. 39 Die Ursache für solch eine Anlage moralphilosophischer Überlegungen kann man darin erblicken, die Bedrohung abzuwehren, welche der historische Wandel für die Geltungskraft von Normen bedeutet. Das Reich der Geschichte bringt ja die Unsicherheit unablässiger Wechselhaftigkeit mit sich, und eine Moralphilosophie, die sich dagegen nicht wappnet, scheint dem Relativismus preisgegeben. Bindungen, an die man sich mit andauernder Gewissheit halten können soll, müssen dem Griff derartiger Limitierungen ihres Geltungsanspruchs entwunden sein; Normen gegen ihre etwaige historische Relativität zu feien, heißt wohl, sie dem Einfluss der Geschichte zu entziehen. Und je mehr dies gelingt, desto stabiler und umfassender ist ihre Gültigkeit. Diejenigen Bindungen jedenfalls, welche Kant zufolge eine unverrückbare Rationalität uns aufgibt, nehmen keinerlei Rücksicht auf sich wandelnde geschichtliche Verhältnisse. Was moralische bzw. sittliche Gesetze verstatten und verlangen, das soll von Epoche zu Epoche und von Kultur zu Kultur ein und dasselbe sein. 40

ligibelen Ordnung der Dinge« (KpV V 4) und »übersinnlichen Natur« (KpV V 43) die Rede. 39 Siehe dazu ausführlich Zimmermann, Stephan: Praktische Kontingenz. Kant über Verbindlichkeit aus reiner praktischer Vernunft, in: Bunke, Simon/Mihaylova, Katerina/Ringkamp, Daniela (Hg.): Das Band der Gesellschaft. Verbindlichkeitsdiskurse im 18. Jahrhundert, Tübingen 2015, S. 81–98. 40 Geschichte ist für Kant, anders als nach ihm für Fichte und Hegel, noch kein Bestandstück der Metaphysik. Auf dem Fortgang der Geschichte ruht lediglich die Hoffnung, so Kant in seiner populärphilosophischen Abhandlung über die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), der schrittweisen Verwirklichung dessen, was die Vernunft fordert. Vgl. Bubner, Rüdiger: Geschichte in der Transzendentalphilosophie, in: Innovationen des Idealismus, Göttingen 1995, S. 86 ff.

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Das aber braucht uns nicht weiter zu interessieren. Solche seinsollenden Sitten, denen vielleicht noch niemals auch nur ein einziger Mensch nachgekommen ist und die lediglich in einer metaphysischen Blickstellung begegnen können, überbieten die eingewöhnten, durch Erziehung und Tradition tatsächlich unter den Menschen weitergereichten Sitten, welche ich mit dem Ausdruck benannt wissen will. Insbesondere habe ich nicht wie Kants Moralphilosophie, um das zu betonen, irgendwelche wünschenswerten Sitten im Gegensatz zu demgegenüber abzulehnenden im Blick. Jene weder vom Menschen gemachten noch durch den Menschen modifizierbaren Kant’schen Gesetze, die angeblich in die Struktur unserer Subjektivität ebenso wie der aller anderen endlichen oder unendlichen Intelligenzen eingeschrieben sind, bedeuten für jede partikuläre Epoche und Kultur eine durch nichts abzustreifende Auflage. Als gut oder böse in einem höheren Sinne können die Sitten einer bestimmten Epoche oder Kultur für Kant nur durch ihre Zusammenstimmung mit den universalen Vernunftgesetzen gelten. Mir jedoch geht es hier und im Weiteren stattdessen um den Phänomenkreis der sozusagen seienden, sprich der wirklich praktizierten menschlichen Sitten. Ich meine gerade das, wovon Kant selber jenseits metaphysischer Überlegungen spricht, wenn er »Conduite, Sitten, Umgang usw.« zitiert, d. h. die eingelebten und im konkreten Tun und Lassen der Menschen sich bestätigenden Regeln des jeweiligen sozialen Lebens, mit denen sich auch die empirische Soziologie beschäftigt. Und keine Rolle spielt es dabei, ob sie im Übrigen gut oder böse, zu bevorzugen oder abzulehnen, wünschenswert oder unerwünscht, vernünftig oder unvernünftig, verfeinert oder roh etc. sein mögen.

2.

Der Sachbereich der Sitte: das Mit-, Für- und Gegeneinander

a)

Rousseau über »liberté morale«

Nehmen wir nun im Anschluss daran Rousseau und Hegel noch einmal vor. Wenn beide nämlich auch nicht gezielt die Thematik der Sozialontologie angehen, sind sie doch in dieser Angelegenheit sehr wohl konstruktive Gesprächspartner. Sie können dabei helfen, in der von Kant gewiesenen Richtung weiterzugehen, tiefer in den großen 208 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Der Sachbereich der Sitte: das Mit-, Für- und Gegeneinander

Sachbereich der menschlichen Sitte einzudringen und diesen für die Beantwortung der sozialontologischen Frage fruchtbar zu machen. Beginnen will ich mit Rousseau. Dessen Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes ist bekanntlich aus dem Essay hervorgegangen, mit dem er 1754 an dem Preisausschreiben der Académie de Dijon teilnahm und der ein Jahr später gedruckt erschien. Die von der Académie ausgegebene Frage war, welches denn der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen und ob sie durch das natürliche Gesetz gerechtfertigt ist. 41 Um das entscheiden zu können, bietet Rousseau ein für seine Zeitgenossen aufsehenerregendes, ja zumutungsreiches Gedankenexperiment auf. Dieses soll von nächstem Interesse sein. Ich möchte mich darauf aber wie auf alles Weitere nur in dem Umfang und mit der Tiefe einlassen, als es die sozialontologische Aufgabenstellung verlangt. 42 Mit Blick auf den zivilisatorischen Fortschritt, den Rousseau einerseits begrüßt, meint er andererseits, eine zunehmende Distanz zum Ursprung zu beobachten. Am Ende der Epoche der Aufklärung weist er seit dem Discours sur les sciences et les arts (1750) auf die Dialektik jener Entwicklung und Verfeinerung von Wissenschaften und Künsten hin, welche nicht nur Gewinn, sondern auch den Verlust einer ungebrochenen Existenzweise bedeuten soll. Die Überwindung des »Naturzustands [Etat de Nature]« (D II 125) habe uns ebenso sehr zu uns kommen lassen wie sie uns von uns entfernt habe. Sei doch bei allen neu erstandenen Möglichkeiten das Geschenk der Natur abhandengekommen, ein mit sich übereinstimmendes Leben führen zu können. Diese einstmalige, auf dem Altar der Zivilisation geopferte Daseinsweise des Menschen will Rousseau freilegen. Dazu abstrahiert er von allem, was sich erst im Verlauf einer wechselvollen Kulturgeschichte herausgebildet haben soll. Der so gedachte »ursprüngliche Mensch [homme originel]« (D II 126), zu dem Rousseau auf diesem Wege gelangt, bleibt darum das Produkt einer Reflexions-

»Quelle est l’origine de l’inégalité parmi les hommes, et si elle est autorisée par la Loy naturelle?« (D II 129) 42 Stellvertretend sei nur der Brief Voltaires vom 30. August 1755 zitiert, in dem er auf die Zusendung des Werkes durch Rousseau mit süffisantem Spott reagiert: »Ich habe, mein Herr, Ihr neues Buch gegen das Menschengeschlecht erhalten […]. […] Nie hat man so viel Geist darauf verwendet, uns wieder zu Eseln zu machen. Man bekommt Lust, auf vier Füßen zu gehen, wenn man Ihr Werk liest.« (Voltaire: Correspondance, Bd. 4: 1754–1757, Paris 1978, S. 539) 41

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Diesseits von Individualismus und Kollektivismus: hinter das Bewusstsein zurück

leistung, welche der Philosoph im Schoße der Gegenwart erbringt. 43 Durch dessen gedankliche Wiederherstellung aber glaubt Rousseau, ein Richtmaß für sein kulturkritisches Unternehmen an der Hand zu haben, »um unseren jetzigen Zustand richtig beurteilen zu können« (D II 123). 44 Aufschlussreich ist, was Rousseau alles beiseitesetzt. Er zeichnet den Urmenschen in einer Art geistigem Dämmerzustand, da er sich von anderen Tieren noch kaum abhebt. Ohne nennenswerten Hang zur Geselligkeit soll selbst die Aufzucht des Nachwuchses keine anhaltenden Bindungen stiften. 45 Er besitzt weder Sprache noch Intellekt, hat kein Zukunftsbewusstsein oder Vermögen kluger Mittelwahl, und die Freiheit des Willens geht ihm ebenso ab wie die moralische Unterscheidung zwischen Gut und Böse sowie irgendwelche Rechte und Pflichten. 46 Positiv soll er durch Selbstgenügsamkeit ausgezeichnet sein. Die Reduktion der Bedürfnisse des »zivilisierten Menschen [homme Civil]« (D II 132) auf diejenigen des »wilden Menschen [Homme Sauvage]« lässt nur solche übrig, die Rousseau die »vrais besoins« (D II 126) nennt. Wahre Bedürfnisse aber seien die, welche der Einzelne selbständig befriedigen kann: »Seine Wünsche gehen nicht über seine physischen Bedürfnisse hinaus« (D II 143). Der urwüchsige Mensch ruht ganz in sich selber. Dank des Ausgeglichenseins von Bedürfen und Alleinkönnen, welches der unheilvolle Prozess der Kultivierung zerstören und durch ein rastloses Vergleichenmüssen seiner selbst mit Anderen sowie ein unersättliches Mehrhabenwollen ersetzen wird, lebt er autark. Er ist »sich selbst genug [se suffisant à lui même]« (D II 160). 47 Von dem Rousseau nicht behauptet, dass es ihn genau so gegeben hat (vgl. D II 123). Siehe dazu Cassirer, Ernst: Das Problem Jean-Jacques Rousseau, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 41/3 (1933), S. 188 ff. 44 Rousseau veranschaulicht das anhand des alten Glaukos-Mythos (vgl. D II 122). Glaukos war ein Fischer, der nach dem Genuss eines am Ufer wachsenden Krautes berauscht ins Meer sprang, wo ihn Okeanos und Tethys in eine Meeresgottheit verwandelten. Sein Körper veränderte sich, Muscheln, Tang und Gestein lagerten sich an, so dass der Mensch, welcher er einmal war, unkenntlich wurde. Siehe dazu von Geisau, Hans: Glaukos, in: Konrat Ziegler/Walther Sontheimer (Hg.): Der Kleine Pauly, Bd. 2, Stuttgart 1967, S. 810–813. 45 Vgl. D II 134 f. 46 Vgl. D II 136, Anm. 6, 138, 141 f., 146 ff., 152. 47 Vgl. Émile 309, 311, 456. Daneben soll der Naturmensch durch »zwei Prinzipien« charakterisiert sein, »die vor dem Verstand da sind. Das eine macht uns leidenschaftlich um unser Wohlergehen und unsere eigene Erhaltung besorgt. Das andere flößt 43

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Der Sachbereich der Sitte: das Mit-, Für- und Gegeneinander

Der nichtvergesellschaftete Wilde soll also, darauf kommt es an, in einem mit seinem Nichtvergesellschaftetsein noch vorsprachlich und vorvernünftig leben, soll ebenso unfrei sein wie diesseits von Gut und Böse sowie von Rechten und Pflichten stehen. Alle diese Faktoren wachsen und gedeihen nach Rousseau ausschließlich auf dem Boden menschlicher Gesellschaft, mit deren Ausbreitung sie Schritt halten. 48 Sie seien die Eckpunkte der Existenz des aus dem naturzuständlichen Halbschlaf erwachten Menschen und als solche von Grund aus gesellschaftlich durchtränkt. Mit zunehmender Vergesellschaftung erst bilde das Individuum Sprachlichkeit und Denkmächtigkeit, Freiheit der Wahl, moralische sowie Rechtssubjektivität aus (ein phylogenetischer Vorgang, der sich dann ontogenetisch wiederholt, wie Rousseau 1762 im Émile veranschaulicht). Durch das stetige Leben mit Anderen nur, im Austausch mit seinesgleichen sowie dem Auf- und Umbau einer gemeinsamen Welt komme die ihm einwohnende Vollendungspotenz (perfectibilité) Schritt um Schritt zur Wirklichkeit. 49 Wir dürfen demzufolge notieren, dass Rousseau die Weite des Sozialen tendenziell genauso ausladend ansetzt und dem entgegenkommt, wie wir das im Sinn haben. Indem er sich den solitär lebenden Einzelnen des Naturzustandes als so etwas wie ein Individuenatom ausmalt, darin man eine historische Inkarnation des von mir dargelegten sozialontologischen Individualismus sehen kann, nämlich in der Ferne des menschheitsgeschichtlichen Anfangs, gibt Rousseau zu erkennen, was alles nach seinem Ermessen etwas Soziales ist. uns einen natürlichen Widerwillen dagegen ein, irgendein fühlendes Wesen, vor allem unseresgleichen, umkommen oder leiden zu sehen.« (D II 125 f.). Das eine dient der Selbsterhaltung des Individuums, das andere der der Gattung. Letzteres nennt Rousseau Mitleid, »commisération« (D II 126, 155, 178) oder »pitié« (D II 154, 155, 156). 48 So in den Fragments politiques: »Erst im gegenseitigen Verkehr entwickeln sich die glänzendsten Fähigkeiten und zeigt sich die Vorzüglichkeit seiner Natur. […] Mit einem Wort, erst wenn er sich vergesellschaftet hat, wird er ein moralisches Wesen [être moral], ein denkendes Tier [animal raisonnable]« (FP 477). 49 Rousseau unterscheidet im Zuge der »hypothetischen Geschichte« (D II 127), welche der zweite Discours erzählt, mehrere wesentliche Etappen der Selbstentfaltung des Menschen. Das menschliche Selbst, welches sich da entfaltet, bestimmt er durch »perfectibilité« (D II 142, 149, 162), die Fähigkeit zur Vervollkommnung. Darin sei das zwiespältige Geschehen des Ausgangs aus dem Urzustand schon angelegt, über welchem so ein anthropologisches Verhängnis liegt. Es ist eine zukunftsoffene Anthropologie, die sich im Schlüsselbegriff der Perfektibilität verdichtet.

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Und wie Kant erachtet er den Menschen unserer Tage, der am vorläufigen Ende jener geschichtlichen Entwicklung steht, anscheinend als einen, der in der ganzen Breite seiner sprachlichen und intellektuellen, seiner willensfreien, moralischen sowie rechtlichen Existenz ein soziales Wesen darstellt. Das eine fällt mit dem anderen zusammen; zu wessen Existenz diese Eigenschaften oder Vermögen gehören, der ist ein solches Wesen und umgekehrt. Wieder mit den Worten Quintons gesprochen meint auch Rousseau, dass »man is essentially a social being«, nur dass er diese Vorstellung eben historisiert und nicht immer schon inkarniert glaubt. Sobald das Sprach- und Denkvermögen, die Wahl-, Moral- und Rechtsfähigkeit aufgekeimt sind und damit der urtümliche Zustand verlassen ist, greifen »Regeln, welche die Vernunft sofort auf anderer Grundlage neu errichten muss« (D II 126). Im zweiten Discours wird das jedoch weiter nichts als angekündigt, dass die Gesetze der Natur, denen der Mensch zunächst wie alle übrigen Lebewesen auch untersteht, von der Vernunft auf anderer Grundlage neu zu errichten sind, wo sich dieser durch kulturbedingten Naturverlust zu einem vergeistigten Wesen aufgerichtet hat. Daran wird sich erst im Anschluss der 1762 veröffentlichte Contract social machen, wenn auch nicht in vollem Umfang. Dieser Schrift soll mein eigentliches Augenmerk gelten. 50 Der Contract social verfolgt nicht mehr die Aufgabenstellung einer geschichtsphilosophisch motivierten Aufklärungs- und Gesellschaftskritik, sondern stattdessen, der Untertitel Principes du droit politique verrät es, eine politiktheoretische. Und zwar formuliert Rousseau das »grundlegende Problem« der politischen Philosophie, dessen Lösung er gefunden zu haben glaubt, im 6. Kapitel des 1. Buches wie folgt: »Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und den Besitz jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, inDer zeitgleich erschienene Émile identifiziert jene Grundlage als das Gewissen (conscience). Als Gewissen fasst Rousseau die Liebe zum Guten und die Abscheu gegen das Böse. Diese Gefühle (sentiments) sollen insofern natürliche sein, als sie in der Natur des menschlichen Geistes angelegt sind. Sie entfalten sich aber erst mit der Vernunft. Die Neuerrichtung der Regeln des Naturrechts, welche die Vernunft zu bewerkstelligen hat, bestehe darin, die Gesetze des Guten und Bösen zu erkennen. Wie auch immer das vonstattengehen mag, diese Erkenntnis soll dazu führen, dass das natürliche Gefühl der conscience uns das eine lieben und das verabscheuen lässt. Vgl. Émile 288, 334 Anm., 523, 566, 594 f.

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dem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht [chacun s’unissant à tous n’obéisse pourtant qu’à lui-même] und genauso frei bleibt wie zuvor [reste aussi libre qu’auparavant].« (CS 360) Was demnach für Rousseau infrage steht, ist die Freiheitsverträglichkeit staatlicher Ordnung. Die Freiheit, von der hier die Rede ist, ist juridischer Art. Rousseau charakterisiert sie als die Substanz der »Menschenrechte [droits de l’humanité]« sowie der dementsprechenden »Pflichten [devoirs]« (CS 356). Diese Freiheit besteht nicht im Ausgeglichensein von Bedürfen und Alleinkönnen wie diejenige im zweiten Discours. Es ist kein Recht auf ein selbstgenügsames Leben, das der Mensch als solcher hat. Sondern gemeint ist damit so etwas wie das überpositive Recht eines jeden, unabhängig vom Zwang durch Andere sein Leben zu führen, sowie die Pflicht, dies allen übrigen ebenso zu gewähren. Solche Freiheit sei, wie Rousseau anmerkt, »eine Folge der Natur des Menschen« (CS 352). Und es ist dies sogar das einzige derartige Recht und die einzige derartige Pflicht, welche der Contract social explizit erwähnt, das Menschenrecht auf Selbstbestimmung, wie ich kurz sagen möchte, sowie die komplementäre Pflicht, anderen Menschen die nämliche Selbstbestimmung zuzugestehen. 51 Ein solches Freiheitskonzept ist im Gegensatz zu dem der Autarkie im zweiten Discours durch Distanz zur Natur geprägt. Menschenrechte und die dazugehörigen Pflichten unterstellen einen Träger, der in irgendeinem Maße schon ein vergesellschaftetes Wesen und damit zu sprachlich mitteilbarem Denken in der Lage, zu freien Entscheidungen fähig und für die moralische Unterscheidung zwischen Gut und Böse zugänglich ist. Sobald sich die menschlichen Anlagen historisch so weit herausgebildet haben, dass das natürliche Recht auf Freiheit mitsamt der korrespondierenden Pflicht verfängt, ist ebenjene Grundlage erreicht, auf der die Naturgesetze neu zu errichten sind. Das ins Werk zu setzen, macht sich Rousseaus Lehrstück vom Gesellschaftsvertrag auf (wenn auch vielleicht nicht in vollem Um-

Vgl. CS 351, 352, 356, 440. Schon im zweiten Discours spricht Rousseau von der »edelsten Fähigkeit des Menschen« (D II 183), die einem keiner nehmen kann, weil sie »ein Geschenk ist, das sie in ihrer Eigenschaft als Menschen von der Natur erhalten haben« (D II 184). Und auch der erste Discours erwähnt diese »ursprüngliche Freiheit [liberté originelle], für welche sie [die Menschen; d. Verf.] geboren zu sein scheinen« (D I 7). Vgl. Brandt, Reinhard: Rousseaus Philosophie der Gesellschaft, Stuttgart-Bad Cannstatt 1973, S. 71 ff.

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fang). Und dabei handelt es sich nunmehr anders als zuvor um Naturrechtsgesetze, die im Geist des Menschen ihre Quelle haben. 52 Rousseau bekennt sich demnach zu der von Hobbes eröffneten und von Locke weitergeführten Moderne im philosophischen Nachdenken über Politik. Denn das »grundlegende Problem«, wie der Mensch im Herrschaftsbereich eines Staates gleichwohl »genauso frei bleibt wie zuvor«, entsteht allein auf der Basis einer naturrechtlich verbrieften Zwangsfreiheit des Einzelnen. Wie in Kapitel IV.3 bereits angerissen, liefert solches Recht einen Vorbehalt gegen staatliche Autorität. Jenes Problem besteht in der Vereinbarkeit ebendieses Rechts mit der erforderlichenfalls zu erzwingenden Autorität positiver Gesetze, in der Frage danach: unter welcher Bedingung Fremdbestimmung im Sinne der staatlichen Aufbietung physischer Gewaltsamkeit als »legitim [légitime]« (CS 351) gelten darf. Der Contract social steht insofern, wie das für die neuzeitliche Tradition des Kontraktualismus kennzeichnend ist, auf dem Boden des Naturrechts. Er denkt das Politische juridisch, indem er es unter dem Gesichtspunkt freiheitsrechtlicher Legitimität denkt. So ist es bereits die Möglichkeit von Herrschaft überhaupt und nicht erst, wie in der antiken und mittelalterlichen Tradition des politischen Aristotelismus, die ethische Qualität verschiedener Formen von Herrschaft, die dadurch problematisch wird: ob und, wenn ja, wie sich legitimieren lässt, dass ein Staat seine Gesetze, falls erforderlich, mit gewaltbewehrter Autorität durchsetzt. Das besagte Recht auf Freiheit bildet nun zwar insgesamt den Auftakt zum legitimationstheoretischen Kontraktualismus. Denn ohne seine Voraussetzung müssten sich Freiheitsbeschränkungen durch staatliche Institutionen und gesetzlichen Zwang gar nicht erst vor dem Individuum rechtfertigen; und es bedürfte keiner freiwilligen Selbstverpflichtung der Beteiligten zum Gehorsam gegenüber Ganz im Stil der querelle des anciens et des modernes des 17. und 18. Jahrhunderts konstatiert Rousseau im zweiten Discours bei den »alten Philosophen« ein bestimmtes Verständnis von Naturgesetz: »die römischen Rechtsgelehrten unterwerfen den Menschen und alle anderen Lebewesen gleicherweise demselben Naturgesetz [Loy naturelle], weil sie unter diesem Namen eher das Gesetz verstehen, das die Natur sich selbst auferlegt, als dasjenige, welches sie vorschreibt« (D II 124). Diese Gesetze habe »die Natur allen Lebewesen für ihre Erhaltung mitgegeben«. Dagegen verstehen die »Neueren« laut Rousseau »unter dem Namen Gesetz nur eine Regel, wie sie einem moralischen Wesen [être moral] vorgeschrieben ist, d. h. einem Wesen, das vernünftig [intelligent] und frei [libre] ist und in seinen Beziehungen zu anderen Wesen betrachtet wird«.

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dem Staat und seinen Gesetzen in Form eines Vertrages, der eine freiheitsverträgliche Herrschaft aufrichtet. In dieser Hinsicht ist die neuzeitliche Gesellschaftsvertragslehre eine Gestalt liberalen politischen Denkens. Die Idee einer Legitimation politischer Herrschaft durch deren Rückführung auf die selbstbeschränkende Autorisierung vonseiten der Herrschaftsunterworfenen selbst geht bei Hobbes und Locke – bei ersterem noch implizit (und mit seinem Physikalismus eigentlich sogar inkompatibel), bei letzterem dann ausdrücklich – und so auch bei Rousseau von einem dem Menschen angeborenen Freiheitsrecht aus. »Der Mensch ist frei geboren« (CS 351), beginnt die berühmte Eröffnungspassage des Contract social. Und dieses Recht behält der Einzelne auch dann, wenn die Gesellschaft, in welcher er lebt, dem nicht entspricht, wenn er »in Ketten liegt«. 53 Im Unterschied zu Hobbes und Locke glaubt Rousseau jedoch nicht, dass jene Schwierigkeit lediglich mit den Mitteln des Rechts zur Erledigung zu bringen ist. Erster und beständiger Bezugspunkt seines politischen Kontraktualismus ist gewiss das Freiheitsrecht, welches jedes Individuum mitbringt; das letzte Wort aber hat dieses nicht. Das Eingehen des Gesellschaftsvertrages gibt eine notwendige, nicht aber auch die hinreichende Bedingung her für die legitime Einrichtung des Gemeinwesens. Dieser ist keineswegs die alleinige Legitimitätsvoraussetzung politischer Herrschaft. Und mit dem, was da noch hinzukommen muss, geht Rousseau über das kontraktualistische Rechtsdenken seiner Vorgänger hinaus und interessanterweise wieder ein Stück weit zu einem der zentralen Lehrstücke des davon eigentlich abgelösten politischen Aristotelismus zurück. Seine Argumentation, an deren Ende der Phänomenkreis der Sitte und das sittlich geformte Individuum den Ausschlag geben, ist im Wesentlichen die folgende. Und darin ist das mit enthalten, was mich interessiert. 54 Ein Recht, das dem Menschen nicht zukommt, weil er etwas getan hat, sondern weil er etwas ist, und zwar Mensch, ist geradeso unverlierbar wie unveräußerlich. So wenig es erworben wird, so wenig kann man seiner durch eine Tat verlustig gehen. Und es kann auch nicht beim Eintritt in den Staat niedergelegt oder weggegeben werden, sei es an einen machtvollkommenen Leviathan (Hobbes), sei es an eine treuhänderische Regierung (Locke). Weder kann ich darauf Vgl. CS 356, 440. Siehe dazu Zimmermann, Stephan: Freiheit, Recht und Ethos in Rousseaus Contrat social, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 20 (2012), S. 221–243.

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verzichten, meine Rechte weiterhin wahrzunehmen, noch kann ich ihre Wahrnehmung an Andere delegieren. »Auf seine Freiheit verzichten«, so Rousseau, »heißt auf seine Eigenschaft als Mensch […] verzichten.« (CS 356) Das Recht des Einzelnen soll seine fortgesetzte Wahrnehmung notwendig sowie jedwede Art von Vertretung unmöglich machen. Politische Repräsentation ist für Rousseau nicht vereinbar mit dem Recht auf Freiheit: »Die Souveränität kann«, so heißt es im 15. Kapitel des 3. Buches, »nicht repräsentiert werden [ne peut être représentée] […]. […] Jedes Gesetz, das das Volk nicht selbst beschlossen hat, ist nichtig; es ist überhaupt kein Gesetz.« (CS 429 f.) 55 Was der Gesellschaftsvertrag leisten kann, sei daher nur, die Art und Weise zu ändern, wie das Individuum sein Recht wahrnimmt. Die »aliénation totale« (CS 360), die nach Rousseau den Inhalt des Vertrages ausmacht, ist nicht die völlige Entäußerung der Rechte, sondern ihrer einsamen Wahrnehmung. An die Stelle einer einsamen Rechtswahrnehmung setzt er die gemeinschaftliche. Jedes Gesetz, das im Staat erlassen wird, muss unter Beteiligung sämtlicher Betroffenen erlassen werden: Der Gehorsam, zu dem sich die Kontrahenten freiwillig selbst verpflichten, ist für Rousseau einer gegenüber solchen Beschlüssen, die sie gemeinschaftlich fassen. Das individuelle Selbstbestimmungsrecht wird zum Recht auf unvertretbare Teilhabe an gesetzgebenden Beschlüssen. Staatlicher Zwang soll mit diesem Recht nur kompatibel sein, wenn der Adressat der Gesetze zugleich ihr Autor ist, wenn alle gleichermaßen »Bürger« sind, als »Teilhaber an der Souveränität«, und »Untertanen«, »sofern sie den Gesetzen des Staates unterworfen sind« (CS 362). Jeder Kontrahent hat fortan das »Recht, bei allen Akten der Souveränität abzustimmen, ein Recht, das den Bürgern durch nichts genommen werden kann« (CS 439). 56 Um des vorstaatlichen Menschenrechts auf Freiheit willen könne die staatliche Gesetzgebung nicht anders als in den Händen sämtlicher Kontrahenten liegen. Und als solch eine gemeinsame Wahrnehmung jenes Rechts müsse sie die Gestalt einer nichtrepräsentationalen, direkten Selbstgesetzgebung haben. Mithin verstetigt Rousseau die

Siehe dazu Herb, Karlfriedrich: Verweigerte Moderne. Das Problem der Repräsentation (III 15–18, IV 1–3), in: Reinhard Brandt/Ders. (Hg.): Jean-Jacques Rousseau. Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, Berlin 2000 S. 167–188. 56 Vgl. CS 426. 55

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anfängliche Vertragssituation zur »Verlaufsform gesellschaftlichen Lebens« 57. Doch damit hat es nicht sein Bewenden. Denn es reicht nicht aus, dass das Individuum an der Ausübung staatlicher Souveränität bloß teilhat. Sieht Rousseau doch das Grundproblem des Politischen darin, dass ein jeder »nur sich selbst gehorcht«. Wann aber gehorcht der Einzelne nur sich selbst, wo er Gesetzen gehorcht? Offenkundig dann nur, wenn er mit ihnen einverstanden war, wenn er ihnen seine Zustimmung gab. Die vonseiten des Staates angewandte Gewalt kann allein so als legitim gelten, dass die »Untertanen«, gegen welche er sich richtet, sie autorisierten, indem sie (nicht nur der allgemeinen politischen Ordnung des Staates, sondern) jedem einzelnen der Gewaltanwendung zugrunde liegenden Gesetz zustimmten. 58 Dem natürlichen Rechtsgesetz, das jedermann eine zwangsfreie Lebensgestaltung einzuräumen zur Pflicht macht, wird lediglich dadurch ganz entsprochen, dass die »Bürger« eines Gemeinwesens über die legislative Partizipation hinaus Gesetze, wie Rousseau selbst den Idealfall darstellt, mit »Einstimmigkeit [unanimité]« (CS 439) verabschieden. Wer staatlichen Zwang erleidet, ohne ihn autorisiert zu haben, der gehorcht nicht sich selbst und ist nicht genauso frei wie zuvor. Das ist der tiefere Sinn der Verstetigung des Gesellschaftsvertrages, dass das Ergebnis einer Abstimmung die Würde eines Gesetzes idealerweise bloß besitzt, wenn es die Gesamtheit der Bürger einhellig hinter sich weiß. 59 So liest man im 2. Kapitel des 4. Buches, welches »Von den Abstimmungen« (CS 438) handelt, »dass die Art und Weise, wie die öffentlichen Angelegenheiten behandelt werden, ein hinreichend sicheres Anzeichen für den gegenwärtigen Stand der Sitten [mœurs] und für die Gesundheit [santé] der politischen Körper-

Kersting, Wolfgang: Vom Vertragsstaat zur Tugendrepublik. Die politische Philosophie Jean-Jacques Rousseaus, in: Ders. (Hg.): Die Republik der Tugend. JeanJacques Rousseaus Staatsverständnis, Baden-Baden 2003, S. 18. Maurice Halbwachs spricht diesbezüglich von einer Anwendung des theologischen Begriffs der »création continuée« auf die politische Ordnung. (Rousseau, Jean-Jacques: Du contrat social, Paris 1943, S. 328) 58 Vgl. FP 484, 492. 59 Vgl. Bubner, Rüdiger: Voraussetzungen des Rechtsstaates, in: Drei Studien zur politischen Philosophie, Heidelberg 1999, S. 36. Das sieht bereits Hegel, dass für Rousseau »zu allem, was vom Staat und für ihn geschehe, alle Einzelnen ihre Zustimmung geben sollen [Herv. d. Verf.]« (VPG, S. 61). 57

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schaft abgeben kann. Je mehr Übereinstimmung [concert] bei den Versammlungen herrscht, d. h. je näher die Meinungen der Einstimmigkeit [unanimité] kommen, umso mehr herrscht auch der Gemeinwille [volonté générale] vor; lange Debatten [débats] jedoch, Meinungsverschiedenheiten [dissensions], Unruhe [tumulte] zeigen das Emporkommen von Sonderinteressen [intérêsts particuliers] und den Niedergang des Staates an.« (CS 439) 60

Mit der Bezugnahme auf »Sitten« ist der nächste Schritt in Rousseaus Überlegungsgang berührt. Denn die selbstbestimmungsrechtlich gebotene Einstimmigkeit der Gesetzgebung lenkt seinen Blick auf Voraussetzungen, die in einer Republik vorhanden sein müssen, damit bei der Gesetzgebung solche Einhelligkeit wahrscheinlich wird und dem Selbstbestimmungsrecht jedes Beteiligten regelmäßig Genüge geschieht. Diese Voraussetzungen, deren Vorhandensein er fordert, sind nun aber anderer Art. Dazu zählt, um die wichtigsten herauszugreifen, dass Rousseau für einen überschaubaren Kleinstaat mit geringer Ausdehnung und Bevölkerungszahl plädiert, wo sich das tägliche Leben unter den Augen Bekannter abspielt; 61 für eine sozioökonomisch homogene, bäuerlich-mittelständisch geprägte Lebensweise, die aufgrund ihrer Homogenität hohe gegenseitige Loyalitäten begünstigt; 62 für starke Sitten (mœurs) und Gebräuche (coutumes) einschließlich Nationaltrachten, weil sie die Angehörigen eines Volkes untereinander verbinden und von denen anderer Völker unterscheiden; 63 sowie für einen dogmatischen Mindestgehalt des Glaubensbekenntnisses (Religion civile), der das gesellschaftliche Band zusätzlich an einem Ankerstein in der Transzendenz befestigt. 64 Vgl. CS 438. Wenn formale Stimmenmehrheit auch nicht mit dem Freiheitsdenken Rousseaus in Einklang steht, ist das Thema damit doch nicht vom Tisch. Der Mehrheitswille besitzt unter gewissen Umständen sehr wohl politische Legitimität, dann nämlich, wenn die Majorität Träger des Gemeinwillens ist (vgl. CS 441). In dieser Qualifizierung bleibt jedoch Einstimmigkeit als Ideal erhalten. Die abweichende Minderheit sei nur, wie Rousseau im 2. Kapitel des 4. Buches einen solchen Fall schildert, in einem Irrtum befangen und werde durch die gesunde Majorität zurecht- und zur volonté générale zurückgebracht. Vgl. Herb, Karlfriedrich: Rousseaus Theorie legitimer Herrschaft. Voraussetzungen und Begründungen, Würzburg 1989, S. 205. 61 Siehe dazu die Kapitel 9 und 10 des 2. Buches. 62 Siehe dazu Kapitel 11 des 2. Buches sowie das 8. Kapitel des 3. Buches. 63 Vgl. CS 387, 394, 397, 439. Siehe auch FP 555; Pologne 962. 64 Siehe dazu das 8. Kapitel des 4. Buches. Rousseau ist dabei weniger an der Wahrheit des religiösen Bewusstseins interessiert, als er in der Religion vielmehr ein nützliches Instrument vermutet, das sich politisch in Dienst nehmen lässt. So soll ja der Gesetzgeber (législateur) – jene von außerhalb des Gemeinwesens kommende Figur, 60

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Die Forderung nach dieser und anderen Gegebenheiten hat Rousseau nicht zu Unrecht dem Vorwurf ausgesetzt, einer republikanischen Utopie nachzuhängen, die schon zu seinen eigenen Lebzeiten von der Wirklichkeit überholt schien. Doch gilt es zu sehen, dass sich diejenigen Phänomene, die da nach Rousseau unverzichtbar gegeben sein müssen, trotz ihrer Ungleichartigkeit durch einen ihnen allen gemeinsamen Grund motivieren lassen. Denn der Gesichtspunkt, unter dem jene ungleichartigen Phänomene insgesamt für seine politische Philosophie relevant werden, ist der, dass es sich dabei um so etwas wie soziale Kohäsionsfaktoren handelt; sie sind geeignet, unter den Mitgliedern eines Gemeinwesens gewisse Bindewirkungen zu erzeugen. Und einzig darauf kommt es an. Weil je stärker das Zusammengehörigkeitsgefühl ist, das sie unter den Bürgern stiften, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit und Regelmäßigkeit, mit der jene die souveräne Handlung der Legislation einmütig vollziehen. Den von Rousseau ins Spiel geworfenen Voraussetzungen ist gemeinsam, dass sie sämtlich gesinnungsbildender und gesinnungsstabilisierender Art sind. Und eine der von Rousseau geforderten Voraussetzungen bildet der Bereich gemeinsamer Sitten. 65 Durch Erziehung in die und Gewöhnung an die lebendigen Formen gesellschaftlicher Praxis, welche sich dadurch sowohl bestätigen und fortbilden als auch in das Dasein der Menschen einpflanzen und ihre Wertschätzung gewinnen, ist der Einzelne über die Privatheit seiner Interessen hinausgehoben. Er bleibt nicht ein bloß besonderes, sondern wird immer auch zum allgemeinen Wesen; er empfängt ein »gemeinsames Ich [moi commun]« (CS 361). Als solches ist er nicht nur an seinem je eigenen Wohl interessiert, sondern gewohnheitsmäßig immer auch für das »gemeinsame Wohl [bien commun]« (CS 368) empfänglich. 66 Wie Rousseau bereits 1755 in seinem Encyclopédie-Artikel, dem Discours sur

deren pädagogischer Auftrag es ist, die Menschen zu denen zu machen, die sie sein müssen – seine »Zuflucht zum Himmel als Mittler« (CS 383) nehmen. Weil ihm einerseits jede Amtsgewalt abgeht und er die Menschen andererseits nur zu überreden, nicht aber mit Gründen davon zu überzeugen vermag, dass die genannten und andere Voraussetzungen erforderlich sind, soll er seine Ratschläge auf »göttlichen Machtspruch« gründen dürfen. 65 So auch Trachtenberg, Zev M.: Making Citizens. Rousseau’s Political Theory of Culture, London/New York 1993, S. 1. 66 Vgl. CS 371, 375, 391, 437, 438.

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l’économie politique, schreibt, muss das Individuum zum Bürger erzogen werden, was seinerseits eine öffentliche Angelegenheit sei: »Wenn man sie […] früh schon lehrt, ihre Person niemals anders zu sehen als in ihren Beziehungen mit dem Staatskörper und ihre eigene Existenz sozusagen als einen Teil des Staates anzusehen, dann könnten sie dahin gelangen, sich in gewissem Maße mit dem größeren Ganzen zu identifizieren, sich als Glied des Vaterlandes zu fühlen, jenes mit dem köstlichen Gefühl lieben, welches der isolierte Mensch nur für sich selber kennt, ständig die Seele zu diesem großen Ziel zu erheben und so eine gefährliche Veranlagung in eine erhabene Tugend [vertu] zu verwandeln [Herv. d. Verf.]« (EP 259 f.). 67

Das ist der Punkt, wo sich Rousseau von Hobbes und Locke trennt und wieder Anschluss an den politischen Aristotelismus gewinnt. Denn Hobbes und Locke sind davon überzeugt, dass es ein gut eingerichteter Staat an der Disziplinierung des äußerlichen Verhaltens der ansonsten ihr aufgeklärtes Eigeninteresse (Rousseau sagt amour-propre, ihre Selbstsucht) mit Klugheit verfolgenden Menschen genügen lassen darf. Dagegen lehrt die an Aristoteles anschließende politische Philosophie, dass gerade eine gewisse Formung des Charakters unentbehrlich ist; es müssen einschlägige Bestrebungen (ὂρεξις) entfacht und zur Haltung (ἕξις) verfestigt werden. Und solch ein innerlichkeitsstarkes Ethosdenken macht sich Rousseau wieder zu eigen. Er denkt das Politische doch auch ethisch. Anders aber als im politischen Aristotelismus ist es die ungeschmälerte Einlösung des Menschenrechts auf Selbstbestimmung (welches Aristoteles nicht kennt), die nach einer hoch integrierten Gemeinschaft verlangen soll, einer, die durch möglichst tiefgreifende Übereinstimmungen im Denken, Wollen und Fühlen geeint ist: nach sittenfesten Bürgern mit gemeinsam geteiltem und gemeinwohlorientiertem Ethos. Ausdrücklich spricht Rousseau von »öffentlicher Erziehung« (EP 261). Im Émile hingegen schränkt er sich auf die »private und häusliche« (Émile 250) Erziehung ein. Émile soll zum Menschen erzogen werden. Eine »öffentliche und allgemeine« Erziehung sei nämlich unmöglich, wo es »kein Vaterland [patrie]« und »keine Bürger [citoyens]« gibt. Das führt zu der kontextlosen Situation, da der Erzieher und sein Zögling von aller Welt geschieden leben. Der Contract social aber beschäftigt sich ebendamit. Und das eine schließt das andere keineswegs aus. Émile wird so erzogen, wie es Rousseau zufolge ohne den Kontext eines »Vaterland[s]« möglich ist, nicht aber auch so, wie es darüber hinaus einem Menschen, der »Bürger« ist, ansteht. Zum Verhältnis von Émile und Contract social siehe Parry, Geraint: Émile: Learning to Be Men, Women, and Citizens, in: Riley, Patrick (Hg.): Cambridge Companion to Rousseau, Cambridge 2001, S. 247–271.

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»Zu diesen drei Arten von Gesetzen fügt sich eine vierte, die wichtigste von allen; die weder auf Marmor noch auf Erz, sondern in die Herzen der Bürger geschrieben ist; in ihr liegt die eigentliche Verfassung des Staates [véritable constitution de l’État]; sie kommt täglich zu neuer Kraft; sie belebt oder ersetzt die anderen Gesetze, wenn sie altern oder verblassen, erhält ein Volk im Geist seiner Errichtung und setzt unmerklich die Macht der Gewohnheit [habitude] an die Stelle der Staatsgewalt. Ich rede von den Sitten [mœurs] und Gebräuchen [coutumes] [Herv. d. Verf.]« (CS 394). 68

Recht und Ethos sind im Contract social miteinander verwoben. Bürgerliche Selbstgesetzgebung im Staat und moralische Selbstgesetzgebung der Person lassen sich nicht voneinander trennen. Im Grunde ist das Problem staatlicher Herrschaft und das einer moralischen Lebensführung für Rousseau sogar nur eins. Gesetze verdienen ihren Namen lediglich, wenn sie von tugendhaften Bürgern beschlossen sind. Tugendhafte Bürger aber sind in nuce die, welche sich in die Gemeinschaft, mit der sie sich »identifizieren«, einfügen und diese nicht, indem sie sich davon ausnehmen, auf sich beziehen: die also ihre privaten Interessen, wo nötig, zugunsten der rege geübten öffentlichen Sitten, die auch die ihrigen sind, zurückzustellen vermögen. Allerdings mag ein »Gesetz«, wie Rousseau im wichtigen 8. Kapitel des 1. Buches erklärt, »das man sich selber gegeben hat [loi qu’on s’est prescrite]« (CS 365), eines sein, das man sich entweder in foro interno oder auch in foro externo gegeben hat. Rousseaus Erklärung lässt beides zu, und beides ist gemeint. Die fragliche Gesetzgebung kann zusammen mit Anderen oder allein erfolgen; sie ist eine, die entweder im Staat oder bloß in der Person stattfindet. 69 Der Unterschied ist allein der, dass die Einhaltung eines Gesetzes, welches man sich zusammen mit Anderen gegeben hat, aufgrund der vertraglichen Verpflichtung, die man eingegangen ist, ein Rechtsgesetz und als solches staatlich erzwingbar ist. Hingegen dasjenige Gesetz einzuhalten, welches sich eine Person allein gegeben hat, kann nicht erzwungen werden. Ansonsten aber unterliegt die eine wie die andere Gesetzgebung, die innere wie die äußere, demselben Kriterium. Dieses Kriterium besteht in gewissen, zur Haltung gewordenen Bestrebungen, aus denen heraus ein Gesetz zu geben ist. Es ist das sittlich geformte Individuum, das bloß seinem eigenen Han-

»Das Gesetz wirkt nur von außen und regelt nur die Handlungen; die Sitten allein dringen ein und lenken die Willen.« (FP 555) Vgl. EP 252; Pologne 955. 69 Vgl. EP 250; FP 493. 68

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deln oder auch dem Anderer ein Gesetz gibt. Und die Ansprüche an ein echtes Gesetz erfüllt für Rousseau so oder so einzig ein moralisches Gesetz: eines, das in dem skizzierten Sinne Ausdruck charakterlicher Tugend ist. 70 Diejenige Gesinnung, der genuine Gesetze entspringen, ist der berühmt-berüchtigte Gemeinwille (volonté générale). Davon unterscheidet Rousseau den Gesamtwillen (volonté de tous): »dieser sieht nur auf das Gemeininteresse [intérêt commun], jener auf das Privatinteresse [intérêt privé] und ist nichts anderes als die Summe von Sonderwillen [volontés particulières]« (CS 371). Es ist dies ein Unterschied bzgl. dessen, was da gewollt wird. Das Objekt des Wollens ist je ein anderes. Das Allgemeine am Gemeinwillen betrifft nicht die beteiligten Subjekte; er ist nicht deshalb ein allgemeiner Wille, weil alle ihn haben. Sondern er ist dadurch definiert, dass er auf das Allgemeine geht, worin auch immer das in der jeweiligen Lage des jeweiligen Gemeinwesens bestehen mag. Und das ist das allgemeine Wohl. 71 Das erst ist der volle Sinn einer Verstetigung der ursprünglichen vertraglichen Vereinigung. Jeder Beschluss, der durch sämtliche Bürger erfolgt, bringt allein dann ein richtiggehendes Gesetz auf die Beine, wenn er nicht nur unisono ergeht, sondern wenn das mit der richtigen Absicht geschieht. Nicht das »Privatinteresse« darf die Einzelnen leiten; nicht trifft jeder seine Entscheidung, indem er sich im Gegensatz zu den Anderen versteht. 72 Ihre Meinungen stimmen dann, wenn überhaupt, bloß zufällig überein; der Gesamtwille ist die zufällige Übereinstimmung der vielen Sonderwillen. Sondern das ganze Sinnen und Trachten der Beteiligten muss von »Gemeininteresse« erfüllt sein. Es muss darauf aus sein, alles unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, ob es das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen erhält und fördert. Jeder trifft seine Entscheidung dann, indem er sich aus der Einheit mit Anderen versteht; dass sie im Denken, Wollen und Fühlen übereinstimmen, kanalisiert nach Rousseau ihre Meinungen in Richtung auf eine Übereinstimmung hinsichtlich dessen, was zur Erhaltung und Förderung dieser Einheit tunlich ist.

Zum Begriff der Tugend (vertu) und dem der darin enthaltenen Selbstliebe (amour de soi-même) siehe D II 154, Anm. 15; Émile 322, 491, 522 ff., 602; CSMS 328 f. Vgl. Fetscher, Iring: Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs, Frankfurt a. M. 81999, Kap. 2. 71 Vgl. CS 368, 375, 391, 427; EP 245, 246, 247. 72 Vgl. EP 263. 70

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Das moi commun besteht sonach für Rousseau darin, dass die Bürger ein gemeinsames Ethos teilen. Und das bien commun, an dem sie bei der Gesetzgebung orientiert sind, besteht darin, ebendieses Ethos zu erhalten, weil es seinerseits für die Freiheitsverträglichkeit des Gemeinwesens einsteht. An den bestehenden Sitten als einer der von Rousseau geforderten Voraussetzungen eines gut eingerichteten Staates bemisst sich, was jeweils als gut und was als böse zu gelten hat. Moralisch gut ist, was diese und damit die freiheitsverträgliche Einrichtung des Gemeinwesens fördert, moralisch böse hingegen, was sie schwächt und zerstört. 73 Dass in den Bürgern der Gemeinwille vorwaltet vor allen partikulären Interessen, bringt Rousseau – darin kulminiert der Sache nach seine Überlegung – als »sittliche Freiheit [liberté morale]« (CS 365) auf den Punkt. Diese nämlich besteht, wie er erläutert, in nichts anderem als einer allen subjektiven Anfechtungen überlegenen Selbstgesetzgebung sowohl als auch Selbstbeherrschung des Einzelnen. Selbstgesetzgebend ist, wer sich selber Gesetze in dem vorstehenden, anspruchsvollen Sinne zu geben fähig ist, und selbstbeherrscht, wer sich in der Folge auch daran zu halten und »Gehorsam [obéissance]« gegen das Gesetz aufzubringen vermag, das er sich selber gegeben hat. 74 Indem Rousseau die legislative Souveränitätsausübung des Gemeinwesens in legitimationstheoretischer Hinsicht an die sittliche Freiheit der Menschen bindet, behauptet er die ethische Voraussetzungsbedürftigkeit souveräner Legislationsakte. Der Gesellschaftsvertrag ist nur die erste notwendige Bedingung für die Legitimität von Zwang, welchen der Staat unter Umständen einsetzt. Hinreichend wird sie allein im Verbund mit der zweiten, und zwar einer Bürgerschaft, deren Mitglieder von einem vitalen Gemeinschaftsleben und dem Interesse, dieses in Ordnung zu halten, oder,

Vgl. Kersting, Wolfgang: Gesellschaftsvertrag, Volkssouveränität und »volonté générale«. Das systematische Zentrum der politischen Philosophie von Jean-Jacques Rousseau, in: Ders. (Hg.): Die Republik der Tugend. Jean-Jacques Rousseaus Staatsverständnis, Baden-Baden 2003, S. 98 ff. 74 Rousseau spricht im Contract social weder von Autonomie (autonomie) noch von Autokratie (autocratie). Nach ihm aber und unter Bezugnahme auf ihn gehört beides zum inneren Kern der Moralphilosophie Kants. Vgl. TL VI 383; FM XX 295; BGSE XX 44. Siehe dazu Reich, Klaus: Rousseau und Kant, Tübingen 1936; König, Peter: Autonomie und Autokratie. Über Kants Metaphysik der Sitten, Berlin/New York 1994. 73

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wie Rousseau sagt, von »Vaterlandsliebe [amour de la patrie]« (CS 429), 75 erfüllt sind. 76 Die Freiheit, welche Rousseau als ›sittliche‹ anspricht, ist wohlgemerkt nicht einerlei mit einer derjenigen Formen von Freiheit, welche der Contract social bis dahin schon ins Feld geführt hat. Sie ist weder äußere Handlungs- noch innere Willensfreiheit. Die Freiheit des Handelns zeigt sich im Äußeren. Sie definiert sich durch das Fehlen von Hindernissen, welche die Durchführung einer Handlung beeinträchtigen; und der Einzelne hat für Rousseau ein Recht auf die Unabhängigkeit vom Zwang durch andere Menschen. 77 Die Freiheit des Willens hat dagegen ihre Domäne im Inneren. Sie betrifft die Vorbereitung einer Handlung. Eine Absicht zu haben, bereitet eine Handlung notwendig vor, aber sie ist nicht hinreichend dafür, die betreffende Handlung durchzuführen. Unsere »Vernunft [raison]« (CS 352, 356) kann sich kraft ihrer Spontaneität unter gewöhnlichen Umständen dazwischenschalten und Einfluss auf die anstehende, einmal beabsichtigte Handlung nehmen. Was uns augenblicklich einnimmt, bestimmt uns als vernunftbegabte Wesen nicht völlig. Die innere Vorbereitung einer Handlung ist mehr oder weniger frei in dem Sinne, dass wir normalerweise einhalten, nachdenken und zwischen Alternativen wählen können. 78 Die liberté morale ist nicht einfach eine besondere Ausprägung dieser allgemeinen Wahlfreiheit. Denn sie besteht nicht darin, sich gegen ein »Privatinteresse« und für das »Gemeininteresse« zu entscheiden. Ist doch der umgekehrte Fall ebenso sehr ein Fall von Wahlfreiheit, wenn ich mich nämlich gegen das »Gemeininteresse« und Vgl. EP 254, 254 f., 259, 262; FP 487; Corse 940 f.; Pologne 960, 964, 1019. Siehe dazu Haymann, Franz: Weltbürgertum und Vaterlandsliebe in der Staatslehre Rousseaus und Fichtes, Berlin 1924. 76 Rousseau denkt die Einmütigkeit, mit der Gesetze zu verabschieden sind, folglich nicht als Resultat von Diskurs und Kompromiss. Sein Ideal ist das der Unmittelbarkeit; Bürger, die in gemeinschaftlichen Sitten verwurzelt sind und diese wertzuschätzen gelernt haben, sprechen intuitiv, noch vor allen deliberativen Verfahren mit einer Stimme. Vgl. CS 439. 77 Vgl. CS 351, 352, 356, 360. 78 Rousseau führt die Freiheit der Wahl zunächst bzgl. der Selbsterhaltung (propre conservation) ein. Die Vernunft sucht dafür »die geeigneten Mittel« (CS 352); es ist dies ein »Akt der Klugheit [prudence]« (CS 354). Sodann bringt Rousseau den freien Willen aber auch mit »Sittlichkeit [moralité]« in Verbindung; da geht es nicht mehr darum, ob etwas nützlich oder schädlich ist für einen Zweck des Einzelnen, sondern darum, ob es objektiv, will sagen für alle, gut oder böse ist. 75

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für ein »Privatinteresse« entscheide. Rousseau hat anderes vor Augen. Etwas ins Unreine gesprochen, geht es ihm hierbei nicht um die Freiheit der Wahl, sondern darum, das Richtige zu wählen. Freiheit ist der Charakter des Richtigen, nämlich dessen, was der Gemeinwille will. Ein »gemeinsames Ich« zu haben und sich aus dieser Einheit mit Anderen zu verstehen, will Rousseau sagen, ist sittliche Freiheit. Sich hingegen im Gegensatz zu Anderen zu verstehen und einen Sonderwillen zu haben, bedeutet den Mangel an solcher Freiheit. 79 Ein derartiges Verständnis von Freiheit deckt sich interessanterweise mit der Etymologie unseres deutschen Ausdrucks. Dieselbe indogermanische Wurzel, die in ›Freiheit‹ enthalten ist, findet sich auch in Worten wie ›Freund‹ und ›Frieden‹, ›freien‹ und ›Freier‹. Dabei handelt es sich um prāi-, was so viel bedeutet wie gernhaben, lieben. Das althochdeutsche frī, das sich (ebenso wie das englische free) davon herleitet, bedeutet daher so viel wie lieb, erwünscht. Wenn man früher sagte, was heute unüblich geworden ist, ›Er freite das junge Mädchen‹, meinte das, dass er ihr entweder einen Heiratsantrag gemacht oder sie geheiratet hat. Bildlich gesprochen verweist ›Freiheit‹ also seiner Herkunft nach in die entgegengesetzte Richtung, mit der wir den Ausdruck zu gebrauchen gewohnt sind. Nicht das wurde damit ausgedrückt, dass man von Anderen unabhängig ist, sondern dass man stattdessen zu ihnen hinzugehört; nicht weg von …, sondern hin zu … Frei war, wer einer Lebensgemeinschaft von einander nahestehenden Personen angehört: Frei sein hieß zu den Lieben gehören und deren Schutz und Fürsorge überantwortet sein. 80 Aus der indogermanischen Wurzel haben die Germanen irgendwann, so weit wir wissen, frei zu einem Rechtsbegriff entwickelt. Zwar sind diejenigen, welche man liebt und schützt, die Angehörigen der Bluts- und Stammesgemeinschaft. Doch einige von ihnen sind zugleich auch frei im Sinne von eigenständig, unabhängig von Anderen, vollberechtigt, und das im Gegensatz insbesondere zu den ganz Deshalb kann Rousseau auch behaupten, dass der Zwang, welchen jemand nach Maßgabe von Gesetzen erleidet, »nichts anderes heißt, als dass man ihn zwingt, frei zu sein [être libre]« (CS 364). Denn weder zur Handlungs- noch zur Willensfreiheit kann ich durch Andere gezwungen werden. Allerdings kann man sehr wohl dazu gewungen werden, das Richtige zu tun, dasjenige, was der Gemeinwille will. Und das ist eben etwas, das sich durch eine andere Form von Freiheit auszeichnet. 80 Vgl. Conze, Werner: Freiheit, I. Einleitung, in: Brunner, Otto/Ders./Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2 E-G, Stuttgart 2004, S. 425. 79

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und gar Unfreien. ›Freiheit‹ hatte so auch die heute mehr vertraute Sinnrichtung, wo es sich um diejenigen Personen handelte, von denen das Recht ausgeht, sei es in der gesetzgebenden Versammlung oder bei Gericht. Danach ist einer, statt einem Anderen unterstellt zu sein, berechtigt, seinem eigenen Willen zu folgen. Ein Freier (althochdeutsche frīhals) war in der germanischen Rechtsordnung jemand, dem sein Hals gehört, der also über sich verfügen und an der gesetzgebenden Versammlung sowie Rechtsprechung teilnehmen darf. Denn der Ring um den Hals war das Kennzeichen des Unfreien, des rechtsunfähigen Leibeigenen. 81 Jene Bedeutung von Freiheit, deren Kern Zugehörigkeit und nicht Unabhängigkeit ist, lässt sich immer noch bei einigen namhaften deutschsprachigen Autoren dokumentieren. Nicht, dass ihnen der etymologische Wortsinn bekannt ist, möchte ich sagen, aber die Weise, wie sie das Wort gebrauchen, setzt doch jene alte Gebrauchsweise fort. Ohne ins Detail zu gehen, nenne ich nur einige. Friedrich Schiller bezeichnet in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) die »Gemeinschaft zwischen Formtrieb und Stofftrieb« 82, will sagen die Zusammengehörigkeit des vernünftigen und des sinnlichen Grundtriebes menschlicher Subjektivität, auf den der vermittelnde Spieltrieb abzielen soll, als die »Freiheit« 83 des Subjekts. Nach Hegel bildet Freiheit die Grundstruktur des Geistes. Deren prägnanteste Erläuterung lautet bekanntermaßen auf Beisichsein im anderen; der Geist ist nicht ohne anderes, weil er nur ist, was er ist, indem er sich darin wiederfindet (was keineswegs bloß zwischenmenschliche Verhältnisse betrifft, weshalb ich ›anderen‹ bewusst kleinschreibe). 84 Heidegger schließlich erblickt das Wesen der Wahrheit im Sinne der Unverborgenheit (ἀλήθεια) in der Freiheit. Er meint damit, dass das menschliche Dasein frei ist zum Seienden und seinem Sein, dass ihm wesenhaft Seiendes und dessen Sein als ein unverborgenes zugehört. 85 Vgl. Kluge, Friedrich: Frei, in: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin/New York 221989, S. 230 f. 82 Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, SSW 12.2, Stuttgart/Berlin 1904, S. 56.4 f. 83 Ebd., S. 54.3, 60.9. 84 Vgl. EPW, § 24 Z; GPR, § 7 Z; VPG, S. 30; VPR I, S. 65; VGP I, S. 41 und passim. 85 Vgl. Heidegger, Martin: Vom Wesen der Wahrheit (1930), in: Wegmarken, GA 9, Frankfurt a. M. 1975, S. 177–202; Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie (1930), GA 31, Frankfurt a. M. 1982, S. 299 ff. 81

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Und so etwas kommt der Sache nach auch in Rousseaus Rede von sittlicher Freiheit zum Ausdruck. Denn diejenige Freiheit, welche er da mit einem eigenen Namen belegt und in der die wichtige These, die das 8. Kapitel des 1. Buches vorbringt, kulminiert, dass es nämlich einer »Veränderung [changement] im Menschen« (CS 364) bedarf, meint gerade kein Herausgelöstwerden des Einzelnen aus der Gemeinschaft, sondern umgekehrt dessen Eingebundenwerden in eine solche. Wenn Rousseau zunächst auch den Anschein erweckt, als bewirkte der Gesellschaftsvertrag diese »Veränderung«, den nötigen Gesinnungswandel der Menschen, was ein Vertrag natürlich nicht, schon gar nicht mit einem Schlag zu leisten vermag, überträgt er das später dem sog. Gesetzgeber (législateur). Dessen pädagogischer Auftrag sei, durch Ratschläge die Menschen dahin zu bringen, ihre Belange selber regeln zu können: Er soll »die menschliche Natur ändern [changer], jedes Individuum, das von sich aus ein vollendetes und für sich bestehendes Ganzes ist, in den Teil eines größeren Ganzen verwandeln« (CS 381). 86 Dafür hat er u. a. eine gesellschaftliche Praxis einzurichten und Sitten auf Dauer zu stellen, die einen entsprechenden Beitrag zur charakterlichen Erziehung leisten. Und die Sphäre der Sitte ist für Rousseau in gewissem Sinne eine Sphäre der Freiheit. Ein soziales Wesen sein heißt ihm frei sein zu Anderen und sich bei Akten der inneren und äußeren Selbstgesetzgebung daran orientieren können: Liberté morale ist Rousseaus Name für die identitätsstiftende Zusammengehörigkeit sittlich geformter Individuen, die als solche im Anderen bei sich sind. Es ist hier nicht der Ort einer abschließenden Bewertung von Rousseaus politischer Philosophie, auf die ich ohnehin nicht als solche zu sprechen gekommen bin. Es mag richtig sein, dass deren rechtlicher Startpunkt letztlich gar nicht so spannungslos zusammengeht, wie Rousseau glaubt, mit ihrem ein antikes Denkmotiv wieder aufnehmenden ethischen Schlussstein. 87 Wir können aber doch klarstellen, was in Kapitel IV.3 offengeblieben ist, dass sich bei Rousseau mitnichten ein sozialontologischer Kollektivismus dokumentieren lässt. Obwohl er das Individuum für zutiefst sozial erachtet und obVgl. Émile 249. Zur Rolle des Gesetzgebers siehe Gagnebin, Bernard: Le rôle du législateur dans les conceptions politiques des Rousseau, in: Études sur le Contrat social de Jean-Jacques Rousseau. Actes des journées d’études organisées à Dijon les 3, 4, 5, et 6 mai 1962, Paris 1964, S. 277–290. 87 Vgl. Kersting, Wolfgang: Jean-Jacques Rousseaus ›Gesellschaftsvertrag‹, Darmstadt 2002, S. 97 ff. 86

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wohl er mitunter vom Gemeinweisen als von einer »moralischen Kollektivkörperschaft [corps moral et collectif]« (CS 361), einem »kollektiven Wesen [être collectif]« (CS 368) oder einer »moralischen Kollektivperson [personne morale et collective]« (CS 408) spricht, sperrt sich sein Sittlichkeitsdenken doch gegen eine solche Annahme. Der Gemeinwille ist kein, wie Bertram mutmaßt, »transcendent fact about the society which may or may not be reflected in actual legislative decisions« 88. Indem sich die volonté générale aus einer in den jeweiligen Sitten verwurzelten Einstellung der Bürger speist und darauf aus ist, ebenjene Sitten und Einstellung der Bürger zu bewahren, bildet sie eine durch und durch empirische Größe. Sie steht und fällt mit einer habituellen gesellschaftlichen Lebensart, die ihr Quelle und Ziel zugleich ist. Anstatt über den Köpfen der Menschen und mit feststehenden, universalen Gehalten soll sie in deren Herzen wohnen und sich mit den veränderlichen Erfordernissen des Gemeinwesens mit wandeln. Rousseau vermittelt demnach Wir und Ich begrifflich miteinander, indem er letzteres in ersteres zurücknimmt bzw. jenes in dieses aufhebt. Und er will sie beide in der politischen Praxis miteinander vermittelt sehen, um dem Ideal, das er aufstellt, zu genügen. 89 In seiner Konzeption von Politik – die entgegen der in der Neuzeit vorherrschenden Strömung, welche nur auf das im Äußeren wirksame, menschliche Verhalten disziplinierende Rechts setzen zu können meint, diese um die das Innere der Menschen verwandelnde, ihren Charakter formende Sittlichkeit ergänzt und sogar daran zurückbindet – ist der Keim zu einem seitdem kontrovers ausgetragenen Streit um die Geltungsweite des Politischen angelegt, wie er zuletzt zwischen Liberalisten und Kommunitaristen wieder aufgebrochen ist. Doch kann ich den Fokus meiner daran anschließenden Betrachtungen anders und kleiner wählen. Denn nach Rousseau ist das Phänomen der Sitte in Hegels Philosophie des objektiven Geistes zu erneuter Geltung gekommen.

Bertram, Christopher: Rousseau’s Legacy in Two Conceptions of the General Will: Democratic and Transcendent, a. a. O., S. 403. 89 Vgl. Hollis, Martin: Trust within Reason, Cambridge 1998, S. 152. Nach Ripstein postuliert Rousseau eine »constitutive community, because the community makes each of its members who he or she is«. (Ripstein, Arthur: Universal and General Wills. Hegel and Rousseau, in: Political Theory 22/3 (1994), S. 450) 88

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b)

Hegel über »Sittlichkeit«

Die ausgefeilteste Darstellung von Hegels Philosophie des objektiven Geistes findet sich in den Grundlinien der Philosophie des Rechts von 1820. Der entsprechende Abschnitt in der Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften fällt demgegenüber in der ansonsten stark erweiterten Fassung der zweiten und dritten Auflage aus dem Jahre 1827 bzw. 1830 durch seine verhältnismäßige Komprimiertheit auf. Das ist aber kein Mangel. Eben weil dieser Teil seines Systems schon in den Grundlinien ausgeführt ist, kann sich Hegel dort kürzer fassen als zu den restlichen Systemteilen, wie er selber anmerkt. 90 Es soll mir dabei aber weder um das Verhältnis zu tun sein, das zwischen dem Denken Hegels und dem Rousseaus bestehen, noch darum, welche Ansicht ersterer davon haben mag. In seinen Grundlinien äußert sich Hegel weitgehend kritisch zu letzterem. 91 Was er Rousseau vorhält, ist in der Hauptsache, dass dieser »den allgemeinen Willen, nicht als das an und für sich Vernünftige des Willens, sondern nur als das Gemeinschaftliche, das aus diesem einzelnen Willen als bewußtem hervorgehe« (GPR, § 258 A), begreife. Flüchte er sich doch »zu einem Vertrag« als der Grundlage des Politischen. Offenbar nimmt Hegel Rousseaus politische Philosophie lediglich oder maßgeblich als Vertragstheorie wahr; jedenfalls knüpft er ausschließlich daran seine Kritik. Den Stellenwert hingegen vernachlässigt bzw. übersieht er, welchen dort der Begriff des Sittlichen, der sittlichen Verhaltensweise im Äußeren und der zugrunde liegenden Einstellung im Inneren, erstmals und zugleich letztmals in der kontraktualistischen Tradition gewinnt. Die Lehre des objektiven Geistes ist für Hegel Rechtsphilosophie. Sie rekonstruiert verschiedene Arten von Rechten mitsamt den korrelativen Pflichten, die sich im Stufengang der historischen Selbstentwicklung des menschlichen Geistes manifestiert und so einen Teil der ihm eigenen Bestimmung zum Dasein gebracht haben sollen. Mit ihnen ist ein Moment seines geistigen Ansichseins ins Fürsichsein erhoben, will sagen dem Menschen ein höheres Verständnis seiner selbst geworden. 92 Dabei unterscheidet Hegel diese Vgl. EPW, § 487. Vgl. GPR, § 29, 258. 92 Zur Eigentümlichkeit des Hegel’schen Rechtsdenkens im Verhältnis zur Naturrechtstradition siehe EPW, § 502 A. Vgl. Bobbio, Norberto: Hegel und die Natur90 91

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Rechte und Pflichten mit Blick auf ihren begrifflichen Gehalt. Er kennt abstrakte, moralische und sittliche Rechte bzw. Pflichten; die klassifikatorische Differenz ist im Wesentlichen eine dessen, wozu man da als ihr Inhaber jeweils berechtigt oder verpflichtet ist. Hier ist es, wo sich das Sachfeld der Sitte einen neuartigen, bis dahin ungekannten rechtlichen Ort erobert. In Hegels Denken wird Sittlichkeit selber zu einer, und nach der des abstraktes Rechts und der Moralität sogar reichhaltigsten, objektiv-geistigen Gestalt, womit nun im Gegensatz zu Kants Wortgebrauch nicht mehr dasselbe gemeint ist. Mithin erhält die Sitte bei Hegel ihrerseits die Form des Rechts. 93 Zur Sprache kommen damit jedoch nicht irgendwelche beliebigen Formen gesellschaftlicher Praxis. Anders als bei Rousseau, für den mehr nur entscheidend ist, dass solche gepflegt werden, weniger aber, welche das im Einzelnen sein mögen, sind sie für Hegel gerade nicht austauschbar. Seine Rechtsphilosophie traktiert lediglich einige, und zwar diejenigen Sitten, welche Gegenstand gewisser Rechte und Pflichten, nämlich derjenigen sind, wie es in der Encyklopädie heißt, welche sich »durch die Natur der Sache, d. i. den Begriff« (EPW, § 502 A), bestimmen. Hegels Auffassung von Sittlichkeit hat gerade nichts von einem platten Konventionalismus an sich, der nicht zwischen vernünftigen und unvernünftigen Konventionen distinguiert. 94 Und die betreffenden Formen von Gesellschaft, welche im Begriff der Sittlichkeit angelegt sind, sind dreierlei. Es handelt sich dabei um die von Liebe beherrschte Praxis der Familie, um die Praxis der bürgerlichen Gesellschaft, welche die marktmäßige Befriedigung von Bedürfnissen zu ihrer Mitte hat, sowie um die Praxis des politischen Staates, worin sich der objektive Geist beschließt. In ihm gelangt die Freiheit, welche das Feld der als vernünftig ausgezeichneten Sitten insgesamt ausmacht, zu vollendeter Realisierung. 95

rechtslehre, in: Filosofiký Časopis 15/3 (1967), S. 322–344; Seubold, Günter: Hegels ›Aufhebung‹ des Naturrechts, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 84/3 (1998), S. 326–339. 93 Vgl. Ilting, Karl-Heinz: Naturrecht und Sittlichkeit. Begriffsgeschichtliche Studien, Stuttgart 1983, S. 244 ff. 94 Vgl. Neuhouser, Frederick: The Idea of a Hegelian ›Science of Society‹, in: Houlgate, Stephen/Baur, Michael (Hg.): A Companion to Hegel, Oxford 2011, S. 284 ff. 95 In der Encyklopädie bemerkt Hegel, und stimmt darin mit dem Rousseau des zweiten Discours überein, dass sich sämtliche Rechte und Pflichten, welche der Mensch hat, lediglich in gesellschaftlichen Zusammenhängen herausbilden. Ihr Träger ist allemal ein soziales Wesen: »Die Gesellschaft ist […] der Zustand, in welchem allein das

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Uns aber, die wir der Lösung für die Problemstellung der Ontologie des Sozialen auf der Spur sind, soll es gegenüber dem Spezifischen dieser sozialen Formen, welche Hegel begrifflich einfängt, lediglich um ihre generelle Charakterisierung zu tun sein, die darin beschlossen liegt. Wenn es nämlich auch nur wenige sittliche Sphären geben soll, die dadurch vor allen anderen herausragen, dass sich die Rechtsphilosophie auf sie erstreckt – eben die familiale, die bürgerliche und die politische –, mag daran doch für die sozialontologische Frage etwas zu lernen sein über das, was man sich überhaupt unter Sitte vorzustellen hat. Ob man darüber hinaus zu dieser anstatt jener oder auch nur zu irgendeiner berechtigt und verpflichtet und wie genau dann ihr Begriff spekulativ zu entwickeln ist, brauchen wir uns nichts angehen zu lassen. Ich will also versuchen, Hegel ganz so wie Rousseau für die Sozialontologie einzuspannen, wohl wissend, dass dieser ebenso wie jener mit seiner Philosophie ganz anderes im Auge hat. Hegels Erklärung der Sitte als einer solchen ist verglichen mit dem, was sich bei Rousseau darüber findet, ungleich stärker ausgearbeitet und auf den Punkt gebracht. Anstatt diese für etwas ganz anderes in Dienst zu nehmen, und zwar für die Legitimierung staatlicher Gesetze, würdigt er sie, jedenfalls diejenige in Familie, bürgerlicher Gesellschaft und politischem Staat, rein um ihrer selbst willen, eben als eigene und letzte Gestaltung des objektiven Geistes. Entsprechend differenzierter lässt er sich und muss er sich darauf einlassen. Sein diesbezügliches Verständnis zieht Hegel großteils in eine Formulierung zusammen, welche sich in den einleitenden Paragraphen zum dritten Teil der Grundlinien findet. Diese lautet auf »allgemeine Handlungsweise« (GPR, § 151). Jedoch legt sich das Allgemeine einer derartigen Handlungsweise bei näherem Zusehen in drei verschiedene Hinsichten auseinander. 96 Eine jede Sitte ist zunächst dahingehend allgemein, als sie nicht nur einmal, sondern fortgesetzt vollzogen wird. Die erste für sie konstitutive Hinsicht von Allgemeinheit betrifft den Umfang der Anwendungsfälle, welche sie besitzt: Die jeweilige Handlungsweise wird Recht seine Wirklichkeit hat« (EPW, § 502 A). Allerdings entwickelt Hegel diesen nicht näher qualifizierten Begriff des Sozialen nirgendwo. 96 Darum sind die Ausführungen von Quante zu ergänzen, der Hegels Handlungsbegriff allein aus dessen Überlegungen zur »Moralität« herausarbeitet und diese Dimension außen vor lässt. Vgl. Quante Michael: Hegels Begriff der Handlung, Stuttgart-Bad Canstatt 1993, S. 134 ff.

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ihrem Begriff nach in allen einschlägigen Lagen und Umständen praktiziert. Durch die verwirrende Fülle menschlichen Verhaltens legt sie eine Schneise der Einheit, insofern das fragliche Verhalten wiederholt gepflegt wird. Hegel kennzeichnet sie darum als eine durch Übung erworbene »Gewohnheit« 97, als eine selbstverständlich gewordene, im konkreten Tun und Lassen sich immer wieder bestätigende Üblichkeit des gesellschaftlichen Lebens. Sich zu einer solchen zu bestimmen, heißt, sich immer zu dieser Weise des Handelns zu bestimmen. Mit einem an die Nikomachische Ethik des Aristoteles angelehnten Wort ist das Sittliche eine »zweite Natur« des Menschen. 98 Weiterhin ist eine Sitte für Hegel auch darin etwas Allgemeines, dass sie nicht einen Menschen allein angeht, sondern stets viele umgreift. Diese ihre zweite Hinsicht von Allgemeinheit bezieht sich auf die Menge der Personen, welche ihr folgen: Eine sittliche Handlungsweise wird ihrem Begriff nach von jedem der Beteiligten ausgeübt. Sie vereinheitlicht das menschliche Verhalten in dem Maße, als es bei allen gleich ausfällt. Sich dazu zu bestimmen, meint, sich zu einer Weise des Handelns zu bestimmen, zu der sich jeder bestimmt. Wie Hegel sagt, ist der Einzelne »Glied« (GPR, § 157) 99 oder »Mitglied« (GPR, § 158) 100 des gesellschaftlichen Zirkels einer Familie, der bürgerlichen Gesellschaft oder des politischen Staates. Neben allen Unterschieden zu den Anderen, welche daran ebenso teilhaben, lebt der Einzelne auch und vorrangig Gemeinsamkeiten dar, die ihn mit jenen Anderen verbinden. 101 Vgl. GPR, § 268; GPR, § 29 N, 142 N, 151 N; GPR, § 140 Z, 151 Z; EPW, §§ 485 f. und passim. 98 Aristoteles bemerkt, dass »die Gewohnheit schwer zu ändern [ist], weil sie der Natur gleicht« (EN 1152a30 f.) Ausdrücklich verwendet Aristoteles lediglich den Terminus ἑτέρα φύσις, andere Natur, das aber im Zuge zahlentheoretischer Überlegungen innerhalb seiner Metaphysik (vgl. Met. 987b33). Die Rede von Δευτέρα φύσις, zweite Natur, im Sinne der Gewohnheit findet sich erst bei Galenos von Pergamon, um die Wende des 2. zum 3. Jahrhundert n. Chr. Siehe dazu Ranchio, Filippo: Dimensionen der zweiten Natur. Hegels praktische Philosophie, Hamburg 2016; Puzic, Maik: Spiritus sive Consuetudo. Überlegungen zu einer Theorie der zweiten Natur bei Hegel, Würzburg 2017. 99 Vgl. GPR, § 159, 163 A, 171, 187, 207; GPR, § 33 Z und passim. 100 Vgl. GPR, § 158, 187, 221, 244, 258, 261 A und passim. 101 Die »wahrhafte, sittliche Gesinnung« ist daher nach Hegel das »Vertrauen« (EPW, § 515). Gemeint ist im Kern das Vertrauen eines Menschen darauf, dass seine Mitmenschen sich der gewohnten Sitte gemäß verhalten. Vgl. GPR, § 147. 97

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Zu guter Letzt ist eine Sitte auch deshalb allgemeinen Charakters, weil sie nicht bloß eine einzige Umsetzung, sondern sehr wohl Abwandlungen kennt. Diese dritte Hinsicht von Allgemeinheit ist eine hinsichtlich des Ausmaßes an Bestimmtheit, mit welcher jene daherkommt: Eine derartige Handlungsweise ist ihrem Begriff nach lediglich abstrakt festgelegt. Wesensgemäß bleibt sie unterbestimmt und konkretisierungsbedürftig. 102 Die Einheitlichkeit, welche sie menschlichem Verhalten gibt, ist eine, die mit vielförmigen, bald kleineren, bald größeren Schattierungen einhergeht. Sich zu einer sittlichen Weise des Handelns zu bestimmen, bedeutet, sich zu etwas zu bestimmen, das trotz allem bald so und bald anders ausfällt. Die familiale Sitte z. B. hängt Hegel zufolge gerade von der Besonderheit der jeweiligen Familienmitglieder ab; deren ganzes Tun und Lassen, sofern es nur in ihrer Liebe füreinander gründet und so dem Begriff der Familie genügt, konkretisiert sich nach der je eigenen sowie der Individualität der übrigen Mitglieder unterschiedlich und darum auch von Familie zu Familie anders. Und so verhält es sich auf seine Art desgleichen im Falle der bürgerlichen und der politischen Sitte. 103 Doch damit nicht genug. Zwei weitere Merkmale sind noch hinzuzufügen. Einerseits spricht Hegel sittliche Rechte und Pflichten als »ethische« (GPR, § 148 A) Rechte und Pflichten an. Das alte, aus dem Griechischen stammende Substantiv ›Ethos‹ aber hat mit leicht abgewandelter Schreibung eine doppelte Semantik, was sich schon die Ethik des Aristoteles zunutze macht. Als ἔθος bedeutet es Sitte, Gewohnheit, Brauch, als ἦθος Gesinnung, Charakter, Sinnesart. 104 Und Hegel bringt mit seinem Konzept von Sittlichkeit, ähnlich wie bereits Rousseau, einen aristotelischen Gedanken insofern zurück, als er wie jener beides zugleich im Blick hat. Der allgemeinen Handlungsweise im Äußeren entspricht stets eine allgemeine Gesinnung im Inneren: Die Rede von Sitte soll immer auch eine der Sitte gemäße, sprich ebenso eingewöhnte wie mit Anderen geteilte und doch verschiedenartig nuancierte, Sinnesart beinhalten. 105 Nicht verstellen sich die Vgl. GPR, § 145, 150 A, 154. Diesen Punkt berührt Reinhardt, Frithjof: Bemerkungen zu Hegels Begriff der Sitte, in: Hegel-Jahrbuch 1993/1994, Berlin 1995, S. 371. 104 Vgl. Aristoteles: EN 1103a17. Siehe dazu Kersting, Wolfgang: Sitte, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9: Se-Sp, Basel 1995, Sp. 898. 105 Vgl. GPR, § 151 N; EPW, §§ 485 f. 102 103

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Menschen und legen eine bloß äußere Rechtschaffenheit an den Tag, wo sie auf sittliche Weise handeln, indem sie ihr äußeres Verhalten nur den herrschenden Bräuchen anpassen. Vielmehr tun sie, was sie tun, ohne Bruch aus eigener, innerer Überzeugung. Sie zeigen, wie es in einer Nachschrift von Hegels Vorlesung zur Philosophie der Geschichte des Wintersemesters 1830/31 heißt, eine »innere Rechtschaffenheit der Gesinnung« (VPW IV, S. 1212). Ihr Charakter kommt darin zu aufrichtigem Ausdruck, dass sie sich frei zu etwas bestimmen, von dem sie wissen und wollen, dass auch die Anderen sich dazu bestimmen. 106 Andererseits knüpft sich daran an und spezifiziert das Vorige, dass auf dem begrifflichen Niveau der »Sittlichkeit« die bestenfalls unmittelbare Übereinstimmung überwunden ist, mit der das vorangegangene Kapitel der »Moralität« geendet hat, nämlich der Übereinstimmung zwischen partikulärem Wohl und universalem Gutem. Denn unbeschadet aller Moralitätspolemik bleibt deren Prinzip rechtlich verbürgter Selbstbestimmung des Individuums in Hegels Sittlichkeitskonzeption aufgehoben. 107 Nur finden die Menschen ihre Vorstellung vom glücklichen genauso wie die vom richtigen Leben nicht mehr, wenn überhaupt, zufälligermaßen in den geltenden gesellschaftlichen Gepflogenheiten erfüllt. Das universale Kriterium innerer Selbstbestimmung steht jetzt nach Hegel notwendig in Eintracht mit dem individuellen, weil es sich geschichtlich damit vermittelt hat. Auf dem historischen Bildungsweg, welchen der menschliche Geist durchlaufen hat, hat es jenes zu sich aufgehoben und sich gemäß gemacht. 108 Im Begriff des Sittlichen hat das Gute über das Wohl übergegriffen, ohne dabei dessen Eigenrecht anzutasten, und sich in es hineingebildet. Die bloß gesollte Übereinstimmung zwischen allgemeinem Vgl. Wood, Allen: Hegel’s Political Philosophy, in: Houlgate, Stephen/Baur, Michael (Hg.): A Companion to Hegel, Oxford 2011, S. 301. 107 Das fehlt der antiken, von Hegel als substanziell apostrophierten Sittlichkeit. Den Sitten gegenüber bleibt der Einzelne unwesentliches Akzidens, weil sich an seine Innerlichkeit keine Rechte knüpfen. Erst in der modernen Gestalt freier Sittlichkeit wird die Selbstbestimmung des Individuums wesentlich; jenes hat moralische Rechte und darf sich selbst bestimmen, so dass die Sitten dadurch getragen sein müssen. Vgl. Ritter, Joachim: Moralität und Sittlichkeit. Zu Hegels Auseinandersetzung mit der Kantischen Ethik, in: Kaulbach, Friedrich/Ders. (Hg.): Kritik und Metaphysik. Studien, Berlin 1966, S. 331–351. 108 Vgl. Wood, Allen: Hegel’s Ethics, in: Beiser, Frederick C. (Hg.): The Cambridge Companion to Hegel, Cambridge 1993, S. 225. 106

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Der Sachbereich der Sitte: das Mit-, Für- und Gegeneinander

Gutem und privatem Wohl ist überwunden. Der Einzelne hat seine Besonderheit aufgegeben, die nicht mit dem Allgemeinen verträglich ist. Er heftet sein persönliches Glück an das, was ihm zugleich das für alle Richtige ist. So ist er imstande, das eine wie das andere ohne Vernachlässigung einer der beiden Seiten zu verfolgen: Er findet sein geläutertes Wohl in solchem, was dem Guten entspricht, und zwar deshalb, weil es diesem entspricht. Und das derart in sich gegliederte Ethos der Individuen soll es eben sein, das sich in den äußeren Sitten der sozialen Welt, welcher sie angehören, widerspiegelt. 109 Was ist damit erreicht? Mit der Hilfe von Rousseau und Hegel habe ich aufzuhellen versucht, was es ist, das in Kants Weltbegriff des Menschen lediglich ahnungsweise angedeutet liegt. Dass wir »Weltwesen« sind, heißt für Kant, dass wir in irgendeinem Maße an der gesellschaftlichen Praxis mit Anderen teilnehmen und mit den jeweiligen Formen, darin sich diese in ihrem historischen Verlauf eingerichtet hat, vertraut sind. Das »große Spiel des Lebens«, die »Verhältnisse zu anderen Menschen und wie’s im menschlichen Leben zugeht« stellt immer auch, und wird von Kant wesentlich daraufhin angesehen, ein Geschehen des Miteinander, Füreinander und Gegeneinander dar. Und ebendieses die Existenz der Individuen mehr oder weniger durchdringende Phänomen der Sitte – im breitestmöglichen Sinne genommen, so dass damit sämtliche der faktisch gelebten Ordnungsformen menschlicher Gesellschaft abgedeckt sind –, habe ich anhand von Rousseaus politiktheoretischen Erwägungen zur sittlichen Freiheit (liberté morale) und Hegels rechtsphilosophischen Ausführungen zur Sittlichkeit nach einigen seiner Attribute herausgestellt. Worauf es dabei nicht ankommt, um das zu unterstreichen, ist der jeweilige begriffliche Rahmen, also derjenige der politischen bzw. Rechtsphilosophie. Die Summe, die aus der Beschäftigung mit Rousseau und Hegel zu ziehen ist, lautet vielmehr, dass ein Einzelner, insofern er in eine soziale Sphäre hereinsteht und an Sittlichem teilhat, Das ist ein gravierender Unterschied zwischen dem Sittlichkeitsdenken Rousseaus und Hegels, dass ersterer die in einem Gemeinwesen geübten Sitten tendenziell so weit wie möglich getrieben sehen möchte – denn je weniger Differenz zwischen den Menschen und je mehr Identität besteht, umso größer die Chance auf wiederkehrend einstimmige Verabschiedung von Gesetzen. Der letztere hingegen sieht in den in Familie, bürgerlicher Gesellschaft und politischem Staat praktizierten Sitten das »Recht der Individuen an ihre Besonderheit« (GPR, § 154) aufgehoben, obschon zu einem Moment neben anderen herabgesetzt.

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kein von Anderen ganz und gar losgelöstes, sondern ein immer auch auf sie bezogenes Dasein hat. Eine Weise äußeren Handelns nämlich verdient den fraglichen Titel der Sitte nur, wenn u. a. das gegeben ist, dass sie – und in dem Maße, als sie – in einer menschlichen Gesellschaft nicht bloß weitum üblich ist, sondern sich in ihr eine habitualisierte Geisteshaltung reflektiert. Darauf kommt es an, dass zum Phänomenkreis der Sitte mit hinzugehört, jedenfalls dort, wo die betreffende Sitte eine echte ist, dass auch die innere Einstellung, welche die Menschen dazu haben, eine dementsprechende Form aufweist. Diese ist bei den Beteiligten ebenso sehr sozial geformt und zu einer selbstverständlichen ausgebildet. Die Teilhabe an Gesellschaft zeigt sich mithin nicht allein im Äußeren, sie prägt sich auch im Inneren der Individuen aus. 110 Daran ändert nichts, dass es zum einen in einer Gesellschaft natürlich stets auch solche Sitten gibt, die nicht von allen geteilt, nicht immer und überall befolgt oder nicht von jedem geschätzt werden. Sei es, dass sie jemandem in einer ganz bestimmten Situation ungelegen sind, sei es, dass er ihnen grundsätzlich nichts abgewinnen kann, er hält sich nur so an sie, wenn er sich überhaupt daran hält, dass er sich selber dazu überwinden muss. Das will ich gar nicht in Abrede stellen; ich will kein idealisiertes Bild von der gesellschaftlichen Realität zeichnen. Ganz unbezweifelt existieren etliche Abweichungen von dem, was eine Sitte als eine solche auszeichnet. Das bedeutet aber nicht, dass es gar keine solche gibt. Durchschnittlich oder annähernd zeigt das Tun und Lassen der Menschen mit-, fürund gegeneinander durchaus irgendwelche geordneten Formen. Und es kommt auch nicht allemal durch Selbstüberwindung zustande, so dass es sich vollends in eine bloß äußere Rechtschaffenheit ohne innere Grundlage auflösen ließe. Daran ändert auch nichts, dass zum anderen eine gewisse, etwa für die hochindustrialisierten Dienstleistungsgesellschaften unserer Zeit symptomatische Pluralisierung von Lebenslagen und Lebensstilen Individualisierungsfolgen zeitigt. Nach wie vor findet sich der Einzelne in irgendwelchen lebendig gepflegten Sitten wieder – und sei es auch in denen einer individualisierten Lebensführung –, welche Siehe dazu die klassische Abhandlung Tönnies, Ferdinand: Die Sitte, Frankfurt a. M. 1909. Tönnies identifiziert das »Subjekt der Sitte« als »das ›Volk‹« (S. 14). Doch auf die selbstgestellte Frage, wer denn dieses Volk sei, belässt er es bei der vagen Antwort: »ein geheimnisvolles Wesen, nicht leicht zu begreifen. Fast leichter zu fühlen als zu denken«.

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Der Sachbereich der Sitte: das Mit-, Für- und Gegeneinander

er in irgendeinem Grade internalisiert hat und die so zu einem Bestandteil seines eigenen Daseins geworden sind. Das ist auch die verblüffende Pointe von Hegels Analyse der bürgerlichen Gesellschaft. Verblüffend deshalb, weil die marktmäßige Befriedigung individueller Bedürfnisse gerade den »Verlust der Sittlichkeit« (GPR, § 181) zu bedeuten scheint. 111 Gesellschaftliche Praxis kann jedoch ganz unterschiedliche Ausprägungen aufweisen. So etwas wie Gemeinwohlorientierung ist gar kein Konstituens; man kann sie für richtig halten, ohne das Glück der Anderen mit im Blick zu haben. Und so öffnet Hegel die Augen des Lesers dafür, dass sich die Marktteilnehmer, indem sie am System der Arbeit und des Tauschs teilnehmen, sehr wohl frei zu etwas bestimmen, von dem sie wissen und wollen, dass auch die Anderen sich dazu bestimmen, und das sie sowohl glücklich macht als auch für das Richtige erachten. Individualität hochzuhalten und durch Arbeiten und Tauschen zu befriedigen, ist in der bürgerlichen Gesellschaft selbst nichts Individuelles. Das ist stattdessen die ihrem Begriff nach von allen geteilte, immer und überall befolgte sowie von jedem geschätzte Sitte, am eigenen Wohl orientiert zu sein. Sie macht den Einzelnen mit zu dem, wer er je ist. Es gilt hier nicht minder, dass das Selbst der Betreffenden – statt ein absolutes, bloß besonderes zu sein – ebenso sehr ein relatives und allgemeines ausmacht, indem und insoweit es ein sittliches ist. 112 In seiner Phänomenologie des Geistes hat Hegel für das sittliche Individuum ein äußerst prägnantes, weitberühmtes Diktum aufgebracht. Dieses steht dort allerdings in einem anderen Kontext, und zwar dem einer Theorie des Selbstbewusstseins. Man kann es aber auch als griffigen Ausdruck für das eben Dargelegte und noch weiter Auszulegende nehmen. Es besagt: »Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist« (PhG, S. 108). Dass der von Hegel damit eigentlich beschriebene Kampf um Anerkennung zwischen Herr und Knecht sowie seine Überwindung durch das allgemeine Selbstbewusstsein sozialontoloVgl. EPW, § 523. Wenn Habermas vom kommunikativen Handeln als »postkonventionelle[m] Einverständnishandeln« (TkH I 383) spricht, das auch Apel zufolge den Verlust von »Gruppenmoralen« zu »kompensieren« hat, handelt es sich dabei um eine Überdramatisierung. (Apel, Karl-Otto: Transformation der Philosophie, Bd. 2: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt a. M. 1973, S. 359 f.) Eine Überdramatisierung freilich, durch welche sich die Diskurstheorie allererst selbst motiviert. Vgl. Marquard, Odo: Das Über-Wir. Bemerkungen zur Diskursethik, in: Stierle, Karlheinz/Warning, Rainer (Hg.): Das Gespräch, München 1984, S. 41.

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Diesseits von Individualismus und Kollektivismus: hinter das Bewusstsein zurück

gische Implikationen besitze, ja sogar das Grundschema aller sozialen Beziehungen abgebe, wie einige Autoren glauben, soll damit allerdings nicht gesagt sein. 113

3.

Weder »présence originelle d’autrui« (Sartre) noch »Teilhabe am Erlebnis des anderen in der inneren Zeit« (Schütz)

Der Punkt, welcher für mich der maßgebliche ist, ist damit vorerst nur umkreist. Der in Sachen Sozialontologie allein ausschlaggebende Gedanke, welcher in Kants anthropologischen Begriff von Welt, Rousseaus politiktheoretischem Begriff sittlicher Freiheit und Hegels rechtsphilosophischem Begriff der Sittlichkeit eingebaut ist, bleibt noch in seiner nötigen Schärfe herauszuarbeiten. Bevor ich das in Angriff nehme, sei zur deutlichen Abgrenzung aufgezeigt, was ich damit nicht im Sinn habe. Denn nicht peile ich an, was einige Philosophen und Soziologen untersuchen, indem sie hinter das faktische Ereignis des gesellschaftlichen Verkehrs der Menschen miteinander, füreinander und gegeneinander zurückgehen, hin zu so etwas wie einem dem noch einmal zugrunde liegenden wechselweisen Bewusstsein der potenziellen Teilnehmer. Max Schelers »Wahrnehmungstheorie des fremden Ich« 114, bis zu einem gewissen Ausmaß Charles Cooleys Begriff der durch Gesichtsfeldbeziehungen (»face-to-face« 115) reproduzierten Primärgruppe, Sartres unter dem Titel »Der Blick (Le regard)« laufende Reflexion zur ursprünglichen Anwesenheit Anderer und Schützens Analyse von Egos Teilhabe an Alters Erlebnisstrom – all das sind nur ein paar Beispiele für derlei Untersuchungen. Sie wollen demjenigen Worte geben, worauf sich alle Interaktion unter AnweSo Williams, Robert R.: Hegel’s Ethics of Recognition, Berkeley/Los Angeles 1997; Ikäheimo, Heikki: Holism and Normative Essentialism in Hegel’s Social Ontology, in: Ders./Laitinen, Arto (Hg.): Recognition and Social Ontology, Leiden/Boston 2011, S. 145–209. Für eine überzeugende Kritik dieser Auffassung siehe Krijnen, Christian: Recognition. Future Hegelian Challenges for a Contemporary Philosophical Paradigm, in: Ders. (Hg.): Recognition. German Idealism as an Ongoing Challenge, Leiden 2014, S. 99–127. 114 Scheler, Max: Die Sinngesetze des emotionalen Lebens, Bd. 1: Wesen und Formen der Sympathie, a. a. O., S. 253. 115 Vgl. Cooley, Charles H.: Social Organization. A Study of the Larger Mind, New York 1909, S. 23. 113

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Weder »présence originelle …« noch »Teilhabe am Erlebnis …«

senden oder Kommunikation überhaupt gründet, ohne selber schon in ein solches interaktives bzw. kommunikatives Geschehen verwickelt zu sein, und das insofern das primum movens des sozialen Lebens abgeben soll. Machen wir uns das stellvertretend und in aller Kürze anhand der beiden letztgenannten Autoren klar. In seinem 1943 erschienenen Hauptwerk L’être et le néant wirft Sartre zu Beginn des dritten Teils »Das Für-Andere [Le pour-autrui]« die Frage auf, ob wir uns eigentlich der Existenz anderer Menschen sicher sein dürfen. 116 Er kritisiert das in der neuzeitlichen Philosophie dominante Modell, welches die Verbindung von Ego zu Alter als »connaissance« 117 zu denken vorsieht. Dieses sei nicht imstande, das Problem des Fremdpsychischen zu meistern. Denn es gehe davon aus, dass man überhaupt nur so Erkenntnis von einem Anderen zu erlangen vermag, dass man ihn sich wie irgendeine Sache sonst gegenüberstelle: dass er »Gegenstand [objet]« 118 meiner Erkenntnis ist. All unsere Erfahrung soll von dieser einen Sorte und also Erfahrung von Gegenständen sein. Sie soll denjenigen, der sie macht, von dem, was er da erfährt, unbetroffen zurücklassen. 119 Selbst Husserl, Hegel und Heidegger, obgleich sie durchaus im Begriff stehen, wie Sartre konzediert, die Einzigkeit des vergegenständlichenden Verhaltens zu den Dingen zu überwinden, entwürfen die Erfahrung, welche ein Subjekt von einem anderen haben kann, letzten Endes doch als indifferente Erkenntnis eines Objekts. Die Gewissheit des Einzelnen hinsichtlich des Daseins eines fremden Subjekts als eines solchen vermögen sie laut Sartre nicht nachzuweisen. Ja, die Verlegenheit, mit dem Solipsismus nicht definitiv Schluss machen zu können, soll so lang fortbestehen, wie jenes Modell des Erkennens von Objekten in exklusiver Geltung verbleibt. 120 Aufgrund dessen sucht Sartre, eine andere und grundlegende Art, sich zu anderen Menschen zu verhalten, phänomenologisch zum Aufweis zu bringen, eine, die nicht eine dem Anderen unangeZur Geschichte dieser Fragestellung siehe Avramides, Anita: Other Minds, London/New York 2001. 117 Sartre, Jean-Paul: L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Paris 1943, S. 288. 118 Ebd., S. 287. »Mit anderen Worten, man hat allgemein das Problem des Anderen betrachtet, als wenn die erste Beziehung, durch die der Andere sich enthüllt, die Gegenständigkeit [l’objectité] wäre« (S. 310). 119 Vgl. ebd., S. 286 f. 120 Vgl. ebd., S. 288. 116

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messene Weise der Begegnung vorschreibt. Er setzt mit folgendem Szenario an: Jemand späht, aus Eifersucht, Neugier, Verdorbenheit, oder was es sei, durch ein Schlüsselloch und beobachtet verstohlen eine Begebenheit. Plötzlich meint er, Geräusche hinter sich im Flur zu vernehmen. Aus seiner Selbstverlorenheit gerissen realisiert er, dass er demjenigen, der da herannaht, als Voyeur erscheinen muss – und schämt sich dessen. Die Empfindung der Scham ist es, worauf Sartre sich stützt. 121 Sich schämen bedeutet nämlich einerseits, so die Zergliederung, welche er anstellt, in ein reflexives Verhältnis zu sich zu treten. Die Aufmerksamkeit geht schlagartig weg von dem, was hinter der Tür geschieht, und richtet sich auf den Beobachter selber und dessen eigenes voyeuristisches Treiben. Man schämt sich für sich. Andererseits ist Scham ein durch Dritte vermitteltes Selbstverhältnis: »So ist die Scham sich seiner vor Anderen schämen« 122. Sich schämen heißt, den Blick eines Anderen mitvollziehend zu sehen, wie man von diesem gesehen wird. Man schämt sich vor einem anderen Menschen. Und laut Sartre bietet das Durchleben von Scham (wie das anderer Zustände auch, beispielsweise von Stolz) die unzweifelhafte Gewähr dafür, kein einsames Ich zu sein. Im Angesicht eines fremden Ich werde ich meiner als »Gegenstand-für-Andere [objet-pour-autrui]« 123 ansichtig und in eins damit seiner als »Subjekt-Anderer [autrui-sujet]« 124. Alles liege daran, wie ich hierbei zu dem Herannahenden gestellt bin. Denn noch vor aller Negierung der Subjektivität des Anderen und der Nivellierung seiner zu einem Objekt inter alia soll es sein, dass ich ihn unmittelbar erfasse, dass ich ihn als das erfasse, was er ist, nämlich Subjekt. Indem mir unversehens wird, dass ich beim unbemerkten Eindringen in die Privatsphäre der von mir Beobachteten ertappt und, weil solches voyeuristische Tun aus Sicht der Gesellschaft verpönt ist, entsprechend abqualifiziert werde, erlebe ich nach Sartre nichts anderes, als dass man mich von mir selbst zur Objektivität entfremdet. Im Moment des Erblicktwerdens vergegenwärtige das Subjekt, dass es als Objekt erblickt wird; zum Objekt aber Siehe dazu Honneth, Axel: Die Gleichursprünglichkeit von Anerkennung und Verdinglichung. Zu Sartres Theorie der Intersubjektivität (405–538), in: Schumacher, Bernard N. (Hg.): Jean-Paul Sartre. Das Sein und das Nichts, Berlin 2003, S. 145 ff. 122 Sartre, Jean-Paul: L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, a. a. O., S. 277. 123 Ebd., S. 319. 124 Ebd., S. 337. 121

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Weder »présence originelle …« noch »Teilhabe am Erlebnis …«

könne es lediglich werden durch den Blick eines Subjekts. Das Erlebnis des eigenen Gegenstandseins soll Hand in Hand mit dem des Subjektseins eines Anderen gehen, weil Gegenständlichkeit auf Rechnung der objektivierenden Stellung gehe, welche jener seinerseits zu mir einnimmt: »Und in der Erfahrung des Blicks, in dem ich mich als nichtenthüllte Gegenständigkeit [objectité] erfahre, erfahre ich direkt und mit meinem Sein die unerfassbare Subjektivität [subjectivité] des Anderen.« 125 Auch wenn sich bei Sartre kein wirklich scharf zugeschnittener Begriff von Vergegenständlichung findet, wie ich ihn in Kapitel VIII.2 aufstellen werde, und vielmehr nahezu jedweder Blick, den man auf Andere richtet, in der Tendenz zu stehen scheint, jene in eine Distanz zu sich zu bringen, soll bei alledem gar nicht entscheidend sein, dass irgendjemand leibhaftig zugegen ist. Denn Sartre spinnt das Szenario weiter: Der Voyeur richtet sich auf, sucht mit den Augen den leeren Flur ab, sieht, dass es blinder Alarm war, und atmet auf. Und doch, selbst dann: »Statt dass der Andere nach meiner ersten Alarmierung verschwunden wäre, ist er jetzt überall, unter mir, über mir, in den Nebenzimmern, und ich spüre zutiefst mein Für-Andere-Sein; es kann sogar sein, dass meine Scham nicht verschwindet« 126. Der Andere mag also wirklich oder nur vermeintermaßen anwesend sein, ja es mag sich sogar lediglich um so etwas wie einen Wachtraum handeln, die Auswertung des menschlichen Gefühls der Scham, welche Sartre gibt, bleibe sich doch allemal gleich. Leibhaftige Anwesenheit eines anderen Menschen ist dafür keine Voraussetzung. Alsdann geht Sartre zwar dahin fort, die eingetretene Situation als eine mögliche Basis dafür auszuweisen, dass das angeblickte, vermittels gesellschaftlicher Normen beurteilte Subjekt seine durch das anblickende und beurteilende Subjekt erzeugte Selbstentfremdung wieder wettmacht. Kraft einer »zweiten Negation [seconde négation]« 127 soll es imstande sein, sich mit »gestärkter Selbstheit [ipséité renforcée]« 128 wiederherzustellen. Was auch immer das heißen könnte, ich beschränke mich auf das Zwischenfazit, zu dem man mit Sartre kommt und wonach das »Für-Andere-Sein ein ständiges Faktum meiEbd., S. 329. Siehe dazu Schroeder, William R.: Sartre and his Predecessors. The Self and the Other, London 1984, S. 206 ff. 126 Sartre, Jean-Paul: L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, a. a. O., S. 336. 127 Ebd., S. 347. 128 Ebd., S. 350. 125

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ner menschlichen Realität ist« 129. Der Vorfall soll sein Charakteristikum darin haben, dass er mich gerade nicht unverändert lässt. Ganz im Gegenteil, er hat mich, wie Sartre sagt, »affiziert [affecté]« 130. Der tatsächliche oder eingebildete messende Blick des Anderen treffe mich in meinem Innersten, treffe die Art, wie ich bin. Er soll mich zu etwas machen, was ich zuvor nicht war, und das ist ein Gegenstand für ein anderes Subjekt. In diesem Sinne komme in der Bewusstseinsstruktur, die das Phänomen der Scham konstituiert – dem durch einen Anderen vermittelten reflexiven Bewusstsein meiner selbst –, jener Andere anders als in der Bewusstseinsstruktur des Erkennens zu ursprünglicher Anwesenheit. Sich schämen impliziere die »présence originelle d’autrui« 131. Auf ähnliche Weise hintergreift auch Schütz in einem seiner späteren Aufsätze aus dem Jahr 1951 den gesellschaftlichen Vorgang der Interaktion unter Anwesenden, also das Mit-, Für- und Gegeneinander von Menschen, die gleichzeitig vor Ort sind. Die Frage, welcher er unter dem Titel Gemeinsam musizieren. Die Studie einer sozialen Beziehung nachgeht, schlägt nicht, wie man vielleicht meinen möchte, ins spezielle Ressort der Musiksoziologie. Sie ist durchaus genereller Natur und wird lediglich am Beispiel der Darbietung eines Musikstücks entwickelt und illustriert. Sein »Grundproblem«, wie Schütz dem Leser zu wissen gibt, besteht nämlich darin, »ob der kommunikative Prozeß wirklich die Grundlage aller möglichen sozialen Beziehungen ist, oder ob im Gegenteil alle Kommunikation die Existenz einer Art von Kommunikation voraussetzt, welche, obwohl sie eine unumgängliche Bedingung aller möglichen Kommunikation ist, am Kommunikationsprozeß nicht teilhat und auch nicht von ihm erfaßt werden kann« 132.

Schütz argumentiert gegen die erste und zugunsten der zweiten Option. Alle Kommunikation soll auf einer Voraussetzung aufruhen, die nicht in die Kommunikation eingeht und die für diese sogar unEbd., S. 339. Ebd., S. 286. 131 Ebd., S. 314. Sartre spricht auch von »unmittelbarer Anwesenheit [présence immédiate]« (S. 316) und »Anwesenheit ohne Distanz [présence sans distance]« (S. 328). Siehe dazu Theunissen, Michael: Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, a. a. O., S. 200 ff. 132 Schütz, Alfred: Gemeinsam musizieren. Die Studie einer sozialen Beziehung (1951), in: Gesammelte Aufsätze, Bd. 2: Studien zur soziologischen Theorie, Den Haag 1972, S. 131. 129 130

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Weder »présence originelle …« noch »Teilhabe am Erlebnis …«

erreichbar bleibt. Denn jeder Versuch, sie einzuholen, käme nicht umhin, jene wiederum in Anspruch zu nehmen. Schützens Ausführungen verstehen sich dabei wie die seines frühen Werkes Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt (1932) als Fortsetzung sowohl von Husserls Analyse der Struktur menschlicher Erfahrung in dessen Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913) als auch von Webers Definition der sozialen Beziehung in dessen Soziologischen Grundbegriffen (1921). Er unternimmt es, die besagte »Bedingung aller möglichen Kommunikation« an der Leistung der Sinngebung festzumachen, welche Menschen erbringen, wo immer sie handeln. Diese Bedingung sei darin zu suchen, wie sich deren subjektiv gemeinte Handlungsorientierung durch mehrere Bewusstseinsakte konstituiert. Schützens Gedanke ist, dass Interaktion nur dann stattfindet, wenn zum Voraus bereits eine »präkommunikative soziale Beziehung« 133 zwischen den betreffenden Akteuren etabliert ist. Diese erläutert er als »wechselseitige Beziehung des Sich-aufeinander-Einstimmens, durch die das ›Ich‹ und das ›Du‹ von beiden, die an der Beziehung teilhaben, als ein ›Wir‹ in lebendiger Gegenwart erlebt werden«. Einerseits nämlich sollen die Personen, welche an der musikalischen Aufführung mitwirken – ein Solist, der von einem Tasteninstrument begleitet wird –, tun, was sie da tun, indem sie immer auch auf den jeweils Anderen achtgeben. Jeder der beiden Musiker müsse nicht nur seinen eigenen Part spielen; er habe auch den Part des je anderen Spielers, ja vor allem dessen zugrunde liegende Antizipation wiederum seines Spiels zu antizipieren. Und so etwas soll andererseits auch auf die Personen zutreffen, welche der Inszenierung beiwohnen. Sie täten ihrerseits, was sie da tun, indem sie auf das Verhalten der Musiker aufmerken und sogar noch deren Deutung der vorliegenden Situation deuten, aus der ihr Verhalten erwächst und die wiederum die eigene Situationsdeutung der Zuhörer mit einschließt. Mithin beruht das wechselweise Sicheinstimmen aufeinander hier wie sonst Schütz zufolge in der »Teilhabe am Erlebnis des anderen in der inneren Zeit, im Durchleben einer gemeinsamen lebendigen Gegenwart«; »dies ist das Fundament aller möglichen Kommunikation« 134. Nur aufgrund solch eines dem interaktiven Geschehen noch vorhergehenden Miterlebens des fremden Erlebens wird 133 134

Ebd., S. 132. Ebd., S. 145.

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das Verhalten der Musiker und Zuhörer zu einem sinnvollen und kann Ego das von Alter verstehen. Das aber ist nicht das, worauf ich hinauswill. Denn in beiden Fällen, bei Sartre ebenso wie bei Schütz und so auch bei den übrigen der oben genannten Autoren, ist es immer noch ein intentionaler Zustand des menschlichen Bewusstseins, womit sich Soziales da verbindet. Das Eigentümliche zwar, was diese Art von Bewusstsein auszeichnet und von demjenigen abhebt, welches Interaktionen unter Anwesenden oder irgendeine andere Form von Kommunikation initiiert und begleitet, ist, dass es – nach Sartre – eine eigene und die adäquate Begegnungsart anderer Menschen stiften soll, welche mir erst die nötige Grundsicherheit hinsichtlich ihrer Existenz verschafft, und – nach Schütz – noch »ohne kommunikative Absicht« 135 auskommt; es soll das »Durchleben einer gemeinsamen lebendigen Gegenwart« sein, auf dessen Grundlage eine derartige Absicht überhaupt nur zu entstehen vermag. Aber jedes Mal ist es doch das intentionale Bewusstsein der Menschen, von dem da die Rede ist. 136 Unverkennbar tritt einem hier das mittlerweile bekannte Problem von Neuem entgegen. Denn nicht jeder intentionale Gehalt oder jede intentionale Form des Bewusstseins besitzt demzufolge einen gesellschaftlichen Einschlag. Nach der Analyse, die Sartre und Schütz anbieten und wir bei etlichen anderen Theoretikern bereits ebenso gefunden haben, trifft dies lediglich auf einige zu, namentlich auf die »présence originelle d’autrui« in der Erfahrung von Scham (oder Stolz) bzw. auf die »Teilhabe am Erlebnis des anderen in der inneren Zeit«. Im Umkehrschluss geht allen sonstigen intentionalen Zuständen des Bewusstseins das Merkmal der Sozialität ab. Ich habe hingegen anderes und Tieferliegendes noch vor Augen. Das Beweisziel, welches ich mir gesteckt und um dessentwillen ich Ebd., S. 148. Sartre formuliert als eine der »notwendigen und hinreichenden Bedingungen der Gültigkeit einer Theorie der Existenz der Anderen«, dass »der einzig mögliche Ausgangspunkt das cartesianische Cogito ist« (Sartre, Jean-Paul: L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, a. a. O., S. 307 f.). Und er hebt hervor, dass seine eigene Überlegung »ganz auf der Ebene des Cogito gemacht wurde« (S. 326). Hartmann spricht u. a. deshalb davon, dass Sartres ontologie phénoménologique eine »Ontologie der Intentionalität« darstellt; die Frage nach der Seinsverfassung des Bewusstseins sei insgesamt die treibende Kraft von L’être et le néant. (Hartmann, Klaus: Grundzüge der Ontologie Sartres in ihrem Verhältnis zu Hegels Logik. Eine Untersuchung zu L’être et le néant, Berlin 1963, S. 33, 113; Sartres Sozialphilosophie. Eine Untersuchung zur Critique de la raison dialectique I, Berlin 1966, S. 13.

135 136

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»Ich folge der Regel blind« (Wittgenstein)

mich überhaupt nach dem Gebiet der Sitte hingewendet habe, ist genau dann erreicht, wenn es darzutun gelingt, dass das in der ontologischen Analyse des Sozialen heute zur geläufigen Verständigungsformel gewordene Bewusstsein des Menschen mitsamt seiner Intentionalität nicht anders als auf einem Boden gewisser Konditionen gedeiht, aus dem es hervortreibt: dass sämtliche seiner Akte zu ihrer eigenen Möglichkeit etwas in Anspruch nehmen, das von anderer Art ist. Denn damit wäre die Tür zu einer Dimension im menschlichen Leben aufgestoßen, wo die Ontologie des Sozialen womöglich Tritt zu fassen hat. Womöglich sind ja, das war zumindest meine Vermutung, jene Bedingungen von Bewusstsein und Intentionalität, welche außerhalb des Blickfeldes der momentanen sozialontologischen Debatte liegen, ihrerseits schon gesellschaftlich aufgeladen. Mithin ist das Phänomen des Bewusstseins der Menschen vielleicht noch nicht zureichend begriffen, wo das nicht eingesehen ist, dass dessen Intentionalität in eine Vorstruktur eingelassen ist, die einen sozialen Aspekt besitzt.

4.

»Ich folge der Regel blind« (Wittgenstein)

a)

Die Gebrauchstheorie sprachlicher Bedeutung

Eine hilfreiche Anlaufstelle, um diese soziale Vorstruktur des Bewusstseins der Menschen zu heben, ist der späte Wittgenstein. Der behandelt zwar ebenso wie Kant, Rousseau und Hegel vor ihm nicht direkt die Fragestellung der Sozialontologie. Vielmehr versucht er von Beginn seines philosophischen Schaffens an, das Sachfeld der menschlichen Sprache, und zwar deren Bedeutungshaltigkeit, in den Griff zu bekommen. Trotzdem lassen sich einige seiner diesbezüglichen Überlegungen in den Philosophischen Untersuchungen gewinnbringend von der Ontologie des Sozialen in Dienst nehmen. Bestimmter gesagt handelt es sich dabei um Wittgensteins Lösung für das sog. Regelfolgenproblem, die dafür von Belang ist. Daran will ich mich anlehnen, um dasjenige am Phänomen der Sitte offenzulegen, was mich interessiert (auch wenn Wittgenstein selber dort nicht von Sitte redet). Freilich muss auch hier gelten, dass ich mich darauf nur insoweit einlassen kann, als dies für mein Anliegen förderlich ist. Die Philosophischen Untersuchungen, nach dem Tode des Autors erst 1953 zur Publikation gebracht, sind eines jener Bücher, die 245 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

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erdrutschartige Umbrüche ausgelöst haben. Unmittelbar betrifft das die Konzeption von Sprache, mittelbar aber auch die Auffassung von der Leistungsfähigkeit philosophischer Besinnung. Diese verrenne sich in Scheinprobleme – wie Wittgenstein der gesamten Philosophiegeschichte in metaphysikkritischer Absicht vorhält –, wo sie die Arbeitsweise der Sprache missdeutet. 137 Zu solch einer Missdeutung gehört etwa eine einseitige Fokussierung auf die Funktion der Darstellung von Sachverhalten. Diese sprachliche Funktion hat sich der Betrachtung seit alters vorzugsweise aufgedrängt und darüber alle anderen zurücktreten lassen. Rückschauend war das ein Manko auch noch von Wittgensteins frühem Hauptwerk, des Tractatus logicophilosophicus aus dem Jahre 1921, dass er einen Teil für das Ganze nimmt. 138 Der Tractatus nämlich erhebt wahrheitsfähige Sätze, in denen sich auch und gerade die modernen Naturwissenschaften aussprechen, zu ausschließlicher Geltung. Er unterstellt fälschlich, dass jedweder sinnvolle und daher verstehbare Satz von ebendieser Art ist. Und gemäß der wahrheitskonditionalen Semantik, die Wittgenstein mit Blick darauf entwickelt, besteht der Sinn eines Satzes in seinen Wahrheitbedingungen: »Einen Satz verstehen, heißt, wissen was der Fall ist, wenn er wahr ist. (Man kann ihn also verstehen, ohne zu wissen, ob er wahr ist.)« (TLP 4.024) 139 Dagegen ist Wittgenstein seit Beginn der 1930er Jahre bemüht, der Mannigfaltigkeit sprachlicher Leistungen Rechnung zu tragen und jede privilegierte Stellung einer solchen Leistung zurückzunehmen. Denn ein Sprachbenutzer, indem er redet oder schreibt, grüßt oder befiehlt zuweilen, bezweifelt oder klagt an, bald dankt er oder flucht, bald betet er oder schwört usw. Und der späte Wittgenstein streicht konsequent den performativen Charakter sprachlicher Bedeutung heraus. Nicht haben Worte den symbolischen Gehalt, den sie haben, und können darum entsprechend verwendet werden, sondern weil man sie verwendet, wie man Dass die Philosophie von Scheinproblemen zu therapieren sei, ist allerdings nur das negative Resultat von Wittgensteins Sprachphilosophie. Vgl. Beermann, Wilhelm: Die Radikalisierung der Sprachspiel-Philosophie. Wittgensteins These in Über Gewißheit und ihre aktuelle Bedeutung, Würzburg 1999, S. 47 ff. 138 Vgl. Kober, Michael: Gewißheit als Norm. Wittgensteins erkenntnistheoretische Untersuchungen in Über Gewißheit, Berlin/New York 1993, S. 39 f. 139 Zu Wittgensteins wahrheitskonditionaler Semantik siehe Metschl, Ulrich: Ein Platz für alles Mögliche, in: Vossenkuhl, Wilhelm (Hg.): Ludwig Wittgenstein. Tractatus logico-philosophicus, Berlin 2001, S. 154 ff. 137

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sie verwendet, haben sie einen entsprechenden symbolischen Gehalt. Sprache lebt und bildet sich fort im Vollzug des Redens und Hörens, Schreibens und Lesens. 140 Und solche Verwendung geschieht eben auf durchaus mannigfaltige Art und besitzt darum mannigfaltige Bedeutungen. Nicht nur kann, wo etwas dargestellt wird, das ein Geschehen unterschiedlicher Art sein; auch das Grüßen und Befehlen, Bezweifeln und Anklagen, Danken, Fluchen, Beten, Schwören etc. kann je Verschiedenes bedeuten. 141 Und alles daraus hervorgehende Überbleibsel, jede durch einen Klangmitschnitt festgehaltene Äußerung oder in Buchstaben erstarrte Schrift, muss durch einen Akt des Hörens bzw. Lesens wieder in Bedeutung zurückverwandelt werden. Damit setzt Wittgenstein an die Stelle des vormaligen Ideals einer logisch bereinigten Kunstsprache, welche kristallreine Eindeutigkeit besitzen soll, die überblickshafte Beschreibung des natürlichen Sprachverhaltens der Menschen in ihren wirklich geübten Lebensformen, wo dieses stets mit nichtsprachlichen Tätigkeiten und außersprachlichen Umständen verwoben ist. 142 Denn die Performanz von Sprache, das ist die innovative Einsicht der Philosophischen Untersuchungen, vollzieht sich kontextrelativ. Sie ist eingelassen in eine Umgebung, welche sich ebenso wenig abschütteln lässt wie sie unerheblich bleibt. In der faktischen Benutzung eines Ausdrucks steigt ihm aus dem jeweiligen Kontext Sinn entgegen – aus dem vorausgehenden und nachfolgenden Sprachverhalten ebenso wie aus den nichtsprachlichen Tätigkeiten der Akteure und den außersprachlichen Umständen (was auch immer davon jeweils sinnkonstitutiv sein mag, denn das soll sich nicht pauschalisieren lassen). Und durch Wiederholung in ähnlichen Situationen kondensiert die Benutzung zu einer mehr oder minder festen Regel. Sein Wie Kobusch erinnert, hat bereits die scholastische Sprachphilosophie des Mittelalters den performativen Charakter von Sprache zum Thema gemacht. Vgl. Kobusch, Theo: Die moderne Sozialontologie und ihr historischer Hintergrund, in: Zimmermann, Stephan/Krijnen, Christian (Hg.): Sozialontologie in der Perspektive des deutschen Idealismus. Ansätze, Rezeptionen, Probleme, Berlin/Boston 2018, S. 1–19. 141 Vgl. PU 24. 142 Das ist die positive Folge aus Wittgensteins Überlegungen, dass die Philosophie ihre Obliegenheit darin zu finden habe, einen Überblick über die reichhaltige Fülle unseres kontextbestimmten Sprachgebrauchs zu geben. Vgl. Goldfarb, Warren D.: I Want You to Bring Me a Slab. Remarks on the Opening Sections of the Philosophical Investigations, in: Synthese 56/3 (1983), S. 265–282; Arrington, Robert L.: The Grammar of Grammar, in: Haller, Rudolf/Brandl, Johannes (Hg.): Wittgenstein. Eine Neubewertung, Bd. 1, Wien 1990, S. 210–220. 140

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Sinn bestehe in nichts anderem als derjenigen Rolle, welche der Ausdruck typischerweise in einem Sprachspiel versieht. Mithin stellt die pragmatistische Semantik konsequent auf die Gebrauchsbedingungen von Worten um. Sprachliche Bedeutung steht demnach unter der Bedingung von einigem dessen, wovon unser Reden und Hören, Schreiben und Lesen jeweils umgeben ist: »Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.« (PU 43) 143 Die Sache des Sozialen gehört nun insofern zu Wittgensteins Gebrauchstheorie sprachlicher Bedeutung, als die Regeln, welche die Bedeutung eines Wortes in seinem Gebrauch in der Sprache enthalten, niemals nur die eines einzelnen Menschen allein sein sollen. Eine derartige »private Sprache« (PU 259), wie Wittgenstein sagt, kann es nicht geben. Damit ist nicht bloß das kontingentermaßen einsame Sprechen in Gestalt eines inneren oder laut vor sich hingesagten Monologs gemeint. Die Möglichkeit von »Selbstgesprächen« (PU 243), welche jemand ohne Beisein Anderer mit sich führt, wird nicht in Zweifel gezogen. Angezweifelt wird demgegenüber die grundlegende Idee solipsistischer Semantik. Diese ist Wittgenstein zufolge für das abendländische Denken prägend gewesen und hat selbst noch im Tractatus – ein weiteres Manko dieses Frühwerkes – eine Verkörperung gefunden. 144 Der Gegner, gegen den Wittgenstein unter der Chiffre der Privatsprache argumentiert, vertritt die Auffassung, dass, eine Sprache zu erlernen, etwas mit ihr zu meinen und sie zu verstehen, eine psychische Handlung ausmacht. Der symbolische Gehalt sprachlicher Ausdrücke soll sich einer Stiftung durch das intentionale Bewusstsein ihres Verwenders verdanken: Ihr Sinn sei, was der Benutzer gerade im Sinn hat, wo er sie gebraucht. »Die Wörter dieser Sprache sollen sich auf das beziehen, wovon nur der Sprechende wissen kann; auf seine unmittelbaren, privaten, Empfindungen.« (PU 243) Der Vgl. PU 20, 30, 138, 197, 421, 432, 532, 556; ÜG 61; PG I 23. Siehe dazu von Savigny, Eike: Sprachspiele und Lebensformen: Woher kommt die Bedeutung?, in: Ders. (Hg.): Ludwig Wittgenstein. Philosophische Untersuchungen, Berlin 1998, S. 7–39. Entgegen Wittgensteins halbherziger Unterscheidung zwischen der Bedeutung eines Wortes und dem Sinn eines Satzes, auf die Hallet hinweist, benutze ich beide Ausdrücke promiscue. Vgl. Hallett, Gart: A Companion to Wittgenstein’s Philosophical Investigations, Ithaca/London 1977, S. 123. 144 Dafür, dass die tractarianische Semantik selber noch eine privatsprachliche ist, weil es das »metaphysische Subjekt« (TLP 5.633) sein soll, das einem Satz seine jeweiligen Wahrheitsbedingungen zuordnet, siehe Hacker, Peter M. S.: Insight and Illusion. Wittgenstein on Philosophy and the Metaphysics of Experience, Oxford 1972, S. 217. 143

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»Sprechende« ist es, der den besagten Bezug eines Wortes herstellt und allein herstellen »kann«, und zwar auf seine je eigenen mentalen Zustände. Die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks soll das Ergebnis einer intentionalen Zuordnungsleistung sein. Sie bestehe in demjenigen mentalen Zustand, welcher ihm jeweils zugeordnet wird. 145 Davon setzt sich Wittgenstein ab. Das Argument, welches er zu diesem Zweck an fortgeschrittener Stelle des Werkes aufbietet, beginnend mit dem Abschnitt 243, zieht allerdings nicht eine Konsequenz aus der vordem schon fertig entwickelten Bedeutungstheorie. 146 Genau besehen liefert es durch einen indirekten Beweis allererst das Fundament, auf dem sich jene aufbaut; es widerlegt die ihr entgegenstehende sprachphilosophische Position, welche von Wittgenstein als ausschließliches Gegenteil angenommen wird. Im Zentrum steht die von Moritz Schlick entlehnte Szenerie eines Empfindungstagebuchs. 147 Das heißt aber nicht, dass eine »private Sprache« eine Sprache bloß von Gefühlen ist. Keineswegs besteht sie nur aus Gefühlsausdrücken. 148 Sondern Empfindungen empfehlen sich, weil sie lediglich demjenigen zugänglich zu sein scheinen, der sie hat, als unübertreffliche Extrembeispiele für den vorbezeichneten solipsistischen Standpunkt, der sich für mentale Sinngehalte erklärt. 149 Die Versuchsanordnung verlangt, dass jemand über eine gewisse, wiederkehrende Empfindung E Tagebuch führt. Wann immer er sie empfindet, trägt er dort das Zeichen ›E‹ ein. Mithin ordnet er dem Zeichen ›E‹ die Empfindung E als seine Bedeutung zu. Er mag dabei das Zeichen im gegenwärtigen Gebrauch mit dem Gefühl assoziieren 150 oder sich vornehmen, es künftig nach dieser Regel zu gebrauchen. 151 Das Problem, das sich Wittgenstein zufolge so oder so Vgl. Cook, John W.: Solipsism and Language, in: Ambrose, Alice/Lazerowitz, Morris (Hg.): Ludwig Wittgenstein. Philosophy and Language, London 1972, S. 43, 53, 67. Für einen historischen Beleg privatsprachlicher Semantik siehe stellvertretend Locke in seinem Essay Concerning Humane Understanding (1690): »Words are the sensible signs of his ideas who uses them.« (Essay III.2, § 2) 146 So etwa Kripke, Saul: Wittgenstein on Rules and Private Language. An Elementary Exposition, Cambridge, Mass. 1982, S. 79 f. 147 Vgl. Schlick, Moritz: Form and Content, an Introduction to Philosophical Thinking, in: Gesammelte Aufsätze 1926–1936, Wien 1938, S. 177 ff. 148 So Kenny, Anthony: Wittgenstein, London 1973, S. 179 ff. 149 Vgl. PU 246 ff. 150 Vgl. PU 256, 258. 151 Vgl. PU 262, 263. 145

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einstellt, ist, dass es dem Tagebuchschreiber an einem seiner Verfügbarkeit entzogenen Kriterium mangelt, um über die Richtigkeit oder Falschheit seiner jeweiligen Zeichenverwendung zu befinden. Er ist nicht imstande, zwischen wirklichem und vermeintem Befolgen der Regel zu unterscheiden; dieser Unterschied wird als ganzer hinfällig. Eine »private Sprache«, das ist Wittgensteins Einwand, bleibt in die Arbitrarität des Regellosen gestellt: »Zu dem, was wir ›Sprache‹ nennen, fehlt die Regelmäßigkeit.« (PU 207) 152 Denn, so lautet Wittgensteins Begründung, das Zeichen ›E‹ habe doch jedes Mal denjenigen und nur denjenigen Sinn, welcher ihm gerade zugeordnet wird. Dass diese Zuordnung immer gleich auszufallen hat und immer die gleiche Art von Empfindung, nämlich E, dadurch bezeichnet sein muss, ist von keiner »unabhängige[n] Stelle« (PU 265) vorgegeben. Der Privatsprachler ist durch seine bisherige Zeichenbenutzung und seine bisherigen Benutzungsabsichten, selbst wenn er sich korrekt daran erinnert, 153 nicht gebunden. Und da ex hypothesi keine andere Instanz existieren soll, die für Verbindlichkeit sorgen könnte, verwendet er das Zeichen diesseits von allem Richtig oder Falsch, wie es ihm augenblicklich behagt: »Aber in unserm Falle habe ich ja kein Kriterium für die Richtigkeit. Man möchte hier sagen: richtig ist, was immer mir als richtig erscheinen wird. Und d. h. nur, daß hier von ›richtig‹ nicht geredet werden kann.« (PU 258) Wie genau das Ergebnis von Wittgensteins Privatsprachenargument des Näheren einzustufen ist, mag in weitem Feld stehen bleiben. Einiges deutet darauf hin, dass man die Schlussfolgerung, wonach es keine »private Sprache« geben kann, lediglich in einem schwachen Sinn zu nehmen hat, als eine grammatische Betrachtung. 154 Anhand des Beispiels eines Empfindungstagebuchs führt Wittgenstein nicht vor Augen, dass eine solche Sprache im starken, ontologischen Sinne unmöglich existieren kann, sondern dass sie Vgl. ÜG 62. Dass Wittgenstein mit der Fehlbarkeit menschlicher Erinnerung argumentiert, meinen Raatzsch, Richard: Ludwig Wittgenstein zur Einführung, Hamburg 2008, S. 184 f.; Vossenkuhl, Wilhelm: Ludwig Wittgenstein, München 22003, S. 218; Candlish, Stewart: Wittgensteins Privatsprachenargumentation, in: von Savigny, Eike (Hg.): Ludwig Wittgenstein. Philosophische Untersuchungen, Berlin 1998, S. 157. Das moniert mit Recht Hacker, Peter M. S.: Wittgenstein. Meaning and Mind, Oxford 1990, S. 108. 154 Wittgenstein selbst nimmt eine derartige Einstufung seiner Überlegungen in anderen Zusammenhängen vor: »Und das ist natürlich eine Anmerkung zur Grammatik des Ausdrucks ›der Regel folgen‹.« (PU 199) Siehe auch PU 90, 150 Anm., 232. 152 153

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stattdessen eine semantische Unmöglichkeit darstellt: Nach Maßgabe der Grammatik unseres lebendigen Wortgebrauchs sind wir nicht bereit, so etwas ›Sprache‹ zu nennen. Eine Bedingung nämlich, welche die Regel für die Verwendung des Ausdrucks ›Sprache‹ vorsieht und die sich gelegentlich der vorliegenden Situation ins Bewusstsein drängt, ist nicht erfüllt. Dieses Nichterfülltsein betrifft eine Bedingung in der Umgebung, in welcher das Wort gebraucht wird. Und das ist die »Regelmäßigkeit« dessen, wofür der Ausdruck gebraucht wird. 155 Mir genügt, dass es für Wittgenstein eine Privatsprache deshalb nicht geben kann (in welcher näheren Auslegung von ›nicht geben können‹ auch immer), weil ihr der für jede Sprache konstitutive Regelcharakter abgeht. Und er geht ihr deswegen ab – das ist es, was das sozialontologische Augenmerk auf die Spur der Wittgenstein’schen Spätphilosophie lenkt und wodurch eine Beschäftigung mit ihr Anschluss gewinnt an die vorige Auseinandersetzung mit Kant, Rousseau und Hegel –, weil Andere sich nicht als Sprecher und Hörer, Schreiber und Leser in diese Sprache teilen. Die Behauptung ist also nicht einfach, dass die in den vielgestaltigen menschlichen Lebensformen gepflegten Sprachlaute und Schriftzeichen in jedem Fall gemeinsame sind. Wittgensteins Argumentation kommt darauf hinaus, dass deren gemeinsame Verwendung Kontinuität stiftet, dass diese eine Voraussetzung ist für deren regelhafte Verwendung. Echtes sprachliches Lernen, Meinen und Verstehen ist ein öffentliches Geschehen: Die Regeln unserer Sprachspiele müssen, um überhaupt als solche möglich zu sein, von vielen gepflegt werden und also sozialen Charakters sein. »Ist, was wir ›einer Regel folgen‹ nennen, etwas, was nur ein Mensch, nur einmal im Leben, tun könnte? […] Einer Regel folgen, eine Mitteilung machen, einen Befehl geben, eine Schachpartie spielen sind Gepflogenheiten (Gebräuche, Institutionen).« (PU 199) 156 So neuerdings Fogelin, Robert J.: Taking Wittgenstein at His Word. A Textual Study, Princeton/Oxford 2009, S. 56 ff. Siehe bereits Stern, David G.: Wittgenstein on Mind and Language, New York/Oxford 1995, S. 175 ff.; Baker, Gordon: Wittgenstein’s Method. Neglected Aspects, Oxford 2004, S. 116, 126, 128, 132; Conant, James: Why Worry About the Tractatus?, in: Stocker, Barry (Hg.): Post-Analytic Tractatus, Aldershot 2004, S. 187 f. 156 Wittgenstein selber gebraucht weder den Ausdruck ›sozial‹ noch ›gesellschaftlich‹. Zu dem der »Gepflogenheit« siehe auch PU 198, 205, 337; BGM, S. 346 und zu dem der »Institution« PU 337, 380, 540, 584; BGM, S. 334. 155

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Diesen Gedanken, wonach stabile sprachliche Bedeutung lediglich in einem öffentlichen Raum, als etwas Soziales zu haben ist, drückt Wittgenstein häufig dadurch aus, dass er von Übereinstimmungen spricht, die zwischen den beteiligten Sprechern bestehen: »in der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform.« (PU 241) 157 Allerdings darf solche Übereinkunft, der gemäß die gleiche Benutzung sprachlicher Laute und Zeichen Gleiches bedeutet, nicht mit dem Resultat eines Übereinkommens verwechselt werden, das mehrere treffen, einer Verabredung oder Abmachung. Sie meint das Übereingekommensein mehrerer, welches eine menschliche Sprachgemeinschaft und ihre »Lebensform« begründet und damit auch so etwas wie Verabredungen oder Abmachungen, zu denen schon eine in ihrer Sinnhaftigkeit stabile Sprache vonnöten ist, vorbereitet. Indem wir sprachliche Regeln beherrschen, stimmen wir mit anderen Sprechern überein, selbst wenn wir nicht dieselben »Meinungen« aussprechen wie sie. 158 Mit den Worten von Michael Dummett kann man Wittgensteins Gebrauchstheorie als »full-blooded conventionalism« 159 apostrophieren. Konvention ist eine bessere Sache, als das Wort in unseren Ohren heutzutage bisweilen klingt; das hat es mit dem der ›Sitte‹ gemein. Wie Sitten auch sind echte Konventionen keine von außen herangetragenen Verhaltenserwartungen, die dem Betroffenen lästigfallen und gegen deren Zugriff er sich wehrt. Ohne jeden Zweifel können sie derart auftreten, doch früher noch als das – so haben wir bei Kant, Rousseau und Hegel gefunden und finden wir nun aufs Neue bei Wittgenstein – hat der Einzelne immer irgendwelche GeVgl. PU 224, 355; BPP I 896, PG I 138. »Das Wort ›Übereinstimmung‹ und das Wort ›Regel‹ sind miteinander verwandt, sie sind Vettern. Das Phänomen des Übereinstimmens und des Handelns nach einer Regel hängen zusammen.« (BGM, S. 344) Vgl. BGM, S. 342, 405. Dass eine Lebensform mehrere Menschen einbegreift, fehlt in Figals Begriffserklärung. Vgl. Figal, Günter: Übersetzungsverhältnisse, in: Der Sinn des Verstehens. Beiträge zur hermeneutischen Philosophie, Stuttgart 1996, S. 103. 158 Siehe dazu Hunter, John F. M.: ›Forms of Life‹ in Wittgenstein’s Philosophical Investigations, in: Klemke, Elmer D. (Hg.): Essays on Wittgenstein, Urbana et al. 1971, S. 289. In dieser Hinsicht ganz ähnlich will Lewis u. a. gegen Quine die »platitude« rehabilitieren, wonach »language is ruled by convention«, indem er die Vorstellung angreift, solche Konventionen seien »created by agreement« (Lewis, David: Convention. A Philosophical Study, a. a. O., S. 1, 3). 159 Dummett, Michael: Wittgenstein’s Philosophy of Mathematics, in: The Philosophical Review 68/3 (1959), S. 329. 157

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pflogenheiten derjenigen Sprachspiele, an denen er teilhat, akzeptiert und verinnerlicht. Dabei handelt es sich keineswegs um hohlen Konformismus, um Selbstaufgabe. Denn das ist es doch, was ihn erst zu einem kompetenten Sprachverwender macht, der sich zuverlässig und erfolgreich mit Anderen seiner sprachlichen Gemeinschaft zu verständigen vermag. Ein solcher ist er nur durch die Anpassung eigener Äußerungen daran, wie Andere sie aufzufassen pflegen. Und eingeschränkt auf eine menschliche Lebensform, in der er mit Anderen konform geht, wird ihm erst sein Selbst und eröffnet sich ihm die Freiheit irgendeines möglichen Redens und Hörens, Schreibens und Lesens. 160 Ja, Konvention und Sitte stehen streng besehen gar nicht wie zwei getrennte Phänomene nebeneinander. Die erstere ist doch vielmehr ein essenzielles Merkmal der letzteren. Buchstäblich verstanden markiert sie denjenigen Punkt, an welchem ein Individuum mit Anderen zusammenkommt (lat. convenire) und die Regelmäßigkeit ihrer Äußerungen eine nur und dieselbe ausmacht (was natürlich keineswegs sämtliche Unterschiede zwischen den Individuen aufhebt, so etwa die ihrer »Meinungen«). 161 In diesem Sinne behauptet Wittgenstein, obgleich er in den Philosophischen Untersuchungen genauso wenig von Konventionen redet, das konventionale Wesen der Ordnungen unserer Sprachspiele, welche sich diese durch ihre eigene Praxis verschaffen. Und das in der Tat auf vollblütige Weise, wie Dummett feststellt. Denn die Richtigkeit oder Falschheit alles Lernens, Meinens und Verstehens soll sich allein an der Übereinstimmung mit den Regelmäßigkeiten bemessen, in welche man sich mit anderen Menschen teilt und die dadurch konventionale ausmachen. Die Sozialität sprachlicher Regeln entspringt ihrerseits dem, was man gemeinhin unter dem Stichwort der Normativität des Regelfolgens diskutiert. Ein Verhalten, das sich an Regeln hält, zeigt strenggenommen mehr als bloße »Regelmäßigkeit«. Regelmäßig geschieht, was immer wieder auf dieselbe Weise sich ereignet; beispielsweise geht der Mond jeden Abend auf, und morgens geht er unter. Das Befolgen einer Regel hingegen, wie es Menschen praktizieren, wird Vgl. von Savigny, Eike: Der Mensch als Mitmensch. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen, München 1996, S. 123; Krebs, Andreas: Worauf man sich verlässt. Sprach- und Erkenntnisphilosophie in Ludwig Wittgensteins Über Gewißheit, Würzburg 2007, S. 47. 161 Vgl. von Savigny, Eike: Zum Begriff der Sprache. Konvention, Bedeutung, Zeichen, Stuttgart 1983, S. 34 ff. 160

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daraufhin kontrolliert, dass es immer wieder auf dieselbe Weise abläuft. Und das muss deshalb so sein, weil es in der Möglichkeit steht, fehlzugehen und von der Regel abzuweichen, und daher vorkommendenfalls zu berichtigen ist. 162 Wir kennen so etwas von Durkheim, der lang vor Wittgenstein die Normstruktur der sozialen »Verhaltensregeln« bzw. »Weisen des Handelns, Denkens und Fühlens« heraushebt. Wie Durkheim unterstellt Wittgenstein, dass unserem regelgeleiteten Verhalten, entgegen den nur regelmäßigen Vorgängen in der Natur, die Potenz zu Fehler und Abweichung eingeschrieben ist. 163 Anders als jener aber durchschaut er den Voraussetzungszusammenhang, dass die daran anknüpfende Kontrolle und Berichtigung durch Andere unverzichtbar ist. Sowohl beim anfänglichen Erlernen einer Regel wie beim fortwährenden, ihr entsprechenden Meinen und Verstehen lassen sie diese überhaupt erst Regel sein, indem sie für deren nötige Konventionalität sorgen. Gesellschaftliche Ordnung ist nur als Ordnung erreichbar, indem sie gesellschaftlich ist oder, wie Wittgenstein sagt, »gemeinsame menschliche Handlungsweise« (PU 206). Regelfolgen ist normativ, indem es nicht dem Belieben des Einzelnen anheimgestellt ist. Innerhalb einer Sprachgemeinschaft muss laut Wittgenstein erwartet werden, dass einer beim Reden und Hören, Schreiben und Lesen mit Anderen übereinstimmt: Um der Stabilität von Bedeutung und damit ihrer Verstehbarkeit willen soll sein Gebrauch von Sprache konventionale Züge haben. Unqualifiziert die »ärgerliche Tatsache der Gesellschaft« zu beschwören, um mit der von Ralf Dahrendorf geprägten und öfter verwendeten Formulierung zu reden, bleibt realitätsfremd. 164 Erst die Einhaltung von Regeln erlaubt eine Verständigung zwischen Ego und Alter. Die Bedingung aber, unter der bei Alter das richtige, regelgemäße Verstehen der Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks steht, ist dieselbe wie die Vgl. Kemmerling, Andreas: Regel und Geltung im Lichte der Analyse Wittgensteins, in: Rechtstheorie 6 (1975), S. 116 ff. 163 Vgl. Kap. II.4. 164 Dass die Formulierung, die im Kontext von Dahrendorfs rollentheoretischer Konzeption des homo sociologicus steht, seinerzeit von manchem Liebhaber des Nonkonformismus als Aufruf zum gesellschaftlichen Aufstand missverstanden wurde, war Dahrendorf, wie er im Vorwort zur 16. Auflage seines Werkes rückblickend klarstellt, gar nicht recht. Vgl. Dahrendorf, Ralf: Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle (1965), Wiesbaden 16 2006, S. 12 f. 162

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seines richtigen, regelgemäßen Gebrauchs bei Ego; und das ist die zwischen beiden bestehende Übereinstimmung oder Konventionalität, den Ausdruck zu gebrauchen und zu verstehen. Bekanntlich präferiert Wittgenstein dafür, dass Egos Beiträge im Sprachspiel mitlaufend geprüft und durch Alters Anschlussverhalten irgendwie bestätigt oder korrigiert werden, den etwas rabiat klingenden, aber gar nicht so gemeinten Terminus der »Abrichtung« (PU 189). 165 Mithin liegt nach Wittgenstein das mir unverfügbare Kriterium für die Unterscheidung meiner Sprachverwendung als richtig und falsch in anderen Sprechern meiner Sprachgemeinschaft. Ob ich wirklich oder nur eingebildetermaßen eine sprachliche Regel einhalte, entscheidet sich an der expliziten oder impliziten Reaktion meines jeweiligen Gegenübers, der derselben sprachlichen Gemeinschaft angehört: Die für die Regelhaftigkeit des Sprechens unabdingbare Differenz des Richtig und Falsch ist derart in Funktion, dass – und in dem Maße, als – jener sie auf die eine oder andere Art in seiner Anschlusshandlung zum Tragen bringt und mich so in öffentliche Sinngehalte einschwenkt. 166 Das gilt natürlich für den erfahrenen Sprecher wie den Sprachanfänger. Und es geschieht wechselseitig; von Kindesbeinen an bis ins höchste Alter pendeln sich die semantischen Gewohnheiten einer Lebensform in Gegenseitigkeit ein oder bilden sich auf diese Weise zu neuen um. »Darum ist ›der Regel folgen‹ eine Praxis. Und der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen. Und darum kann man nicht der Regel ›privatim‹ folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen.« (PU 202) 167 Vgl. PU 5 f., 27, 86, 157 f., 198, 206, 223, 441, 630; Z 318, 383. Wittgenstein hört darin nur, dass einer den Anderen richtet im Sinne von zurechtbringt, dass er dessen Sprachverhalten richtig macht, wie behutsam oder ungestüm das auch immer geschehen mag. Das Verb ›richten‹ ebenso wie das Adjektiv ›richtig‹ sind ja Ableitungen des Adjektivs ›recht‹. Siehe dazu Giesinger, Johannes: Abrichten und Erziehen. Zur pädagogischen Bedeutung der Spätphilosophie Ludwig Wittgensteins, in: Pädagogische Rundschau 62/3 (2008), S. 285–298. 166 Vgl. Baltzer, Ulrich: Gemeinschaftshandeln. Ontologische Grundlagen einer Ethik sozialen Handelns, Freiburg 1999, S. 210 ff. 167 Dem widerstreitet nicht der in der Literatur oft diskutierte Fall des Robinson Crusoe, im Gegensatz zu Wittgensteins »Höhlenmensch« in den Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik (BGM, S. 344). Denn die These lautet ja nicht, dass ich einer Regel nur folgen kann, wenn ein Anderer anwesend ist, der mich bestätigt oder korrigiert. Sondern: wenn jener, wäre er anwesend, mich bestätigen oder korrigieren könnte. Crusoe hatte bereits die Gepflogenheiten einer Lebensform zu den seinigen 165

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Regelfolgen als Aktualisierung einer eingespielten Fähigkeit

Was also kann man in Sachen Sozialontologie von Wittgenstein lernen? Nicht so sehr den Umstand, dass wir in unseren lebensformgebundenen Sprachspielen Regeln folgen, die sittlicher oder konventionaler Natur und in diesem Sinne soziale Regeln sind. Sondern: die Art, wie das geschieht. In Wittgensteins diesbezüglichen Überlegungen zum Problem des Regelfolgens erst ist es, dass ein für die gegenwärtige Ontologie des Sozialen, sofern sie unter dem Paradigma des Bewusstseins und dessen Intentionalität steht, umstürzender Gedanke begegnet. Auf der Grundlage des bislang Besprochenen können wir das nunmehr angehen. Als locus classicus für Wittgensteins Beschäftigung mit der fraglichen Seite des Regelfolgenproblems gilt in den Philosophischen Untersuchungen der Abschnitt 201. Dort erreicht eine Argumentation, die bereits mit dem Abschnitt 138 beginnt und sich mit Unterbrechungen bis zum Abschnitt 242 weiterzieht, ihren Höhepunkt. Die Fragestellung, welche diese Abschnitte hauptsächlich erörtern, lässt sich so angeben: wie genau man das macht, einer Regel zu folgen. Gesetzt, dass alles Reden und Hören, Schreiben und Lesen sich auf das Befolgen gesellschaftlicher Regeln beläuft, wie muss eine solche Regel für mich da sein, damit ich sie zu befolgen vermag? Wie muss sie mir gegeben sein, dass ich zu einem nicht bloß ihr gemäßen, sondern durch sie dirigierten Verhalten fähig bin? 168 Schwierigkeiten treten hierbei ein, wie Wittgenstein aufzeigt, wenn man annimmt, eine Regel orientiere meinen Gebrauch von Sprache im Sprachspiel sowie überhaupt mein Handeln innerhalb einer Lebensform nur dort, wo sie mir »vorschwebt« (PU 139): wenn sie bewusst für mich da, mir als Gehalt eines intentionalen Zustands gegeben ist. 169 Diese Ansicht entkräftet Wittgenstein, indem er aufdeckt, dass sie absurde Konsequenzen birgt. Die reductio ad absur-

gemacht, bevor er auf einer einsamen Insel strandete. Vgl. Baker, Gordon P./Hacker, Peter M. S.: Scepticism, Rules and Language, Oxford 1984, S. 39. 168 Wittgenstein lässt einen fiktiven Dialogpartner die Frage so stellen: »Aber wie kann mich eine Regel lehren, was ich an dieser Stelle zu tun habe?« (PU 198) 169 Für diese Ausdrucksweise, die Wittgenstein seinem Gesprächspartner mehrmals in den Mund legt und wonach einem Sprecher Bedeutung vorschwebt, siehe auch PU 20, 51, 71, 140 f., 210, 323, 329, 663.

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dum, welche er in den Abschnitten 138 bis 143 und 185 bis 201 vornimmt, mündet in ein »Paradox« (PU 201). 170 Zu diesem Zweck bemüht Wittgenstein in Abschnitt 143 einen bestimmten Typ Sprachspiel, das den Auftakt zu seinen weiteren Erörterungen gibt: »B soll auf den Befehl des A Reihen von Zeichen niederschreiben nach einem bestimmten Bildungsgesetz.« (PU 143) Die erwähnten »Zeichen« sind dabei, wie Wittgenstein das Beispiel ausmalt, die natürlichen Zahlen des Dezimalsystems. Und die »Reihe«, in der B diese zu nennen hat, ist ihm durch A in Gestalt der beim normalen Zählen befolgten algebraischen Formel n + 1 vorgegeben. Ein Lehrer etwa habe seinem Schüler die natürlichen Zahlen im Dezimalsystem und das Zählen beigebracht, so dass jener die Reihe »0, 1, 2, 3, 4, 5, …« selbständig und fehlerfrei zu bilden und weiterzuführen in der Lage sein soll. Nach einigen Einschüben greift Wittgenstein die Szene in Abschnitt 185 wieder auf: »Der Schüler beherrscht jetzt – nach den gewöhnlichen Kriterien beurteilt – die Grundzahlenreihe. Wir lehren ihn, nun auch andere Reihen von Kardinalzahlen anschreiben« (PU 185). Das Sprachspiel wird komplexer, indem das »Bildungsgesetz« komplexer wird, welches A dem Zählen von B anweist. Wir »bringen ihn dahin«, schreibt Wittgenstein, »daß er z. B. auf Befehle von der Form ›+ n‹ Reihen der Form 0, n, 2n, 3n, etc. anschreibt; auf den Befehl ›+ 1‹ also die Grundzahlenreihe.« Zur Übung und als Stichprobe fordert ihn der Lehrer auf, mit der Reihe einmal bis 1000 fortzufahren, was dem Schüler auch gelingt. Dann aber begeht er unversehens einen verblüffenden Fehler: »Wir lassen nun den Schüler einmal eine Reihe (etwa ›+ 2‹) über 1000 hinaus fortsetzen, – da schreibt er: 1000, 1004, 1008, 1012.« Nachdem er also immer die Zahl 2 addiert hat, zählt er zur Verblüffung des Lehrers ab 1000 plötzlich die Zahl 4 hinzu.

Das ist wohlgemerkt eine andere Problematik als die, welche das Privatsprachenargument behandelt. Dort geht es darum, ob der Sprecher die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke durch einen intentionalen Akt seines Bewusstseins festlegt. Die Antwort war, dass dem nicht so ist, dass der Gebrauch, welchen man von Sprache macht, ein konventionaler, weil regelhafter sein muss. Im Anschluss lautet die Frage hier, wie man bei der Verwendung sprachlicher Ausdrücke diese Konvention, welche deren Bedeutung unter gewissen, kontexthaften Gebrauchsbedingungen regelt, befolgt. Und eine mögliche Antwort besteht eben darin anzunehmen, dass sie einem dafür vorschweben müsse.

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A versucht sodann, B auf seinen Irrtum hinzuweisen: »Wir sagen ihm: ›Schau, was du machst!‹ – Er versteht uns nicht. Wir sagen: ›Du solltest doch zwei addieren; schau, wie du die Reihe begonnen hast!‹ – Er antwortet: ›Ja! Ist es denn nicht richtig? Ich dachte, so soll ich’s machen.‹« Der Schüler schlägt sämtliche Belehrungsversuche des Lehrers aus und beteuert, die Zahlenreihe exakt so fortgeführt zu haben wie verlangt. Alle Einwendungen, welche jener macht und die auf ein besseres Hinschauen auf bisherige »Beispiele« oder Hinhören auf bisherige »Erklärungen« dringen, bestätigen diesen nur: »Es würde uns nun nichts nützen, zu sagen ›Aber siehst du denn nicht … ?‹ – und ihm die alten Erklärungen und Beispiele zu wiederholen.« Nicht handelt es sich also im vorliegenden Fall um eine Folge nachlässigen Zuschauens oder Zuhörens, die sich durch Wiederholung des Gesagten beseitigen lässt. Sondern B versteht die ihm gegebenen »Beispiele« und »Erklärungen« der Formel n + 1 anders, als A sie meint. Nachher erst wird ersichtlich, dass das vom Lehrer Aufgetragene für den Schüler eine andere Bedeutung und er sich beim Zählen, ohne dass es gleich zu merken war, an ein anderes »Bildungsgesetz« gehalten hat. »Wir könnten in so einem Falle etwa sagen: Dieser Mensch versteht von Natur aus jenen Befehl, auf unsre Erklärungen hin, so, wie wir den Befehl: ›Addiere bis 1000 immer 2, bis 2000 4, bis 3000 6, etc.‹.« Die Begebenheit soll die Aufmerksamkeit auf zweierlei versammeln. Zum einen will Wittgenstein vorführen, dass die Äußerung einer Regel – welche den Sinn eines Wortes unter gewissen kontextuellen Bedingungen seines Gebrauchs befasst – nicht deren Anwendung festlegt. Die Regel zu artikulieren und durch »Beispiele« zu veranschaulichen, wie das der Lehrer gegenüber seinem Schüler tut, verschafft ihrer Befolgung keine sichere Grundlage. Die Angabe der Regel, hier der algebraischen Formel n + 1, bleibt wie die jeder anderen auch mit einer beliebigen Verwendung derjenigen sprachlichen Ausdrücke vereinbar, auf die sich die Regel bezieht; Fehlgriffe werden dadurch nicht verhütet. 171 Wittgenstein spricht diesbezüglich von einem Paradox. In Abschnitt 201 bemerkt er: »Unser Paradox war dies: eine Regel könnte keine Handlungsweise bestimmen, da jede Handlungsweise mit der Regel in Übereinstimmung zu bringen sei.« (PU 201) Die Betonung Vgl. Hunter, John F. M.: Understanding Wittgenstein. Studies of Philosophical Investigations, Edinburgh 1985, S. 77 ff.

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liegt auf »jede«. Und er fährt fort: »Die Antwort war: Ist jede mit der Regel in Übereinstimmung zu bringen, dann auch zum Widerspruch. Daher gäbe es hier weder Übereinstimmung noch Widerspruch.« Solche Absurdität, wonach die Möglichkeit jedes Regelfolgens in sich zusammenbricht, ergibt sich jedoch lediglich unter der Voraussetzung, dass »Regel« genommen wird, wie Wittgenstein klarstellt, als »Ausdruck der Regel«. Der »Ausdruck der Regel« ist es, der keine notwendige Bedingung abgibt, um jener zu folgen. 172 Zum anderen will Wittgenstein demonstrieren, dass es über den Regelausdruck hinaus einer »Deutung« der jeweiligen Regel geradeso wenig braucht für ihre Befolgung: »Daß da ein Mißverständnis ist, zeigt sich schon darin, daß wir in diesem Gedankengang Deutung hinter Deutung setzen; als beruhige uns eine jede wenigstens für einen Augenblick, bis wir an eine Deutung denken, die wieder hinter dieser liegt.« Eine Regel deuten heißt »Erklärungen« angeben, wie das der Lehrer bei seinem Schüler macht. Man äußert die Regel, z. B. für das »Bildungsgesetz« n + 1, und setzt eine Umschreibung hinzu, die jener Klarheit zu verschaffen gedacht ist: »›Deuten‹ […] sollte man nur nennen: einen Ausdruck der Regel durch einen anderen ersetzen.« Das zu tun, ist indes ebenso vergeblich, und zwar aus dem gleichen Grund wie zuvor. Denn jede solche Paraphrase findet sich selber mit dem vorerwähnten »Paradox« konfrontiert. Auch für ihre Artikulation gilt, dass sie keinesfalls eine irrtumssichere Umsetzung verbürgt. Wieder kann damit eine »jede Handlungsweise« sowohl »in Übereinstimmung« als auch »zum Widerspruch« gebracht werden: »Jede Deutung hängt, mitsamt dem Gedeuteten, in der Luft; sie kann ihm nicht als Stütze dienen. Die Deutungen allein bestimmen die Bedeutung nicht.« (PU 198) 173 Man möchte eventuell einwenden, dass die Sprache des Alltags wohl eine gewisse Vagheit an sich habe, dass dies aber auf die mathematische Sprache nicht zutreffe. »Zeichen« wie etwa »x2« (PU 190) und »algebraische Formeln« wie beispielsweise »an = n2 + n – 1« (PU 151) seien wie die Worte, aus denen sie sich unter Umständen mit Vgl. Fogelin, Robert J.: Wittgenstein, London 1976, S. 142 f.; McGinn, Colin: Wittgenstein on Meaning, Oxford 1984, S. 42 f. Folglich lässt sich daraus mitnichten ein Regelskeptizismus und semantischer Nihilismus ableiten; das »Paradox« ist gar nicht Wittgensteins eigenes. Siehe dazu Read, Rupert: What ›There Can Be No Such Thing as Meaning Anything by Any Word‹ Could Possibly Mean, in: Crary, Alice/ Read, Rupert (Hg.): The New Wittgenstein, London/New York 2000, S. 74–82. 173 Vgl. BGM, S. 341. 172

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aufbauen, eindeutig definiert. Tatsächlich kommt es wohl nicht von ungefähr, dass Wittgenstein ein Beispiel gerade aus dem Bereich der Mathematik wählt. Man muss das aber derart verstehen, dass selbst für eine Sprache wie die mathematische, welche Eindeutigkeit zu besitzen scheint, dasselbe gilt wie für die alltägliche und jede andere Sprache sonst. Und auch der Hinweis, der Schüler verstehe doch bereits Sprache, so dass ihm der Lehrer durchaus die Bedeutung von n + 1 erklären könne, geht fehl. Es ist dies sicher eine Grenze des Beispiels, wie vielleicht jedes Beispiel seine Grenze hat, dass der Schüler zwar in der Sprache der Mathematik unerfahren ist, aber wie der Lehrer schon die Sprache des Alltags versteht. Allein, auch hier will Wittgenstein mit seinem Beispiel auf etwas Allgemeines hinweisen, dass nämlich für sämtliche Worte jener alltäglichen Sprache, die der Schüler versteht und der Lehrer zur Erklärung und Definition verwenden könnte, dasselbe gilt wie für die zu erklärende Formel und ihre Zeichen. Und das ist, dass Regelfolgen ebenfalls unter der Voraussetzung unmöglich ist, dass es sein Maß an einer Regeldeutung zu nehmen hat. Die Regeldeutung macht genauso wenig eine notwendige Bedingung für die sinngemäße Benutzung der entsprechenden Worte aus. 174 Die Bilanz, welche aus der Beispielszene zu ziehen ist, ist folglich zunächst eine negative. Die Annahme, welche zu prüfen sich Wittgenstein vorgenommen hat, ist zu verneinen: Wenn Regelfolgen weder eines Ausdrucks noch einer Deutung derjenigen Regel bedarf, welcher ich folge, dann muss mir die Regel, damit ich mich in meinem sprachlichen Verhalten nach ihr richten kann, offenbar nicht vorschweben. Sicherlich mag es einmal geschehen, dass jemand, bevor er selber oder ein Anderer der Gepflogenheit eines Sprachspiels bzw. überhaupt einer Lebensform nachkommt, diese aus irgendeinem Grunde, auf irgendeine Art und mit irgendeiner Deutlichkeit sich selber oder dem Anderen bewusst macht. Die Philosophischen Untersuchungen benennen diverse Gelegenheiten, wo so etwas sehr wohl an seinem Platz ist. 175 Allerdings bleibt dies entbehrlich, insofern daDaran ändert auch nichts, wollte man die Erklärungen immer weitertreiben und »Deutung hinter Deutung setzen«. Kann das doch niemals auf eine letzte Erklärung führen, die eine untrügliche Richtschnur für die Anwendung der Regel ausmacht. Eine solche Forderung ufert vielmehr in einen infiniten Regress aus. Vgl. von Savigny, Eike: Wie Sprecher Ausdrücke meinen, in: Ders. (Hg.): Ludwig Wittgenstein. Philosophische Untersuchungen, Berlin 1998, S. 108 f. 175 Vgl. PU 54, 87, 141; BGM, S. 333. 174

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durch nicht feste Gleise vorgezeichnet werden, um Wittgensteins vielzitierte Metapher aus Abschnitt 218 aufzugreifen, welche die Fortsetzung jener Gepflogenheit gewährleisten. 176 Ob mir der Regelausdruck mitsamt einer Regeldeutung vor Augen und Ohren steht oder auch nur im Geiste anwesend sein mag, für die Anwendung der Regel, dazu ich durchaus bereit und willig bin, ist solches irrelevant. Ich kann eine Vorstellung von der Regelmäßigkeit einer gemeinsam geteilten Praxis haben, muss es aber nicht. Ihre Fortführung in einer gegebenen Situation zu intendieren, versetzt mich nicht in den Stand – auf diesen Trugschluss legt Wittgenstein den Finger –, das auch zu vollbringen. 177 Wie aber folge ich einer Regel dann? Wittgenstein dient die Schilderung jener Begebenheit zu mehr noch. Das Scheitern, welches diese einbegreift, macht den Weg frei für eine andere Analyse des Regelfolgens. Denn sie lässt zugleich auffällig werden, was die Ursache des Scheiterns ist: Etwas fehlt, und dieses tritt als fehlend heraus. Gleich mehrmals nimmt Wittgenstein Anlass, den Mangel, welchen der Schüler gegenüber seinem Lehrer an den Tag legt und der seinen Irrtum verschuldet, ins Positive umzustülpen. Zuerst in Abschnitt 189: »Wir können etwa davon reden, daß Menschen durch Erziehung (Abrichtung) dahin gebracht werden, die Formel y = x2 so zu verwenden, daß Alle, wenn sie die gleiche Zahl für x einsetzen, immer die gleiche Zahl für y herausrechnen. [Herv. d. Verf.]« (PU 189) 178 Und im nächsten Abschnitt: »Was ist das Kriterium dafür, wie die Formel gemeint ist? Etwa die Art und Weise, wie wir sie ständig gebrauchen, wie uns gelehrt wurde, sie zu gebrauchen. [Herv. d. Verf.]« (PU 190) In Abschnitt 198 notiert Wittgenstein nochmals: »ich bin zu einem bestimmten Reagieren auf die»Woher die Idee, es wäre die angefangene Reihe ein sichtbares Stück unsichtbar bis ins Unendliche gelegter Geleise? Nun, statt der Regel könnten wir uns Geleise denken. Und der nicht begrenzten Anwendung der Regel entsprechen unendlich lange Geleise.« (PU 218) 177 Vgl. Puhl, Klaus: Regelfolgen, in: von Savigny, Eike (Hg.): Ludwig Wittgenstein. Philosophische Untersuchungen, Berlin 1998, S. 129 ff. 178 Und weiter: »Oder wir können sagen: ›Diese Menschen sind so abgerichtet, daß sie alle auf den Befehl ›+ 3‹ auf der gleichen Stufe den gleichen Übergang machen. Wir könnten dies so ausdrücken: Der Befehl ›+ 3‹ bestimmt für diese Menschen jeden Übergang von einer Zahl zur nächsten völlig.‹ (Im Gegensatz zu andern Menschen, die auf diesen Befehl nicht wissen, was sie zu tun haben; oder die zwar mit völliger Sicherheit, aber ein jeder in anderer Weise, auf ihn reagieren.) [Herv. d. Verf.]« (PU 189) 176

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ses Zeichen abgerichtet worden, und so reagiere ich nun. […] Nein; ich habe auch noch angedeutet, daß sich Einer nur insofern nach einem Wegweiser richtet, als es einen ständigen Gebrauch, eine Gepflogenheit, gibt. [Herv. d. Verf.]« (PU 198) Und im anschließenden Abschnitt 199, ich habe das bereits wiedergegeben: »Ist, was wir ›einer Regel folgen‹ nennen, etwas, was nur ein Mensch, nur einmal im Leben, tun könnte? […] Einer Regel folgen, eine Mitteilung machen, einen Befehl geben, eine Schachpartie spielen sind Gepflogenheiten (Gebräuche, Institutionen).« Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen, sei angemerkt, dass das Adverb ›etwa‹, welches an jeder der vier Textstellen auftaucht, nicht im Sinne von beispielsweise zu lesen ist, sondern wie häufig bei Wittgenstein im Sinne von ungefähr, in etwa. 179 Gesagt sein soll, dass eine Regel ihre Einhaltung ungefähr so anleitet, wie Wittgenstein das in den voranstehenden Zitaten beschreibt. Die Idee, welche in all diesen Beschreibungen zum Ausdruck kommt – immerhin skizzenhaft und unter Zugrundelegung der oben nachgezeichneten Konventionalität und Normativität des Regelfolgens –, ist zusammengenommen in etwa die, dass die Befolgung einer konventionalen Regel nicht vermittelt über deren Ausdruck oder Deutung, sondern unmittelbar geschieht. Eine Regel leitet ihre Einhaltung dergestalt an, dass die Einhaltung der Regel lediglich als Aktualisierung einer kraft mannigfacher Wiederholung und Bewährung sowie dank normativer Kontrolle und Berichtigung erlernten, ja mehr noch eingespielten Fähigkeit zu haben ist. 180 Das ist der Grund, weswegen das Sprachspiel des Aufzählens misslingt. Der Lehrer meint die algebraische Formel n + 1 so, wie er sie meint, weil er sie mittels »Erziehung (Abrichtung)« durch Andere »immer«, »ständig« auf dieselbe Art wie »Alle« zu verwenden gelernt hat. Bei diversen Gelegenheiten hat er darauf in richtiger Weise zu »reagiere[n]« eingeübt und ist mittlerweile fähig, das gewohnheitsmäßig zu aktualisieren. Der Schüler aber versteht n + 1 so, wie er es versteht, falsch, weil ihm solche Gewohnheit abgeht. Infolge manVgl. von Savigny, Eike: Wie Sprecher Ausdrücke meinen, a. a. O., S. 102 f. So auch Baker, Gordon P./Hacker, Peter M. S.: Wittgenstein. Rules, Grammar and Necessity. Essays and Exegesis of §§ 185–242, Oxford 22009, S. 135 ff. Kern erblickt darin sogar »Wittgensteins eigentliche ›Einsicht‹« für die Analyse menschlichen Handelns. (Kern, Andrea: Handeln ohne Überlegen, in: Tolksdorf, Stefan/Tetens, Holm (Hg.): In Sprachspiele verstrickt – oder: Wie man der Fliege den Ausweg zeigt. Verflechtungen von Wissen und Können, Berlin/New York 2010, S. 206)

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gelnder Einübung (sprich »von Natur aus«) hat die Formel für ihn keinen oder irgendeinen symbolischen Gehalt. Ist er ihr doch bisher niemals bis über die Marke von 1000 hinaus gefolgt, ist nicht durch ein Gegenüber kontrolliert und berichtigt worden und hat sich nicht wiederholt bewährt, so dass sich das dazugehörige »Reagieren« nicht aufgrund hinlänglich vieler Gelegenheiten eingespielt hat. Er muss erst noch auf die »Gepflogenheit«, den »ständigen Gebrauch«, den »wir« von ihr machen, »abgerichtet« werden. Mit anderen Worten hängt der Sinn sprachlicher Ausdrücke davon ab, dass derjenige, welcher sie benutzt, dafür schon einen Sinn hat. 181 Diese positive Auskunft, die Wittgenstein gibt, muss unsere Aufmerksamkeit erregen. Denn sie reiht sich ganz von selber den begrifflichen Merkmalen an, welche das Phänomen der Sitte erkennen lässt und wir von Kant herkommend mit Rousseau und Hegel auseinandergelegt haben. Genau gesehen ergänzt sie jene nämlich um einen weiteren und den für das sozialontologische Anliegen, wie sich herausstellen wird, entscheidenden Aspekt. Dieser neuartige Aspekt betrifft eben die Frage, wie Menschen es machen, sich zu einer »gemeinsame[n] menschliche[n] Handlungsweise« zu bestimmen, ein übers andere Mal an den eingefahrenen Konventionen ihrer Sprachspiele und Lebensformen Maß zu nehmen. Weder Rousseau noch Hegel, geschweige denn Kant haben dazu etwas beizutragen. Wittgenstein schon. Seine abschlägige Antwort ist: nicht so, dass dem Einzelnen die einschlägigen Gepflogenheiten vorzuschweben brauchen. Und doch müssen sie ihm irgendwie präsent sein, wenn anders er sich nicht nur zufällig einmal ihnen gemäß verhalten, sondern dauernd und mit einiger Sicherheit durch sie geführt werden soll. Wittgenstein lässt daran keinen Zweifel. In Abschnitt 201 notiert er, dass es »eine Auffassung einer Regel gibt, die […] sich […] in dem äußert, was wir ›der Regel folgen‹, und was wir ›ihr entgegenhandeln‹ nennen [Herv. d. Verf.]« (PU 201). Diejenige »Auffassung einer Regel«, welche Wittgenstein hier andeutet, enthält die Lösung des Problems. Darin ist sein affirmativer Gedanke vorhanden, was es ist, das das Befolgen einer Regel ermögEr muss erst noch dahin gebracht werden, sagen zu können, wie Wittgenstein die selbstgestellte Frage »›Wie kann ich einer Regel folgen?‹« beantwortet: »›So handle ich eben.‹« (PU 217) Denn das »ich« steht hier nicht für ein Individuum im Gegensatz zu Anderen, sondern für die Art und Weise, wie man in den lebensformrelativen Sprachspielen zu handeln pflegt, an denen »ich« zusammen mit Anderen mitwirke. Vgl. BGM, S. 333.

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licht. Gemeint ist damit nämlich nichts anderes als die Art, wie einem die betreffende Regel in einer konkreten Situation anwesend sein muss, so dass man in der Lage ist, sich an sie zu halten. Gemäß Wittgenstein äußert sich diese »Auffassung einer Regel« in derjenigen allgemeinen Handlungsweise, die Menschen, welche eine Sprachgemeinschaft bilden, übereinstimmend als Regelbefolgung und Regelverstoß gelten lassen. Sie soll dadurch gekennzeichnet sein, dass die Regel nicht so sehr von diesen geäußert wird als vielmehr in der allgemeinen Weise ihres Handelns »sich […] äußert«. Dass die Regel selber es ist, die sich äußert, gibt zu erkennen, dass die in Rede stehende »Auffassung«, welche deren Verhalten vorhergehend anbahnt und mitgehend lenkt, kein wie auch immer geartetes Achtgeben ist. Eine Regel auffassen heißt nicht sie ausdrücken oder deuten oder sonst wie darauf aufmerken und ihre Umsetzung intendieren. Die »Auffassung einer Regel«, welche Wittgenstein im Auge hat, stellt ganz offenbar kein Bewusstsein von der Regel dar. 182 Am Deutlichsten spricht Wittgenstein das in Abschnitt 219 aus. Dort schreibt er: »Wenn ich der Regel folge, wähle ich nicht. Ich folge der Regel blind.« (PU 219) ›Blind‹ heißt in dem Zusammenhang nicht wie in der Wendung ›blinder Gehorsam‹, dass ich mein eigenes Urteil zurückstelle und kritiklos einem Anderen gehorche. Vielmehr tut ein Urteil, welches eine sittliche Regelmäßigkeit menschlicher Praxis aufruft und damit den Sinn eines Wortes unter den Kontextbedingungen seiner typischen Verwendung benennt, gar nicht not, um das jeweilige Wort konform zu verwenden, so wie Anderen es tun. 183 Alles hängt daran, dass nach Wittgenstein die Gepflogenheiten einer Lebensform dem Individuum bereits gebräuchlich, zur »second nature« 184 geworden sein müssen, wie Meredith Williams mit Aristoteles sagt, damit es sich bei seinem Tun und Lassen überhaupt um einen Fall von richtigem oder falschem Regelfolgen handeln kann. Darauf Die tractarianische Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen aufgreifend, kann man auch formulieren, dass die fragliche »Auffassung einer Regel« keine ist, die gesagt wird. Sondern »wie er die Erklärung ›auffaßt‹, zeigt sich darin, wie er von dem erklärten Wort Gebrauch macht.« (PU 29) 183 Ebenso wenig kann dabei von Zwang die Rede sein. Die Regel zwingt mich nicht, sie zu befolgen, denn es gibt ja gar nichts, was ihrer Befolgung entgegensteht und wogegen sie erzwungen werden müsste. Vgl. von Savigny, Eike: Wittgensteins Philosophische Untersuchungen. Ein Kommentar für Leser, Bd. I: Abschnitte 1 bis 315, Frankfurt a. M. 21994, S. 266 f. 184 Vgl. Williams, Meredith: Blind Obedience: Rules, Community and the Individual, in: Puhl, Klaus (Hg.): Meaning Scepticism, Berlin/New York 1991, S. 115. 182

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belaufen sich ja Wittgensteins Bemerkungen zum Misslingen des Sprachspiels zwischen Lehrer und Schüler, dass die Befolgung einer Regel ihren Anhalt einzig und allein an der kontinuitätsstiftenden Selbstverständlichkeit findet, mit der die betreffende Regel schon in ähnlichen Lagen und Umständen befolgt zu werden pflegt. 185 Damit ist nicht ausgeschlossen, dass es auch bei routinierten Sprechern hie und da zu Abweichungen im sprachlichen Verhalten kommt und deshalb eine anhaltende Kontrolle und etwaige Berichtigung durch Andere unerlässlich bleibt. Wittgenstein redet aber doch der scheinbar spannungsvollen These das Wort, dass ich einer sozialen Regel folge – nicht trotzdem, sondern – indem ich für sie »blind« bin. Jene macht mich dort gerade sehend für ein sie einlösendes Verhalten, wo ich sie selber nicht sehe. Sie weist mein Verhalten in gebräuchlicher Weise ein, ohne dass sie mir dabei bewusst ist und ich ein sie einlösendes Verhalten »wähle« und intendiere, weil es sie einlöst: Dann spreche (oder höre, schreibe oder lese) ich, wenn ich der Regel, ohne sie mir inwendig vorsprechen oder sie laut aussprechen zu müssen, entspreche, indem sie selbst sich mir zuspricht. Das ist die für die Ontologie des Sozialen wegweisende und im Weiteren noch näher auszuarbeitende Diagnose, zu der man mit Wittgenstein gelangt. Danach ist Regelfolgen lediglich so möglich, dass die fragliche Regel im Vollzug ihrer Befolgung unauffällig bleibt und bleiben kann. Sie muss nicht eigens auswendig hergesagt oder inwendig vorgestellt werden, sie muss einem überhaupt nicht vorschweben. Diejenige »Auffassung einer Regel«, die mein Tun und Lassen trägt, nimmt mir Wittgenstein zufolge in gewisser Hinsicht nicht meine Blindheit für diese Regel. In Betreff meines Bewusstseins und dessen Intentionalität nämlich ist es, dass das Gegeben-, das Fürmich-sein von Selbstverständlichem in der Unauffälligkeit und also darin besteht, dass es mir auf nichtbewusste Weise gegeben, dass es in nichtintentionaler Art für mich da ist. 186 »Man folgt der Regel ›mechanisch‹. […] ›Mechanisch‹, das heißt: ohne zu denken. Aber ganz ohne zu denken? Ohne nachzudenken.« (BGM, S. 422) Dagegen stellt McDowell in Abrede, dass »a concept of custom and its cognates« Bestandteil sei einer bei Wittgenstein nachweisbaren »constructive philosophical response to questions like ›How is meaning possible?‹« (McDowell, John: Meaning and Intentionality in Wittgenstein’s Later Philosophy, in: Mind, Value, and Reality, Cambridge, Mass. 1998, S. 275) 186 Gabriel drückt die Wittgenstein’sche Lösung des Regelfolgenproblems in der Sprache von »implizitem« im Gegensatz zu »explizitem Wissen« aus. Auf diese Aus185

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VI. Zur Erweiterung der Evidenzbasis für die Vorstruktur des menschlichen Bewusstseins

Das klingt nach wenig und verheißt doch einen Ausbruch aus gewissen Denkgewohnheiten. Für diejenige Idee, nach der die ontologische Verbegrifflichung des Sozialen paradigmatisch betrieben wird, kommt es einer Erschütterung gleich. Wittgensteins späte Sprachphilosophie taugt als die Wendemarke für das intentionalistische Paradigma. Reift darin doch die Erkenntnis, dass das Soziale seiner notwendigen und hinreichenden Bedingung nach keineswegs an einem intentionalen Akt des menschlichen Bewusstseins festzumachen ist, sei es am Intendierten, sei es am Intendieren. Sie führt auf die Spur, dass durchaus nicht alles, was etwas Soziales ist, entweder selbst eine bewusste Intention ist oder aber von einer solchen abhängt. Damit ist für die Sozialontologie ein neuer Fragehorizont erschlossen, dass diejenigen Regeln, welche unsere lebensformrelativen Sprachspiele bestimmen, zwar Konventionen und sozialer Natur sind, dass sie uns aber für ihre Befolgung mitnichten bewusst zu sein brauchen. Oder im Anschluss an Kant mit Rousseau und Hegel ausgedrückt: dass Menschen, um die eingewöhnten Sitten des gesellschaftlichen Verkehrs wieder und wieder fortzuleben, nicht jedes Mal intendieren müssen, jene fortzuleben. Mithin findet sich der Analyseansatz des sozialontologischen Intentionalismus dadurch desavouiert, dass einiges von dem, was etwas Soziales ist, eine bewusstseinstheoretische Konzeptualisierung augenscheinlich übersteigt. Das ist der bestimmende Punkt, wie er in Kants anthropologidrucksweise werden wir gleich noch bei einigen weiteren Autoren treffen, die sich mit einem ähnlichen Phänomen beschäftigen. (Gabriel, Markus: An den Grenzen der Erkenntnistheorie. Die notwendige Endlichkeit des objektiven Wissens als Lektion des Skeptizismus, Freiburg/München 22014, S. 276) Dass der Übergang von einem Modell expliziten zu einem impliziten Regelfolgens gewinnbringend ist und das letztere dem »Paradox« zu entkommen vermag, an dem das erstere leidet, bezweifelt Glüer, Kathrin: Explizites und implizites Regelfolgen, in: Baltzer, Ulrich/Schönrich, Gerhard (Hg.): Institutionen und Regelfolgen, Paderborn 2002, S. 157–175.

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Zur Erweiterung der Evidenzbasis

schem Begriff von Welt konturlos noch gelegen ist, in Rousseaus politiktheoretischem Begriff sittlicher Freiheit (liberté morale) und Hegels rechtsphilosophischem Begriff der Sittlichkeit mitschwingt und sich in Wittgensteins semantischem Begriff des Regelfolgens artikuliert. Die gedankliche Aufreihung und fortlaufende Rekonstruktion dieser Autoren kann als Stoßkeil dienen in eine andere Dimension unseres Geistes, in der das Soziale zu suchen sein mag. Mit ihr geht ein neues Moment menschlicher Existenz auf und bekommen wir Zutritt zu der Stätte, wo jenes in Wahrheit angesiedelt sein und von woher sein ontologischer Begriff stattdessen zu konstruieren sein könnte. Die weitere Untersuchung ist daher dementsprechend zu disponieren. Sie hat diese von Bewusstsein und Intentionalität verschiedene geistige Hinsicht unseres Daseins näher kenntlich zu machen und daraufhin auszuloten, ob sie für die sozialontologische Problemstellung an Grundsätzlichkeit gewinnen kann. Es muss in Erwägung gezogen werden, inwiefern sie sich tatsächlich zum Ansatzpunkt einer tiefer reichenden Analyse des Sozialen eignet. Ich treibe damit meine Vermutung weiter voran, der zufolge das menschliche Bewusstsein in einem fort eine soziale Bestimmtheit aufweist und nicht bloß eine gewisse Klasse seiner volitiven, kognitiven, affektiven oder sonst wie gearteten Intentionen. Um das darzutun, wollte ich von den zwei Strukturelementen, aus denen sich alles Erleben mit aufbaut und auf die sich der Intentionalismus beschränkt, wegblicken, namentlich von dessen Inhalt und Form, und dementgegen hinblicken auf den dritten und letzten Baustein unseres Gemütslebens, auf dessen Träger. Dabei ist allerdings die begriffliche Alternative von sozialontologischem Individualismus und Kollektivismus zu vermeiden. Setzen diese doch trotz aller zwischen ihnen bestehenden Differenzen denjenigen, der da intendiert, ex aequo als ein reines, vor- und ungesellschaftliches Individuum an; lediglich in einigen Fällen soll sich, was dieser oder wie er es intendiert, auf etwas Soziales belaufen. Meine prinzipielle Gegenidee unter dem Schlagwort des ›sozialontologischen Aspektizismus‹ war, das intentionalistische Paradigma, welches sowohl dem Individualismus als auch dem Kollektivismus zugrunde liegt, über die eigene Grenze hinauszutreiben, die es gegen den Intendierenden zieht, indem es ihn nicht in die Bestimmung des Sozialen einbezieht. Jener muss ganz im Gegenteil, so habe ich vermutet – und zwar gleichviel worin jeweils das von ihm Intendierte und sein Intendieren bestehen mag –, stets auch ein ge-

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sellschaftliches Wesen und von daher sein gesamter mentaler Haushalt gesellschaftlich angereichert sein. Und jetzt eröffnet sich eine vielversprechende Aussicht, das infrage stehende Subjekt von Bewusstsein und Intentionalität demgemäß zu denken. Was damit in die Frage gestellt ist, ist allerdings nichts Geringes. Einzufangen, worin die geistige Identität des Menschen besteht, und aufzuschlüsseln, was alles dazugehört, ist zweifelsohne keine einfache und nebenhin zu lösende Schwierigkeit; hier von einer komplexen Problematik zu sprechen, ist sicherlich noch eine Untertreibung. Vor allem sprengt sie den Rahmen der vorliegenden Studie. Jedoch ist das glücklicherweise gar nicht gefordert. Weder kann noch muss ich umfassend aufführen, was sich hierbei alles aufführen ließe. Indem ich mich von der über die Stationen Kant, Rousseau, Hegel und deren jeweiligen Begriff von Sitte herangeholten Einsicht der Spätphilosophie Wittgensteins habe leiten lassen, welche sich dem eigenen Anspruch nach auf die Bedeutungshaltigkeit von Sprache erstreckt, ist es bloß ein Ausschnitt, der am Geist des Menschen ins Gewicht fällt, wenn ich diese Einsicht nun in ihrer ganzen, darüber noch hinausreichenden Tragweite für die Ontologie des Sozialen fruchtbar zu machen versuche. Und auch aus diesem Ausschnitt werde ich gerade so viel ansprechen, wie nötig ist, um die Annahme des Aspektizismus zu substanziieren, wonach der Einzelne ein soziales Individuum ist. Der Auseinandersetzung mit Individualismus und Kollektivismus habe ich bereits den Hinweis entnommen, dass das intentional verfasste Bewusstsein des Menschen vielleicht gar nicht als auf sich selber beruhend veranschlagt werden darf, dass man vielmehr hinter dessen Zustände zurückmuss. Anstatt ein »unreduzierbar Letztes« auszumachen, wie Natorp proklamiert, mag es sehr wohl auf etwas zurückzuführen und von daher zu erklären sein, und zwar etwas, das nirgendwo anders liegt als in seinem Träger. Und mehr noch, womöglich sind bewusstseinsförmige Intentionen, seien sie volitiver, kognitiver, affektiver oder welcher Art auch immer, nicht einfach nur voraussetzungshaft, sondern sind diejenigen Voraussetzungen, von welchen sie getragen werden, ihrerseits schon auf menschliche Gesellschaft eingestimmt. Genau das rückt durch die Wittgenstein’sche Auflösung des (oder, besser, einer Seite des) Regelfolgenproblems in greifbare Nähe. Sie lässt erwarten, dass zum einen unser Selbst in sich vielschichtig ist, insofern es wirklich eine andere Region, nämlich von Konditionen, birgt, auf deren Boden alle bewusstseinsförmigen 268 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

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Intentionen stehen, und dass zum anderen der Begriff unseres Sozialseins, indem er ebendarauf abhebt, logisch früher ansetzt und den explanatorischen Primat besitzt vor dem des intentional verfassten Bewusstseins. Die Bedingungen, welche damit angesprochen sein sollen, sind nicht alle möglichen, denen das menschliche Tun und Lassen unterliegt. Die Luft z. B., welche wir atmen, ist ohne jeden Zweifel auch eine Bedingung dafür, dass wir irgendetwas tun oder lassen können; ohne Luft zum Atmen geht weder das eine noch das andere. Jene Konditionen aber, die all unser Verhalten voraussetzt und ich im Blick habe, sind spezifische. Es sind solche, die statt in der Natur im Geist des Menschen liegen. Denn sie sind dann nur und nur in dem Maße erfüllt, wenn und als etwas für mich da, mir gegeben ist: Ihr Erfülltsein besteht im Für-mich-sein einer Sache. Dabei kann es sich auch um das Gegebensein von etwas Natürlichem, beispielsweise dessen handeln, dass Menschen Luft zum Atmen brauchen, insofern solches Wissen nur eine Voraussetzung dafür ist, sich auf bestimmte Weise zu verhalten. Was aber ist das für ein Für-mich- oder Gegebensein? Keines, so wurde negativ gesagt, das ein bewusstes sein muss. Dasjenige Wissen, dessen weitere Analyse zur Aufgabe gestellt ist, besteht vielmehr darin, wie ich positiv formuliert habe, dass sich Selbstverständliches auf unauffällige Weise gibt. Ich will das unter dem absichtlich unterminologischen Titel der ›Lebenserfahrung‹ diskutieren. Darum geht es im Weiteren, dass Menschen in den jeweiligen Dingen ihres Lebens erfahren sind und dass dies als eine Voraussetzung ihres Verhaltens fungiert. Die quaestio crucis der Sozialontologie und des Aspektizismus, den sie zu vertreten hat, lautet damit, ob und inwiefern die vom Bewusstsein verschiedene Hinsicht unserer geistigen Existenz, und das will eben sagen unseres Erfahrenseins, den Charakter einer gesellschaftlich durchsetzten Bedingung für die Möglichkeit unseres Bewusstseins im Ganzen besitzt: ob und inwiefern das Ich der Intentionalität – was auch sonst noch dazugehören mag, uns aber nicht weiter zu kümmern braucht – immer auch und zuvörderst sogar eine Vorstruktur der Intentionalität darstellt und diese Vorstruktur bereits sozial bestimmt ist. Wenn sich das bewahrheiten lassen sollte, und das wird im verbleibenden Rest der vorgelegten Arbeit zu erproben sein, wäre nachgewiesen, dass nicht nur und nicht erst einige unserer bewussten Intentionen und in der Folge solches, was davon abhängt, etwas Soziales ist. Das träfe auch schon auf dasjenige zu, was sämtli269 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

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che unserer bewussten Intentionen voraussetzen, was sie bedingt und ermöglicht und wodurch sie infolgedessen selber gesellschaftlich ausgezeichnet sind. Im Folgenden will ich mich dieses neugewonnenen Moments im menschlichen Dasein zunächst einmal weiter vergewissern, indem ich seine Evidenzbasis erweitere. Und das in drei Schritten. Im ersten Schritt nehme ich das Beispiel einer Interaktion unter Anwesenden noch einmal vor, im zweiten Schritt füge ich andere bedeutungstragende und daher verstehbare Phänomene hinzu. Wohl erschöpft sich der Wirkungskreis der Sitte weder für Kant, Rousseau und Hegel noch auch der Sache nach in gesprochener und geschriebener Sprache sowie außersprachlichen Mienen, Gesten und Posen. Doch will ich hier einsetzen, beim Handeln der Menschen mit-, fürund gegeneinander, um das Resultat der Beschäftigung mit Wittgenstein auszudehnen und auf eine breitere Grundlage zu stellen. Ich beginne mit dem Sachbereich der nonverbalen Facetten eine Interaktion unter Anwesenden, mit mimischem, gestischem und posturalem Verhalten; Wittgensteins Überlegungen lassen sich darauf eins zu eins übertragen. Und ich fahre fort mit der Kommunikation unter Nichtanwesenden; in Bezug auf den Sachbereich der Schrift ist es die Hermeneutik Friedrich Schleiermachers, die ein entsprechendes Zeugnis gibt. Schließlich ziehe ich in einem dritten Schritt die Überlegungen weiterer Autoren hinzu. Diese Autoren kommen allesamt darin überein, dass sie im Kontext unterschiedlicher Problemstellungen und mit wechselnden Bezeichnungen auf den gleichen Sachbereich menschlicher Erfahrenheit abstellen. Dazu zählen u. a. Gilbert Ryle, HansGeorg Gadamer, Michael Polanyi und Jürgen Habermas. Ihre jeweiligen Problemstellungen, jedenfalls die der meisten, übergreifen den einen wie den anderen Phänomenkreis, betreffen sowohl sprachliches als auch nichtsprachliches Verhalten. Und ihre jeweiligen Bezeichnungen reichen von »knowing how« über »Vorurteile« und »tacit knowing« bis hin zu »Hintergrundwissen«. Um mich aber nicht auf die Überlegungen des einen oder des anderen festzulegen, bleibe ich mit Absicht bei meiner eigenen Terminologie. Die genannten Phänomene und etliche andere mehr verbindet, dass sie gewisse Bezüge in sich fassen. Eine Interaktion unter Anwesenden geht wie ein Text nicht in ihren sinnlichen Aspekten auf. So wesentlich ihr diese Seite auch ist, ihr ganzes Sein hat sie darin doch nicht. Vielmehr eröffnen, fügen und ordnen sich daran Aspekte 270 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

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anderer Art. Die verbalen und nonverbalen, sprich mimischen, gestischen und posturalen, Äußerungen der Beteiligten haben noch eine weitere, eine geistige Seite, welche wir gemeinhin ihre ›Bedeutung‹ oder ihren ›Sinn‹ nennen. Damit ist nicht so etwas wie die Wichtigkeit einer Sache gemeint, ihre Bedeutsamkeit. Je nachdem, woran der Teilnehmer oder Beobachter einer Interaktion, aber auch der Leser einer Schrift gerade Interesse nimmt, kann ihm die jeweilige Erscheinung unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten begegnen und in unterschiedlicher Hinsicht relevant sein. So differenziert beispielsweise Emilio Betti in seiner Grundlegung der Hermeneutik zwischen der »Bedeutung« einer Sache und ihrer »Bedeutsamkeit«. Während die erstere singulär und unwandelbar sein soll, weil sie nicht vom jeweiligen Rezipienten abhänge, soll die letztere, und zwar weil sie durch den jeweiligen Rezipienten begründet werde, im Laufe der Rezeptionsgeschichte durch eine Pluralität von Interpretationen unendlich erweiterbar sein. 187 Was ich sagen will, ist, dass die Beiträge, welche Ego und Alter zu einem Interaktionsgeschehen leisten, ebenso wie Texte auch Ausdrucksphänomene sind. In Kommunikationen von Angesicht zu Angesicht, und solche machen einen erheblichen Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit aus, verbrauchen sich die dazugehörigen wahrnehmbaren Vorgänge nicht in sich selbst. Die sichtbaren Bewegungen des Körpers ebenso wie die hörbaren Lautfolgen der Stimme von Ego und Alter weisen über sich hinaus: Sie bergen eine geistige Bestimmtheit, zu deren Träger sie herabgesetzt sind und welche sich darin mitteilt, ob der betreffende Akteur selber diese Bestimmtheit im Ganzen überschaut und mitteilen will oder nicht. 188 Und so auch im Falle etlicher anderer Vorkommnisse, mit denen sich noch dazu die empirischen Sozialwissenschaften abgeben. In schriftlichen Kommunikationen etwa enthalten die aufgezeichneten Worte und Sätze ebenfalls Sinn. Ich möchte daher von derlei Phänomenen, den geVgl. Betti, Emilio: Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen 1962, S. 27 ff. Unter der Bezeichnung »meaning« und »significance« nimmt das auf Hirsch, Eric D.: Validity in Interpretation, New Haven/London 1967. 188 Auch Betti stellt an den Beginn seiner Hermeneutik die Differenz zwischen einem wahrnehmbaren Träger, der der physischen Ebene angehört, und dem zu verstehenden und auszulegenden Sinngehalt, welcher ihm anvertraut ist und seine geistige Ebene ausmacht. Vgl. Betti, Emilio: Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre, Tübingen 1954, S. 79 f. 187

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nannten sowie etlichen anderen mehr, auf die ich aber nicht weiter eingehen werde, allgemein als von ›bedeutungstragenden Phänomenen‹ sprechen. 189 Keineswegs soll damit alles über einen Leisten geschlagen sein. Wenn ich von gesprochener und geschriebener Sprache sowie von nichtsprachlichen Mienen, Gesten und Posen gleicherweise als von bedeutungstragenden Phänomenen spreche, soll das mitnichten dazu dienen, die Unterschiede, die zwischen diesen Phänomenen bestehen, klein- oder wegzureden. Allerdings brauchen mich jene Unterschiede, die ich fraglos zugestehe, nicht weiter zu interessieren. Denn mein Interesse geht ausschließlich darauf hinaus, den Nachweis zu führen, dass bei Mienen, Gesten und Posen sowie beim Schreiben und Lesen Vorerfahrung mit von der Partie ist. Sowohl die Hervorbringung als auch die Aufnahme, das Zuverstehengeben und das Verständnis der Bedeutung, welche sie tragen, ist dadurch fundiert. Und im Vollzug des einen wie des anderen vollziehen sich gesellschaftliche Praxisformen, die von ebenjener Erfahrung zehren. Im Anschluss daran werde ich sodann in Kapitel VII.1 die besagte Vorstruktur des Bewusstseins begrifflich fixieren. Und nicht nur das. Es lässt sich auch festhalten, inwiefern diese Ermöglichungsbedingung unseres Bewusstseins dasjenige ausmacht, von dem her jede Zuwendung zu symbolisch strukturierten Gebilden eine soziale Anreicherung aufweist. Indem ich das in Kapitel VII.2 unternehme, mache ich einen Anfang damit, die Ontologie des Sozialen auf die Konditionen unserer Intentionalität umzupolen. Ich expliziere das Soziale selbst und im Allgemeinen in einer ersten Begriffsbestimmung als die vorgängige Gemeinsamkeit, welche im intentionalen Verhalten zu Ausdrucksphänomenen, sei dies nun ein hervorbrin-

Diejenige Art von Sinn, die ich meine, ist also weder das, was Weber im Auge hat, wenn er den begrifflichen Apparat seiner verstehenden Soziologie auf den vom »Handelnden gemeinten Sinn« seines Verhaltens aufbaut. (Weber, Max: Soziologische Grundbegriffe (1921), a. a. O., S. 1) Noch das, woran Winch – welcher Wittgensteins späte Philosophie erstmals für eine Grundlagentheorie der Sozialwissenschaften fruchtbar macht – den Sinn menschlichen Handelns knüpft, dass es nämlich Regeln folgt. Vgl. Winch, Peter G.: The Idea of a Social Science and Its Relation to Philosophy, London 1958, S. 45 ff. Die eine wie die andere Bedeutungskonzeption greift im vorliegenden Zusammenhang zu weit aus, ist doch danach jedes Verhalten der Menschen sinnvoll zu nennen, wenn es nur das jeweilige Kriterium erfüllt. Wir haben es dagegen mit einer Form von Sinn zu tun, die ein gewisses Handeln gegen diverse andere abgrenzt.

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Der Sachbereich nonverbaler Facetten der Interaktion

gendes Verhalten zu derlei Phänomenen oder eine aufnehmende Zuwendung, mit enthalten ist.

1.

Der Sachbereich nonverbaler Facetten der Interaktion

Wittgensteins Sprachphilosophie, mit der wir einen Teil des Weges mitgegangen sind, hat einsichtig werden lassen, dass die Regeln, nach welchen sich unsere Sprachspiele zu vollziehen pflegen und in denen der in Kontexte eingebettete Sinn umgangsüblicher Wortverwendungen aufgehoben liegt, uns auf eine andere denn bewusste und intentionale Weise gegenwärtig sind, wo wir sie dauernd sicher zu befolgen sowie qualifiziert über die Richtigkeit oder Falschheit des sprachlichen Lernens, Meinens und Verstehens Anderer zu urteilen vermögen. Dieses unauffällige Für-mich-sein von solchem, das mir selbstverständlich ist, habe ich mit der Bezeichnung des ›Erfahrenseins‹ belegt. Das lädt zu weiterer Überlegung ein. Denn derlei lässt sich doch wohl nicht allein in Ansehung der Sprache ausmachen. Die von Kant, Rousseau und Hegel geführte Vertiefung in die gesellschaftliche Lebensrealität der Sitte legt nahe, dass Derartiges mit ungleich größerem Umfang in der Praxis unseres Mit-, Für- und Gegeneinander am Werk ist. Zu vermuten steht, dass sogar jedwede sittliche Regelmäßigkeit einer Lebensform, in der jemand daheim ist (und die sich selbst noch auf das Neben- und Ohneeinander der Menschen erstrecken kann, wie in Kapitel IX.2 zu sehen sein wird), ihren Vollzug orientiert, ohne dass er sich dafür extra auf sie besinnen und konzentrieren muss. Dem will ich zumindest ein Stück weit nachspüren und die Behauptung einer zugrunde liegenden Lebenserfahrung untermauern, indem ich sie an einem breiter gefächerten Kreis von Phänomenen dokumentiere. Dazu zählt auf der einen Seite die elementare Kontaktform der Interaktion unter Anwesenden. Eine solche stellt zwar gewiss auch diejenige Episode dar, mit deren Hilfe Wittgenstein einige seiner Gedanken zum Problem des Regelfolgens entfaltet, da nämlich ein Lehrer seinen Schüler im Zählen unterrichtet. Doch was ich ›Erfahrenheit‹ genannt habe, spielt nicht nur hinsichtlich der gesprochenen Sprache eine Rolle; das gilt geradeso für die nichtsprachlichen Mienen, Gesten und Posen, die im Hin und Her eines interaktiven Vorgangs für gewöhnlich zum Zuge kommen. Und dazu zählen auf der anderen Seite auch die in Texten geschriebene Sprache sowie über273 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

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haupt Kommunikationsofferten, die durch sonstige Verbreitungsmedien über die Schranken des Hier und Jetzt hinaus zu Nichtanwesenden transportiert werden. In solchen Fällen der Aufbewahrung von Sinn ist Wittgensteins Einsicht desgleichen an ihrem Platz. Sicherlich habe ich, wo ich solche Phänomene bereits gestreift habe, so etwas wie die Erfahrung in den Dingen des menschlichen Lebens noch nicht in Betracht gezogen. Allerdings habe ich den Ausgang der vorliegenden Untersuchung ebenso wenig davon genommen, dass ich dergleichen in Abrede gestellt habe. Und es lässt sich nun, nachdem eine Sensibilität dafür geweckt ist, bemerklich machen, dass jene die ganze Zeit über mit im Thema stand, ohne jedoch thematisiert worden zu sein. Beginnen will ich mit den nonverbalen Facetten einer Interaktion unter Anwesenden. Dabei handelt es sich um eine Tag für Tag massenweise auftretende, für eine Gesellschaft ebenso lebenswichtige wie für deren wissenschaftliche Erforschung nicht zu überspringende Form des Verkehrs unter Menschen. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass zwei oder mehr Personen gleichzeitig vor Ort sind und in wechselseitiger Ausrichtung aneinander agieren, sei dies miteinander, füreinander oder gegeneinander. Die Frage, welche wir jetzt in Bezug darauf zu stellen haben, lautet, wie den Anwesenden eine Sitte gegeben sein muss, um den Gebrauch – nicht von Worten, was wir als von Wittgenstein bereits aufgewiesen voraussetzen dürfen, sondern – von Mienen, Gesten und Posen, die in einer Interaktion gleichfalls vorkommen, in den ihr gemäßen Bahnen zu halten. Darauf lässt sich eine Antwort zuwege bringen, indem man Wittgensteins Betrachtung in ihrem Wesentlichen wiederholt. Ist die fragliche Gegebenheitsweise, so steht zu bedenken, die, dass einem die mimische, gestische oder posturale Gepflogenheit, damit man sie einhalten kann, vorzuschweben hat? Eine also, die in der Begrifflichkeit von Bewusstsein und Intentionalität auszubuchstabieren ist? Nehmen wir versuchsweise an, wie Wittgenstein das hinsichtlich der (gesprochenen) Sprache tut, dass eine Konvention die jeweilige Miene, Geste und Pose, deren sich Alter in der Interaktion mit Ego bedient, lediglich dann anleitet, wenn sie bewusst für ihn da, wenn sie ihm als Gehalt eines intentionalen Zustands präsent ist. Und nehmen wir, um in eine Nachprüfung dieser Annahme einzutreten, mutatis mutandis die gleiche Szenerie zu Hilfe wie die in Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen, da nämlich einer, ein Lehrer, einem anderen, seinem Schüler, eine derartige Üblichkeit des 274 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Der Sachbereich nonverbaler Facetten der Interaktion

sozialen Umgangs anhand von »Beispielen« und »Erklärungen« beibringt. Stellen wir uns ferner vor, dass der Lehrer seinen Schüler auffordert, das Gelernte probehalber in einem gemeinsamen Übungsdialog anzuwenden. Beim ersten Mal gelingt ihm das auch, ebenso beim zweiten Mal; beim dritten Mal jedoch greift er daneben. Der Lehrer rekapituliert daraufhin seine bisherigen Darlegungen. Er verspricht sich davon, dem Schüler die Augen zu öffnen für den begangenen Irrtum. Doch der fühlt sich durch die erneuten Ausführungen nur in seinem mimischen, gestischen oder posturalen Verhalten bestätigt. Wie sich jetzt nachträglich herausstellt, hatte Alter von den ihm gegebenen »Beispielen« und »Erklärungen« für die fragliche konventionale Regel von Beginn an ein anderes Verständnis, als in Egos Meinung lag. Statt dass er einfach bloß mangelnde Sorgfalt hat walten lassen, indem er nicht achtsam genug hingeschaut und hingehört hat, bedeutet sie für ihn etwas anderes. Wiederum bringt die Vorstellung einer solchen Begebenheit ein Doppeltes zutage, und zwar dass – mit Wittgenstein zu sprechen – weder der »Ausdruck« noch die »Deutung« eines Brauchs nonverbaler Kommunikation dessen fehlerresistente Einhaltung garantiert. Jenen zu äußern und durch Beispiele zu veranschaulichen, gibt seiner Umsetzung genauso wenig einen sicheren Leitstab an die Hand, wie ihn durch Erklärungen zu umschreiben. Wittgensteins Diagnose eines scheinbaren Paradoxes bewahrt hier ihre unverminderte Gültigkeit. Artikulation oder Paraphrase auch einer mimischen, gestischen und posturalen Gepflogenheit, wie sie etwa unser Lehrer seinem Schüler vorträgt, verhindert keinesfalls Missgriffe; sie vermag keine Handlungsart vorzugeben, weil sich eine jede bald »in Übereinstimmung« und bald »zum Widerspruch« damit bringen lässt. Einer derartigen Gepflogenheit nachzukommen, und zwar nicht bloß zufälligermaßen und einmaligerweise, sondern authentisch und fortgesetzt, bleibt illusorisch, sofern dafür deren Ausdruck oder Deutung eine Voraussetzung abgeben soll. Sie zu artikulieren oder zu paraphrasieren, erst recht »Deutung hinter Deutung setzen«, macht mitnichten eine notwendige Bedingung aus, um sie zu befolgen. 190 Der im 20. Jahrhundert vieldiskutierte infinite Regress, in den sich Wittgenstein zufolge verstrickt, wer das Problem der Anwendung einer Regel dadurch lösen möchte, dass er für die Paraphrase der Regel erneut eine Umschreibung verlangt, findet sich in seinen Grundzügen bereits bei Kant. Dieser bestimmt in seiner Kritik der reinen Vernunft die »Urtheilskraft« als das »Vermögen, unter Regeln zu subsumiren« (KrV B 171). Und er sieht, dass deren Geschäft nicht selber wieder durch eine weitere Regel

190

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Die zur Debatte stehende Annahme hält also nicht Stich. So wenig es die Äußerung oder Umschreibung einer sozialen Weise des nichtsprachlichen Handelns braucht, um mich an ihr auszurichten, so unnötig ist es, dass mir jene sonst wie »vorschwebt«. Sie kann hinter ihrem Vollzug zurückstehen und dem Bewusstsein verborgen bleiben. Die Umsetzung einer solchen Regelmäßigkeit ist keine Sache ihres Intendierens, des Intendierens einer Handlung als Umsetzung einer Regelmäßigkeit: Nicht trotzdem, sondern indem ich – mit Wittgensteins treffender Charakterisierung – »blind« für sie bin und also nicht aus einer Vielzahl von Optionen auswähle, vermag ich sie zu realisieren. Die Handlungsweise erst abstrakt einem Anderen in foro externo zur Kenntnis zu geben oder auch nur selber in foro interno zur Kenntnis zu nehmen, verschlägt nichts, wo es darum geht, sie richtig auf den konkreten Fall anzuwenden oder solcherlei bei Anderen zu beurteilen. Bietet das ihrer Anwendung sowie der Beurteilung ihrer Richtigkeit nicht den mindesten Anhalt. Den Sinn einer Miene, Geste oder Pose zu erlernen, mit ihr etwas zu meinen und sie zu verstehen, ist daran nicht gebunden. Wann allein bin ich dazu imstande? Auf der Fluchtlinie der Wittgenstein’schen Semantik scheitert der Schüler deshalb daran, die vom Lehrer ausgegebene Konvention für ein mimisches, gestisches oder posturales Verhalten umzusetzen, weil es ihm an Übung und Gewöhnung hapert. Während der Lehrer die Regel so meint, wie er sie meint, weil er das infolge wiederholter »Erziehung (Abrichtung)« durch Andere eingelernt hat, versteht der Schüler sie, wie er sie versteht, falsch, weil es ihm noch an solcher Erfahrung des Kontrolliert- und Berichtigtwerdens gebricht. Aufgrund des Mangels an Gelegenheit zur Bewährung in der respektiven Form kommunikativer Praxis hat sich ihm noch nicht eine Fertigkeit eingespielt, die er in variierenden Zusammenhängen immer wieder zu aktualisieren in der Lage ist. Daran ist das Lernen, Meinen und Verstehen auch im Falle von Mienen, Gesten und Posen gebunden. In diesem Sinne besitzen Ausdruck und Deutung einer Sitte »von Natur aus« entweder keine bestimmte oder aber eine nur willkürliche Bedeutung für Alter, die nichts mit derjenigen zu tun hat oder zu tun haben muss, welche sie

geführt werden kann, welche entscheidet, wie die anfängliche Regel anzuwenden ist. Denn das »erfordert eben darum, weil sie eine Regel ist, aufs neue eine Unterweisung der Urtheilskraft«, und so immer fort (vgl. TP VIII 275).

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für Ego und die übrigen (oder doch wenigstens die meisten) Mitglieder des jeweiligen Gesellschaftsverbandes besitzt. 191 Ins Dasein des Lehrers aber hat sich das solcherart Gelernte tief eingegraben. Es ist ihm geradezu zur zweiten Natur geworden. Selbst wenn er wollte, er braucht nicht mehr auf diese zur Selbstverständlichkeit geronnene Form des mimischen, gestischen und posturalen Verhaltens zu achten. Völlig unauffällig lotst sie ihn durch neue Lebenssituationen, sofern diese nur in entscheidenden Rücksichten den alten, schon durchlebten gleichen. Das ist es, was Wittgenstein vor Augen steht, wenn er feststellt, dass es »eine Auffassung einer Regel gibt, die […] sich […] in dem äußert, was wir ›der Regel folgen‹ und was wir ›ihr entgegenhandeln‹ nennen«. Die besagte »Auffassung« soll sich selber darin zur Geltung bringen, welche Worte sowie, so darf man hinzufügen, Mienen, Gesten und Posen eine Menge von Menschen mehr oder weniger einhellig als Erfüllung einer Gepflogenheit akzeptieren oder als Verstoß dagegen verwerfen. Zweifellos verfehlt sich auch der geübte Akteur einmal oder weicht versehentlich im Urteil über Richtig und Falsch des Lernens, Meinens und Verstehens Anderer ab. Der Normativität lebendiger Üblichkeiten kann er um der stabilen und darum verstehbaren Bezüge willen, die sich in seinem Tun und Lassen eröffnen, fügen und ordnen, niemals entfliehen. Trotzdem ist die »Auffassung einer Regel«, welche nach Wittgenstein deren Befolgung im einen wie im anderen Fall allererst in ihre Möglichkeit bringt, eine nichtbewusste und nichtintentionale. Sie besteht in einem, und das eben geht dem Schüler in unserem Beispiel ab, eigentümlichen, nämlich seinem Bewusstsein und dessen Intentionalität gegenüber früheren Erfahrensein in der betreffenden Konvention. Eine andersgeartete Überlegung als die von Wittgenstein aufgebotene führt auf das gleiche Ergebnis. Sie ist in der vielberufenen Parabel vom Fuchs und Tausendfüßler angelegt, die auf den chinesischen Philosophen und daoistischen Mystiker Zhuangzi zurückKants Erklärung, weshalb es nie zu einem Regress kommt, nimmt im Kern sogar die Erklärung Wittgensteins vorweg, wenngleich dabei jedweder soziale Bezug fehlt: »so zeigt sich, daß […] Urtheilskraft […] ein besonderes Talent sei, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will [Herv. d. Verf.]« (KrV B 172). Ein Begriff muss mir nicht vorschweben, um einen Gegenstand darunter subsumieren zu können. Dank einer gewohnheitsmäßig ausgebildeten Urteilskraft ist es, dass ich die Beziehung zwischen beiden zustande bringe. Vgl. Graband, Claudia: Klugheit bei Kant, Berlin/Boston 2015, S. 268 ff.

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geht. 192 Deren Botschaft ist in etwa die, dass es unseren unbefragt geübten Fähigkeiten abträglich ist, befragt zu werden. 193 Ein Fuchs will vom Tausendfüßler wissen, wie er es anstellt, seine unzähligen Füße beim Gehen so fließend zu koordinieren, wie er es tut. Verblüfft versucht sich jener darauf zu besinnen und verliert darüber die Koordination und den Fluss seines Gangs. Und wie man sich unschwer ausmalen kann, büßte beispielsweise auch eine Balletttänzerin, wenn sie anfinge, über ihre eleganten Tanzbewegungen nachzudenken, um sie sodann mehr als zuvor intendiertermaßen zu verrichten, nicht nur an Eleganz ein, sondern geriete überdies ins Stocken. Der Gedanke ist hier also nicht wie bei Wittgenstein, dass das Bewusstmachen einer Ordnung deren Umsetzung nicht verbürgt, sondern der, dass solches Bewusstmachen unsere Fähigkeit, die Ordnung umzusetzen, sogar überlastet und blockiert: Paralyse durch Analyse. 194 Wohl trifft das auf komplexe Tätigkeiten mehr zu denn auf simpler gestrickte. Allerdings steht zu beachten, dass schon in einer Interaktion unter Anwesenden niemals bloß eine einzige Sitte allein zur Anwendung kommt. Immer sind es viele, die zugleich verwirklicht werden, Konventionen sowohl verbaler als auch nonverbaler Kommunikation, für den Einsatz von Worten sowie Mienen, Gesten und Posen. Wäre solch eine Korealisierung mehrerer Regeln eine Leistung einzig und allein unserer Intentionalität, bliebe gewiss jeder derartige Versuch bereits in den Kinderschuhen stecken. Bei jedem von uns bedeutete das wohl im Getümmel des Geschehens notgedrungen Überlastung und Blockade: Indem man analysiert, wird man paralysiert.

Im Original geht die Parabel zwar ein klein wenig anders, als sie meistens (und so auch hier) wiedergegeben wird, am Ergebnis ändert das aber nichts. Siehe dazu Wohlfart, Günter: Die Kunst des Lebens. Skurrile Skizzen zu einem eurodaoistischen Ethos ohne Moral, Berlin 2005, S. 107 ff. 193 Vgl. Rothacker, Erich: Zur Genealogie des menschlichen Bewußtseins, Bonn 1966, S. 68; Oldemeyer, Ernst: Zur Phänomenologie des Bewußtseins. Studien und Skizzen, Würzburg 2005, S. 97 f. 194 So auch Abel, Günter: Quellen der Orientierung, in: Bertino, Andrea/Poljakova, Ekaterina/Rupschus, Andreas/Alberts, Benjamin (Hg.): Zur Philosophie der Orientierung, Berlin/Boston 2016, S. 168. 192

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Der Sachbereich der Schrift: »besser zu verstehen als ihr Urheber«

2.

Der Sachbereich der Schrift: »besser zu verstehen als ihr Urheber« (Schleiermacher)

Ganz genauso verhält es sich mit der in Texten aufgeschriebenen oder durch Druck vervielfältigten Sprache sowie mit Kommunikationen, die vermittels anderweitiger Verbreitungsmedien wechselweise oder auch nur einseitig unter Nichtanwesenden statthaben. Mit Blick auf die technischen Innovationen seit dem 19. und vor allem im 20. Jahrhundert sind hier insbesondere die verschiedenen Varianten an elektronischem Informationstransfer zu nennen, die wie z. B. Telegraphie und Telefonie, Fax und Funk, Fernsehen und digitaler Datenaustausch raumzeitliche Barrieren der Kopräsenz überwinden. Für den Sachbereich von Schrift und Buchdruck, deren Geschichte natürlich um ein Beachtliches weiter zurückreicht, steht dabei ein namhafter Gewährsmann zur Verfügung. In der neueren Entwicklung der Hermeneutik ist es die Epoche der Romantik und darin vorzüglich das Werk Schleiermachers, welche ihr Leitmotiv aus nichts anderem als dem Gedankenbrunnen ebenjener Dimension des Vorbewussten und Vorintentionalen im menschlichen Leben schöpft. Sein Zeugnis soll zur weiteren Bestätigung dessen dienen, was wir mit anderer Schwerpunktsetzung bereits bei Wittgenstein kennengelernt haben. Während Wittgenstein nämlich mehr die gesprochene Sprache in den Mittelpunkt stellt, ist es bei Schleiermacher umgekehrt die geschriebene bzw. gedruckte Sprache. Ich will gar nicht leugnen, dass beide Autoren mit ihren Überlegungen das jeweils andere sehr wohl auch mit im Sinn haben. Es handelt sich dabei lediglich um einen Unterschied der Betonung. Schleiermacher war philosophischer Zeitgenosse der großen Denker des deutschen Idealismus. Als Altphilologe machte er sich einen Namen durch die Übersetzung der Dialoge Platons ins Deutsche. Seine eigentliche Karriere erfolgte indessen in der protestantischen Theologie. Daneben hat er sich allerdings seit der Berufung an die Universität Halle im Jahre 1804 bis hin zu seinem Tod 1834 immer wieder auch mit Herausforderungen auf dem Gebiet der Hermeneutik beschäftigt. Insgesamt las er in der Zeit zwischen 1805 und 1832 neun Mal darüber, zunächst noch über »Hermeneutica sacra« 195 Wie Schleiermacher am 17. Dezember 1804 an Joachim Christian Gaß schreibt. (Schleiermacher, Friedrich D. E.: Briefwechsel 1804–1806 (Briefe 1831–2172), KGA V/8, Berlin/New York 2008, S. 67)

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in Anknüpfung an das damals schulbildende Lehrbuch von Johann August Ernesti, 196 ab dem Wintersemester 1809/10 dann in Berlin über die, wie die Ankündigung lautete, »allgemeinen Grundsätze der Auslegungskunst« 197. Außerdem hat er 1829 ebenda zwei Vorträge in der Preußischen Akademie der Wissenschaften gehalten, welche schon zu Lebzeiten veröffentlicht wurden. Eine ausgereifte Darstellung seiner Überlegungen brachte Schleiermacher selbst nicht zur Publikation. Anhand seiner Manuskripte sowie von Mitschriften einiger Zuhörer hat Friedrich Lücke im Jahre 1838 postum eine kompendienartige Zusammenfassung unter dem Titel Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament herausgegeben, welche Schleiermachers diesbezügliche Wirkung begründete. 198 Entgegen den traditionsreichen Spezialhermeneutiken in Theologie, Philologie und Jurisprudenz sieht Schleiermacher von den spezifischen Schwierigkeiten, welche sich in jenen Disziplinen jeweils stellen, ab. Wie im 17. und 18. Jahrhundert schon mit immer weiter anwachsender Umfassungsweite etwa von Johann Conrad Dannhauer, Johann Martin Chladni und Georg Friedrich Meier vorgelegt, 199 schraubt er die Problemstellung der Hermeneutik ins Universale hinauf. Indem er zusätzlich zur Interpretation der Heiligen Schrift auch die alter Klassiker, sogar von trivialliterarischen Erzeugnissen wie Briefen, Epigrammen und Zeitungsinseraten sowie schließlich des Redners vor einem anonymen Auditorium und des Mitunterredners im trauten Zwiegespräch abdecken will, sind seine Betrachtungen von einem wahrhaft alleinbegreifenden Impetus angetrieben. 200 Und doch soll der Zweck in sämtlichen genannten Fällen derselbe sein, was Schleiermacher durchgehend in eine handliche Formulierung kleidet. Danach komme es einer kunstgemäßen, wissenschaftlich betriebenen Praxis des Verstehens, die er als ›Auslegung‹ So Schleiermacher in einem Brief an Gaß vom 3. Februar 1805 (vgl. ebd., S. 125). Gemeint ist Ernesti, Johann A.: Institutio interpretis Novi Testamenti, Leipzig 1761. 197 Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, Nr. 136, 14. November 1809, S. 6 f. 198 Siehe dazu überblickshaft Grondin, Jean: Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 32012, S. 103 f. 199 Vgl. Jaeger, H.-E. Hasso: Studien zur Frühgeschichte der Hermeneutik, in: Archiv für Begriffsgeschichte 18 (1974), S. 35–84. 200 Vgl. Schleiermacher, Friedrich D. E.: Akademievorträge, KGA I/11, Berlin/New York 2002, S. 607 ff. 196

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Der Sachbereich der Schrift: »besser zu verstehen als ihr Urheber«

anspricht (in Abhebung von der intuitiven, alltagsweltlichen Verstehenspraxis) und deren verschiedene Seiten und Methoden er freizulegen unternimmt, darauf an, eine fremde Schrift bzw. Rede »zuerst eben so gut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber« 201. Allerdings gibt Schleiermacher dieser für seine hermeneutische Besinnung insgesamt kanonischen Formel eine andere Stoßrichtung als noch Kant, bei dem er sie vorgebildet findet. In dessen Kritik der reinen Vernunft ist einmal eher beiläufig zu lesen: »Ich merke nur an, daß es gar nichts Ungewöhnliches sei, sowohl im gemeinen Gespräche, als in Schriften, durch die Vergleichung der Gedanken, welche ein Verfasser über seinen Gegenstand äußert, ihn so gar besser zu verstehen, als er sich selbst verstand, indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimmte, und dadurch bisweilen seiner eigenen Absicht entgegen redete, oder auch dachte. [Herv. d. Verf.]« (KrV B 370)

Der Kontext dieses eingeschobenen Kommentars ist Kants Benennung der in der »transscendentalen Dialektik« zu behandelnden reinen Vernunftbegriffe des menschlichen Intellekts als ›Ideen‹. Wie er früh schon in der Kritik, und zwar in der »transscendentalen Analytik«, die reinen Verstandesbegriffe unter Berufung auf Aristoteles als ›Kategorien‹ bezeichnet, welche ihre Quelle ebenfalls in ipsa natura intellectus puri haben sollen, 202 lehnt er sich jetzt an Platon als Namensgeber an. Und wie er dort bereits klarstellt, dass lediglich seine Absicht, nicht aber deren Ausführung dieselbe sei wie die des Aristoteles, streicht er hier heraus, dass er letzten Endes zu einem durchaus anderen Ergebnis komme als Platon, mit dem er sich bloß in den Anfängen einig wisse. Er wolle sich auch in gar »keine litterarische Untersuchung einlassen, um den Sinn auszumachen, den der erhabene Philosoph mit seinem Ausdrucke verband«. Worauf Kant stattdessen hinauszielt, ist ein besseres Verständnis des Themas, um das sich die Äußerung eines Anderen dreht, sprich der Sache der Kategorien bei Aristoteles und der der Ideen bei Platon. Einen Verfasser »besser zu verstehen, als er sich selbst verstand«, heißt ihm, denjenigen »Gegenstand«, worauf dieser seine »Gedanken« richtete, endlich anSchleiermacher, Friedrich D. E.: Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik, KGA II/4, Berlin/Boston 2012, S. 128. Siehe auch S. 34, 39, 67, 75, 114, 133, 219, 233, 240, 341, 384, 425, 488 und passim. 202 Vgl. KrV B 105. So formuliert Kant bereits in seiner vorkritischen Schrift De mundi aus dem Jahre 1770, dass die Begriffe der Metaphysik »in ipsa natura intellectus puri« (MSI II 395), in der Natur des reinen Verstandes selbst, zu suchen seien. 201

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gemessen und zulänglich zu bewältigen. Hätten Aristoteles und Platon nur konsequent der »eigenen Absicht« gemäß gedacht, hätten sie ihre »Begriffe« gerade so bestimmen müssen wie Kant, meint Kant. 203 Anders Schleiermacher. Er verwandelt sich die Wendung derart an, dass sie nun auf ein besseres Verständnis der Äußerung abhebt, die ein Anderer über ein Thema getätigt hat. Die »Aufgabe der Hermeneutik« besteht für ihn darin, wie er u. a. in seinem Akademievortrag vom 13. August 1829 erklärt und damit die folgenreiche These des Schelling-Schülers und klassischen Philologen Friedrich Ast aufnimmt, »den inneren Hergang der Composition«, »den ganzen innern Verlauf der componirenden Thätigkeit des Schriftstellers auf das vollkommenste nachzubilden« 204. Den Endpunkt hermeneutischer Bemühungen gibt nicht der in einer Schrift oder Rede verhandelte »Gegenstand« ab, um mit Kant zu sprechen, sondern die »Absicht«, mit welcher der Autor oder Redner diese verfasste bzw. hielt. Schleiermacher verpflichtet den Ausleger darauf, den »Sinn«, welchen ein Anderer »mit seinem Ausdrucke verband«, besser zu verstehen als jener selbst, nicht aber die Sache, welche darin zur Sprache kommt. Und das verlangt einen entsprechenden Arbeitsgang, nämlich nicht den einer sachlichen, sondern genetischen Erklärung. Der strengeren Praxis wissenschaftlichen Verstehens muss es (im Gegensatz zur laxeren Verstehenspraxis außerhalb der Wissenschaft) um diejenigen Faktoren zu tun sein, welche an der Genese der in einem literalen oder oralen Sprechakt vorgetragenen Ideen – in Schleiermachers Worten ihrer »Composition« bzw. der »componirenden Thätigkeit des Schriftstellers« – beteiligt sind. Sie hat sich um eine möglichst getreue Rekonstruktion von deren erstem Keimentschluss und allmählichem Reifen bis hin zur endgültigen Gestalt – Schleiermacher sagt ihrem »Hergang« oder »Verlauf« – zu bemühen. Die Grundfrage, welche jeder echten interpretatorischen Anstrengung vorangesteckt ist, soll sein, wie es dahin gekommen ist, dass jemand äußerte, was er äußerte. 205 Im Anschluss daran nimmt sich auch Fichte in seinen Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten (1794) vor, und zwar mit demselben Wortlaut, die bewahrenswerte Intention eines Anderen durch eigene, überlegene Einsicht in die betreffende Sache zu vollenden: »wir werden Rousseau besser verstehen als er sich selbst verstand, und wir werden ihn dann in vollkommener Uebereinstimmung mit sich selbst und mit uns antreffen.« (SW VI 337) 204 Schleiermacher, Friedrich D. E.: Akademievorträge, a. a. O., S. 615. 205 Bei Ast heißt es: »So ist das Verstehen und Erklären eines Werkes ein wahrhaftes 203

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Der Sachbereich der Schrift: »besser zu verstehen als ihr Urheber«

Der Sinn eines sprachlichen Gebildes, sei es einer zu lesenden Schrift oder einer zu vernehmenden Rede, wird von Schleiermacher sonach an das intentionale Bewusstsein seines Urhebers gebunden. Wie die gesamte hermeneutische Tradition vor ihm konzipiert er die nachträgliche Leistung des Interpretierens als eine Inversion der ursprünglichen Artikulationsleistung: »jeder Akt des Verstehens ist die Umkehrung eines Aktes des Redens, indem in das Bewußtsein kommen muß welches Denken der Rede zum Grunde gelegen« 206. Die eine Bewegung führt vom Gedanken weg und vor zur Schrift bzw. Rede, welche daraus entspringt, die andere verläuft von jener ausgehend und zurück zu diesem. Im Ausdrücken gibt der menschliche Geist seine inneren Gehalte nach außen zur Kenntnis, während beim Verstehen das erstere von einem anderen Menschen überstiegen wird hin zu den letzteren. Da also »[j]ede Rede auf einem früheren Denken [ruht]« und darin ihre Bedeutung besitzt, wie Schleiermacher annimmt, ist alles Auslegen in die Obliegenheit gestellt, einen schriftlichen oder mündlichen Vortrag zurückzuführen auf diejenige bewusste Intention des Akteurs, aus welcher er hervorgegangen ist: »Gesucht wird dasselbe im Gedanken, was der Redende hat ausdrücken gewollt.« 207

Reproduciren oder Nachbilden des schon Gebildeten.« (Ast, Georg A. F.: Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik, Landshut 1808, S. 87) Der Interpret soll demnach, wie Gadamer zutreffend diagnostiziert, »Texte unabhängig von ihrem Wahrheitsanspruch als reine Ausdrucksphänomene« betrachten. (Gadamer, HansGeorg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960), Tübingen 61990, S. 200) Dass alles Verstehenwollen ein Vorverständnis zur Geltung bringen muss, das der Interpret von derjenigen Sache hat, die im Text zu Worte kommt, um mögliche Auslegungen vieldeutiger Stellen beurteilen und zwischen ihnen entscheiden zu können, diese Einsicht ist »seit Schleiermacher aus der Fragestellung der Hermeneutik gänzlich verschwunden«, obwohl sie »in Wahrheit das Problem der Hermeneutik beherrscht« (S. 183). 206 Schleiermacher, Friedrich D. E.: Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik, a. a. O., S. 120. Siehe dazu Pépin, Jean/Hoheisel, Karl: Hermeneutik, in: Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt, Bd. 14: Heilig-Hexe, Stuttgart 1988, Sp. 724 ff. 207 Schleiermacher, Friedrich D. E.: Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik, a. a. O., S. 79. Es kommt darum nicht von ungefähr, dass viele hermeneutische Regeln von alters her der Rhetorik entnommen sind. Die bedeutenden Hermeneutiker waren fast ausnahmslos Lehrer der rhetorischen Kunst, Gedanken wirksam mitzuteilen, beispielsweise Augustinus und Philipp Melanchthon. Vgl. Grondin, Jean: Hermeneutik, Göttingen 2009, S. 14 f.

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Der hermeneutische Nachvollzug einer Äußerung soll nun genauso wie bereits deren originaler Vollzug zwei »Seiten« verknüpfen; Schleiermacher spricht von der »grammatischen« und der »psychologischen« Seite der Auslegung. 208 Zum einen ist dem Ganzen derjenigen Sprache, die jemand spricht, deren Formationsgepflogenheiten und Verweisungsreichtum, sowie zum anderen dessen Seelenleben, dem Ganze seiner Ansichten, Bestrebungen und Empfindungen, Rechnung zu zollen, um das Zustandekommen der einzelnen Ausdrucksabsicht nachzuzeichnen. Beide Momente wirken in der Herausbildung der in einer geschriebenen oder gedruckten Artikulation geäußerten Vorstellung zusammen; sie prägen deren zu deutende symbolische Bestimmtheit. 209 Und jede dieser beiden Seiten soll konventionale und individuelle Aspekte verknüpfen, weshalb es einer doppelten »Methode« bedarf; Schleiermacher spricht von der »comparativen« und der »divinatorischen« Methode der Auslegung. 210 Die betreffende menschliche Hervorbringung ist mit der in der jeweiligen Kultur oder Epoche üblichen Sprache und Seelenverfassung der Menschen auf Gemeinsamkeiten zu vergleichen und von da aus aufzunehmen. Die Unterschiede, welche sich dabei auftun, bleiben nach ihrem Einfluss auf den Bedeutungsgehalt der respektiven Schrift oder Rede dem ebenso phantasie- wie taktvoll zu übenden Erahnen des Interpreten anheimgegeben. Das nicht intuitiv vor sich gehende, sondern kunstgemäß gepflegte Verstehen berücksichtigt nach Schleiermacher sowohl sprachliche als auch mentale und dabei jeweils sowohl allgemeine als auch private Faktoren der Konstruktion eines derartigen Gebildes. 211 Vgl. Schleiermacher, Friedrich D. E.: Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik, a. a. O., S. 79 ff., 121, 132 ff., 171 f., 228 ff., 301 ff., 385 ff., 419 ff., 771 ff., 893 ff. Zuweilen spricht Schleiermacher statt von der psychologischen von der »technischen« Seite der Auslegung (vgl. S. 101 ff., 155 ff., 566 ff., 949 ff.). 209 Schleiermacher lehrt die Einheit von Denken und Sprechen: Denken ist ihm ein stummes Sprechen der Seele mit sich. Wir bedienen uns nämlich, wenn wir denken, derjenigen Ausdrücke, die wir auch verwenden, wenn wir mit anderen Menschen sprechen. Insofern ist Sprache kein Medium der nachfolgenden Verlautbarung von Gedachtem, sondern dasjenige Medium, in dem sich ein Gedanke von vornherein herausbildet; es ist in Worten, dass wir denken. Vgl. ebd., S. 120, 198, 305, 364, 739 und passim. 210 Vgl. ebd., S. 109, 128 f., 157 f., 310 f., 609 ff., 1012. 211 Zur doppelten Auslegungsmethode, die auf das Verstehen eines individuellen Allgemeinen ausgeht, siehe Frank, Manfred: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und Textinterpretation nach Schleiermacher, Frankfurt a. M. 1977, S. 156 ff. 208

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Der Sachbereich der Schrift: »besser zu verstehen als ihr Urheber«

Den Ausschlag bringt bei alledem jedoch Schleiermachers tiefwurzelnde und für die romantische Hermeneutik insgesamt charakteristische Überzeugung, dass die besagten Faktoren, welche bei der Anfertigung einer Schrift oder Rede im Spiel sind, den Schreibenden oder Redenden meisthin und größtenteils gleichsam in seinem Rücken orientieren. Sie bleiben und können für ihn auch im Dunkeln bleiben: Sie stehen ihm in der Regel nicht, jedenfalls nicht in vollem Umfang, vor Augen und müssen ihm vor allen Dingen nicht zwingend vor Augen stehen, wo sich ihm die eine Hauptidee mitsamt den diversen Nebenideen zu einer Sprachhandlung einstellt und auswächst. Das Amt des Auslegers aber gewinnt sein Profil gerade aus diesem Umstand. Es besteht darin und geht auch darin auf, jene Faktoren nach vorn zu bringen und zu erhellen. Schleiermacher sagt es mit aller wünschenswerten Unmissverständlichkeit, dass wir »das in ihm [dem Autor; d. Verf.] Unbewußte zum Bewußtseyn bringen müssen. Der Zusammenhang der Handlung mit dem ganzen Daseyn ist im Handelnden ein Unbewußtes. Im Erkennenden muß er ein Bewußtes werden. Sofern nun dies geschieht, verstehen wir ihn besser, als er sich selbst versteht, nur nicht, als er sich selbst verstehen kann, denn wenn er selbst seine Rede zum Gegenstand des Verstehens macht, […] so hat er weit mehr data zum Verstehen. [Herv. d. Verf.]« 212

Hier ist der Ort erreicht, wo Schleiermachers eingangs zitierter, von Kant übernommener Ausspruch hingehört, der seine Hermeneutik in nuce widerspiegelt. Der Ausleger muss sein Geschäft darin erblicken, dasjenige ausdrücklich zu machen, was der Person, deren Sprachwerk er verstehen will, im Laufe ihres Schaffens unausdrücklich geblieben, aber eben doch in ihre Absicht zu dem zu schaffenden Werk eingeflossen ist. Er hat das Einzelne, eine Schrift oder Rede, aus dem »ganzen Daseyn« seines Urhebers zu deuten, dem es als Lebensmoment unter vielen anderen angehört und von dem es seinen geistigen Gehalt empfängt – was aber dem Urheber weder präsent ist noch zu sein braucht. Und das betrifft sowohl die Totalität seiner Sprache, welche er mit Zeitgenossen teilt und zugleich modifiziert, wie auch das InsEiner Fehldeutung sitzt Gadamer auf, wo er die psychologische Seite der Auslegung fälschlich mit der divinatorischen Auslegungsmethode gleichsetzt. Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Das Problem der Sprache bei Schleiermacher (1968), in: Neuere Philosophie II. Probleme – Gestalten, GW 4, Tübingen 1987, S. 365. 212 Schleiermacher, Friedrich D. E.: Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik, a. a. O., S. 219.

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gesamt seiner Seelenverfassung, die mit der anderer Gesellschaftsmitglieder übereinstimmt und ihn zugleich vereinzelt. Man kann also gemäß Schleiermacher das Verständnis, welches ein Interpret vom Sinn einer schriftlichen bzw. mündlichen Bekundung hat, in dem Maße besser nennen gegenüber dem Selbstverständnis des Autors oder Redners, als er über die erwähnten Seiten und Aspekte, welche deren Kompositionsprozess insgeheim strukturierten, besser im Bilde ist als jener: »den Verfasser besser verstehen als er selbst« heißt, dass »in ihm […] vieles dieser Art unbewußt [ist] was in uns ein bewußtes werden muß« 213. Schleiermachers Konzeption von Hermeneutik ist demzufolge vor ihrer Fehlrezeption durch Dilthey zu bewahren. Die von ihm ausgegebene Zielvorstellung aller Interpretationsarbeit einer durch den Leser oder Zuhörer herbeizuführenden »Gleichsezung« 214, wie er sich mitunter ausdrückt, mit dem Urheber einer Schrift bzw. Rede hebt auf etwas ganz anderes ab, als es bei jenem hin und wieder herausklingt. Wohl sieht Dilthey in seinem Aufsatz über Die Entstehung der Hermeneutik von 1900, dass Schleiermacher so etwas lehrt, wie »hinter das im Bewußtsein Gegebene zurückzugehen auf ein schöpferisches Vermögen, das einheitlich wirkend, seiner selbst unbewußt« 215 bleibt. Und Dilthey erkennt, dass der »Satz«, in dem sich Schleiermachers hermeneutische Reflexion bündelt, nämlich einen Autor oder Redner besser zu verstehen, als sich dieser selbst versteht, »die notwendige Consequenz der Lehre von dem unbewussten Schaffen ist« 216. Sich allerdings in einen anderen Menschen hineinzuversetzen, um dasjenige Erlebnis, welches in der zu verstehenden Tat zum Ausdruck kommt, nachzuerleben, wie Dilthey Schleiermacher wiedergibt Ebd., S. 133. Siehe auch S. 76, 114, 128, 233, 425, 507, 868. Nach Ast richtet sich die höchste Auslegung auf den »Geist einer Schrift«. Die Auslegung ihrer Sprache sowie ihres Inhalts muss davon durchdrungen sein, dass man die »Idee« darlegt, »die dem Verfasser vorschwebte, oder auch unbewußt ihn leitete«. (Ast, Georg A. F.: Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik, a. a. O., § 85, S. 197) 214 Schleiermacher, Friedrich D. E.: Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik, a. a. O., S. 129. Siehe auch S. 386. In seiner Akademierede formuliert Schleiermacher, dass »der Ausleger sich in die ganze Verfassung des Schriftstellers möglichst hineinversetzt«. (Schleiermacher, Friedrich D. E.: Akademievorträge, a. a. O., S. 612) 215 Dilthey, Wilhelm: Die Entstehung der Hermeneutik (1900), in: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, GS 5, Stuttgart 51968, S. 327. 216 Ebd., S. 331. 213

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und damit zum Ahnherren seiner eigenen Überlegungen in Sachen hermeneutischer Methodologie der Geisteswissenschaften deklariert, fälscht Schleiermachers Position um. Sie fälscht diese dahingehend um, dass Ego in sich dieselben bewussten Intentionen zu wiederholen habe, mit denen sich Alter beim Schreiben oder Reden getragen hat. 217 Ob eine derartige Identifikationshermeneutik, welche jeden Abstand zwischen Produzent und Rezipient restlos kassieren zu können glaubt, außer in der Wahrnehmung ihrer Kritiker jemals vertreten worden und ob Dilthey wirklich einer ihrer Repräsentanten ist, wie oftmals angenommen, dürfen wir hier getrost unerörtert lassen. 218 Ein literarisches oder rhetorisches Produkt reproduzieren heißt für Schleiermacher jedenfalls seinen Sinngehalt entstehungsgeschichtlich nachkomponieren. Der Leser oder Zuhörer soll die an der Entstehung beteiligten Faktoren, deren Zusammenspiel dem zu deutenden Werk – und zwar für den Verfasser selber größtenteils undurchschaut – sein Gepräge gegeben haben, ins Bewusstsein heben. Aus der Tiefe der dem Autor oder Redner nichtbewussten Auskenntnis mit seiner Sprache und Welt treibt eine Schrift oder Rede hervor, und ebendiese Auskenntnis muss der Interpret an die Oberfläche bringen, die Schrift oder Rede darauf zurückzustellen und von dorther durchschauen. Er muss ein überlegenes, explizites Wissen um »den inneren Hergang der Composition«, »den ganzen innern Verlauf der componirenden Thätigkeit des Schriftstellers« erlangen, und zwar sowohl nach dessen konventional kodifizierten wie auch individuell schöpferischen Aspekten. Das hat gerade nichts von einer »Gleichsezung« im Sinne der Identifikation mit dem Anderen an sich, einer kongenialen Wiederholung seines Erlebens und einem Selbererleben des von jenem bereits Erlebten. Denn der Ausleger soll sich ja ein besseres Verständnis der betreffenden Schrift oder Rede Vgl. ebd., S. 317, 330. Siehe auch Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und Geschichte. Erster Band (1883), a. a. O., S. 254; Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910), GS 7, Stuttgart 41965, S. 136, 214, 213 ff. 218 Ein Mittelglied zwischen Schleiermacher und Dilthey ist der Altertumswissenschaftler Boeckh. Dessen einflussreiche, ein halbes Jahrhundert hindurch immer wieder gehaltene Vorlesung über Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften hat dazu beigetragen, den philologischen Umgang mit Texten zum Muster für die hermeneutische Methodik aller Geisteswissenschaften zu stilisieren. Dieser Umgang bestehe im »Erkennen des vom menschlichen Geist Producirten, d. h. des Erkannten«. (Boeckh, August: Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, Leipzig 1877, S. 10) 217

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erwerben, indem er dasjenige, was deren Urheber im Blick hatte (»zuerst eben so gut«), gezielt von anderem her in den Blick bringt, demjenigen nämlich, was in dessen Blickstellung lediglich implizit geblieben ist und auch bleiben konnte (»und dann besser zu verstehen«). Wir dürfen folglich festhalten, dass die Regelmäßigkeiten der Sprache nicht nur, sofern sie gesprochen wird – worauf Wittgenstein bevorzugt abstellt –, sondern auch, sofern sie geschrieben wird – worauf Schleiermacher verstärkt den Ton legt –, nicht als Regelmäßigkeiten präsent zu sein brauchen und ihre Anwendung nicht als Anwendung intendiert zu werden braucht. Dass sie den Inhalt eines intentionalen Akts des menschlichen Bewusstseins ausmachen, trägt keineswegs die Sicherheit in sich, sie von Fall zu Fall richtig zu vollziehen. Und das gilt wohl nicht ausschließlich für Schrift, sondern auf der Höhe eines Prinzips für sämtliche Verbreitungsmedien, ja für Ausdrucksphänomene tout court. Ebenso wenig wie der Unterschied zwischen verbaler und nonverbaler Interaktion scheint derjenige Unterschied, ob sich eine Kommunikation unter Anwesenden oder Nichtanwesenden ereignet, daran zu rühren, dass die Beteiligten ebenso wie ihr etwaiger wissenschaftlicher oder nichtwissenschaftlicher Beobachter allemal eine gewisse Vorbildung besitzen, die durch den Vollzug ihrer Beteiligung oder Beobachtung zunächst und zumeist unvermerkt hindurchgreift, sich erneuert oder wandelt – eine, wie ich formuliert habe, entsprechende Erfahrenheit in den dazugehörigen Seiten des menschlichen Lebens.

3.

Die Vorstruktur des menschlichen Bewusstseins im Spiegel weiterer Autoren

Nachdem ich in Kapitel V in eine Erstreckung des menschlichen Daseins vorgestoßen bin, die außerhalb des Blickfeldes liegt, auf das sich das intentionalistische Paradigma zurücknimmt, habe ich der Vermutung Raum gegeben, dass die Verständigung über das Soziale als solches, um dieses in sein Recht zu setzen, womöglich dorthin umzubiegen sein mag. Die besagte geistige Dimension, welche ich als das ›Erfahrensein‹ eines Menschen in den jeweiligen Dingen seines Lebens adressiere, steht zum Bewusstsein und dessen Intentionalität derart, dass sie ihm vorsteht, dort jedenfalls, wo sich jemand mit bedeutungstragenden Phänomenen abgibt. Allerdings handelt es sich dabei nicht entfernt um etwas bislang Verschüttetes und von mir 288 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Die Vorstruktur des menschlichen Bewusstseins im Spiegel weiterer Autoren

erstmals Ausgegrabenes. Sind es doch gerade einige namhafte Autoren der modernen Philosophie, allen voran Wittgenstein, die uns die Augen davor haben aufschlagen lassen. Nur einer Sozialontologie, die dem Intentionalismus verschrieben ist oder historische Stimmen als irrelevant abtut für ihre systematischen Interessen, will sich das so darstellen. Weiterführende Betrachtungen, sowohl eigene als auch solche, die bei Schleiermacher zu finden sind, haben die Evidenzbasis für unsere Vermutung zuletzt erweitert. Bevor ich mich daranmachen kann darzulegen, inwiefern das Soziale mit Lebenserfahrung zu tun hat, komme ich nicht umhin, nach manchen und den wesentlichen Stücken festzusetzen, was es damit auf sich hat. Was genau soll, so steht zu klären, mit jener Erfahrenheit gemeint sein? Ich werde mich dieser Frage annehmen, indem ich weitere Autoren mit hinzunehme. In ihren Schriften nämlich spiegelt sich die besagte Vorstruktur des Bewusstseins. Sie alle bringen in der einen oder anderen Fassung so etwas in Anschlag, obzwar in verschiedenen sachlichen Zusammenhängen und unter abweichenden sprachlichen Benennungen (was wir für unsere Zwecke vernachlässigen dürfen). Sollte sich daher jene mutmaßliche, in den Geist des Menschen eingerollte Bedingung der Möglichkeit von Bewusstsein und Intentionalität für die Ontologie des Sozialen wirklich als maßgebend erweisen lassen, gehören diese Theoretiker zusammen mit denen, die wir bereits kennengelernt haben, in eine Reihe. Sie wirken dann daran mit, sei es nun mit sozialontologischer Absicht oder ganz ohne jedes solche Interesse, den paradigmatischen Analyseansatz zu verabschieden. Ich gehe sie chronologisch, in der Reihenfolge ihres geschichtlichen Auftretens durch.

a)

Ryle über »knowing how«

Als Erster sei Ryle angeführt. Mit seinem Buch The Concept of Mind aus dem Jahr 1949 hat er den terminologischen Unterschied zwischen »knowing how« und »knowing that« in Umlauf gebracht. Die eine dieser beiden Wissensformen definiert Ryle durch zwei Merkmale und sucht sie darüber von der anderen abzugrenzen. Wenn wir von jemandem z. B. sagen, er weiß, wie man Schach spielt oder eine Sprache spricht, bedeutet das, dass er in seinem diesbezüglichen Tun und Lassen gewissen »standards« genügt bzw. gewisse »criteria« erfüllt: »Part of what is meant is that, when they perform these opera289 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

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tions, they tend to perform them well, i. e. correctly or efficiently or successfully.« 219 Aber das ist noch nicht alles, zeigt doch auch eine gutgehende Uhr, so gibt Ryle zu bedenken, die Zeit richtig an. Allerdings vermag sie sich nicht auf die Kriterien, denen gemäß ihre Verrichtung erfolgt, zu beziehen, sie kann keine Abweichungen entdecken und korrigieren, ist nicht imstande, von alten Mustern abzurücken und neue Momente dazuzulernen u. dgl. m. Einer hingegen, der zu fischen oder Witze zu erfinden versteht, ist dazu in der Lage. Mit Wittgenstein gesprochen folgt er in seinem Verhalten den einschlägigen Standards; oder wie Ryle sich ausdrückt, er wendet sie darin an. Über »knowing how« verfügen »is not merely to satisfy criteria, but to apply them; to regulate one’s actions and not merely to be well-regulated.« Ryles negatives Ziel mit dieser Unterscheidung ist es, der von ihm sog. »intellectualist legend« 220 ein Ende zu machen. Darunter versteht er die Ansicht, wonach die eine Form menschlichen Wissens in die andere aufzulösen oder darauf zurückzuführen sei, dass nämlich jeder Fall von »knowing how« entweder ein »knowing that« ist oder voraussetzt: »Champions of this legend are apt to try to reassimilate knowing how to knowing that by arguing that intelligent performance involves the observance of rules, or the application of criteria. It follows that the operation which is characterised as intelligent must be preceded by an intellectual acknowledgement of these rules or criteria; that is, the agent must first go through the internal process of avowing to himself certain propositions about what is to be done […]; only then can he execute his performance in accordance with those dictates. He must preach to himself before he can practise.«

Wogegen Ryle mit seiner Philosophie des Geistes zu Felde zieht, ähnelt in seinem Nervpunkt derjenigen Anschauung, an der sich auch Wittgensteins späte Sprachphilosophie abarbeitet. Wir erinnern uns, jene Anschauung soll dadurch charakterisiert sein, dass jemandem beim Gebrauch von Sprache die Regeln, nach denen die Sprache gebraucht wird, »vorschweben« müssen, dass die Befolgung von Regeln deren »Ausdruck« oder gar »Deutung« zur Bedingung hat. Und mehr noch. Ryle verweist nicht nur auf zahlreiche Sorten von Tätigkeiten, die Standards genügen, welche unformuliert bleiben und teilweise 219 220

Ryle, Gilbert: The Concept of Mind, London 1949, S. 28. Ebd., S. 29.

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Die Vorstruktur des menschlichen Bewusstseins im Spiegel weiterer Autoren

sogar geradezu unformulierbar sind. 221 Neben diesen Verweisen bietet er ein Gegenargument (»crucial objection«) auf, das man gleichfalls bei Wittgenstein antrifft. Es handelt sich um ein Regressargument. 222 Danach mündet die intellektualistische Legende in einen infiniten Regress. Hält sie doch dafür, dass der äußere Akt einer Handlung (»performance«) durch einen inneren (»internal«) Akt der Erfassung (»intellectual acknowledgement«) der dabei zu erfüllenden Kriterien vorbereitet und angeleitet (»preceded«) sein muss. Die erstere fällt nur angemessen aus, wenn das bereits auf die letztere zutrifft. Doch was veranlasst jemanden, fällt Ryle ein, diese oder jene Regel beizuziehen und sie so oder so auf die gegebene Situation zu übertragen? Hätte solch eine situative Beiziehung und Übertragung ihren Anlass nicht selber wiederum in nichts anderem zu finden als der Vorbereitung und Anleitung durch eine weitere, eigens erfasste Regel? Müsste man also den selbstgesetzten Prämissen zufolge nicht annehmen, dass »for the hero’s reflections how to act to be intelligent he must first reflect how best to reflect how to act? The endlesness of this implied regress shows that the application of the criterion of appropriateness does not entail the occurrence of a process of considering this criterion.« 223 Das entspricht Wittgensteins Überlegung, der zufolge die Deutung einer Regel immer weiter zu treiben und »Deutung hinter Deutung [zu] setzen« nicht auf eine letzte Deutung führt, die als zwingende Direktive für deren Anwendung fungiert, sondern in infinitum ausläuft. Mit dem Wissen-wie hat Ryle demgegenüber ein Können im Sinn, das sich von einem Wissen im dominierenden Verständnis des Wortes markant absetzt. Jenes Wissen-dass soll nämlich die Kenntnis Ein Komiker etwa überblickt kaum die leitenden Gesichtspunkte, nach denen er seine Witze schreibt oder die Anderer beurteilt. Wohl mag er gute Pointen ersinnen und schlechte erkennen, aber er geht dabei nicht nach einem klaren Rezept vor: »So the practice of humour is not a client of its theory.« (Ebd., S. 30) Genauso bleiben laut Ryle die »canons of aesthetic taste, of tactful manners and of inventive technique« ungeschrieben. 222 Dreyfus hat dies als den Myth of the Mental bezeichnet, aber im Gegensatz zu Wittgenstein und Ryle mit dem phänomenologischen Argument kritisiert, dass unser alltägliches Verhalten de facto anders abläuft. Vgl. Dreyfus, Hubert L.: Overcoming the Myth of the Mental: How Philosophers Can Profit from the Phenomenology of Everyday Expertise, in: Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association 79/2 (2005), S. 47–65. 223 Ryle, Gilbert: The Concept of Mind, a. a. O., S. 31. 221

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»of this or that truth« 224 sein; einer weiß, dass etwas der Fall ist, beispielsweise dass die alten Römer zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Landstrich ein befestigtes Lager hatten oder dass Messer auf Englisch knife heißt. Doch worum es Ryle stattdessen geht, ist die »ability […] to do certain sorts of things«. Diese kann mannigfaltiger Natur sein und von der gereiften Urteilskraft des menschlichen Intellekts bis hin zur geübten Geschicklichkeit unseres Körpers reichen. Und sie klingt im Deutschen ebenso wie in der englischen Sprache durch dasselbe Wort an, eben ›Wissen‹ bzw. knowledge. So kann man von jemandem sagen ›Er weiß zu gefallen‹ oder ›Er weiß sich zu helfen‹ und bekundet dadurch, dass er fähig, imstande, in der Lage ist, das Betreffende zu tun, dass er sich darauf versteht, anderen Menschen zu gefallen oder sich zu helfen. 225 Ryle exemplifiziert solches Können am Beispiel eines Jungen, der Schachspielen lernt. Nachdem dieser die Regeln beigebracht bekommen hat, muss er sich während seiner ersten Partien jene noch im Geiste vorsagen, um sich einigermaßen zurechtzufinden. »But very soon he comes to observe the rules without thinking of them.« 226 Sie einzuhalten, wird ihm allmählich zur »second nature«, verdankt sich bald einer »acquired disposition« 227. Ganz unvermittelt ist er dann imstande, erlaubte Züge zu machen und unerlaubte zu vermeiden. »The ability to apply rules is the product of practice.« Irgendwann verliert der Junge womöglich sein anfängliches Wissen und kann das Regelwerk nicht mehr vollzählig und in allen Details hersagen, jedenfalls nicht stante pede. Wird er gebeten, seinerseits einen Anfänger im Schach zu unterrichten, muss er sich erst sammeln und alles ins Gedächtnis zurückbringen. Man wird aber nicht sagen wollen, er könne kein Schach spielen, nur weil er dessen Regelwerk nicht mehr oder nicht auf Anhieb auseinanderzulegen vermag. Vielleicht zeigt er dem Anfänger aber auch kurzerhand, wie man spielt, indem er dessen Ebd., S. 27. Wenn Ryle Wendungen der Art benutzt ›knowing how to do x‹, bedeutet das mithin so viel wie ›being able to do x‹. Im Deutschen aber heißt ›wissen, wie man x tut‹ nicht zwangsläufig ›x tun können‹. Einer mag z. B. wissen, wie man Fahrrad fährt, so dass er es Anderen mitzuteilen vermag; zugleich kann er selber jedoch nicht fahren, weil ihm etwa die nötige Balance, Kraft, Ausdauer etc. fehlt. Dass er weiß, wie man Fahrrad fährt, heißt dann nur, dass er weiß, dass es dabei auf gewisse Faktoren ankommt, auch wenn diese in seinem Fall nicht gegeben sind. Vgl. Ryle, Gilbert: Der Begriff des Geistes, Stuttgart 1969, S. 26, Anm. 1. 226 Ryle, Gilbert: The Concept of Mind, a. a. O., S. 41. 227 Ebd., S. 42. 224 225

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falsche Züge rückgängig und einige richtige vormacht, ohne das mit lückenlosen Belehrungen über die jeweilige Regel zu flankieren: »We learn how by practice, schooled indeed by criticism and example, but often quite unaided by any lessons in the theory.« 228 Was Ryle als »application« akzentuiert, ist also gerade kein zwiefältiges Tun. Sie besteht nicht aus zwei nacheinander ablaufenden Operationen. Nicht muss man sich zunächst eine Regel vergegenwärtigen und sie mit den jeweiligen Verhältnissen vermitteln, auf dass man in der Lage ist, sie sodann umzusetzen. 229 Standards zu genügen bzw. Kriterien zu erfüllen, ist in Wahrheit, auch das kennen wir von Wittgenstein, ein einfacher Vorgang, einer, der dort erst in sein volles Wesen gelangt, wo er sich zum Großteil selbstvergessen vollzieht. Man bedarf keines Achthabens auf die respektiven Standards oder Kriterien, um sich darauf zu verstehen, ihnen zu genügen oder sie zu erfüllen. Und das ist einer anderen Form von Wissen geschuldet, die sich darin unmittelbar am Werk beweist. Es kommt gar nicht von ungefähr, dass wir ein derartiges Können, eine durch Beispiele und Kritik erworbene und mittels Einübung zur zweiten Natur ausgebildete Disposition als ›Wissen‹ ansprechen. Denn Regeln zu befolgen, schließt ein – und das liegt, so muss man Ryle zu Ende denken, am Grunde der Verschiedenheit zwischen der bloß regelgemäßen Leistung einer Uhr (»satisfy criteria«) und der dementgegen regelfolgenden Aktivität eines Fischers, Witzeerfinders oder Schachspielers (»apply them«) –, ihrer kundig zu sein. Nur dass dies eben nicht besagt, für ihren Vollzug auf sie achtzuhaben. Befolgen, vollziehen, anwenden kann ich nur, was mir nicht fremd ist, wozu ich bereits eine Beziehung habe. Mithin hält sich jedes Können im Horizont eines eigentümlichen Wissens: Die Fertigkeit, Regeln anzuwenden, beinhaltet eine Bekanntschaft mit den jeweiligen Regeln, die sich nicht an bewusstseinsmäßiger Intentionalität bemisst. Nimmt man es genau, muss man sagen, auch wenn Ryle selbst das nicht tut, dass ein Können solcherlei Wissen einschließt oder Ebd., S. 41. Von Savigny verweist hierbei auf eine zeitliche Differenz im Erwerb von Wissen: »Das Erlernen einer Fähigkeit ist ein sich hinziehender Prozeß, in dessen Verlauf das Können in einem immer besseren Grade erreicht wird. Lernen, daß etwas der Fall ist, ist dagegen ein einmaliges Ereignis.« (von Savigny, Eike: Die Philosophie der normalen Sprache. Eine kritische Einführung in die »ordinary language philosophy«, Frankfurt a. M. 1974, S. 102) 229 Vgl. Ryle, Gilbert: The Concept of Mind, a. a. O., S. 46, 48. 228

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beinhaltet. 230 Denn dass das erste, die Anwendung einer Regel, mit dem zweiten nicht vollends identisch ist, einem dazugehörigen Wissen um die Regel, welches deren Anwendung erst erlaubt, ist am Scheiternsfall mit Händen zu greifen. Kann doch eine Handlung stets aus (mindestens) zwei Blickwinkeln beanstandet werden, sowohl dahingehend, dass eine Regel falsch angewendet wird, als auch dahingehend, dass die falsche Regel angewendet wird. 231 Im einen, dem adverbial ausgedrückten Fall des Scheiterns wird die situativ passende Regel gewusst und angesetzt, aber ihre Applikation ist in Anbetracht der vorliegenden Situation fehlerhaft. 232 Im anderen, dem adjektivisch ausgedrückten Fall des Scheiterns wird die situativ passende Regel nicht gewusst, jedenfalls nicht angesetzt, obschon die Applikation der stattdessen angesetzten Regel, der vorhandenen Situation ungeachtet, einwandfrei sein mag. Folglich ist die »ability […] to do certain sorts of things«, sie sei eher körperlicher oder mehr intellektueller Art, begrifflich zu trennen von derjenigen Beschlagenheit in den Hinsichten und Bezügen der jeweiligen Tätigkeit, nach deren Maß jene ausgeführt wird: Was ich da kann, ist nichts anderes, als Gewusstes zu applizieren. 233 Und Ryle holt das eine in das andere hinein. Zwischen »knowing how« und »knowing that« zu unterscheiden, läuft bei ihm positiv auf die ins Gegensätzliche verkehrte, antiintellektualistische These hinaus, dass das Letztgenannte nicht nur nicht die einzige, sondern nicht einmal die primäre Wissensform darstellt: dass sie selber in dem Erstgenannten grundgelegt ist. In jedem Fall von Wissen-dass, ja in jeglicher Gelenktheit der intentionalen Zustände des menschSo auch Abel, Günter: Knowing-How. Eine scheinbar unergründliche Wissensform, in: Bromand, Joachim/ Kreis, Guido (Hg.): Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion, Berlin 2010, S. 321. 231 Vgl. Kemmerling, Andreas: Gilbert Ryle: Können und Wissen, in: Speck, Josef (Hg.): Grundprobleme der großen Philosophen: Moore, Goodman, Quine, Ryle, Strawson, Austin, Göttingen 1975, S. 147. 232 Können ist daher auch nicht schlechterdings identisch mit Gewohnheit. Für »mere habits« ist es nämlich charakteristisch, dass sie mechanisch ablaufen, indem jede neue Handlung eine starre Kopie ihrer Vorgänger ist. Dagegen muss sich eine Handlung, die »competences and skills« aktualisiert, in gewissem Grad der respektiven Situation anpassen und ihr Rechnung tragen, was eben misslingen kann, und fällt insofern zum Teil unterschiedlich aus. (Ryle, Gilbert: The Concept of Mind, a. a. O., S. 42) 233 Dass das motorische Können des menschlichen Körpers kein solches Wissen voraussetzt, vertritt Bourdieu, Pierre: Le sens pratique, Paris 1980, S. 123. Siehe auch Merleau-Ponty, Maurice: Phénoménologie de la perception, Paris 1945, S. 168. 230

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lichen Bewusstseins auf irgendetwas soll sich ein dazugehöriges Wissen-wie auswirken. Das Wissen-dass geht immer auch, auf solche Weise stellt Ryle die von ihm verworfene Annahme vom Kopf auf die Füße, aus einer unintendierten Anwendung von Wissen-wie, seiner bewusstlosen Vermittlung mit den jeweiligen Umständen hervor. Letzteres ist explanatorisch primär für das erstere. Denn »this or that truth« zu suchen und zu finden, zu enthüllen und mitzuteilen, zu erinnern und zu begründen, bezeigt, wenn es nicht nur einmalig durch Zufall vorkommt, eine dementsprechende »ability«. 234 Ist das doch nicht minder ein Verhalten, dessen ich nach vielerlei Seiten hin fähig geworden sein, das ich zu beherrschen gelernt haben muss. Sowohl in den richtigen Standards bzw. Kriterien als auch darin muss ich leidlich versiert sein, sie in einer Situation richtig anzuwenden. Das bedeutet aber mitnichten, dass mir die ersteren samt ihrer Vermittlung mit der letzteren vor dem geistigen Auge stehen oder zu stehen brauchen. Zu wissen, was der Fall ist, kann nur verständlich gemacht werden im Rekurs auf gewisse Praktiken, und d. h. im Rekurs darauf zu wissen, wie etwas zu tun ist. Derlei Wissen ist nach Ryle ein Sonderfall von Können: »Intelligent practice is not a step-child of theory. On the contrary theorising is one practice amongst others and is itself intelligently or stupidly conducted.« 235

b)

Wittgenstein über »Wissen« und »Können«

Es ist nicht ohne Interesse, dass Wittgenstein selber seine Reflexionen, die er in dieser Angelegenheit anstellt, anhand des sprachlichen Gegensatzes von ›Wissen‹ und ›Können‹ ausspielt. »Die Grammatik des Wortes ›wissen‹«, schreibt er in den Philosophischen UnterSo auch Hetherington, Stephen: Knowledge-That, Knowledge-How, and Knowing Philosophically, in: Grazer Philosophische Studien 77/1 (2008), S. 307–324. 235 Ebd., S. 26. So soll es sich auch im Fall von »humour«, »aesthetic taste« sowie »tactful manners and of inventive technique« genau umgekehrt verhalten: »Efficient practice precedes the theory of it« (S. 30). Das ist nicht unwidersprochen geblieben. Stanley und Williamson haben den Versuch unternommen, knowledge-how zu einer Form von knowledge-that zu reintellektualisieren. Sie stützen sich dabei allerdings auf Sätze der Zuschreibung von knowledge-how, was etwas anderes ist als die Praxis des Vollzugs von knowledge-how. Vgl. Stanley, Jason/Williamson, Timothy: Knowing How, in: The Journal of Philosophy 98/8 (2001), S. 411–44. 234

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suchungen, »ist offenbar eng verwandt der Grammatik der Worte ›können‹, ›imstande sein‹. Aber auch eng verwandt der des Wortes ›verstehen‹. (Eine Technik ›beherrschen‹.)« (PU 150) Demnach deckt sich der Ausdruck ›wissen‹ oder überschneidet sich in einer seiner Verwendungsweisen (im Deutschen wie im Englischen) mit der von ›können‹. Er besagt dann so viel wie »imstande sein«, sich »verstehen« auf, »beherrschen«. Eine Regel zu befolgen wissen, heißt sonach, in der Lage sein, sie zu befolgen, sie befolgen können. 236 Und das Eigentümliche dieses Wissens, welches ein Können ist oder, besser, ihm eingeschrieben ist, kehrt Wittgenstein mit einem Zitat des Kirchenlehrers Augustinus heraus. In dessen Confessiones, im vielbesprochenen XI. Buch, liest man: »quid est ergo tempus? si nemo ex me quaerat scio; si quaerenti explicare velim, nescio« 237. Auf die selbstgestellte Frage nach der Zeit äußert Augustinus seine Verwunderung, dass zwar kaum jemand auseinanderzusetzen vermag, was Zeit ist, aber jeder tagein, tagaus gleichwohl sinnvoll und verständlich von der Zeit redet. In Bezug auf die Zeit haben wir, mit Ryle gesagt, ein eingespieltes, mannigfach bewährtes »knowing how«, jedoch bestenfalls ein lückenhaftes »knowing that«. 238 Wittgenstein entnimmt daraus den generellen, für seine Vorstellung von Philosophie wegweisenden Gedanken: »Das, was man weiß, wenn uns niemand fragt, aber nicht mehr weiß, wenn wir es erklären sollen, ist etwas, worauf man sich besinnen muß. (Und offenbar etwas, worauf man sich aus irgendeinem Grunde schwer besinnt.)« (PU 89) Auf Wittgensteins Idee philosophischer Besinnung werde ich bei der Bestimmung der Methode der Sozialontologie in Kapitel X.1 zurückkommen. Vorerst ist jedoch lediglich das von Wert, dass Wittgenstein gleichfalls zwei Formen von Wissen distinguiert. Die eine, so muss man sich seine Bemerkung zurechtlegen, ist an Ausdrücklichkeit gebunden; was nicht zum Thema gemacht werden kann (»wenn wir es erklären sollen«), wird nicht gewusst. Die andere hingegen waltet in der Unausdrücklichkeit; was da gewusst wird (»wenn uns niemand fragt«), braucht gar nicht thematisch gemacht zu werden. Das steht Vgl. PU 151; ÜG 534 f. Auf Unterschiede zwischen diesen Wendungen weisen hin Baker, Gordon P./Hacker, Peter M. S.: Wittgenstein. Understanding and Meaning. Part II: Exegesis §§ 1–184, Oxford 22005, S. 328 f. 237 Augustinus: Conf. XI.14. 238 Siehe dazu Flasch, Kurt: Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. Text – Übersetzung – Kommentar, Frankfurt a. M. 2016. 236

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durchaus im Einklang mit dem, was wir bei Wittgenstein zur Sache des Regelfolgens erfahren haben. Beides fließt sogar expressis verbis zusammen – das unausdrückliche Wissen und die Befolgung semantischer Regeln –, wenn Wittgenstein anlässlich seiner Beispielszene zwischen Lehrer und Schüler, wo es um die regelgerechte Fortsetzung einer dezimalen Zahlenreihe geht, fragt: »Worin aber besteht dies Wissen? […] nennst du ›Wissen‹ einen Bewußtheitszustand oder Vorgang – etwa ein An-etwas-denken, oder dergleichen?« (PU 148) Die Frage ist eine suggestive. Das betreffende Wissen, will Wittgenstein sagen, ist kein »Bewußtheitszustand«, kein »An-etwas-denken«. Der Konvention eines Sprachspiels zu folgen, erfordert nicht, in ihr bewandert zu sein in dem Sinne, dass man im Akt der Umsetzung ihrer bewusst ist und an sie denkt. Sprechenkönnen beruht insofern nicht auf einem Sprachwissen: Es beruht nicht auf einem expliziten Wissen um die betreffende Regel. Die Beherrschung einer Regel ist nichts, was vor ihrer Befolgung geschieht oder sie begleitet. 239 Die zwei Wissensformen sind demnach auch bei Wittgenstein alles andere als zusammenhangslos. Man findet hier die gleiche Aufbaufolge wie bei Ryle, dass nämlich die eine sich durch die andere bedingt und in ihre Möglichkeit gebracht sieht. Wenn ich das Wissen, welches ich als kompetenter Sprecher um die Regelmäßigkeiten meiner Sprache habe, auch nicht sans phrase auf den Punkt zu bringen vermag (»worauf man sich aus irgendeinem Grunde schwer besinnt«), zeigt es sich doch, 240 äußert sich 241 oder drückt sich aus, 242 wie Wittgenstein formuliert, in meinem fortgesetzten, sicheren Einhalten jener sprachlichen Gepflogenheiten sowie meiner demgemäßen Beurteilung der Richtigkeit oder Falschheit des sprachlichen Verhaltens Anderer. Alles Artikulieren von Wissen, sei es nun ein solches um Regeln oder irgendetwas anderes, und letztlich sogar jeglicher Gebrauch von Sprache überhaupt ist für Wittgenstein ein Fall von Sichzeigen, -äußern oder -ausdrücken eines andersartigen Wissens. Insofern beruht Sprechenkönnen sehr wohl auf einem SprachSo spricht Canfield bei Wittgenstein davon, dass Regeln im Sprechen »explicit« gemacht werden können, im Gegensatz dazu, dass sie dem Sprechen stets »implicit« sind. (Canfield, John V.: Criteria and Rules of Language, in: The Philosophical Review 83/1 (1974), S. 72 f.) 240 Siehe etwa PU 29; ÜG 7, 395, 427. 241 Vgl. PU 201. 242 Vgl. PU 75. 239

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wissen: Es beruht auf einem impliziten Wissen um die jeweilige Regel. Die Konvention eines Sprachspiels zu befolgen, verlangt, derart in ihr zuhause zu sein, dass sie im Akt ihrer Umsetzung opak bleiben kann. 243

c)

Gadamer über »Vorurteile«

Wie Ryle spricht auch Gadamer, und zwar in seiner Grundlegung einer Hermeneutik, die eine philosophische, weil wahrhaft universale sein will, von ›Applikation‹. In jedem Verstehen geschehe, wie er 1960 in Wahrheit und Methode und sodann in vielzähligen weiteren Äußerungen zu dem Thema vorbringt und auseinandersetzt, eine Anwendung. Diese Feinheit des menschlichen Geistes, die in der älteren hermeneutischen Tradition – insbesondere in solchen Lehren, welche auf dem Gebiet der Theologie und der Jurisprudenz im Hinblick auf die dort jeweils anzutreffenden hermeneutischen Spezialprobleme entstanden sind – dem Verstehensakt nachgeordnet und noch im Pietismus des 18. Jahrhunderts mit zur Hauptaufgabe der Hermeneutik gerechnet werden, nimmt Gadamer ins Verstehen zurück. Danach kommt ein Akt der Anwendung nicht erst nachträglich und nur dann und wann hinzu. Sondern alles Verstehen soll von Anfang an und beständig eine gewisse Applikation einbegreifen. 244 Dasjenige, was da zur Anwendung kommt, nennt Gadamer Vorurteile. Man darf das nicht dahingehend missdeuten, als seien Vorurteile in dem pejorativen Sinne gemeint, mit dem wir das Wort heute zu nehmen gewohnt sind, wenn wir beispielsweise davon sprechen, So auch der sich in die Tradition Wittgensteins stellende Schneider: »Nicht das Wissen erklärt das Können, sondern auf der elementaren Ebene erklärt das Können die ersten Stufen des Wissens.« (Schneider, Hans J.: Beruht das Sprechenkönnen auf einem Sprachwissen?, in: Krämer, Sybille/König, Ekkehard (Hg.): Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen?, Frankfurt a. M. 2002, S. 135) 244 Ähnlich vertritt Gadamer die »innere Einheit von intelligere und explicare« (Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960), a. a. O., S. 312). Allerdings ist dies keine Einsicht der romantischen Hermeneutik, wie er suggeriert. Schleiermacher scheidet die »strengere Praxis« eines kunstgemäßen Verstehens gegen die »laxere Praxis« des alltäglichen Verstehens und bezeichnet sie terminologisch als ›Auslegung‹. (Schleiermacher, Friedrich D. E.: Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik, a. a. O., S. 127) In diese Tradition, Auslegung als eine und die explizite Form des Verstehens zu denken, tritt in der Folge Dilthey. Vgl. Dilthey, Wilhelm: Die Entstehung der Hermeneutik (1900), a. a. O., S. 317. 243

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dass jemand einem weit verbreiteten Vorurteil aufsitzt oder dass er Vorurteile gegen bestimmte Personen bzw. Kulturen hegt. Beginnend mit René Descartes wird das so verstandene Vorurteil, welches sich dadurch auszeichnet, dass ihm die Dignität einer belastbaren oder überhaupt irgendeiner Begründung abgeht, zum maßgeblichen Referenzpunkt methodisch forcierten Zweifelns. Dem folgt auch Kant noch, wenn er das »Selbstdenken« zur »Maxime der vorurtheilfreien […] Denkungsart« (KU V 294) erklärt. 245 Im Grunde aber ist damit lediglich in prägnanter Form ausgesprochen, was von Beginn an das Bestreben der Aufklärungsepoche ist, in deren Spätphase jedoch erst ins Bewusstsein tritt. Die Spätaufklärung hat sich um eine Selbstreflexion dessen bemüht, was Aufklärung kennzeichnet. Und sie hat subtile, der Vorurteilskritik dienende Klassifikationen verschiedener Vorurteile hervorgebracht. Dabei hat sie insbesondere jene Klasse von Vorurteilen als die eigentlich bekämpfenswerte hervorgehoben, die sich auf die Autorität anderer Menschen stützen. 246 Gadamer weist nun zwar mehrmals darauf hin, dass solche Vorurteile gar nicht per se unwahr sein müssen. Noch vor dem »Selbstdenken« des Einzelnen und seinem prüfenden Räsonnement, welchem er die Meinungen anderer Menschen einschließlich der auf ihn gekommenen Überlieferung unterwirft, bevor er sie sich zu eigen macht, können darunter durchaus berechtigte sein. 247 Allerdings tut man gut daran, denjenigen Begriff von Vorurteil, welchen Gadamer rehabilitieren möchte und für den er nirgendwo in Wahrheit und Methode eine handfeste Erklärung anbietet, nicht so aufzufassen, als sei ein Urteil über dieses oder jenes gemeint, von dessen Gültigkeit jemand vor oder ganz unabhängig von einer Rechtfertigung überzeugt ist. Die ursprüngliche Bedeutung des Ausdrucks leitet sich aus der Sprache des römischen Rechts her (lat. praeiudicium). Wurde er bis ins Zeitalter der Aufklärung bloß auf diese Weise und also juristisch verwendet, ist er seitdem zwar äußerst vieldeutig. Doch wenn Auch Thomasius hat bereits rund 100 Jahre vor Kant Aufklärung als Kampf gegen Vorurteile gedeutet. Vgl. Thomasius, Christian: Meine zu Leipzig Anno 1689 gehaltene Lectiones de praejudiciis, in: Vernünfftige und Christliche aber nicht Scheinheilige Thomasische Gedancken und Erinnerungen über allerhand Gemischte Philosophische und Juristische Händel, Bd. 3, Halle 1725, S. 633. 246 Siehe dazu Schneiders, Werner: Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie, Stuttgart-Bad Cannstatt 1983. 247 Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960), a. a. O., S. 275, 283. 245

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Gadamer die »Vorurteilshaftigkeit alles Verstehens« 248 behauptet, ist einzig solches gemeint, was noch vor allem Urteilen und Begründen liegt: Als ›Vorurteile‹ spricht er die »Bedingungen des Verstehens« 249 an. 250 Dasjenige, worauf unsere Vorurteile Anwendung finden, kann nach Gadamers Universalhermeneutik u. a. eine Schrift, eine Rede oder sonst irgendein bedeutungstragendes Phänomen sein. Im Lichte der ersteren nur erschließe sich einem die Bedeutung der letzteren. Diese Applikationsleistung denkt Gadamer in Anlehnung an die aristotelische Ethik und deren Modell von φρόνησις. 251 Dabei handelt es sich um einen Typ von Urteilskraft, die das, was die besonderen Umstände vom Handelnden fordern, auf dem Hintergrund dessen ermisst, wie dieser allgemein gesinnt ist. Und wie bei Aristoteles die tugendhafte Gesinnung eines Menschen sich durch ihre Anwendung erst zu echtem sittlichen Wissen vollendet, ist für Gadamer – wie er im Rahmen dieser Analogie nun umgekehrt formuliert – ein Interpretandum auf die hermeneutische Situation des Interpreten anzuwenden keine Applikation von etwas, das schon fertig bereitliegt. Sie soll sogar der »wahre Kern« 252 des Interpretationsgeschehens sein, insofern sich die Schrift, Rede, oder was es ist, das appliziert wird, dadurch erst in ihrem Sinngehalt konkretisiere. Je nachdem, welche Vorurteile man einbringt, soll jener anders ausfallen, so dass verstehen wesenhaft heiße anders verstehen. Dass die »Vorurteilshaftigkeit« unseres Verstehens damit zur Bedingung auch noch des zu Verstehenden aufrückt, dessen Sinn ohne sein Verstandenwerden lediglich un- oder unterbestimmt da ist – was Gadamer als die »Zu-

Ebd., S. 274. Ebd., S. 281. 250 Den Unterschied zwischen Urteil und Vorurteil bringt Gadamer etwa so zum Ausdruck: »Darum sind die Vorurteile des einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins.« (Ebd.) 251 Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Probleme der praktischen Vernunft (1980), in: Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register, GW 2, Tübingen 21993, S. 328. Siehe dazu Rese, Friederike: Phronesis als Modell der Hermeneutik. Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles (GW 1, 312–329), in: Figal, Günter (Hg.): Hans-Georg Gadamer. Wahrheit und Methode, Berlin 2007, S. 127–150. 252 Gadamer, Hans-Georg: Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe (1978), in: Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register, GW 2, Tübingen 21993, S. 312. 248 249

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gehörigkeit des Interpreten zum Interpretandum« 253 ausdrückt –, braucht uns jedoch nicht weiter zu interessieren. 254 Von Relevanz für uns ist, dass ein durch Anwendung zustande kommendes Verständnis laut Gadamer kein »Wissen aus Gründen« 255 oder »aus allgemeinen Prinzipien« 256 darstellt. Es ist nicht mittels Subsumtion eines Besonderen geschlussfolgert. So oder so ähnlich war das Problem der applicatio der theologischen und juristischen Hermeneutik wohlbekannt. Muss doch ein Pfarrer in der Predigt, nachdem er eine Bibelstelle verlesen und erläutert hat, diese auf das Hier und Heute der Gemeinde übertragen; ebenso hat ein Richter, wenn er über die herrschenden Gesetze im Bilde ist, diese zur Urteilsfindung auf den an ihn herangetragenen Fall zu beziehen. 257 Dagegen ist diejenige Applikation, von der die philosophische Hermeneutik kündet, nicht eine intendierte. Darin eben besteht Gadamers Zurücknahme der Anwendung ins Verstehen, dass Leser und Hörer, wenn sie an die Lektüre gehen oder jemandes Worte vernehmen, ihrer hermeneutischen Situation mitnichten bewusst zu sein brauchen. Nicht verstehen wir einen Sinn zunächst objektiv, der dann erst subjektive Bedeutsamkeit gewinnt, indem wir ihn auf Fragen und Probleme applizieren, welche uns jeweils bewegen. Gegen die hermeneutische Tradition gewendet begreift bereits die Leistung des Verstehens einer Bibelstelle bzw. eines Gesetzes die Anwendung vorurteilshaften Wissens um die betreffende Sprache und Sache ein, welche darin zum Ausdruck kommt. Und es ist dies keinesfalls eine Funktion des Bewusstseins und seiner Intentionalität, wie auch jenes Wissen selbst einer hintergründigen Schicht unseres Ich zugehört. 258 Ebd., S. 317. Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960), a. a. O., S. 134 f., 268, 334, 345, 462. 254 Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960), a. a. O., S. 289, 301 f., 305, 345 f., 391 f., 477. Die These von der Un- oder Unterbestimmtheit des zu Verstehenden verteidigt Weberman, David: A New Defense of Gadamer’s Hermeneutics, in: Philosophy and Phenomenological Research 60/1 (2000), S. 45–65. 255 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960), a. a. O., S. 26. Siehe auch S. 22, 23, 28, 42, 43. So auch Wittgenstein, nach dem das Befolgen von Regeln »ohne Gründe« (PU 211) geschieht. 256 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960), a. a. O., S. 22, 27, 28. 257 Vgl. Grondin, Jean: Hermeneutik, in: Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3: Eup-Hör, Tübingen 1996, Sp. 1362 f. 258 Auf den Unterschied zwischen »bewußter Applikation« und der von Gadamer 253

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d)

Polanyi über »tacit knowing«

Als Nächstem muss Polanyi Erwähnung werden. Dieser, von Haus aus Chemiker, hielt im Jahr 1962 die Terry Lectures an der Universität Yale. In überarbeiteter Gestalt sind seine Vorlesungen 1966 unter dem Titel The Tacit Dimension erschienen. Bezeichnenderweise ist das Buch als Implizites Wissen ins Deutsche übersetzt worden, 259 wovon Polanyi selber allerdings nicht spricht. Doch was auch er im Blick hat, ist der Umstand, so lautet die oft zitierte Formulierung, »that we can know more than we can tell« 260. Polanyi setzt damit, was nicht im gleichen Maße bekannt ist, eine Gedankenlinie fort, die er bereits einige Jahre zuvor mit seinem philosophischen Hauptwerk über Personal Knowledge (1958) begonnen hat und nun in Teilen weiter ausarbeitet. Dieses Werk versteht sich zwar als eine Untersuchung der Natur und als Begründung unseres wissenschaftlichen Wissens von der Natur; die neuzeitliche Gestalt von Wissenschaft, anstatt sie als ein unstreitiges Faktum hinzunehmen, gilt Polanyi für eine ungeklärte Größe, über deren Grundlagen er Rechenschaft einholen will. 261 Sein Hauptargument ist dabei, dass wissenschaftliches Wissen – und letztendlich nicht nur dieses – auf Voraussetzungen aufruht, die es selber weder einfangen kann noch muss. Für eine Philosophie jedoch, die eine überspannte Auffassung von moderner Wissenschaft zurechtstutzen will, seien sie gerade maßgeblich. Und jene Voraussetzungen werden von Polanyi zunächst in dem von ihm neu geprägten, aber leicht zu missverstehenden und daher später aufgegebenen Begriff einer anderen Wissensform zusammengefasst, der des personalen Wissens. 262

»gesuchte[n] unbewußte[n] ›Applikation‹« weist fälschlich, weil in kritischer Absicht gegen Gadamer hin Krämer, Hans: Kritik der Hermeneutik. Interpretationsphilosophie und Realismus, München 2007, S. 16. 259 Vgl. Polanyi, Michael: Implizites Wissen, Frankfurt a. M. 1985. 260 Polanyi, Michael: The Tacit Dimension, New York 1966, S. 4. So auch Claudius, ein Freund Herders sowie Johann Georg Hamanns und Herausgeber des Wandsbecker Bothen: »Man weiß oft grade denn am meisten, wenn man nicht recht sagen kann, warum.« (Claudius, Matthias: Briefe an Andres, Gotha 1873, S. 49) 261 Vgl. Polanyi, Michael: Personal Knowledge. Towards a Post-Critical Philosophy, Chicago 1958, S. vii. 262 Zum Verhältnis der beiden Schriften Polanyis siehe Mai, Helmut: Michael Polanyis Fundamentalphilosophie. Studien zu den Bedingungen des modernen Bewusstseins, Freiburg/München 2009, S. 144 ff.

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Die Vorstruktur des menschlichen Bewusstseins im Spiegel weiterer Autoren

In The Tacit Dimension illustriert Polanyi seine Behauptung, wonach wir mehr wissen, als wir zu sagen vermögen, mithilfe diverser Beispiele. Darunter sind einige bedeutsame wissenschaftliche Entdeckungen wie z. B. solche der Gestaltpsychologie: »We know a person’s face, and can recognize it among a thousand, indeed among a million. Yet we usually cannot tell how we recognize a face we know.« Und weiter: »We recognize the moods of the human face, without being able to tell, except quite vaguely, by what signs we know it.« 263 Ferner sind Ärzte häufig imstande, wie Polanyi vorbringt, tragfähige Diagnosen zu stellen, ohne dass sie dafür all die Richtlinien im Geist zu haben brauchen, nach denen sie da diagnostizieren. 264 Und schließlich nimmt er die gesamte Domäne athletischer, technischer und künstlerischer Fertigkeiten sowie, wir kennen das bereits, den Fall der menschlichen Sprache mit hinzu: »We can, accordingly, interpret the use of tools, of probes, and of pointers as further instances of the art of knowing, and may add to our list also the denotative use of language, as a kind of verbal pointing.« 265 In Personal Knowledge ist Polanyis Paradebeispiel aus dem außerwissenschaftlichen Bereich, welches er mehrfach heranzieht, das des handwerklichen Könnens eines Schusters im Umgang mit seinem Hammer bei der Herstellung und Reparatur von Schuhen. 266 Bei alledem soll es sich um Kostproben einer darüber noch weit hinausreichenden Form des Wissens handeln, eines Wissens, das in gewissem Sinne ein stilles, ein »tacit knowing« 267 ist, wie Polanyi sich jetzt ausdrückt und dessen innere Struktur The Tacit Dimension herausstellt. »We have here examples of knowing, both of a more intellectual and more practical kind; both the ›wissen‹ and ›können‹ of the Germans, or the ›knowing what‹ and the ›knowing how‹ of Gilbert Ryle.« 268 Dass wir über so etwas verfügen, sei darin mit Händen zu greifen, dass die genannten Tätigkeiten dann nur mit anhaltender Zuverlässigkeit ausgeführt werden können, wenn sie ebendaran zuverlässigen Anhalt finden. Das fragliche Wissen wirkt sich im Stillen Polanyi, Michael: The Tacit Dimension, a. a. O., S. 5. Vgl. ebd., S. 6. 265 Ebd., S. 7. 266 Polanyi, Michael: Personal Knowledge. Towards a Post-Critical Philosophy, a. a. O., S. 55. 267 Polanyi, Michael: The Tacit Dimension, a. a. O., S. 7, 9, 10, 11, 13, 14, 15, 20 und passim. 268 Ebd., S. 6 f. 263 264

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aus, indem wir uns bei unserem Tun und Lassen, das ist sein für Polanyi hervorstechender Zug, darauf verlassen (»rely on«). 269 Im Lebensstrom unserer Praxis, sie sei eine wissenschaftliche oder medizinische, athletische, technische oder künstlerische und dabei sprachlicher oder nichtsprachlicher Art, nehmen wir Polanyi zufolge bei jedem Schritt, den wir tun, stillschweigend, sprich ohne es zu gewahren, etwas in Anspruch. Worauf man sich verlässt, ist einem auf andere Weise als der der Gewahrung anwesend. Und das gelte sogar noch, auf diese Figur kommt es wieder an, für die laute, in Verlautbarungen zentrierte Form des Wissens. Dessen Erwerb und Verteidigung geht nicht in einem Vakuum vor sich; vielmehr soll der Wissenschaftler wie jeder Laie in seinem expliziten Wissen unvertretbar zum Tragen kommen, und zwar das seine Person je auszeichnende Sichauskennen mit Realem. Unverblümt stellt Polanyi fest, dass jenes »tacit knowing« ein »indispensable element of all knowing« ausmacht, »by which all explicit knowledge is endowed with meaning« 270. Oder wie er in einem Aufsatz aus dem Jahr 1964 schreibt: »Hence all knowledge is either tacit or rooted in tacit knowledge. A wholly explicit knowledge is unthinkable.« 271

e)

Habermas über »Hintergrundwissen«

Ein derartiges Wissen, das all unser Verhalten grundiert, nimmt auch im Denken von Habermas einen zentralen Platz ein. In seinem Hauptwerk, der Theorie des kommunikativen Handelns aus dem Jahr 1981, argumentiert dieser dafür, dass solcherlei Handeln von einem Orientierungsvorschuss zehrt, den er mit einem von Husserl und der Vgl. ebd., S. 9, 10, 12, 13, 15 f., 21, 34, 35 und passim. Auf diesen Aspekt geht auch Wittgenstein in seinem nachgelassenen Werk Über Gewißheit ein, wo er ausdrückliches Wissen kurz als ›Wissen‹ und unausdrückliches Wissen stattdessen als ›Gewissheit‹ erörtert. Siehe dazu Krebs, Andreas: Worauf man sich verlässt. Sprach- und Erkenntnisphilosophie in Ludwig Wittgensteins Über Gewißheit, a. a. O., S. 25 ff. Beermann geht sogar so weit, dass Wittgenstein damit eine neue Phase seines Schaffens begründet habe. Er soll seine Sprachspielkonzeption insofern radikalisiert haben, als er deren Fundament freilegt. Vgl. Beermann, Wilhelm: Die Radikalisierung der Sprachspiel-Philosophie. Wittgensteins These in Über Gewißheit und ihre aktuelle Bedeutung, a. a. O., S. 12. 270 Polanyi, Michael: The Tacit Dimension, a. a. O., S. 60. 271 Polanyi, Michael: The Logic of Tacit Inference (1964), in: Knowing and Being. Essays by Michael Polanyi, London 1969, S. 144. 269

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Die Vorstruktur des menschlichen Bewusstseins im Spiegel weiterer Autoren

phänomenologischen Schule erborgten Ausdruck als ›Lebenswelt‹ anspricht. In jedem menschlichen Tun und Lassen, so Habermas, kommen stets drei Arten von Geltungsansprüchen zum Ausdruck. 272 Dabei ist es einerlei, ob sie vom Akteur in sprachlichem Verhalten ausgedrückt werden oder in nichtsprachlichem Verhalten sich ausdrücken. 273 Immer sei, was wir tun, zum Mindesten auf eine darin behauptete bzw. unterstellte Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit hin kritisierbar. Jede Äußerung soll eine Behauptung erheben bzw. auf einer Unterstellung aufruhen, dass etwas objektiv der Fall, etwas von intersubjektivem Interesse und etwas subjektiv so gemeint ist, wie geäußert. Kommunikatives Handeln zeichnet sich nach Habermas dadurch aus, dass die Beteiligten, wo ihr Verhalten von einem Gegenüber infrage gestellt wird, auf bestimmte Weise reagieren. Und zwar reagieren sie verständigungsorientiert. Statt dass er Alter empirisch, durch die strategische Gewährung von Vorteilen oder Drohung mit Nachteilen zur Akzeptanz des strittigen Geltungsanspruchs zu animieren, ihn somit zu überreden versucht, wie das für erfolgsorientiertes Handeln typisch sei, soll Ego bereit sein, ihn rational, durch den argumentativen Einsatz guter Gründe zum Konsens zu bewegen, ihn also zu überzeugen. 274 Und die Lebenswelt bildet Habermas zufolge das »Korrelat zu Verständigungsprozessen« (TkH I 107). Ihr Begriff ist der »Komplementärbegriff zum kommunikativen Handeln« (TkH II 182). Akteure sollen sich niemals anders als im Horizont einer Lebenswelt verständigen können. Einige ihrer Attribute, die Habermas wiederholt ins Feld führt, sind, dass die Lebenswelt das dabei vorausgesetzte »Hintergrundwissen« (TkH I 32) 275 oder »Vorverständnis« (TkH I 150) Vgl. TkH I 149; TkH II 184. Vgl. TkH I 25 ff., 65. 274 Vgl. TkH I 385 ff. Siehe dazu Lafont, Cristina: Kommunikatives Handeln, in: Brunkhorst, Hauke/Kreide, Regina/Dies. (Hg.): Habermas-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2009, S. 332–336. Mittlerweile unterscheidet Habermas zwischen Verständigungs- und Einverständnisorientierung. Damit trägt er der Tatsache Rechnung, dass es Handlungen gibt, die mit keinem Richtigkeitsanspruch auftreten. Ein Bankräuber etwa mag Gründe für sein Verhalten haben, »die für ihn gut sind«, ohne dass Andere sich »diese Gründe im Lichte eigener Präferenzen zu eigen machen« müssten. (Habermas, Jürgen: Sprechakttheoretische Erläuterungen zum Begriff der kommunikativen Rationalität, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 50 (1996), S. 76) 275 Vgl. TkH I 37, 107, 123; TkH II 188, 199, 205. 272 273

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ausmacht; die »stets unproblematischen Hintergrundüberzeugungen« (TkH I 107), 276 auf deren Basis Ego und Alter einen Streit um problematische Geltungsansprüche mittels Argumenten auszutragen vermögen; einen »Wissensvorrat«, welcher »implizit« (TkH I 123) bleibt; das »intuitiv gegenwärtige, insofern vertraute und transparente, zugleich unübersehbare Netz der Präsuppositionen« (TkH II 199) kommunikativen Handelns; 277 den »unthematisch mitgegebenen Horizont, innerhalb dessen sich die Kommunikationsteilnehmer gemeinsam bewegen, wenn sie sich thematisch auf etwas in der Welt beziehen«; 278 das »Reservoir von Selbstverständlichkeiten […], welche die Kommunikationsteilnehmer für kooperative Deutungsprozesse benutzen« (TkH II 189), um über dasjenige, was sich nicht von selbst versteht, eine diskursive Einigung herbeizuführen, zu erhalten und zu erneuern. Mit einem Wort, Habermas denkt die Lebenswelt »konstitutionstheoretisch« (TkH I 123), indem sie vorgeben soll, »worüber Verständigung überhaupt möglich ist« (TkH I 126). 279 In Faktizität und Geltung (1992) erklärt Habermas mit aller Deutlichkeit, dass zwischen zwei Wissensformen zu differenzieren ist. Er zieht eine Differenz zwischen diesem intuitiven Wissen, welches das Medium der Lebenswelt und so eine Voraussetzung argumentativer Rede abgibt, und jenem reflektierten Wissen, welches auf der Grundlage der Lebenswelt aus einer Argumentation hervorgeht. Allerdings soll die »alles durchdringende, zugleich latente und unmerkliche Präsenz des Hintergrundes kommunikativen Handelns«, so Habermas, zu nehmen sein als eine »intensivierte und gleichwohl defiziente Form des Wissens« 280. Auf der einen Seite nämlich komme dieses Wissen zur Anwendung, ohne dass wir merken, »daß wir es überhaupt besitzen« 281. Nicht, dass man es sich nicht bewusst machen kann, doch ist solch ein Können eben noch kein Bewusstsein davon. Und was »dem Hintergrundwissen derart zu absoVgl. TkH I 150; TkH II 189, 191, 205. Vgl. TkH II 205. 278 Vgl. TkH II 182, 192, 205. 279 Habermas präzisiert seinen »kommunikationstheoretischen Lebensweltbegriff« durch Vergleich mit dem phänomenologischen von Schütz (vgl. TkH II 192 ff.) und Husserl (vgl. Habermas, Jürgen: Edmund Husserl über Lebenswelt, Philosophie und Wissenschaft, in: Texte und Kontexte, Frankfurt a. M. 1991, S. 34–48). 280 Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, a. a. O., S. 38 f. 281 Ebd., S. 39. 276 277

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Die Vorstruktur des menschlichen Bewusstseins im Spiegel weiterer Autoren

luter Gewißheit verhilft und ihm subjektiv geradezu die Qualität eines gesteigerten Wissens verleiht«, sei auf der anderen Seite »jene Eigenschaft, die es eines konstitutiven Zuges von Wissen gerade beraubt«. Denn weil zum Wissen gehören soll, dass es »fallibel ist und als solches gewußt wird, stellt das Hintergrundwissen überhaupt kein Wissen im strikten Sinne dar«. Dass also die Gewissheiten, aus denen sich die Lebenswelt aufbaut, vor der Schwelle faktischer Thematisierung liegen, wo sie weder bestreitbar noch begründbar sind, macht sie für Habermas zu einer schillernden Art des Wissens. 282

f)

Brandom über »implicit knowledge«

In die Reihe der Autoren, die eine Vorstruktur des menschlichen Bewusstseins geltend machen, gehört auch Robert Brandom. Der entwirft 1994 in Making It Explicit und dann erneut in gestraffter Form in dem 2000 erschienenen Articulating Reasons eine Philosophie der Sprache und der Intentionalität. Die zentrale Frage, auf die Brandom eine Antwort geben will, ist die nach dem Wesen des Begrifflichen, nach dem Begriff des Begriffs. Und sein Entwurf steht in der Tradition des Pragmatismus. Denn die generelle These lautet, dass der Gehalt unserer Begriffe mit Blick auf den Gebrauch zu erklären ist, welchen wir davon machen; der erstere bestimme sich durch den letzteren. Dabei soll eine Anwendung von Begriffen in unterschiedlichen Vorgängen zu verzeichnen sein, etwa im Äußern sprachlicher Ausdrücke oder im Vollziehen intentionaler Akte des Bewusstseins. Brandom betrachtet diese Vorgänge allesamt unter dem einheitlichen Gesichtspunkt der Begriffsanwendung. Sowohl beim Sprechen als auch beim Denken seien Begriffe in Gebrauch, welcher deren jeweiligen Gehalt konstituiert. Der Gehalt von Begriffen soll allerdings nicht repräsentationalistisch gedacht werden dürfen. Brandom streitet keineswegs ab, dass unseren begrifflichen Aktivitäten eine repräsentationale Dimension innewohnt. Allerdings soll die begriffliche Funktion der Repräsentation sekundär und von etwas anderem her zu analysieren sein. Brandoms These lautet konkret, dass der Gehalt von Begriffen inferenziaVgl. ebd., S. 55; TkH II 189; Habermas, Jürgen: Von den Weltbildern zur Lebenswelt, in: Gethmann, Carl F. (Hg.): Lebenswelt und Wissenschaft, Hamburg 2011, S. 65 ff.

282

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listisch gedacht werden muss. Jeder Begriffsgebrauch habe primär eine inferenzielle Dimension; er stehe in Zusammenhängen mit solchem, was er einerseits voraussetzt und was andererseits daraus folgt. Wo man einen Begriff anwendet, was nach Brandom immer nur zusammen mit weiteren Begriffen in einer Proposition geschieht, legt man sich auf gewisse Voraussetzungen und Folgen dieser Anwendung fest. Und es soll die propositionale Funktion der Inferenz sein, die den Begriffsgehalt konstituiert. Die Festlegung auf dasjenige, wodurch der propositionale Gebrauch eines Begriffs begründet wird, sowie auf dasjenige, was er seinerseits begründet, stiftet Brandom zufolge den begrifflichen Gehalt der Äußerung sprachlicher Ausdrücke und des Vollzugs intentionaler Bewusstseinsakte, in denen der betreffende Begriff zur Anwendung kommt: Ein Begriff bestimmt sich durch die Rolle, welche er in den Begründungszusammenhängen versieht, die unter Propositionen bestehen. 283 Der Inferenzialismus, den Brandom vertritt und der von verschiedenen historischen Autoren Anstöße bezieht, operiert nun aber desgleichen mit der Differenz von implizitem und explizitem Wissen. 284 Denn die Inferenzen, die von unserem Sprechen und Denken sowohl in Richtung auf dessen Voraussetzungen als auch Folgen ausgehen, sollen zunächst unthematisch da sein, wenn sie auch prinzipiell thematisch gemacht werden können. Zwar drückt Brandom diese Differenz unterschiedlich aus, immer aber unterscheidet er dabei das eine als etwas Unbewusstes von dem anderen als etwas Bewusstem. So spricht er, um nur einiges herauszugreifen, von unausdrücklichen inferenziellen Festlegungen, die man ausdrücklich machen kann (making implicit inferential commitments explicit), 285 von

Die Begründungszusammenhänge, auf die man sich durch den Gebrauch eines Begriffs festlegt und die dessen Gehalt bestimmen, sollen nicht nur formale sein. Wenn ich beispielsweise den Begriff Löwe auf Leo anwende, lege ich mich als eine Voraussetzung dafür auf die Anwendbarkeit des Begriffs Säugetier fest, darauf also, dass Leo ein Säugetier ist. Für Brandom sind sie ebenso sehr materialer Art. So habe z. B. die Proposition, dass ein Blitz zu sehen ist, die Festlegung auf die Proposition zur Folge, dass kurz darauf ein Donner zu hören sein wird. Vgl. Brandom, Robert B.: Articulating Reasons. An Introduction to Inferentialism, Cambridge, Mass. 2000, S. 19 f., 52 ff. 284 Zum historischen Hintergrund von Brandoms Inferenzialismus siehe Brandom, Robert B.: Tales of the Mighty Dead. Historical Essays in the Metaphysics of Intentionality, Cambridge, Mass. 2002. 285 Vgl. Brandom, Robert B.: Making It Explicit. Reasoning, Representing, and Dis283

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Die Vorstruktur des menschlichen Bewusstseins im Spiegel weiterer Autoren

inferential know-how im Gegensatz zu inferential know-that 286 sowie von implicit knowledge im Gegensatz zu explicit knowledge. 287 Gemäß Brandoms inferenzialistischer Auffassung von Sprache und Intentionalität heißt einen Ausdruck äußern und einen Bewusstseinsakt vollziehen sich stillschweigend auf eine Menge von Inferenzen festlegen. Wer etwas sagt oder denkt, ist darauf festgelegt, im Anschluss manches ggf. auch sagen oder denken zu müssen sowie manches nicht sagen oder denken zu dürfen. Diese impliziten Inferenzen gliedern den Gehalt derjenigen Begriffe, welche dabei explizit in Gebrauch sind. Aber Begriffe sind bereits unabhängig davon inferenziell gegliedert, dass man sie hier und jetzt gebraucht. Was der begrifflichen Aktivität hier und jetzt zugrunde liegt, ist ein Wissen um die gesellschaftliche Praxis der Anwendung der jeweiligen Begriffe. Einen Begriff verstehen heißt stillschweigend um seine Rolle in propositionalen Begründungszusammenhängen wissen; man muss schon wissen, was der Gebrauch des Begriffs in der Regel voraussetzt und was daraus folgt, um ihn richtig anwenden zu können. Wie Brandom des Öfteren formuliert, besteht das fragliche Begriffswissen in einem Können, einer »practical mastery over the inferences it is involved in – to know, in the practical sense of being able to distinguish (a kind of know-how), what follows from the applicability of a concept, and what it follows from« 288. Und solch ein seiner selbst unbewusstes Können soll eine Bedingung sein, unter der unser bewusstes Wissen erst in seine Möglichkeit gelangt. »Pragmatism about the conceptual seeks to understand«, so steckt Brandom seiner gesamten Philosophie als Ziel, »what it is cursive Commitment, Cambridge, Mass. 1994, S. xix, 101, 106, 110, 127, 128 und passim. 286 Siehe etwa ebd., S. xiv, 23, 25, 88, 641; Brandom, Robert B.: Articulating Reasons. An Introduction to Inferentialism, a. a. O., S. 17, 19, 109, 162, 165. 287 Vgl. Brandom, Robert B.: Making It Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment, a. a. O., S. 200, 201. 288 Brandom, Robert B.: Articulating Reasons. An Introduction to Inferentialism, a. a. O., S. 48. Zur Wendung »practical mastery« siehe auch S. 19, 63 f., 127, 162, 165; Brandom, Robert B.: Making It Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment, a. a. O., S. 15, 26, 88, 89, 120, 231, 365. Brandom umgeht damit das von Wittgenstein her bekannte Problem, dass die gegenteilige Auffassung, wonach die Deutung eines Begriffs die Voraussetzung sei, um diesen richtig zu gebrauchen, in einen infiniten Regress führt. Vgl. Tietz, Udo: Normen, Regeln und Interpretationen. Robert Brandoms Projekt einer pragmatischen Theorie der Rationalität, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 58/1 (2004), S. 83 ff.

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explicitly to say or think that something is the case in terms of what one must implicitly know how (be able) to do.« 289 Die eine Form von Wissen gebe die Voraussetzung der anderen ab: Wissen-wie ist laut Brandom eine ermöglichende Bedingung für Wissen-dass. Und die erstere Wissensform setzt er mit unthematischem Wissen gleich, die letztere mit thematischem Wissen: »It approaches the contents of conceptually explicit propositions or principles from the direction of what is implicit in practices of using expressions and acquiring and deploying beliefs.« Mithin bildet das implizite Wissen um die inferenzielle Gliederung eines Begriffsgehalts eine Voraussetzung für den Gebrauch, den man von dem fraglichen Begriff macht. Dazu gehört auch jedes explizite Wissen, zu dem man es im Sprechen und Denken bringt. Und wir können nicht nur irgendetwas sagen oder denken, sondern auch dasjenige, was wir sonst lediglich tun. Wir sind grundsätzlich imstande, unser unausdrückliches Können selbst zu einem ausdrücklichen Wissen zu erheben.

g)

»But I know it when I see it« (Stewart)

Enden will ich mit Potter Stewart. Dieser ist zwar nicht als Philosoph und Autor bekannt, sondern war ein US-amerikanischer Jurist und von 1958 bis 1981 Richter am Supreme Court. Doch hat er sich in seinem Sondervotum (concurring opinion) zur Sache Nico Jacobellis gegen Ohio, da im Jahre 1964 über das Verbot eines vermeintlich obszönen Spielfilms zu befinden war – dem 1958 von der Jury der Internationalen Filmfestspiele Venedig ausgezeichneten französischen Beitrag Les amants von Louis Malle –, einer Wendung bedient, die seitdem nicht nur im Englischen Geschichte geschrieben hat und bis in die Umgangssprache diffundiert ist. Was diese Wendung zum Ausdruck bringt, ist auch für uns von Interesse. Um zu erklären, warum das zur höchstrichterlichen Entscheidung vorgelegte Material seiner Meinung nach nicht als »hard-core pornography« zu gelten habe und daher verfassungsmäßig geschützt sei, merkt Stewart Folgendes an: »I shall not today attempt further to define the kinds of material I understand to be embraced within that shorthand description, and perhaps I could never succeed in intelligiBrandom, Robert B.: Articulating Reasons. An Introduction to Inferentialism, a. a. O., S. 43 f. Vgl. S. 4.

289

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bly doing so. But I know it when I see it, and the motion picture involved in this case is not that. [Herv. d. Verf.]« 290 Mit jener »shorthand description« ist der »standard for judging obscenity« gemeint, welcher einige Jahre zuvor durch eine Grundsatzentscheidung des Gerichts aufgestellt worden war und darin besteht zu beurteilen, »whether, to the average person, applying contemporary community standards, the dominant theme of the material taken as a whole appeals to prurient interest« 291. Stewarts Einlassung drängt unsere bisherige Diskussion wie in eine Nussschale zusammen. Sie legt das Gewicht auf den Unterschied zwischen etwas definieren (»define«) und etwas erkennen (»know«). Und die Pointe dieses Unterschieds besteht darin, dass jemand in der Lage sein kann, das eine zu tun, ohne darum auch das andere tun können zu müssen. Der Verfassungsrichter sieht sich einerseits außerstande, eine generelle Definition zu geben für das Erfülltsein des Tatbestands harter Pornographie, welche durch den ersten Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten nicht abgedeckt ist (»perhaps I could never succeed in intelligibly doing so«). Das bedeutet aber andererseits nicht, dass er keine Erkenntnis davon zuwege zu bringen vermag, wann der besagte Tatbestand im konkreten Fall erfüllt ist (»the motion picture involved in this case is not that«). Am Grunde dessen liegt, und das ist das Entscheidende, dass Stewart einräumt, durchaus ein Verständnis von Obszönität zu besitzen, eines allerdings, das ihm nicht oder nicht stegreifartig zu Gebote steht. Er weiß sehr wohl, was es damit auf sich hat, und nur deswegen weiß er, darüber im vorliegenden besonderen Fall zu entscheiden. Aber er weiß nicht, unabhängig davon allgemein zu definieren, was etwas Obszönes ausmacht. Er kann, was da infrage steht, deshalb weithin und so auch hier erkennen, weil er es schon irgendwie kennt, ohne jedoch fähig zu sein, diese seine Kenntnis in eine engumschriebene Definition einzukrümmen. Mithin heißt Erkennen da und anderwärts in gewissem Sinne Wiedererkennen. Erkennen kann man etwas nur, wenn man es mindestens seiner Art nach bereits kennt und ebendiese Art in einem gegebenen Fall wiedererkennt. 292 Jacobellis v. Ohio, 378 U.S. 184 (1964), S. 199. Roth v. United States, 354 U.S. 476 (1957), S. 489. 292 Gadamer spricht dies aus, dass echtes Erkennen stets Wiedererkennen ist: »Wann erkennt ein Kind zum ersten Male seine Mutter? Dann, wenn es sie zum ersten Mal gesehen hat? Nein. Ja wann eigentlich? […] Können wir überhaupt sagen, daß das ein einmaliges Ereignis ist, in dem ein erstes Erkennen das Kind aus dem Dunkel des 290 291

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Zur Erweiterung der Evidenzbasis

Dabei will ich es bewenden lassen. Die vorstehende Reihe von Theoretikern sowie eines Juristen hat zusätzliche Beispiele eingebracht (und es ließen sich noch etliche mehr vorbringen) für dasjenige, worauf ich hinauswill. Wenn ich das nun begrifflich festsetze, brauche ich mich jedoch in Ansehung meines eigentlichen Zwecks, die Sozialontologie dort einzuhaken und von daher aufzurollen, weder dieser noch jener besonderen Fassung des fraglichen Phänomens anzuschließen. Stattdessen muss und kann ich auf der Höhe des Allgemeinsten verbleiben. Aus der Auseinandersetzung mit den aufgeführten Beispielen sei lediglich ein höchst verdichtetes, brennglasartiges Resümee gezogen, mit dem sich im Weiteren arbeiten lässt. Ohne jegliche Prätention auf Vollständigkeit sollen lediglich einige und die ausschlaggebenden Charakteristika dessen, was bei dem einen wie dem anderen Autor zur Sprache kommt und sich von ihnen lernen lässt, aufgegriffen und dargelegt werden, Charakteristika der Erfahrung, welche jeder von uns in den jeweiligen Dingen seines Lebens hat. 293

Unwissens herausreißt? Es scheint mir offenkundig, daß es so nicht ist.« Sondern »wir meinen, wenn wir sagen ›erkennen‹ –, ›wiedererkennen‹, d. h. etwas als dasselbe herauserkennen aus dem Strom vorbeiflutender Bilder.« (Gadamer, Hans-Georg: Die Universalität des hermeneutischen Problems (1966), in: Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register, GW 2, Tübingen 21993, S. 229) 293 Diverse Autoren bieten weitere Zugänge zum Sachbereich impliziten Wissens, darunter John Dewey. Für einen Problemaufriss zum Verhältnis zwischen explizitem und implizitem Wissen siehe Loenhoff, Jens: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Implizites Wissen. Epistemologische und handlungstheoretische Perspektiven, Weilerswist 2012, S. 7–30.

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VII. Die vorgängige Gemeinsamkeit des Bewusstseins von bedeutungstragenden Phänomenen

1.

Der Sachbereich der Lebenserfahrung

Was ist nun die Quintessenz aus alledem? Was genau soll unter dem Sachbereich der Lebenserfahrung zu verstehen sein? Diejenige Form von Wissen, um die es mir dabei geht, besteht nicht in so etwas wie wahrer, gerechtfertigter Überzeugung. Nach dieser als klassisch angesehenen, Platon jedoch zu Unrecht unterstellten sog. Standardanalyse des Wissens 294 steht dieses unter drei Bedingungen. Ein Sprecher S muss von der Wahrheit einer Proposition P überzeugt sein, P muss wahr und S in der Lage sein zu rechtfertigen, dass sie wahr ist. 295 Ich wiederhole auch nicht den von Edmund Gettier aufgebrachten und seitdem diskutierten Einwand, wonach keinesfalls schon Wissen vorliegen muss, wo nur die aufgezählten Bedingungen gegeben sind. Wenn diese Bedingungen auch notwendig sind für das Vorliegen einer bestimmten Wissensform, sind sie, so Gettier, zusammen doch nicht zureichend dafür. 296 Denn bei dieser Form von Wissen, wie auch immer sie im Detail bestimmt wird, handelt es sich doch um etwas, hinter das alle von mir aufgezählten Denker einen Griff zurück tun und auch ich tun will. Ist sie ja offenbar durch Bewusstsein charakterisiert. Ein Sprecher S muss sich – sonst hat man es nicht mit einem Fall solchen Wissens zu tun – einer Proposition P, von der er überzeugt ist, ihrer Wahrheit sowie seiner Rechtfertigung dafür bewusst sein. Was er nicht ausdrücklich macht und Anderen mitteilt, das weiß er auch nicht auf diese Art. Diejenige Wissensform hingegen, auf die uns Kant, RousSiehe etwa Platon: Men. 98a; Gorg. 454d; Polit. 309c. Jedoch verwirft Platon diese Vorstellung im Theaitetos (vgl. Tht. 210a f.). 295 So Ayer, Alfred J.: The Problem of Knowledge, London 1956, S. 34; Chisholm, Roderick M.: Perceiving. A Philosophical Study, a. a. O., S. 16. 296 Vgl. Gettier, Edmund: Is Justified True Belief Knowledge?, in: Analysis 23/6 (1963), S. 121–123. 294

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Die vorgängige Gemeinsamkeit des Bewusstseins

seau und Hegel gestoßen haben, die bei Wittgenstein und Schleiermacher artikuliert ist und wir zuletzt u. a. bei Ryle, Gadamer, Polanyi, Habermas und Brandom wiedergefunden haben, verzichtet darauf. Der Mangel an Bewusstsein ist hiernach nicht dasselbe wie ein Mangel an Wissen überhaupt. Ich will nicht behaupten, dass es lediglich zwei Arten von Wissen gibt, dass man daneben nicht noch andere unterscheiden kann oder muss. Aber wir haben anhand verschiedener Autoren doch diesen einen wichtigen Unterschied kennengelernt. Demnach kann man einerseits sehr wohl etwas wissen, ohne sich bewusst zu sein, dass man es weiß. Man macht nicht ausdrücklich und teilt Anderen nicht mit, was man da weiß; vielleicht muss man derlei prinzipiell tun können, aber man braucht es nicht zu tun, um etwas zu wissen. Und andererseits wirkt sich solch ein Wissen aus auf und nimmt sich mit hinein in jene andere Form des Wissens. Dafür lassen sich noch weitere Autoren anführen, da in den letzten Jahren die Kritik laut geworden ist, dass die sog. Standardanalyse einen unverzichtbaren Faktor der von ihr analysierten Wissensform verfehlt. Stehen doch unsere wahren, gerechtfertigten Überzeugungen (oder was man dafür hält) niemals isoliert da. Immer hängen sie auf die eine oder andere Weise zusammen. Stets können wir von einer zur anderen übergehen, indem wir registrieren, dass sie zueinanderpassen oder im Widerspruch miteinander stehen, indem wir die eine als Bedingung voraussetzen oder aus der anderen als Folgerung ableiten usw. Den Begriff des Wissens-dass in solche Zusammenhänge zurückzustellen, verlangt jedoch seine Ergänzung um einen Begriff jenes Könnens oder Wissens-wie, welches sich in jenen Übergängen verkörpert. Einige der Autoren sprechen diesbezüglich auch von ›Verstehen‹. 297 Ein etymologischer Hinweis ist hier zielführend. Unser deutscher Ausdruck ›wissen‹ stammt von dem gemeingermanischen Verb wizzen im Mittelhochdeutschen und wizzan im Althochdeutschen ab. Beide gehören, mit verwandten Worten anderer Sprachen wie vita im Altnordischen oder witan im Gotischen und Altenglischen, zur indo-

Vgl. Zagzebski, Linda: Recovering Understanding, in: Steup, Matthias (Hg.): Knowledge, Truth, and Duty. Essays on Epistemic Justification, Responsibility, and Virtue, Oxford 2001, S. 235–251; Kvanvig, Jonathan L.: The Value of Knowledge and the Pursuit of Understanding, Cambridge 2003, Kap. 8; Understanding, in: Aquino, Frederick D./Abraham, William J. (Hg.): Oxford Handbook on the Epistemology of Theology, Oxford 2016, S. 175–190.

297

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Der Sachbereich der Lebenserfahrung

germanischen Wurzel ueid- (sehen, erblicken). 298 Bemerkenswerterweise handelt es sich dabei um ein Präteritopräsens, d. h. ein Verb, dessen Präsens aus dem Präteritum eines älteren Verbs entstanden ist. Wortwörtlich bezeichnet es also ein Geschehen, das zum Zeitpunkt des Sprechens wohl abgeschlossen ist, sich aber nichtsdestotrotz bis in die Gegenwart hineinzieht: Etwas wissen heißt es gesehen, erblickt haben und darum damit bekannt sein. Diese ursprünglich sinnliche und näherhin visuelle Bedeutung hat sich in der Folgeentwicklung zu derjenigen verschlankt, welche der Ausdruck auch heute noch besitzt und die den Gegensatz zwischen thematischem und unthematischem Wissen überbrückt. Nach der für mich relevanten Verwendungsweise hat er sein Herzstück darin, so viel zu bedeuten wie Kenntnis von etwas, Erfahrung damit haben. 299 Dieser Hinweis auf die Etymologie darf nicht missverstanden werden. Es könnte so aussehen, als wollte ich den Wissenscharakter des fraglichen Wissens aus einer historisch aufgelesenen Sprachbedeutung heraus festlegen. Das Gegenteil trifft zu. Richtig ist, dass das aus dem Lexikon zu Gewinnende mit demjenigen, was wir in der bisherigen Hinwendung zu der betreffenden Sache selbst sowie einigen Theoretikern, welche sich darüber äußern, bereits gewonnen haben, zusammenfällt. Der Sinn von ›wissen‹ darf danach so flach angesetzt werden, dass der Ausdruck geeignet ist, das zu bezeichnen, worauf ich es abgesehen habe. Er ruft dann den ganz unspezifischen Mindestsachverhalt auf, der uns in der einen oder anderen Konkretionsgestalt durchgängig begegnet ist, und zwar etwas – z. B. Sitten oder Regeln, Standards oder Kriterien des gesellschaftlichen Verkehrs – zu kennen, darin erfahren zu sein. 300 Dasjenige Wissen, worauf ich es abgesehen habe, ist das, welches Kant aus seiner Transzendentalphilosophie ausschließt, wenn es sich Von dieser Wurzel leitet sich zudem das lateinische videre ab. Vgl. Walde, Alois/ Hofmann, Johann B.: Lateinisches etymologisches Wörterbuch, Bd. 2: M–Z, Heidelberg 62007, S. 784 f. 299 Vgl. Pokorny, Julius: Indogermanisches etymologisches Wörterbuch, Bd. 1, Tübingen/Basel 42002, S. 1125; Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 14, 2: Wilb-Ysop, Leipzig 1960, Sp. 748. 300 Hegel tippt das in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion kurz an: »Man setzt Glauben dem Wissen entgegen; ist es dem Wissen überhaupt entgegengesetzt, so ist es leerer Gegensatz: was ich glaube, weiß ich auch« (VPR I, S. 116). »Wissen überhaupt« heißt hier Bekanntschaft mit, Kenntnis von, Erfahrung in etwas. Hegel aber erklärt das an der Stelle bewusstseinsphilosophisch: »das ist Inhalt in meinem Bewußtsein«. 298

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dabei auch erklärtermaßen um ein apriorisches handeln soll. »Denn man pflegt wohl«, schreibt Kant in der Kritik der reinen Vernunft, »von mancher aus Erfahrungsquellen abgeleiteten Erkenntniß zu sagen, daß wir ihrer a priori fähig, oder teilhaftig sind« (KrV B 2). Und er bietet dafür ein Beispiel auf: »So sagt man von jemand, der das Fundament seines Hauses untergrub: er konnte es a priori wissen, daß es einfallen würde, d. i. er durfte nicht auf die Erfahrung, daß es wirklich einfiele, warten.« Nach allem, was der genannten Person in Bezug auf Gebäude und überhaupt Körper geläufig ist, konnte sie sich ausrechnen, dass ihrem Haus infolge einer Untergrabung das Fundament absacken wird. Dass »Körper schwer sind und daher, wenn ihnen die Stütze entzogen wird, fallen«, war ihr »zuvor durch Erfahrung bekannt«; dass das auch bei diesem Gebäude so kommen muss, war deswegen voraussehbar. Kant erinnert also daran, dass das Wissen um künftige Ereignisse ein ›apriorisches‹ genannt werden kann, wenn es sich von vergangenen Erlebnissen herschreibt (lat. a priori, von Früherem her). 301 Allerdings bringt er diese Erinnerung an einen Sprachgebrauch nur an, um diesen sogleich wieder auf die Seite zu setzen. Denn unter »Erkenntnissen a priori« will er allein die verstanden wissen, »die schlechterdings von aller Erfahrung unabhängig stattfinden« und darum durch »Nothwendigkeit« und »Allgemeinheit« (KrV B 3) gekennzeichnet ist. 302 Ich meine hingegen gerade solches Wissen, das Kant auf die Seite setzt und das, wie in seinem Beispiel, bloß »von dieser oder jener […] Erfahrung unabhängig« (KrV B 2 f.) ist. Zergliedert man das, so hat der (um mit dem von Kant beiseitegesetzten Sprachgebrauch zu reden) apriorische Charakter desjenigen Wissens, welches die (in meiner Ausdrucksweise) menschliche Erfahrenheit ausmacht, sowohl einen temporalen als auch einen konditionalen Aspekt. Dieses WisDas Syntagma enthält einerseits die Präposition a, die im räumlichen Sinne von … her bedeutet, im zeitlichen Sinne von … an, seit und in Bezug auf Herkunft oder Ursprung von, durch, sowie andererseits das Substantiv prior, das im räumlichen Sinne den Vorderen bezeichnet, im zeitlichen Sinne den Ersten, Früheren und dem Rang oder Wert nach den Höherstehenden. Vgl. Schepers, Heinrich: A priori/a posteriori, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1: A-C, Basel 1971, Sp. 462–467; Mittelstraß, Jürgen: Changing Concepts of the a priori, in: Butts, Robert E./Hintikka, Jaakko (Hg.): Historical and Philosophical Dimensions of Logic, Methodology and Philosophy of Science, Dordrecht 1977, S. 113–128. 302 Vgl. Zimmermann, Stephan: A priori und a posteriori, in: Berger, Larissa/ Schmidt, Elke E. (Hg.): Kleines Kant-Lexikon, Paderborn 2018, S. 103 f. 301

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sen ist einesteils nicht immer schon, sondern erwächst erst aus vorhergehenden Erfahrungen; es ist durch jene als den temporal Früheren. Das macht seinen aus der Vergangenheit herkommenden Zug aus, dass es einem vergangenen Aufenthalt bei Phänomenen entspringt und ihn bewahrt. Mit Kants Beispiel gesprochen ist etwas »zuvor durch Erfahrung bekannt«, woran auch die in unseren Tagen gestiegene Veraltungsgeschwindigkeit von Lebenserfahrung nicht grundlegend zu rütteln vermag. 303 Und dieses Wissen genügt sich anderenteils nicht selbst, sondern wächst nachgehenden Erfahrungen in der Rolle einer Voraussetzung zu; jene sind durch es als dem konditional Früheren. Das bildet seinen in die Zukunft ausgreifenden Zug, dass es dem künftigen Aufenthalt bei Phänomenen zugrunde liegt und in ihn einfließt. Wieder mit Kants Beispiel gesagt war »die Erfahrung, daß es wirklich einfiele«, nichts weniger denn überraschend; sie hat nur bestätigt, was erwartbar war. 304 Apriorisches Wissen ist demzufolge eine Art Durchgangspunkt in der kreisläufigen Bewegung, die den Geist des Menschen auszeichnet und deren anderer Pol in das menschliche Bewusstsein gesetzt werden kann. Eine Sache, die jemandem einmal vor dem Bewusstsein stand, ist nicht unweigerlich verloren, sobald dem nicht mehr so ist. Sie bleibt im Wissen erhalten, zieht sich allerdings quasi hinter seinen Rücken zurück. Das aber nicht, um dort an sich zu halten, sondern um erneut nach vorn zu kommen (ohne erinnert zu werden, was ja heißt, als etwas bewusst zu werden, das einem schon einmal bewusst war). Indem das Wissen um diese Sache in wiederkehrenden Erfahrungen bestätigt wird, wie in Kants Beispiel, oder durch sich wandelnde Erfahrungen hinfällig wird, schlagen solche Erfahrungen abermals auf die Hinterseite des Bewusstseins zurück. Und so immer fort in einem, wie Habermas sagt, »Kreisprozeß«. 305 Darauf weist auch hin Marquard, Odo: Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Betrachtungen über Modernität und Menschlichkeit (1991), in: Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays, Stuttgart 22015, S. 234–246. 304 Auch Polanyi charakterisiert das, worauf man sich verlässt, als »prior« in einem sowohl temporalen als auch konditionalen Sinn: »a mathematical theory can be constructed only by relying on prior tacit knowing and can function as a theory only within an act of tacit knowing, which consists in our attending from it to the previously established experience on which it bears.« (Polanyi, Michael: The Tacit Dimension, a. a. O., S. 21) 305 Nur setzt Habermas den anderen Pol der kreisläufigen Bewegung in das menschliche Handeln: »Handeln […] stellt sich als Kreisprozeß dar, in dem der Aktor beides zugleich ist – der Initiator zurechenbarer Handlungen und das Produkt von Überlie303

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In diesen geistigen Kreislauf ist all unser Erleben eingelassen, das darum ganz und gar nichts »unreduzierbar Letztes« ist, wie Natorp wähnt. Mithin soll mir jenes Wissen a priori – das ist es, worauf meine Behauptung geht – das durch Wiederkehr von Erlebnissen sich ebenso festsetzende und vertiefende wie durch deren Wandel sich verändernde und erweiternde Erfahrensein in den Dingen des menschlichen Lebens ausmachen, in welches, da es im Unbewussten und Nichtintentionalen schwingt (ohne im Sinne der Psychoanalyse Opfer einer Verdrängungsleistung zu sein), unsere intentionalen Zustände eingewurzelt sind. Kurzum: das lebensgeschichtlich gewordene und durch die weitere Lebensgeschichte immer auch wieder anders werdende Apriori des Bewusstseins eines Menschen. 306 Um möglichen Fehldeutungen zuvorzukommen, sei angemerkt, dass ich es nicht auf eine genetische Erklärung apriorischen Wissens abgesehen habe. Es geht mir nicht um den Prozess des Zustandekommens von Erfahrenheit oder darum, in welchen Etappen dieser typischerweise ablaufen mag, sondern stattdessen um eine geltungslogische, an Begründung interessierte Analyse des Bewusstseins. Der Hinweis auf das kindliche oder gar frühkindliche Erleben, dem es noch an jenem Apriori gebricht, bildet daher keinen Einwand. Kinder und Kleinkinder haben noch keine ausgereifte Intentionalität, wie sie ein Erwachsener oder eben jemand hat, der über die dafür nötige geistige Bildung verfügt. Dazu gehört die Fähigkeit zu unterschiedlichen Typen an intentionalen Leistungen, beispielsweise zum Selbstbewusstsein, zur kritischen Distanznahme von dem, was man für eine wahre, gerechtfertigte Überzeugung hält, dazu, Erlebtes gegen Ähnliches und Verschiedenes abzugrenzen etc. Meine Behauptung lautet also genauer, dass dort, wo vollständig entwickelte Intentionalität vorliegt, ein entsprechendes Erfahrensein vorausgesetzt ist: solches, was schon erlebt wurde, aber nach wie vor da ist und das Bewusstsein, ferungen, in denen er steht, von solidarischen Gruppen, denen er angehört, von Sozialisations- und Lernprozessen, denen er unterworfen ist. Während sich a fronte dem Handelnden der situationsrelevante Ausschnitt der Lebenswelt als Problem aufdrängt, das er in eigener Regie lösen muß, wird er a tergo vom Hintergrund seiner Lebenswelt getragen« (TkH II 204 f.) 306 Das ähnelt der Historisierung des Apriori in Foucaults Diskursanalyse. Danach besitzt jeder sog. Diskurs sein jeweiliges »a priori historique«, unter dem er stattfindet und durch den sein Gesichtskreis abgesteckt ist. (Foucault, Michel: L’Archéologie du savoir, Paris 1969, S. 166)

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welches jemand hier und jetzt hat, mit begründet. Mithin ist es mir nicht um die Genese unseres betreffenden Wissens, sondern um die Geltung zu tun, welche diesem für die Bewusstseinsintentionalität zukommt. Ferner steht zu beachten, dass ich nicht so etwas behaupte, wie dass ein Mensch durch die jeweilige Erfahrung, welche ihm im Laufe der Zeit unvermeidlich geworden ist und die er in jede neue Situation mit- und einbringt, determiniert ist. Nicht liegen ja die Dinge im menschlichen Leben so, dass jemand stets nur Altes, das er bereits kennt, wiederholen und in der Zukunft sich bloß auf die Art verhalten kann, wie er es in der Vergangenheit gelernt hat. So habe ich auch nicht formuliert. Ich habe nicht gesagt, dass Lebenserfahrung eine hinreichende Bedingung für das intentionale Bewusstsein ist, sondern lediglich, dass jenes nicht auf sich selber beruht, indem es nicht ohne diese auskommt. Derlei Wissen, so lautet in Wahrheit meine Behauptung, ist eine notwendige Bedingung für das vollständig ausgebildete und als solches zu diversen Typen an intentionalen Leistungen fähige Bewusstsein. Es stellt den großen Horizont einer Vielfalt von Möglichkeiten dar, die sich nicht nur durch neue Lagen und Umstände verändern können (wobei alles Lernen seinerseits auf der Grundlage von Altem und Bekanntem geschieht), sondern die das Verhalten des Einzelnen gar nicht für sich allein und ein für alle Mal festlegen. Man mag noch den Vorbehalt anbringen, dass implizites Wissen ganz so wie explizites Wissen auch eine intentionale Struktur besitzt. Indem es Wissen von etwas ist, zeige es dieselbe Verfasstheit wie das menschliche Bewusstsein, welche seit Brentano als ein Gerichtetsein beschrieben und als ›Intentionalität‹ angesprochen wird. Derlei Wissen wäre also weit davon entfernt, ein nichtintentionales zu sein, wie ich gesagt habe, wenn man auch zu konzedieren bereit ist, dass es durchaus ein unbewusstes ist. Allerdings besteht der Clou jener Tradition, die mit Brentano beginnt, darin, dass nicht jedwede Beziehung schon ein Fall von Intentionalität darstellt, sondern ausschließlich die Gerichtetheit des Bewusstseins; etwas intendieren meint bei Brentano sich bewusst darauf beziehen, ja sich darauf richten. In der gegenwärtigen Forschung ist dann auch keineswegs unstrittig, ob es so etwas überhaupt gibt wie unbewusste und gleichwohl intentionale Zustände des Geistes. 307 307

Für derlei Zustände argumentiert Searle, John R.: Consciousness, Unconscious-

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Die vorgängige Gemeinsamkeit des Bewusstseins

Einer tiefenscharfen Analyse halte ich mich hier allerdings für überhoben. Denn für das Weitere ist dieser Punkt nicht von Belang. Um die sozialontologische Frage einer Antwort entgegenzuheben, genügt das Zugeständnis, dass jenes Wissen nicht bewusst ist und nicht bewusst gemacht zu werden braucht: Nur um nicht sachliche Unterschiede sprachlich zu verwischen, will ich darauf verzichten, seinen Bezugscharakter als ›Intentionalität‹ zu bezeichnen. Ich bemerke lediglich, dass sich die Erfahrenheit eines Menschen wohl kaum ohne Abstriche als eine gerichtete charakterisieren lässt, wie das bei bewusstseinsmäßigen Zuständen der Fall ist. Begreift doch solches Wissen erstens kein Sichrichten auf etwas ein; es ist nicht von der Art, wie wenn jemand seine Aufmerksamkeit auf etwas anstatt auf irgendetwas anderes lenkt. Indem es jedem solchen Lenken der Aufmerksamkeit zugrunde liegt, ist der Betreffende mehr auf etwas gerichtet, als dass er selber das tut und auch anders tun könnte. Und zweitens geht dem fraglichen Wissen die Fähigkeit zu verschiedenen Typen intentionaler Leistungen ab, welche ein zu voller Entfaltung gelangtes Bewusstsein mit sich bringt; dass es bewusst gemacht werden kann, heißt eben, dass es noch nicht bewusst ist und daher nicht als solches den Inhalt derartiger Leistungen ausmacht. Und noch ein Punkt, der hierhergehört und sich unmittelbar daran anschließt. Man darf nämlich genauso wenig glauben, mit dem Sachbereich solchen Wissens fertig zu werden, wenn man es als etwas Subjektives abtut. Der aus der Scholastik herkommende lateinischstämmige Ausdruck ›subjektiv‹ (im Gegensatz zu ›objektiv‹) kann viel bedeuten. 308 Doch das zur Diskussion stehende Wissen, in welches unser Bewusstsein eingetaucht ist und aus dem seinen intentionalen Akten Orientierung zuströmt, ist jedenfalls nicht subjektiv, falls damit so etwas gemeint ist, wie dass es innerhalb der Sphäre desjenigen

ness and Intentionality, in: Philosophical Issues 1 (1991), S. 45–66. Dagegen binden Intentionalität an Bewusstsein Strawson, Galen: Intentionality and Experience: Terminological Preliminaries, in: Real Materialism and Other Essays, Oxford 2008, S. 255–279; Real Intentionality 3: Why Intentionality Entails Consciousness, in: Real Materialism and Other Essays, Oxford 2008, S. 281–305; Mendelovici, Angela: The Phenomenal Basis of Intentionality, Oxford 2018. 308 Für einen Überblick zur Bedeutungsgeschichte siehe Knebel, Sven K./Karskens, Michael/Onasch, Ernst-Otto: Subjekt/Objekt; subjektiv/objektiv, in: Ritter, Joachim/ Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10: St–T, Basel 1998, Sp. 401–433.

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Die erste Begriffsbestimmung: vorgängig gewusste Gemeinsamkeit

›Subjekts‹ verbleibt, das da bewusste Intentionen hat: also keinerlei Kontakt unterhält zu etwas Objektivem. Die Erfahrung, welche einer vorweg schon hat, steht wie die, welche er gerade macht, keineswegs auf der einen Seite und einer anderen gegenüber, an die sie nicht heranreicht. Sondern sie hat in sich Bezugscharakter. Nicht ihrerseits beziehbar auf etwas, ist sie vielmehr das Bezogensein, genauer noch das Vorwegbezogensein eines Menschen auf diejenigen Dinge, welche ihm in seinem Leben einst untergekommen sind und ihm dereinst wieder unterkommen können. Wohl ist sie keine durch die jeweiligen Einzelerlebnisse determinierte Resultante, aber doch, und darauf kommt es an, genauso objektiv wie das Erleben, aus dem sie erwächst: Die erlebten ›Objekte‹ selbst sind darin aufbewahrt.

2.

Die erste Begriffsbestimmung: vorgängig gewusste Gemeinsamkeit

Nachdem wir im Vorstehenden das Erfahrensein des Menschen nach seinen Hauptmomenten begrifflich eingefangen haben, sind wir nun in der Lage, es mit der Frage nach seiner etwaigen Sozialität zu konfrontieren. Allerdings möchte ich zunächst nur eine Zwischenetappe auf dem Weg hin zu diesem großen Ziel absolvieren. Ich frage nach dem Sozialcharakter der gewordenen Vorstruktur unseres Bewusstseins nicht schon ganz im Allgemeinen, sondern beschränke mich vorerst noch auf das Bewusstsein einer besonderen Art von Entitäten, und zwar bedeutungstragender Phänomene. An derlei Entitäten haben wir uns bisher entlanggehangelt. Und daran schließt sich die Fragestellung nahtlos an: ob der namhaft gemachte notwendige Erklärungsgrund einer intentionalen Zuwendung zu etwas eine soziale Note besitzt, wo es bestimmte Phänomene sind, denen man sich da zuwendet, eben symbolisch strukturierte Gebilde wie z. B. geschriebene und gesprochene Sprache oder Mienen, Gesten und Posen. Mit Bezug darauf werde ich eine erste Begriffsbestimmung vornehmen. Bezüglich dessen lässt sich nämlich auf der Basis der bisherigen Betrachtungen einiges Soziale, nach dessen Wesen ich mich umschaue, charakterisieren als die der Intentionalität vorgängige Gemeinsamkeit einer Vielheit von Beteiligten. Das Wesen alles Sozialen ist damit aber, um das gleich vorwegzunehmen, noch nicht gefunden; dieses wird erst hinterher in einem weiteren und letzten Schritt begrifflich zu bestimmen sein. 321 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Die vorgängige Gemeinsamkeit des Bewusstseins

Bei denjenigen Autoren, die ich im vorangegangenen Kapitel mobilisiert habe, um mit ihrer Hilfe die Voraussetzungsstruktur begrifflich einzufangen, in die die bewusstseinsförmige Intentionalität des Menschen eingesetzt ist, ist in dieser Angelegenheit allerdings nicht allzu viel zu holen. Dass das von mir herausgestellte apriorische Wissen (in dem von Kant beiseitegesetzten Sinne eines früheren Erlebnissen entspringenden und späteren Erlebnissen zugrunde liegenden Wissens) eine gesellschaftliche Seite besitzt und daher auch das intentional verfasste Bewusstsein, insofern es ihm nachgesetzt ist, findet sich dort nicht. Denn entweder haben die genannten Autoren keinerlei Interessen auf dem Gebiet der Sozialontologie. So Ryle und Polanyi, deren Ansätze gar nicht erst die soziale Facette des von ihnen auseinandergelegten »knowing how« bzw. »tacit knowing« problematisieren; von dem Verfassungsrichter Stewart und dessen berühmt gewordenem Ausspruch in einem fallbezogenen richterlichen Sondervotum ganz zu schweigen. Oder sie setzen Soziales einseitig an wie Habermas. Dieser geht zwar ebenfalls keiner sozialontologischen Problemstellung nach, allerdings kennt und behandelt er sehr wohl eine gesellschaftliche Seite der »Lebenswelt«. Damit kommt er meinem Vorhaben nahe, indem er zum Wenigsten einen richtigen Kurs einschlägt. In seiner Theorie des kommunikativen Handelns geht Habermas von der Feststellung aus, dass in den phänomenologischen Untersuchungen Husserls sowie der daraus entstandenen Schule eine »kulturalistische Verkürzung des Konzepts der Lebenswelt« (TkH II 205) vorherrscht. Diese und andere sachwidrige Verkürzungen auf einen bloßen Ausschnitt der Lebenswelt gelte es zu revidieren. 309 Soll sich doch die Lebenswelt in ihrem vollen Umfang aus insgesamt drei »strukturellen Komponenten« zusammensetzen, welche Habermas (etwas irritierend) als »Kultur, Gesellschaft und Person« (TkH II 209) bezeichnet. 310 Wie man das zu nehmen hat, ist nicht ganz leicht zu Vgl. TkH II 210 f. Vgl. Habermas, Jürgen: Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Interaktion und Lebenswelt, in: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 1988, S. 95 ff.; Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, a. a. O., S. 77. Etwas irritierend ist die Bezeichnung, weil Habermas einer Auffassung der modernen Gesellschaft das Wort redet, die jene weder (wie die soziologische Systemtheorie) nur als System noch (wie die phänomenologische Soziologie) nur als Lebenswelt begreift. Folglich soll Gesellschaft das Ganze aus System und Lebenswelt, zugleich aber auch eine strukturelle

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sagen. Klar aber ist, dass es sich dabei allemal, wie Habermas auch zu verstehen gibt, um »intuitive[s] Wissen« oder »Gewißheiten« (TkH II 205) handelt. Und sicher ist zudem, dass damit jeweils eine universal- oder formalpragmatische, gegenüber den vorfindlichen Eigenschaften irgendeiner menschlichen Kultur, Gesellschaft oder Person invariante Bedingung verständigungsorientierten Handelns benannt sein will. 311 Darauf allein kommt es an. Habermasens Universal- oder Formalpragmatik erörtert die Lebenswelt mitsamt ihren drei integrierenden Strukturkomponenten, wie schon gehört, als »Korrelat zu Verständigungsprozessen«; ihr Begriff soll der »Komplementärbegriff zum kommunikativen Handeln« sein. Denn darin liegt die Einseitigkeit, dass sich das Soziale in Habermasens Erörterung ausschließlich auf solches erstreckt, was als Voraussetzung für verständigungsorientiertes Handeln figuriert, für jemandes Bereitschaft zu einvernehmlicher Beilegung von Streitigkeiten, wie sie im Diskurs auf der Basis triftiger Gründe erfolgt. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Der philosophischen Hermeneutik Gadamers kann man hingegen (ähnlich wie Schleiermachers hermeneutischem Ansatz) nachsagen, der richtigen Verortung der ontologischen Problematik des Sozialen noch näher zu kommen. Denn mit Gadamer ist sie im ganzen dem Bewusstsein und Intentionalität voranliegenden Sachbereich der Lebenserfahrung zu verorten. Das wird bereits an Gadamers Beschäftigung mit dem Begriff der Bildung als einem von insgesamt vier sog. humanistischen Leitbegriffen ersichtlich, durch deren Diskussion sich zu Beginn von Wahrheit und Methode der Rahmen aller weiteren Ausführungen absteckt. Bildung ist danach nicht nur ein Leitgedanke des historischen Humanismus, sondern auch und vor allem der philosophischen Hermeneutik. Der Begriff mache nämlich nicht weniger als die grundsätzliche, kreisläufige Bewegtheit des menschlichen Daseins namhaft, welcher sich unsere Vorurteile als die notwendigen Bedingungen Komponente der letzteren sein. Siehe dazu Iser, Mattias/Strecker, David: Jürgen Habermas zur Einführung, Hamburg 2010, S. 91. 311 Eine »institutionalistisch oder sozialisationstheoretisch verengte Fassung« (TkH II 211) der Lebenswelt, die sich stattdessen auf die Strukturkomponente der »Gesellschaft« beschränkt, sieht Habermas bei Durkheim bzw. in der auf George Herbert Mead zurückgehenden Tradition am Werk. Diese Verengung sei gleichfalls aufzugeben.

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möglichen Verstehens ebenso sehr verdanken, wie sie sich dadurch weiterentwickeln. Bildung ist Gadamer nicht allein schulische, universitäre oder berufliche Ausbildung; schon gar nicht stellt er mit dem Begriff einen bestimmten Bildungskanon auf. Weitaus mehr meint er damit, und zwar die gesamte geistige Formung eines Menschen, die das Leben selbst unausbleiblich mit sich bringt: Bildung im Sinne von Lebensbildung. Und dazu soll wesentlich Soziales mit hinzugehören. Gadamer hebt mit einer knappen Skizze der Wortgeschichte an. Viele Stationen werden lediglich gestreift. Worauf es ihm aber ankommt, ist, dass die im 18. Jahrhundert zu beherrschender Geltung aufgestiegene Wortbedeutung nicht die »äußere Erscheinung«, eine »von der Natur erzeugte Gestalt« 312 meint, sondern etwas demgegenüber Geistiges. Dabei gehe es jedoch nicht um eine »Ausbildung von Vermögen oder Talenten«. Der Ausdruck vermag die Doppelseitigkeit von Vorbild und Abbild aufzurufen, worin die alte christliche Lehre der Gottebenbildlichkeit des Menschen nachklinge. Und er kann sowohl auf den Vorgang des Bildens als auch auf dessen Ergebnis referieren. Gadamer kontrastiert Bildung mit der vorgenannten Kultivierung von Anlagen, welche er nach dem Verhältnis von »Mittel« und »Zweck« 313 fasst. Dergleichen soll Bildung fremd bleiben; sie steuere keinem vorab festgelegten Ziel jenseits ihrer selbst zu, von dem her die Wahl der Schritte anleitbar und prüfbar ist, dem sie dient und darin sie in ihr Ende gelangt. Sie soll gewissermaßen Selbstzweck sein. Vor allem bleibe ein Mittel, das seinen Status als Mittel verliert, sobald der Zweck erreicht ist, darüber hinaus in dem allumfassenden Geschehen menschlicher Bildung, zu dem der Ablauf einer jeden Kultivierung neben all unserem anderen Tun und Lassen hinzugehört, unverloren: »Vielmehr ist in der erworbenen Bildung nichts verschwunden, sondern alles aufbewahrt.« 314 Auf den Spuren Hegels kommt Gadamer sodann auf denjenigen Punkt zu sprechen, der ihm den Kern des Bildungsbegriffs ausmacht. Der Mensch sei durch einen »Bruch mit dem Unmittelbaren und Natürlichen« gekennzeichnet. Er sei nicht von Natur aus, was er sein Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960), a. a. O., S. 16. 313 Ebd., S. 17. 314 Zur Begriffsgeschichte von Bildung siehe Lichtenstein, Ernst: Bildung, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1: A–C, Basel 1971, Sp. 921–937. 312

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kann, so dass er geistiger Formung sowohl fähig als auch bedürftig ist. Das »Sein des Geistes ist mit der Idee der Bildung wesenhaft verknüpft«. Ein menschliches Wesen sein heißt nicht ab und an, sondern stets in Bildung begriffen sein. In lockerer Anlehnung an Hegel erklärt Gadamer: »Im Fremden das Eigene zu erkennen, in ihm heimisch zu werden, ist die Grundbewegung des Geistes, dessen Sein nur Rückkehr zu sich selbst aus dem Anderssein ist.« 315 Ohne hier auf Hegels Geistbegriff und Gadamers Abrücken davon einzugehen, soll doch sich zu bilden darin bestehen, sich vertraut zu machen, womit und wie auch immer. Dem jeweils Fremden wird der Charakter eines Fremden genommen, ein Unbekanntes wird kennengelernt. Dass dem Einzelnen irgendetwas auf irgendeine Weise bekannt ist, bedeutet, dass er ein Verhältnis zu der betreffenden Sache hat und dass er derjenige, welcher er ist, im Verhältnis dazu sowie allem anderen ist, das er kennt; derlei Bezüge des Vertrautseins formen seine Identität. Und jedes Ergebnis, zu dem solch ein Vorgang des Sichheimischmachens in der Welt führt, das »gewordene Sein« 316 des Gebildeten, macht im Kreislauf seines Geistes die Grundlage all seiner weiteren geistigen Leistungen aus. 317 Hier ist es, dass nach Gadamer Soziales ins Spiel kommt. Jedes Individuum nämlich, das sich aus seinem Naturwesen ins Geistige erhebt, finde »in Sprache, Sitte, Einrichtungen« derjenigen Gesellschaft, in welcher es aufwächst und lebt, »eine vorgegebene Substanz, die es […] zur Seinigen« macht. Bildung bedeutet für Gadamer nicht ausschließlich, aber doch vornehmlich zu einem allgemeinen Wesen werden, indem man soziale Praxisformen im weitesten Sinne erwirbt und verinnerlicht. Das Verhältnis von Vorbild und Abbild, welches im Bildungsbegriff liegt, legt Gadamer insbesondere nach dieser Seite aus. Womöglich zeichnet er dabei ein im Ganzen zu harmonisch wirkendes Bild. Trotzdem ist ja etwa die Sprache, welche einer gelernt hat, eine, in die er sich – trotz aller Eigenheiten, die sein Sprechen aufweist – mit Anderen teilt. Das heißt nicht, dass jeder dasselbe sagt Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960), a. a. O., S. 19 f. 316 Ebd., S. 22. 317 »Damit ist klar, daß nicht die Entfremdung als solche, sondern die Heimkehr zu sich, die freilich Entfremdung voraussetzt, das Wesen der Bildung ausmacht. Bildung ist dabei nicht nur als der Vorgang zu verstehen, der die geschichtliche Erhebung des Geistes ins Allgemeine vollzieht, sondern sie ist zugleich auch das Element, innerhalb dessen sich der Gebildete bewegt.« (Ebd., S. 20) 315

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oder dass es keinerlei Reibung zwischen den Sprechern gibt; aber es erlaubt doch erst, über etwas zu sprechen und sich zu verständigen. Diese Idee, wonach Bildung immer auch eine gesellschaftliche ist, ein Austausch mit Anderen und der Aufbau einer gemeinsamen Welt, leitet ebenso Gadamers Auseinandersetzung mit den drei übrigen humanistischen Leitbegriffen (sensus communis, Urteilskraft, Geschmack). Denn was er bemängelt, ist die Entleerung all jener Begriffe u. a. um ihre inhaltlich bestimmte Dimension von Sozialität. Der Katalysator der Entleerung soll die Kant’sche Ästhetik gewesen sein. Seitdem würden durch sie nur noch rein formale Vermögen eines Subjekts gedacht. 318 Die Behandlung der ausgewählten Begriffe ist Gadamer der erste Schritt auf dem Weg einer Argumentation, die an späterer Stelle eine Verbindung herstellt zwischen Vorurteil und Sozialem. Soll doch Verstehen immer auch das »Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen« sein, »in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln« 319. Bildung spanne einen Lebenshorizont auf, in den die Teilhabe an einer sozialen Welt einfließt; und solche »Zugehörigkeit, d. h. das Moment der Tradition«, erfülle sich »durch die Gemeinsamkeit grundlegender und tragender Vorurteile« 320. Vorurteile entstehen im Zuge unserer Geistesbildung, sie bewähren und verändern sich, brauchen aber als die »Bedingungen des Verstehens« selber nicht bewusst zu sein. Und die »Vorurteilshaftigkeit alles Verstehens« ist stets auch eine gesellschaftlich bestimmte und in der Folge ebenso das Verständnis einer Schrift oder Rede, zu dem es einer bringt (ähnlich wie Schleiermacher ins »Unbewußte« eines Schreibers oder Redners dessen Bekanntschaft mit Sprache verlegt, welche der Interpret »bewußt« zu machen hat). Das lebensgeschichtlich gebildete und in der weiteren Lebensgeschichte sich immerzu fortbildende Sein des Menschen, welches dessen Bewusstsein sowohl überragt als auch ermöglicht, indem es sich Gadamers Neukonzeptualisierung der applicatio zufolge unmittelbar, ohne jede darauf berechnete Intention in das

Siehe dazu Kerkhecker, Arnd: Bedeutung der humanistischen Tradition für die Geisteswissenschaften (GW 1, 9–47), in: Figal, Günter (Hg.): Hans-Georg Gadamer. Wahrheit und Methode, Berlin 2007, S. 9–27. 319 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960), a. a. O., S. 295. 320 Vgl. ebd., S. 300. Das Moment des Sozialen in Gadamers Vorurteilsbegriff betont auch Tietz, Udo: Hans-Georg Gadamer zur Einführung, Hamburg 32005, S. 34. 318

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Verständnis eines bedeutungstragenden Phänomens hineinlegt, ist von menschlicher Gesellschaft vollgesogen. Insofern ist es die »Aufgabe der Vermittlung von Damals und Heute, […] die wir mit Applikation meinen« 321. Doch wie genau das zu denken ist, lässt sich Wahrheit und Methode sowie sonstigen Gadamer’schen Texten nicht entnehmen. Die Verbindung, welche er (ähnlich wie Schleiermacher) zu Recht zwischen dem Begriff des Vorurteils (bzw. des »Unbewußte[n]«) einerseits und dem Begriff von Sozialem andererseits zieht, bleibt im Hinblick auf die Interessen der Ontologie des Sozialen zu undeutlich. Hier ist genauer zu untersuchen, wie Soziales mit Vorurteilen verbunden ist oder sein kann und worin es dann jeweils besteht. Dasselbe gilt auch für Brandom. Wohl geht der geradeso wenig einer sozialontologischen Frage nach, allerdings erkennt er in seiner pragmatistischen Philosophie der Sprache und Intentionalität durchaus an, dass der begriffliche Gehalt, welcher zur Anwendung kommt, wo man etwas sagt oder denkt, eine soziale Seite besitzt. Und zwar bringt Brandom den Gehalt derjenigen Begriffe, die wir im Äußern von Ausdrücken oder im Vollziehen von Bewusstseinsakten anwenden, mit einer ganz bestimmten Form von gesellschaftlicher Praxis in Verbindung. Begriffe sollen nämlich, wie er unter Berufung auf Sellars formuliert, auf dasjenige Spiel zwischen Ego und Alter verweisen, in dem diese für ihr eigenes Tun Gründe geben und für das eines Anderen verlangen (game of giving and asking for reasons). Dieses Spiel macht nach Brandom nicht nur wesensgemäß eine soziale Praxis aus: »The game of giving and asking for reasons is an essentially social practice.« 322 Sondern die inferenzielle Gliederung unserer Begriffe selbst sei stets eine gesellschaftliche. Brandom vertritt die These, dass »conceptual content is not only inferentially articulated but also socially articulated«. 323 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960), a. a. O., S. 339 322 Brandom, Robert B.: Articulating Reasons. An Introduction to Inferentialism, a. a. O., S. 163. 323 Brandom schreibt Sellars zwar sowohl die Idee als auch die Rede von einem Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen zu. Vgl. Brandom, Robert B.: Study Guide, in: Sellars, Wilfrid: Empiricism and the Philosophy of Mind, Cambridge, Mass. 1997, S. 123. Soweit ich jedoch sehen kann, findet man die Wendung bei Sellars nicht wortwörtlich, wenngleich sich der Gedanke eines solchen Spiels der Sache nach auf ihn zu berufen vermag. 321

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Wer etwas sagt oder denkt, legt sich nach Brandom unbewusst auf mehr noch fest. Er legt sich auch auf solches fest, was sein propositionaler Gebrauch eines Begriffs voraussetzt, sowie auf solches, was daraus folgt. Durch die jeweilige Rolle, welche ein Begriff in den unausdrücklichen Begründungszusammenhängen mit anderen Propositionen spielt, bestimmt sich sein Gehalt. Eine derartige Festlegung geschehe aber keineswegs arbiträr. Vielmehr sollen wir für den begrifflichen Gehalt der sprachlichen Ausdrücke, welche wir äußern, und der intentionalen Bewusstseinsakte, welche wir vollziehen, verantwortlich sein. Brandom zufolge untersteht unser Begriffsgebrauch Normen, die ihn richtig oder falsch sein lassen. Im Anschluss u. a. an Wittgenstein meint er, dass inferenzielle Zusammenhänge mit Voraussetzungen und Folgen allemal regelhaft sind: Wir ständen in der Verantwortung, Begriffe im Sprechen und Denken mit denjenigen Inferenzen anzuwenden, wie es gesellschaftliche Praxis ist. Brandom nennt das normative Pragmatik, dass man bei der Anwendung von Begriffen denjenigen Regeln folgen soll, die in der einschlägigen Gesellschaft in Kraft sind. 324 Auf die Frage, was Begriffe mit dem Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen zu tun haben, findet sich bei Brandom allerdings eine schillernde Antwort. Sie schillert zwischen einer schwachen und einer starken Fassung. Die erste, schwache Antwort besagt, dass man die unthematischen Inferenzen, die eine Äußerung sprachlicher Ausdrücke oder ein Vollzug intentionaler Akte des Bewusstseins um sich versammelt, thematisch machen kann. Wodurch dasjenige, was Ego tut, begründet wird und was es seinerseits begründet, vermag dieser zu sagen, falls Alter das verlangt. Was er dann leistet, ist »making implicit commitments explicit in the form of claims« 325. Ego führt die inferenziellen Zusammenhänge, auf die er sich beim Gebrauch von Begriffen stillschweigend festlegt, in Gestalt bewusster Behauptungen in den Diskurs ein. Indem er Alter gegenüber behauptet, dass etwas eine Voraussetzung und etwas eine Folge seines Sprechens oder Denkens ist, gibt er Gründe. »Expressing them in this sense is bringing them into the game of giving and asking for reasons as playing the special sort of role in virtue of which something has a

Siehe dazu Brandom, Robert B.: Making It Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment, a. a. O., Kap. 1. 325 Ebd., S. 106. 324

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conceptual content at all – namely an inferential role, as premise and conclusion of inferences«. Das entspricht ganz der Idee von Brandoms logischem Expressivismus. Werden die Begründungszusammenhänge, auf die wir uns im Sprechen oder Denken festlegen, ausdrücklich gemacht, soll logisches Vokabular zum Tragen kommen. Brandom hebt insbesondere das Konditional hervor, welches eine Wenn-Dann-Beziehung ausdrückt; es lässt uns die inferenzielle Rolle der Begriffe, deren Anwendung in der Äußerung sprachlicher Ausdrücke und dem Vollzug intentionaler Akte des Bewusstseins wir beherrschen, in der Relation von Prämissen und Konklusionen formulieren. Allgemein erlaube solches Vokabular »the formulation, as explicit claims, of the inferential commitments that otherwise remain implicit and unexamined in the contents of material concepts. Logical locutions make it possible to display the relevant grounds and consequences and to assert their inferential relation.« 326

Entscheidend ist dabei, dass Brandom der Logik eine expressive Funktion zuerkennt. Mit ihrer Hilfe sagen wir das, was wir sonst lediglich tun. Auf diese Weise können wir unseren Begriffsgebrauch nachträglich und als Grundlager weiterer Anwendungen unter eine rationale Kontrolle bringen. Indem die inferenziellen Begründungszusammenhänge, die den unthematisierten Hintergrund unserer Sprache und Intentionalität bilden, in den Vordergrund gebracht und verlautbart werden, vermag man sie nunmehr, was zuvor nicht machbar war, mit Einwänden zu konfrontieren und mit Gründen zu verteidigen und so eine Klärung der bereits vorhandenen begrifflichen Gehalte zu betreiben. Mithin weist Brandom der Logik ihre Funktion dort an, wo unser implizites Wissen überführt wird in ein explizites Wissen. 327 Die zweite, starke Fassung besagt demgegenüber, dass das Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen keineswegs bloß der Ort ist, wo unser Wissen-wie in ein Wissen-dass überführt wird. Es scheint

Brandom, Robert B.: Articulating Reasons. An Introduction to Inferentialism, a. a. O., S. 71. 327 Wie Brandom erklärt: »this rationalist expressivist pragmatism forges a link between logic and self-consciousness, in the sense of making explicit the implicit background against which alone anything can be made explicit« (ebd., S. 35). Siehe dazu Knell, Sebastian: Propositionaler Gehalt und diskursive Kontoführung. Eine Untersuchung zur Begründung der Sprachabhängigkeit intentionaler Zustände bei Brandom, Berlin/New York 2004, S. 172 ff. 326

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darüber hinaus sogar derjenige Ort zu sein, an dem Begriffe allererst entstehen sollen. Unsere diskursive Praxis ist Brandom zufolge privilegiert (privileged) vor allen anderen; sie bilde, wie er sich ausdrückt, das Zentrum (center) bzw. den Kern (core) unserer begrifflichen Aktivitäten, denn im Gegensatz zu allen anderen komme ihr eine definierende Rolle (defining role) mit Blick auf die begrifflichen Gehalte von Sprache und Intentionalität zu. Begriffe sind demnach nicht nur auf das mögliche Spiel der Argumentation angelegt. Es hat vielmehr den Anschein, dass sie diesem Spiel ihre Entstehung verdanken. Der Gehalt unserer Begriffe soll sich durch den Gebrauch bestimmen, welchen wir davon im Diskurs tatsächlich machen: »Inferential practices of producing and consuming reasons are downtown in the region of linguistic practice. Suburban linguistic practices utilize and depend on the conceptual contents forged in the game of giving and asking for reasons, are parasitic on it.« 328 Im Argumentationsspiel wird also nicht bloß etwas, das schon implizit da ist, explizit gemacht. Sondern es wird allererst ins Dasein gebracht oder, wie Brandom sagt, geschmiedet (»forged«). Jede sonstige, nichtdiskursive Praxis des Gebrauchs von Begriffen bleibt davon abhängig (»depend«) und ist parasitär (»parasitic«), weil sie Begriffe, die anderswo gemacht werden, verwendet (»utilize«). 329 Wie dieses Problem letztlich zu entscheiden sein mag, kann ich hier auf sich beruhen lassen. Worauf es ankommt, ist etwas anderes. Dass das Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen eine soziale Praxis ausmacht, wird man Brandom leicht zugeben, sofern neben Ego auch Alter daran beteiligt ist. Ob die Tätigkeit der Begründung ihrem Wesen nach eine gesellschaftliche ist oder nicht ebenso gut ohne einen Anderen ausgeführt werden kann, bleibt eine Nachfrage, Brandom, Robert B.: Articulating Reasons. An Introduction to Inferentialism, a. a. O., S. 14. 329 Siehe auch ebd., S. 11, 17, 22 f., 161 f., 189 f. Habermas vertritt eine ähnliche These, dass nämlich die Bedeutung von Sprache mit dem Argumentationsspiel zu tun hat. Anders aber als Brandom knüpft er sie nicht an den tatsächlich stattfindenden Diskurs, sondern unter der Bezeichnung der ›performativen Einstellung‹ an die bloße Bereitschaft dazu. Sprachliche Bedeutung entstehe im kommunikativen Sprachgebrauch, wobei kein Dissens über Geltungsansprüche auftreten muss; der strategische Gebrauch von Sprache soll demgegenüber parasitär sein. Vgl. Habermas, Jürgen: Von Kant zu Hegel. Robert Brandoms Sprachpragmatik, in: Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 1999, S. 170 ff.; Brandom, Robert B.: Facts, Norms and normative Facts: A Reply to Habermas, in: European Journal of Philosophy 8/3 (2000), S. 362 ff. 328

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die ich ebenfalls unbeantwortet lassen darf. 330 Dass aber die inferenzielle Gliederung unserer Begriffe selbst eine gesellschaftliche ist, diese These belässt Brandom zu sehr im Undeutlichen, als dass es den Anforderungen der Sozialontologie genügen könnte. Die starke Auffassung von der Verbindung zwischen Begriff und Diskurs erlaubt zu argumentieren, dass die soziale Gliederung eines Begriffs von dessen Entstehung herrührt; wenn Begriffe im Diskurs zwischen Ego und Alter entstehen, vererbt sich die Sozialität dieses Geschehens an sie fort. Die schwache Auffassung hingegen erlaubt ein solches Argument nicht. Setzt sie doch voraus, dass wir die nichtdiskursive Praxis der Anwendung von Begriffen unabhängig davon bereits beherrschen, dass sie im argumentativen Spiel thematisiert wird. Das letztere ist hier also umgekehrt parasitär gegenüber der ersteren. Brandom beansprucht zwar zu zeigen, dass sich die repräsentationale Dimension, die unseren begrifflichen Aktivitäten innewohnt, deshalb von deren inferenzieller Dimension ableiten lässt, weil unsere Begriffe gesellschaftlich gegliedert sind. Referenz soll im Rückgriff auf Inferenz erklärt werden können, da die Frage, worauf sich Egos Sprechen oder Denken bezieht, überhaupt nur im Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen mit Alter aufkomme: »The thesis is that the representational dimension of propositional content is conferred on thought and talk by the social dimension of the practice of giving and asking for reasons.« 331 Doch wie auch immer Brandom diese Ableitung im Einzelnen durchführt, sie setzt die soziale Dimension unserer Begriffe schon voraus und nimmt sie in Anspruch. Eine Erklärung ihrer gesellschaftlichen Gliederung darf man hier darum von vornherein nicht erwarten. Inwiefern genau Soziales mit unserem impliziten Wissen verknüpft ist, was daran also etwas Soziales ist oder sein kann, führen weder Making It Explicit noch Articulating Reasons aus. Wieder andere der angeführten Denker geben nicht nur eine dem Bewusstsein vorgelagerte Ausdehnung menschlicher Existenz zu. Sie haben zusätzlich noch sozialontologische Bestrebungen, bringen beides allerdings nicht zusammen. So kennt Searle seit seiner Nach Brandom bleibt das monologische Begründen abhängig vom dialogischen Begründen. Vgl. Brandom, Robert B.: Making It Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment, a. a. O., S. 474, 497. Siehe dazu Gibbard, Allan: Thought, Norms, and Discursive Practice: Commentary on Robert Brandom, Making It Explicit, in: Philosophy and Phenomenological Research 56/3 (1996), S. 702 ff. 331 Ebd., S. 496. 330

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Theorie der Intentionalität in den frühen 1980er Jahren und dann auch in seinen darauf fußenden Überlegungen zur Sozialontologie seit den 1990er Jahren zum einen solche intentionalen Zustände des Menschen, die unbewusst sein sollen: »many Intentional states are not conscious, e. g., I have many beliefs that I am not thinking about at present and I may never have thought of.« 332 Und er stellt zum anderen etwas in Rechnung, was er den »Background of Intentionality« 333 nennt und der sowohl unbewusst als auch intentionslos sei. Die aus der phänomenologischen Tradition herstammende Idee eines sog. Hintergrundes führt Searle erstmals in seiner Beschäftigung mit dem semantischen Problem wörtlicher Bedeutung ein, 334 macht sie dann zum Eckstein seiner Semantik von Sprache überhaupt, 335 und schließlich erhebt er sie zur Voraussetzung sämtlicher intentionalen Zustände unseres Bewusstseins. In Mind, Language and Society etwa gibt er sie in dieser ihrer letztgenannten Version folgendermaßen wieder: »It is this set of capacities, abilities, tendencies, habits, dispositions, takenfor-granted presuppositions, and ›know-how‹ generally that I have been calling the ›Background‹, and the general thesis of the Background […] is that all of our intentional states, all of our particular beliefs, hopes, fears, and so on, only function in the way they do […] against a Background of know-how that enables me to cope with the world.« 336

Searle, John R.: Intentionality. An Essay in the Philosophy of Mind, a. a. O., S. 2. Vgl. Searle, John R.: The Rediscovery of the Mind, a. a. O., S. 131; The Construction of Social Reality, a. a. O., S. 6 f.; Mind, Language and Society. Philosophy in the Real World, a. a. O., S. 76; Mind. A Brief Introduction, a. a. O., Kap. 9. 333 Searle, John R.: Mind, Language and Society. Philosophy in the Real World, a. a. O., S. 107. 334 Vgl. Searle, John R.: Literal Meaning, in: Erkenntnis 13/1 (1978), S. 207–224. 335 Vgl. Searle, John R.: The Background of Meaning, in: Ders./Kiefer, Ferenc/Bierwisch, Manfred (Hg.): Speech Act Theory and Pragmatics, Dordrecht 1980, S. 221– 232. 336 Searle, John R.: Mind, Language and Society. Philosophy in the Real World, a. a. O., S. 107 f. In der Phänomenologie Husserls haben Erlebnisse stets einen »Hintergrund«. (Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Buch I: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie (1913), a. a. O., S. 71). Husserl spricht auch vom »Erlebnishorizont« (S. 185). Jedoch soll es sich dabei um einen »dunkel bewußten Horizont« (S. 57), um »inaktuelle[s] Bewußtsein« (S. 74) handeln, das noch dazu die Verfassung der Intentionalität aufweist: »Ihrem eigenen Wesen nach sind diese Inaktualitäten gleichwohl schon ›Bewußtsein von etwas‹.« (S. 189) 332

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Alle bewusstseinsförmigen Intentionen, seien diese nun individuelle Ich-Intentionen oder kollektive Wir-Intentionen, stehen laut Searle unter einer Bedingung, ohne die sie nicht auskommen. Sie hängen von »capacities, abilities, tendencies, habits, dispositions, taken-forgranted presuppositions« oder ganz generell von einem »know-how« ab, das insofern im Hintergrund steht, als es selber nicht bewusst ist oder zu sein braucht und nicht intentional gebaut ist. Wie Searle wiederkehrend erklärt, z. B. in The Construction of Social Reality: »Intentional states function only given a set of Background capacities that do not themselves consist in intentional phenomena.« 337 Manche Interpreten haben vorgeschlagen, das im Sinne eines Regressvermeidungsarguments zu lesen. Danach will Searle sagen, dass Intentionen, um einen ins Unendliche auslaufenden Regress zu vermeiden, auf etwas beruhen müssen, das selbst nicht intentional ist. 338 Allerdings fasst Searle dasjenige, was da den sowohl unbewussten als auch intentionslosen Hintergrund der intentionalen Akte unseres Gemüts bilden soll (seien diese im Übrigen volitiver, kognitiver, affektiver oder welcher Art auch immer), nicht einmal in Ansätzen als etwas Soziales. Konstruiert er doch den Begriff des Sozialen, wie in Kapitel II.1 gesehen, rein intentionalistisch, indem nach seinem Dafürhalten all dasjenige sozial sei, was entweder selber eine bestimmte Art von Intention, und zwar eine kollektive, ist oder aber von einer solchen abhängt wie etwa das Miteinander-, Füreinander- und Gegeneinanderhandeln der Menschen. Der nichtintentionalen Vorbedingung kollektiver wie auch jeder anderen Art von Intentionalität, also jenen »capacities, abilities, tendencies, habits, dispositions, taken-forgranted presuppositions« oder, wie sich Searle in landläufiger Manier

Searle, John R.: The Construction of Social Reality, a. a. O., S. 129. Siehe auch Searle, John R.: Intentionality. An Essay in the Philosophy of Mind, a. a. O., S. 143; The Rediscovery of the Mind, a. a. O., S. 175; Mind, Language and Society. Philosophy in the Real World, a. a. O., S. 109; Mind. A Brief Introduction, a. a. O., S. 173; Making the Social World. The Structure of Human Civilization, a. a. O., S. 31 f.; Seeing Things as They Are. A Theory of Perception, a. a. O., S. 44. Auch in seinem Aufsatz Collective Intentions and Actions, a. a. O. bemüht Searle einen »preintentional sense of ›the other‹ as an actual or potential agent like oneself in cooperative activities« (S. 413). 338 Vgl. Stroud, Barry: The Background of Thought, in: Lepore, Ernest/van Gulick, Robert (Hg.): John Searle and His Critics, Oxford/Cambridge, Mass. 1991, S. 245– 258. 337

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ausdrückt, jenem »know-how«, erkennt er schlechthin keine gesellschaftliche Qualität zu. 339 Das Gleiche gilt genauso für solche Zustände des Menschen, die zwar unbewusst, aber doch intentional sein sollen. Man muss nämlich zur Kenntnis nehmen, dass Searle, indem er derartige Zustände grundsätzlich an die Bedingung knüpft, dass sie wenigstens prinzipiell bewusst gemacht werden können müssen, seine Erörterung des Sozialen auf intentionale Zustände einschränkt, die bewusste sind. So etwa in The Construction of Social Reality: »I will confine my discussion to conscious forms of intentionality« 340. In Bezug auf kollektive Intentionalität spricht Searle sogar niemals von einer unbewussten. Und umgekehrt ist in Bezug auf das Thema des »Unconscious« 341, etwa in Mind. A Brief Introduction aus dem Jahre 2004, wo es am eingehendsten behandelt wird, kein einziges Mal von kollektiver Intentionalität die Rede. Stets expliziert Searle das Soziale in der Begrifflichkeit der Intentionalität des Bewusstseins, und er wählt seine Beispiele entsprechend, nämlich bewusst und intentional durchgeführte Aktivitäten wie etwa gemeinsam zu kochen, 342 als Geigerin in einem Orchester oder als Stürmer in einem Footballspiel mitzuspielen. 343 Mithin gibt Searle auch zur gesellschaftlichen Qualität unbewusster Intentionen keinerlei Auskunft. Wenn seine Schriften daher auch ein begriffliches Rüstzeug enthalten mögen, welches demjenigen vergleichbar ist, das ich mithilfe anderer Theoretiker erarbeitet habe, hat man doch bestenfalls zu konstatieren, dass dieses ungenutzt bleibt und Searle eine Leerstelle hinterlässt. Bleiben noch einige kritische Stimmen, die zwar das Ungenügen des sozialontologischen Individualismus und Kollektivismus monieren, um den Träger des menschlichen Bewusstseins zu denken, aber trotzdem unbeirrt dem sozialontologischen Intentionalismus verhaftet bleiben. So erkennt Annette Baier beim Gros der zeitgenössischen Handlungstheoretiker einen die neuzeitliche Philosophie insgesamt Das kritisiert auch Luutz, Wolfgang: Kollektive Intentionalität. John R. Searle: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 46/4 (1998), S. 710 f. 340 Searle, John R.: The Construction of Social Reality, a. a. O., S. 133. 341 Searle, John R.: Mind. A Brief Introduction, a. a. O., Kap. 9. 342 Vgl. Searle, John R.: Collective Intentions and Actions, a. a. O., S. 410 f. 343 Vgl. Searle, John R.: The Construction of Social Reality, a. a. O., S. 23 ff. Vgl. Sugden, Robert: Team Preferences, in: Economics and Philosophy 16/2 (2000), S. 175– 204. 339

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kennzeichnenden »individualist bias« 344: »Has Descartes so brainwashed us«, fragt sie, »that we cannot conceive of not taking the first person singular to be the place to start?« 345 Doch wirft Baier die Bemerkung mehr nur hin, all unser Handeln habe einen »social background«, »that determines what counts as succeeding in the act in question« 346. Denn obwohl sie jenen gesellschaftlichen Hintergrund, der Standards für gelungenes Handeln festlege, anhand einiger Beispiele demonstriert, entfaltet sie dessen begriffliches Potenzial nicht. Sie bringt keine alternativen Grundbegriffe bei, die abzubilden imstande sind, was es heißen könnte, dass »[s]ocially acquired standards run through virtually everything we do«. Und Schmid, der mit seiner Studie Intentionalität. Kritik des ontologischen Individualismus und Rekonstruktion der Gemeinschaft von 2005 ohne Zweifel den nachdenklichsten Entwurf vorgelegt hat, um aus dem Bannkreis individualistischer Verzerrungen auszubrechen, ohne in kollektivistische Übersteigerungen abzuirren, gibt zwar vor, gegen so etwas wie das intentionalistische Paradigma zu argumentieren. Zuletzt hält er aber doch daran fest. Denn er grenzt vom reflexiven und thematischen ein diesem vorausliegendes »vorreflexiv-unthematisches Wir-Bewußtsein« 347 ab. Statt auf das erstere zu gehen, soll sich die Ontologie des Sozialen auf das letztere zu besinnen haben. Doch meint Schmid damit nichts anderes als »das gemeinsame Beabsichtigen, Denken oder Fühlen« von Menschen, welches die Voraussetzung bildet für deren Rückwendung und Aufmerken auf ebendiese Gemeinsamkeit. Wie auch immer diese bewusstseinsinterne Abgrenzung im Detail zu verstehen sein mag, es bleibt bei einem »intentionalistischen Ansatz«, wie Schmid selber sich ausdrückt. Danach gilt: »Das Miteinandersein […] ist ein intentionales Phänomen, wobei hier das Phänomen der Intentionalität in Baier, Annette C.: Doing Things with Others: the Mental Commons, in: Alanen, Lilli/Heinämaa, Sara/Wallgren, Thomas (Hg.): Commonality and Particularity in Ethics, Basingstoke 1997, S. 17. 345 Ebd., S. 18. 346 Ebd., S. 20. 347 Schmid, Hans B.: Intentionalität. Kritik des ontologischen Individualismus und Rekonstruktion der Gemeinschaft, a. a. O., S. 99. Schmid spricht auch vom »pluralen Selbstbewusstsein«, das ein »vorreflexives und nichtthetisches Wir-Bewusstsein« sein soll. (Schmid, Hans B.: Pluralsubjektivität. ›Fichtes ursprüngliche Einsicht‹ und die Ontologie der Gemeinschaft, in: Zimmermann, Stephan/Krijnen, Christian (Hg.): Sozialontologie in der Perspektive des deutschen Idealismus. Ansätze, Rezeptionen, Probleme, Berlin/Boston 2018, S. 86 f.) 344

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seiner ganzen Breite in Betracht genommen werden muß: Absichten ebenso wie Meinungen und Empfindungen.« 348 Oder wie Schmid bereits zwei Jahre zuvor in seinem Searle-kritischen Aufsatz Can Brains in a Vat Think as a Team? feststellt: »collective intentionality is what society in the most basic meaning of the word is« 349. Mit dem Anliegen einer deutlichen Bestimmung der vollen Sozialität menschlicher Erfahrenheit kommt man bei all diesen Autoren folglich nicht weiter. Was haben wir bisher zu dem betreffenden Wissen erarbeitet, das diesem Anliegen zuarbeitet? Dieses Wissen ist nicht, so wurde gesagt, an Wahrheit und Rechtfertigung geknüpft, nicht daran, thematisiert zu werden. Stattdessen zeichnet es sich durch zwei Aspekte aus, einen temporalen, indem es von früheren Erfahrungen herkommt, und einen konditionalen Aspekt, da es spätere Erfahrungen grundiert. Nicht diejenige Erfahrung ist damit gemeint, welcher einer gerade macht, sondern die, welche er schon hat. Es ist solch ein Bekanntsein mit oder Kenntnishaben von etwas, in dem einem die jeweilige Sache auf unauffällige Weise gegenwärtig ist. Dieses bleibt für gewöhnlich unreflektiert, und kann das auch bleiben, weil es gar nicht darauf angewiesen ist, in möglicher Reflexion zu begegnen. 350 Und das eine bildet noch dazu die Versorgungsader des anderen. Die Rede vom Wissen-dass führt auf ein Können zurück, dieses zu erwerben und zu verteidigen, und damit auf ein Wissen-wie, das darin genauso unauffällig in Erscheinung tritt. Es besteht mithin ein innerer Zusammenhang, eine begriffliche Genealogie der expliziten Form von Wissen aus jener anderen. 351 Begriffe zu bilden oder zu erläutern, Urteile zu fällen oder sub specie veritatis abzuwägen, Schlussfolgerungen zu ziehen oder zurückzuverfolgen, Gründe zu Ebd., S. 58. Vgl. Schmid, Hans B.: Wir-Identität: reflexiv und vorreflexiv, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53/3 (2005), S. 371. 349 Schmid, Hans B.: Can Brains in a Vat Think as a Team?, in: Philosophical Explorations 6/3 (2003), S. 215. 350 Abel konzipiert diesen Unterschied irreführend als den zwischen »a narrow and a broad sense of knowing and knowledge«. (Abel, Günter: Forms of Knowledge: Problems, Projects, Perspectives, in: Meusburger, Peter/Welker, Michael/Wunder, Edgar (Hg.): Clashes of Knowledge. Orthodoxies and Heterodoxies in Science and Religion, Dordrecht 2007, S. 12) Wissen im letzteren Sinne umfasst jedoch gar nicht das Wissen im ersteren Sinne zuzüglich etwas Weiterem. Sondern es ist eine andere Art, etwas zu kennen, damit bekannt zu sein. 351 So Abel, Günter: Knowing-How: Indispensable but Inscrutable, in: Tolksdorf, Stefan (Hg.): Conceptions of Knowledge, Berlin/Boston 2012, S. 252. 348

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geben oder anzuzweifeln usw., ist wie vieles andere auch eine Fähigkeit, die sich nicht dadurch vertreten lässt, dass man eine noch so klare Vorstellung davon besitzt. Günter Abel geht daher so weit zu postulieren, dass ohne Berücksichtigung der impliziten Wissensform gar keine stichhaltige Philosophie, sei es der Sprache oder des Geistes, des Erkennens oder Handelns, zu haben ist. 352 Ich füge dem hinzu, dass sich, ohne jene implizite Form des Wissens zu berücksichtigen, gleichfalls kein zufriedenstellendes ontologisches Verständnis des Sozialen zuwege bringen lässt. Die Sozialontologie darf den Hintergrund von Bewusstsein und Intentionalität nicht aus den Augen setzen. Hier gerade ist es, wo ein im Vergleich zu den intentionalen Zuständen des Bewusstseins tieferer Sitz von Sozialem in der Identität des Menschen auszuheben sein könnte. Hat doch unsere Beschäftigung mit diversen Autoren mittlerweile die Hypothese erhärtet, wonach die vorbewusste Erstreckung des menschlichen Geistes von sozialontologischer Relevanz ist. Wir sind jetzt imstande, dasjenige zum Begriff zu bringen, was wir da wieder und wieder angetroffen haben. Und damit schickt sich die Ontologie des Sozialen an, so ist Abels Postulat folgerichtig weiterzutreiben, zu diversen philosophischen Disziplinen etwas beizutragen. Sofern nämlich die Aufgabenstellungen der letzteren einen Rekurs auf das von ihr zu bearbeitende Sachfeld verlangen – sofern Sprache und Geist, Erkennen, Handeln, oder was auch sonst zur Aufgabe gestellt sein mag, nicht nur unausdrückliches Wissen einbegreift, sondern dieses Wissen ein soziales Siegel aufweist –, liefert die erstere einen gewissen Beitrag zu deren Bewältigung. Was die philosophische Besinnung auf das Soziale qua talis aufdeckt, betrifft dann die Philosophie von Sprache und Geist, Erkennen und Handeln mit. Diese und andere Erscheinungen weisen in der Folge stets auch das Siegel des Sozialen auf. Der springende Punkt ist der folgende. Wie wir uns klargemacht haben, hat man gewöhnlich kein Bewusstsein u. a. von denjenigen Sitten und Gepflogenheiten, welche einem vorgeben, wie ein Wort schriftlich oder mündlich zu verwenden und eine Miene, Geste oder Pose in der Interaktion unter Anwesenden einzusetzen ist, um für andere Menschen verständlich zu sein; jedenfalls können sie unthematisch bleiben. Man muss auch nicht intendieren, sie situativ anzuwenden; man braucht nicht die jeweilige Situation, in der man sich 352

Vgl. Abel, Günter: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 2004, S. 321.

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befindet, darunter zu subsumieren und Schlüsse daraus zu ziehen auf das, was hier und jetzt zu tun oder zu lassen ist. Weder fällt einem die betreffende Üblichkeit selbst, wo man sie korrekt umsetzt und fortführt, ins Auge, noch geht ihre Anwendung auf den dort jeweils vorliegenden Fall bewusst vonstatten. Hinterrücks vielmehr ist es, dass eine Regel unsere Intentionalität befängt, welche nur einer großartigen Selbsttäuschung aus dem Blauen zu kommen scheint. Unterschwellig bindet sie unsere hervorbringende oder aufnehmende Hinkehr zu bedeutungstragenden Phänomenen und misst der Hervorbringung oder Aufnahme solcher Phänomene, zu denen man sich da hinkehrt, Standards oder Kriterien zu, denen sie zu genügen bzw. die sie zu erfüllen hat. Wenn dem aber so ist, kann man den Finger zunächst einmal darauflegen und argumentieren, dass immerhin dasjenige, worin man erfahren ist – dasjenige also, was man da im Grunde kennt –, etwas Soziales ausmachen kann. Das solcherart Gegenwärtige, das apriorisch Gewusste, ist es, das eine soziale Nuance zu besitzen vermag. Und das sind eben vorzugsweise (wenn auch nicht ausschließlich), darauf habe ich meine Argumentation gestellt, die selbstverständlichen Sitten oder Regeln, Standards oder Kriterien des zwischenmenschlichen Verkehrs. Handelt es sich dabei ja um etwas, das nicht den Einzelnen allein angeht im Gegensatz zu Anderen, sondern gerade um Gestalten einer Ordnung, in die er sich mit Anderen teilt. Die Art von Verhalten, das die Beteiligten pflegen, und der Einstellung, aus welcher es entspringt, stimmt in den einschlägigen Rücksichten überein und macht unbeschadet aller ansonsten bestehenden Differenzen zwischen den betreffenden Personen, wie sie nämlich im Besonderen sich verhalten und eingestellt sind, eine allgemeine aus. Ich will das unter dem Begriff vorgängiger Gemeinsamkeit fassen. Im ersten Anlauf meiner Begriffsbestimmung, denn um mehr handelt es sich an dieser Stelle ausdrücklich noch nicht, meint vorgängige Gemeinsamkeit danach: dass von einer Menge an Individuen etwas Gemeinsames vorgängig gewusst wird. Die fraglichen Individuen mögen dabei viele oder wenige sein, sie mögen sich auf eine angebbare oder ungeklärte Zahl belaufen, miteinander Bekannte oder füreinander Fremde sein, und sie mögen selber jeweils darüber im Bilde sein oder auch nicht, dass sie etwas Gemeinsames vorgängig wissen. Das begriffliche Merkmal der Vorgängigkeit stellt auf die Lebenserfahrung der Betreffenden ab und das der Gemeinsamkeit auf dasjenige, womit sie da Erfahrung haben. Das Gemeinsame, das von 338 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Die erste Begriffsbestimmung: vorgängig gewusste Gemeinsamkeit

ihnen vorgängig gewusst wird, können diejenigen Sitten oder Regeln, Standards oder Kriterien sein, welche beispielsweise ihr sinnvolles und darum verstehbares sprachliches sowie mimisches, gestisches oder posturales Handeln miteinander, füreinander und gegeneinander durchwalten. Die so verstandene vorgängige Gemeinsamkeit ist es, aus der sich nicht nur beim Reden und Schreiben, Hören und Lesen das Hervorbringen bzw. Aufnehmen bedeutungstragender Phänomene speist. Was sich jemand in der Vergangenheit an Formen des sozialen Lebens erworben und zu eigen gemacht hat, bildet, ob er dessen gewahr ist oder nicht, die Grundlage seiner Beziehung zu derlei Phänomenen in der Zukunft. Es versieht die Funktion einer Zugangsbedingung, indem es dem Betreffenden in seinem hervorbringenden oder aufnehmenden Verhalten zu einem bedeutungstragenden Phänomen die Bedeutung zugänglich sein lässt, welche dieses trägt. Soziale Lebensformen werden nicht erst durch verlautbartes Wissen zusammengehalten, sondern schon durch ein von stillem Wissen belebtes Können, das sich im Reden und Schreiben, Hören und Lesen etc. manifestiert. Akteure sind über nichtbewusste Selbstverständlichkeiten integriert, deren situative Applikation ebenso auf vorintentionale Weise geschieht. Unser Bewandertsein in gesellschaftlichen Dingen, wie auch immer es sich dank Erziehung und Einübung nach allerlei Seiten herausgebildet und zum flexiblen, aber stetigen Geflecht unseres geistigen Horizontes verwoben haben mag, fungiert als die normalerweise in der Latenz pulsierende Voraussetzung, um Anderen etwas verstehen geben oder selber etwas verstehen zu können. Solches Tun und Lassen ist ein Spross nicht nur unserer bewussten Intentionen, sondern auch der sozialen Vorstruktur unseres intentionalen Bewusstseins. Damit ist dasjenige Ziel erreicht, welches zu erreichen ich mir für den zweiten Teil dieser Arbeit vorgenommen habe. Und das ist, den sozialontologischen Individualismus und Kollektivismus gleichermaßen zu widerlegen. Gelungen ist das durch die Widerlegung des intentionalistischen Paradigmas, welches, so das Ergebnis des ersten Teils der Untersuchung, die tragende Säule des einen wie des anderen abgibt. Halten wir das fest. Dem paradigmatisch betriebenen Analyseansatz zufolge ist Soziales dort erst im Spiel, wo Individuen Intentionen einer gewissen Sorte, nämlich solche, die auf mindestens einen Anderen gerichtet sind, ausgebildet haben. Richtig ist allerdings, dass Individuen dann 339 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Die vorgängige Gemeinsamkeit des Bewusstseins

nur derlei Intentionen auszubilden und sich auf einen Anderen zu richten vermögen, wenn bereits Soziales am Werk ist. Menschen kommen nur zusammen, insofern sie sich verständlich machen und einander verstehen können. Dazu sind sie aber lediglich insoweit in der Lage, als sie schon an einer Sphäre des Wir teilhaben. Denn diese Sphäre stellt das für das Verstehen der Bedeutung u. a. geschriebener und gesprochener Sprache sowie nonverbaler Mienen, Gesten und Posen unabdingliche Vorverständnis bereit. Dabei braucht den Betreffenden dieses Wir allerdings nicht vor Augen zu stehen. Die von mir sog. vorgängige Gemeinsamkeit – dass also etwas Gemeinsames, die generellen Sitten gesellschaftlicher Praxis (Kant, Rousseau, Hegel) oder die speziellen Regeln unserer in Lebensformen eingebetteten Sprachspiele, die mündlichen (Wittgenstein) ebenso wie die schriftlichen (Schleiermacher), vorgängig gewusst und dadurch das Mit-, Für- und Gegeneinander der Menschen angebahnt und gelenkt wird – transzendiert eine intentionalistische Begriffsbildung. Sie hintergeht diese Begriffsbildung und ergänzt sie um die von ihr verkannte Präsupposition des Bewusstseins und seiner Intentionalität. Dass Menschen miteinander, füreinander und gegeneinander handeln, gründet wohl in entsprechenden Zuständen ihres Gemüts, in Interessen und Absichten, Überzeugungen und Einstellungen usf. Allerdings präsupponieren jene Zustände ihrerseits, dass der Einzelne für sein etwaiges Gegenüber bereits frei ist. Die Beteiligten müssen sich auf den Anderen einlassen, sich durch sein Agieren binden lassen und ihr Reagieren daran anmessen können. Und es ist eine demgegenüber andere Dimension ihres Daseins, welche die Freiheit ihres Sicheinlassenkönnens, der Bindbarkeit und Anmessbarkeit sowohl eröffnet als auch begrenzt. Die fragliche Dimension ist einerseits eine vorbewusste und nichtintentionale und andererseits, insofern sie eine notwendige Bedingung der Möglichkeit menschlicher Verständigung überhaupt abgibt, eine soziale. Jene Verständigung muss keine in dem engeren Sinne einer diskursiven oder anderweitigen Einigung über Strittiges, sondern sie kann eine im weiteren Sinne des Sichverständlichmachens und Einanderverstehens überhaupt sein. Sie mag sich ansonsten wechselseitig und unter Anwesenden oder einseitig und (mittels Verbreitungsmedien) unter Nichtanwesenden oder sonst wie vollziehen, der Intentionalismus ist nicht in der Lage, ihr gerecht zu werden. Er ist nicht imstande, sie angemessen zu erklären. 353 353

Auch Wittgenstein bemerkt in seinem Lehrer-Schüler-Beispiel: »Wir führen ihm

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Die erste Begriffsbestimmung: vorgängig gewusste Gemeinsamkeit

In der Konsequenz ist auch weder eine individualistische noch eine kollektivistische Deutung des intentionalen Subjekts dazu in der Lage. Nimmt sie dieses doch für ein von jeder menschlichen Gesellschaft unbelecktes Individuum und macht demgegenüber die Gesellschaft der Menschen ausschließlich am intentionalen Gehalt oder der intentionalen Form ihres Bewusstseins fest. Da Soziales jedoch nicht erst im Bewusstsein, sondern bereits früher zu verorten ist, ist eine weitere Option motiviert, dessen Träger zu deuten. Die menschliche Lebenserfahrung besitzt ein soziales Moment, sofern sie ein Bekannt- oder gar Vertrautsein mit den Konventionen gesellschaftlicher Praxis ist: Unser Ich schließt immer auch ein implizites Wissen um Soziales ein. Derlei Wissen bestimmt die Identität des Einzelnen nicht unwesentlich mit. Wie man mit Charles Taylor unterscheiden kann, sind andere Menschen nicht nur für unsere Selbstverwirklichung vonnöten (»to fulfil […] ourselves« 354), sie haben auch Anteil an unserer Selbstwerdung (»genesis of the human mind« 355). Und sie sind aus unserem einmal gewordenen Selbst nicht mehr wegzudenken: »So the contribution of significant others, even when it occurs at the beginning of our lives, continues throughout.« 356 Nicht erst, wenn jemand seine Interessen und Absichten, die er verfolgt, umsetzen oder seinen Überzeugungen und Einstellungen, die er hegt, nachkommen will, sind Andere beteiligt. Manches kann er ausschließlich mit Anderen zusammen tun, etwa einen Vertrag unterzeichnen, heiraten oder grüßen; manches erreicht er bloß durch sie, indem sie etwas für ihn erledigen; und manches vermag er bloß gegen sie zu erlangen. Doch genügt es nicht, die Bedeutsamkeit der etwa zuerst beim Nachschreiben der Reihe 0 bis 9 die Hand; dann aber wird die Möglichkeit der Verständigung daran hängen, daß er nun selbständig weiterschreibt. – Und hier können wir uns, z. B., denken, daß er nun zwar selbständig Ziffern kopiert, aber nicht nach der Reihe, sondern regellos einmal die, einmal die. Und dann hört da die Verständigung auf.« (PU 143) Die Regeln, denen die Teilnehmer eines Sprachspiels folgen, bedingen die zwischen ihnen mögliche Verständigung. Und die Verständigung ist dort zu Ende, wo die Regeln keine sozialen und damit stabilen, will sagen überhaupt keine Regeln sind. 354 Taylor, Charles: The Malaise of Modernity, a. a. O., S. 34. 355 Ebd., S. 33. 356 Ebd., S. 34. Fälschlich unter Berufung auf Mead spricht Taylor von »significant others«. Tatsächlich aber hat Mead in seinem Hauptwerk, das eine Theorie der Entstehung des menschlichen Selbst enthält, das Konzept des »generalized other« eingeführt. (Mead, George H.: Mind, Self and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist, Chicago 1934, S. 90)

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Die vorgängige Gemeinsamkeit des Bewusstseins

bedeutsamen Anderen (»significant others«) auf den Einfluss einzuschränken, welchen sie auf meine Entwicklung genommen haben, und damit als etwas Vergangenes abzutun. Vieles von dem, was einst durch normative Kontrolle und Berichtigung, Autoritäten und Vorbilder, oder was es gewesen sein mag, an mich gekommen ist, bleibt in mir und macht mich mit zu dem, wer ich heute bin. Vieles von dem, was ich kenne, kann und schätze, hat sich mir unter Beteiligung anderer Menschen aufgetan. Jene sind darum in meinem Selbstsein aufgehoben, das in jedem künftigen Tun und Lassen, jeder Aus- und Umbildung von Interessen und Absichten, Überzeugungen und Einstellungen etc. eine Verkörperung findet. »If some of the things I value most«, so Taylor, »are accessible to me only in relation to the person I love, then she becomes internal to my identity.« 357

Taylor, Charles: The Malaise of Modernity, a. a. O., S. 34. Siehe auch Walzer, Michael: The Communitarian Critique of Liberalism, Political Theory 18/1 (1990), S. 9 f.

357

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Dritter Teil Ausweitung des Begriffs vorgängiger Gemeinsamkeit

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VIII. Der Sachbereich der Natur

Wir haben soeben erstmals einen an der Beantwortung der sozialontologischen Frage orientierten Blick hinter das menschliche Erleben zurück geworfen. Dabei hat sich herausgestellt, dass eine Gesellschaft durchaus nicht nur und nicht erst in den intentionalen Zuständen des Bewusstseins ihrer Mitglieder verankert ist; weder der Gehalt, welcher erlebt wird, noch die Form, wie er erlebt wird, ist das Einzige und Erste, das etwas Soziales sein kann. Bei dieser Annahme, die sich momentan und seit geraumer Zeit hoher Konjunktur erfreut und ich unter der Bezeichnung des ›intentionalistischen Paradigmas‹ aufgegriffen und erörtert habe, handelt es sich, so das Ergebnis meiner Erörterung, um ein Quidproquo; irrtümlich wird dem Begriff von etwas, das logisch sekundär ist, als solches aber nicht durchschaut wird, nämlich des intentionalen Bewusstseins, der explanatorische Primat für den Begriff des Sozialen angewiesen. Gänzlich außer Betracht gelassen wird vom Intentionalismus jedoch der Erfahrungshorizont eines jeden Menschen, welcher sich in dessen mentale Zustände hineinlegt und darum herumdehnt. So sind etwa die Gepflogenheiten einer Gesellschaft – außer wenn man sie frisch einlernt, aber doch nachdem man in regelmäßig flüssigen, reibungslosen Abläufen bestanden und sich darin heimisch gemacht hat – kaum mehr bis überhaupt nicht bewusstseinspflichtig, um ihre weitere Fortführung in ähnlichen Lagen einzuweisen. 1

Noch grandioser ist gewiss das Pars pro Toto, mit dem Ferraris (inspiriert durch Ideen von Jacques Derrida) aufwartet. Danach soll dasjenige, was allein etwas Soziales ist, ein Dokument sein: »social objects are social acts (such that they involve at least two persons) characterized by the fact of being written« (Ferraris, Maurizio: Documentality or Why Nothing Social Exists Beyond the Text, in: Kanzian, Christian/ Runggaldier, Edmund (Hg.): Cultures. Conflict – Analysis – Dialogue, Berlin/Boston 2007, S. 397). Siehe ausführlicher Ferraris, Maurizio: Documentality. Why it Is Necessary to Leave Traces, New York 2013.

1

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Der Sachbereich der Natur

Das Gegenmittel gegen diesen paradigmatischen Ansatz ist deswegen, die Analyse unter die Schwelle des Bewusstseins herabzudrücken und in den Sachbereich unserer Lebenserfahrung zurückzuleiten. Ungleich weiter ist in die Identität des Menschen einzudringen, als es ein intentionalistisch veräußerlichtes, an der Oberfläche verharrendes Verständnis von Sozialem verstattet. Die Sozialontologie wird ihren Austragungsort stattdessen in solchem finden, so darf man jetzt mit gutem Grund vermuten, was für gewöhnlich in unsere Existenz eingefaltet bleibt und eingefaltet bleiben kann. Denn derjenige, der da erlebt, hat doch in sich eine Tiefe (neben allerlei anderem, was dazu sonst noch aufgeführt werden könnte), aus der seiner Intentionalität unvermerkt Wissen von einigem, das etwas Soziales ist, zufließt. Insofern jemand einer gesellschaftlichen Praxis kundig und vielleicht sogar in ihr versiert ist, welche Größe, Dichte und Dauer diese Praxis auch haben mag, bietet dies ebendas, was nötig ist, um die bewusstseinstheoretische Auffassung von Sozialem in einem echten Sinne zu hintergreifen. Und ebendarum gehört womöglich auch die gesuchte notwendige und hinreichende Bedingung für Soziales den Arealen dieser unserer hintergründigen Kundigkeit, die bis zur Versiertheit steigerbar ist, zu. Diese Vermutung ist jedoch an dieser Stelle noch nicht belegt. Denn wohlgemerkt ist der Ontologie des Sozialen bis hierher bestenfalls eine neue Adresse erwirkt, an die sie sich wenden kann. Ist doch lediglich eine notwendige extrinsische Bedingung von Sozialem namhaft gemacht worden. Wie jede Gesellschaft beispielsweise Luft voraussetzt, so setzt sie auch – wie das intentionalistische Paradigma mit Recht behauptet – Bewusstsein aufseiten der Beteiligten voraus und jenes wiederum – was das intentionalistische Paradigma verkennt – eine Erfahrenheit in den Dingen des menschlichen Lebens. Dem reifen, zu unterschiedlichen Typen an intentionalen Leistungen fähigen Bewusstsein liegt ein entsprechendes Erfahrensein zugrunde, und solches Erfahrensein ist eines u. a. in den Regeln des gesellschaftlichen Verkehrs. Doch ist diese Voraussetzung des intentionalen Bewusstseins nicht nur keine hinreichende für Soziales; durch die mögliche Neuverortung derjenigen Frage, um die es der vorgelegten Studie eigentlich geht, nämlich der nach der intrinsischen Bedingung von Sozialem, ist jene noch gar nicht beantwortet. Das bleibt noch darzutun, was – nicht einiges Soziale, sondern – das Soziale als solches ist. Wie ich allerdings zeigen werde, hängt die Lösung dieses entscheidenden Problems mit der in Rede stehenden Erfahrung eines 346 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Der Sachbereich der Natur

Menschen zusammen. Sie ist bei näherem Zusehen bereits in den vorausgehenden Ausführungen mit enthalten und muss bloß noch herausdestilliert werden. Man darf den Radius des bisher Erreichten nicht überstrapazieren, weil das implizite Wissen eines Menschen, wie es begrifflich angegeben wurde, bis dato ausschließlich als Bedingung des Bewusstseins von bedeutungstragenden Phänomenen im Gespräch ist und keineswegs schon als Voraussetzung alles Bewusstseins überhaupt. Man kann das eine nicht anstandslos für das andere nehmen. Was für die Beschäftigung mit derlei Phänomenen wahr ist, dass man nämlich bereits in gesellschaftlichen Dingen beschlagen sein muss, damit einem die Bedeutung, welche sie tragen, aufzugehen vermag – wie das etwa bei geschriebener und gesprochener Sprache sowie bei nonverbalen Mienen, Gesten und Posen der Fall ist –, muss darum nicht auch auf die Beschäftigung mit allem anderen zutreffen. Dafür ist erst noch zu argumentieren, und das will ich jetzt angehen, dass jenes Wissen ungeachtet der Art von Entität zum Tragen kommt, mit der man je zugange ist, und dass es ungeachtet der Art von Entität, die da unvermerkt gewusst wird, immer auch ein soziales Moment besitzt. Das Ziel dieses dritten Teils ist also, den Begriff vorgängiger Gemeinsamkeit auszuweiten und damit überhaupt erst die notwendige und hinreichende intrinsische Bedingung des Sozialen offenzulegen. Ich behaupte: dass sozial all dasjenige ist, was entweder selbst ein implizites Wissen ist oder aber von einem solchen abhängt. Dazu wende ich mich einem Kreis von Erscheinungen zu, die durchaus andersartig sind als die, mit denen wir uns bislang auseinandergesetzt haben. Gemeint sind solche Erscheinungen, die nicht nur keine symbolisch strukturierten Gebilde sind, sondern die obendrein nicht einmal durch Menschenhand geschaffen sind. Ihnen ist nicht nur keinerlei Bedeutung zu eigen (nach wie vor nicht verstanden als die Wichtigkeit, welche man einer Sache beimisst, sondern als die geistige Bestimmtheit, zu deren Träger sie herabgesetzt ist und die sich darin ausdrückt), sie gehen auch auf keine unserer Tätigkeiten zurück, obgleich wir uns daran betätigen können. Sie können in der einen oder anderen Hinsicht und auf die eine oder andere Weise in menschliche Gesellschaft einbezogen werden, wenn auch die Hinsichten und Weisen ihres gesellschaftlichen Einbezogenseins von Epoche zu Epoche und von Kultur zu Kultur anders ausfallen mögen. Aber sie machen doch von sich her nichts Soziales und nichts Geistiges aus. Und das sind die Gegebenheiten der Natur. 347 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Der Sachbereich der Natur

Dass Gesellschaft und Natur, Soziales und Natürliches in einer begrifflichen Opposition stehen, ist eine geläufige Intuition nicht nur der sozialontologischen Literatur. Bei Anscombe und Searle beispielsweise, die mit solch einer Entgegensetzung operieren, haben wir in Kapitel II.1 die Differenz zwischen sozialen und rohen Tatsachen kennengelernt. Unter dem natürlichen Universum versteht Searle im Anschluss an Anscombe das Insgesamt derjenigen Entitäten, sie mögen elementarischer, pflanzlicher oder tierischer Art sein, die unabhängig von unserer geistigen Einstellung dazu entstehen, bestehen und vergehen. Hingegen existiere die soziale Welt lediglich mit unserem Zutun; eine menschliche Gesellschaft soll gerade davon abhängen, wie ihre Mitglieder geistig dazu eingestellt sind. Und den Bezugspunkt dieser Unabhängigkeit bzw. Abhängigkeit bildet nach Searle das intentionale Bewusstsein. Der Unterscheidung zwischen Geistigem und Sozialem auf der einen Seite und Natur auf der anderen schließe ich mich zwar prinzipiell an. Die bisherige Untersuchung hat allerdings ergeben, dass die besagte Verschiedenheit auch auf den Begriff der Erfahrenheit des Menschen zu beziehen ist. Davon bereits ist das eine unabhängig und das andere abhängig. Die Auseinandersetzung mit dem Sachbereich der Natur soll helfen, das Soziale selbst und im Allgemeinen in einer zweiten Begriffsbestimmung als diejenige vorgängige Gemeinsamkeit zu explizieren, die im intentionalen Verhalten des menschlichen Bewusstseins zu jedwedem Phänomen enthalten ist, selbst noch zu solchen, die natürliche Phänomene sind. Denn abermals tritt hierbei die Frage an uns heran, ob noch vor aller bewusstseinsförmigen Intentionalität des Menschen seine Lebenserfahrung mit den Ausschlag dafür gibt, wie er sich auch zu Naturdingen verhält. Spielt vielleicht, so ist zu erwägen, früher noch als sein Erleben das apriorische Wissen, welches der Erfahrene mitbringt, eine entscheidende Rolle, indem es sich in jenes eingraviert? Und damit nicht genug. Wenn das Subjekt von Bewusstsein und Intentionalität auch in diesem Fall nicht allein am Leitfaden thematischen Wissens zu vermessen ist, macht dann vielleicht das unthematische Wissen des Menschen selbst dann etwas Soziales aus, wenn dasjenige, was da a priori gewusst wird, etwas Natürliches ist? Dass dem tatsächlich so ist, wird der Rest der vorliegenden Arbeit darlegen und damit die ganze Sozialität des menschlichen Daseins begrifflich bestimmen.

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Zur begrifflichen Abgrenzung von Sozialem und Natur

1.

Zur begrifflichen Abgrenzung von Sozialem und Natur

a)

Die formale Soziologie über »Wechselwirkung«

Dazu sind Soziales und Natürliches zunächst einmal gegeneinander abzugrenzen. Es versteht sich, dass ich das hier nicht vollumfänglich leisten kann, aber auch gar nicht leisten muss. Zu weitläufig ist der Sachbereich der Natur, zu raumgreifend seine Erörterung; zu vieles wäre zu berücksichtigen, was für unsere Zwecke gar nicht erforderlich ist. Ich werde deshalb lediglich einen und einen anderen Gesichtspunkt der in Rede stehenden Problematik herausgreifen als jene geläufige Intuition, der Anscombe und Searle Worte geben. Diesen Gesichtspunkt liefert der für die Schule der formalen Soziologie grundlegende Begriff der Wechselwirkung. Sicherlich könnte man die Problematik ebenso gut auch anderswo aufbrechen, doch haben wir den erwähnten Grundbegriff bereits im Zuge der Beschäftigung mit Simmel in Kapitel III.1 gestreift. Dass wir allerdings mittlerweile in den Breiten der Vorstruktur von Bewusstsein und Intentionalität Fuß gefasst haben, versetzt uns in die Lage, bzgl. des im Gedanken der Wechselwirkung enthaltenen, aber auch darüber hinaus bei anderen Autoren anzutreffenden Merkmals der Kausalität eine begriffliche Grenze zwischen Gesellschaft und Natur zu ziehen. Die formale Denkrichtung der theoretischen Soziologie dominiert in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Fachdiskussion im deutschsprachigen Raum. Ihre Ahnengalerie hebt mit Simmel an. Der adoptiert, wie gesehen, gewisse Analyseinstrumente und Grundannahmen der Philosophie Kants. Einesteils bestimmt er das der Soziologie eigentümliche Forschungsgebiet mittels des begrifflichen Reflexionspaares von Form und Materie. Diese habe einzig die allgemeinen Formen menschlicher Gesellschaft zu betrachten, wobei eine solche Betrachtung historisch erst möglich wird, nachdem die an besondere gesellschaftliche Inhalte anknüpfende Ausdifferenzierung der Wissenschaftsdisziplinen weit genug gediehen ist. Anderenteils geht Simmel davon aus, dass die besagten Formen unserem Geist als Gesetze, als die Kategorien reiner Subjektivität, und zwar der des Laien genauso wie der des Wissenschaftlers, inhärent sind. Unbeschadet der kontingenten Inhalte des Gesellschaftslebens – all dessen, was »in den Individuen […] als Trieb, Interesse, Zweck, Neigung, psychische Zuständlichkeit und Bewegung derart vorhanden ist, daß daraus oder daran die Wirkung auf andre und das Empfangen ihrer 349 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Der Sachbereich der Natur

Wirkung entsteht« – sollen sie mit Notwendigkeit immer und überall dieselben sein. Die Formen der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen Menschen leben, sind Simmel ein Abglanz der Formen des Bewusstseins, mit dem jene sie synthetisieren und konstituieren. Ihnen und nur ihnen ist die Begriffsarbeit des Sozialwissenschaftlers verschrieben. Und die leitende Bestimmung, von welcher Simmel die menschliche Gesellschaft durchzogen sieht und an der er die Form-MaterieDichotomie zum Einsatz bringt, ist eine kausale, nämlich die der Wechselwirkung: »Soll es also eine Wissenschaft geben«, schreibt er im Eröffnungskapitel seiner Soziologie, »deren Gegenstand die Gesellschaft und nichts andres ist, so kann sie nur diese Wechselwirkungen, diese Arten und Formen der Vergesellschaftung untersuchen wollen.« 2 Die den genuin soziologischen Untersuchungen vorbehaltenen »Formen der Vergesellschaftung« sind nichts anderes als »Arten« von »Wechselwirkungen«. Indem Personen mit-, für- und gegeneinander handeln, wirken sie in irgendeiner Hinsicht und auf irgendeine Weise aufeinander ein und empfangen voneinander derlei Einwirkungen. Und wo solche Wechselverhältnisse zustande kommen, sich einrichten und institutionalisieren, sind diejenigen, welche daran beteiligt sind, zu einer Einheit zusammengeschlossen: Kausalität, wechselweise ausgeübt, ist nach Simmel der Grundbaustoff, aus dem die menschliche Gesellschaft errichtet ist. »Ich gehe«, erläutert er, »von der weitesten, den Streit um Definitionen möglichst vermeidenden Vorstellung der Gesellschaft aus: daß sie da existiert, wo mehrere Individuen in Wechselwirkung treten. […] Denn Einheit im empirischen Sinne ist nichts anderes als Wechselwirkung von Elementen« 3. Weitere renommierte Anwälte einer formalen Konzeption von Soziologie sind Vierkandt und von Wiese. Worin jeweils das Formale ihrer Soziologiekonzeption liegt, was sie mit der Simmel’schen teilen oder wodurch sie sich davon absetzen, muss uns nicht interessieren. Jedoch avanciert bei ihnen desgleichen die Idee der Wechselwirkung oder einer einseitigen Kausalität zum Zentralbegriff. So spricht Vier-

Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, a. a. O., S. 7. 3 Ebd., S. 5. Siehe bereits Simmel, Georg: Zur Methodik der Socialwissenschaft, a. a. O., S. 581; Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie, a. a. O., S. 155, 158 f. 2

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Zur begrifflichen Abgrenzung von Sozialem und Natur

kandt in seiner Gesellschaftslehre aus dem Jahre 1923, welche er unter Berufung auf Simmel namentlich als formale Soziologie entwirft, im Gegensatz zu jenem aber auf phänomenologische Methode umzurüsten sucht, von einer »Theorie der Wechselwirkungen und ihrer Erzeugnisse« 4. Ähnlich erhebt von Wiese die Kausalkategorie zu einem Stützpfeiler dessen, was er unter dem Titel der ›Beziehungslehre‹ zu einer Theorie sozialer Prozesse und Gebilde ausfeilt. Grundlegend dafür expliziert er soziale als zwischenmenschliche Beziehungen und diese ihrerseits als solche des »Einwirken[s] von Menschen auf Menschen« 5. Oder wie die spätere Schrift Das Soziale im Leben und im Denken von 1956 aufschlüsselt: als »jegliche Einwirkung […], die von einem Menschen auf einen anderen und von MenschenMehrschaften auf den Einzelnen, wie von Einzelnen auf die Menschengruppen, wie umgekehrt von diesen Gebilden auf die Personen ausgeht« 6. Solch ein kausales Denken lässt sich aber auch jenseits des Umkreises einer formal gehaltenen Auffassung von Sozialwissenschaft dokumentieren. So etwa bei Dilthey. In dessen Frühwerk Einleitung in die Geisteswissenschaften aus dem Jahre 1883 ist insbesondere im ersten Buch von Wechselwirkungen die Rede, z. B. von einer »Wechselwirkung in der Gesellschaft« 7 oder der »Wechselwirkung von Individuen« 8. Trotz ihrer Häufigkeit bleibt diese Ausdrucksweise in Diltheys hermeneutischem Grundlegungsversuch geisteswissenschaftlichen Verstehens allerdings gänzlich unterminologisch. Anders bei Durkheim. Im fünften Kapitel seiner Règles de la méthode sociologique legt er, wie die Überschrift anzeigt, einige »Regeln für die Erklärung [explication] sozialer Tatsachen« dar. Deren erste und elementare geht bekanntermaßen dahin, dass Soziales nicht Vierkandt, Alfred: Gesellschaftslehre. Hauptprobleme der philosophischen Soziologie, a. a. O., S. 10. Siehe auch S. 28, 31, 33. 5 von Wiese, Leopold: Beziehungssoziologie, a. a. O., S. 66. 6 von Wiese, Leopold: Das Soziale im Leben und im Denken, Köln/Opladen 1956, S. 8. Vgl. von Wiese, Leopold: Soziologie. Geschichte und Hauptprobleme, Berlin 1926, S. 94; System der Allgemeinen Soziologie als Lehre von den sozialen Prozessen und den sozialen Gebilden der Menschen (Beziehungslehre), München/Leipzig 21933, S. 53, 58; Sozial, geistig und kulturell. Eine grundsätzliche Betrachtung über die Elemente des zwischenmenschlichen Lebens, a. a. O., S. 24. 7 Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und Geschichte. Erster Band (1883), a. a. O., S. 30. 8 Ebd., S. 41. 4

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Der Sachbereich der Natur

anders denn durch Soziales erklärt werden könne: »Die bestimmende Ursache einer sozialen Tatsache muss in den sozialen Tatsachen, die ihr vorhergehen, und nicht in den Zuständen des individuellen Bewusstseins gesucht werden.« 9 Eine soziale Tatsache zu wissenschaftlicher Erkenntnis zu bringen, verlangt demnach immer auch ihre Erklärung. Diese stellt Durkheim zufolge auf Kausalitäts-, d. h. solche Beziehungen ab, die unter sozialen Tatsachen als Ursachen und Wirkungen bestehen. Zum Geschäft des Soziologen gehört undurchstreichbar mit hinzu, ein Phänomen mit einem anderen zu verknüpfen, das entweder seine vorhergehende Ursache oder seine nachfolgende Wirkung ausmacht. 10 Beachtenswert ist in dem Zusammenhang, dass Durkheim im Schlusswort der Règles einige abschließende Anmerkungen zur Eigenheit der von ihm traktierten soziologischen Methode macht. Zunächst weist er die Relevanz diverser philosophischer Lehren und metaphysischer Standpunkte zurück, gegen die die empirische Sozialforschung, wie er sie sich ausmalt und in die Wege zu leiten unternimmt, indifferent bleibe, die sie weder bestätige noch bestreite. Alles, was jene verlangt, soll das Zugeständnis sein, so notiert Durkheim daraufhin, dass »das Kausalprinzip auf soziale Tatsachen zutrifft« 11. Das Prinzip der Kausalität lasse sich geradeso auf den Gegenstand der Soziologie, die gesellschaftlichen Phänomene, anwenden. Geradeso? Ausdrücklich schneidet Durkheim in seinen Schlussbemerkungen dessen wissenschaftsgeschichtliches Herkommen an. Demgemäß entstammt es ursprünglich der naturwissenschaftlichen Erkenntnissphäre, wo es sich bewährt hat und von wo aus es alsdann in seiner Gültigkeit ausgedehnt und auf sozialwissenschaftliche Wissensbemühungen übertragen wurde. Darin unterscheiden sich für Durkheim Natur- und Sozialwissenschaften nicht (was infolge meiner Nachzeichnung einiger methodologischer Gedanken in den Règles nicht sonderlich überrascht), dass neben der Natur auch Soziales dem Kausalprinzip unterstehen und zur Erklä-

Durkheim, Émile: Les règles de la méthode sociologique (1895), a. a. O., S. 109. Vgl. ebd., S. 124. Auf Unterschiede zwischen den kausalen Erklärungen, welche die Natur- und die Sozialwissenschaften geben, weist mit einem reichhaltigen Fundus an historischen Beispielen aus verschiedenen Disziplinen hin Miller, Richard W.: Fact and Method. Explanation, Confirmation and Reality in the Natural and the Social Sciences, Princeton 1987, S. 15–151. 11 Durkheim, Émile: Les règles de la méthode sociologique (1895), a. a. O., S. 139. 9

10

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Zur begrifflichen Abgrenzung von Sozialem und Natur

rung dementsprechender Phänomene dessen Anwendung erlauben soll: »Da das Prinzip der Kausalität auf den verschiedenen Gebieten der Natur verifiziert worden ist, so dass es seine Herrschaft allmählich vom physikalisch-chemischen auf das biologische, von hier aus auf das psychologische Gebiet ausgedehnt hat, hat man das Recht zur Annahme, dass es in gleicher Weise auch für das Gebiet des Sozialen richtig ist; und gegenwärtig kann man hinzufügen, dass die aufgrund dieses Postulats unternommenen Untersuchungen es zu bestätigen geeignet sind.« 12

Ob das Konzept der Wechselwirkung, mit dessen Hilfe Simmel die von ihm begründete Ausrichtung der Soziologie modelliert, tauglich ist, alles dasjenige, was etwas Soziales ist, abzubilden, werde ich in Kapitel IX.2 diskutieren. Nicht er allein, sondern etwa auch Werner Sombart klammert ja in seiner Version formaler Soziologie, die er etwas sperrig als Noo-Soziologie tituliert, das »Nebeneinander« 13 der Menschen eigens aus, von ihrem Ohneeinander ganz zu schweigen. 14 Dass sich an dem einen wie an dem anderen Fall, da Einzelne entweder bloß nebeneinander oder sogar ganz ohneeinander sind, Beimischungen von Sozialität finden lassen, wie ich da aufzeigen werde, weisen beide a limine zurück. 15 Einstweilen nehme ich mir jedoch das andere Moment vor, dem Simmel in seiner Definition menschlicher Gesellschaft als dem Wechselverhältnis mehrerer Personen eine zentrale Rolle anweist. Hat man es, so will ich zunächst einmal prüfen, beim Mit-, Für- und Gegeneinanderhandeln, wie es sich z. B. in einer Interaktion unter Ebd., S. 139 f. Sombart, Werner: Soziologie: Was sie ist und was sie sein sollte, a. a. O., S. 12. Vgl. Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, a. a. O., S. 6. 14 In dieser Tradition steht auch Utz: »Das Soziale ist nun nicht jedwede Beziehung, sondern eine ganz besondere, nämlich eine Wechselbeziehung zwischen mehreren Menschen.« (Utz, Arthur F.: Zwei Fragen: Was heißt sozial? und Was ist sozial?, in: Die Neue Ordnung 9 (1955), S. 269) Und er macht das am Bewusstsein der Beteiligten fest: »Zum Sozialen ist ein gleicher intentionaler Gehalt Voraussetzung.« (S. 267) 15 Indem von Wiese lediglich Begebenheiten, die sich zwischen Menschen abspielen, für sozial erachtet, schließt er alles, was nicht zur Äußerung kommt, aus dem Gebiet der Soziologie aus: »Soziale Tatsachen sind nicht Vorgänge im Innern der Seelen […]. Gefühle oder Gedanken, die nicht Taten geworden sind, haben keine Stätte in der in besonderer Weise realen Welt des Sozialen.« (von Wiese, Leopold: Sozial, geistig und kulturell. Eine grundsätzliche Betrachtung über die Elemente des zwischenmenschlichen Lebens, a. a. O., S. 16) 12 13

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Anwesenden zuträgt, überhaupt mit einer Wechselwirkung zu tun? Einem Geschehen also, das ein kausales ist? Darauf hebt jedenfalls Sombart mit seiner Noo-Soziologie ab, dass sich darin eine sachunangemessene Angleichung des Sozialen an die Natur (das er stattdessen als Geist auffasst) und somit der Sozialwissenschaften an die Naturwissenschaften (die er stattdessen als Geisteswissenschaften auffasst) ausdrückt. 16

b)

Kant über »Causalität«

Schauen wir uns dafür diejenige Vorstellung von Kausalität an, welche bei Kant zu finden ist. Kant zurate zu ziehen, empfiehlt sich erstens schon deshalb, weil Simmel selbst mit dessen philosophischen Schriften gut Bescheid weiß. Indem seine theoretische Fundierung der Soziologie sich der Kant’schen Transzendentalphilosophie verpflichtet – will er jene doch, die seines Erachtens auf die Erfahrungsregion der Natur restringiert bleibt, für die Welt menschlicher Gesellschaft öffnen, indem er die Bedingungen der Erkennbarkeit der gesellschaftlichen Welt des Menschen aufhellt –, ist ihm der fragliche Kausalbegriff wohlbekannt. Und nicht bloß das. Da er es nicht einmal für nötig befindet darzulegen, ja auch nur ein einziges Wort darüber zu verlieren, wie er diesen Begriff versteht, welcher doch immerhin das Leitkonzept seines soziologischen Denkens ausmacht, bleibt sein Verständnis zweitens wahrscheinlich demjenigen Kants verhaftet. 17 Und man muss das zugleich im größeren Bild sehen. Der Rückgang auf Kant ist drittens auch darum zweckmäßig, weil sich in der Selbstverständigung der Sozialwissenschaften über das ihnen angestammte Forschungsfeld von Beginn an – angefeuert und herausgefordert durch die regen Debatten in der Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus über die Gegensätzlichkeit zwischen der naturund geisteswissenschaftlichen Methode sowie Absicht des Erkennens – 18 die Geister daran scheiden, in welchem Grade kantische PhiVgl. Sombart, Werner: Grundformen des menschlichen Zusammenlebens, in: Vierkandt, Alfred (Hg.): Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931, S. 222; Soziologie: was sie ist und was sie sein sollte, a. a. O., S. 23 ff. Zu Sombarts Geistbegriff siehe Vom Menschen. Versuch einer geisteswissenschaftlichen Anthropologie, Berlin-Charlottenburg 1938. 17 Vgl. Jung, Werner: Georg Simmel zur Einführung, Hamburg 22016, S. 76 ff. 18 Vgl. Merz-Benz, Peter-Ulrich: Soziologie als Erkenntniskritik. Zur Genesis der So16

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losophie Anhalt zu bieten vermag. Kausalität gilt Kant nämlich (und das ist lediglich ein Streitpunkt unter mehreren) als ein Definiens der raumzeitlichen Ordnung der Natur; was nur in jenes Gebiet schlägt und etwas Natürliches ist, steht ihm in Ursache-Wirkungs-Relationen. Allerdings versteht Kant die empirische Natur im weiten Sinne. Unterschiedslos soll das Tun und Lassen der Menschen mitsamt ihren gesellschaftlichen Einrichtungen und Institutionen insofern natürlich sein, als es sich in Raum und Zeit abspielt und kausal geordnet ist wie die demgegenüber im engeren Sinne zu verstehende Natur auch. Die Gründungsschriften aller Stammväter der modernen Soziologie, Durkheim und Simmel etwa, aber auch Weber, verhalten sich zu dieser für ihre Disziplin existenziellen Frage, ob und inwieweit nicht die Seinsart von Sozialem davon abweicht und eine demgegenüber eigene ausmacht, so dass als Folge daraus das wissenschaftliche Erkennenwollen anders daran heranzutreten hat. 19 In der Kritik der reinen Vernunft weist Kant den Begriff der »Causalität« (KrV B 106) als reinen Verstandesbegriff bzw. als Kategorie aus. Dieser habe seine Quelle weder direkt noch indirekt in der Erfahrung, sondern sei im menschlichen Verstand angelegt. Seine Entwicklung soll dadurch lediglich veranlasst werden, dass Objekte unsere Sinne rühren. Ihm sowie weiteren Vorstellungen, welche das Subjekt besitzt, einen derartigen »Geburtsbrief« (KrV B 119) auszustellen und seinen Besitz solcherweise zu erklären, nennt Kant eine »metaphysische Deduction« (KrV B 159). Und die Kausalkategorie enthält dieser ihrer Herleitung zufolge so wie alle übrigen auch einen ziologie aus der Philosophie des Neukantianismus, in: Krijnen, Christian/Zeidler, Kurt Walter (Hg.): Wissenschaftsphilosophie im Neukantianismus. Ansätze – Kontroversen – Wirkungen, Würzburg 2014, S. 317–346. 19 Ein weiterer Streitpunkt ist, ob nicht der transzendentale Idealismus eine Überschätzung des Subjekts proklamiert. Das Ich, dem Kant weltkonstitutive Synthesisakte bescheinigt, bleibt so lang unproblematisch, als die Welt, welche es da konstituiert, nicht qua soziale in den Blick gerät, als eine also, in der auch andere Menschen leben, auf die das Nämliche zutreffen muss. Husserls Versuche in den Cartesianischen Meditationen (1950), die Beziehung zu Alter aus den synthetischen Akten Egos abzuleiten, beurteilt Schütz, der anfangs von der transzendentalen Phänomenologie überzeugt ist, als gescheitert; die Frage nach dem Sozialen macht ihm den Ansatz beim einsamen Subjekt zum Problem. Einige haben sich dem angeschlossen, etwa Fink, Eugen: L’analyse intentionnelle et le problème de la pensée spéculative, in: van Breda, Herman (Hg.): Problèmes actuels de la phénoménologie, Paris 1952, S. 53–87, andere haben die Kritik zurückgewiesen, darunter Carrington, Peter J.: Schutz on Transcendental Intersubjectivity in Husserl, in: Human Studies 2/2 (1979), S. 97.

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logischen, unser Denken betreffenden und einen intuitiven, unser sinnliches Anschauen betreffenden Bestandteil. Der erstere besteht darin, dass durch sie eine Relation »des Grundes zur Folge« (KrV B 98) gedacht wird; eines wird als Bedingung zu einem anderen als Bedingtem vorgestellt. Der letztere besteht darin, dass durch sie ein Verhältnis zeitlicher »Succession« (KrV B 183) sinnlich angeschaut wird; eines wird als das Frühere zu einem anderen als dem Späteren vorgestellt. Und beides zusammen beschert der Kategorie den begrifflichen Gehalt von »Ursache und Wirkung« (KrV B 106). Dabei handelt es sich um die Glieder einer Beziehung, in der das Frühere als Grund oder Bedingung für das Spätere als Folge oder Bedingtes vorgestellt ist. Mehr nur nebenbei nehmen wir zur Kenntnis, dass die daran anschließende »transscendentale Deduction« (KrV B 117) den Nachweis führt, dass die reinen Verstandesbegriffe die Bedingungen der Möglichkeit unserer Erfahrung von Gegenständen abgeben; die Kausalkategorie sei ein Gesetz jeder empirischen Erkenntnis der Natur. Ebenso vermerke ich bloß am Rande, dass Kant von da aus das »System aller Grundsätze des reinen Verstandes« (KrV B 187) erstellt. Das sind jene »Urtheile, die der Verstand […] wirklich a priori zu Stande bringt«. Sie sollen die erfahrungsenthobene Einsicht enthalten, wie Objekte, die uns im Fluss unseres Erfahrungslebens unterkommen können, je schon beschaffen sind. Diese Urteile haben die »Anwendung der reinen Verstandesbegriffe« (KrV B 199) auf den Begriff der Erscheinung zum Inhalt; in ihnen werden Erscheinungen als noch unbestimmte Objekte durch jene als bestimmt vorgestellt. Anders gesagt vermag Kant mit den transzendentalen Verstandesgrundsätzen, und zwar weil die Kategorien streng besehen auch die Ermöglichungsbedingungen der Gegenstände unserer Erfahrung ausmachen, 20 diejenigen Gesetze zu formulieren, denen die empirisch erkannte Natur unterworfen ist. Laut der zweiten Analogie, dem Prinzip der Kausalität, gilt dabei: »Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung.« (KrV B 232) Was uns jedoch anliegen muss, ist eine nicht eben unübliche Auslegung der zweiten Analogie. Diese Auslegung tritt mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen auf. Sie nimmt entweder an, dass Kant für die Gleichförmigkeit im Sinne der empirischen Regelhaftigkeit 20

Vgl. KrV B 125 f., 197.

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des Naturgeschehens argumentiere; alle kausalen Verknüpfungen zwischen Phänomenen in Raum und Zeit sollen Gesetzen gehorchen, welche sich mittels Erfahrung entdecken lassen. 21 Oder, dass das Kausalprinzip festlege, dass jegliche Veränderung eine Ursache voraussetzt, durch die sie nach einem und dem jeweiligen Gesetz, d. h. einem unter vielen, bewirkt wird; für jede Sorte raumzeitlicher Phänomene soll gelten, gleiche Ursache führt zu gleicher Wirkung. 22 Schließlich, dass Kant ein »principle of induction« 23 etabliere, das garantieren soll, dass sich alle Veränderungen, die uns vorkommen, auf Regeln bringen lassen. Interessanterweise hängt solch einer Kausalitätsdeutung auch Dilthey an, ohne irgendeine Bezugnahme auf Kant allerdings. In seiner späten Schrift über den Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften von 1910 hat sich seine Ausdrucksweise sichtlich gewandelt; von Wechselwirkung ist dort kaum noch die Rede. Und das kommt nicht von ungefähr. Dilthey geht nun mit sich selber ins Gericht, wenn er »Grenzüberschreitungen des naturwissenschaftlichen Denkens« anprangert: »Die realen Kategorien sind […] in den Geisteswissenschaften nirgends dieselben als in den Naturwissenschaften.« 24 Die Grenze zum geisteswissenschaftlichen Arbeiten glaubt er einst überschritten zu haben. Sie zieht und befestigt er jetzt neu, wenn er mit Emphase ausspricht: »Es gibt in der geschichtlichen Welt keine naturwissenschaftliche Kausalität, denn«, so lautet die Begründung, »Ursache im Sinne dieser Kausalität schließt in sich, daß sie nach Gesetzen mit Notwendigkeit Wirkungen herbeiführt; die Geschichte weiß nur von den Verhältnissen des Wirkens und Leidens, der Aktion und Reaktion. [Herv. d. Verf.]« Man trifft hier auf einen sehr ähnlichen Gedanken. Aufschlussreich ist zwar, dass Dilthey den Kausalbegriff von der Domäne der Geisteswissenschaften und damit der des Sozialen (»der geschichtlichen Welt«) Vgl. Friedman, Michael: Causal Laws and the Foundations of Natural Science, in: Guyer, Paul (Hg.): The Cambridge Companion to Kant, Cambridge 1992, S. 170 ff.; Rohs, Peter: Noch einmal: das Kausalprinzip als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung, in: Kant-Studien 83 (1992), S. 85 f. 22 Vgl. Rang, Bernhard: Naturnotwendigkeit und Freiheit. Zu Kants Theorie der Kausalität als Antwort auf Hume, in: Kant-Studien 81 (1990), S. 25; Willaschek, Marcus: Praktische Vernunft. Handlungstheorie und Moralbegründung bei Kant, Stuttgart/ Weimar 1992, S. 35 ff.; Keil, Geert: Willensfreiheit, Berlin/New York 2007, S. 39. 23 Brittan Jr., Gordon G.: Kant’s Theory of Science, Princeton 1978, S. 189. 24 Dilthey, Wilhelm: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910), a. a. O., S. 197. 21

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abhält. Aber er tut das aus einem, wie man wenigstens von Kant herkommend sagen muss, anfechtbaren Grund. Diltheys Idee scheint zu sein, dass es in der menschlichen Gesellschaft weitaus weniger strikt zugeht als in der Natur. Die Ordnung, welche sie jeweils an den Tag legt, soll von Grund auf nicht ernsthaft von der Art eines stählernen Gehäuses sein. 25 Was sich da ereignet, das ereigne sich nicht »nach Gesetzen mit Notwendigkeit«; vielmehr atme es, so muss man aus Diltheys knapper Äußerung heraushören, die Lebensluft einer nicht zu tilgenden Kontingenz. In der gesellschaftlichen Praxis steht nicht alles längst und endgültig fest. Die Standards und Kriterien, die in Gestalt von Sitten das Tun und Lassen der Menschen regeln und verzahnen, mindern zwar die Vielfalt, welche in dieser Sphäre des nie Gleichen und stets Differenten ganz von selbst das Bedürfnis nach orientierungsstiftender Kontinuität entstehen lässt, auf ein verträgliches Maß herab, das folgerechte Handlungsvollzüge ein ums andere Mal ermöglicht. Allerdings ohne sie jemals vollauf zu verzehren. Passiert es doch einerseits zuhauf, dass Akteure von den geltenden Üblichkeiten einer Gesellschaft abweichen. Die Verbindlichkeit, welche jenen anhängt, führt nicht unaufhaltsam zu einem korrespondierenden Verhalten, sei es – um bloß zwei Aspekte solcher praktischen Kontingenz zu benennen –, dass jemand eine Konvention falsch auf die vorfindliche Situation anwendet, sei es, dass er eine für die betreffende Situation falsche Konvention zur Anwendung bringt. Und andererseits bleiben gesellschaftliche Üblichkeiten wandelbar. Sofern sie aus dem hervortreiben, wofür sie dann verbindliche Geltung beanspruchen, sind sie durch dieselbe Bewegtheit gekennzeichnet und dem Wandel der »Geschichte« ausgesetzt. Die Chronik vergangener Kulturen wie die Gegenwart bestehender Zivilisationen zeichnet davon ein vielfarbiges Gemälde. 26 Ich will das weder weiter kommentieren noch infrage ziehen. Was ich stattdessen behaupten möchte, ist, dass das geisteswissenschaftliche Erkennen – zu dem ich, darin Simmel, Dilthey und SomSo die Metapher, mit der Weber am Ende seiner Studie zur Entstehung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung aus der asketischen Geisteshaltung des Protestantismus die zeitgenössische Gesellschaft belegt. Vgl. Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/05), a. a. O., S. 203. 26 Zur Kontingenz menschlicher Praxis siehe Bubner, Rüdiger: Geschichtsprozesse und Handlungsnormen. Untersuchungen zur praktischen Philosophie, Frankfurt a. M. 1984, S. 177 ff. 25

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bart folgend, auch das in den Sozialwissenschaften geübte zähle und von dem ich das der Naturwissenschaften abgrenze (wobei der Gegensatz dieser beiden Wissenschaftsgruppen keineswegs als ein exklusiver gemeint sein soll, so dass es neben Sozial- und Naturwissenschaften nicht noch andere Disziplinen gibt) – aufgrund der Verfasstheit der zu erkennenden Realität durch eigene Begriffe ausgezeichnet sein muss. Mindestens der Begriff der Kausalität gehört nicht oder nicht durchweg dazu: Er ist kein zentraler, keiner von kategorialem Rang. Man kann diese Behauptung rechtfertigen und damit die Bereiche des Sozialen und der Natur in Ansehung dieser und nur dieser Eigenschaft scheiden, indem man zunächst einmal darauf hinweist, dass die vorerwähnte Rechtfertigung, welche Dilthey gibt, auf wackeligen Füßen steht. Sie bedient sich eines sang- und klanglos vorausgesetzten üppigen Kausalbegriffs, und zwar desjenigen, den etliche bereits bei Kant anzutreffen meinen. Doch der Anspruch, den Kant tatsächlich mit seiner zweiten Analogie erhebt, ist viel bescheidener anzusetzen als derjenige, welcher ihm üblicherweise attestiert wird. 27 Zunächst ist dabei festzustellen, dass Kants Kausalprinzip auf dem logischen Satz vom zureichenden Grund beruht. Das tritt spätestens 1790 in seiner Streitschrift gegen Johann August Eberhard klar hervor, 28 findet sich aber bereits in diversen seiner Vorlesungen über Metaphysik. 29 Und selbst in der ersten Kritik notiert Kant das an einer Stelle seiner Ausführungen zur zweiten Analogie. Danach ist der transzendentale Verstandesgrundsatz der Kausalität nichts anderes als der Satz vom zureichenden Grund, insofern er auf Erscheinungen in Raum und Zeit angewandt wird. 30 Für Kant ist eine Ursache nicht bloß eine notwendige Bedingung der betreffenden Wirkung. Das Grund-Folge-Verhältnis, welches er im reinen Verstandesbegriff der Kausalität denkt, geht darüber hinaus: Ursächlich sein heißt ihm hinreichend sein, etwas zu bewirken. Und Kant spricht in diesem Zusammenhang, obschon nicht in Für das Folgende siehe ausführlicher Zimmermann, Stephan: Kant on »Practical Freedom« and Its Transcendental Possibility, in: Krijnen, Christian (Hg.): Metaphysics of Freedom? Kant’s Concept of Cosmological Freedom in Historical and Systematic Perspective, Leiden/Boston 2018, S. 91–122. 28 Vgl. ÜE VIII 193 ff. 29 Siehe etwa V-Met/Volckmann XXVIII 399 ff.; V-Met/Schön XXVIII 485 ff.; V-MetL2/Pölitz XXVIII 571 ff.; V-Met/Dohna XXVIII 627 f. 30 Vgl. KrV B 246. 27

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der Kritik der reinen Vernunft selbst, von Determinismus. Seinem Verständnis zufolge nimmt jeder Determinismus den logischen Satz vom zureichenden Grund in Anspruch. Gleichviel in welcher näheren Form der Determinismus auftreten mag, Kant versteht ihn dahingehend, dass er als solcher beansprucht, irgendetwas stehe unter einer hinreichenden Bedingung. Auf dieser Grundlage nennt Kant dann allerdings dasjenige, was wir heute eigentlich als Determinismus ansprechen, Prädeterminismus. Prädeterminismus ist ihm nur eine mögliche Form von Determinismus neben anderen: »Der determinism der Caussalverbindung in der Zeit ist der praedeterminism.« (R 8100, XIX 642) Sofern die hinreichende Bedingung eine zeitliche und also Ursache ist, ist der betreffende Determinismus ein solcher, der genauer einen Prädeterminismus ausmacht. Ihn vertritt Kant mit dem transzendentalen Verstandesgrundsatz der Kausalität. Und entgegen unserer heutigen Redeweise kennt er neben diesem Determinismus der Natur auch einen Determinismus der Freiheit. Praktische Gesetze nämlich, die Kant gleichbedeutend als ›moralische‹ oder ›sittliche‹ apostrophiert, sollen ein zureichender Grund der Bestimmung des menschlichen Willens sein. Wenn es sie gibt, und es gibt sie laut Kant, dann ist der Wille des Menschen nach ihrer Maßgabe bestimmt. 31 Nun unterstellt Kant in der Tat, dass die Phänomene in Raum und Zeit strenge kausale Gleichförmigkeiten zeigen. Darüber kann keinerlei Zweifel bestehen. Jedoch steht auch das nicht in Zweifel, dass er dafür nirgendwo eine Rechtfertigung liefert. 32 Entweder meint Kant, dass die ausnahmslose empirische Regelhaftigkeit des Geschehens unter raumzeitlichen Phänomenen eine Implikation des Kausalprinzips darstellt, oder er geht davon aus, dass man von dem letzteren durch eine weitere Annahme zu dem ersteren gelangt. Allerdings erklärt er sich weder für das eine noch für das andere. Der non sequitur-Einwand, den einige Interpreten erheben, stellt jedenfalls

Zur Unterscheidung von Determinismus und Prädeterminismus sowie von Determinismus der Natur und der Freiheit siehe etwa KpV V 19; RGV VI 49 Anm., 50 Anm.; V-MS/Vigil XXVII 502 f., 504; V-Met-K2/Heinze XXVIII 745; V-Met-K3 E/Arnoldt XXIX 1019. 32 Vgl. Keil, Geert: Wo hat Kant das Prinzip vom nomologischen Charakter der Kausalität begründet?, in: Horstmann, Rolf-Peter/Gerhardt, Volker/Schumacher, Ralph (Hg.): Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses, Bd. 4, Berlin/New York 2001, S. 562–571. 31

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infrage, dass das Kausalprinzip die Existenz strikter Regeln impliziert. 33 Entscheidend ist also nicht nur zu sehen, dass das allgemeine Kausalprinzip von den besonderen Kausalgesetzen zu trennen ist. Diese Trennung macht Kant hinlänglich deutlich. 34 Sondern es ist vor allem zu sehen, dass dieses wohl gar nichts über jene präjudiziert. Kants Unterstellung bleibt in seinen Schriften und Vorlesungen ungerechtfertigt. Was die zweite Analogie festschreibt, und zwar nach der von Kant selbst verbesserten Formulierung in der zweiten Auflage der Kritik, ist lediglich, dass alle »Veränderungen«, die für uns empirisch erkennbar sind, »nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung« erfolgen. 35 Sie gibt vor, dass jede Erscheinung in Raum und Zeit die Wirkung einer Ursache und selbst die Ursache einer Wirkung ist. Das ist das eine Gesetz im Singular, von dem Kant spricht, der transzendentale Verstandesgrundsatz, unter den alle Gegenstände möglicher Erfahrungserkenntnis notwendig fallen. Die vielen Gesetze im Plural hingegen, die empirischen Gleichförmigkeiten, mit denen raumzeitliche Erscheinungen durch andere verursacht werden und ihrerseits andere bewirken, lassen sich einzig durch Erfahrung auffinden. Spätestens seit der Kritik der Urtheilskraft ist Kant darin eindeutig, doch liest man das schon in der ersten Kritik. 36 Ob es überhaupt regelhafte Vorgänge in der Natur gibt und, wenn ja, ob sie keinerlei Ausnahme kennen, darüber kann nicht in transzendentaler Reflexion befunden werden. Die Struktur unserer Vernunftsubjektivität, die von jener ausgehoben wird, ermächtigt schlichtweg zu keiner Aussage, wie dasjenige sonsthin beschaffen sein mag, was uns von anderswoher, nämlich durch sinnliche Anschauung, gegeben ist. Andere Interpreten argumentieren daher, dass es gar nicht das Beweisziel ist, welches Kant mit dem Kausalprinzip

Vgl. Lovejoy, Arthur O.: On Kant’s Reply to Hume (1906), in: Gram, Moltke S. (Hg.): Kant. Disputed Questions, Chicago 1967, S. 300 f.; Strawson, Peter F.: The Bounds of Sense. An Essay on Kant’s Critique of Pure Reason, London 1966, S. 137 f. 34 Vgl. Thöle, Bernhard: Die Analogien der Erfahrung (A176/B218-A218/B265), in: Mohr, Georg/Willaschek, Marcus (Hg.): Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft, Berlin 1998, S. 281; Höffe, Otfried: Immanuel Kant, München 52000, S. 127. 35 Die missverständliche Formulierung in der ersten Auflage lautet: »Alles, was geschieht […], setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt.« (KrV A 189) 36 Vgl. KrV A 126, 127 f., B 165, 252, 263, 794; Prol IV 318 f., 320; KU V 182 f.; EEKU XX 208 f. 33

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verfolgt, dass nämlich Naturgesetze im Sinne strenger empirischer Regeln existieren. 37 Entsprechend ist der kausale Naturdeterminismus, für den sich Kant ausspricht, zu nehmen. Die zweite Analogie repräsentiert keinen kausalgesetzlichen oder, wie man mit Kant sagen kann, materialen Determinismus. Ein solcher beläuft sich auf die Ansicht, welche Dilthey augenscheinlich präsumiert, dass alles in der Natur in einem solchen Bedingungsverhältnis steht, dass ein bestimmtes x nach einem und dem jeweiligen strikten Gesetz ein bestimmtes y verursacht. Infolge ihrer reflexionslogischen Anlage vermag die Transzendentalphilosophie jedoch lediglich abzustecken, durch welche kategorial geregelten Synthesisleistungen das Subjekt, das sich da auf sich selbst zurückwendet, Ordnung unter den raumzeitlichen Objekten seiner empirischen Erkenntnis ins Werk setzt, nicht aber, um welche Objekte es sich dabei handelt und ob es immer dieselben sind. Es ist dies, so darf man Kants Kennzeichnung des transzendentalen Idealismus als eines rein formalen anstatt materialen Idealismus aufgreifen, 38 ein bloß formaler Determinismus der Natur. Er hält lediglich dafür, dass sämtliche Gegenstände in Raum und Zeit in solch einem Bedingungsverhältnis stehen, dass irgendein x durch irgendein y bewirkt ist. 39 Nicht kann durch das Prinzip der Kausalität garantiert sein, was nach und wegen einer Erscheinung geschieht, sondern nur, dass etwas nach und wegen ihr geschieht. Wohl ist für Kant nichts ohne Ursache, und nichts bleibt ohne Wirkung; doch ist es durch und durch zufällig und Sache der Erfahrung, ob dieselbe Art Ursache ceteris paribus zu derselben Art Wirkung führt oder nicht. Dabei können wir es belassen. Weiter brauchen wir nicht in Kants Kategorienlehre einzusteigen. Insbesondere dürfen wir vernachlässigen, dass Kant auch und namentlich sogar denjenigen Begriff zur Kategorie erhebt, welchen Simmel und andere Fürsprecher einer formal aufgestellten Soziologie sich nachher aneignen werden. Kant nennt ihn den der »Gemeinschaft«, in einem parenthetischen Beck beschreibt das als den schwächeren Grundsatz »every-event-some-cause« im Gegensatz zum stärkeren »same-cause-same-effect«. (Beck, Lewis W.: A Prussian Hume and a Scottish Kant, in: Essays on Kant and Hume, New Haven 1978, S. 111– 129) Siehe auch Paton, Herbert J.: Kant’s Metaphysic of Experience. A Commentary of the First Half of the Kritik der reinen Vernunft, Bd. 2, London 1936, S. 275 ff. 38 Vgl. KrV B 43 f., 52 f., 124 f., 295 f., A 367 ff., B 670 ff. 39 So auch Allison, Henry E.: Kant’s Transcendental Idealism. An Interpretation and Defense, New Haven/London 1983, S. 228 ff. 37

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Zusatz aber erläutert er ihn als »Wechselwirkung zwischen dem Handelnden und Leidenden« (KrV B 106). Dass unter den betreffenden Dingen, dem »Handelnden« und dem »Leidenden«, ein kausales Verhältnis besteht, macht den begrifflichen Nukleus dieser Kategorie aus; nur wird sie zu einem Wechselverhältnis erweitert, so dass der »Handelnde« zugleich der »Leidende« ist und andersherum. Der Begriff der »Gemeinschaft«, wie Kant ihn auseinandersetzt, ist »die Causalität einer Substanz in Bestimmung der andern wechselseitig« (KrV B 111). 40 Was folgt daraus nun für unser Anliegen? Für die begriffliche Scheidung von Sozialem und Natur unter dem Gesichtspunkt der Kausalität? Unschwer sieht man, dass schon vieles vorentschieden ist, je nachdem, welcher Interpretation des Kausalprinzips man anhängt. Bei Dilthey handelt es sich offenkundig um eine materiale Interpretation, die er zwar ohne alle Angabe von Gründen unterstellt, ihn aber in der Folge dahin bringt anzunehmen, dass es in der gesellschaftlichen Welt »keine naturwissenschaftliche Kausalität« gibt. Läuft doch das Geschehen dort nicht oder nicht durchweg, so sein vage formulierter, allerdings nicht unzutreffender Einwand, »nach Gesetzen« – im Plural, nicht im Singular – und »mit Notwendigkeit« – unter Ausschluss aller praktischen Kontingenz – ab. Zwar zeigen menschliche Sozialverbände auch, wie Dilthey einräumt, »Verhältnisse des Wirkens und Leidens, der Aktion und Reaktion«. Jedoch sollen das keine kausalen Verhältnisse »im Sinne dieser Kausalität« sein, derjenigen also, welche auf dem Gebiet natürlicher Entitäten und nur dort ihren Ort hat. Doch selbst wenn man wie Dilthey an das Handeln des Menschen sowie an die Gesellschaft eine schmale Deutung von Kausalität anlegt, die nichts von »Gesetzen« und deren »Notwendigkeit« weiß – und die man auch Simmel und den übrigen Verfechtern einer formalen Soziologie wird zugutehalten müssen –, ist das mitnichten unbeIn einer Fußnote der dritten Kritik nimmt Kant Stellung, warum seine Einteilungen, und dazu zählt bevorzugt die der Kategorien, »fast immer dreitheilig ausfallen« (KU V 197). In der dazugehörigen Tafel der ersten Kritik befasst jede »Klasse« (KrV B 110) genau drei Kategorien oder »Momente« (KrV B 95). Und das soll nun deshalb so sein, weil das dritte »Moment« – in der »Klasse« der Relationskategorien beispielsweise der Begriff der »Gemeinschaft« – einer Verbindung der beiden ersten – darunter der Begriff der »Causalität« – entspringt. Siehe dazu Wolff, Michael: Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel. Mit einem Essay über Freges Begriffsschrift, Frankfurt a. M. 1995, S. 163 ff.

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denklich. Auf diese Deutung will ich mein Hauptaugenmerk lenken. Natürlich geht es mir hierbei nicht darum, das sei unterstrichen, alle pauschal unter Verdacht zu stellen, die in Bezug auf Handlungen oder soziale Verbände sprachliche Ausdrücke aus der Wortgruppe um ›verursachen‹ und ›bewirken‹ gebrauchen. Einzig darum ist es mir zu tun herauszustellen, dass Kausalität nicht gleich Kausalität ist: dass die Sprache dann eine andere Bedeutung ausdrücken, der Kausalbegriff einen anderen Gehalt besitzen muss als im Falle der Natur, und zwar deshalb, weil die Sache selber, die da zu Wort bzw. zu Begriff kommt, eine andere ist. Was ich gegen das Kausalitätsprinzip auch noch in seiner formalen Auslegung einzuwenden haben, zumindest dort, wo es gleicherweise das Gebiet sozialer Erscheinungen beherrschen soll, schöpft aus jener Blickwendung weg von der expliziten und hin zur impliziten Dimension des Menschen, mit der die Sozialontologie nach meinem Dafürhalten erst in ihr Amt eintritt. Familie und Freundschaft, eine Partei oder Klasse, der Staat u. v. a. m., so hat sich gezeigt, werden nicht allein und nicht primär durch Akte des intentionalen Bewusstseins, durch ausdrückliches Wissen oder reflexive Einsichten zusammengehalten, sondern durch ein von unausdrücklichem, reflexiv nicht zwingend eingeholtem Wissen getragenes Können, das in die intentionalen Zustände des Bewusstseins einmündet. In einer Interaktion unter Anwesenden oder einem Text ist wie in jedem sonstigen Sozialkontakt auch dasjenige, was Ego und Alter beitragen, durch den jeweiligen Hintergrund bisheriger Erlebnisse, die im Laufe der Zeit ins Bedenkenlose abgesunken sind, aber dem Einzelnen unverloren nachrücken, vermittelt. Vor diesem Hintergrund verhält er sich, auf ihn verlässt er sich in seinem Verhalten, und durch ihn bestimmen sich dem Akteur seine eigenen sowie die Beiträge des Anderen sinnhaft. An diesem Komplex der Lebenserfahrung muss sich die Ontologie des Sozialen schon deshalb bewähren, weil es ebenso etwas Gemeinsames ist, nämlich die Sitten und Regeln, Standards und Kriterien unseres Mit-, Für- und Gegeneinanders, was da vorgängig gewusst wird und auf dessen Einhaltung sich die Betroffenen verstehen. Von dieser Warte aus erscheint es unglaubhaft, dass alles Handeln der Menschen und die gesamte menschliche Gesellschaft in Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zerfällt. Das entpuppt sich im Gegenteil als eine unangebrachte Verlängerung kausalen Denkens über den Bereich der Natur hinaus und in den des Sozialen hinein. Ich meine damit allerdings nicht Geschehnisse der Art, dass etwa ein 364 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

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Schlüssel zu Boden fällt, weil ich ihn wissentlich loslasse, oder dass eine andere Person stürzt, weil ich sie willentlich stoße. Dabei und bei Ähnlichem handelt es sich unbestritten um Fälle von Kausalität; etwas, das in temporalem Sinne vorhergeht – das Loslassen oder Stoßen –, lässt etwas anderes – das Fallen oder Stürzen – in konditionalem Sinne nachfolgen. Ich will daher nicht der Behauptung das Wort reden, dass Handlungen nichts verursachen, dass in einer Interaktion unter Anwesenden oder sonst irgendeiner gesellschaftlichen Episode so etwas nicht vorkommt. Was ich behaupten will, ist stattdessen: dass Menschen dann und in dem Maße nicht aufeinander einwirken, der eine nicht auf den anderen und noch viel weniger wechselweise, wenn und als ihr Erfahrensein in den Dingen des menschlichen Lebens und damit vorgängige Gemeinsamkeit mit in Funktion ist. Und das aus mehreren Gründen nicht, von denen ich lediglich zwei heraushebe. Erstens spielt neben Egos »Aktion« und Alters »Reaktion« eben noch etwas Drittes eine Rolle. Apriorisches Wissen schiebt sich gleichsam zwischen Ursache und Wirkung, wodurch jene aber aufhören, das zu sein, was sie zu sein scheinen, sprich Ursache und Wirkung. Denn nur wenn Alter sich eine gewisse lebensmäßige Bildung erworben hat und abhängig davon, was diese alles einschließt, trifft Egos »Aktion« auf einen Resonanzboden, durch den sie ihn mit einer bestimmten Bedeutung erreicht, und kommt es zu seiner daran anschließenden »Reaktion«. Ob die Kommunikationsofferte des einen von dem anderen verstanden wird und, wenn ja, wie sie verstanden wird und zu welcher Anschlusshandlung er sich daraufhin versteht, ist nicht durch die Offerte verursacht. Falls man hier überhaupt noch von Kausalität sprechen möchte, was dieselbe Art Dynamik wie in der Natur suggeriert, muss man sich darüber klar sein, dass man es nicht mit einer zwei-, sondern einer dreistelligen Relation zu tun hat. Unsere unthematischen Benommenheiten, dass wir also u. a. mit gemeinsamen Gepflogenheiten von Sprache sowie Mienen, Gesten und Posen vorgängig bekannt und vertraut sind, leistet eine ebenso unvermeidliche wie unerlässliche Vermittlung, so dass derlei ›Kausalität‹ eigentlich eine andere und eigentümliche ist. Wenn sich davon auch das Stürzen einer Person nicht herleitet, heißt das selbstverständlich nicht, dass es sich dabei um kein soziales Ereignis handelt; dass ich sie vorsätzlich stoße, nimmt ja all das sehr wohl in Anspruch. 41 Dass auch natürliche Vorkommnise unser Handeln nicht kausal hervorbringen, dazu findet sich in Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte folgende

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Zweitens bedarf es einer Anwendung unseres apriorischen Wissens, die doch, wie sehr man daran auch gewöhnt ist, fehleranfällig bleibt. Was sich da zwischen eine »Aktion« als vermeintliche Ursache und eine »Reaktion« als angebliche Wirkung schaltet, benimmt diesen umso mehr den Anschein von Ursache und Wirkung, als es sich dabei um den Vollzug einer Fähigkeit handelt, der jedes Mal kontextspezifische Anforderungen zu beherzigen hat und dahingehend misslingen kann. Es mag sich um eine mehr geistige Angelegenheit der Urteilskraft oder eine mehr motorische der Geschicklichkeit drehen, nichts verhütet, dass man hie und da danebengreift. Denn ob Alter auf Egos Kommunikationsofferte hin für die jeweilige Gegebenheit passende Vorkenntnisse richtig, ob er sie falsch oder ob er gar unpassende Vorkenntnisse ansonsten richtig appliziert, ist nicht durch die Offerte bewirkt. 42 Sicher kann ich mein Gegenüber einmal unter Druck setzen, aber ich vermag die erwünschte Anschlusshandlung nicht herbeizuführen, so wie ich den Fall des Schlüssels herbeiführe, indem ich ihn absichtlich loslasse. Das muss den Vorbehalt gegen die für Naturdinge gebräuchliche Rede von Kausalität noch vergrößern, dass jenes dritte Glied einen Akt der Applikation verlangt: dass die »Reaktion«, mit der Alter an Egos »Aktion« anschließt, immer das Zeugnis eines niemals mit letzter Sicherheit zu gewährleistenden Könnens darstellt, seine Erfahrenheit in gesellschaftlichen Verkehrsformen anzuwenden. 43 Zwischenbemerkung: »Die Natur darf nicht zu hoch und nicht zu niedrig angeschlagen werden; der milde ionische Himmel hat sicherlich viel zur Anmut der Homerischen Gedichte beigetragen, doch kann er allein keine Homere erzeugen; auch erzeugt er sie nicht immer; unter türkischer Botmäßigkeit erhoben sich keine Sänger.« (VPG, S. 106) Aus der Natur soll sich keine Kausalität ins Reich des menschlichen Geistes hinein vollziehen. Es sei nicht der »milde ionische Himmel« gewesen, welcher die »Homerischen Gedichte« verursacht hat; für sich allein hätte er dies nicht bewerkstelligen können, tut er das doch seither nicht immer wieder aufs Neue. Hegel will damit sagen, dass natürliche Gegebenheiten in solche Hervorbringungen lediglich einzufließen vermögen im Zusammenspiel mit einer geistigen Geformtheit des Menschen, welche ihn dafür empfänglich sein lässt. 42 Wie auch der Lehrer in Wittgensteins Beispielszene nicht bewirken kann, wie in Kapitel V.4 gesehen, dass sein Schüler infolge der Vorhaltungen, welche er ihm macht, die Zahlenreihe korrekt fortsetzt. 43 So etwas hat auch Heidegger vor Augen: »Wir bedenken das Wesen des Handelns noch lange nicht entschieden genug. Man kennt das Handeln nur als das Bewirken einer Wirkung. […] Aber das Wesen des Handelns ist das Vollbringen. […] Vollbringbar ist […] eigentlich nur das, was schon ist.« (Heidegger, Martin: Brief über den ›Humanismus‹ (1946), in: Wegmarken, GA 9, Frankfurt a. M. 1975, S. 313) Kant etwa

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In dieser Rücksicht ist es, dass sich der Begriff des Sozialen und der der Natur differenzieren lassen. Wenn nämlich Kausalität ein Merkmal von Natürlichem ausmacht, kann Geistiges und Gesellschaftliches nicht auf jenes reduziert werden: Menschliches Handeln und die Gesellschaft der Menschen lassen sich nicht vollauf naturalisieren, sofern sich darin Vorwissen und vorgängige Gemeinsamkeit vollzieht. Schon der Aufbau unseres virtuellen Lebenshorizonts ist kein Geschehen von Ursache und Wirkung; denn weder verursacht ein bestimmtes Erlebnis unausbleiblich irgendeine Wirkung im Geflecht unserer Vorerfahrung, noch wirkt ein Erlebnis zwangsläufig als Ursache und bewirkt irgendeine Vertiefung oder Erweiterung unseres Vorwissens. Genauso wenig ist das beim Einsatz jenes Lebenshorizonts so, da er sich Aktualität erwirbt, indem er in den Vollzug menschlichen Handelns und die Gesellschaft der Menschen ausfließt. Denn kein Ereignis, welcher Art auch immer, löst unabänderlich irgendeine Handlung aus, die ja, anders als der Fall eines Schlüssels oder das Stürzen einer Person, durch den Geist des Akteurs vermittelt ist. Die Reduktion von Sozialem auf Natur tritt in der Regel unter dem Namensbanner des ›Naturalismus‹ an. Dahinter verbergen sich freilich Positionen unterschiedlicher Schattierung. Ein Beispiel bietet die Soziologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die in der Erforschung und Beschreibung sozialer Phänomene den strengen Naturwissenschaften nachzueifern trachtet, etwa das Projekt einer sozialen Physik von Quételet und Comte. In der Folge treten an diese Stelle mehr die biologischen Fächer. Die Adaptierung der Evolutionstheorie an die Sozialwissenschaften durch Spencer, der als Vorläufer des Sozialdarwinismus gilt, zeugt davon ebenso wie die organische Metaphorik bei Durkheim, der zufolge die Gesellschaft als Organismus zu interpretieren ist, ferner die Soziobiologie in der Mitte des 20. Jahrhunderts und die in unseren Tagen durch Resultate der modernen Hirnforschung inspirierte Lehre einer neurologischen Deterfasst den menschlichen Willen in der Begrifflichkeit der Kausalität. Danach verursacht unser Wille etwas, wenn er ausgeübt wird, und er wird seinerseits auf kausale Weise bestimmt; dass er auf einen Gegenstand abzielt, ist durch etwas bewirkt. Demgegenüber weist Heidegger darauf hin, dass sich im Wollen und Handeln des Menschen Erfahrung, welche man nicht macht, sondern schon hat, zur Geltung bringt. Gegen Kant gewendet soll folglich weder das Verhältnis zwischen dem Bestimmungsgrund des Willens und seiner Bestimmung zu einem Objekt noch das zwischen dem bestimmten Willen und seiner Ausübung ein kausales sein.

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miniertheit menschlichen Verhaltens. Zusammenfassen lassen sich diese Strömungen dahingehend, dass sie Soziales für vollständig erklärbar halten mittels naturwissenschaftlicher Methoden und Kategorien. 44 Tragbalken solch einer Prätention auf Alleinerklärung ist ein reduktives Konzept des Sozialen. Das Verhalten und die Gesellschaft der Menschen sollen im Prinzip natürliche Vorgänge und Gebilde und als solche von denselben Gesetzmäßigkeiten beherrscht sein. 45 Zuweilen wird die Reduktion aber auch nach der anderen Richtung vertreten. Die Vorstellung ist dann, dass dasjenige, was Natur zu sein scheint, eigentlich nichts anderes ist als etwas Soziales. Ein solcher reduktiver Begriff der Natur ist beispielsweise in Luhmanns Theorie sozialer Systeme vorhanden. 46 Diese tritt mit universalem Anspruch auf. Jeder zwischenmenschliche Kontakt soll als System begriffen werden, bis hin zur Gesellschaft als dem Inbegriff aller Kontakte. Das heißt im Wesentlichen, dass jedes kommunikative Ereignis vorgeformt ist durch die Spielräume der jeweiligen Kultur, die es seinerseits fortbildet. Allerdings nimmt Luhmann die Erinnerung daran geradewegs als Gewähr für eine äußerst radikale erkenntnistheoretische Schlussfolgerung. Aufgrund unseres Befangenseins in kultureller Partikularität, meint er mit einem non sequitur, hätten wir niemals Zugang zu einer davon unabhängigen Wirklichkeit. Diese sei ausnahmslos sozial konstruiert. Das schließt auch die Natur ein; Luhmanns technischer Ausdruck dafür ist ›Umwelt‹ des GesellschaftssysBei den meisten modernen naturalistischen Ansätzen steht nicht die Natur im Vordergrund, sondern der wissenschaftliche Zugang dazu. Natur ist danach, was auch immer die Naturwissenschaften dank ihrer Verfahren zur Erkenntnis bringen können. Vgl. Moore, George E.: Principia Ethica (1903), Cambridge 81959, § 26; Cohen, Hermann: Biographisches Vorwort, in: Lange, Friedrich A.: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Iserlohn/Leipzig 1887, S. x) Siehe dazu Keil, Geert/Schnädelbach, Herbert: Naturalismus, in: Dies. (Hg.): Naturalismus. Philosophische Beiträge, Frankfurt a. M. 2000, S. 12 f. 45 So stellt etwa Wilson in Aussicht, »that all tangible phenomena, from the birth of stars to the workings of social institutions, are based on material processes that are ultimately reducible, however long and tortuous the sequences, to the laws of physics.« (Wilson, Edward O.: Consilience. The Unity of Knowledge, New York 1998, S. 266) 46 Vgl. Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1990, S. 110, 510, 516; Das Erkenntnisprogramm des Konstruktivismus und die unbekannt bleibende Realität, in: Konstruktivistische Perspektiven, Opladen 1990, S. 33, 50 f.; Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2000, S. 88 f.; Die Realität der Massenmedien, Opladen 21996, S. 16. 44

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tems. Diese entpuppe sich bei näherem Zusehen ebenfalls als gesellschaftliche Konstruktion. Was uns als natürlich gilt, sei bloß das Konstrukt kultureller Beobachtungs- und Beschreibungspraxen. 47 Ein ähnlicher Sozialkonstruktivismus, der glaubt, dass nicht nur das Erkennen, sondern auch das Erkannte eine soziale Konstruktion ist, findet sich darüber hinaus bei Nelson Goodman. 48 Dieser versteht in Ways of Worldmaking aus dem Jahre 1978 sowie in nachfolgenden Publikationen Wahrheit als einen Fall von Richtigkeit (rightness) und diese wiederum als das Passen in (fitting) einen gesellschaftlichen Kontext. Es sollen die jeweiligen sozialen Zusammenhänge sein, welche darüber entscheiden, was der Fall ist und was nicht. 49 Ohne diese Beispiele weiter auszuführen, muss nach dem, was im Vorstehenden dargelegt wurde, jedoch zugleich das Umgekehrte gelten. In Rücksicht auf den Erfahrungshorizont des Menschen lassen sich Soziales und Natur sehr wohl begrifflich differenzieren. Wenn natürliche Ereignisse kausale sind, können sie nicht auf geistige und gesellschaftliche reduziert werden: Sofern sie keine Vorerfahrung und keine vorgängige Gemeinsamkeit einbegreifen, lassen sie sich nicht vollends auf soziale Ereignisse zurückführen.

2.

Weiter zugespitzt: Natur in der gegenständlichen Erkenntnisweise moderner Erfahrungswissenschaft

Ich habe mir das Ziel gesetzt, den Nachweis zu erbringen, dass im intentionalen Verhalten des menschlichen Bewusstseins nicht nur zu bestimmten, nämlich bedeutungstragenden, Phänomenen, sondern zu allen Phänomenen überhaupt, auch wenn sie keine Bedeutung in sich tragen, dasjenige wirksam ist, was ich im Begriff der Lebenserfahrung und dem vorgängiger Gemeinsamkeit gefasst habe. Dafür Siehe dazu eingehender Zimmermann, Stephan: Erkennen und Machen. Luhmann und Boghossian über Tatsachen-Konstruktivismus, in: Gabriel, Markus (Hg.): Skeptizismus und Metaphysik, Berlin 2011, S. 131–153; Metzner, Andreas: Probleme sozio-ökologischer Systemtheorie. Natur und Gesellschaft in der Soziologie Luhmanns, Opladen 1993, S. 174 ff. 48 Die Rede von sozialem Konstruktivismus geht zurück auf Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: The Social Construction of Reality. A Treatise in the Sociology of Knowledge, New York 1966. 49 Vgl. Goodman, Nelson: Ways of Worldmaking, Hassocks, Sussex 1978, Kap. 7. Siehe auch Latour, Bruno/Woolgar, Steve: Laboratory Life. The Social Construction of Scientific Facts, Beverly Hills 1979. 47

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habe ich mich dem Sachbereich der Natur zugewandt, weil die Natur als das Gegenteil von menschlichem Geist und der Gesellschaft der Menschen gilt. Dass sie auch zu Recht als Gegenteil gelten darf, habe ich soeben unter einem und nur einem Gesichtspunkt, namentlich dem der Kausalität, entwickelt. Das bildet insofern einen extremen Fall, an dem sich dasjenige, was ich nachweisen möchte, nachweisen lassen muss, dass nämlich das Bewusstsein des Menschen selbst dort noch ein soziales Moment aufweist, wo es sich zu etwas verhält, das selber nichts Geistiges und nichts Gesellschaftliches ist, und zwar natürliche Gegebenheiten. Daran lässt sich nun anknüpfen. Denn diesen Extremfall kann man sogar noch weiter zuspitzen. Ohne Mühe fällt auf, dass die Natur, deren Beschreibung und Erklärung uns Physik, Chemie, Biologie und andere neuzeitliche Naturwissenschaften anbieten, insofern eine von Menschen ungeformte ist, als sie nicht qua Bestandteil der geistigen und gesellschaftlichen Welt in Betracht kommt, in der wir miteinander arbeiten, füreinander sorgen und gegeneinander streiten sowie nebeneinanderher leben oder ohneeinander auskommen. Sicher, das Wissen, welches Physik, Chemie, Biologie usf. produzieren, kommt wie das der Sozialwissenschaften auch inmitten der menschlichen Gesellschaft vor. Es hat seinen Platz innerhalb des vielgestaltig administrierten Betriebs der Wissenschaft. Jedoch erstreckt sich dieses Wissen bloß auf die physischen, chemischen und biologischen Eigenschaften der Dinge und lässt alles Restliche unbeachtet, etwa deren nach Epochen und Kulturen variierendes Einbezogensein in unser Mit-, Für- und Gegeneinander sowie auch unser Neben- oder Ohneeinander. 50 Nicht sind erst die einzelnen Fachdisziplinen einseitig, da sie ihre Gegenstandsgebiete nach deren jeweils besonderer Artung gegeneinander absondern und sich darin einrichten. Die Naturwissenschaften nehmen als solche aus dem, was es gibt, das heraus und erheben es zum Thema ihrer Arbeit, was etwas Natürliches ist, und zwar soweit es etwas Natürliches ist: Sie sind einzig den physischen, chemischen, biologischen und sonstigen Eigenschaften der Dinge auf der Spur. 51 Freilich muss das nicht heißen, dass sich über die nämliSo auch Kondylis, Panajotis: Das Politische und der Mensch. Grundzüge der Sozialontologie, Bd. 1: Soziale Beziehung, Verstehen, Rationalität, Berlin 1999, S. 123. 51 Dass die Naturwissenschaften wie alle Wissenschaften überhaupt auf Abstraktion und Spezialisierung beruhen, ist eine communis opinio unter den Soziologen der ersten Stunde. Vgl. Durkheim, Émile: Les règles de la méthode sociologique (1895), a. a. O., S. 3; Weber, Max: Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpoli50

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chen Dinge nicht noch mehr sagen ließe. Doch worauf das Erkennenwollen des Forschers ausgreift, ist stets ein aus der einigen, durchlaufenden Lebenswirklichkeit des Menschen und der Gesellschaft Herausgelöstes. Das belebte und unbelebte Universum macht bei Weitem nicht die ganze Realität aus, aber der Naturforscher berichtet davon nur unter Aussparung von dessen geistigem und gesellschaftlichem Einbezogensein. 52 Allerdings habe ich etwas anderes im Auge. Es betrifft nicht dasjenige, was da in den Naturwissenschaften zur Erkenntnis kommt, sondern die besondere Art und Weise, wie sich naturwissenschaftliches Erkennen vollzieht. Denn nicht nur, dass Natürliches, insofern es etwas Natürliches ist, nichts Soziales ist und als ein solches nicht in den Untersuchungsbereich der Sozialwissenschaften fällt. Die moderne Idee von Wissenschaft als Erfahrungswissenschaft, wie sie zuerst von Francis Bacon gedacht wird, ist entscheidend von einer methodologischen Vorstellung beherrscht. Der zufolge wird das Studium der Natur, welcher bei Bacon noch das alleinige Interesse gilt, erst zu einem wissenschaftlichen, wenn es daraus seine Wegleitung bezieht und sich natürliche Phänomene auf eine gewisse Weise gegeben sein lässt, um sie zu erfassen. Infolgedessen sollen sich die Urteile, zu denen man es zu bringen hoffen darf, Objektivität und intersubjektive Nachprüfbarkeit auf ihre Fahnen schreiben können. Das ist es, worin eine Zuspitzung der Zuwendung zum Sachbereich der Natur liegt, dass sich nämlich das menschliche Bewusstsein nicht irgendwie, sondern auf eine besondere Art zu natürlichen Gegebenheiten verhält. Die neuzeitliche Auffassung von Wissenschaft hat sich seit dem 15. und 16. Jahrhundert im Zuge der Entstehung und Etablierung der experimentellen und mathematischen Erforschung der Natur geformt. Das Auftreten dieser Gestalt von Wissenschaft vollzieht einen nachhaltigen Bruch mit dem Erbe des griechischen und mittelalterlichen Denkens über die Wissbarkeit der Welt; sie ist von der ἐπιστήμη sowie der disciplina, doctrina oder scientia wesenhaft verschieden. Unter Absehung von tradierten Schulmeinungen antiker Autoritäten und auf göttliche Offenbarung bezugnehmenden Deutischer Erkenntnis, a. a. O., S. 45; Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, a. a. O., S. 4. 52 Janke verfolgt diese Beschneidung des Naturbegriffs als ein Hauptmoment der von ihm diagnostizierten historisch fortschreitenden Präzisierung der menschlichen Lebenswelt bis in die griechische Antike zurück. Vgl. Janke, Wolfgang: Kritik der präzisierten Welt, Freiburg/München 1999, S. 76 ff.

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tungsmustern (der aus der Scholastik herkommenden Manier des Argumentierens) entwickelt sich durch die Arbeiten insbesondere von Galileo Galilei, Johannes Kepler und Isaac Newton auf verschiedenen Teilgebieten jene Ansicht über die Wissenschaftlichkeit menschlichen Wissens, die auch heute noch in unseren Naturwissenschaften sowie weit darüber hinaus in Geltung ist und für deren ungeheure Errungenschaften verantwortlich zeichnet. 53 Bei den großen Forschern und Denkern des 17. Jahrhunderts kommt dieser neuartige Erkenntniswille allmählich zu sich selber. Eindrückliches Dokument der szientifischen Aufbruchsstimmung und zugleich die durchschlagende literarische Eröffnungsgeste neuzeitlicher Wissenschaft ist Bacons theoretisches Hauptwerk aus dem Jahre 1620, das Novum organum scientiarum. Darauf will ich mich so weit, wie hier möglich und nötig, einlassen. Denn dort findet sich diejenige methodische Auffassung von Erfahrungswissenschaft vorgebildet, daraus Durkheim später, wie bereits gesehen, wesentliche Anregungen für seine sozialwissenschaftliche Methodenreflexion bezieht, ja die er sich nahezu eins zu eins zu eigen macht. 54 Infrage steht aber nicht, ob die vom Methodendenken des 19. Jahrhunderts postulierte Arbeitsweise der Sozialwissenschaften, welche bei Durkheim zu programmatischer Formulierung gelangt, mehr ein den Naturwissenschaften nachgearbeitetes Klischee ist, ein Ergebnis eilfertiger Anverwandlung naturwissenschaftlicher Wissenschaftstheorie. Schon gar nicht will es mir in den Sinn kommen, die Unerlässlichkeit und den Erfolg disziplinierten Arbeitens innerhalb der einen wie der anderen Disziplinengruppe in Abrede zu stellen. Damit hat ja die Frage, der ich nachgehe, gerade zu tun. Die Wissenschaft der Moderne soll nach Bacon ihre vorzügliche Aufgabe nicht mehr in der sterilen Bewahrung und pedantischen Klärung einmal erreichter Erkenntnis sehen. So lautet die elementare Trotz der Fülle an Literatur zu diesem Thema bleibt Blumenbergs einschlägige Arbeit unvermindert bestechend. Vgl. Blumenberg, Hans: Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1966, S. 201 ff. 54 Einzig dafür war Bacon kein Vordenker, dass die Natur einen durch messbare Größen bestimmten Sachbereich darstellt und mit der einer quantifizierenden Erkenntnisweise eigenen mathematischen Exaktheit zum Wissen zu bringen ist. Diesem Umstand tun auch Horkheimer und Adorno Erwähnung, die in Bacon den ersten Ahnherrn jener unheilvollen Aufklärung aus dem Geiste instrumenteller Vernunft wittern. Vgl. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947, S. 14. 53

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Anklage gegen die Scholastiker und deren Vertrauen in die Leistungsfähigkeit deduktiven Philosophierens. Die gängige Polemik, die sich in der Epoche beginnender Naturwissenschaft gegen die Bürde des überlieferten Aristotelismus regt, wird hier aufgerufen. Von jenem stößt sich Bacon ab, um das Tor zu einem neuen, dem wissenschaftlichen Zeitalter der Menschheitsgeschichte aufzustoßen. Diesseits der abgestandenen Bücherweisheiten der Schule, deren sklavische Nachbetung Degeneration bedeutet, und den immer spitzfindigeren Spielereien von Begriffskünstlern, die selbstgefällig an der Wirklichkeit vorbeigrübeln, dringt er auf Auffrischung und Ausweitung des Wissens anhand anderer, unverbrauchter Quellen: auf die rastlose Suche nach dem noch nie Gesehenen, nach neuen Einsichten und Wahrheiten und einer beständigen Wiederbegutachtung bisheriger Resultate unter dem Lichte solcher innovativen Entdeckungen. 55 Doch ist selbstredend nicht jede Suche nach Neuem schon Wissenschaft. Was bei Bacon aufkommt, ist ein umwälzender Gedanke von der Methode genuin wissenschaftlicher Bemühungen um Gewinnung und Mehrung der Erkenntnis durch empirische Erfahrung. Es muss, schreibt er, »eine andere Methode [methodus], Ordnung und Abfolge bei der Fortsetzung und Beförderung der Erfahrung eingeführt werden. Denn eine planlose, nur sich selbst überlassene Erfahrung ist […] ein bloßes Herumtappen, das die Menschen nur betäubt, anstatt sie zu belehren. Wenn aber die Erfahrung nach einer sicheren Regel [lege certa] voranschreitet, lässt sich Besseres für die Wissenschaften [scientiis] hoffen.« 56

Die Entwicklung dieser »andere[n] Methode«, welche Bacon leistet, setzt mit der Lehre von den Idolen des menschlichen Geistes (humanae mentis idola) ein. Dabei handelt es sich als dem ersten Baustein der von Bacon intendierten großen Erneuerung der Wissenschaft um eine Theorie befangenen Denkens. Idole sind »falsche Begriffe [notiones falsae], die vom menschlichen Verstand […] Besitz ergriffen haben und tief in ihm wurzeln« 57. Sie sollen das Bewusstsein der Menschen in Beschlag halten und den Zugang zur Wahrheit versperren. Die Last dieser lebensgeschichtlich unvermeidbar anfallenden, für gewöhnlich unbemerkten, darum aber nur umso hartnäckiger Vgl. Krohn, Wolfgang: Einleitung, in: Bacon, Francis: Neues Organon, Bd. 1, Hamburg 21999, S. xxiv ff. 56 Bacon, Francis: Neues Organon, Bd. 1, Hamburg 21999, § 100, S. 219. 57 Ebd., § 38, S. 99. 55

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fortwährenden Vormeinungen – wozu auch angelesene gehören, zumal die im Urteil der Zeit hohltönenden Lehrsätze der Scholastiker – muss abstreifen, wer zu echtem Wissen von der Welt aufbrechen will. Erste und stetige Pflicht des Forschers ist, so Bacon, die »Reinigung des Geistes« 58 von seinen Idolen: »Mit festem und feierlichem Entschluss hat man ihnen allen [omnia] zu entsagen [abneganda] und abzuschwören [renuncianda]. Der Geist muss von ihnen gänzlich befreit und gereinigt [omnino liberandus et expurgandus] werden, so dass kein anderer Zugang zum Reich des Menschen besteht, welches auf den Wissenschaften gegründet ist, als zum Himmelreich, in welches man auch nur als Kind [sub persona infantis] eintreten kann.« 59

In Bacons Himmelreich der Wissenschaft findet man nur in Gestalt eines unvorbelasteten Kindes Einlass. Die Wissenschaftlichkeit des Wissens wird bei ihm zu einem durch bestimmte Vorkehrungen zu erreichenden Ergebnis: zu einer Funktion des richtigen Herangehens. Wir selber sind es, in deren Händen die verheißungsvolle Möglichkeit von Aufklärung und Fortschritt liegt. Nicht das Zutreffen eines Urteils als solches, die methodische Sicherung erst gibt ihm seine szientifische Dignität. Die klassische Methodengesinnung der neuzeitlichen Naturwissenschaft behauptet, dass wir dank der Anwendung wissenschaftlicher Zugangsweise imstande sind, uns zuverlässig über die betreffende Sache zu informieren. Das aber heißt, dass das Thema wissenschaftlicher Fragestellungen fortab durch die Bedingung methodischer Wissbarkeit definiert und begrenzt ist. Gewusst werden im vollwertigen Sinne kann lediglich, was nach gewissen Grundsätzen der Handhabung erforschbar ist. Und das sind für Bacon die Gesetzmäßigkeiten der Kräfte und Ursachen des Naturgeschehens. Wissenschaft ist ihm bedeutungsgleich mit Naturwissenschaft; die instauratio magna, welche er anbahnt, betrifft allein die scientia naturalis. 60 Ebd., § 69, S. 147. Ebd., § 68, S. 145. Bacon verweist hier auf das Lukas-Evangelium: »Wer nicht das Reich Gottes annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.« (Lk 18,17) 60 Vgl. Bacon, Francis: Neues Organon, Bd. 2, Hamburg 21999, § 2, 9. Die Gesetze, die in der Natur am Werk sind, sollen sich, darin besteht der zweite und positive Baustein von Bacons Methodik, induktiv aufdecken lassen, im Wechselspiel der Aufstellung von Hypothesen und der Durchführung von Experimenten. (Anders Hesse, Mary: Francis Bacon’s Philosophy of Science, in: Vickers, Brian (Hg.): Essential Articles for the Study of Francis Bacon, Hamden 1968, S. 119.) Damit will sich Bacon von dem seinerzeit herrschenden, an die logischen Schriften des Aristoteles, dem sog. Orga58 59

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Etwas auf methodisch-wissenschaftliche Art untersuchen meint jedoch nicht, nach diesem anstelle von jenem konkreten Procedere aus einem breiten Arsenal geregelter Verfahren vorzugehen, induktiv etwa statt deduktiv, experimentell statt quellenkritisch. So etwas versteht man ja herkömmlicherweise unter einer Methode. Doch diejenige »sichere Regel«, deren Befolgung bei Bacon zur wissenschaftlichen Signatur menschlichen Wissens aufsteigt, ist eine durchaus unspezifische, eine, die es nur in der Einzahl gibt. Sie besteht in der generellen Forderung: einen jeden Erkenntnisschritt unter der Obhut des Selbstbewusstseins zu vollziehen. Denn damit die Vorurteile, welche wir je mitbringen und die Bacon als Idole apostrophiert – wozu in letzter Konsequenz auch noch die bisherigen wissenschaftlichen Durchbrüche zählen, insbesondere wenn sie im Laufe der Zeit ins Unauffällige unhinterfragter Überzeugungen zurückgesunken sind, und sogar die etwaigen Verwertungsinteressen, durch welche die Wissenssuche des einzelnen Wissenschaftlers motiviert sein mag –, sich nicht vorauslaufend vor die Dinge schieben und deren Interpretation antizipieren, müssen wir uns gegen sie wappnen. Wir müssen ihrer so weit wie möglich innewerden. Der Idole inne, können wir uns nämlich zu ihnen verhalten, können sie in die Schwebe bringen, ihren Wahrheitsgehalt infrage ziehen und ihre selbstverständliche Geltung bis auf Weiteres suspendieren. Das aber bedeutet, dass wir den Phänomenen, mit denen wir jeweils zugange sind, im Stande empirischer Unvoreingenommenheit gegenüberzutreten vermögen. Das ist die Zuversicht, die auf der Methode ruht, dass sie Objektivität herstellt. Objektivität ist wohlgemerkt nicht dasselbe wie Wahrheit oder Gewissheit. Sie ist vielmehr der neue Startpunkt, von dem aus jene anzupeilen sind. Wissenschaft durch Objektivität definieren heißt die Anforderungen ändern, die erfüllt sein müssen, damit das erlangte Wissen als ein wissenschaftliches akzeptiert werden kann. Indem der Erkennende die überlieferten Lehren der Alten und die religiösen Glaubenssätze der Kirche ebenso sehr wie seine eigenen zufälligen Alltagsbegriffe, nach deren Maßgabe ihm die Sachen normalerweise erscheinen, sorgsam von diesen fernhält, soll er non, angelehnten Vorgehen der Scholastiker auch insofern absetzen, als diese unausgewiesene Prinzipien als Letztprämissen voraussetzen sollen, was ihre Konklusionen völlig nutzlos für die Entdeckung von Neuem und Unbekanntem mache (vgl. Bacon, Francis: Neues Organon, Bd. 1, a. a. O., § 8, 11, 14, 18, 24, 63, 67 und passim). Siehe dazu Malherbe, Michel: Bacon’s Method of Science, in: Peltonen, Markku (Hg.): The Cambridge Companion to Bacon, Cambridge 1996, S. 78 ff.

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die betreffenden Sachen in ihrem Ansich ergreifen und durch die ganze Beirrung hindurch festhalten können, die von der Macht der eingefahrenen notionum vulgarium oder praenotionum doch unaufhörlich ausgeht. Sich jener »Begriffe zu entledigen«, heißt nichts anderes, so Bacon, als »anzufangen, mit den Dingen selbst vertraut zu werden [cum rebus ipsis consuescere]« 61. Das Forscherdasein der Zukunft soll sich demzufolge über jede äußere Schulung hinaus durch strenge Selbstbeherrschung auszeichnen. Jene ist mit wachsamem Gewissen zu üben, um so von keiner subjektiven Beimischung getrübt ersehen zu können, was wirklich da ist. Objektivität ist eine durch Ausschaltung der Vorprägung unserer Erfahrung und damit durch weitestgehend voraussetzungslose Neutralität ausgezeichnete Blickstellung. Objektiv sein bedeutet mit Bacon: den forschenden Blick zurücknehmen auf reine, vorurteilsfreie Rezeptivität, das eigene Selbst des Betrachters und seine Tendenz zu typisierenden, interpretierenden, vereinfachenden Vorwegnahmen in Schach halten zugunsten einer Offenheit für die Dinge, in der sich diese ganz in Ansehung ihrer selbst zeigen können. Objektives Wissen ist eines, das aus dem nur geschöpft ist, davon es Wissen ist (oder zu sein beansprucht), und nicht unter dem Einfluss des jeweils wissenden Subjekts steht. 62 Und das Methodenideal, das Bacon für die Naturwissenschaften aufrichtet, erblickt im Voranschreiten unter bewusster Selbstkontrolle zugleich dasjenige Erkenntnisinstrument, welches die intersubjektive Nachprüfbarkeit von Aussagen verbürgt. Die Methode soll ja den, welcher sich ihrer bedient, dergestalt an sein Ziel bringen, dass Bacon, Francis: Neues Organon, Bd. 1, a. a. O., § 36, S. 99. Für die Rede von »Dingen selbst« siehe auch § 50, 84, 94, 115, 124. Daston und Galison zeichnen das Aufkommen von Objektivität als der wissenschaftlichen Grundtugend anhand der Praxis bildgebender Verfahren nach, wo sich diese Idee seit den 1860er Jahren nachweisen lasse. In Wahrheit aber ist diese Forderung ungleich älter und geht eben bereits auf Bacon als den theoretischen Gründervater der modernen Naturwissenschaft zurück. Vgl. Daston, Lorraine/Galison, Peter: Objectivity, New York 2007. 62 Vgl. Mulkay, Michael: Science and the Sociology of Knowledge, London 1979, S. 42 ff. Im Anschluss an Bacon hat auch Descartes in seinem Discours de la méthode (1637) vertreten, dass die Dispensierung aller Überzeugungen, welche nicht auf Einsicht beruhen, das Tor sei, durch welches man Eingang in die Wissenschaft findet (vgl. AT VI 11 ff.). Anders als Bacon beabsichtigt Descartes jedoch, alles menschenmögliche Wissen auf solche Weise zu errichten (vgl. AT VI 19). Er glaubt diese Vorstellung von Methode nicht mehr an eine besondere Materie wie die Natur gebunden, sondern erblick in ihr das Spezifikum von Wissenschaft katexochen (vgl. AT VI 21). 61

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er gerade nicht sich selber im Resultat wiederfindet. Indem er den Einfluss unwillkürlicher Einfälle und die naive Beschränktheit unmerklicher Denkgewohnheiten auf seine Begriffssuche zurückdrängt, soll das den Forscher seine Begriffe nicht nur unparteiisch aus den Sachen selber schöpfen lassen: Anderen Forschern bleibe es möglich, ihm auf diesem Pfad ein übers andere Mal zu folgen und zu denselben Ergebnissen zu kommen oder diese durch bessere Einsicht in die Phänomene umzustoßen. Bacon denkt folglich, was als wahrhaftiges Wissen gelten darf, als das Produkt eines Vorgehens, das durch die Möglichkeit wiederholbaren Nachgehenkönnens besticht. Die Eliminierung der breitgefächerten, biographisch bestimmten und gesellschaftlich geprägten Kenntnisse führe zu einer selbstlosen Universalität des Erkennens, zu einer vom jeweils erkennenden Subjekt ablösbaren Beschreibung der Realität und einem bleibenden Bestand des Wissens, in den sich auf lange Sicht alle zu teilen vermögen. Wissenschaftlichkeit kann eine Erfahrung und das aus ihr entspringende Urteil laut Bacon allein dann reklamieren, wenn sie uns »mit den Dingen selbst vertraut« macht und daher jederzeit einer anonymen Überprüfung durch prinzipiell jedermann offensteht. 63 Was damit angezeigt ist, lässt sich für unsere Zwecke aufbereiten. Ich will, was daran das Entscheidende ist, auf die folgenden vier Punkte bringen. Erstens fällt einem dasjenige, was ist, keineswegs von sich aus so zu, wie Bacon verlangt. Die Dinge gehen uns nicht nur und nicht unmittelbar in der beschriebenen Form an, wenn sie auch noch so handfest da sein mögen. Das ganz an die Phänomene weggegebene Auge sieht derlei gar nicht. Diesen muss allererst die Gelegenheit verschafft werden, sich derart zu zeigen. Und es ist an uns, dies zu tun. Wir haben uns auf bestimmte Weise zu ihnen zu stellen: Wer wissenschaftlich erkennen will, soll der betreffenden Sache durch Die Freiheit von Vorurteilen ist für Bacon nicht nur Voraussetzung, sondern auch Ergebnis der Wissenschaft. Diese befreit, wenn ihre Resultate zum Allgemeingut werden, die Gesellschaft von einstigem Un- oder Halbwissen. Aber sie ist dazu nur unter der Bedingung in der Lage, dass der einzelne Wissenschaftler sich im Voraus davon freimacht, um überhaupt zu echten Resultaten zu gelangen. Letzteres geht die Methode der Forschung an, ersteres bekundet Bacons Optimismus, durch kontinuierliche Forschung eine kumulative Vermehrung des Wissens zu erzielen, bis hin zu jenem Höhepunkt, da alle irrigen Meinungen überwunden sind und alles Wissbare tatsächlich ins Wissen erhoben ist. Siehe dazu Bacons Utopie einer wissenschaftlich strukturierten Gesellschaftsordnung in Bacon, Francis: Neu-Atlantis, Stuttgart 2007.

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eine spezifische Form des bewussten Sich-darauf-richtens die Möglichkeit einer dementsprechenden Art des Gegebenseins bereiten. Den Ausdruck ›Art des Gegebenseins‹ borge ich von Gottlob Frege, der in seiner Sprachphilosophie den Sinn eines Zeichens als die »Art des Gegebenseins des Bezeichneten« 64 begreift. Anders als Frege allerdings fasse ich die Begegnungsweise von etwas bewusstseinstheoretisch, d. h. als Folge einer zugrunde liegenden Leistung des Bewusstseins, darauf aufzumerken und sich darauf zu beziehen (wie auch das Wahrnehmen und Halluzinieren, Erwarten, Erinnern, Beabsichtigen usw. eine Bewusstseinsleistung darstellt). Nichts ist per se in der für die Wissenschaft kennzeichnenden Weise für mich da, und nicht alles, was ist, erscheint mir auf solche Weise, wenn es vielleicht auch dahin gebracht zu werden vermag. Etwas kann uns überhaupt nur und nur in dem Maße so begegnen, wenn und als wir es uns so begegnen lassen. Zweitens ist die betreffende intentionale Form (anders als beim Wahrnehmen und Halluzinieren, Erwarten, Erinnern, Beabsichtigen etc.) die des Entgegensetzens. Die vorherige Bewusstseinsleistung des Aufmerkens und Sichbeziehens geht in eine andere über. Etwa mag das oftmals ungebrochene Aufgehen in routinemäßigen lebensweltlichen Zusammenhängen auseinanderbrechen, weil man z. B. an etwas Anstoß nimmt, eine Sache sich nicht mehr von selbst versteht, defekt ist, fehlt, gründlicher als bisher durchleuchtet oder überhaupt erst entdeckt werden soll. Nicht die Glätte des Gewohnten, Reibung an Fremdem regt die Bereitschaft zu einer in sich gespannten Aufmerksamkeit an. 65 Das vormals mehr oder minder selbstverlorene Hingegebensein kommt dann eigens auf sich zurück, an seine Stelle, oder was auch immer vorhergegangen ist, tritt eine selbstbewusste Distanznahme. Wer es wissenschaftlich mit etwas zu tun hat, der muss stets auch sich selber mit im Blick haben. Er soll auf die Dinge schauen, indem er sie vorstellt, sie in ein Verhältnis zu sich setzt, also Frege, Gottlob: Über Sinn und Bedeutung, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 100/1 (1892), S. 26. 65 Wie Dewey zeigt, provozieren verschiedenartige Störungen unserer routinierten Handlungsabläufe, die sonst in ihre vertraute Unauffälligkeit gehüllt bleiben, schon im Alltag reflexive Akte der Selbstauslegung. Vgl. Dewey, John: Qualitative Thought, in: Philosophy and Civilization, New York/London 1931, S. 93–116; Logic. The Theory of Inquiry, New York 1938. Siehe dazu Pape, Helmut: Deweys Situation. Gescheitertes Handeln, gelingendes Erkennen und das gute Leben, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 34/3 (2009), S. 331–352. 64

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im eigentlichen Wortsinne vor sich hinstellt: indem er mit ihnen auch sich selbst betrachtet, wogegen sie als Gegenstände zur Abhebung kommen, als etwas also (hier darf man die Sprache beim Wort nehmen), was einem gegenübersteht. Entgegenzustehen macht für Bacon die Gegebenheitsart von Dingen aus, wenn sie für den Wissenschaftler sind. 66 Sicherlich kann in der Sprache der Philosophie ein jegliches ›Gegenstand‹ oder sonst wie heißen, das nur nicht nichts ist. Dagegen ist gar nichts einzuwenden. Das Wort nennt dann alles, was überhaupt ist und worauf man Bezug nehmen kann: das Thema eines Gesprächs oder einer Abhandlung, das Sujet eines Gemäldes, etwas, womit sich das Denken beschäftigt oder worauf das Wollen ausgeht usw. 67 Und nach dieser Bedeutung wäre auch Soziales und gar das Soziale ein Gegenstand inter alia, wenn anders es überhaupt nur etwas ist. Doch dieser Objektbegriff, der sich differenzlos über alles erstreckt, verdeckt gerade einen maßgeblichen Unterschied, auf den es ankommt. Der Gegenstandsbegriff soll mir einen nichttrivialen, und zwar methodischen Sinn haben. Wenn es in der modernen Philosophie des Öfteren auch eine geradezu selbstverständliche Voraussetzung des Erkenntnisbegriffs ist, dass es Objekte sind, die wir erkennen, will ich Objektsein als nur ein mögliches Wie des Begegnens von Realem verstehen, und das infolge einer dementsprechenden attentionalen Modifikation, mit der man darauf zutritt: In der Hinwendung zu etwas wird dieses als Gegenstand, als das andere desjenigen gesetzt, der sich da zu etwas hinwendet und so sich selbst mitgegeben ist. 68 Das seit dem 14. Jahrhundert bezeugte lateinischstämmige Fremdwort ›Objekt‹ bringt die aktive Beteiligung des Erkennenden besser zum Ausdruck als die deutsche Übersetzung ›Gegenstand‹, die im 18. Jahrhundert entsteht. Ist doch obiectum das substantivierte Neutrum des Partizip Perfekts von obiacere, welches wörtlich übersetzt entgegenwerfen heißt. Objekt also ist wörtlich ein Entgegengeworfenes. Vgl. Georges, Karl E.: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Bd. 2, Hannover 81918, Sp. 1242 f. 67 So etwa Gabriel, Markus: Die Erkenntnis der Welt. Eine Einführung in die Erkenntnistheorie, Freiburg/München 2012, S. 231, 237, 241, der als Vorläufer seiner »formalen Gegenstandstheorie« anführt Carnap, Rudolf: Der logische Aufbau der Welt (1928), Hamburg 31966, S. 1. 68 Das Wort ›Gegenstand‹ ist im 16. Jahrhundert zuerst gleichbedeutend mit ›Widerstand‹ (dem Papst Gegenstand tun), seit dem 17. Jahrhundert kann es auch den Zustand des Gegenüber- und Entgegenstehens selbst bezeichnen (der Gegenstand der Planeten). Vgl. Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 4, 1.2: Gefoppe-Getreibs, Leipzig 1897, Sp. 2263 f. 66

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Gegenständlichkeit ist mir nicht die wie auch immer bestimmte Grundstruktur alles Seienden überhaupt, sondern eine Erscheinungsweise neben anderen; vielleicht kann mir ein jedes als Gegenstand erscheinen, nicht aber ist es Gegenstand. Wissenschaftliches Wissen, das nach Bacon einem gegenständlichen Erkennen entspringt, verdankt sich strenggenommen einem sehr wohl eingreifenden Herantreten an die Dinge. Wie man vorgeht, die Form, mit der man auf etwas aufmerkt und sich darauf bezieht, greift ein in, ja legt allererst den Grund für die Form, wie sich einem die betreffende Sache darstellt. Wird die Welt methodisch umgeformt, bleiben für die Forschung Objekte übrig, die als solche aus der bekannten Lebenswelt qua Konstruktionen hervorgehen. 69 Drittens ist solches Entgegensetzen zunächst eine negative Leistung. Vergegenständlichen heißt die jeweilige Sache entfremden. Hegel spricht einmal, obschon in anderem Zusammenhang, vom »ungeheure[n] Objekt« (VPR I, S. 146). Diese Wendung benennt dort ein Moment des religiösen Bewusstseins und ist auf den Gott des Judentums als eine vom subjektiven Bewusstsein undurchschaute, absolute Macht gemünzt. Ich will sie in ihrer wortwörtlichen Bedeutung aufgreifen, denn sie bringt auf den Punkt, was ich sagen will. Leitet sich unser heutiges ›geheuer‹ doch vom althochdeutschen hiuri ab, das besagt, dass etwas zum Hauswesen, zur Hausgemeinschaft, an jenen gewöhnlichen Aufenthaltsort eines Menschen also gehört, wo man sich leicht zurechtfindet, wo ein jeglicher Umstand, jedes Ding und jedes Tun geläufig und verlässlich ist. 70 Was man hingegen zum Objekt macht, büßt diese seine bisherige Stellung und Bezüglichkeit ein. Es wird einstweilen aus dem Gefüge der bekannten Dinge herausgesetzt, als ein von unseren Lebensvollzügen Abgeschiedenes behandelt, als Ungeläufiges und Nichtverlässliches, etwas also, von dem man noch nicht recht weiß oder zu wissen meint, was es damit auf sich hat. Was uns als Objekt angeht, das ist von uns in den Schein des Ungeheuren zurückgestellt. Und das gilt auch noch für all dasjenige, Ähnlich bestimmt auch Marion Gegenständigkeit (objectité) als einen Modus intentionaler Gegebenheit neben anderen. Vgl. Marion, Jean-Luc: Etant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris 32005, S. 47 ff. Dem fügt die Rede von einem intentionalen Objekt als einem solchen Objekt, auf das ich mich richte, nichts hinzu. Sie bleibt pleonastisch, da es demgegenüber gar keine nichtintentionalen Objekte gibt. So aber etwa Crane, Tim: Intentional Objects, in: Ratio 14/4 (2001), S. 336– 349. 70 Vgl. Duden. Das Herkunftswörterbuch, a. a. O., S. 322 f. 69

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was uns überhaupt nur dank wissenschaftlicher Studien bekannt wird, dass sich der Wissenschaftler derart darauf richtet und es sich demgemäß gegeben sein lässt. 71 Viertens schließlich tut sich damit, und das ist die positive Funktion der genannten Form von Intentionalität, die Chance eines eigenen Reichtums für das Erkennen auf. Das Was des erscheinenden Realen bleibt sich in dem Wandel unserer Hinkehr zu ihm nicht gleich. Wir sehen mit anderen Interessen auf die von uns entfernten Dinge. Die Erfahrung des Anstoßes beispielsweise, den man an etwas nimmt, lässt einen einhalten und auf das unerwartete Anderssein der betreffenden Sache achten; was defekt ist, sucht man zu reparieren, wo etwas fehlt, schaut man sich danach oder nach geeignetem Ersatz um. Und wo etwas gründlicher durchleuchtet oder allererst entdeckt werden soll, da lenkt man das Augenmerk auf bislang undeutliche, unsichere oder ganz unberücksichtigte Sachgehalte. Auf diese Weise bietet sich die Gelegenheit zu einer ausgezeichneten Form der Expansion unseres Wissens: Die jeweilige Sache kann jetzt aus ihrer unauffälligen Vertrautheit heraustreten oder überhaupt erst unbeeinträchtigt durch die Einstellung, welche wir sonst dazu haben, zur Erkenntnis kommen. So werden etwa seit der frühen Neuzeit die von den Naturwissenschaften zu untersuchenden Objekte paradigmatisch daraufhin befragt, ob und inwieweit sie durch messbare Größen (hauptsächlich Raum, Zeit, Bewegung, Kraft) bestimmt sind und sich deshalb durch eine quantifizierende Formelsprache bestimmen lassen, was ja keineswegs das Anliegen einer jeden von uns gepflegten Art der Weltzuwendung ist. 72 Diese Auffassung von gegenständlichem Erkennen ist es, die den Grundgedanken jener methodisierten Erfahrungswissenschaft ausmacht, wie man sie in Bacons theoretischem Werk inthronisiert findet. Zwar hat es jeder von uns klarerweise auch vor und abseits wisDass solche Vergegenständlichung, wie sie nicht bloß von den neuzeitlichen Naturwissenschaften geübt wird, um die betreffende Wirklichkeit als Objektbereich des Forschungsprozesses zu konstituieren, ein Akt der Entfremdung ist, formuliert Marquard mit Blick auf denjenigen, der ihn vollzieht, dahingehend, dass dieser seine »geschichtliche Herkunftswelt«, in welcher er steht, »neutralisiert«. (Marquard, Odo: Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften, in: Apologie des Zufälligen, Stuttgart 1986, S. 103 f.) 72 Zweifellos kommt es hierbei immer wieder zu haltlosen Übersteigerungen. Man denke nur an den prominenten Ausspruch, den, wie immer wieder überliefert, der Quantenphysiker Max Planck getan haben soll: »Wirklich ist, was sich messen lässt.« 71

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senschaftlicher Forschung mit Gegenständen zu tun. Und sicherlich zeigt dieses Zutunhaben mannigfache Nuancen des Mehr oder Weniger; unser Betrachten der Dinge genügt, wo wir uns in unserer Welt bewegen, in der Regel nicht sich selber, sondern bleibt in die durchschnittlichen Vollzüge etwa ihrer Nutzung und Verwertung verstrickt und so unserer Absicht auf Gewinnung von Orientierung nach dem Gesichtspunkt ihrer Brauchbarkeit unterworfen. 73 Aber die moderne Wissenschaft soll doch eine im menschlichen Dasein angelegte Möglichkeit, sich auf besondere Art zu Seiendem zu verhalten und darüber auszusprechen, radikalisieren. Sie habe diese nicht nur je und je zu praktizieren, sondern darin ihr eigentliches Geschäft zu erblicken: sehen um seiner selbst willen, ohne die betreffenden Sachen in für sie kontingente Bezüge zum Betrachter einzurücken, beispielsweise die von diesem verfolgten Gebrauchszwecke oder seine entsprechenden Fertigkeiten. Dasjenige nämlich, worauf die Forderung der Methode dringt, ist doch eben cum rebus ipsis consuescere. Den res ipsas wird die letzte Verbindlichkeit für unsere wissenschaftlichen Aussagen über sie zugestanden; ihr nacktes Dass- und Wassein soll das alleinige Maß der Wahrheit und Unwahrheit des Urteilens enthalten. Jedoch können sich die Phänomene in der Natur, um welche es Bacon geht, nur so darbieten, wenn wir auf die angegebene Art vor ihnen zurücktreten und sie in ihre Nacktheit entlassen. Die res ipsae geben sich ausschließlich als das unseren Idolen Gegenüberstehende: Allein in der Bestimmungsweise der Gegenständlichkeit komme ihr Selbstsein heraus und zum Vorschein. Und diese ist eben grundgelegt im Sichdarauf-richten des Menschen von seinem Selbstbewusstsein her. Jener muss das natürlich Seiende in Beziehung zu seinen eingelebten Idolen bestimmen, indem er letztere der Aufsicht gezielter Aufmerksamkeit unterwirft und von den ersteren abhält. 74 Halten wir fest: Bacons terminologischer Ausdruck res ipsae bilSo etwa Heidegger, Martin: Sein und Zeit (1927), a. a. O., S. 98 f., 472 ff. Es ist also ein Unterschied zu machen zwischen Gegenständlichkeit und Objektivität. Es sind dies zwei Seiten derselben Medaille. Erstere ist eine mögliche Spielart des Gegebenseins von Phänomenen, letztere eine des Zugehens darauf, wobei Objektivität Gegenständlichkeit begründet. Die Art, auf Phänomene zuzugehen, begründet, wie diese gegeben sind. Vgl. Zöller, Günter: Subjekt-Objektivität. Historisch-systematische Überlegungen zu einer Grundgestalt der modernen Philosophie, in: Espinet, David/Rese, Friederike/Steinmann, Michael (Hg.): Gegenständlichkeit und Objektivität, Tübingen 2011, S. 59 f.

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det eine unabdingbare Komponente und sogar den Kristallisationspunkt seines wissenschaftlichen Erneuerungsprogramms. Er meint eine bestimmte Weise, auf Dinge zuzugehen. Was die reformierte Wissenschaft auszeichnen soll, das ist für Bacon in methodicis dasselbe in der Physik, der Chemie, der Biologie und sonst wo. Denn der Erkenntnisweg, den die naturwissenschaftliche Aufklärungsbewegung der Neuzeit zu beschreiten habe, sei in seinem Innersten allemal der der Vergegenständlichung. Inwieweit die wissenschaftliche Praxis diesem Gebot auf den verschiedenen Forschungsgebieten gefolgt ist und weiter folgt, braucht uns dabei nicht zu kümmern. Das Ziel aber, dem dieser Weg zuläuft, ist nach Bacon ein objektives und intersubjektiv nachprüfbares Wissen. Und damit ist unübersehbar, dass Durkheims Rede von Ding (chose), welche daran angelehnt ist, sein Ausdruck ist für dasjenige, was bei Bacon Ding selbst (res ipsa) heißt. Sein Chosismus, wie Kritiker leicht spöttisch sagen, verpflichtet in seinem methodologischen Sinn auch die Sozialwissenschaften, so können wir nun nachträglich formulieren, auf die Erfassungsweise gegenständlichen Erkennens. 75 Was ist damit gewonnen? Die Einsicht, dass sich die Ontologie des Sozialen auch noch und vor allem in diesem Fall der modernitätstypischen wissenschaftlichen Blickwendung auf den Phänomenkreis der Natur bewähren muss. Die Reflexion auf die aus den Naturwissenschaften herstammende und seit der frühen Neuzeit um sich greifende Methodenhaltung, wie man sie aus Bacons Novum organum scientiarum herausschälen und noch bei Durkheim in unverminderter Geltung auch für die Sozialwissenschaften finden kann, erweist sich darin als überaus einträglich, dass sie das vor Augen stellt. Denn sie gibt der Sozialontologie einen zugespitzten Fall an die Hand. Diese hat den Beweis zu erbringen, dass das Bewusstsein des Menschen nicht nur dann, wenn es sich irgendwie auf natürliche Gegebenheiten richtet, von implizitem Wissen zehrt, sondern auch dort, wo es sich in wissenschaftlicher Art darauf richtet. Und weiter: dass sogar noch diese wissenschaftliche Art der Aufgeschlossenheit

Dass die moderne Wissenschaft dem Wirklichen im methodischen Sinne der »Gegenständigkeit« nachstellt, betont auch Heidegger und subsumiert darunter ebenfalls die Sozialwissenschaften. Vgl. Heidegger, Martin: Wissenschaft und Besinnung (1953), in: Vorträge und Aufsätze (1936–1953), GA 7, Frankfurt a. M. 2000, S. 45. Siehe dazu Wolf, Thomas: Konstitution und Kritik der Wissenschaften bei Heidegger, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 57/1 (2003), S. 94–110.

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für Naturphänomene trotz aller Abstraktionsleistung des methodischen Bewusstseins ebendarum eine soziale ist. Der vergegenständlichenden Weltsicht eignet ja eine tiefreichende Entfremdung. Sie verlangt dem natürlichen Bewusstsein den Anfangsverzicht ab, sich selber zu entsagen. Man soll sich des Seienden vergewissern, indem man dieses, statt es nach seinem üblichen geistigen und gesellschaftlichen Einbezogensein zu nehmen, aus seiner bisherigen Stellung herausrückt und heraushält. Ich habe daher zu zeigen, dass etwas, das nichts Geistiges und Gesellschaftliches ist, und das ist etwas Natürliches, durch seinen Umschlag ins Ungeläufige und Nichtverlässliche, in dessen Herbeiführung seit Bacon die Fähigkeit zu wissenschaftlicher Erkenntnis wurzelt, wohl von gewissen Bindungen zum Geist des Menschen und zur menschlichen Gesellschaft, nicht aber gänzlich davon entbunden wird. Das ist die Zuspitzung, zu der wir es gebracht haben, dass die Ontologie des Sozialen dartun muss, dass selbst dem gegenständlichen Sichbegegnenlassen und Erfassen von Naturphänomenen noch ein methodisch nicht eliminierbarer sozialer Rest anhaftet: dass die Natur, wo sie in der für die Wissenschaft charakteristischen Gegebenheitsweise erscheint und zu objektiv und intersubjektiv nachprüfbarem Wissen gebracht wird, in Soziales einbezogen bleibt. Auch diese intentionale Form des Bewusstseins ist eine soziale, wenn auch der intentionale Gehalt des Bewusstseins in dem Fall nichts Soziales ist. Ich gehe damit von einer althergebrachten Tradition ab. Birgt doch Bacons wissenschaftliches Konzept von Methode unausgesprochene sozialontologische Implikationen, die noch bei Durkheim nachhallen. Der Vorstellung von der erreichbaren Höhe der neuzeitlichen Wissenschaftlichkeit menschlichen Wissens, welche dieser aufbringt und jener beibehält, dient von Anfang an als Hintergrund unsere Teilhaftigkeit an der gesellschaftlichen Welt. Wie Bruno Latour treffend bemerkt, malt die Auffassung von Sozialem, die hier durchscheint und letztlich bis auf Platons wirkungsreiches Höhlengleichnis im siebten Buch seiner Politeia zurückdatiert, dieses mit düsteren Farben: als Teil desjenigen »Gefängnisses [prison]« 76, woraus der Wissenschaftler oder überhaupt der Erkenntniswillige ausbrechen muss, um sich ein überlegenes Wissen erwerben zu können davon, wie die Dinge wirklich liegen. Die Raffiniertheit des »mythe Latour, Bruno: Politiques de la nature. Comment faire entrer les sciences en démocratie, Paris 1999, S. 56.

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de la Caverne« besteht aus Sicht der Sozialontologie darin, unter der Hand glauben zu machen, man könne nicht Mitglied eines gesellschaftlichen Verbandes sein, ohne in Blendwerken festzustecken und den Kontakt zur Realität zu verlieren. Letzteres soll sich lediglich dem ungehinderten Ausblick vom Vorplatz der Höhle aus eröffnen, welchen zu betreten jedoch ersterem nicht vergönnt sei. 77 Diese pauschale Negativierung des Sozialen hebt die vorliegende Studie, so sie erfolgreich zu einem Ende kommt, auf. Nicht, dass tiefsitzende Vorurteile oder eingefleischte Handlungsabläufe nicht die Ansicht, welche eine Gesellschaft von der Natur hat, zu vereinnahmen und zu verfälschen vermögen. Doch wenn ich recht behalte, übt selbst der moderne Wissenschaftler, indem er die Gesellschaft mit Wissen um natürliche Phänomene versorgt, keineswegs die Funktion eines Kuriers mit exterritorialem, gesellschaftlich neutralem Status aus. Mitnichten stellt der Physiker, Chemiker, Biologe oder sonst wer die Dinge des raumzeitlichen Universums so, dass sein Stellen nicht schon etwas Soziales an sich hat, um erst hinterher in den Binnenraum der sozialen Höhle zurückzukehren und deren bloß meinenden Bewohnern das Geschenk wirklicher Erkenntnis zu bringen (sofern jene solches überhaupt zu fassen in der Lage sind). Der Naturwissenschaftler ist kein Wanderer zwischen zwei Welten; er ist nicht mit einer Natur jenseits aller Gesellschaft konfrontiert. Das darzutun, heißt aber, die Vorstellung vom Sozialen abzulegen, unter deren weit zurückreichender Herrschaft u. a. Platon, Bacon und Durkheim stehen. Die methodologische Grundlegung der Naturwissenschaften und die Ermittlung ihres Wissenschaftscharakters ist selbstverständlich nicht meine Angelegenheit. Über die Unterschiede zum sozialoder geisteswissenschaftlichen Erkennen soll hier nicht gehandelt werden. Das tut auch gar nicht not, denn die sozialontologische Frage setzt den Finger auf etwas, was so umspannend ist, dass es durch dergleichen Methodenstreitigkeiten vielmehr geschmälert würde. Nicht Vgl. Platon: Rep. 514a ff. Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, dass es Platon mit dem Höhlengleichnis nicht um das Wissen von diesem oder jenem geht. Das Gleichnis spricht vom philosophischen Bildungsgang als dem Aufstieg aus der empirischen Welt vergänglicher Dinge in die intelligible Welt des wahrhaften Seins. Micht interessieren lediglich die Konsequenzen, die sich daraus für die Ontologie des Sozialen ergeben. Zum Höhlengleichnis siehe Szlezák, Thomas A.: Das Höhlengleichnis (Buch VII 514a-521b und 539d-541b), in: Höffe, Otfried (Hg.): Platon. Politeia, Berlin 32011, S. 155–173.

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nur, dass der gesamte Wissenschaftsbetrieb sowohl in den Natur- wie in den Sozialwissenschaften Teil der menschlichen Gesellschaft ist; ihr gesellschaftlicher Charakter trennt die eine Disziplinengruppe gar nicht von der anderen, sondern schließt beide zusammen. Mithin beweist die sozialontologische Frage ihre Weitläufigkeit allein schon darin, dass sie hinter alle wissenschaftstheoretischen Binnendifferenzierungen zurückführt. Und der Versuch einer ontologischen Verständigung über das Soziale greift auch noch weit über die Grenze aller Wissenschaft hinüber. Ich habe ihn als eine Verständigung über das entwickelt, was die Wissenschaften ggf. über ihre methodologische Selbsteinschätzung hinaus sind und sie mit dem ganzen Rest unseres unmethodischen Lebenswandels verbindet. 78

So differenziert auch Searle seine Sozialontologie gegen jede Methodik der Sozialwissenschaften als eine »philosophy for the social sciences«: »there is a line of research that is more fundamental than either the philosophy of social science or social and political science, namely, the study of the nature of human society itself«. (Searle, John R.: Making the Social World. The Structure of Human Civilization, a. a. O., S. 5)

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IX. Die vorgängige Gemeinsamkeit des Bewusstseins überhaupt

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Das »ursprüngliche Miteinandersein« (Heidegger)

Durch einen Vergleich der Gebiete des Sozialen und der Natur unter dem Gesichtspunkt (einem neben vielen anderen) der Kausalität (in einer ihrer möglichen Fassungen) ist ein einschneidender Unterschied zum Vorschein gekommen. Ich habe mich dabei allerdings, angeleitet durch die Schule der formalen Soziologie und deren Grundbegriff der Wechselwirkung, ausschließlich an das große Feld des Mit-, Für- und Gegeneinanderhandelns der Menschen gehalten, wie es etwa in Gestalt der Interaktion unter Anwesenden tagtäglich zuhauf stattfindet. Danach ist, wo jemand auf Andere hin, will sagen mit, für oder gegen sie handelt – Simmel, Vierkandt und von Wiese schränken ja die soziologische Forschung auf gegenseitiges Einwirken und Erleiden ein –, 79 das gerade keine kausale, keine Folgebeziehung des bloßen Nacheinander und Wegeneinander. Denn das Tun und Lassen, welches der eine vorlegt, es mag im Übrigen sprachlicher oder nichtsprachlicher und dann mimischer, gestischer, posturaler oder sonst welcher Art sein, kann beim Gegenüber nicht erst eine und die rechte Empfänglichkeit dafür wecken. Genauso wenig kann es auslösen, dass und wie sie jenem eingibt, daran anzuknüpfen. Um über diese grundbegrifflich vorgegebene Einschränkung hinauszugehen, frage ich dem Sachbereich der Natur nach. Dass menschliches Verhalten nicht allein dann gesellschaftlich gestimmt ist, wenn es sich in Wechselseitigkeit ergeht, und Gesellschaft sich keineswegs darin erschöpft, dass Menschen wechselweise aneinander Orientierung nehmen, ist die Behauptung, mit der die vorliegende Studie in ihr Ziel gelangt. Da sich bereits der Fokus der Wechselwir-

Diese Einschränkung kritisiert auch Schmalenbach, Herman: Soziologische Systematik, in: Weltwirtschaftliches Archiv 23 (1926), S. 13.

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Die vorgängige Gemeinsamkeit des Bewusstseins überhaupt

kung als Zerrspiegel des Sozialen zu erkennen gegeben hat, ist das nun zu prüfen, ob nicht der der Wechselwirkung jenes auch noch ungebührlich verengt. Ich will mithin überprüfen, was es mit dem Neben- und Ohneeinander der Menschen auf sich hat. Ist vielleicht selbst dann, so steht zu fragen, Lebenserfahrung mit von der Partie, wenn sich einer lediglich neben jemandem, der um ihn herum ist, oder ganz allein, also ohne jemanden, der sich in Sicht- und Hörweite befindet, verhält, wie er es tut? Wenn er also überhaupt nicht mit Bewusstsein an einem Anderen orientiert ist? Beispielsweise dann, wenn er seine Aufmerksamkeit auf Naturphänomene lenkt und sie noch dazu in der vergegenständlichenden Weise moderner Erfahrungswissenschaft angeht und erfasst? Dieser Fall hat sich im Vorigen als ein zugespitzter Beispielfall ergeben, den meine Behauptung mit abdecken können muss. Denn Andere sind erstens umso weniger mit im Spiel, wenn man es mit keinem bedeutungstragenden Phänomen zu tun hat. In das Hervorbringen und Aufnehmen eines Textes etwa, den ich schreibe oder lese, gehen ja immer noch die gesellschaftlichen Regeln der Sprache ein, denen ich dabei folge. Zweitens sind Andere noch weniger mit da, wenn dasjenige, womit man sich beschäftigt, nicht einmal ein Artefakt ist. Unzählige Dinge, die zwar keine Bedeutung in sich tragen, sind doch immer noch gemäß den in einer Gesellschaft obwaltenden Standards angefertigt und stehen nach deren gängigen Kriterien zur Verwendung bereit. Ganz anders im Falle natürlicher Gegebenheiten. Die Natur hat von sich aus nichts mit menschlichen Konventionen zu schaffen, obwohl sie durchaus Freiräume lässt, in die hinein der Mensch sich entfalten und darin er sich mit seinen Erzeugnissen und sonstigen Lebensäußerungen heimisch machen kann. Drittens schließlich kommen Andere gewiss am wenigsten zur Geltung, wenn man objektives und intersubjektiv nachprüfbares Wissen von der Natur zuwege bringt. Die Forderung erfahrungswissenschaftlicher Methode geht ja darauf, wie Bacon formuliert, den Geist diszipliniert von all dem zu reinigen, was ich mir durch lebensmäßige und darum immer auch gesellschaftliche Bildung erworben habe, so dass man quasi wieder wie ein ungebildetes Kind auf die Dinge zutritt. Folglich kann man die Begriffsbestimmung des Sozialen, auf die ich es abgesehen habe, in die Hand bekommen, wenn sich dartun lässt, dass und inwiefern dieses sogar noch, aller methodisch geforderten geistigen Selbstdisziplinierung zum Trotz, auf das wissen388 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Das »ursprüngliche Miteinandersein« (Heidegger)

schaftlich bereinigte Bewusstsein von der Natur sich erstreckt. Denn damit wäre das Ziel dieser Arbeit erreicht. Könnte doch das Soziale sodann abschließend charakterisiert werden als die jeder Intentionalität einer Vielheit von Beteiligten vorgängige Gemeinsamkeit. Um diese Herausforderung zu bewältigen, will ich mir ein Stück weit unter die Arme greifen lassen. Ich werde einen hinzuziehen, dem eine bewusstseinstheoretische Auffassung von Sozialem und gar dem Sozialen gleichfalls nicht genügt. Die Rede ist von Martin Heidegger. Dieser ist nicht nur der Meinung, dass das menschliche Bewusstsein kein »unreduzierbar Letztes« ist. Er meint auch, dass die gesellschaftliche Seite des Menschen nicht erst im Umkreis einer vermeintlich auf sich selber beruhenden Intentionalität zu suchen ist. Diese Seite soll ursprünglich, wie er sich ausdrückt, keine Angelegenheit intentionaler Bewusstseinszustände, schon gar nicht bloß einiger davon, ausmachen. Besonders deutlich tritt das in Heideggers erster Vorlesung nach dem Weggang aus Marburg heraus. Im Wintersemester 1928/29 unter der Überschrift Einleitung in die Philosophie an der Universität Freiburg gehalten, liegt ihre Niederschrift rund ein Jahr nach der Veröffentlichung von Sein und Zeit (1927). Aufgrund der zeitlichen Nähe nimmt es nicht wunder, dass beide Schriften zahlreiche inhaltliche Überschneidungen aufweisen. Beschäftigt sich Heidegger in seiner Vorlesung doch ebenso mit den wesentlichen Merkmalen menschlicher Existenz, jedenfalls einigen davon, mit denen er sich auch in Sein und Zeit auseinandersetzt. Er verfolgt geradeso die Sache der Existenzialanalytik, wenn er nun auch andere Schwerpunkte setzt und seine Überlegungen andere Pfade beschreiten (etwa geht er damit nicht der sog. fundamentalontologischen Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt nach). 80 Eines dieser existenzialen Merkmale bezeichnet Heidegger in Sein und Zeit als Mitsein. 81 Im Zuge seiner Vorlesung behandelt er das ebenfalls. Gemeint ist damit nichts anderes, als die dem Menschen eigentümliche soziale Weise zu existieren, wenngleich Heidegger selber diesen lateinischstämmigen Ausdruck hier wie sonst meidet (von

Das Vorlesungsmanuskript ist allerdings Fragment geblieben. Heidegger hat drei Abschnitte vorgesehen – »Philosophie und Wissenschaft«, »Philosophie und Weltanschauung« sowie »Philosophie und Geschichte« –, von denen der dritte nicht zur Ausführung kam. 81 Vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit (1927), a. a. O., S. 152 ff. 80

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Die vorgängige Gemeinsamkeit des Bewusstseins überhaupt

einigen verstreuten Textstellen einmal abgesehen, wo der Wortgebrauch noch dazu untechnisch bleibt). 82 Gewiss vermutet er in dessen Geschichte, wie in anderen Fällen der überlieferten philosophischen Fachsprache auch, sachentstellende Ablagerungen. Diese will er von vornherein umgehen und durch eine eigene, in phänomenologischer Manier aus der Sache selbst zu schöpfende Begriffsbildung ersetzen. Aus demselben Grunde erscheint es ihm daher auch angeraten, die menschliche Sozialität unter einer unvorbelasteten sprachlichen Neubildung, eben der des Mitseins, anzugehen. Mit dem Existenzial des Mitseins setzt sich Heidegger im »Ersten Abschnitt« der Einleitung auseinander, genauer in dessen »Drittem Kapitel«. Die sozialontologische Idee, welche er da behandelt und wodurch er seine diesbezüglichen Äußerungen in Sein und Zeit ein Stück weit ausbaut, nimmt er zu Beginn des einschlägigen § 13 mit den Worten vorweg: »anderes Dasein ist mit uns da, Mitdasein; wir selbst sind bestimmt durch ein Mitsein mit den Anderen. Dasein und Dasein sind ein Miteinander.« 83 Heidegger setzt also das menschliche Mitsein von vornherein derart tief und umfassend an, dass wir nicht nur hin und wieder, sondern vielmehr wesensgemäß mit Anderen sind. Hier lässt sich bereits erahnen, dass das fragliche Miteinander nicht dasjenige sein kann, das im Gegensatz zum Füreinander und Gegeneinander der Menschen darin besteht, etwas mit Anderen zusammen anstatt für bzw. gegen sie zu tun oder zu lassen. Auf Heideggers folgende Ausführungen kann ich nicht akribisch eingehen. Auch kann ich deren größeren gedanklichen Kontext nicht berücksichtigen. Seine Ausführungen sind aber allein schon deshalb bedeutsam – und bloß daraufhin will ich sie aufgreifen –, weil sie das Sozialsein menschlicher Existenz unter Zuhilfenahme zweier, für die Literatur zur Sozialontologie außergewöhnlicher Beispiele freilegen (insgesamt nicht nur zwei, aber für mich die entscheidenden Beispiele). Diese liegen nämlich jenseits aller Interaktion unter Anwesenden oder sonst irgendeiner Art von Kommunikation, jenseits von geschriebener und gesprochener Sprache sowie nonverbalen Mienen,

In Sein und Zeit findet sich der Term »sozial« lediglich ein einziges Mal als alleinstehendes Adjektiv und zweimal das Kompositum »Soziologie«. (Ebd., S. 38, 68, 162) In der Vorlesung findet sich das Adjektiv »sozial« zweimal, viermal das Kompositum »Soziologie«. (Heidegger, Martin: Einleitung in die Philosophie (1928/29), a. a. O., S. 31, 226, 237, 370, 371) 83 Heidegger, Martin: Einleitung in die Philosophie (1928/29), a. a. O., S. 84. 82

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Das »ursprüngliche Miteinandersein« (Heidegger)

Gesten und Posen. Das erste Beispiel ist eines für das Nebeneinander von Menschen und das zweite eines für ihr Ohneeinander. 84 »Nehmen wir als einfaches Beispiel«, so eröffnet Heidegger den § 13, »zwei Felsblöcke, die an einer Geröllhalde liegen. Wir können sagen: sie sind zusammen, aber nicht miteinander vorhanden. Zwei Wanderer dagegen, die an der Halde vorbei steigen, sind miteinander.« 85 Was hier ungleichartig ist, scheint rasch ausgemacht. Der nächstliegenden Auffassung zufolge sind die beiden Steine »materielle Körper«, wie Heidegger selber erklärt, und als solche von Haus aus nicht bewusstseinsfähig. Die beiden Wanderer hingegen sind »Lebewesen«, noch dazu solche mit Bewusstsein. Sie wandern nicht lediglich nebeneinander, sondern sind ihres Nebeneinanderwanderns auch bewusst. »Aber wird«, fragt Heidegger weiter, »durch das gegenseitige Sicherfassen das Nebeneinander zu einem Miteinander?« Sind die Felsblöcke nur deshalb nebeneinander, weil sie kein Bewusstsein voneinander sowie ihres gemeinsamen Herumliegens an der Geröllhalde haben? Die Wanderer aber miteinander, weil einer sich des anderen sowie ihres gemeinsamen Tuns bewusst ist? Hängt also das »Miteinander« am Bewusstsein, während das »Nebeneinander« der mangelnden Fähigkeit dazu geschuldet ist? Heidegger spinnt das Szenario fort und spitzt es dadurch zu, um die selbstgestellte Frage einer Entscheidung zuzutreiben: »Nehmen wir an, die beiden Wanderer kommen alsbald um eine Biegung des Pfads zu einer unerwarteten Aussicht auf das Gebirge, so daß sie beide plötzlich hingerissen sind und schweigend nebeneinander stehen. Es ist dann keine Spur von gegenseitigem Sicherfassen, jeder steht vielmehr benommen von dem Anblick.«

Die beiden Wanderer sind nebeneinander zu »stehen« gekommen, wie sie zuvor nebeneinander gewandert sind. Jeder ist an die Naturkulisse, welche sich jählings vor ihnen aufgetan hat, hingegeben. Das Was im »Ersten Abschnitt« der Vorlesung nicht begegnet, ist die in Sein und Zeit einschlägige Vorstellung, wonach die Welt, in der das menschliche Dasein qua In-derWelt-sein wesenhaft ist, »Mitwelt« ist. (Heidegger, Martin: Sein und Zeit (1927), a. a. O., S. 159) Das bleibt jedoch wohl dem kompositorischen Umstand geschuldet, dass Heidegger sich erst im »Zweiten Abschnitt« dem Existenzial der Welt zuwendet, dort allerdings die Frage nach dem Sozialen nicht mehr weiter fortführt. Insofern schränkt er sich in der Einleitung zugleich auch ein gegenüber seinen früheren Äußerungen zur Sache des Sozialen. 85 Heidegger, Martin: Einleitung in die Philosophie (1928/29), a. a. O., S. 86. 84

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Die vorgängige Gemeinsamkeit des Bewusstseins überhaupt

ist nun ein Fall von menschlichem Nebeneinander, wie ich es bestimmt habe. Ego ist zwar um Alter herum, aber er hat auf diesen keine Acht, wie auch jener nicht auf ihn achtet; was sie tun, tun sie nicht auf den Anderen hin, der neben ihnen ist. Doch trotzdem die zwei Wanderer nicht mehr einander zugewandt sind wie vordem, sind sie laut Heidegger keinesfalls wie die Felsblöcke bloß noch »zusammen« an der Geröllhalde. Immer noch sollen sie in gewissem Sinne miteinander sein. Das will erstens besagen, das Miteinander von Mensch und Mensch liegt für Heidegger weder in einem wechselseitigen Bewusstsein (»keine Spur von gegenseitigem Sicherfassen«) noch auch in einem bloß einseitigen Bewusstsein, dass also einer wenigstens den Anderen erfasst. Sogar dann dauere es ungemindert fort, wenn die Beteiligten keine Notiz voneinander nehmen und sich nicht auf ihr Nebeneinanderstehen beziehen. Für Heidegger ist es mithin an gar keine Leistung des Bewusstseins geknüpft. Und das besagt zweitens, dass es auch davon unabhängig ist, worauf die Beteiligten ihre Aufmerksamkeit stattdessen richten. Selbst dann soll es vorliegen, wenn sie sich zu natürlichen Gegebenheiten verhalten, wie das »Gebirge« eine ist. Heidegger nennt das fragliche Mitsein deshalb das »ursprüngliche Miteinandersein« 86. Seine Ursprünglichkeit soll darin bestehen, dass »alles gegenseitige Sicherfassen von Dasein und Dasein das Miteinandersein beider schon voraussetzt. Gegenseitiges Sicherfassen ist fundiert im Miteinandersein.« Die Rede von Ursprünglichkeit hat hier folglich wie immer bei Heidegger keinen temporalen Sinn. Sie meint nicht so viel wie zeitlich vorhergehend, dass eines zeitlich früher ist als ein anderes. Sondern sie besitzt eine konditionale Bedeutung (»voraussetzt«, »fundiert«). Dass etwas ursprünglich ist, heißt für Heidegger, dass sein Begriff vorhergeht. Sein Begriff sei logisch früher als der Begriff von etwas anderem (was nicht ausschließt, dass dieses andere selber in der Zeit geworden ist) und müsse in Anspruch genommen werden, um jenen zu erläutern, wobei die Erläuterung des in Anspruch genommenen Begriffs ihrerseits ohne Bezug auf jenen anderen auskomme. Die betreffenden Begriffe sollen sich nicht wechselseitig verständlich machen, sondern einseitig aufeinander aufbauen, der eine auf dem anderen, aber nicht umgekehrt. Demzufolge muss auch das »ursprüngliche Miteinandersein«, so lautet Heideg86

Ebd., S. 87.

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Das »ursprüngliche Miteinandersein« (Heidegger)

gers Gedanke, »alles gegenseitige Sicherfassen von Dasein und Dasein« bedingen und in seine Möglichkeit bringen. Es soll dafür explanatorisch primär sein. 87 Jedoch das »ursprüngliche Miteinandersein« dergestalt zu denken, heißt es zu eng denken. Nicht nur dem wechselseitigen oder auch nur einseitigen Bewusstsein soll nach Heidegger das Mitsein zugrunde liegen. Bei näherem Hinsehen habe ich so etwas unter dem Begriff vorgängiger Gemeinsamkeit gefasst. Zwar war mir diese nicht nur die Ermöglichungsbedingung »von gegenseitigem Sicherfassen«, wie es in einer Interaktion unter Anwesenden geschieht, wenn Ego und Alter in ihrem sprachlichen oder nichtsprachlichen Verhalten wechselseitig aneinander orientiert sind. Sondern vorgängige Gemeinsamkeit habe ich als die Bedingung der Möglichkeit jedweden Verhaltens zu symbolischen und daher verstehbaren Phänomenen gefasst, sei dieses Verhalten auch ein einseitiges; denn dazu zählt etwa neben der gesprochenen auch die geschriebene Sprache, wobei der Urheber eines Textes nicht mit anwesend sein muss. Jedoch habe ich mich dabei (vorläufig) auf den gesellschaftlichen Verkehr der Menschen untereinander beschränkt, auf ihr Handeln miteinander, füreinander und gegeneinander. Über diese Beschränkung führt Heidegger nun hinaus. Heidegger treibt das »ursprüngliche Miteinandersein« anhand der neu entstandenen Situation, in welcher sich die Wanderer jetzt befinden, über seine bisherige Grenze hinaus. Er treibt es darüber hinaus, die ermöglichende Bedingung lediglich eines »gegenseitige[n] Sicherfassen[s] von Dasein und Dasein« zu sein. Damit wird auch die auf Wechselseitigkeit sich beschränkende formale Schule der Soziologie über ihre selbstgesetzte Grenze hinausgetrieben. Sie wird über ihre Beschränkung auf den Sachbereich der Interaktion unter Anwesenden und Nichtanwesenden mitsamt den dazugehörigen symbolischen und verstehbaren Phänomenen hinausgetrieben. »Dasein muß zuvor schon für Dasein offenbar sein, damit gegenseitiges Erfassen möglich wird. Trifft dieses Für-einander-offenbarsein von Dasein und Dasein«, fragt Heidegger, »das Wesen des Miteinander oder gehört es gar nicht wesentlich zum Miteinandersein?« 88

Zu Heideggers Verwendung der Worte ›ursprünglich‹, ›ursprünglicher‹ und ›Ursprünglichkeit‹ siehe Taylor, Charles: Engaged Agency and Background in Heidegger, in: Guignon, Charles B. (Hg.): The Cambridge Companion to Heidegger, Cambridge 1993, S. 333. 88 Heidegger, Martin: Einleitung in die Philosophie (1928/29), a. a. O., S. 88. 87

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Die vorgängige Gemeinsamkeit des Bewusstseins überhaupt

Die Frage ist ersichtlich eine suggestive. Bemerkenswerterweise soll nämlich das Miteinander gar nicht darauf beschränkt sein, dass Dasein und Dasein füreinander empfänglich sind. Um diese Beschränkung zu durchbrechen, bietet Heidegger ein weiteres Beispiel auf. Danach müssen die beteiligten Individuen erstens nicht zur gleichen Zeit am gleichen Ort sein. Heidegger spricht dies eigens aus: »Miteinandersein besagt nicht faktisches Existieren zusammen mit faktisch anwesenden Anderen.« 89 Zweitens sei selbst das nicht vonnöten, dass sie einander kennen. In § 13 veranschaulicht Heidegger das mit dem sicherlich extremsten Beispiel, das er im Verfolg der Vorlesung bemüht: »irgend jemand in Berlin sieht ein Automobil, und ein Bauer im Schwarzwald sieht seine Kuh; es sind da mehrere, die je ein Identisches erfassen, und doch nicht: miteinander dasselbe und doch noch ein Miteinander, auch hier« 90. Man hat es bei diesem Beispiel mit einem Fall von menschlichem Ohneeinander zu tun, wie ich es bestimmt habe. Ego ist allein, ohne Alter: Zwei Menschen, die sich niemals getroffen haben, sich auch augenblicklich nicht in Sicht- und Hörweite zueinander befinden, nehmen in ihrem Tun und Lassen keinerlei Orientierung aneinander. Heidegger selber redet hierbei vom »Ohneeinandersein« 91. Und im Gegensatz zu den beiden Wanderern, darauf kommt es an, haben der Großstädter aus Berlin und der Bauer aus dem Schwarzwald drittens nicht einmal dieselbe Sache vor Augen. Was sie tun und lassen, ist auf etwas gänzlich anderes gerichtet (»nicht […] dasselbe«), bei diesem auf ein Artefakt, irgendein »Automobil«, bei jenem auf »seine Kuh«, ein Naturprodukt. Das eine verweist auch nicht oder nicht geradewegs auf das andere; und selbst der Schauplatz, wo diese Dinge jeweils begegnen, ist ein ungleicher. Dessen ungeachtet soll das Mitsein, so versichert Heidegger, »doch noch« am Werk sein. Heideggers erklärter Gedanke lautet, dass das Nebeneinander und selbst das Ohneeinander der Menschen nichts anderes ist als eine mögliche Ausprägung ihres Miteinanderseins. Wer neben Anderen oder ganz ohne Andere ist, der sei in gewisser Hinsicht gleichwohl mit Anderen. 92

Ebd., S. 119. Ebd., S. 97. 91 Ebd., S. 118. Vgl. Heidegger, Martin: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (1925), a. a. O., S. 331 f. 92 »Das besagt: im Alleinsein ist ein Ohneeinandersein; das Ohneeinander aber ist ein 89 90

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Das »ursprüngliche Miteinandersein« (Heidegger)

Daran wird abermals ersichtlich, dass Heidegger, was er das »ursprüngliche Miteinandersein« nennt, dem Hintergrund menschlicher Intentionalität zuschlägt. Seine Bemühungen um eine ontologische Verbegrifflichung des Sozialen reden nur allzu deutlich keinem intentionalistischen Ansatz das Wort, wie er damals schon weithin paradigmatisch war und auch heutzutage nach wie vor ist. Heidegger verwirft das intentionalistische Paradigma (wenn er auch nicht selbst von ›intentionalistischem Paradigma‹ spricht). Vielmehr verkehrt er die begrifflichen Verhältnisse in ihr Gegenteil. Darin soll ja gerade die Ursprünglichkeit des »ursprünglichen Miteinanderseins« bestehen, dass es die Voraussetzung von bewussten Intentionen betrifft, ja seinerseits als eine solche Voraussetzung fungiert. Das Soziale gehört zur Vorstruktur der intentionalen Zustände des Bewusstseins und hat daher umgekehrt, so muss man Heidegger verstehen, die Rahmenvorstellung herzugeben, in deren Blickbahn sich ihre Analyse bewegen muss. Es ist der Begriff des ersteren, den er als grundlegend erachtet für den der letzteren. Dass Menschen selbst dort, wo sie neben- oder ohneeinander sind, trotzdem miteinander sind, ist keine Frage dessen, worauf ihr Bewusstsein (oder wie es darauf) gerichtet sein mag, sondern stattdessen der Vorstruktur ihres Bewusstseins. Diesen Sachbereich, der die Ermöglichungsbedingung des Bewusstseins und seiner Intentionalität ausmacht und dem auch das Miteinander zugehören soll, spricht Heidegger an der zitierten Stelle seiner Vorlesung als ein bereits vorliegendes Offenbarsein an. Etwa sei das »gegenseitige Erfassen« fundiert im »Für-einander-offenbarsein von Dasein und Dasein«. Der eine muss, um den Anderen erfassen zu können, »zuvor schon« für ihn aufgeschlossen sein; damit er ihn als denjenigen erkennen kann, der er ist, muss ihm jener »zuvor schon« zugänglich sein. Diese Empfänglichkeit, welche der eine bereits mitbringt für den Anderen, liegt in seinem impliziten Wissen. Dass Heideggers Denken insgesamt als Bemühung um einen gehaltvollen Begriff impliziten Wissens verstanden werden kann (wenn Heidegger auch nicht selber von ›implizitem Wissen‹ spricht, weder hier noch anderswo), dafür hat neuerdings Jens Loenhoff anhand von Sein und Zeit argumentiert. 93 Anders aber als Aron Gurwitsch, der spezifisches Miteinandersein. Demnach ist auch jedes Alleinsein ein Miteinandersein«. (Heidegger, Martin: Einleitung in die Philosophie (1928/29), a. a. O., S. 118) 93 Vgl. Loenhoff, Jens: Zur Reichweite von Heideggers Verständnis impliziten Wissens, in: Ders. (Hg.): Implizites Wissen. Epistemologische und handlungstheoretische

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Die vorgängige Gemeinsamkeit des Bewusstseins überhaupt

schon 1931, durch Heidegger inspiriert, »›implizites‹ Wissen« als Gegenbegriff zu dem des »thematischen Bewußtseins« 94 einführt, überschreitet Heidegger den Sachbereich des Bewusstseins ganz und gar. Gurwitsch meint damit nämlich ein »dem ›Leben in …‹ immanentes Wissen um sich selber«: »Wer sich beispielsweise beim Rasieren überlegt, was er im Laufe des Tages vorhat, der ›weiß‹ – wiederum ›implizit‹ – nicht allein davon, daß er jetzt Pläne macht, und welche Pläne er entwirft, er ›weiß‹ – ebenfalls ›implizit‹ – davon, daß er sich rasiert.« Heidegger hingegen siedelt das »ursprüngliche Miteinandersein« in einer Sphäre unseres Daseins an, die selbst solch einem beständig mitlaufenden Innesein unseres Tuns und Lassens noch zugrunde liegt (wie der späte Dilthey das nennt und damit die elementare Form von Selbstbewusstsein im Blick hat). 95 Und mehr noch. Heidegger lenkt die Aufmerksamkeit nun zusätzlich darauf, das ist im Vergleich zu seinem ersten Beispiel das Neue, dass es für das Miteinander keinerlei Unterschied macht, ob solch ein implizites Wissen abgerufen wird. Das führt doch sein zweites Beispiel vor, dass das Erfahrensein des Berliner Großstädters, welches in dessen Verhalten zum »Automobil« intuitiv zur Anwendung kommt, auch dann identisch ist mit dem des Schwarzwälder Bauern, wenn es sich in dessen Tun und Lassen momentan nicht ausspielt; hat der doch gerade kein »Automobil« vor Augen. Und umgekehrt ist das Erfahrensein des letzteren, welches dessen Verhalten zu seiner »Kuh« intuitiv ins Spiel bringt, selbst dann identisch mit dem des ersteren, wenn es sich in dessen Tun und Lassen aktuell nicht geltend macht; hat der doch gerade keine »Kuh« vor Augen. Obwohl also den einen manches von dem anderen trennt – ihre persönliche Unbekanntheit, die räumliche Entfernung, die kulturelle Kluft zwischen dem damaligen Freistaat Preußen und der Republik Baden, dort urbanes Zentrum, da ländliche Peripherie –, sind sie doch auf ursprüngliche Weise Perspektiven, Weilerswist 2012, S. 49–66. Siehe auch Pasqualin, Chiara/Sforza, Maria A.: Das Vorprädikative – eine Einführung, in: Dies. (Hg.): Das Vorprädikative. Perspektiven im Ausgang von Heidegger, Freiburg/München 2020, S. 13–50. 94 Gurwitsch, Aron: Die mitmenschlichen Begegnungen in der Milieuwelt (1931), Berlin/New York 1976, S. 122 ff. 95 Das Innesein soll sich dadurch auszeichnen, dass der Akt nicht unterschieden ist von seinem Inhalt. Man muss des Inhalts nicht erst innewerden; diesen hat man nur so, dass er von einem entsprechenden Akt begleitet ist. Vgl. Dilthey, Wilhelm: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910), a. a. O., S. 8, 27 f., 38, 47, 230 und passim.

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Das »ursprüngliche Miteinandersein« (Heidegger)

miteinander. Es ist ihr opakes Vorverständnis davon, was es mit einem »Automobil« bzw. einer »Kuh« auf sich hat, worein sich die beiden nach Heidegger teilen. Heidegger führt also eine gewisse zeitliche Differenz zwischen den von mir unterschiedenen Wissensformen vor, eine hinsichtlich des Habens von implizitem Wissen auf der einen Seite und von explizitem Wissen auf der anderen. Wann und wie lang ich das eine habe, folgt offenbar einer eigenen und nicht derjenigen Logik, wann und wie lang ich das andere habe. Denn was der Berliner Großstädter und der Schwarzwälder Bauer da wissen, ohne darauf aufzumerken oder aufmerken zu müssen, wissen sie eben auch dann – das ist ein Clou von Heideggers zweitem Beispiel, den es ernst zu nehmen gilt –, wenn dieses einmal nicht zum Einsatz kommt. Das Haben von Wissen der einen Form ist im Gegensatz zu dem von Wissen der anderen Form gar nicht darauf angewiesen, dass es gegenwärtig eingesetzt wird. Das Gleiche trifft aber auch und nicht minder auf das Miteinander zu, welches nach Heidegger in solchem Wissen liegt. Dieses dauert sehr wohl fort, wo jenes nicht mobilisiert wird; selbst dann bin ich immer noch mit Anderen. Nicht ohne Grund spart Schmid wohl dieses zweite Beispiel in seiner gründlichen Auseinandersetzung mit Heideggers Vorlesung aus. Lässt sich das Beispiel doch derjenigen Deutung, welche Schmid ganz auf der Linie seiner eigenen, dem Intentionalismus nicht vollends entronnenen Sozialontologie dem ersten Beispiel gibt, dem »Gemeinsamsein« der Wanderer, nicht einfügen; jene Gemeinschaft nämlich bestehe im »gemeinsamen Erleben« 96. In dem Beispiel jedoch vom Berliner Großstädter und dem Schwarzwälder Bauern kann von einem gemeinsamen Erleben schlichtweg keine Rede sein. Zwar macht sich Schmid in seiner Studie Intentionalität. Kritik des ontologischen Individualismus und Rekonstruktion der Gemeinschaft für eine bewusstseinsinterne Unterscheidung stark. Wie in Kapitel VII.2 dargelegt, unterscheidet er vom reflexiv-thematischen Wir-Bewusstsein ein vorreflexives und unthematisches. So auch in einem späteren Aufsatz aus dem Jahr 2014. Im Gegensatz zur ersteren Form von Bewusstsein soll die letztere, wie Schmid in diesem Aufsatz bemerkt, »not a proper intentional ›act‹« sein, also kein Be-

Schmid, Hans B.: Wir-Intentionalität. Kritik des ontologischen Individualismus und Rekonstruktion der Gemeinschaft, a. a. O., S. 286.

96

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Die vorgängige Gemeinsamkeit des Bewusstseins überhaupt

wusstsein, »that is directed towards the subject« 97. Es sei »rather a feature, or component, of an intentional act that is directed towards whatever it is the subject happens to have in mind«. 98 Schmid erläutert hier also, dass das vorreflexiv-unthematische Wir-Bewusstsein eigentlich kein intentionales Bewusstsein ausmache, wie es das reflexive und thematische ist. Vorreflexiv und unthematisch sein heißt demnach nichtintentional sein. 99 Und Schmid stellt klar, dass er die fragliche Form von Wir-Bewusstsein nicht als einen selbständigen Akt des Gemüts versteht, sondern als eine unselbstständige Eigenschaft oder Komponente der anderen Form von Bewusstsein. Sie ist die nichtintentionale Eigenschaft oder Komponente des reflexiv-thematischen Wir-Bewusstseins (ähnlich wie Dilthey das beständig mitlaufende Innesein als die elementare Form unseres Selbstbewusstseins versteht). Schmids Rede vom »intentionalistischen Ansatz« ist demnach zu präzisieren. Danach gilt, »collective intentionality is what society in the most basic meaning of the word is«, dass also das »Miteinandersein […] ein intentionales Phänomen« ausmacht. Und sie ist dahingehend zu präzisieren, dass Schmid das Soziale, besieht man es recht, an eine nichtintentionale Eigenschaft oder Komponente der Intentionalität des Bewusstseins knüpft. Doch ist es nichtsdestotrotz das Bewusstsein, an das er es da knüpft. Dagegen ist diejenige Dimension des menschlichen Gemüts, welche ich als die Erfahrenheit eines Menschen anspreche, von ihrer Anwendung in einem Akt des Bewusstseins unabhängig. Es handelt sich dabei um keinerlei Bewusstsein, weder in der einen noch in der anderen von Schmid abgegrenzten Form. Denn die in Heideggers Beispiel mit dem Großstädter aus Berlin und dem Bauern aus dem Schwarzwald veranschaulichte zeitliche Differenz zwischen Erfahrenheit und Bewusstsein besagt doch, dass man zwar Bewusstsein von irgendetwas nur dann hat, wenn man eine gewisse Erfahrung mit der betreffenden Sache besitzt, dass man aber Erfahrung mit irgendetwas auch dann besitzt, wenn man gerade Schmid, Hans B.: Plural Self-Awareness, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences 13/1 (2014), S. 13. 98 Siehe auch Schmid, Hans B.: What Kind of Mode is the We-Mode?, in: Preyer, Gerhard/Peter, Georg (Hg.): Social Ontology and Collective Intentionality. Critical Essays on the Philosophy of Raimo Tuomela with His Responses, Cham 2017, S. 90 f. 99 Schmid beruft sich dabei auf mehrere Autoren wie etwa Shoemaker, Sydney: Selfreference and self-awareness, in: Journal of Philosophy 65 (1968), S. 560: »self-awareness […] does not involve being presented to oneself as an object«. 97

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Noch einmal zur Sitte: das Neben- und Ohneeinander

kein Bewusstsein von der betreffenden Sache hat. Implizites Wissen kann, es muss aber nicht in einem Bewusstseinsakt vollzogen werden. Schon Wittgenstein weist in seinen Philosophischen Untersuchungen auf solch eine zeitliche Differenz hin. Gelegentlich der Szene zwischen Lehrer und Schüler, in der es um die korrekte Fortführung einer Zahlenreihe geht, erwidert er eine Aussage seines fiktiven Dialogpartners mit der Frage: »Wann weißt du diese Anwendung? Immer? Tag und Nacht? Oder nur während du gerade an das Gesetz der Reihe denkst?« (PU 148) Jemand weiß das »Gesetz der Reihe«, welches er einzuhalten versteht, nicht bloß so lang, wie er es einhält. Er hat das fragliche Wissen »Immer«, »Tag und Nacht«, also selbst dann, wenn es – und so lang, wie es – unbeansprucht bleibt. Wie ich eine Fertigkeit nicht allein besitze, »während« ich sie unter Beweis stelle, übertrifft ebenso die ihr immanente Auskenntnis mit dem, worauf es dabei ankommt, den Augenblick ihrer Inanspruchnahme. Die Zeit des ausdrücklichen Wissens, das ja daran hängt, dass es zur Ausdrücklichkeit gebracht ist, macht eine bestimmte und bestimmbare aus, nämlich die Dauer, welche der diesbezügliche »Bewußtheitszustand« oder das »An-etwas-denken« einnimmt. 100 Dagegen dehnt sich hier, da das Wissen stattdessen in der Unausdrücklichkeit sein Wesen treibt, die Zeit ins Unbestimmte und Unbestimmbare hinein. 101

2.

Noch einmal zur Sitte: das Neben- und Ohneeinander

Doch worein genau teilen sich die beiden Wanderer, wenn sie von dem Anblick, welchen das sich hinbreitende »Gebirge« bietet, überwältigt sind? Worein der Berliner und der Schwarzwälder, wenn der eine ein »Automobil« und der andere »seine Kuh« sieht? Was ist den jeweils Beteiligten »zuvor schon« offenbar? Heidegger hält sich dazu vollkommen bedeckt. Er macht schlicht keinerlei Angaben. Man wird das allerdings nicht missverstehen dürfen. Nichts berechtigt, Heideggers Vorstellung von einem »ursprünglichen Miteinandersein«, durch das die Betroffenen je ausgezeichnet sein sollen, für eine allbefassende Beteuerung selbstherrlichen Philosophierens Siehe auch Z 78; BPP II 722. Vgl. Z 75, 77. Siehe dazu Kober, Michael: Gewißheit als Norm. Wittgensteins erkenntnistheoretische Untersuchungen in Über Gewißheit, a. a. O., S. 97 f.

100 101

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zu nehmen. Es kann damit kaum gemeint sein, dass die Lebenserfahrung des einen sich vollständig mit der des anderen deckt. Das bleibt für den Phänomenologen Heidegger sicher und mit Recht eine empirische Frage, wie weit jenes Miteinander jeweils reicht; was es umspannt und was nicht, lässt sich nicht ein für alle Mal philosophisch festschreiben. 102 Das habe ich zum Mindesten nicht sagen wollen, dass jene vorgängige Gemeinsamkeit ein und dieselbe ausmacht bei allen Menschen. Dafür, dass von irgendeiner Menge an Individuen etwas Gemeinsames wie die Ordnungsfaktoren ihres sinnhaften und verstehbaren sprachlichen sowie mimischen, gestischen oder posturalen Verhaltens vorgängig gewusst wird, muss doch die Wirklichkeit selbst und in jedem Fall aufs Neue den Erweis erbringen. Für Heideggers Beispiels heißt das, dass die Wanderer sowie der Großstädter und der Bauer dann nur und nur in dem Maße auf ursprüngliche Weise miteinander sind, wenn und als bereits ihre logisch früher anzusetzende Offenbarkeit entsprechende Übereinstimmungen aufweist. 103 Dem Umstand, dass Heidegger sich nicht näher darüber auslässt, inwiefern die Figuren seiner zwei Beispiele solcherweise miteinander sind, kann man demzufolge eine aussagekräftige Bedeutung abgewinnen. Was sich darin zum Ausdruck bringt, ist, dass man das schlicht und ergreifend nicht ohne Weiteres zu sagen vermag. Zwar will Heidegger in seiner Einleitung in die Philosophie lediglich auf die allgemeine »Struktur« des Miteinanderseins hinaus, welche im »Sichteilen in Wahrheit« 104 bestehen soll. Der aletheiologische Begriff des Sozialseins, den Heidegger auf den Weg bringt, besagt, dass sozial sein heißt sich mit Anderen in Wahrheit teilen; es bestehe darin, dass Von »Lebenserfahrung« spricht Heidegger selbst in den Vorlesungen des Sommersemesters 1920 und des Wintersemesters 1920/21. (Heidegger, Martin: Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks. Theorie der philosophischen Begriffsbildung (1920), GA 59, Frankfurt a. M. 1993, S. 36; Phänomenologie des religiösen Lebens (1920/21), GA 60, Frankfurt a. M. 1995, S. 8 ff.) 103 Ähnlich beschreibt Cavell in seiner Auseinandersetzung mit der Spätphilosophie Wittgensteins diejenigen Übereinstimmungen (»agreements«) zwischen Menschen, die in den Regeln ihrer Sprache liegen und den Hintergrund (»background«) ihres Bewusstseins bilden, als solche, die bei jedem Aufeinandertreffen zunächst unterstellt werden. Und der Ablauf des Aufeinandertreffens komme dann einer Suchbewegung (»search for«) nach tatsächlicher Übereinstimmung gleich. Vgl. Cavell, Stanley: The Claim of Reason: Wittgenstein, Skepticism, Morality, and Tragedy, Oxford 1979, S. 20, 30. 104 Heidegger, Martin: Einleitung in die Philosophie (1928/29), a. a. O., S. 107. 102

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wir uns mit ihnen in die Unverborgenheit (ἀλήθεια) von Seiendem und seines Seins teilen. Das macht Heidegger nicht an Besonderem fest, an diesem oder jenem, sondern verfolgt den zuwege gebrachten Begriff von Wahrheit qua Unverborgenheit, der ihm von eigentlichem Interesse ist, im »Vierten Kapitel« ohne Aufschub weiter. Aber es bleibt dabei, der Philosoph darf derlei nicht in abstracto dekretieren, darf den Beteiligten nicht über ihre Köpfe hinweg, also ohne die Fülle der Konkretion, in welcher sich das menschliche Leben je abspielt, zu konsultieren, stilles Wissen und eine von daher gedachte Sozialität zuschreiben oder absprechen. 105 Menschliche Sozialität macht danach für Heidegger einerseits etwas Geistiges aus; sie erstreckt sich, mit seinem eigenen Ausdruck, auf das Dasein des Menschen. Die Gemeinsamkeit natürlicher Eigenschaften, die für die ganze Gattung kennzeichnend sind und den Einzelnen mit anderen Vertretern seiner Gattung zusammenschließen (dass sie etwa Haare auf dem Kopf haben oder Nahrung bedürfen), ist ihm nichts Soziales. Damit ist aber andererseits nicht gesagt, dass nach Heidegger alles Geistige sozial ist. Dass für alle Menschen Seiendes und dessen Sein da ist, ist ebenfalls noch nichts Soziales; auch die Gemeinsamkeit geistiger Eigenschaften, insofern sie für das menschliche Dasein als solches kennzeichnend sind und den Einzelnen mit anderen Angehörigen dieser Gattung in einem zusammenkommen lässt, reicht nicht hin. Ein Dasein ist ihm nicht deshalb sozial, weil es irgendwo noch ein anderes Dasein gibt. Dazu gehört mehr. Was Heidegger sagen will, ist stattdessen, dass ein Dasein dann nur und nur in dem Maße sozial ist, wenn und als es mit einem anderen Dasein in derselben Wahrheit ist. Sich teilen heißt ihm nicht so viel, wie dass etwas in gleiche Stücke zerteilt und unter den Beteiligten aufgeteilt wird oder dass mehrere daran zu gleichen Teilen beteiligt sind. 106 Wie Heidegger im Verfolg des »Dritten Kapitels« klarstellt, ist demgegenüber die Teilhabe an Identischem gemeint. Viele haben an etwas teil, das für jeden von ihnen das Nämliche ist. In Rede steht eine solche »Selbigkeit«, wie Heidegger seinen

Dass sich solches Zuschreiben und Absprechen mit anderen Schwierigkeiten konfrontiert sieht als dasjenige von einem Wissen, welches der jeweilige Akteur selbst verlautbart, dazu siehe überblickshaft Miller, Alexander: Tacit Knowledge, in: Hale, Bob/Wright, Crispin (Hg.): A Companion to the Philosophy of Language, Oxford 1997, S. 146–174. 106 Vgl. Duden. Deutsches Universalwörterbuch, a. a. O., S. 1737. 105

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Sprachgebrauch erläutert, »die relativ auf uns ist«: »Hier ist ein Selbiges, das so benannt wird, […] weil es für mehrere dasselbe ist« 107. Gleichwohl muss man nach demjenigen fragen dürfen, was Heidegger im Abstrakten belässt, nämlich worin das »ursprüngliche Miteinandersein« hierbei bestehen könnte. Was mögen das für Übereinstimmungen sein, die der Deutungsspielraum der Heidegger’schen Beispiele bereithält? Irgendetwas muss sich ja angeben lassen, wenn damit auch dem konkreten Leben nicht endgültig vorgegriffen sein darf, um den beiden Szenarien, wie Heidegger sie stehen lässt, den Charakter einer Versicherung zu nehmen. Tatsächlich schließt das zweite Beispiel, um damit anzufangen, an die bisherige Diskussion an und bringt sie zugleich voran. Denn man kann doch nach allem, was ich auseinandergesetzt habe, auf jeden Fall dies feststellen: dass der Großstädter, indem er ein »Automobil«, und der Bauer, indem er »seine Kuh« sieht, je etwas sieht, in Bezug worauf die Gesellschaft gewisse Weisen des Umgangs pflegt. Obwohl das eine ein menschliches Artefakt und das andere ein Produkt der Natur ist, existieren allemal irgendwelche Sitten, die das Verhalten der Menschen dazu formen, solche, die der Berliner und der Schwarzwälder wahrscheinlich kennen und gar mehr oder weniger verinnerlicht haben, wenn sie diese auch gegenwärtig weder regsam praktizieren noch geruhsam bedenken. Dazu zählt etwa, um nur einiges herauszugreifen, wie man sich üblicherweise dazu verhält (ein »Automobil« wird gefahren, betankt, geputzt, gewartet usw., eine »Kuh« gezüchtet, gefüttert, gemolken, geschlachtet etc.), wer das für gewöhnlich macht (zur damaligen Zeit eher ein wohlhabender Großstädter oder eher ein vielleicht minderbegüterter Bauer) und was dabei normalerweise mitgenutzt wird (Straßen, Verkehrsschilder, Tankstellen und Kfz-Werkstätten bzw. ein Bauernhof mit Weiden, Feldern, Ställen und anderen Tieren). 108 Vgl. Heidegger, Martin: Einleitung in die Philosophie (1928/29), a. a. O., S. 96 f. In § 15 von Sein und Zeit distinguiert Heidegger anhand seines Hammer-Beispiels fünf Bezüge, in denen etwas steht, das einem als dienliches Gebrauchsding oder Zeug, wie er sich ausdrückt, begegnet. Diese Bezüge sind dem Betreffenden schon vor der Begegnung entdeckt und fließen in sie ein: das »Um-zu« (der Hammer, um zu hämmern), das Womit (mit einem Nagel und einer Wand), das »Wozu« (zum Aufhängen eines Bildes), das Woraus (aus Holz und Metall) sowie das Wer (eher ein erwachsener Mann, ein Handwerker gar). Vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit (1927), a. a. O., S. 92 ff. Siehe dazu detaillierter Zimmermann, Stephan: Heidegger über den Streit von Welt und Erde in der Kunstwerk-Abhandlung, in: Heidegger Studien 33 (2017), S. 205 f.

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Obwohl Heidegger selber das nicht ausspricht, hat man nicht nur keinen Grund, diese Deutung abzuweisen. Im Lichte der zurückliegenden Auseinandersetzung mit dem Erfahrensein des Menschen in den jeweiligen Dingen seines Lebens betrachtet, legt das Beispiel nahe und lässt sich insofern daran anschließen, dass diese hier ebenfalls zu Buche schlägt. Steht doch das eine wie das andere, das »Automobil« wie die »Kuh«, in Relation zu etwas, das dem Berliner und dem Schwarzwälder vermutlich geläufig ist. Und dabei könnte es sich um ebendas handeln, worauf ich die anfängliche Freilegung vorgängiger Gemeinsamkeit gestellt habe, nämlich Formen gesellschaftlicher Praxis. Das von den beiden Protagonisten unthematisch Gewusste, wenn auch in der vorliegenden Situation weder praktizierte noch bedachte, wäre dann für Heidegger die von einer Menge an Individuen (zu der sie wohl selber gehören) geübten Gepflogenheiten des Verhaltens zu derlei Sachen. Und dadurch lässt sich, was wir diskutiert haben, zugleich voranbringen. Denn indem jene Formen der Praxis einer Gesellschaft solche der Nutzung von etwas wie einem »Automobil« oder einer »Kuh« sind, implizieren sie diese Dinge. Das eine ist gar nicht von dem anderen abzulösen. Unsere lebendigen Konventionen, wenn sie auch geschichtlich und kulturell variieren, gehen oftmals auf irgendeinen Gebrauch von irgendwelchen Dingen. Und einen Sinn für diese haben heißt in einem einen Sinn für jene haben, welche man gebraucht. 109 Dasselbe trifft auf Heideggers erstes Beispiel zu. Wird es dahingehend angeleuchtet, tritt heraus, dass die Wanderer, indem sie das »Gebirge« erblicken, gleichfalls etwas erblicken, im Zusammenhang womit eine menschliche Gesellschaft zu gewissen Üblichkeiten organisiert ist. Zwar ist ein solches Stück Natur kein Erzeugnis des Menschen, wogegen die »Kuh« gewiss in der Haltung durch den Bauern gezüchtet wurde; aber es spielt doch in irgendeiner Hinsicht eine Rolle in dem, was die Angehörigen der betreffenden Gesellschaft trachten und treiben. Dazu könnte u. a. zählen, wie man sich aus eigener Nach Heidegger sind die vorgenannten Bezüge, in denen steht, was uns als Zeug erscheint, der betreffenden Sache nicht äußerlich. Sie werden nicht nachträglich an sie angestückt, nachdem wir die Sache bereits auf andere Weise erkannt haben. Die Sache ist an sich selbst, als was sie einem erscheint: geeignet für etwas (Holz und Metall sind dienlich, um einen Hammer daraus zu fertigen, dieser eignet sich zum Hämmern, am Nagel in der Wand kann man etwas aufhängen usw.). Vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit (1927), a. a. O., S. 93.

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Erfahrung vergegenwärtigen kann, dass »Gebirge« häufig für Touren, zum Klettern oder allerlei Wintersport genutzt werden, dass am Fuße von Bergen gemeinhin landwirtschaftliche Betriebe wie Almbauernhöfe und Sennereien angesiedelt sind, dass weiter oben Hütten betrieben werden und auf der höchsten Spitze des Öfteren ein Gipfelkreuz aufgepflanzt steht. Und das Erlebnis, welches die Bergwelt den Wanderern bietet, ist durchsetzt und umzogen eben von ihrer diesbezüglichen Erfahrenheit. Das Erleben der Bergwelt enthält die Gravur der vorbewussten und vorintentionalen Erstreckung ihrer Existenz, welche gewiss die Bekanntschaft und gar Vertrautheit mit derlei gesellschaftlichen Üblichkeiten birgt. Aufgrund dessen ist ihnen das »Gebirge«, wenn sie auch dieses zuvor noch nie gesehen haben mögen, doch nichts ganz und gar Unvertrautes oder gar Unbekanntes. Weber übersieht das. Der Umgang, den jemand mit Sachen pflegt, hat seines Erachtens nichts Soziales an sich: »Nicht jede Art von Handeln – auch von äußerlichem Handeln – ist«, so liest man in den Soziologischen Grundbegriffen, »›soziales‹ Handeln im hier festgehaltenen Wortsinn. Äußeres Handeln dann nicht, wenn es sich lediglich an den Erwartungen des Verhaltens sachlicher Objekte orientiert.« 110 Und so auch Simmel. Dieser lässt in seiner Soziologie einmal beiläufig die Bemerkung fallen, dass man in einem gewissen Fall, welchen er skizziert, hier aber nicht weiter zu interessieren braucht, »von Gesellschaft so wenig reden [kann], wie zwischen dem Tischler und der Hobelbank« 111. Die Beziehung des Tischlers oder sonst eines Handwerkers zu seiner Hobelbank oder irgendeinem anderen Arbeitsgerät könne nicht für sich in Anspruch nehmen, eine soziale zu sein. Dagegen moniert der Sozialphilosoph Herman Schmalenbach in einem kleinen Aufsatz aus dem Jahre 1927, ohne Bezug auf Weber, aber unter Nennung Simmels, dass sich die »Soziologie […] nur als die Wissenschaft von den sozialen Verhältnissen der Menschen untereinander zu betrachten [pflegt]« 112. Dem Soziologen seien »die Sachen, wenn überhaupt, so höchstens als die ›Ergebnisse‹ oder als

Weber, Max: Soziologische Grundbegriffe (1921), a. a. O., S. 11. Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, a. a. O., S. 135. 112 Schmalenbach, Herman: Soziologie der Sachverhältnisse, in: Jahrbuch für Soziologie 3 (1927), S. 38. 110 111

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die ›Voraussetzungen‹ sozialer Verhältnisse interessant«. Schmalenbach denkt dabei vornehmlich an Simmel, andere Vertreter einer formalen Konzeption von Soziologie passen indes ebenfalls hierher. Dieser Konzeption zufolge sollen gesellschaftliche Beziehungen, das liegt ja, wie gesehen, in deren Grundbegriff der Wechselwirkung, lediglich zwischen Menschen bestehen und sich nicht auch auf Sachen erstrecken, jedenfalls dann nicht, wenn Sachen nicht in derlei Wechselwirkungen vorkommen. Dem stehe jedoch das Faktum entgegen, wie Schmalenbach mit Recht einwendet, dass wir ganze Zeitalter durch deren typischen Bezug zu typischen Sachen im weitesten Sinne charakterisiert finden. Sei doch die Verschiedenheit der »sozialen Verhältnisse […] der Menschen zu den Tieren« wie überhaupt »zur Natur«, aber auch zu Artefakten wie »Hausrat« und »Kleidung« kennzeichnend für ganze Kulturen. Schmalenbach mahnt deswegen eine, so der Titel seines Aufsatzes, Soziologie der Sachverhältnisse an. Und er gibt vier Beispiele, um seine Anmahnung zu plausibilisieren und ihr Gewicht zu verleihen. (Im gegenwärtigen Kapitel gebe ich nur drei wieder, das letzte nehme ich erst im nachfolgenden Kapitel mit hinzu.) Als ersten Fall nennt er den »Abkömmling eines alten Bauerngeschlechts«, »das Jahrhunderte hindurch auf dem angestammten Hofe gesessen hat« 113. In jüngeren Jahren lässt sich der »Abkömmling«, da ihm genügend Mittel zur Verfügung stehen, dazu verleiten, ein größeres, schöneres und wirtschaftlich lukrativeres Gut zu kaufen. Dieses hält zwar, was es verspricht. Doch als der Erbe älter wird, steigt in ihm die Erinnerung an das Elternhaus wieder auf, mit dem er nach so langer Zeit, wie er nun erkennen muss, immer noch verwachsen ist. Das neue Anwesen ist trotz aller Vorzüge nicht das, wo er »geboren« wurde und seine »Jugend« verbrachte, wo seine »Vorfahren« lebten und starben. Das alte Gehöft, das er damals verkaufte, ist doch, obwohl es seitdem einem Anderen gehört im eigentumsrechtlichen Sinne, nach wie vor »das ›seine‹«. Ihm will nicht in den Kopf, dass er dort nicht mehr darf, was dem jetzigen Eigentümer vorbehalten ist. Man mag hier ebenso an Thomas Manns preisgekrönten Gesellschaftsroman Buddenbrooks. Verfall einer Familie (1901) denken. Dort trägt sich eine vergleichbare Episode zu. Der repräsentative Stammsitz der begüterten, dem hanseatischen Großbürgertum angehörenden Lübecker Kaufmannsfamilie, welches der Großvater einst 113

Ebd., S. 39.

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erstand, lässt sich nach dem Tod der Mutter nicht mehr halten. Während der Sohn, der mit seiner Familie ein eigenes Heim bewohnt, Thomas Buddenbrook, die Veräußerung wie irgendeine geschäftliche Transaktion sonst auch abwickelt, hängt seine Schwester, Antonie Buddenbrook, glücklichen Tagen nach, die sie im Haus der Eltern und Großeltern verbracht hat. Durch die Schicksalsschläge ihres Lebens hindurch war ihr dieses ein ruhender Pol. Nach wie vor fühlt sie sich damit verbunden: »Als wir klein waren und ›Kriegen‹ spielten, Tom, da gab es immer ein ›Mal‹, ein abgegrenztes Fleckchen, wohin man laufen konnte, wenn man in Not und Bedrängnis war, und wo man […] in Frieden ausruhen konnte. Mutters Haus […] war mein ›Mal‹ im Leben, Tom!« 114 Für sie wird der Familienwohnsitz auch über den Verkauf hinaus bleiben, was es war und ist: »Unser Haus!« 115 Damit dasjenige, worauf Schmalenbach abstellt, einesteils nicht mit rechtlichen Eigentumsverhältnissen gleichgesetzt wird, bietet er ein weiteres, leicht abgewandeltes Beispiel auf. Jemand, der in jungen Jahren die elterliche Wohnung verlassen und sich eine neue Existenz in weiter Ferne aufgebaut hat, kehrt nach langer Abwesenheit besuchsweise heim. »Er tritt in die Wohnung, darin er seine Kindheit verbracht hat. Die alten Räume umfangen ihn. […] Alles das sieht ihn seltsam vertraut, wenn auch jetzt kaum weniger fremd an. Er spürt seine Verbundenheit mit den Dingen, die ihm doch niemals gehört haben.« 116 Von Recht und Eigentum ist da keine Rede. Trotzdem besteht »eine Verwachsenheit, die sich durch langes Zusammenleben in der Frühzeit des eigenen Daseins begründet hat«. Anderenteils will Schmalenbach, was er meint, auch nicht auf Beziehungen positiver Art restringiert wissen. Er bringt deshalb noch einen dritten Fall vor: »Man erlebt die Verwachsenheit mit Dingen, die man geerbt hat, in deren Umgebung man groß geworden ist, oder auch mit solchen, die vielleicht unmittelbar niemals verbunden waren, die aber früheren Vorfahren gehört haben und deren Lebenszeugnisse an sich tragen, als einschnürende Last.« 117

Mann, Thomas: Buddenbrooks. Verfall einer Familie (1901), GKFA 1.1, Frankfurt a. M. 2002, S. 644. 115 Ebd., S. 643. 116 Schmalenbach, Herman: Soziologie der Sachverhältnisse, a. a. O., S. 40. 117 Ebd., S. 41. 114

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Die betreffenden Dinge werden dann ›Zeug‹ oder ›Gerümpel‹ genannt, man wünscht sie aus den Augen. Doch sie zu entfernen, »kann« das »soziale Verhältnis der Verwachsenheit mit Dingen«, wenn es für den Betreffenden eben auch negativ besetzt sein mag, »niemals aufheben«. Schmalenbach erachtet derartige Bezüge, und das macht ihn für uns bedeutsam, nicht nur als in die Münze des menschlichen Bewusstseins gedruckt. So bemerkt er etwa im Zuge seines zweiten Beispiels expressis verbis: »Der Zusammenhang mit den Dingen der Kindheit ist als ein ins ›Unbewußte‹ eingewachsener lebendig geblieben. Da diese Dinge nach langer Getrenntheit wieder sichtbar werden, bricht das Bewußtsein des Zusammenhangs herauf. [Herv. d. Verf.]« Und weiter: Der »Zusammenhang wird als ein unbewußt bestehender bewußt, ohne dies vielmehr akzessorische Bewußtwerden zu seinem Bestehen im Unbewußten nötig zu haben. [Herv. d. Verf.]« Dieser Punkt wird von Schmalenbach zwar mehrfach angesprochen und so unterstrichen. Ohne Zweifel ist er ihm daher für seine Bestimmung »sozialer Sachverhältnisse« 118 wesentlich. Was allerdings das Soziale an solcherlei Verhältnissen zu Sachen ist oder sein könnte, führt Schmalenbach mit keinem Wort aus. 119 Ich möchte die von ihm aufgeführten Fälle jedoch deuten (wenn sie dadurch auch nicht ausgeschöpft sind). Wie bei Heidegger kann man nämlich sagen, dass der Protagonist die betreffenden Dinge, zu denen er laut Schmalenbach ein soziales Verhältnis hat, in einer seinem erneuten Bewusstsein von diesen Dingen vorgängigen Relation zu derjenigen familialen Gemeinschaft von Menschen weiß, welcher er selbst angehört oder angehörte. Der »Abkömmling eines alten Bauerngeschlechts« besitzt ein apriorisches Wissen um den »angestammten Hofe« in Relation zu dem Familienleben, in dem sich seine Jugend abspielte. Ähnlich ist dem Heimkehrer die »Wohnung« seiner Kindheit und Antonie Buddenbrook »Mutters Haus« bekannt relativ Ebd., S. 42. »Dinge, die in unser gesamtes Dasein so eingewoben sind, an die wir durch Gewohnheit so gefesselt sind, daß ihre Fortnahme uns sehr stören, ja uns aus unserer Bahn bringen würde, brauchen uns bewußtseinsmäßig […] kaum gegenwärtig zu sein. [Herv. d. Verf.]« (Ebd.) Ferner ist von einem »Selbstverständlichwerden« der Dinge und ihrem »Eingehen ins Unbewußte« die Rede. Und: »Umgekehrt ist die Verwachsenheit eine zwar, obwohl vielleicht auch gewußte, doch nicht im Gewußtwerden oder in unlösbarer Verbindung damit (dem Bewußtsein) bestehende, sondern an sich selbst und wesensmäßig im Unbewußten bestehende Verbindung. [Herv. d. Verf.]«

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auf das Leben in ihrer jeweiligen Familie. Und dabei spielt es keine Rolle, anders als wir etwa in Rousseaus politiktheoretischem Begriff der sittlichen Freiheit und in Hegels rechtsphilosophischem Begriff der Sittlichkeit gefunden haben, ob die Zugehörigkeit zu der respektiven Lebensgemeinschaft für den Einzelnen positiv oder negativ behaftet ist. So oder so wurden von der Familie gewisse Weisen des Verhaltens nicht bloß im Verhältnis der Mitglieder zueinander, sondern auch zu Sachen wie dem »Hof« oder »Haus« sowie der »Wohnung« geübt, so dass jene Sachen ihrerseits der Familie und den für sie charakteristischen Verhaltensweisen zugehören. Und ebendiese Bezüglichkeit ist es, die bei den Betreffenden ins Unbewusste eingegangen ist und zu ihrem Fortbestand nicht des erneuten Bewusstseins bedarf. Mit dieser Deutung sowie den zugegebenermaßen holzschnittartigen Beibringungen auf der Grundlage von Heideggers Vorlesung ist die Verengung des Sozialen durch den Begriff der Wechselwirkung in einer ersten Hinsicht rückgängig gemacht (im folgenden Kapitel IX.3 kommen noch zwei weitere Hinsichten hinzu). Denn dadurch sticht doch ins Auge, dass gesellschaftliche Regeln gar nicht bloß solche des Mit-, Für- und Gegeneinanders der Menschen sind; davon habe ich meine Überlegungen anheben lassen. Sondern sie geben selbst noch deren Neben- und Ohneeinander Ordnung; der Sachbereich der Sitte umfängt ebenso, dass Menschen nebeneinander und ohneeinander aktiv sind. Insgesamt lassen sich dabei zwei Fälle identifizieren. In jedem Fall gilt aber, dass das Tun und Lassen des Einzelnen seiner Art nach auf Gesellschaft bezogen ist, obwohl er in keiner Wechselwirkung mit Anderen steht oder auch nur bewusst an ihnen orientiert ist. Wohl gibt es Aktivitäten, die man ausschließlich mit Anderen praktizieren kann. Dazu zählt beispielsweise, einen Vertrag zu unterzeichnen, zu heiraten oder zu grüßen. Derlei Tätigkeiten sind ohne eine weitere Person nicht möglich, eine, der man sich vertraglich verpflichtet, die man heiratet oder grüßt. Daneben gibt es allerdings auch solche gesellschaftlichen Konventionen – das ist der erste Fall, der sich identifizieren lässt –, die nicht zwingend eine weitere Person erfordern. Man kann sie sowohl mit als auch ohne Andere praktizieren. Heideggers Wanderer z. B. haben gelernt, was es heißt zu wandern. Dazu gehört es u. a. zu wissen, dass man so etwas in manchen Gegenden machen kann, auf einem »Pfad« und über eine »Halde« etwa, in anderen eher nicht. Nun könnte aber einer dieser Wanderer genauso 408 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

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gut allein über »Pfad« und »Halde« wandern. Die Gepflogenheit des Wanderns ist eine, in die sich viele Menschen teilen, aber sie lässt sich, wenn sie einmal gelernt, ja »ins ›Unbewußte‹ eingewachsen« ist, auch ohne Begleitung realisieren. Die Handlungsweise, welche der eine Wanderer dann einsam praktiziert, ist, was sie ist, nach wie vor in Bezug auf die betreffende menschliche Gesellschaft; sie bleibt eine soziale. So auch in Heideggers anderem Beispiel. Der Großstädter mag das »Automobil«, welches er vor sich sieht, einmal fahren oder betanken, putzen oder warten, und der Bauer kann »seine Kuh« im nächsten Augenblick zu füttern oder zu melken beginnen, zur Züchtung einsetzen oder schlachten. Die betreffenden Weisen des Handelns haben sie zwar in der Gesellschaft erlernt. Aber wenn sie diese einmal erlernt und internalisiert haben, können sie sie auch für sich praktizieren; und sie unterliegen dabei nach wie vor denselben gesellschaftlichen Standards und Kriterien. Etliche der durch normative Kontrolle und Berichtigung zur zweiten Natur eingewöhnten Standards und Kriterien des Handelns können uns auch dort bestimmen, wo wir nicht auf Andere hin agieren, wo wir nur neben ihnen her oder sogar ganz ohne sie sind. Hinsichtlich der familialen Verhaltensweisen, die man Schmalenbachs Figuren bzgl. »Hof«, »Haus« und »Wohnung« zuschreiben kann, mag man sich leicht Entsprechendes zurechtlegen. Zum Beispiel könnte die jeweilige Familie ihre gemeinsamen Mahlzeiten stets in einem bestimmten Raum gehalten haben, zu bestimmten Zeitpunkten, zusammen mit dem Gesinde oder ohne bzw. mit oder ohne Bedienstete. Und so verhält es sich schließlich auch damit, um einige Modellbeispiele einer Interaktion unter Anwesenden wieder aufzunehmen, die in der rezenten Debatte zur Ontologie des Sozialen diskutiert werden, einen Baum zu fällen, zu kochen oder Fußball zu spielen. Sobald man sich darauf versteht, eine Säge zu benutzen, Zutaten, Utensilien und Rezepte zu gebrauchen sowie mit einem Ball zu kicken, sobald also der Zusammenhang mit derlei Dingen »ein unbewußt bestehender« ist und ein »Bewußtwerden zu seinem Bestehen im Unbewußten« nicht nötig hat, muss man all das nicht mehr nur zusammen mit Anderen tun, wie man auch eine Mahlzeit fortan für sich einnehmen kann. Schließlich existieren in einer Gesellschaft sogar solche Regeln – das ist der zweite Fall, der sich identifizieren lässt –, die eine weitere Person gar nicht vorsehen. Man wird wohl von Anderen damit ver409 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

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traut gemacht, ihre Ausführung jedoch erfolgt dann tendenziell allein. Man denke etwa an die täglichen Verrichtungen der Körperhygiene wie duschen und Zähne putzen oder an solche der Hausarbeit. Mit der Heraufkunft der industrialisierten Gesellschaft hat sich die Erledigung etlicher häuslicher Arbeiten nicht nur aus dem einstmals vorherrschenden erweiterten Haushaltsverband des sog. ganzen Hauses gelöst, zu dem mehrere Generationen und Seitenlinien sowie das Gesinde zählten. Infolge technischer Innovationen werden jene Arbeiten geradezu in die »Unsichtbarkeit« 120 abgedrängt und im Verborgenen erledigt; sie können einsam verrichtet werden. Das betrifft insbesondere solche, die der Instandhaltung des Haushalts dienen wie Staub saugen, Wäsche waschen, bügeln und Geschirr spülen, wofür elektrische Geräte zur Verfügung stehen, deren Bedienung keinen Anderen erfordert. 121 Oder man denke an die einer Beichte notwendig vorhergehende Selbstthematisierung des Beichtwilligen, seines äußeren Wandels und Innenlebens. Ist diese Institution doch für das Menschenbild im christlichen Abendland und den einschlägigen Typ von Selbstüberwachung und -kontrolle nicht ohne Bedeutung gewesen. 122 Im Ergebnis heißt das, dass Handlungen, wenn sie auch nicht bewusst an einem anderen Menschen ausgerichtet sind, durchaus nicht vollends auf sich vereinzelt sein müssen. Ein Verhalten, dem der Akteur nicht den Sinn beimisst, dass es sich in Richtung auf Andere bestimmt, sei es mit ihnen, für sie oder gegen sie, kann durchaus ein gesellschaftliches Moment besitzen. Nicht nur, dass selbst ein einseitiges Ausgerichtetsein auf (anwesende oder nichtanwesende) Andere nicht das kleinste Element der Gesellschaft darstellt; selbst noch dem Neben- und Ohneeinander mag ein sozialer Aspekt eignen. Denn menschliches Tun und Lassen kann auch dort, wo Akteure nur neben- oder gar ohneeinander agieren, sprich ohne eines Anderen bewusst zu sein und etwas auf ihn hin zu intendieren, seiner Art nach ein gesellschaftliches ausmachen: Die allgemeine Art des Handelns, Beck, Ulrich: Freiheit oder Liebe. Vom Ohne-, Mit- und Gegeneinander der Geschlechter innerhalb und außerhalb der Familie, in: Ders./Beck-Gernsheim, Elisabeth: Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt a. M. 1990, S. 33. 121 Siehe dazu Scheid, Eva-Maria: Die Küche – die Fabrik der Hausfrau, Marburg 1986. 122 Vgl. Hahn, Alois: Identität und Selbstthematisierung, in: Ders./Kapp, Volker (Hg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt a. M. 1987, S. 18 ff. 120

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Begriffsbestimmung: Gemeinsamkeit des vorgängigen Wissens

in der sich ein von implizitem Wissen unterbautes Können manifestiert – nicht aber auch notwendig der Umstand, dass dieses besondere Handeln hier und jetzt ausgeführt wird –, ist sozial und so auch jenes Wissen und Können, das sich darin manifestiert. In der Tat bildet derlei ja auch einen veritablen Gegenstand der empirisch arbeitenden Sozialwissenschaften. Deren Ressort ist beträchtlich weiter, als es in der schmalen Definition von Simmel, Vierkandt und von Wiese anklingt. Gehören doch dazu ganz fraglos eingewöhnte Verrichtungen z. B. der Körperhygiene oder Hausarbeit, wie sie mehr oder weniger übereinstimmend auch noch in modernen Singlehaushalten getätigt werden.

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Die zweite und abschließende Begriffsbestimmung: Gemeinsamkeit des vorgängigen Wissens

Allein, das scheint Heidegger doch nicht das Vordringliche zu sein, wenn es überhaupt das ist, was ihm dabei vorschwebt. Der von ihm selber ungehobene Deutungsspielraum seiner Beispiele gibt noch anderes her. Denn zum Wandererbeispiel kann man auf jeden Fall dies noch feststellen: dass der von Heidegger wiederholt erwähnte Sachverhalt, wonach die Wanderer »hingerissen« sind, »schweigend […] stehen«, »benommen« sind »von dem Anblick«, anzeigt, dass sie das vor ihnen aufragende Gebirge auf eine bestimmte Art anschauen. Wie sich der Berliner Großstädter in der folgenden Sekunde zu dem »Automobil«, das er sieht, und der Schwarzwälder Bauer zu seiner »Kuh«, die er sieht, verhalten mag, weiß man nicht; Heideggers wortkarge Schilderung liefert keinerlei Hinweis. Die Wanderer sind indessen nur allzu deutlich in Bann geschlagen. Betontermaßen tun sie nichts außer wahrnehmen, was wohl noch über den Augenblick hinaus anhalten wird. Und sie sind obendrein sogar in die Aussicht, welche sich ihnen unversehens eröffnet hat, versunken. Der Verweis auf gesellschaftliche Traditionen rund um Berglandschaften liegt hier deswegen kaum am nächsten, wenn er in der Sache auch nicht falsch ist. 123 Man mag hier an das Thema der Befindlichkeit bzw. Stimmung denken. Jedoch ist das in Heideggers Vorlesung gar nicht thematisch; viermal nur und ganz kurz ist davon die Rede (vgl. Heidegger, Martin: Einleitung in die Philosophie (1928/29), a. a. O., S. 37, 125, 312, 329). Es wäre daher merkwürdig, wenn Heidegger sein Wandererbeispiel daraufhin ausgewählt haben sollte.

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Und doch. Dass Heidegger das Gewicht des Beispiels einerseits auf das Anschauen, Wahrnehmen, oder was es sei – er verwendet kein eigenes Verb –, und andererseits auf dessen nähere Vollzugsweise legt (»hingerissen«, »schweigend«, »benommen«), kann man wie folgt deuten. Die Deutung knüpft allerdings sehr wohl an die bisherige Untersuchung an und bringt sie wiederum weiter, jetzt aber nach einer anderen Richtung. Diese Richtung lässt sich angeben, indem man die Zergliederung der intentionalen Zustände des menschlichen Bewusstseins in ihre drei Bausteine erneut vornimmt. Denn vor der Folie dieser Zergliederung wird sichtbar, dass, was ich bis dato unter dem Begriff vorgängiger Gemeinsamkeit erörtert habe, ausschließlich den intentionalen Gehalt des Bewusstseins betrifft. Zu jedem Fall von Bewusstsein, so habe ich gesagt, gehört eines, wozu sich das Bewusstsein verhält, etwas, das jemandem bewusst ist. Dieses Was des Bewusstseins kann nicht nur durch etwas implizit Gewusstes unterfüttert sein; es kann auch, insofern sich das implizit Gewusste auf etwas Soziales beläuft, seinerseits sozial bestimmt sein. Ein großer Kreis von Erscheinungen hat das belegt. Danach ergießen sich sowohl in der verbalen Kommunikation, sprich beim Reden und Hören, Schreiben und Lesen, als auch in der nonverbalen Kommunikation, die etwa mittels Mienen, Gesten und Posen abläuft, sowie in jeder anderen Hinkehr zu sinnhaften und verstehbaren Phänomenen Vorkenntnisse in das von den Beteiligten je Intendierte, die aber dem Betreffenden nicht bewusst sind und auch nicht sein müssen. Und das Intendierte ist selbst dann, wenn sich jemand auf etwas Natürliches wie eine »Kuh« oder etwas Artifizielles wie ein »Automobil« bezieht, etwas also, das kein sinnhaftes und verstehbares Phänomen ist, von solchen Vorkenntnissen umstellt, die nicht seine allein sind. Nun schiebt sich stattdessen eine andere Komponente der intentionalen Zustände des Bewusstseins nach vorn, und zwar deren intentionale Form. Das bringt die Erörterung weiter. Jeder Fall von Bewusstsein, so habe ich gesagt, ist ein Verhalten zu etwas. Dass die zwei Wanderer »hingerissen« sind, »schweigend […] stehen«, »benommen« sind »von dem Anblick«, verweist ebendarauf. Charakterisiert Heidegger damit ja nicht, was sie intendieren, sondern die Art und Weise, wie sie es tun. Mithin handelt es sich dabei um eine spezifische Form des Sich-darauf-richtens, wie es auch das Beabsichtigen und Befürchten, Vorstellen, Erinnern u. dgl. m. ist. Und dass die beiden »von dem Anblick« »hingerissen« sind, »schweigend […] stehen«, »benommen« sind, kennzeichnet offenbar diese Art und Weise 412 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

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– das Anschauen, Wahrnehmen, oder was es sei – noch einmal näher; es kennzeichnet, wie genau sich dieses Sich-darauf-richten hier vollzieht. Das lässt sich an dasjenige anknüpfen, was bislang untersucht wurde. Denn muss jemand nicht, wo er in einem Bereich von Realität bewandert ist, eo ipso darin bewandert sein, wie man sich diesem Realitätsbereich zukehren kann? Heißt apriorisch um ersteres wissen nicht auch apriorisch um letzteres wissen? Verstehe ich mich nicht ebenso darauf, mir Reales, was auch immer es sei, beabsichtigend oder befürchtend, vorstellend oder erinnernd etc. gegeben sein zu lassen? Das ist es, was die von Heidegger geschilderte Begebenheit desgleichen durchblicken lässt. Denn das Erlebnis der Wanderer kann von Heidegger nur so gekennzeichnet werden, dass das »Gebirge« für beide im Anschauen da ist, wenn vorausgesetzt ist, dass die zwei damit nicht unerfahren sind, wie man es macht, sich anschauend zu etwas zu stellen. Und ihr Erlebnis kann überdies nur so gekennzeichnet sein, dass sie sich im Wahrnehmen der Berge verlieren, weil die zwei auch damit bereits Bescheid wissen, wie es geht, etwas selbstverloren wahrzunehmen (etwa wo und wann so etwas gefahrlos tunlich ist). 124 Jeder intentionale Akt des menschlichen Bewusstseins nimmt ein Wissen in Anspruch, das nicht erst aus dem betreffenden Bewusstseinsakt hervorgeht. Er gestaltet sich, je nachdem man bereits weiß, worauf es dabei ankommt. Dieses Wissen ist eines von so etwas wie den Standardbedingungen der jeweiligen Modifikation von Intentionalität sowie der Arten und Grade möglicher Abweichung. Um bloß vier geläufige Fälle von Sinnestäuschung zu bemühen: Was heißt eine Farbe wahrnehmen und nicht wissen, dass Farben sich im Zwielicht der Abenddämmerung anders ausnehmen als im Tageslicht? Oder dass eine getönte Brille, die man auf der Nase trägt, dem Wahrgenommenen eine andere Tönung verleiht, als dieses von sich In Vorlesungen der 1920er Jahre kommt Heidegger selber darauf zu sprechen. Dort, wo sich sein Denken noch an Problemstellungen der Phänomenologie seines Lehrers Husserl reibt und der Sache wie dem Wortlaut nach mit der Intentionalität des menschlichen Bewusstseins befasst, findet sich die Idee, wonach man vor dem Wahrnehmen eines Wahrgenommenen schon ein Verständnis hat von dessen »Wahrgenommenheit«, davon also, was es heißt, das etwas etwas Wahrgenommenes ist. (Heidegger, Martin: Die Grundprobleme der Phänomenologie (1927), a. a. O., S. 99) Vgl. Heidegger, Martin: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (1925), a. a. O., S. 52.

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aus hat? Was heißt einen Stock, der halb in Wasser eingetaucht ist, wahrnehmen und nicht wissen, dass der Stock auch im Wasser bleibt, was er ist, nämlich gerade, wenn er auch krumm erscheint? Und was heißt auf einer heißen Straße oder in der Wüste eine Wasseroberfläche wahrnehmen und nicht wissen, dass der Effekt von einer Luftspiegelung herrührt? Das Wahrnehmen verdankt sich hier wie sonst, und so jede übrige Intentionalität unseres Bewusstseins auch, einem Vorwissen. Und diesem Vorwissen kann eine Gemeinsamkeit mit anderen Menschen eignen, die dem Vollzug der jeweiligen Wahrnehmung oder sonstigen Bewusstseinsintentionalität gegenüber vorgängig ist und darin Anwendung findet. Dass das Wie des Intendierens einen sozialen Charakter aufweisen kann, lässt sich besonders gut an derjenigen Erkenntnisweise fasslich machen, die für die methodisch bestimmte Wissenschaft der Moderne definierend ist. In Kapitel VIII.2 habe ich herausgestellt, dass diese Weise des Erkennens eine spezielle Herausforderung für die Sozialontologie birgt. Ich habe auseinandergesetzt, dass laut Bacon die Naturwissenschaften – und Durkheim glaubt dasselbe für die Sozialwissenschaften – ihren Aussagen unverkürzte Objektivität und intersubjektive Nachprüfbarkeit sichern können durch die gewissenhafte Einhaltung derjenigen Maßregel, dass jemand, der Aussagen aus den Dingen schöpfen will, dabei sein Selbst zurückzuhalten hat. Der Forscher habe seine Voreingenommenheiten, welche auf Rechnung des Alltags wie des beruflichen Betriebs gehen, konsequent der Obhut des Selbstbewusstseins zu unterwerfen und dadurch zu neutralisieren. So können sich die Gegebenheiten der Natur in bewusstem Kontrast dazu frei und unverstellt, also derart zeigen, wie sie rein von sich her sind. Die zwischenzeitliche Beschäftigung mit der Sache unthematischen Wissens lässt nun allerdings einsehen, dass in dieser Auseinandersetzung mit der Programmidee wissenschaftlicher Methode einiges noch unausgesprochen geblieben ist. Denn erstens ist solches gegenstandgebende Erfassen der Dinge doch wie jedes andere geistige Tun und Lassen des Menschen auch ein Können, das – als obligatorischer Mosaikstein des wissenschaftlichen Ausbildungsgangs – erlernt, ja eingespielt sein will. Es bedarf ein gerüttelt Maß an Wiederholung und Bewährung, um dauerhaft und verlässlich beherrscht zu werden und ein echtes Forscherdasein zu begründen. Zweitens geschieht darin die nicht intendierte Applikation eines angesammelten, unbewussten Hintergrundwissens von dem, was bei dergleichen Verhalten richtig und wichtig ist. Jeder in414 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

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tentionalen Leistung der Vergegenständlichung vorauslaufend, weiß der echte Forscher dank hinter ihm liegender Erlebnisse, welche zur Unauffälligkeit von Selbstverständlichem verwachsen sind, um die dazugehörigen Standards und Kriterien jener Form von Intentionalität, die er mit den jeweils vor ihm liegenden Situationen zu vermitteln disponiert ist. Drittens schließlich, und darin besteht eben die maßgebliche Herausforderung für die Sozialontologie, ist das eine Geistesbildung, in der mehrere Menschen übereinstimmen. Selbst noch in der distanzierenden Hinwendung zu einer Sache, um sie in ihrer Gegenständlichkeit zu sehen zu bekommen (wie es jeder von uns auch im vorund außerwissenschaftlichen Leben bisweilen und gradmäßig unterschiedlich ausgeprägt zu bewerkstelligen imstande ist), folgt der Forscher weitgehend blind den betreffenden Regeln, in die sich allein schon aufgrund des wissenschaftlichen Ausbildungsgangs viele teilen. Das gilt gleichermaßen für die Arbeit des Sozialwissenschaftlers, er mag es ganz so wie sein naturwissenschaftlicher Kollege zu objektiven und intersubjektiv nachprüfbaren Urteilen bringen können oder nicht. Wiederum ist die allgemeine Weise solchen Verhaltens, in der sich ein von implizitem Wissen erfülltes Können ausprägt – nicht jedoch auch notwendig der Umstand, dass dieses besondere Verhalten hier und jetzt ausgeführt wird –, eine soziale und so auch jenes Wissen und Können, welches sich darin ausprägt. 125 art Damit kommt der sozialontologischen Frage eine wissenschaftstheoretische Relevanz zu. Denn mit dem Sozialen deckt sie eine Erkenntnisbedingung auch noch der modernen Naturforschung auf, die nicht in der szientifischen Logik der Forschung selbst, sondern dieser voranliegt. Für die Wissenschaften von der menschlichen Gesellschaft gilt das genauso. Der zugespitzte Beispielfall, den ich mit Bacons Hilfe als einen solchen herausgestellt habe, verliert seinen herausfordernden Charakter, wenn man bedenkt, dass dem Zugang, den der Wissenschaftler wie jeder andere auch zur Natur besitzt, eine soziale Bestimmtheit zu eigen ist: Diejenige Weise der Hinwendung zu Naturphänomenen, welche diese Phänomene ihres geistigen und gesellschaftlichen Einbezogenseins beraubt, bezieht sie selber in den Wie Heidegger in späteren Texten sagt, haben wir bereits ein Verständnis von »Gegenständlichkeit« bzw. »Gegenständigkeit«. (Heidegger, Martin: Die Zeit des Weltbildes (1938), in: Holzwege, GA 5, Frankfurt a. M. 1977, S. 87; Wissenschaft und Besinnung (1953), a. a. O., S. 49)

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menschlichen Geist und die Gesellschaft der Menschen ein. Die Konsequenz daraus ist nicht, dass die naturwissenschaftliche Praxis künftig anders zu üben ist. Sie besteht vielmehr darin, dass die Ansicht von dieser schon geübten Praxis zu revidieren ist. Die Ontologie des Sozialen hat das neuzeitliche Methodenbewusstsein dazu anzuhalten, jener Ausdehnung des Sozialen ihre Berechtigung zurückzugeben, die selbst in objektivem und intersubjektiv nachprüfbarem Wissen unverbrüchlich mit im Spiel ist. Halten wir fest, dass zu denjenigen Konditionen, welche den Nährboden des menschlichen Bewusstseins mitsamt seiner Intentionalität abgeben, neben einer Kenntnis dessen, wozu man sich verhalten kann, auch eine davon gehört, wie man das zu tun vermag. Solch eine Kenntnis der mir offenstehenden attentionalen Modifikationen, welche den Dingen das Los einer demgemäßen Weise des bewusstseinsmäßigen Gegeben- oder Für-mich-seins zumessen, ist die von Formen geistiger Bildung, an der viele Menschen partizipieren. Die mannigfaltigen Weisen unseres Weltzugangs sind gesellschaftlich geformt. Die Art des Zugehens auf Dinge ist ein virtuelles Mitgehen mit Anderen. Auch das abstandnehmende Sicheinlassen auf Natur bildet hierbei keine Ausnahme. Natur wird dann immer noch so erlebt, wie eine vorgängig gewusste Gemeinsamkeit des intentionalen Verhaltens uns anleitet. Mithin steht eine Sache, der wir Aufmerksamkeit schenken, sei es volitiv, kognitiv, affektiv oder sonst wie, kraft dessen in gesellschaftliche Zusammenhänge herein. Dadurch erweitert sich die Reihe der Beispiele, die ich im vorigen Kapitel für solche sozialen Regelmäßigkeiten begonnen habe, denen man auch nachkommen kann, wo man neben und ganz ohne Andere ist. Im Gegensatz zu den Beispielen aber, die ich dort aufgeführt habe, handelt es sich bei diesen nun um Gepflogenheiten mehr des inneren Verhaltens der Menschen. Keine attentionale Modifikation meines Bewusstseins macht, nachdem ich sie einmal erlernt habe, ihrer Natur nach die Anwesenheit einer weiteren Person notwendig. Wäre einer der beiden Wanderer aus Heideggers Beispiel allein unterwegs, wäre er »von dem Anblick« des Gebirges genauso »hingerissen«, würde genauso »schweigend […] stehen« und wäre genauso »benommen«. Und er wäre dabei trotz seines faktischen Alleinseins nicht jeglicher Sozialität entrückt. So auch, wenn ich etwas beabsichtige oder befürchte, vorstelle oder erinnere usf., einerlei was es ist, worauf meine Absicht, Befürchtung, Vorstellung, Erinnerung etc. da geht. Wiewohl Andere abwesend sind und ich niemanden vor meinem 416 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

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geistigen Auge habe, bleibt mein Beabsichtigen und Befürchten, Vorstellen und Erinnern, oder was es ist, trotzdem in menschliche Gesellschaft eingerückt. Denn das gilt schon für meine diesbezügliche Erfahrenheit, die sich im Vollzug der einen oder anderen intentionalen Form verkörpert und die eine Gemeinsamkeit mit Anderen beinhaltet, welche insofern eine vorgängige ist. In diese Richtung geht auch das vierte und letzte Beispiel, welches Schmalenbach zugunsten einer Soziologie der Sachverhältnisse aufbietet. Dieses Beispiel bin ich im vorigen Kapitel schuldig geblieben. Danach liebt jemand eine Sache, sei es um ihrer Schönheit oder ihres Werts, ihrer symbolischen oder moralischen Bedeutung willen: »Eine Vase, eine Landschaft; die Fahne meines Landes; die Schiffe, die über das Meer fahren.« 126 Diese Liebe ist ein Verhältnis zu Dingen, und sie begründet weitere Beschäftigung mit ihnen. »Da handelt es sich aber ersichtlich nicht um die Verbundenheit, die als Verwachsenheit zu bezeichnen war.« Mit den betreffenden Dingen brauche ich, anders als das in Schmalenbachs übrigen Beispielen war, nicht infolge meiner Kindheit und Jugend sowie des Familienlebens im Elternhaus verbunden zu sein. Derlei Verwachsensein mit etwas soll sogar eine »emotionale Verbindung hindern« können. Die »Erregungen, Wallungen, Überschwänge« würden seltener, je alltäglicher die Beziehung wird: »Um sie [die Dinge; d. Verf.] zu lieben, sind sie uns zu selbstverständlich.« Wiederum allerdings führt Schmalenbach das Sozialsein solch einer »emotionalen Sozialität« nicht einmal ansatzweise aus. Wir dürfen aber darauf hinweisen, dass es u. a. darin bestehen kann, dass solch eine affektive Intention, worauf auch immer sie gerichtet sein mag, ihrer Art nach eine soziale ist, indem einem derartigen Intendieren geradeso gewisse Standards und Kriterien anhaften, die nicht die der betreffenden Person allein sind. Eine Sache um irgendetwas willen zu lieben, wie Schmalenbach das beschreibt, verlangt in irgendeinem Umfang zu wissen, was das bei der jeweiligen Art von Sache mit sich bringt (wie sich eine solche Liebe anfühlt, was sie mit einem macht, wie sich äußeren kann, wann man es zu weit treibt usf.). Und das geht nicht ohne eine entsprechende geistige Formung, die einem stets auch im Austausch mit Anderen geworden ist. Das Wissen, von dem jemandes diesbezügliche Gerichtetheit durchwoben ist und umwoben bleibt, muss jedoch nicht eigens beachtet werden; es 126

Schmalenbach, Herman: Soziologie der Sachverhältnisse, a. a. O., S. 42.

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macht ein apriorisches Wissen aus. Und solch ein Wissen, das der Liebe zu diesem oder jenem Ding gegenüber vorgängig ist, kann sich durch Gemeinsamkeit mit anderen Menschen auszeichnen; es ist dasselbe Wissen bei mehreren. Und damit nicht genug. Man kann Heideggers Wandererbeispiel noch auf eine andere Weise deuten. Ich will zuletzt auch und gerade das noch bemerken, dass die zwei Wanderer doch wohl dasjenige, dessen sie da ansichtig sind, nicht zum allerersten Mal sehen. Womöglich kennen sie dieses »Gebirge« noch nicht, sicherlich aber andere, sei es aus eigener Anschauung, sei es von Fotos und Gemälden oder bloß aus Erzählungen Dritter. Der Akt ihres Wahrnehmens ist jedenfalls noch in einer weiteren Hinsicht vorbereitet. Er ist insofern vorbereitet, als den Wanderern, was sie wahrnehmen, ebenso sehr ohne Bezug zu irgendwelchen Formen gesellschaftlicher Praxis bekannt sein dürfte. In irgendeinem Umfang wissen sie, was ein »Gebirge« jenseits aller Praxisformen menschlicher Gesellschaft ausmacht. Beispielsweise kann man sich gut denken, dass ihnen vertraut ist, wo es »Gebirge« gibt und welche, wie sie aussehen, dass es sich dabei um komplexe Landschaftsformationen handelt, wo bestimmte Tierarten leben und Vegetationszonen zu finden sind, dass ab einer bestimmten Höhe der Wald endet und auf der baumfreien Spitze Schnee liegt. Solches implizite Wissen ist nun eines um natürliche Gegebenheiten. Und es ist für Heidegger, so kann argumentieren, dasselbe bei beiden Wanderern. Lässt es ihnen doch das Naturphänomen, das ihnen da begegnet, in derselben Weise zugänglich sein. Und das ist selbst noch im Falle wissenschaftlichen Erkennens wahr. Bacon hat sich bei seinen Ausführungen sicherlich mehr von der methodologischen und naturphilosophischen Frontstellung seines wissenschaftsreformerischen Vorhabens gegen die Scholastiker leiten als von Feinheiten der Erkenntnistheorie aufhalten lassen. 127 Man wird aber die Bedenklichkeit anbringen müssen, dass auch das methodisch geschulte Einlassen auf Natur sehr wohl noch weiteren Bedingungen a parte subiecti untersteht. Besitzt doch der Wissenschaftler stets, wovon Bacons Methodenüberlegungen ja auch ihren Ausgang nehmen, eine alltagsweltlich vorgebildete, obgleich zuWie Krohn bemerkt: Bacons »Leitfrage ist nicht: ›Was ist Erkenntnis?‹, sondern ›Wie kann man sie verbessern?‹ Dies ist eine Erkenntnistheorie unter dem Leitgedanken der Erkenntnis als Forschung.« (Krohn, Wolfgang: Francis Bacon, München 1987, S. 76)

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nächst und zumeist unbedachte Auskenntnis mit natürlichen Phänomenen. Und höchstwahrscheinlich kommt es diesen seinen Idolen als auch den durch frühere Analysen bereits wissenschaftlich bereinigten Begriffen zu, eine gegenständliche Beschäftigung mit den betreffenden Dingen vorzubereiten. Sie machen ihn dafür offen und empfänglich, sichern seinem Blick auf die Dinge allererst eine inhaltlich bestimmte Perspektive. 128 Das heißt, der Naturforscher erkennt die jeweiligen Arten von Gegenständen, insofern und je nachdem er schon in einer bestimmten Bekanntschaft mit ihnen steht. Diese Bekanntschaft kommt in seinem Erkennen zu neuer Geltung, so dass er die betreffenden Dinge mindestens ihrer Art nach wiedererkennt. Auch seine Erkenntnis verdient wie wohl jede andere sonst ihren Namen bloß, wenn sie einen gewissen Zug von Wiedererkenntnis trägt. Etwas Bestimmtes heraussehen aus dem Strom vorbeiflutender Bilder ist in jedem Fall eine Aktualisierung derjenigen Fähigkeit, die jeweilige Sache im Lichte von Bekanntem und Vertrautem zu sehen. Der wissenschaftlichen Weise, sich zur Natur einzustellen, bleibt ein hintergründiges Wissen um das, was die natürlichen Dinge jenseits unserer habitualisierten Handlungsmuster sind, unabdinglich. So nur werden uns diese überhaupt in ihrer Bestimmtheit sowie den mannigfachen Bezügen zu Ähnlichem und Verschiedenem greifbar. 129 Zu dem, was ist, auf Abstand zu gehen, ist doch wohl außerdem immer nur punktuell möglich. Es handelt sich dabei zwar um einen unerlässlichen Zug wissenschaftlicher Arbeit; soweit sie wissenschaftlich sein will, muss sie auf abstandmäßige Erkenntnis eingeschworen sein. Wo eine Sache fragwürdig wird und man wissen möchte, wie es sich damit denn nun verhält, bedarf es einer Weise, darauf zuzugehen, die nicht mehr wie vielleicht bisher blindlings getragen sein darf durch die relevanten unter unseren Überzeugungen Das entspricht Seels Grundsatzerklärung einer »medialen Erkenntnistheorie«. Danach sei ein jedes Erkennen vermittelt und durch Medien des Zugangs zu dem zu Erkennenden bestimmt (was kein Argument für einen Konstruktivismus hinsichtlich des Erkannten abgibt). Vgl. Seel, Martin: Bestimmen und Bestimmenlassen. Anfänge einer medialen Erkenntnistheorie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 46 (1998), S. 351–365. 129 In teilweise kritischer Auseinandersetzung mit Heidegger (und Goodman) erörtert Seel das anhand des Begriffs der Welterschließung. Danach liegt die Erschlossenheit von Welt jedem, auch dem wissenschaftlichen, Zugehen auf Wirkliches voraus. Vgl. Seel, Martin: Über Richtigkeit und Wahrheit. Erläuterungen zum Begriff der Welterschließung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41/3 (1993), S. 509–524. 128

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oder Einstellungen, Absichten, Empfindungen usw. Gerade in der bewussten Gegenstellung haben die Dinge dann herauszutreten. Doch kann der Anspruch, ein Wissen auf Abstand in Händen zu haben, gewiss nur die begrenzte Reichweite besitzen, sich von diesem oder jenem Vorurteil und nicht von allen überhaupt losgemacht zu haben. Der Zugang des Erkennenden zu dem, worauf sein Erkennen abzielt, bleibt auch noch in solcher Abständigkeit ein durch andere seiner Überzeugungen und Einstellungen, Absichten, Empfindungen etc. bedingter. Seine Idole, mit Bacon zu sprechen, also jene Eigensinnigkeiten, welche den Geist besetzt halten und aus denen man stets nur zu punktueller Vorurteilslosigkeit auszubrechen vermag, bahnen einen Zugang zu dem, was ist. Sie machen uns frei für und angehbar durch Entitäten, deren Dass- und Wassein gar nicht von unserer Vorerfahrung abhängt. 130 Allerdings rührt dieser Umstand nicht an die Substanz von Bacons methodischem Denken. Denn aus der vorgenannten Bedenklichkeit folgt kein prinzipieller Mangel des erreichbaren Wissens (welches man mit der Sprache des 19. Jahrhunderts als ›positivistisch‹ bezeichnen kann). Und das deshalb nicht, weil der Bedingtheit des Erkennens keine des Erkannten entspricht. Darauf kommt es an, dass das Erkannte durch sein wie auch immer motiviertes und inhaltlich perspektiviertes Erkanntwerden ungerührt existiert: Selbst wenn die Angehensweise eines gänzlich unvorbelehrten Hinschauens und Hinhörens und damit positivistisches Wissen nirgendwo zu haben sein sollte, auch nicht auf dem Gebiet der Naturwissenschaften, haben die Tatsachen der Natur die in unseren wahren Urteilen entworfenen Charaktere doch ganz unabhängig von der Wahrheit unserer diesbezüglichen Urteile. Wenn sie auch ihrem Begriff nach an den Gedanken einer Erkennbarkeit für irgendjemanden gebunden sein

Die von Gadamer häufig zitierte Formel vom »Wissen auf Abstand« soll auf Kierkegaard zurückgehen. (Gadamer, Hans-Georg: Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik (1963), in: Neuere Philosophie II. Probleme – Gestalten, GW 4, Tübingen 1987, S. 177) Bei Kierkegaard jedoch findet sie sich nicht wortwörtlich. Allerdings polemisiert er gegen »Distanz-Religiöse« und meint Prediger, die über Gott wie über etwas ihrer Existenz Äußerliches und Fremdes sprechen. Überhaupt stehe das religiöse Bewusstsein nicht einem Sachverhalt gegenüber, den es bloß zur Kenntnis nehme, sondern soll von dem, woran es glaubt, unmittelbar betroffen sein. Abstandnahme werde dem religiösen Menschen nicht gerecht. (Kierkegaard, Søren: Wahrheit und Leben müssen sich decken, in: Sören Kierkegaard. Religion der Tat: Sein Werk in Auswahl, Leipzig 1930, S. 239)

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mögen, wandeln sie sich in ihrem Dass- und Wassein nicht mit, wenn die sie erkennenden Wesen sich ändern. 131 Damit kommt der sozialontologischen Frage abermals wissenschaftstheoretische Relevanz zu. Dem Forscher oder sonst einem Wissenwollenden schließen sich die jeweiligen Dinge, die er als Gegenstände zu sich herstehen lässt, auf, indem er längst in einer Relation zu ihnen steht. Diese Relation aber, in der er längst zu ihnen steht, muss nicht seine allein sein. Wenn über der wissenschaftlichen Methode einer gegenständlichen Erfassung auch noch der Natur, durch die sich die Wissenschaftsgesinnung der Neuzeit auszeichnet, ein alltagsbedingt vorgeformtes und berufsbedingt durchgeformtes Sichauskennen mit natürlichen Entitäten liegt, und wenn dieses Sichauskennen auch noch mit natürlichen Entitäten eines ist, in das sich viele teilen, dann zeichnet sich die gegenständliche Erfassung der Natur auch noch insofern als eine soziale aus. Bacon selber rechnet mit derlei. Denn in seiner Klassifikation unterschiedlicher Arten von Idolen erwähnt er u. a. diejenigen, welche sich »infolge des engen Beieinanderseins und der Gemeinschaft des menschlichen Geschlechts« ausbilden; er bezeichnet sie als die »Idole des Marktes [Idola Fori]« 132. Wiederum bildet also das abstandnehmende Sicheinlassen auf Natur keine Ausnahme. Natur wird dann erlebt, wie eine vorgängige Gemeinsamkeit des Wissens von natürlichen Entitäten sie uns erleben lässt. Auch noch kraft dessen stehen solche Entitäten, denen ich in irgendeiner Hinsicht Aufmerksamkeit schenke, sei es volitiv, kognitiv, affektiv oder sonst wie, in gesellschaftliche Zusammenhänge herein. Auch für Heidegger bedingt das »Miteinandersein« der Menschen, welches er als »ursprünglich« markiert, nicht einzig und allein die Möglichkeit desjenigen Bewusstseins, das der eine Wanderer von dem anderen zu fassen vermag. 133 Wie er darlegt, soll dieses ungleich Ein überzeugendes Verständnis dessen, was wirklich ist, hat sich jenseits von Unerfassbarkeit und Erfasstheit anzusiedeln. Wirkliches darf weder auf ein unerfassbares Ansich noch auf die bislang erfasste Erscheinung reduziert werden. Stattdessen muss der Begriff der Wirklichkeit deren Erfassbarkeit enthalten; es wäre ein Widerspruch, etwas für etwas Wirkliches auszugeben und zugleich zu meinen, dass es für schlechterdings kein Wesen erfassbar ist. Vgl. Seel, Martin: Der Konstruktivismus und sein Schatten, in: Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie, Frankfurt a. M. 2002, S. 115 f. 132 Bacon, Francis: Neues Organon, Bd. 1, a. a. O., § 43, S. 103. 133 So noch in Heidegger, Martin: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (1925), a. a. O., S. 334. 131

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weiter reichen. Das »Für-einander-offenbarsein von Dasein und Dasein« sei nur eine Ausprägung des Mitseins unter vielen anderen. Zu jener Ausprägung gehört beispielsweise, so kann man die Wendung »Für-einander-offenbarsein von Dasein und Dasein« erläutern, dass der eine sich mit denjenigen Regeln von Sprache und Mimik, Gestik und Positur auskennt, die ihn empfänglich sein lassen für die Bedeutung der Bekundungen des Anderen. Doch das Miteinander soll gleicherweise das – mit Heideggers Ausdruck gesagt – Offenbarsein für alles Sonstige umgreifen, was einem im Leben unterkommen mag. Dazu gehören etwa auch Naturerscheinungen wie ein »Gebirge«. Das besagte Sichteilen ist Heidegger letztlich ein ganz unspezifisches »Sichteilen in etwas« 134; mehrere haben teil an derselben Wahrheit im Sinne der Unverborgenheit irgendeiner Sache. Das erst ist die volle Weite von Heideggers Begriff des Sozialseins menschlicher Existenz. Dieses betrifft nämlich das – mit meinem eigenen Ausdruck gesagt – apriorische, aus vorhergegangenen Erlebnissen sich herausbildende und in nachkommende Erlebnisse sich hineinbildende Wissen sowohl von jedwedem Seienden als auch von jedweder Art, wie man sich darauf richten kann. Bei dem Seienden mag es sich genauso gut um Gegebenheiten der Natur wie irgendwelche anderen handeln. Und bei der Art des Sich-darauf-richtens mag es sich genauso gut um die für die moderne Wissenschaft charakteristische Erkenntnismethode der Vergegenständlichung wie irgendeine andere handeln. 135 Dass das von Heidegger behandelte »ursprüngliche Miteinandersein« die Freiheit für und Angehbarkeit durch jedes Seiende betrifft, verweist noch einmal von der intentionalen Form des Bewusstseins zurück an dessen intentionalen Gehalt. Denn damit ist gesagt, dass auch auf die Antizipationen, die man unterschwellig in puncto Natur hat, geradeso zutrifft, dass sie über den Einzelnen hinausschießen können. Die Protagonisten der Heidegger’schen Beispiele wissen bereits im Vorhinein, was ein »Gebirge« und was ein »Automobil« bzw. eine »Kuh« ist. Doch heißt das nicht, dass sie Konventionen Heidegger, Martin: Einleitung in die Philosophie (1928/29), a. a. O., S. 108. Damit ist nicht zu verwechseln, dass laut Heidegger die Erscheinungsart, in der Seiendes unter dem Gesichtspunkt der Zeughaftigkeit oder Dienlichkeit begegnet, grundlegend ist für die Erscheinungsart, in der es unter einem anderen, und zwar dem der »Gegenständlichkeit« bzw. »Gegenständigkeit«, begegnet. Siehe dazu Martel, Christoph: Heideggers Wahrheiten. Wahrheit, Referenz und Personalität in Sein und Zeit, Berlin 2008, S. 71 ff., 176 ff.

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kennen, wie mit derlei umzugehen ist. Die beiden Wanderer bzw. der Großstädter und der Bauer haben vermittels bestimmter Erlebnisse einen gleichen Erfahrungshorizont, der ihnen nun die mögliche Weite ihres Blicks sowie die Fülle ihres Gesichtskreises übereinstimmend ordnet (nicht im Ganzen, sondern nach den hierbei maßgebenden Seiten): Dass zwei Personen mit der nämlichen Sache oder Art von Sache Erfahrung haben und aufgrund dessen die nämliche Aufgeschlossenheit oder Art von Aufgeschlossenheit dafür besitzen, lässt sie nach Heidegger ebenfalls ursprünglich miteinander sein. 136 Als Konsequenz aus alledem ist der Begriff vorgängiger Gemeinsamkeit auszuweiten. Er bedarf einer Abstraktion. Denn aus dem Voranstehenden ist doch zu ersehen, dass apriorisches Wissen selbst dann, wenn es kein Wissen von Sozialem ist, wenn also dasjenige, worin einer erfahren ist, nichts Soziales darstellt, dennoch seinerseits ein soziales sein kann. Im zweiten Anlauf meiner Begriffsbestimmung heißt vorgängige Gemeinsamkeit daher nun: dass von einer Menge an Individuen nicht etwas Bestimmtes – an dieser Stelle ist zu abstrahieren –, sondern irgendetwas vorgängig gewusst wird und dass solches Gewusstwerden ein gemeinsames ist. Die fraglichen Individuen mögen dabei wie zuvor viele oder wenige sein, sie mögen sich auf eine angebbare oder ungeklärte Zahl belaufen und miteinander Bekannte oder füreinander Fremde sein. Das alles macht keinen Unterschied. Worauf es ankommt, ist, dass dasjenige, was von ihnen vorgängig gewusst wird, nichts Gemeinsames sein muss. Die Lebenserfahrung eines Menschen, die den Vorhof seiner bewusstseinsförmigen Intentionalität ausmacht (sogar noch der methodisch geschulten Gegenüberstellung von Selbst und Gegenständlichem), kann auch dann eine gesellschaftliche sein, wenn er irgendwelche Dinge weiß, wobei ›irgendwelche‹ besagt, dass es sich bei dem so Gewussten nicht um gesellschaftliche Sitten oder Regeln, Standards oder Kriterien hanHeidegger wehrt damit ein dialogisches Denken ab, wie es etwa Buber, Martin: Ich und Du, Leipzig 1923 vertritt: »Das Miteinander ist also nicht durch die Ich-Du-Beziehung und aus ihr zu erklären, sondern umgekehrt: Diese Ich-Du-Beziehung setzt für ihre innere Möglichkeit voraus, daß je schon das Dasein, sowohl das als Ich fungierende als auch das Du, als Miteinandersein bestimmt ist« (Heidegger, Martin: Einleitung in die Philosophie (1928/29), a. a. O., S. 145 f.). Zu den sozialontologischen Zügen von Bubers Dialogik sowie weiterer Exponenten einer solchen Philosophie, darunter Adolf Reinach und Karl Löwith, siehe Theunissen, Michael: Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, a. a. O., S. 243–507.

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Die vorgängige Gemeinsamkeit des Bewusstseins überhaupt

deln braucht, die das sprachliche sowie mimische, gestische oder posturale Handeln mit, für und gegen Andere durchwaltet. Vorgängige Gemeinsamkeit kann sich selbst darauf noch erstrecken – das ist die begriffliche Ausweitung, welche vorzunehmen ist –, dass sich jemand, der noch dazu neben oder ganz ohne Andere ist, zu etwas Natürlichem verhält. Bei genauem Hinsehen war das sogar bereits in meiner ersten Begriffsbestimmung enthalten. Denn dort, wo einer vorgängig etwas Gemeinsames weiß, da ist dieses vorgängige Wissen doch notwendigerweise selbst ein gemeinsames. Von den Formen gesellschaftlicher Praxis, die er implizit kennt, muss ja gelten, dass nicht nur er allein, sondern auch all die anderen, die an denselben Praxisformen der Gesellschaft teilnehmen, sie kennen, insofern sie nur sinnvoll und verstehbar daran teilnehmen. Diese Einsicht erlaubt eine Abstraktion. Sie gestattet, von demjenigen zu abstrahieren, was da jeweils bekannt oder gar vertraut ist, und sich darauf zurückzuziehen, dass es bekannt oder vertraut ist. Das begriffliche Merkmal der Vorgängigkeit stellt also nach wie vor auf die Lebenserfahrung der Betreffenden ab, die Gemeinsamkeit aber ist jetzt diejenige dieser ihrer Erfahrung selbst; das Gemeinsame ist ihr vorgängiges Wissen. Die Folge davon ist, dass jedes intentionale Bewusstsein ein soziales Moment aufweisen kann und nicht nur das von etwas Sozialem wie dem menschlichen Mit-, Für- und Gegeneinander. Sozial ist, was entweder selbst ein implizites Wissen ist oder aber von einem solchen abhängt, wozu das Nebenund Ohneeinander der Menschen um kein Gran weniger gehört. Das ist also meine Antwort auf die sozialontologische Frage. Um sie zusammenzufassen: Die notwendige und hinreichende intrinsische Bedingung des Sozialen besteht in vorgängiger Gemeinsamkeit. Vorgängige Gemeinsamkeit meint nun aber keine vorgängig gewusste Gemeinsamkeit – mit Gadamer gesprochen, nicht das vorgängige Wissen um »Sprache, Sitte, Einrichtungen« –, sondern die Vorgängigkeit gemeinsamen Wissens – wieder mit Gadamer, die »Gemeinsamkeit grundlegender und tragender Vorurteile«. Gemeinsam heißt dabei, dass eine Menge an Individuen hinsichtlich ihres Erfahrenseins in den Dingen des menschlichen Lebens, welche auch immer das im Einzelnen sein mögen, übereinstimmt. Ihr Geist zeigt eine übereinstimmende Bildung, dieselbe Aufgeschlossenheit. Ich habe dafür drei Beispiele entwickelt. So kann es sich dabei um Üblichkeiten des gesellschaftlichen Verkehrs handeln, für die man geistig aufgeschlossen ist, um attentionale Modifikationen des Bewusstseins, auf die man 424 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Begriffsbestimmung: Gemeinsamkeit des vorgängigen Wissens

sich versteht, oder um die jenseits der Gesellschaft anzutreffenden Gegebenheiten der Natur, mit denen man sich auskennt. Und die minimale Bestimmtheit des Sozialen, die sich in allen Fällen durchhält und nicht weiter auflösen lässt, besteht in der Identität ebensolcher Auskenntnis. Dass sich jemand auf etwas versteht, ist genau dann sozial, wenn er sich darein mit Anderen teilt. Vielleicht mag man einwenden, dass dies nicht die gesuchte Bedingung von Sozialem sein kann, weil die so verstandene Sozialität des Menschen zurückgeht auf etwas anderes, nämlich dessen Teilhabe an Gesellschaft. Es ist der gesellschaftliche Verkehr miteinander, füreinander und gegeneinander, aus dem die fragliche geistige Geformtheit eines Menschen erwächst. Das aber heiße, dass Soziales zurückgeht auf anderes Soziales und dieses wiederum seinerseits, so dass die Sozialontologie zu keinem Ende kommt. Richtig ist jedoch, dass für dasjenige, woraus vorgängige Gemeinsamkeit da erwächst, exakt dasselbe zutreffen muss. Jenes ist seinerseits dann nur und nur in dem Maße etwas Soziales, wenn und als die von mir vorgelegte Analyse darauf Anwendung findet: wenn und als der Geist mindestens eines der daran Beteiligten durch vorgängige Gemeinsamkeit bestimmt war. Es ist mir jedoch nicht, wie in Kapitel VII.1 betont, um eine genetische Erklärung unausdrücklichen Wissens und vorgängiger Gemeinsamkeit zu tun, nicht darum zu erklären, wie sie und in welchen Etappen sie typischerweise zustande kommen mögen. Der scheinbare Einwand, der auf die Genese von Sozialem aus Sozialem abstellt, ist daher keiner. Infrage steht für die Sozialontologie nicht, wie das eine aus dem anderen entsteht, sondern was das eine ebenso wie das andere ist, insofern es beides nur etwas Soziales ist. Das sind zwei unterschiedliche Fragestellungen. 137

Wie in Kapitel VIII.1 dargelegt, unterscheidet auch Durkheim in seinen Règles de la méthode sociologique zwischen der Erklärung (explication) sozialer Tatsachen einerseits, dass also eine solche Tatsache die Ursache ist einer anderen als Wirkung und die Entstehung der einen aus der anderen erklärt wird, und andererseits der Definition (définition) dessen, was eine soziale Tatsache als solche kennzeichnet, sie mag Ursache oder Wirkung sein.

137

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Die vorgängige Gemeinsamkeit des Bewusstseins überhaupt

4.

Der sozialontologische Aspektizismus: das soziale Individuum

Unter der Bezeichnung des ›sozialontologischen Aspektizismus‹ habe ich in Kapitel III.5 eine Behauptung über das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum aufgestellt. Ich habe behauptet, dass die begriffliche Alternative von sozialontologischem Individualismus und Kollektivismus mitnichten erschöpfend ausfällt, wo es gilt, den Träger von Bewusstsein und Intentionalität zu denken. In Wahrheit nämlich hat jeder Mensch, sofern er Individuum ist, stets auch in der einen oder anderen Hinsicht eine soziale Seite, und umgekehrt hat jeder Mensch, sofern er soziales Wesen ist, stets auch in der einen oder anderen Hinsicht eine individuelle Seite. Derselbe Grundgedanke findet sich bei Karl Marx. Einige verstreute Bemerkungen lassen sich zusammentragen, die dem gleichkommen, was ich zum Verhältnis von Gesellschaft und Individuum sagen will. Denn nach Marx ist niemand zur Gänze ein aus der Gesellschaft »zurückgezogenes« und von ihr »abgesondertes Individuum«, wie auch andersherum »die Gesellschaft« nicht zur Gänze »ein den Individuen äußerlicher Rahmen, als Beschränkung ihrer ursprünglichen Selbständigkeit« 138, ist. Weder darf man »die ›Gesellschaft‹ […] als Abstraktion dem Individuum gegenüber […] fixieren« 139 noch das letztere gegenüber der ersteren. Marx zufolge ist das Individuum alles andere als ein reines Individuum; es hat keine vorsoziale Identität, sondern ist derart innig mit der Gesellschaft verschlungen, dass es ihrer niemals ledig ist. »Seine Lebensäußerung […] ist […] eine Äußerung und Bestätigung des gesellschaftlichen Lebens.« Der Geist des Einzelnen besitzt nicht nur partikuläre Merkmale, durch die er von dem Anderer getrennt und auf sich zurückgeworfen ist. Sondern er weist auch solche auf, die ihn über seine Partikularität hinausheben und mit Anderen zusammenschließen. »Das Individuum«, sagt Marx, »ist das gesellschaftliche Wesen.« 140 Marx, Karl: Zur Judenfrage (1844), MEW 1, Berlin 1956, S. 366. Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), MEW 40, Berlin 1968, S. 538. 140 »Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.« (Marx, Karl: Thesen über Feuerbach (1845), MEW 3, Berlin 1978, S. 6) So auch Cooley, Charles H.: Human Nature and the Social Order, New York 1902, S. 1 f. Ich schließe mich damit aber nicht Marxens berühmtem, rund 15 Jahre später geschrie138 139

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Der sozialontologische Aspektizismus: das soziale Individuum

Ich habe das so ausgedrückt, dass sich die begriffliche Differenz von Gesellschaft und Individuum, Sozialem und Individuellem auf eine kontradiktorische beläuft. Das bedeutet, dass das eine dem anderen nicht nur entgegengesetzt ist; was an der geistigen Seite eines Menschen etwas Individuelles ist (z. B. an seinem Bewusstsein und dessen Intentionalität), das ist nicht sozial, und was an ihm etwas Soziales ist, das ist nicht individuell. Sondern die Entgegensetzung fällt derart aus, dass es daneben kein Drittes gibt. Was auch immer infrage kommen, sprich sozial oder individuell sein mag, ist entweder von dieser oder von jener Art; wenn an der geistigen Seite eines Menschen etwas nicht etwas Individuelles ist, dann ist es sozial, und wenn etwas nicht etwas Soziales ist, dann ist es individuell. ›Sozial‹ heißt darum in Entsprechung zu ›individuell‹ so viel wie nicht von Anderen abweichen, sich nicht von ihnen unterscheiden, nicht einzigartig sein: Man stimmt vielmehr mit ihnen überein. In Bezug auf die geistige Dimension des Menschen ist das Individuelle das Nichtsoziale. 141 Wie genau das zu nehmen ist, kann jetzt verdeutlicht werden. Die Frage, welche sich hierbei aufwirft, ist natürlich, was am menschlichen Geist dafür infrage kommt. Ich antworte: das intentionale Subjekt. Damit rekurriere ich ein letztes Mal auf den dritten der Bausteine, in die ich das menschliche Bewusstsein und dessen Intentionalität zergliedert habe. In jedem Fall von Bewusstsein, so wurde gesagt, gibt es einen, der sich irgendwie zu irgendetwas verhält. Doch bemühe ich denjenigen, der da bewusst intendiert, nicht in all seinen Facetten. Der Mensch birgt in sich eine Region, welche dem Sachbereich seiner Intentionalität im wahrsten Sinne des Wortes zugrunde liegt (lat. subiacere). Nimmt seine Intentionalität doch, wie mittlerweile aufgewiesen wurde, eine vielfache Grundierung durch apriorisches Wissen in Anspruch. Auf den Sachbereich dieses Wissens beschränke ich mich und setze das Wer des Bewusstseins ebendarein. Verdichtet gebenen Satz an, wonach es das gesellschaftliche Sein der Menschen ist, welches ihr Bewusstsein bestimmt. Vgl. Marx, Karl: Zur Kritik der Politischen Ökonomie (1859), MEW 13, Berlin 1961, S. 9. 141 Damit ist ein hierarchisches Verhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum wie bei Epstein vermieden, wonach Individuelles primär sei für Soziales. Mit seinem »anchor individualism« vertritt Epstein die These, »that facts about individuals put in place the conditions for a social entity to exist«. (Epstein, Brian: What Is Individualism in Social Ontology? Ontological Individualism vs. Anchor Individualism, in: Zahle, Julie/Collin, Finn (Hg.): Rethinking the Individualism-Holism Debate. Essays in the Philosophy of Social Science, Dordrecht 2014, S. 17)

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Die vorgängige Gemeinsamkeit des Bewusstseins überhaupt

sprochen soll es mir nichts anderes sein als die geistige Bildung des Einzelnen, die er im Laufe seines Lebens unentrinnbar erwirbt, genauer seine Lebenserfahrung. Und das ist das durch bisheriges Erleben, welches sich überlagert und vertieft sowie ergänzt und erweitert, gewordene Apriori seines kommenden Erlebens. 142 Um nur zwei Punkte noch einmal hervorzukehren, die in diesem Zusammenhang wichtig sind: Erstens hat das so verstandene menschliche Ich vermöge seines Wissenscharakters ein durch und durch relationales Gepräge. Nach allem, was dazu auseinandergelegt wurde, muss deutlich geworden sein, dass es bei Weitem nichts differenzlos Einfaches oder weltlos in sich Abgekapseltes ist. Das Mindeste, was man sagen kann, ist, dass es das Bezogen- oder Vorwegbezogensein eines Menschen auf die Dinge darstellt, derer der Betreffende kundig ist, die ihm geläufig und verlässlich sind (wenn ich diese Art von Bezug auch nicht als eine ›intentionale‹ anspreche wie die des Bewusstseins). Zweitens ist solches Wissen vermöge seines apriorischen Charakters eines, das jemand weniger hat, wie man etwa eine wahre, gerechtfertigte Überzeugung hat, als er dieses vielmehr ist. Es ist das Zugrundeliegende, dasjenige (oder wenigstens ein Teil dessen), was mentale Zustände trägt und sich u. a. im Suchen und Mitteilen sowie Bewahrheiten und Rechtfertigen von Überzeugungen manifestiert. Ich bin mein Bezogen- oder Vorwegbezogensein auf Dinge (wenigstens ist das ein Teil von mir). Das Selbst eines Menschen ist, was dies anbelangt, eine Voraussetzung seines mehr oder minder breit gestreuten und tief ausgebildeten Könnens, welche sich in dessen jeweiliger Betätigung rücklings zur Anwendung bringt und unter die sich all sein Verhalten gestellt findet, indem es durch sie eingegleist und in der Spur gehalten wird. 143 Und was an einer Person etwas Allgemeines ist, muss man wie das, worin sie ihr Besonderes hat – ihre Sozialität wie ihre Individualität –, hier bereits verbuchen. Das intentionale Subjekt weist Seiten von der einen sowohl als auch der anderen Art auf: Unser implizites Wissen besitzt soziale und individuelle Aspekte. Nicht nur legt jeder Vgl. Stegmaier, Werner: Philosophie der Orientierung, Berlin/New York 2008, S. 293 ff. 143 Heidegger spricht hierbei von der »Möglichkeit als Existenzial« und meint ein »Möglichsein, das je das Dasein existenzial ist«, Möglichkeiten also, die ich nicht habe, weil die äußeren Umstände sie mir gerade gewähren, sondern die ich selbst mitbringe und die ausmachen, wer ich über den Augenblick hinaus zuinnerst bin. (Heidegger, Martin: Sein und Zeit (1927), a. a. O., S. 191) 142

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Der sozialontologische Aspektizismus: das soziale Individuum

Eigenheiten an den Tag, wenn er gesellschaftliche Sitten und Regeln anfänglich einlernt oder Standards und Kriterien einer Gesellschaft mit Routine realisiert. Solche Eigenheiten sind, wo jene eingelernt und realisiert werden, unumgänglich. Denn indem Konventionen wesensmäßig ein konkretisierungsbedürftiges Ausmaß an genereller Bestimmtheit mit sich führen – was ich in Kapitel V.2 aus Hegels rechtsphilosophischen Bemerkungen zur Sittlichkeit herausgearbeitet habe –, bieten sie eine offene Flanke für allerlei Abschattungen und Variationen, in denen notwendig private Angewohnheiten eines Einzelnen zur Geltung kommen. So mag z. B. jemand zur Begrüßung einen festen Händedruck pflegen, ein Anderer hingegen einen laschen, gepaart mit einer ernsten Miene oder einem freundlichen Lächeln. Und beides, Soziales wie Individuelles, ist Teil schon der Beschlagenheit in solchen und anderen Dingen des menschlichen Lebens, die einen jeden von uns in seinem inneren und äußeren Verhalten lotst, ohne ihm vor dem Bewusstsein zu stehen oder stehen zu müssen. 144 Ein kleines belletristisches Beispiel dafür liefert Hermann Hesses letzter großer Roman Das Glasperlenspiel aus dem Jahre 1943. Dieses findet sich gleich im ersten Kapitel, wo Hesse, der sich als Herausgeber der Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht ausgibt, einen Auszug aus einer von Knecht später gehaltenen Vorlesung über das Glasperlenspiel vorlegt. In dieser Vorlesung entsinnt sich Knecht einer frühen Begebenheit seines Lebens. Als Vierzehnjähriger, »es war im Vorfrühling, im Februar oder März« 145, schneidet er eines Tages einige Holunderstämmchen. Der Geruch durchdringt und erfüllt ihn: »Ich war ganz benommen davon, ich roch an meinem Messer, roch an meiner Hand, roch an dem Holunderzweig; sein Saft war es, der so dringlich und unwiderstehlich duftete.« 146 In dem als

Ich vermeide damit eine »oversocialized view of man«, die Wrong zu Recht anprangert. Diese bestehe in einem »model of human nature«, das auf bloße »internalization of social norms« und darauf setze, »that man is essentially motivated by the desire to achieve a positive image of self by winning acceptance or status in the eyes of others«. (Wrong, Dennis H.: The Oversocialized Conception of Man in Modern Sociology, in: American Sociological Review 26/2 (1961), S. 184 f.) 145 Hesse, Hermann: Das Glasperlenspiel. Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften (1943), SW 5, Frankfurt a. M. 2001, S. 59. 146 Ebd., S. 60. 144

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beglückend empfundenen Duft des Holunders ballt und steigert sich für Knecht die Magie des anhebenden Naturerwachens. Doch noch etwas Weiteres tritt hinzu. Am selben Tag nämlich oder dem danach hört Knecht, der zu dieser Zeit Klavierunterricht nimmt, ein Frühlingslied von Franz Schubert. Und »die ersten Akkorde der Klavierbegleitung überfielen mich wie ein Wiedererkennen: diese Akkorde dufteten genau so wie der junge Holunder geduftet hatte, so bittersüß, so stark und gepreßt, so voll Vorfrühling!« Von jener Stunde an hat sich Knecht die Assoziation von Vorfrühling, Holunderduft und Schubertakkord eingegraben. Und sie ist auch viele Jahre danach, da er seine Vorlesung hält, nicht verschwunden. Im Gegenteil sogar, nach wie vor ist sie in ihm lebendig: »mit dem Anschlagen des Akkords rieche ich sofort und unbedingt den herben Pflanzengeruch wieder, und beides zusammen heißt: Vorfrühling.« Interessant ist dabei, dass Hesse diese biographische Begebenheit als ein Beispiel für »›private‹ oder subjektive Assoziationen« präsentiert. Solche seien nämlich zu unterscheiden von den beim Glasperlenspiel »›legitimen‹, das heißt allgemeinverständlichen« 147. Was auch immer das im Hinblick auf das sog. Glasperlenspiel heißen mag, wir können sagen, dass hier wie sonst auch Privates oder Subjektives mit Allgemeinem verwoben ist. Es ist zwar richtig, dass die besagte Assoziation, »das jedesmalige Aufzucken zweier sinnlicher Erlebnisse beim Gedanken ›Vorfrühling‹«, Knechts Individualität zuzurechnen ist. Nicht jeder hat sie. Sie »ist meine Privatsache. Sie läßt sich mitteilen, gewiß, so wie ich sie euch hier erzählt habe. Aber sie läßt sich nicht übertragen.« 148 Doch man beachte wohl, dass die intentionale Form des jeweiligen Erlebens, das Riechen eines Dufts sowie das Hören eines Klangs, keinesfalls ihm allein eigentümlich ist. Darüber hinaus ist auch der intentionale Gehalt, sprich das von Knecht jeweils Erlebte, das Frühlingserwachen der Natur, der Geruch von Holunder sowie das Klingen eines Klavierakkords, etwas, was Andere zweifellos ebenfalls erleben. Und schließlich ist selbst dasjenige jedem mehr oder weniger bekannt, dass sich Erlebnisse (synästhetisch) verbinden können (etwas beispielsweise so klingt wie etwas anderes duftet). Solch eine Verbindung kann sich sogar als Sediment in das Ich eines Menschen ein-

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Ebd., S. 59. Ebd., S. 60 f.

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Der sozialontologische Aspektizismus: das soziale Individuum

lagern und als nichtbewusste Projektion fungieren, unter der ihm Dinge alsdann bewusst begegnen. Dabei mag die Wiederbegegnung mit dem einen die Erinnerung an das andere aufwecken. Weil aber Knechts Vorerfahrenheit auch eine solche Sozialität zuzuschlagen ist, »läßt sich« seine Assoziation überhaupt Anderen verständlich »mitteilen« und ist Verständigung mit ihnen darüber möglich. Das Gesellschaftlichsein eines Einzelnen ist wie sein Individuumsein sogar, mit Heidegger formuliert, »ursprünglich« daran festzumachen. Gegenüber dem Intentionalismus habe ich ja die Bedingung, auf die die sozialontologische Frage ausgeht, aus den intentionalen Akten des menschlichen Bewusstseins heraus- und in dessen Träger, den Intendierenden, hineingelegt. Denn es trifft zwar zu, dass die Lebensgeschichte eines Menschen, der stets auch eine gemeinsame Welt mit Anderen auf- und fortbaut, eine Grundlage hergibt, um sein Trachten und Treiben zu erklären. Allerdings gilt dies lediglich für dasjenige, was einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Die Geschichte seines Lebens, welche er hinter sich hat, ist für sein Sinnen und Handeln, das er vor sich hat, dann nur und nur in dem Maße richtunggebend, wenn und als sie nicht schlechthin nicht mehr ist, sondern in seinem Erfahrensein, das ihm daraus entstanden ist, doch noch ist. Nicht als vergangene, nur als gegenwärtige projiziert sie Künftiges. Allein solches ist relevant, das in einem liegt, d. h. wenn und als es unauffällig für einen da, ihm vorbewusst und nichtintentional gegeben ist. Dies ist der tiefste Sitz des Sozialen und des Individuellen an einem Einzelnen, wo jedwede Analyse menschlichen Verhaltens anzusetzen hat. 149 Damit ist eine Neufassung sowohl des Begriffs der Gesellschaft als auch des Begriffs vom Individuum auf den Weg gebracht. Die aspektizistische Deutung vermeidet jede einseitige Beschreibung des

›Unauffällig da sein‹ heißt nicht erinnert sein. So scheidet Gadamer das »Gedächtnis (mnēmē)« von der »Erinnerung (anamnēsis)«. Die Leistung des einen soll das »Behalten«, die des anderen das »Sich-Erinnern« sein; während letzteres darin bestehe, einer Sache gewahr zu sein als einer, der man schon einmal begegnet ist, gelte es, das erstere aus solcher »vermögenspsychologischen Nivellierung« zu befreien und als ein »Wesenszug des endlich-geschichtlichen Seins des Menschen« zu würdigen. Was jemand an Erlebtem unvermerkt behält, ihm also gegenwärtig bleibt, bedingt danach seine Fähigkeit, sich zu erinnern. Mithin ist nach Gadamer das »Gedächtnis«, welches ich stattdessen als ›Erfahrensein‹ anspreche, die Voraussetzung für »Erinnerung«. (Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960), a. a. O., S. 21)

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einen wie des anderen; beide hebt sie, wie auch Marx das postuliert, in eine umfassende Beschreibung auf. 150 Und sie steht damit der Tendenz entgegen, die ich in Kapitel IV.2 bei Durkheim diagnostiziert habe, das Individuum mit dem ganzen Menschen zu identifizieren. Die Gesellschaft müsste dann als etwas erscheinen, was außerhalb des Individuums liegt und in Gestalt von Normen und Sanktionen, die von anderen Menschen ausgehen, gegen es gerichtet ist. Wie es in Burrhus Frederic Skinners utopischem, sozialtechnologischem Roman Walden Two heißt: »Now, ›everybody else‹ we call ›society‹.« 151 In Wahrheit aber sind andere Personen immer auch »in mir« 152. Sie sind immer auch Teil dessen, wer ich bin. Und zwar ist Soziales ebenso wie Individuelles ein Bestandteil jener vorintentionalen Region der Identität eines Menschen. Mein implizites Wissen, sei dies nun eines um Soziales oder eines, das lediglich selber sozial ist, macht mich im Grunde meines Daseins aus. Und das auch dann noch, wenn ich nicht bewusst an Anderen orientiert, sondern nur neben ihnen oder sogar ganz ohne sie bin. Der »nonsocial account of intention«, wie ihn Gilbert propagiert, wird damit hinfällig, wonach gilt »thought is logically prior to society«. Nicht bloß eine bestimmte Klasse, sondern sämtliche Intentionen, die einer bewusst hat – seien das kollektive oder individuelle, Wiroder Ich-Intentionen –, können sowohl eine soziale Sättigung als auch eine persönliche Färbung besitzen. Insofern nämlich die Lebenserfahrung, welche der Intendierende zuinnerst ist, eine ausmacht, in die er sich immer auch in der einen oder anderen Hinsicht mit Anderen teilt, stimmen seine Erlebnisse, auf welche diese Erfahrung durchschlägt, der Art nach genauso mit den Erlebnissen Anderer überein. Er ist ein soziales Individuum, und darüber vermittelt sind all seine bewussten Intentionen – sie mögen volitiver, kognitiver, affektiver oder sonst einer Art sein – in menschliche Gesellschaft verwickelt. Was genau von solch einer gesellschaftlichen Verwicklung

Das stimmt ebenso mit der Überzeugung Meads zusammen, wonach Sozialisation und Individuation zwei gleichwertige Seiten desselben Prozesses der Identitätsbildung eines Menschen sind. (Mead, George H.: Mind, Self and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist, a. a. O., S. 1) 151 Skinner, Burrhus F.: Walden Two, Indianapolis/Cambridge 21976, S. 95. 152 So die Formulierung von Schmid, Hans B.: Die anderen in mir. Wolfgang Prinz betrachtet Selbst und Seele im Spiegel des Sozialen, in: Neue Zürcher Zeitung 289, 12. Dezember 2013, S. 50. 150

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Der sozialontologische Aspektizismus: das soziale Individuum

betroffen ist und wie weit dieser reicht, ist und bleibt natürlich eine empirische Frage, die in jedem Fall neu zu beantworten ist. 153 Wer also das Bewusstsein der Menschen und ihr intentional vollzogenes Verhalten sowohl mit-, für- und gegeneinander als auch neben- und ohneeinander als durch Erfahrenheit vermittelt begreift, hat es nicht mehr mit auf sich vereinzelten Individuenatomen zu tun. Er rechnet stattdessen mit in konkrete geschichtliche Lebensformen verstrickten Einzelnen, die in allem Tun und Lassen von der Ressource ihrer vorgängigen Gemeinsamkeit zehren. Die Welt unseres Mit-, Für- und Gegeneinanders ist kein Treffpunkt reiner Individuen. Wer ein vergesellschaftetes Wesen ist, der ist in vorgängiger Gemeinsamkeit aufbehalten und aller Differenzen zum Trotz, die in manchen Hinsichten bestehen, in anderen Hinsichten zur Einheit mit Anderen verflossen. Wo er geht und steht, sind Andere mit da, selbst wenn gerade keiner zugegen ist. Und er ist mit ihnen bekannt oder gar vertraut, selbst wenn er sie nicht persönlich kennt. Sein Erfahrungs- und Handlungsleben, das über weite Strecken lediglich mittels solcher Bekanntschaft, ja Vertrautheit mit Anderen sinnvoll und erfolgreich ablaufen kann, ererbt von dieser Voraussetzungsstruktur eine Dimension der Öffentlichkeit. So ist er der nackten Besonderheit, Einzelnheit, Privatheit auch in seinem Neben- und Ohneeinander entrissen.

Ich schließe mich daher nicht der Eindeutschung von ›sozial‹ an, welche von Wiese vorschlägt, nämlich »zwischenmenschlich«. (von Wiese, Leopold: Sozial, geistig und kulturell. Eine grundsätzliche Betrachtung über die Elemente des zwischenmenschlichen Lebens, a. a. O., S. 8) Das Soziale markiert keinen Bereich des Zwischen. Ich verlege es ins Individuum hinein. Nicht ist der Einzelne an sich fertig bestimmt und tritt dann zuweilen in Verhältnisse zu Anderen, auf die das Nämliche zutrifft, wie man etwa in eine Interaktion unter Anwesenden eintritt. Sondern er ist, was er ist, nur, indem er in solchen Verhältnissen steht; seine Bestimmtheit ist schon eine immer auch gesellschaftliche, die sich dann in einer Interaktion unter Anwesenden lediglich darlebt. Gesellschaft gehört mit zum Sein des einzelnen Menschen hinzu.

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X. Explikation als methodischer Sinn der Sozialontologie

1.

Wittgenstein über ›Besinnung‹, Habermas über »Rekonstruktion« und Brandom über Making It Explicit

Was bleibt nun noch zu tun? Eine Forderung, die sich der Ontologie des Sozialen stellt, ist die, dass sie die Selbstreflexion aufbringt, auch ihr eigenes Bemühen mitzubedenken. Dieser letzte Schritt geht das Moment der Methode an, und das ist kein eben geringer. Kein philosophisches Unternehmen kann sich dessen entledigen, wenn es vor kritischen Nachfragen danach bestehen können will, wie es zu seinen Ergebnissen kommt. Was tut man, wo einem die Frage nach dem Sozialen anliegt? In welcher Weise kann das Soziale überhaupt als solches zugänglich werden? Die Beantwortung der sozialontologischen Fragestellung hat sich also auch noch um Einsicht in die für sie gebotene Form des Zugehens auf das Soziale zu kümmern. Sie muss das Geschäft auf sich nehmen, methodische Selbstdurchsichtigkeit zu erwerben. Die Masse der Schriften zur Sozialontologie ist dem Methodenproblem bislang zwar ausgewichen, irrelevant oder gar erledigt ist es damit nicht. Die Frage nach dem Methodischen geht ganz von selber in eine sachliche Fragestellung über. Nur scheinbar lässt das Soziale die adäquate Art seiner Behandlung offen. Niemals wird man sich ja der thematischen Materie verschließen dürfen, um einer favorisierten, von anderswo herbeigeholten Thematisierungsweise zu huldigen, die damit zu einer rein formalen Erkenntnistechnik herabzusinken droht. Im Wesen aller echten Methode liegt, dass sich das Erkennen nach demjenigen zu richten hat, was erkannt werden soll. Immer bleibt, was zu da erschließen ist, mit für die Richtigkeit des richtigen, d. h. erfolgversprechenden, obschon freilich nicht -garantierenden Vorgehens ausschlaggebend. Jedem Wissensstoff steht aufgrund seiner Eigentümlichkeit eine ihm gemäße Form des Suchens und Findens, der Enthüllung und Mitteilung sowie der Begründung und 434 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Wittgenstein, Habermas und Brandom

Gewissheit des so sich ausbildenden Wissens an. Und wie bei allem Begreifen muss auch das Verfahren der Sozialontologie ein Entsprechen demjenigen sein, mit welchem sie verfährt: eine aus dem zu begreifenden Thema selbst verfügte Form der Begegnung. Wahre Methodik gründet hier wie sonst in der Grundverfassung des zu ergründenden Sachbereichs. 154 Wie also steht es um den Weg, auf den die sozialontologische Problematik führt? Worin liegt die Art des Vorgehens, der sich die Ontologie des Sozialen zu bedienen hat? Methodisch ist all das, was ein Erkenntniswilliger tun muss, d. h. die Vorkehrungen, welche er zu treffen hat, um der ihm fraglichen Sache derart zu begegnen, dass er sie dem Erkennen zu erwirken vermag. Dabei sind die zu treffenden Vorkehrungen relativ auf das je zu Erkennende; um ihrer sachlichen Angemessenheit willen sind diese von jenem her zu regeln. Und wir sind jetzt auf dem Punkt, die Methode der Sozialontologie wenigstens ihrem Grundzug nach anzugeben. Denn aus dem Einblick, welcher uns in die Sache geworden ist, lässt sich der entscheidende methodologische Aufschluss entnehmen. Wir können das Eigentümliche derjenigen Behandlungsweise, welche die sozialontologische Frage verlangt, so ihre Beantwortung eine sachgerechte sein will – und die wir bereits praktiziert haben, ohne dessen bis hierher inne geworden zu sein –, aus dem von ihr Erfragten begreifen. Da wir inzwischen das Soziale qua talis zur Bestimmung gebracht haben, dürfen wir, soweit das hier machbar und geboten ist, daraus Schlussfolgerungen ziehen für die Methode der Ontologie des Sozialen. Auch dafür gibt es Autoren, an die man sich halten kann. Fürs Erste hole ich eine Äußerung von Wittgenstein noch einmal heran. Mit seiner Hilfe haben wir hinter das menschliche Bewusstsein zurück- und zu dessen sozialer Vorstruktur hingefunden. Und wir sind dabei auf etwas gestoßen, das sich zwar auf kaum mehr als eine Zwischenbemerkung beläuft. Im Anschluss an unsere Rezeption der Wittgenstein’schen Spätphilosophie und der Einsichten, welche uns Dass Methode sachgemäß zu sein hat, ist bereits in der Etymologie des Ausdrucks angelegt. Das griechische μέθοδος ist ein Kompositum aus der Präposition μετά (mit) und dem Substantiv ὁδός (Weg, Gang). Buchstäblich übersetzt ist der μετά ὁδός der Mitgang: der Weg, den man mitgeht. In übertragener Bedeutung meint er den Gang einer Untersuchung, das Prinzip ihres Vorgehens. Und ganz so, wie man sich an demjenigen zu orientieren hat, mit dem man mitgeht, steht auch der Grundsatz, nach dem eine Untersuchung vorgehen muss, dieser nicht zur freien Verfügung. Die Methode muss sich an der Sache orientieren, die untersucht werden soll.

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Explikation als methodischer Sinn der Sozialontologie

dadurch aufgegangen sind, lässt diese Zwischenbemerkung aber doch erwarten, mit demjenigen verwandt zu sein, was nun in Sachen sozialontologischer Methodologie offenzulegen ist. In den Philosophischen Untersuchungen, wo Wittgenstein neben vielem anderen die Aufgabe der Philosophie neu vermisst, berührt er an einer Stelle den Kernpunkt seines einschlägigen Methodenverständnisses. Gemäß dem semantischen Standpunkt des gesamten Werkes ist das allerdings auf das Phänomen menschlicher Sprache berechnet; das nichtsprachliche Verhalten des Menschen kommt bloß insofern in den Blick, als es für deren Bedeutung konstitutiv ist. Ich zitiere erneut: »Das, was man weiß, wenn uns niemand fragt, aber nicht mehr weiß, wenn wir es erklären sollen, ist etwas, worauf man sich besinnen muß. (Und offenbar etwas, worauf man sich aus irgendeinem Grunde schwer besinnt.)« (PU 89) Zwar benutzt Wittgenstein selbst lediglich das Verb ›besinnen‹, das Substantiv ›Besinnung‹ findet sich in den Philosophischen Untersuchungen nicht. Doch lautet demnach die methodische Leitlinie für die anstehende, durch Wittgensteins pragmatistische Semantik erst nur angestoßene und die tatsächlich gepflegte Sprache betreffende Arbeit des Philosophen auf Besinnung. 155 Um zu ermessen, was damit behauptet ist, kann man sich zunächst an den sprachlichen Ausdruck halten. Das aus dem Mittelhochdeutschen herstammende ›besinnen‹ heißt in transitiver Verwendung bedenken, über etwas nachdenken. Wer vieles zu besinnen hat, wie man früher formulieren konnte, der hat vieles zu bedenken, über vieles nachzudenken. In seiner reflexiven Verwendung, welche im Wortschatz unserer Zeit als einzige überlebt hat und die auch Wittgenstein davon macht, bedeutet ›besinnen‹ so viel wie sich bewusst werden. So kann man beispielsweise sagen ›Er besann sich auf seine wahren Interessen‹ und dadurch ausdrücken, dass sich jemand seiner wahren Interessen bewusst wurde. 156

Wittgenstein spricht in den Philosophischen Untersuchungen mehrerlei als ›Philosophie‹ an. Da ist erstens die alte Philosophie, welche Metaphysik ist und gegen die er zu Felde zieht (vgl. PU 116, 119), zweitens diejenige, welche die Philosophischen Untersuchungen enthalten und die im Wesentlichen Therapie sein will (vgl. PU 109, 133), sowie drittens die nachkommende Philosophie, welche sich eben darauf zurücknehmen soll, Besinnung zu sein (vgl. PU 124, 126 f.). Vgl. Vossenkuhl, Wilhelm: Ludwig Wittgenstein, a. a. O., S. 302 ff. 156 Vgl. Duden. Das Herkunftswörterbuch, a. a. O., S. 784. 155

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Wittgenstein, Habermas und Brandom

Dasjenige aber, worauf sich die von den Philosophischen Untersuchungen inthronisierte Philosophie zu besinnen haben soll, ist nicht irgendetwas. Es handelt sich dabei ausschließlich um die Regelmäßigkeiten der Sprachspiele, welche wir als Angehörige einer Lebensform mehr oder weniger beherrschen. Der von allen metaphysischen Scheinproblemen therapierte Philosoph verlegt sich, wie Wittgenstein u. a. schreibt, auf »grammatische Betrachtungen« (PU 149). 157 Er lässt es sich fortan genug sein, einen Überblick über die Grammatik des kontextgebundenen Sprachverhaltens der Menschen zu geben: diejenigen Gepflogenheiten zu einer »übersichtlichen Darstellung« (PU 122) 158 zu bringen, nach denen sich zufolge der Gebrauchstheorie sprachlicher Bedeutung unsere tatsächlich geübte Praxis des Redens und Schreibens, Hörens und Lesens richtet und die wir daher kennen, auch wenn wir nie darauf achtgegeben haben mögen. 159 Alles liegt daran, diese und ähnliche Bemerkungen ins Raster der Unterscheidung zweier Wissensformen einzuordnen, die ich in den Philosophischen Untersuchungen dokumentiert habe. Folgt man doch laut Wittgenstein den betreffenden Regeln »blind« (PU 219); man hat eine solche »Auffassung« von ihnen, »die […] sich […] in dem äußert, was wir ›der Regel folgen‹, und was wir ›ihr entgegenhandeln‹ nennen« (PU 201). Daraus erwächst wie von selber die Agenda, die Wittgenstein dem Philosophen zubestimmt. Jener hat derlei Konventionen und damit die Rolle, welche ein Wort typischerweise in lebensformspezifischen Sprachspielen versieht, zu einer Auffassung zu bringen, die von uns geäußert wird. Was man schon kennt, ist noch einmal kennenzulernen, aber jetzt auf andere Weise. Man soll die Regeln sehen lernen. Vgl. PU 90, 392, 574. Vgl. PU 92. 159 Vgl. Barnett, William E.: The Rhetoric of Grammar: Understanding Wittgenstein’s Method, in: Metaphilosophy 21 (1990), S. 43–66. Entgegen der Interpretationsrichtung, die sich um Alice Crary, Cora Diamond und James Conant unter dem Titel des New Wittgenstein formiert hat und die über das grammatische Motiv in Wittgensteins Spätphilosophie hinweggeht und allein das therapeutische hochhält, ist jene keineswegs ein Abgesang auf die Philosophie im Ganzen. In ihr liegt ebenso ein neuartiges philosophisches Arbeitsprogramm beschlossen. Siehe dazu Griesecke, Birgit/Kogge, Werner: Ein Arbeitsprogramm, kein Abgesang. Wittgensteins grammatische Methode als Verfahren experimentellen Denkens, in: Tolksdorf, Stefan/Tetens, Holm (Hg.): In Sprachspiele verstrickt – oder: Wie man der Fliege den Ausweg zeigt. Verflechtungen von Wissen und Können, Berlin/New York 2010, S. 101 ff. 157 158

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Explikation als methodischer Sinn der Sozialontologie

Besinnung meint also, das, was man sonst nicht im Sinn hat und im Sinn haben muss, obgleich es in all unserem sprachlichen Verhalten mit anwesend ist, weil es uns darin leitet, sich vor den Sinn zu stellen. Sie soll die eine Form von Wissen in die andere überführen: Dasjenige Wissen, welches in der Unausdrücklichkeit west und nicht thematisch gemacht zu werden braucht, ist in die Ausdrücklichkeit desjenigen Wissens zu heben, das davon lebt, zum Thema gemacht zu sein. 160 Mithin hat sich die Philosophie auf unser unausgesprochenes Wissen-wie, das seiner selbst bewusstlose Sprechenkönnen zu besinnen. Und sie wandelt es dadurch um in ein ausgesprochenes Wissen-dass, ein seiner selbst bewusstes Sprachwissen. Wittgenstein selber gibt dafür in den Philosophischen Untersuchungen etliche Beispiele. 161 Die gleiche methodologische Tendenz findet sich bei Habermas. In seiner Theorie des kommunikativen Handelns bemerkt er: »Den Begriff der Lebenswelt habe ich […] aus einer rekonstruktiven Forschungsperspektive eingeführt.« (TkH II 182) Um die mit der phänomenologischen Schule Husserls von ihm sog. Lebenswelt auszuleuchten, in der wir je ansässig sind und aus der heraus wir agieren, soll es Anstrengungen eigenen Zuschnitts bedürfen. Das Verfahren, dessen sich Habermas dort wie später in Faktizität und Geltung sowie andernorts bedient, apostrophiert er seit den 1970er Jahren als »Rekonstruktion« bzw. »Nachkonstruktion«. 162 Es handelt sich dabei jedoch um keine Selbstreflexion im Sinne einer ideologiekritischen Aufklärung über diese oder jene Überlieferung einer Kultur, in welcher der Einzelne im Verlauf seines Bildungsprozesses auferzogen wurde und in die er hineingewachsen ist. Sondern sie geht darauf aus, wie Habermas differenziert, die kulturinvarianten, universalen und formalen Konturlinien unseres für verständigungsorientiertes Handeln unentbehrlichen Vorwissens auszuheben. 163 Das soll in sog. grammatischen Sätzen geschehen (vgl. PU 232, 251, 295, 458). Man denke vor allem an Wittgensteins Beschäftigung mit denjenigen »Vorgänge[n], die wir ›Spiele‹ nennen« (PU 66). Da schlüsselt er einige unterschiedliche, wenngleich ähnliche und verwandte Kontextbedingungen auf, unter denen wir das Wort ›Spiel‹ gebrauchen. 162 TkH I 16, 199, 440; TkH II 182, 205. Vgl. Habermas, Jürgen: Nachwort (1973), in: Erkenntnis und Interesse. Mit einem neuen Nachwort, Frankfurt a. M. 21973, S. 411 ff.; Wege der Detranszendentalisierung. Von Kant zu Hegel und zurück, in: Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 1999, S. 187, 214. 163 Für Habermasens geschichtliche Selbsteinordnung seiner derart verfahrenden Philosophie siehe Habermas, Jürgen: Die Philosophie als Platzhalter und Interpret, 160 161

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Wittgenstein, Habermas und Brandom

Die Universal- oder Formalpragmatik richtet sonach kein Ideal auf, das einer unzulänglichen gesellschaftlichen Wirklichkeit gegenübersteht. Ebenso wenig bescheidet sie sich mit reiner Deskription solcher Wirklichkeit. Ihr Geschäft ist stattdessen, die in der zeitgenössischen Gesellschaft bereits lebendige diskursive Praxis auf deren »Präsuppositionen« 164 hin zu hintersteigen. Der Begriff der Lebenswelt ist nach Habermasens Überzeugung der »Komplementärbegriff zum kommunikativen Handeln«; sie bildet das »Korrelat zu Verständigungsprozessen« und reproduziert sich »nur« 165 in dem dazugehörigen Gebrauch von Sprache, welcher der »originäre« (TkH I 394) 166 und demgegenüber jeder andere, den Habermas insgesamt als strategischen Sprachgebrauch kennzeichnet, »parasitär« (TkH I 388) 167 sein soll. Und jene Präsuppositionen, die die Diskurspraxis, wenn sie und so lang sie lebendig ist, begründen und normieren (obgleich einige davon derzeit erst bruchstückhaft eingelöst sein mögen und wir sie unserem Gegenüber daher mitunter kontrafaktisch zu unterstellen haben), sind die ihrerseits unproblematischen Voraussetzungen, auf die man sich unreflektiertermaßen festlegt, wo immer man zu einer argumentativen Einigung mit Anderen über irgendwelche strittigen Geltungsansprüche gesonnen ist. 168 Schließlich ist hier noch Brandom anzuführen. Dessen Philosophie der Sprache und Intentionalität redet der pragmatistischen Behauptung das Wort, dass wir beim Sprechen und Denken Begriffe propositional gebrauchen und dass sich der Gehalt dieser Begriffe dain: Henrich, Dieter (Hg.): Kant oder Hegel? Über Formen der Begründung in der Philosophie, Stuttgart 1983, S. 42–58. 164 Habermas, Jürgen: Was heißt Universalpragmatik? (1976), a. a. O., S. 379; Entgegnung, in: Honneth, Axel/Joas, Hans (Hg.): Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 32002, S. 346. 165 Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, a. a. O., S. 38, 394. Siehe auch S. 43 Anm., 78, 107, 108, 436. 166 Vgl. TkH I 168, 388. 167 Habermas, Jürgen: Erläuterungen zum Begriff des kommunikativen Handelns (1982), in: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1995, S. 596. 168 Siehe dazu Iser, Mattias: Rationale Rekonstruktion, in: Brunkhorst, Hauke/Kreide, Regina/ Lafont, Cristina (Hg.): Habermas-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2009, S. 364–366; Gaus, Daniel: Rational Reconstruction, in: Allen, Amy/Mendieta, Eduardo (Hg.): The Cambridge Habermas Lexicon, Cambridge 2019, S. 369–378.

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Explikation als methodischer Sinn der Sozialontologie

durch bestimmt, wie wir sie gebrauchen. Daran reiht sich die inferenzialistische Behauptung an, dass es die Begründungszusammenhänge sind, in denen Propositionen stehen, welche den begrifflichen Gehalt konstituieren. Bei der Anwendung von Begriffen im Äußern sprachlicher Ausdrücke und im Vollziehen intentionaler Akte des Bewusstseins lege man sich unthematisch auf einschlägige Voraussetzungen und Folgen der Anwendung fest. Diese stillschweigende Festlegung auf das, wodurch der propositionale Gebrauch eines Begriffs begründet wird, sowie das, was er seinerseits begründet, stifte den begrifflichen Gehalt dessen, was man da sagt oder denkt. Brandoms normative Pragmatik behauptet ferner, dass solches Tun Normen unterworfen ist. Unsere begriffliche Aktivität soll gewissen Regeln folgen, die die Propositionen mit dem verknüpfen, was diese voraussetzen und was aus ihnen folgt. Wir seien dafür verantwortlich, Begriffe mit denjenigen Inferenzen anzuwenden, wie es in einer Gesellschaft Praxis ist. Und mit seinem logischen Expressivismus behauptet Brandom sodann, dass es den Teilnehmern einer gesellschaftlichen Praxis möglich ist, deren Hintergrund thematisch zu machen. Dieser könne ein Vokabular entwickeln, das zu sagen erlaubt, was jene sonst lediglich tun. Im Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen soll eine expressive Rationalität am Werk sein, die inferenzielle Zusammenhänge verlautbart, mit Einwänden und Alternativen konfrontiert, als Prämissen und Konklusionen formuliert und so kontrolliert und unter Umständen klärt. Methodisch versteht Brandom das als Explizitmachen von etwas Implizitem: »we might think of the process of expression […] as a matter […] of making explicit what is implicit. This can be understood in a pragmatist sense of turning something we can initially only do into something we can say: codifying some sort of knowing how in the form of a knowing that.« 169

Man überführt dann sein inferenzielles Wissen-wie in ein inferenzielles Wissen-dass. Die Begriffe, deren Gebrauch man schon unbewusst beherrscht, werden in ihrem Gehalt bewusst gemacht und können zur Begründung verwendet werden oder ihrerseits der Begründung bedürfen. Folgerichtig lautet daher der im Hinblick auf die Methode richtungsweisende Titel von Brandoms systematischem Brandom, Robert B.: Articulating Reasons. An Introduction to Inferentialism, a. a. O., S. 8.

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Wittgenstein, Habermas und Brandom

Hauptwerk, in dem er 1994 seinen philosophischen Entwurf ausführlich darlegt, auf Making It Explicit. Was die Mitspieler im Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen tun, ist, diejenigen normativen Regeln des propositionalen Begriffsgebrauchs explizit zu machen, welche der gesellschaftlichen Praxis implizit sind. In Anerkennung einer prinzipiellen Übereinstimmung mit Wittgenstein, Habermas und Brandom fasse ich die Art des Herangehens, welche das Soziale fordert. Gemessen am Umfang dessen, was darüber alles zu sagen wäre, bleibt das wenig, in Anbetracht seiner Wichtigkeit und Tragweite jedoch ist es viel. Das sozialontologische Unternehmen stimmt nämlich in puncto Methodologie in einem entscheidenden Punkt mit demjenigen überein, was diese jeweils auf die Beine stellen, so unterschiedlich das auch ansonsten ist. Ein solcher Unterschied ist etwa, dass sich die Ontologie des Sozialen weder auf die menschliche Sprache, sei es in ihrer schriftlichen, sei es in ihrer mündlichen Gestalt, im Gegensatz zum nichtsprachlichen Verhalten des Menschen konzentrieren darf noch auf irgendeine Unterart des sprachlichen Handelns, z. B. das kommunikative, im Gegensatz zu einer anderen, etwa das strategische. Jeder solche Abstraktionsschnitt muss ihr naturgemäß versagt bleiben. Weil sie nach der Minimalbestimmtheit des Sozialen fragt, greift sie über dieses ebenso wie jenes über und bezieht alles mit ein, was in unserem Dasein überhaupt etwas Soziales darstellt oder darstellen kann. Und doch. Wenn auch dasjenige, worauf die sozialontologische Problemstellung abzweckt, verschieden ist von dem, was der Wittgenstein’sche Sprachphilosoph, der Habermas’sche Universal- oder Formalpragmatiker und der Brandom’sche Mitspieler im Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen anvisiert, weisen sie trotzdem einen Berührungspunkt bzgl. der Methode auf – wenn man lediglich auf das Allerwesentliche achtgibt und das Übrige unberücksichtigt lässt –, nach der sie sich erwerben, was für sie je von Belang ist. Das hat seinen Grund darin, dass sie allesamt auf jene Implikaturen der Existenz des Menschen abstellen, welche ich mit dem Namen der ›Lebenserfahrung‹ versehen habe. Dort verorten sie das von ihnen Gesuchte und stellen es durch die eine oder andere Herangehensart, deren Verschiedenheit ich zugunsten desjenigen Punktes ausklammere, in dem sie übereinkommen. Bei Wittgenstein, wo man das mehr aus dem Zusammenhang herleiten muss, als dass es sich klar ausgesprochen findet, klingt das so: »Wir wollen in unserm Wissen vom Gebrauch der Sprache eine 441 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Explikation als methodischer Sinn der Sozialontologie

Ordnung herstellen« (PU 132). Bei Habermas, der in Bezug hierauf weitaus nachdrücklicher ist, liest man etwa: »Ein solches Programm zielt auf hypothetische Rekonstruktionen desjenigen vortheoretischen Wissens, das kompetente Sprecher einsetzen, wenn sie Sätze in verständigungsorientierten Handlungen verwenden.« (TkH I 199) 170 Und bei Brandom schließlich, der sich damit in aller Ausführlichkeit auseinandersetzt, ist etwa davon die Rede, dass »practitioners […] make explicit as the contents of claims just those implicit features of linguistic practice that confer semantic contents on their utterances in the first place« 171. In Sachen Sozialontologie muss man sich wie überall auf den Weg einlassen, den dasjenige schon eingeschlagen hat, welchem man nachfragt, und auf dem es vorausgeht. Und der eigentümliche Gang, der einem gewiesen ist und vor das Fragwürdige bringt, ist offenbar keiner des Vordringens in unbekannte Bereiche, des Aufspürens neuer Wahrheiten. Denn nach dem Sozialen fragen geht nicht dahin, über sich hinauszugehen, um Dinge kennenzulernen, die fernab des eigenen Horizonts liegen. Es geht dahin, in sich und seinen Horizont hineinzugehen, innerhalb dessen uns Dinge schon entdeckt sind. Der Pfad einer bestimmten Form von Einkehr in unser jeweiliges Dasein und dessen nach allen Seiten hin aufgespannten Bezüglichkeiten scheint das Geheimnis zu bergen. Auf ihm gelangt man dorthin, wo man sich seit langem aufhält, ohne das womöglich bereits erfahren zu haben, und betreibt insofern eine Art Selbsterkundung. Das ist der methodische Sinn der Ontologie des Sozialen, dass es der gesellschaftlichen Praxis, davon wir ein Teil sind, selbst zukommt, für das Begreifen ihres gesellschaftlichen Charakters geradezustehen. Diese Praxis bildet das unhintergehbare, aber rekonstruierbare Substrat, und wir haben Begriffe zu finden, in denen sie sich treffend ausgesprochen sieht. Lautet doch der ontologische Begriff des Sozialen, den ich konstruiert habe, auf die in jedwedem Bewusstsein überhaupt enthaltene vorgängige Gemeinsamkeit. Was etwas Soziales ist, das ist danach entweder selbst ein apriorisches Wissen oder hängt von einem solVgl. TkH II 205. »Alles dies ist implizites Wissen, das nur intuitiv beherrscht wird und die reflexive Arbeit rationaler Nachkonstruktion erfordert, um vom ›know how‹ in ein ›know that‹ umgeformt zu werden.« (Habermas, Jürgen: Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Interaktion und Lebenswelt, a. a. O., S. 87) 171 Brandom, Robert B.: Making It Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment, a. a. O., S. xix. 170

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Wittgenstein, Habermas und Brandom

chen ab, indem es dessen bedarf, um möglich zu sein. Ohne Vollständigkeit zu prätendieren, habe ich den Nachweis für drei Fälle geführt. Es kann sich dabei um die Übereinstimmung des vorgängigen Wissens von etwas handeln, das entweder etwas Gemeinsames ist oder nicht. Entweder ist das apriorisch Gewusste etwas von vielen Individuen Geteiltes wie erstens die Sitten des gesellschaftlichen Verkehrs oder zweitens die Standards und Kriterien für die attentionalen Modifikationen unseres Bewusstseins; oder es ist drittens irgendetwas, das wie die Gegebenheiten der Natur nichts von einer Konvention an sich hat, so dass lediglich das Gewusstwerden ein von vielen Individuen Geteiltes ist. Daraus ergibt sich, so darf man schlussfolgern, dass dasjenige Selbst, in welches die Sozialontologie einzukehren und das sie zu erkunden hat, des Näheren die Erfahrenheit in den Dingen des menschlichen Lebens ist, welches wir je sind. Das habe ich bislang getan, und das hat man ferner zu tun, wenn man den Kurs beibehalten und weitere Fälle nachweisen möchte. Die Leistung, welche die Ontologie des Sozialen erbringt, lässt sich in der Folge nicht in einzelwissenschaftliche Forschung auflösen. Das philosophische Nachdenken kann aus eigenem Vermögen auf Elementarfragen stoßen, die der Sozialwissenschaftler übersieht oder nicht erörtern muss. Denn dabei handelt es sich um Wegscheiden, die der Forscher meisthin bereits unbesehen genommen hat. Wie der Biologe das Lebendige, welches er untersucht, üblicherweise nicht als solches begrifflich anpeilt oder der Physiker nicht problematisiert, was die Natur unter dem Aspekt der Kausalwirkungen unbelebter Materie ist, operieren alle wissenschaftlichen Disziplinen aufgrund einer mehr oder weniger unausdrücklich unterstellten Distinktion ihres allgemeinen Sachbereichs. Der Politologe und der Ökonom, der Ethnologe und der Pädagoge, Kunst- und Religionswissenschaftler, Sozialmediziner, Sport-, Sprach- und Verwaltungswissenschaftler – sie alle benötigen keine Rechtfertigung der Sozialität der sozialen Phänomene, mit denen sie sich abgeben. Im Lichte von für selbstverständlich gehaltenen Voraussetzungen schreiten sie zur Untersuchung besonderer Probleme, denen das eigentliche Interesse gilt, ohne Definitionen bei der Hand zu haben, die jene vorausgesetzten Selbstverständlichkeiten versammeln. Mit den ihnen zu Gebote stehenden Mitteln ist das auch nicht zu machen. Dafür sind andere Formen der Rechenschaftsgabe vonnöten, was nicht heißt, dass sie nicht auch einmal nach dem Sozialen die Augen aufschlagen und sich auf ontologisches Terrain begeben mögen. Es heißt aber, dass sie dann 443 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Explikation als methodischer Sinn der Sozialontologie

einer anderen methodischen Logik des Erkennens unterstehen als sonst.

2.

Vorgängige Gemeinsamkeit als Quelle, Messlatte und Ziel

Damit ist eine Globalthese skizziert, die ganz vom Eigenrecht des Sozialen her ihren Umriss erhalten zu haben beansprucht. Die Richtung, in welche wir bisher gegangen sind und in die man ggf. weiterhin zu gehen hat, ist demnach immer auch und wesentlich die einer, wie ich sagen möchte, Explikation. ›Explizieren‹ meint dabei aber nicht im landläufigen Wortverständnis die Erklärung eines nicht auf Anhieb Fasslichen. Auch ist keine Explikation in dem speziellen Verständnis einer logisch-semantischen Analyse gemeint, wodurch nach Rudolf Carnap und lang vor ihm Hobbes die Philosophie eine ihrer vornehmsten Pflichten erfüllt, nämlich die Klärung unseres Denkens und Sprechens. 172 Nicht darum geht es ja, einen vagen bzw. mehrdeutigen Gedanken und den dafür stehenden Ausdruck der Alltags- oder eines früheren Stadiums der Wissenschaftssprache durch einen deutlich bzw. eindeutig gemachten Begriff zu ersetzen, der dann konstant durch dasselbe Wort wiederzugeben ist. Sondern in Diskussion steht, wie man überhaupt zu einem solchen gelangen kann: die für die Ontologie des Sozialen tunliche Gewinnung einer adäquaten Begrifflichkeit und Terminologie aus der Sache selbst, der sie nachforscht. ›Explikation‹ soll also eine intentionale Begegnungsweise neben anderen möglichen bezeichnen, von denen wir schon einige gestreift und die der Vergegenständlichung näher kennengelernt haben. Sie ist eine dem Bewusstsein und seiner Form, sich auf etwas hinzulenken, verdankte Art neben anderen, wie uns Dinge erscheinen. Was die Wortwahl angeht, berufe ich mich auf den alten Sprachsinn, und zwar dem Buchstaben nach. Das lateinische Verb explicare besagt für die alten Römer wörtlich übersetzt so viel wie auseinander-

Vgl. Carnap, Rudolf: Induktive Logik und Wahrscheinlichkeit, Wien 1959, S. 12; Hobbes, Thomas: Leviathan, or The Matter, Forme, and Power of a Common-Wealth Ecclesiasticall and Civill, a. a. O., S. 23 ff., 32 ff. Der frühe Carnap spricht statt von Begriffsexplikation noch von rationaler Nachkonstruktrion. Siehe dazu Carnap, Rudolf: Der logische Aufbau der Welt (1928), a. a. O.

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Vorgängige Gemeinsamkeit als Quelle, Messlatte und Ziel

falten, herauswickeln, ausrollen (ex, aus, heraus, und plicare, falten, wickeln, rollen). So kann etwa ein Vogel seine Flügel aufspannen, 173 eine Näherin das Gesponnene von der Spindel abwickeln 174 oder der Seefahrer sein Fangnetz entrollen. 175 Daraus ist die übertragene und im Deutschen heute gebräuchliche Bedeutung von explicatio entstanden als einer Klärung und Erklärung. Die Etymologie bleibt dabei aber im Kern gewahrt. Denn wo ein sprachlicher Ausdruck, 176 eine Erzählung, 177 die Natur 178 oder sonst etwas expliziert wird, legt man doch dem Anspruch nach lediglich heraus und stellt ins Helle und Klare, was in dem Explizierten bereits darin liegt, nur eben dunkel und unklar. Und aus dieser Wortherkunft verstehe ich die sozialontologische Methode der Explikation: Sie besteht buchstäblich in einem Auseinanderfalten dessen, was schon eingefaltet da ist. Oder, etwas mehr dem Geiste nach, im Entbergen eines bereits verhüllt Gegebenen. Sie ist eine Beachtung dessen, was für selbstverständlich genommen zu werden und unbeachtet zu bleiben pflegt. Allein, das reicht noch nicht. Denn in diesem weiten Sinne kann man vielerlei explizieren. So kennen wir ja das meiste von dem, das uns weitum und nah umgibt, ohne dass wir in der Betriebsamkeit des Alltags jemals ein jedes für sich säuberlich ausgelotet hätten und somit ohne einen nennenswerten oder überhaupt einen Begriff davon zu haben. Sobald wir uns aber erstmals oder nochmals auf eine Sache versammelt und sie gezielt nach diversen Seiten hin ausgelotet haben, zeichnet sie und zeichnen sich ähnliche und verschiedene Dinge fortan im Andrang des Vielen sauberer ab. ›Explizieren‹ soll allerdings anderes meinen. Es ist dies kein rein formal zu bestimmender Akt des Aufmerkens auf etwas, keiner, durch den jemandem dieses oder jenes gegeben sein kann. Wir sind nicht schon bei der Explikation, wo wir bloß irgendetwas Bekanntes oder gar Vertrautes zum Ziel einer eigenen Bemühung um eingehendere begriffliche Erkenntnis machen. Die explikative Art des Erkennens, durch die die Sozialontologie in ihr Wesen kommt, ist inhaltlich ausgezeichnet. Sie charakterisiert sich mit über das von ihr zu Erkennende, die Realität dessen, was sie 173 174 175 176 177 178

Vgl. Ovid: Am. II.6. Vgl. Martial: Epigrammaton libri, IV.54. Vgl. ebd., I.55. Vgl. Cicero: Ac. 1 I.8.32. Vgl. Cicero: Nat. III.24.62. Vgl. Cicero: Div. II.63.129.

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Explikation als methodischer Sinn der Sozialontologie

ins Wissen zu heben hat. In solch einem engen Sinne benutzt auch Hegel gelegentlich den Ausdruck. »Denn die Philosophie hat einen Gegenstand«, heißt es etwa in seinen Vorlesungen über die Ästhetik, »nach der Notwendigkeit seiner eigenen inneren Natur zu entfalten und zu beweisen. Erst diese Explikation macht überhaupt das Wissenschaftliche einer Betrachtung aus.« (VÄ I, S. 26) An der Stelle ist »Explikation« der von Hegel (auch anderwärts, jedoch insgesamt untechnisch) verwendete Titel für die Methode seines Philosophierens. 179 Jene Methode lasse sich gerade nicht über alles Mögliche hinbreiten. Eine wissenschaftliche Betrachtung soll ausnahmslos die »logisch-metaphysische Natur« ihres Gegenstandes erlauben. Was Hegel als ›Geist‹ anspricht, entwickelt sich im Laufe der Geschichte stufenweise fortschreitend zu immer reichhaltigeren Gestaltungen der Wirklichkeit. Und der Philosoph, indem er das, was wirklich ist, begreift, erkennt den jeweiligen Gegenstand »nach […] seiner eigenen inneren Natur«. Er geht den Gang, welchen die betrachtete Sache selber genommen hat, nach. Anders gesagt ist Explikation für Hegel das Entfalten einer jeden Geistgestaltung aus der jeweils vorherigen, der Nachvollzug der geschichtlichen Selbstentfaltung des im Anbeginn noch in sich eingewickelten Geistes. 180 Selbstredend ist es nicht bloß bei Hegel, sondern durchzieht die Annalen der Philosophie, dass in der einen oder anderen Form das philosophische Nachdenken seine Domäne darin erblickt, einer Sache, die an sich schon bei uns ist, habhaft zu werden, auf dass sie dann erst wirklich für uns ist. Hegels Werk bildet ebenso wie das eines Wittgenstein, Habermas oder Brandom nach ihm lediglich ein Glied in der Kette dieser langen Tradition. 181

Vgl. VÄ III, S. 234, 356; VPR I, S. 28, 64; VPR II, S. 309 und passim. Dass der Philosoph den Geist so expliziert, wie der sich selbst expliziert hat, findet sich u. a. in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte: »Es hat sich also erst aus der Betrachtung der Weltgeschichte selbst zu ergeben, daß es vernünftig in ihr zugegangen sei, daß sie der vernünftige, notwendige Gang des Weltgeistes gewesen, des Geistes, dessen Natur zwar immer eine und dieselbe ist, der aber in dem Weltdasein diese seine eine Natur expliziert. [Herv. d. Verf.]« (VPG, S. 22) Vgl. VÄ I, S. 101, 235, 409; VÄ II, S. 355; VÄ III, S. 254; VPR I, S. 28, 64 ff.; VPR II, S. 214. 181 Hogrebe sieht durch diese Figur sogar sämtliche wesentlichen Fragestellungen der Philosophie gekennzeichnet. Vgl. Hogrebe, Wolfram: Der implizite Mensch, Berlin 2013, S. 13 f. Cappelen zieht das in Zweifel, dass in der philosophischen Praxis Intuitionen (intuitions) irgendeine Rolle spielen. Vgl. Cappelen, Herman: Philosophy without Intuitions, Oxford 2012. 179 180

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Vorgängige Gemeinsamkeit als Quelle, Messlatte und Ziel

Und auch die Ontologie des Sozialen hat sich auf ihre Weise daran anzuschließen. Dabei ist aber nicht nur dasjenige, was sie expliziert, etwas anderes als der Hegel’sche Geist, Wittgensteins Regeln der Sprachspiele, Habermasens Präsuppositionen des verständigungsorientierten Sprachgebrauchs und Brandoms inferenzielle Gliederungen begrifflicher Gehalte. Sondern und vor allem sucht sie ihr Explikandum, das Soziale, im Gegensatz zu Hegel, aber in grundsätzlicher Übereinstimmung mit Wittgenstein, Habermas und Brandom in der Tiefe menschlicher Weltoffenheit. Das besagt ›Explikation‹, dass man solches, wovon man längst ergriffen ist, nun seinerseits ergreift: dass das im Vollzug unseres Daseins von rückwärts sich ausspielende Erfahrensein eigens nach vorn gebracht und bewusst gemacht wird. Die von der Sozialontologie zu betreibende Art der Begriffsbildung geht also dahin, das in die Lebenserfahrung des Menschen mit eingerollte Sichteilen mit Anderen, die seinem Bewusstsein vorgängige Gemeinsamkeit, auseinanderzurollen. 182 Darin liegt, wenn man es feiner aufschlüsselt, dreierlei beschlossen. Tatsächlich hat unsere bisherige Erörterung des Sozialen auf Schritt und Tritt erstens ein stillschweigendes Vorverständnis zur Messlatte genommen. So allein vermochte die sozialontologische Fragestellung von Beginn an, zumindest irgendeinen Richtungssinn für uns anzunehmen. Denn anderenfalls hätten wir ja schlichtweg keinen Anhalt besessen, auch nur zu erahnen, worum es hierbei geht, was dazugehören mag und was nicht, wie vorzugehen ist, wovon auszugehen und wohin überzugehen sein mag. Zweifellos kann man jede Frage lässig hinsprechen, doch ernsthaft fragen setzt beim Fragenden einen gewissen Horizont voraus. Die Offenheit der Antwort, dass diese also nicht vorab feststeht, verlangt eine Umgrenzung, so dass eine sinnvolle Entscheidung getroffen werden kann. Und der Horizont meiner Aufmerksamkeit, in welchem sich mir die Frage als eine fragwürdige stellt, ist es, der in eins damit eine leitende Richtung vorgibt; mein Fragehorizont grenzt die Frageoffenheit auf eine bestimmte Fragerichtung ein. Zwar ist jener kein Bestandteil des Gefragten, doch entscheidet er vor dem Erlangen einer Antwort mit daEine der wenigen, welche sich in puncto Methode äußern, kommt dem nahe. Gilbert nennt als das hauptsächliche Ziel ihrer Untersuchung On Social Facts, a. a. O., »to make explicit the structure of certain everyday concepts« (S. 3). Darunter versteht sie jeweils einen solchen Begriff, »that is implicit in the judgments we are most immediately inclined to make about what counts as an X and what does not« (S. 11). Über diese bloße Nennung allerdings kommt Gilbert nicht hinaus.

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Explikation als methodischer Sinn der Sozialontologie

rüber, ob überhaupt eine zufriedenstellende Antwort in den Blick treten kann: Unser jeweiliges Dasein selbst ist der Grund im Sinne einer ratio cognoscendi für die mögliche Beantwortung der ontologischen Frage nach dem Sozialen. Vor diesem muss jene bestehen; was da zu explizieren ist, richtet über sein Explikat. So haben wir diverse Sachbereiche als Beispiele ins Kalkül gezogen, darunter den der Sprache und Schrift, der nonverbalen Mienen, Gesten und Posen, der Sitte, des menschlichen Bewusstseins und seiner Intentionalität sowie des impliziten Wissens. Aber ohne ein diesbezügliches Hintergrundwissen, welches uns dafür offen macht und sich schon aus vor- und außerphilosophischen Zusammenhängen herschreibt, wäre das im wahrsten Wortsinne ein bodenloses Unterfangen geblieben. Wir hätten jene nicht einmal als Beispiele wählen können für das, wonach wir Ausschau halten. Dass man sich soziale Entitäten vor Augen zu stellen vermag, ist durch ein je schon erworbenes Lebensverhältnis zu diesen Entitäten gebunden. Es muss bereits etliches vorentschieden sein, um über den Begriff des Sozialen irgendetwas entscheiden zu können. Eigentlich also haben wir bislang – wenn uns das auch erst nachträglich aufgeht – alle Erscheinungen, aus denen wir, und alles, was wir daraus geschöpft haben, an Eigenem gemessen, das wir bereits mitbringen. Unbestreitbar kann man sich ein Leben lang in der Gesellschaft von Menschen, in Familie, Freundschaft, Staat aufhalten, ohne sich auch nur einen Augenblick um das Soziale als solches zu scheren. Das heißt aber nicht, dass man von dem, was etwas zu etwas Sozialem macht, keinerlei Ahnung hat und erstmals in der philosophischen Reflexion darauf stößt. Wo sich die sozialontologische Frage als eine echte Frage stellt, hat sich einem Soziales bereits gelichtet. Unabhängig von solchem Fragen hat der Fragende schon gefunden, wonach er da im Allgemeinen fragt, wenn er auch dieses oder jenes besondere soziale Phänomen nicht kennt; dadurch nur kann er es als ein solches erkennen, wo er darauf trifft. Dieser Fund, dessen man kaum achtet, geschweige denn zu eigener Fragwürdigkeit erhebt, ist eine unausweichliche Gegebenheit des menschlichen Lebens. Das braucht nicht jedermann in den Blick zu fassen, doch die Ontologie des Sozialen kommt an dieser Gegebenheit nicht vorbei. Ein Philosoph muss keine ausgefeilte Theorie der Familie, von Freundschaft und Staat haben, er braucht überhaupt kein Gesellschaftstheoretiker sein. Und doch, hätte er keinerlei Ahnung von alledem (wenn es so etwas gibt), wäre er von der Frage nach dem Sozialen ersatzlos abgeschnitten. Ihre Be448 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Vorgängige Gemeinsamkeit als Quelle, Messlatte und Ziel

antwortung muss sich auf etwas stützen können, was nicht allein dem Philosophen eigen ist oder durch sein Philosophieren erst entsteht. Sozialontologie gedeiht lediglich auf einem Boden von Konditionen, die vor ihr bereits erfüllt sein müssen. Doch damit nicht genug. Der Aufschluss, zu dem wir es gebracht haben, ist durch unsere unvermerkte Auskenntnis sogar mitbewegt. Die Aufklärung über das Soziale ist (wie auch die über die Regeln unserer Sprachspiele, die Präsuppositionen kommunikativer Sprechakte oder die inferenzielle Gliederung begrifflicher Gehalte) ein eminenter Vorgang, weil er von dem, worüber er aufklärt, eingenommen ist und befangen bleibt (wie auch jene Regeln im Medium regelfolgenden Sprechens artikuliert werden, die Artikulation jener Präsuppositionen ein Diskursangebot macht, welches selber präsupponiert, was es da versprachlicht, sowie die jener inferenziellen Gliederung begrifflicher Gehalte ihrerseits inferenziell gegliederte begriffliche Gehalte gebraucht). Denkt doch die Frage nicht in ein anderes vor, so wie etwa die nach dem Aufbau und der Funktion von Zellen, der dann eine Antwort von außen zuwächst. Vielmehr zeigt diese das Bemerkenswerte, dass der Fragende in der Antwort, zu welcher er es bringt, voll und ganz da ist. Wer nicht bereits ein vergesellschaftetes und vergesellschaftendes Wesen ist, besäße nicht den Stoff, den es hier zu begreifen gilt. Letzten Endes wächst seinem Fragen das Soziale (wie die besagten Regeln, Präsuppositionen und begrifflichen Gehalte) von innen nach. Denn das Erfragte, dasjenige, worauf die Frage abzielt, ist ebendas, worin sie ihrerseits verwurzelt ist: Sie denkt zweitens in ihre eigene Quelle im Sinne einer ratio essendi zurück, der sie entspringt, und kommt darin drittens in ihr Ziel. Die ganze Zeit über haben wir unsere Schritte nach der explikativen Methode getan, indem wir aus nichts anderem als aus Eigenem, das wir einsetzen und das in den gewählten Beispielen widerhallt, geschöpft haben. 183 Die Sozialontologie nährt sich demzufolge von Anbahnungen, für die zu sorgen sie selber weder braucht noch vermag. Nie kann sie durch einen Machtspruch setzen, was das Soziale ist. Immer hat sie

Solches Fragen ist es wohl, das Heidegger in einer seiner frühen Freiburger Vorlesungen ein »inbegriffliches« nennt: weil wir »so fragen, daß wir selbst, die Fragenden, dabei mit in die Frage gestellt, in Frage gestellt werden«. (Heidegger, Martin: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (1929/30), GA 29/ 30, Frankfurt a. M. 1983, S. 13)

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Explikation als methodischer Sinn der Sozialontologie

dieses zu verbegrifflichen, indem sie ihrem Begreifen das Fundament sichert aus der Beschlagenheit in solchem, das etwas Soziales ist. Eine ontologische Verständigung über das Soziale, die sich der in unsere jeweilige Existenz schon eingezogenen Vertrautheit mit Sozialem nicht vergewissert, spekuliert ebenso problemfern wie unverbindlich ins Blaue. Bekanntes bildet in diesem Problemkreis den ersten Ausgangspunkt, den beständigen Bezugspunkt sowie den letzten Endpunkt. 184 Mit Durkheim zu sprechen und zugleich gegen ihn, sind es gerade jene »notiones vulgares ou praenotiones«, welche sich dank der weit gefächerten gesellschaftlichen Realitäten, an denen wir teilhaben, unvermeidlich einspielen und für deren methodische Neutralisierung sich Durkheim auf wissenschaftlichem Gebiete starkmacht, woran die Ontologie des Sozialen sich anzulehnen und die sie zur Geltung zu bringen hat. Nur wer schon ein soziales Individuum ist, kann die Frage nach dem Sozialen ernsthaft stellen und sachkundig beantworten. Unsere faktische Existenz muss der Begriffsarbeit der Philosophie schon vorgearbeitet haben, damit diese auf die Spur des Sozialen zu kommen vermag; und sie muss in der Folge Bestätigung für sie erbringen. Der Philosoph besitzt keinen exklusiven oder ausgezeichneten Zugang zum Sozialen. Dem sprichwörtlichen Alltagsverstand hat er bestenfalls voraus, dass er das Soziale angemessen zum Ausdruck zu bringen versteht; er vermag zu artikulieren, was der andere bloß lebt. Diese Erhebung des Gelebten in den Gedanken gewinnt dem Inhalt eine andere Form. Nicht aber tritt an seine Stelle ein neuer Inhalt; der philosophische Begriff muss die Form dessen sein, was die Praxis vorbereitet hat und sodann zu beglaubigen geeignet ist. Die Ontologie des Sozialen erledigt das Soziale also genau dann nach seinem eigenen Recht, wenn sie in Rücksicht auf die dabei zu befolgende Methode auch und im Wesentlichen das tut, dass sie unsere für gewöhnlich unauffälligen Implikaturen auffällig macht: dass sie dem Selbstverständlichen Worte gibt und so zu einem Selbstverständnis verhilft. 185 So ähnlich, wie Aristoteles der Ethik bescheinigt, dass diese »von dem Bekannten [γνωρίμων] ausgehen« müsse, dass nämlich »bereits einen guten Charakter erworben haben« muss, »wer für das Hören von Vorträgen über das Edle und Gerechte […] geeignet sein will«. (EN 1095b2 ff.) Hier wie dort müssen schon einige Bogen Leben beschrieben sein, um die jeweilige Frage sinnvoll verstehen und erfolgreich bewältigen zu können. Vgl. Aristoteles: EN 1095a2 ff. 185 Die Formulierung, Selbstverständliches zu einem Selbstverständnis zu bringen, entlehne ich dem späten Gadamer. Dieser versucht damit die Aufgabe der Philosophie 184

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Vorgängige Gemeinsamkeit als Quelle, Messlatte und Ziel

Das sozialontologische Nachdenken darf sich selber dabei jedoch mitnichten frei wähnen von dem, welchem es nachdenkt. Wenn zutrifft, was ich ausgeführt habe, dass es nämlich auf etwas aus ist, das unterhalb der Schwelle unseres worauf auch immer gerichteten und wie auch immer gearteten Augenmerks liegt, und seine Obliegenheit darin findet, unsere meistenteils unbefragte Eingenommenheit und Befangenheit, will sagen die jeweilige gesellschaftliche Verstrickung unserer Existenz, ans Licht zu bringen – wenn das zutrifft, dann macht die infrage stehende vorgängige Gemeinsamkeit auf ganzer Breite noch die Bedingung der Möglichkeit ihrer eigenen Verbegrifflichung aus. Wo sich der Einzelne daranmacht, sein Erfahrensein, in das er sich mit Anderen teilt, der latenten Präsenz zu entreißen, setzt er es, anstatt unbetroffen den Blick darauf wenden zu können, voraus. In der Sprache der drei Bausteine ausgedrückt, in die ich das intentionale Bewusstsein des Menschen zerlegt habe, liegt das Soziale dem Bewusstsein sowohl voran als auch zugrunde. Es liegt ihm als sein intentionaler Gehalt voran; es ist dasjenige, wozu sich einer bewusst verhält. Es liegt ihm aber genauso als sein intentionales Subjekt, als die ebendas erst ermöglichende Bedingung zugrunde; es ist derjenige (oder ein Moment desjenigen), welcher sich da bewusst zu etwas verhält. Und mehr noch. Was die Ontologie des Sozialen zu erkennen und zu verbegrifflichen trachtet, liegt dem menschlichen Bewusstsein darüber hinaus ein. Es liegt ihm ein, indem es auch die Möglichkeit der Art und Weise solchen Erkennens bedingt. Dessen intentionale Form, wie sich also jemand bewusst zu einer Sache verhält, dringt ebenso aus unserem apriorischen Wissen, jenem Orientierungsraum, in dem das reife Bewusstsein beheimatet ist, herauf. Jene eigentümliche Blickwendung, welche die Explikation bedeutet, ist nicht weniger als jede andere ein Kostgänger vorgängiger Gemeinsamkeit. Bei explikativer Erkenntnis handelt es sich ganz wie sonst auch, wo man sich etwas gegeben sein lässt, um ein Verhalten, das wiederholtermaßen geübt und bewährt, normativ kontrolliert und berichtigt sein will, um wahrhaft gekonnt zu werden. In der Aktualisierung dieses Könnens anlässlich neuer Fragen und unter anderen Gesichtspunkten appliziert sich ein aus alten Erfahrungen sedimentiertes Wissen um im Ganzen zu charakterisieren, was zu behaupten oder zu verteidigen hier nicht meine Sache ist. Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Der Kunstbegriff im Wandel (1995), in: Hermeneutische Entwürfe. Vorträge und Aufsätze, Tübingen 2000, S. 145.

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Explikation als methodischer Sinn der Sozialontologie

das, worauf es bei derlei Verhalten ankommt. Und die Fähigkeit zu einer derartigen Vermittlung des Alten mit Neuem ist ebenso wie das ihr eingeschriebene Wissen eine Geformtheit unseres Geistes, die mehrere besitzen. Das Explizieren, welches die Sozialontologie zu pflegen hat, ist mithin ein Gegebenseinlassen von Dingen, das selber durch die Gesellschaft mit anderen Menschen mitbestimmt ist.

3.

Die Selbstbezüglichkeit sozialontologischer Erkenntnis

Die Ontologie des Sozialen besitzt infolgedessen eine selbstbezügliche Komponente. Sie zeichnet von dem, woran sie Interesse nimmt, ein Bild, in welchem sie ebenso wie alles andere auch, das nur etwas Soziales ist, vorkommt. Die Erkenntnis nämlich, die sie zuwege bringt, trägt – eben weil sowohl der intentionale Gehalt als auch die intentionale Form unseres Bewusstseins hierbei nur sein können, was sie sind, wenn das intentionale Subjekt das freigibt – ihrerseits gesellschaftliche Züge. Handelt es sich dabei um einen Fall von kollektiven Wir-Intentionen? Oder individuellen Ich-Intentionen? Oder lässt sich die sozialontologische Erkenntnis gar nicht ins Prokrustesbett solch einer begrifflichen Entgegensetzung zwängen? Die Autoren, welche wir als Repräsentanten des intentionalistischen Paradigmas kennengelernt haben, äußern sich dazu nicht. Der Theoretiker ist hierbei in keiner bevorrechtigten Stellung gegenüber dem Praktiker in Alltag und Wissenschaft. Die Welt des alltäglichen Getriebes und wissenschaftlichen Forschens hängen nicht nur mit der seinen zusammen, es handelt sich im Hinblick auf ihre Gesellschaftlichkeit um ein und dieselbe. Er ist daher zu Rückschlüssen gezwungen und muss sich gefallen lassen, auf sich selber zu beziehen, was er da erkennt. Die Sozialontologie also, wie ich sie ins Werk zu setzen versucht habe, verschafft sich durch ihre Selbstbezüglichkeit, die darin liegt, dass sie im Bedenken des Sozialen auch die Voraussetzung für die Möglichkeit solchen Bedenkens mitbedenkt, Klarheit über die Stätte, an der sie selber steht. 186

Ähnlich nennt etwa Luhmann eine Gesellschaftstheorie, die sich selbst in ihre Beschreibung mit einschließt, indem sie sich als ein Teil der Gesellschaft weiß, welche sie beschreibt, eine »selbstreferenzielle« oder »autologische« Theorie. Vgl. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, a. a. O., S. 1128 ff.

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Die Selbstbezüglichkeit sozialontologischer Erkenntnis

Dass alles Sichverhalten zu unserem eigenen Sein hinter die Gewordenheit dieses Seins nicht zurückkann, darin ist die methodische Pointe der Sozialontologie zu sehen. Und zugleich ihre Grenze. Unüberholbar liegt ihr voraus, was derlei Verhalten sowohl gewährt als auch begrenzt. Das will ich schlussendlich hervorkehren, dass die Ontologie des Sozialen etwas zu thematisieren und zu begreifen sucht, was sich notgedrungen entzieht. Die Thematisierungsweise der Explikation führt nur scheinbar mit leichter Hand zu einwandfreien Ergebnissen. Heraussagen, was man schon weiß – nichts einfacher als das. Doch wie fängt man solches an? Und wie kann man sich überzeugen, es richtig getroffen zu haben? Dasjenige zum Thema zu machen und zu bedenken, was dabei hartnäckig im Gedankenlosen des Selbstverständlichen verbleibt, ist eine Aufgabenstellung von eigener Schwierigkeit und Fehlbarkeit. Aus dem Verharren des Sozialen auf der Rückseite jeder geistigen Versammlung darauf empfängt das Ringen um ein angemessenes Selbstverständnis nicht allein seine ihm zur Verfügung stehenden Blickbahnen. Es erwächst daraus ebenso ein gewissermaßen widerstandsloser Widerstand, dem das Begreifen ständig ausgesetzt ist. Ich meine damit nicht diejenige Begrenzung einer möglichen Theoriekonstruktion, welche sich daraus ergibt, dass die ontologische Beschäftigung mit dem Sozialen, weil sie ihre eigene Grundlage zu erfassen hat, in die Partikularität der jeweiligen gesellschaftlichen Praxis hineingezwungen bleibt, durch die sie grundgelegt ist. Indem sich solch ein Erfassen dem Wirkungskreis vorgängiger Gemeinsamkeit nicht bloß nicht entwinden kann, sondern ihn gerade beansprucht, ist das Ideal anonymen Wissens hier ganz und gar verfehlt. So sehr auch seit Bacon das Selbstbewusstsein als der Punkt gilt, an dem sich die Objektivität und intersubjektive Nachprüfbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnis ihre Legitimation verschaffen, handelt es sich dabei doch in der Optik der Sozialontologie um ein Sekundärphänomen. Nach dem Sozialen fragen heißt nach einem Areal der Realität fragen, in das jeder Zustand unseres Gemüts eingestemmt ist, vor allem aber einem, dessen wir nur insofern mächtig werden können, als wir in seiner Macht stehen: Dieses kann sich uns lediglich erschließen, wenn wir und je nachdem wir schon gesellschaftlich gebildet und so auch dafür bereits aufgeschlossen sind. Es bleibt eine Illusion zu glauben, in dieser Angelegenheit wären Konzeptualisierungen zu haben, die für alle auf Abruf bereitstehen. Ein vom eigenen gewordenen Sein abgekoppeltes Wissen ist die Sache der 453 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Explikation als methodischer Sinn der Sozialontologie

Ontologie des Sozialen nicht, eben weil sie unwillkürlich vor Ort arbeitet, weil wir unseren Aufenthalt dort zu nehmen haben, wo wir längst sind. Was ich hingegen meine, kündigt sich auch in Wittgensteins Methodendenken an. Wie der Klammerzusatz in dem Zitat aus den Philosophischen Untersuchungen verrät, sieht Wittgenstein das Procedere der Besinnung, auf das er die kommende Philosophie mit ihrem neuartigen Arbeitsprogramm einschwört, vor eine Hürde gestellt. Nicht bloß zufällig, niemals gehe diese leicht von der Hand: »Und offenbar etwas, worauf man sich aus irgendeinem Grunde schwer besinnt.« Dass wir etwas intuitiv zu handhaben wissen, nämlich die situationsgemäße Anwendung der Regeln unserer Sprachspiele, ist nicht dasselbe wie imstande zu sein, sich jener Regeln begrifflich zu vergewissern, was gerade die Bestimmung des Philosophen sein soll. Warum dem so ist, darüber lässt sich Wittgenstein nicht aus; was er hier ohnehin bloß parenthetisch einschiebt, ist alles, was er in dieser Sache mitteilt. Dass dem aber so ist, hat er kurz zuvor schon einmal geäußert, nicht in voller Allgemeinheit, sondern noch mit besonderem Bezug auf ein bestimmtes Wort, und zwar das Wort ›Spiel‹ : »Was heißt es: wissen, was ein Spiel ist? Was heißt es, es wissen und es nicht sagen können?« (PU 75) 187 Dass unser Sprechenkönnen ein Regelwissen einbegreift, wir also unser dadurch angeleitetes Können nach den jeweiligen Umständen auszuüben verstehen, hat für Wittgenstein nicht zur Folge, dass wir jenes Wissen auch ohne Weiteres zu versprachlichen vermögen. 188 Unmittelbar ausgedrückt findet sich das gleichfalls in dem Diktum des US-amerikanischen Verfassungsrichters Stewart. Sinngemäß verkürzt besagt dieses, dass einer zwar nicht in der Lage ist, etwas zu definieren, es aber doch erkennen kann, wo er es sieht. Man hat es hierbei auch nicht mit einer generellen Feststellung zu tun. Konkreter Anlass für Stewarts Äußerung, ich habe das in Kapitel VI.3 erläutert, war die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten über die Verfassungsmäßigkeit eines zur Prüfung Vgl. PU 78. Vgl. von Savigny, Eike: Wittgensteins Philosophische Untersuchungen. Ein Kommentar für Leser, Bd. I: Abschnitte 1 bis 315, a. a. O., S. 131. Philosophische Probleme sind daher nach Wittgenstein niemals im Handumdrehen ins Reine zu bringen. Besinnung benötigt ihre Zeit: »Im Rennen der Philosophie gewinnt, wer am langsamsten laufen kann. Oder: der, der das Ziel zuletzt erreicht.« (VB 498) Vgl. VB 531, 546, 563; Z 382.

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Die Selbstbezüglichkeit sozialontologischer Erkenntnis

vorgelegten Spielfilms. Die Anklage lautete auf harte Pornographie, die dem Schutz durch das First Amendment zur Verfassung der USA entzogen ist. Dennoch hat Stewarts Ausspruch das Potenzial, eine über seinen beschränkten Sachkreis hinausreichende Wahrheit sehen zu lassen und ist darum nicht zu Unrecht zu einer geflügelten, vielseitig einsetzbaren Wendung geworden. Der Jurist soll wie letztlich jeder andere Mensch auch in diesem oder sonst einem Fall in intentione recta erkennen können, ob die betreffende Sache, wenn er sie nur sieht, etwas Obszönes oder was auch immer ist, weil er wie jeder andere auch darin schon bewandert ist, wann etwas obszön oder was auch immer ist. Das allerdings garantiert keinesfalls, so macht Stewart kenntlich, dass er aus solchem Bewandertsein heraus in intentione obliqua gemeingültig zu definieren vermag, was Obszönität oder sonst etwas kennzeichnet. 189 Und schließlich nimmt auch Habermas Stellung zu den Herausforderungen des von ihm aufgebotenen Verfahrens der Rekonstruktion. Insbesondere in dem Aufsatz Was heißt Universalpragmatik? aus dem Jahr 1976, wo er seine Philosophie zum ersten Mal in ihren Hauptzügen skizziert und dabei ebenso auf Methodenfragen eingeht, findet sich das. In Anlehnung an die Unterscheidung von Ryle distinguiert Habermas dort zwischen dem knowing how oder Können eines kompetenten Sprechers und dem knowing that oder Wissen eines Interpreten. Der erstere »versteht sich auf das Regelsystem seiner Sprache und auf deren kontextspezifische Verwendung, er hat von dem Regelsystem ein vortheoretisches Wissen, das jedenfalls ausreicht, um die betreffende Äußerung tun zu können.« 190 Der letztere hingegen, der die Erzeugungsstrukturen interpretieren will, die solchem Sprechen zugrunde liegen, »muß das know how in ein explizites Wissen, also ein know that zweiter Stufe überführen. Das ist die Aufgabe […] der rationalen Nachkonstruktion«. Allerdings geht es Habermas mit seinem Ansatz, den er kurze Zeit später auf ›Formalpragmatik‹ umtauft (um ihn von der Transzendentalpragmatik Apels Schützeichel sieht in diesem Umstand, wie er anhand von Ryle, Polanyi und Karl Mannheim illustriert, eine Kritik des sog. epistemischen Individualismus. Dessen »Leitidee« soll die Vorstellung »eines selbst-reflexiven Individuums als Träger und Autorität seines Wissens« sein. (Schützeichel, Rainer: »Implizites Wissen« in der Soziologie. Zur Kritik des epistemischen Individualismus, in: Loenhoff, Jens: (Hg.): Implizites Wissen. Epistemologische und handlungstheoretische Perspektiven, Weilerswist 2012, S. 109) 190 Habermas, Jürgen: Was heißt Universalpragmatik? (1976), a. a. O., S. 368. 189

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abzusetzen), nicht um partikuläre Fertigkeiten bestimmter Gruppen oder gar singuläre Fähigkeiten einzelner Individuen. Vielmehr sollen sich die »Rekonstruktionen auf ein vortheoretisches Wissen allgemeiner Art, auf ein universelles Können« 191 beziehen. 192 Im Zuge dessen kommt Habermas gleichfalls auf diverse »Methodologische Schwierigkeiten« 193 zu sprechen, die damit einhergehen. Er erörtert mehrere mögliche Einwände, von denen uns lediglich einer interessieren soll, derjenige nämlich, welcher »sich gegen die Unzuverlässigkeit von intuitiv fundierten Sprecherurteilen [richtet]« 194. Für eine derartige Unzuverlässigkeit lassen sich zwar eindrucksvolle empirische Belege herbeischaffen, wie Habermas einräumt. Doch beruhe der Einwand auf einem Missverständnis: »Der Ausdruck ›intuitives Wissen‹ darf nicht so verstanden werden«, wie Habermas berichtigt, »als sei das vortheoretische Wissen eines Sprechers über die Grammatikalität eines Satzes […] von der Art direkt abfragbarer Intuitionen«. Das Sprecherwissen, an dem eine rekonstruktiv verfahrende Theoriebildung ansetzt, sei keines, das »direkt abfragbar« ist. Ganz im Gegenteil ist, was Habermas hier zu verstehen gibt, selbst der kompetente Sprecher nicht imstande, sein stilles Wissen sans phrase zu verlautbaren. Immer sind dafür gewisse Maßnahmen vonnöten. »Das implizite Wissen muß […] durch die Wahl geeigneter Beispiele und Gegenbeispiele, durch Kontrast- und Ähnlichkeitsrelationen, durch Übersetzungen, Paraphrasen usw., also durch eine wohlüberlegte, mäeutische Befragungsmethode bewußt gemacht werden.« 195 In der Summe braucht man folglich nicht zu hoffen, dass die sozialontologische Explikation jener Vorkenntnisse, welche man insgeheim hat oder eigentlich sogar ist, gleich mit einem Schlag gelingt. Ebd., S. 370. Habermas orientiert sich an der von Chomsky entwickelten Universalgrammatik, die das latente Regelwissen, welches allen kompetenten Sprechern gemeinsam sein soll, so rekonstruieren zu können meint, dass potenzielle Sprecher mithilfe solcher Regeln grammatisch wohlgeformte Sätze zu generieren vermögen. Vgl. Chomsky, Noam: Aspects of the Theory of Syntax, Cambridge, Mass. 1965. 193 Habermas, Jürgen: Was heißt Universalpragmatik? (1976), a. a. O., S. 374. 194 Ebd., S. 376. 195 Taylor weicht diesem methodologischen Problemkomplex aus. Wir besitzen, stellt er lapidar fest, ein »background understanding, too obvious to spell out, of some activities and goals as highly significant for human beings and others as less so«. (Taylor, Charles: What’s Wrong with Negative Liberty, in: Philosophical Papers, Bd. 2: Philosophy and the Human Sciences, Cambridge 1985, S. 218) 191 192

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Die Selbstbezüglichkeit sozialontologischer Erkenntnis

Das Vorhaben, vorgängige Gemeinsamkeit zum Wort zu bringen, hat nichts von der Bequemlichkeit eines bloßen Dahinsprechens an sich. Die eine der beiden Wissensformen, welche ich mit den vorbesagten und weiteren Autoren unterschieden habe, lässt sich nicht umstandslos in die andere umgießen: Dass man etwas implicite weiß, ist weder identisch damit noch führt es von selber dazu, dass man es auch explicite weiß. Die Verrichtung solchen Umgießens ist niemals ein Selbstlauf, denn die Einlösbarkeit der Anforderung, sich unbewusstes Wissen zuzueignen, hängt eben immer auch von jenem Wissen selbst ab. Fragen, die dazu vorstoßen, sind ihrerseits dadurch angebahnt. Es steht aber keineswegs von vornherein fest, dass unsere hintergründige Kundigkeit verstattet, uns selber in den Rücken zu kommen und das Soziale (oder was auch immer), welches dort sitzt, ohne Verluste zu bewältigen. 196 Das hat seine Ursache im Entzugscharakter derartigen Wissens. Bei aller Begriffsarbeit nämlich, die man daranwendet, bleibt es doch beständig hinter einem. Die Schwierigkeit und Fehlbarkeit dementsprechender Bemühungen beruht darauf, dass die Explikation beim Explizieren das zu Explizierende in Anspruch nehmen muss. Das Nämliche gilt für den Versuch, seine vorgängige Gemeinsamkeit nach vorn zu bringen. Jene entzieht sich, wo sie expliziert werden soll, geradeso in den Hintergrund. Kein intentionaler Akt vermag sich ihrer jemals zu bemächtigen, der nicht seinerseits von ihr dazu ermächtigt ist. Das heißt nicht, dass man seiner Phantasie die Zügel schießen lassen darf. Aber die Ontologie des Sozialen ist doch an etwas überantwortet, was der Gedanke nicht endgültig herbeizwingen kann und das vielleicht in keinem Bewusstsein eine vollauf adäquate Spiegelung findet. 197 Man kann und muss daher in Betreff der sozialontologischen Methode noch einen Schritt weiter gehen und den in Rede stehenden Punkt folgendermaßen bestimmen. Wenn die Besinnung auf die notSiehe dazu Renn, Joachim: Wissen und Explikation. Zum kognitiven Geltungsanspruch der ›Kulturen‹, in: Jaeger, Friedrich/Liebsch, Burkhard (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart/Weimar 2004, S. 232–250. 197 Dass im impliziten Wissen mehr steckt als man explizit weiß und vielleicht wissen kann, bringt Gadamer auf die Formel, dass der Mensch »mehr Sein als Bewußtsein« ist. (Gadamer, Hans-Georg: Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik. Metakritische Erörterungen zu Wahrheit und Methode (1967), in: Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register, GW 2, Tübingen 21993, S. 247) 196

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Explikation als methodischer Sinn der Sozialontologie

wendige und hinreichende intrinsische Bedingung von Sozialem in der Tat eine ist auf diejenige Voraussetzungsstruktur, der selbst noch dieses Unternehmen eingegliedert ist, wird man das Wort von der Explikation vorgängiger Gemeinsamkeit nicht ausschließlich im Sinne eines Genitivus objectivus nehmen dürfen. Es muss in einem als Genitivus subjectivus verstanden werden: Nicht nur expliziere ich das Soziale, immer ist es auch so, dass das Soziale sich mir expliziert. Ich will damit keine Anleihen bei Hegel machen, wo ein souveräner Geist seine geschichtliche Selbstexplikation betreibt. Schon gar nicht will ich dem subjektiven Moment des Sichexplizierens eine Vorzugstellung zubilligen oder das objektive Moment des Explizierens gänzlich unter den Tisch fallen lassen. Aber das Beantworten der ontologischen Frage nach dem Sozialen wird doch von anderem noch beherrscht als bloß der Erkenntnisabsicht des Fragenden. Ich mag die meinem Bewusstsein vorgängige Gemeinsamkeit noch so entschieden zu erkennen beabsichtigen, damit ist es nicht getan. Wenn die Arbeit der Sozialontologie auch wie jede andere eine Sache des Entschlusses ist, spielt mir das Soziale doch sein eigenes Erkennenkönnen ebenso sehr zu – oder auch nicht. Darauf kommt es an, dass die Anwendung vorgängiger Gemeinsamkeit, welche in der Sozialontologie wie in unserem übrigen Verhalten sonst erfolgt, sich unintendiert vollzieht. Indem ich »blind« für sie bin, um mit Wittgenstein zu sprechen, macht sie mich sehend für einen sie einlösenden Vollzug: Sie weist meine Reflexion ein, ohne dass sie mir bewusst ist und ich ein Verhalten intendiere, weil es sie einlöst. Was wir bereits sind und in unserem Wollen und Tun mit uns geschieht, was sich uns also zuspricht, auf dass wir ihm entsprechen, ist beim Explizieren gerade fraglich und entscheidet mit über den Ausgang eines solchen Unternehmens. Das ist es, was alle Explikation zu einem eigentümlich schwierigen und fehlbaren Unterfangen macht, dass man beim Aussagen vom Auszusagenden selbst beansprucht ist. Es spricht nichts dagegen, dass die Erfahrenheit, die einem im alltäglichen Getriebe des Mit-, Für- und Gegeneinanders sowie noch des Neben- und Ohneeinanders geworden ist und sich darin ein ums andere Mal bewährt oder umbildet, eine eigene Statur als Theorie gewinnt. Wohl ist sie und damit unsere vorgängige Gemeinsamkeit prinzipiell bewusstseinsfähig. Das will ich gar nicht in Abrede stellen. Aber es bleibt dabei, dass man das Soziale nur in die Hand kriegen kann, weil und insofern es seinerseits einen in der Hand hat: Indem 458 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Die Selbstbezüglichkeit sozialontologischer Erkenntnis

wir es in den Griff zu bekommen versuchen, lässt es unsere Intentionalität nicht aus dem Griff, in welchem es sie hält. Das soll heißen, dass die explikative Weise, das Soziale zu intendieren, ein Begegnenlassen ist, das sich mit durch das Soziale selbst ereignet, indem es darin eine vorbewusste Voraussetzung für seine eigene Möglichkeit hat. Solchem Tun haftet eine Unmittelbarkeit an, die sich nicht wegarbeiten lässt, weil jeder Versuch, das zu tun, sie aufs Neue vollzieht. Überhaupt ist sie kein Mangel sozialontologischer Erkenntnis wie generell der Identifizierung impliziten Wissens, die in der Herausarbeitung desjenigen Bodens besteht, auf dem sie selber noch steht, und das ist ebenjenes Wissens. Der vermeintliche Umweg über Beispiele, den ich gegangen bin, um das Soziale zum Aufweis zu bringen, ist daher womöglich der einzig gangbare Weg. Denn obgleich eine falsche Rekonstruktion der Erfahrung, die ich je bin, und der vorgängigen Gemeinsamkeit, die damit einhergeht, diese in ihrer welteröffnenden Funktion unangetastet lassen, besteht doch ein negatives Kriterium für die Richtigkeit solch einer Nachzeichnung darin, dass sich kein Phänomen als Beispiel beibringen lassen darf, das dem so aufgestellten Begriff entweder entspricht, aber nach unserem Verständnis doch kein soziales Phänomen ausmacht, oder das ihm umgekehrt nicht entspricht, jedoch sehr wohl ein soziales Phänomen ausmacht. Wie dem auch sei, die Figur, dass Gesagtes von Ungesagtem übertroffen bleibt, ist für jegliche Explikation kennzeichnend. Angezogen zu werden von etwas, was vor dem Zugreifen unserer Begriffe zurückweicht und ihm widersteht, macht auch die methodische Grundbewegung der Sozialontologie aus, die das Soziale selbst und im Allgemeinen expliziert.

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Register

Abel, Günter 336, 337 Adorno, Theodor W. 151, 372 Anscombe, Gertrude E. M. 39, 115, 348–349 Apel, Karl-Otto 50–51, 53–54, 56, 237, 455 Aristoteles 22–23, 39, 135, 139, 171, 172, 173, 189, 199, 214–215, 220, 232–233, 264, 281–282, 300, 373, 374, 450 Ast, Georg A. F. 282, 286 Augustinus 195, 283, 296 Bacon, Francis 33, 158, 371–377, 379–385, 388, 414–415, 418, 420– 421, 453 Baier, Annette C. 334–335 Beck, Ulrich 111, 113 Bergson, Henri 84–86, 91 Bertram, Christopher 168, 183, 228 Betti, Emilio 271 Block, Ned 45 Brandom, Robert B. 31, 307–310, 314, 327–331, 439–442, 446–447 Bratman, Michael E. 104, 106, 107, 115, 121, 126, 181–182 Brentano, Franz 43–45, 58–59, 319 Byrne, Alex 45 Carnap, Rudolf 444 Chisholm, Roderick M. 44 Chladni, Johann M. 280 Churchland, Paul M. 55 Comte, Auguste 143, 150, 157, 367 Crane, Tim 58–59, 122

Dahrendorf, Ralf 119, 254 Dannhauer, Johann C. 280 Dennett, Daniel 55 Descartes, René 299, 335, 376 Dilthey, Wilhelm 33, 157, 187, 286– 287, 351, 357–359, 362–363, 396, 398 Dretske, Fred 45 Dummett, Michael 252–253 Duns Scotus, Johannes 43 Durkheim, Émile 24, 27, 33, 42, 66, 118, 132–133, 139–167, 170, 184, 189, 254, 323, 351–352, 355, 367, 372, 383–385, 414, 425, 432, 450 Eberhard, Johann A. 359 Ernesti, Johann A. 280 Ferguson, Adam 135 Fichte, Johann G. 193, 194, 207, 282 Foucault, Michel 204, 318 Fourier, Charles 137 Frege, Gottlob 378 Gadamer, Hans-Georg 31, 270, 283, 285, 298–301, 311, 314, 323–327, 420, 424, 431, 450–451, 457 Gettier, Edmund 313 Gilbert, Margaret 27–28, 95, 167– 171, 174–180, 182, 184, 189, 432, 447 Goodman, Nelson 369, 419 Gurwitsch, Aron 395–396 Habermas, Jürgen 16, 31, 50–51, 53– 54, 56, 76, 112, 186, 237, 270, 304–

501 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Register 307, 314, 317, 322–323, 330, 438– 439, 441–442, 446–447, 455–456 Hartmann von Aue 201 Hegel, Georg W. F. 28, 30, 65, 116, 123–132, 135, 155–156, 183–184, 190, 207–208, 217, 226, 228–235, 237–239, 245, 251–252, 263, 266– 268, 270, 273, 314–315, 324–325, 340, 365–366, 380, 408, 429, 446– 447, 458 Heidegger, Martin 24, 34, 47–48, 59, 85, 118, 185, 205, 226, 239, 366– 367, 383, 389–403, 407–409, 411– 413, 415–416, 418–419, 421–423, 428, 431, 449 Herder, Johann G. 116, 131, 302 Hesse, Hermann 429–430 Hobbes, Thomas 171–175, 182, 187, 214–215, 220, 444 Hume, David 174, 189 Husserl, Edmund 24, 44, 59, 84–92, 239, 243, 304, 306, 322, 332, 355, 413, 438,

Meier, Georg F. 201, 280 Miller, Kaarlo 94 Miller, Seumas 104, 107, 115, 121, 181–182 de Montesquieu, Charles 131, 158 Natorp, Paul 29, 58–60, 122, 188, 268, 318 Pareto, Vilfredo F. 115, 119 Parsons, Talcott 165 Pettit, Philip 117, 118, 125–126, 131, 151, 189 Platon 43, 126–127, 187, 279, 281– 282, 313, 384–385 Polanyi, Michael 31, 270, 302–304, 314, 317, 322, 455 Popper, Karl R. 109, 126–127, 129, 131, 132 Quételet, Lambert A. J. 143, 357 Quine, Willard V. O. 55, 252 Quinton, Anthony 27, 97–99, 124, 127, 129–132, 205, 212

Jäsche, Gottlob B. 199 Kant, Immanuel 29, 30, 58, 65–73, 143–144, 188, 190, 193–199, 201– 208, 212, 223, 230, 235, 238, 245, 251–252, 263, 266, 268, 270, 273, 275, 277, 281–282, 285, 299, 313, 315–317, 322, 326, 340, 349, 354– 363, 366–367 Latour, Bruno 384 Lewis, David 48, 252 Linton, Ralph 119 Locke, John 171, 173–175, 182, 214– 215, 220, 249 Lücke, Friedrich 280 Luhmann, Niklas 81, 111, 150, 168, 368, 452 Mann, Thomas 405 Marx, Karl 65, 135–136, 426, 432 May, Karl 201 McGinn, Colin 45

Rink, Friedrich T. 202 Rousseau, Jean-Jacques 17, 28, 30, 123, 139–140, 158, 168, 171, 173– 175, 182–183, 189–190, 208–225, 227–231, 233, 235, 238, 245, 251– 252, 263, 266–268, 270, 273, 282, 340, 408 Ryle, Gilbert 31, 270, 289–298, 303, 314, 322, 455 Sartre, Jean-Paul 24, 238–242, 244 Scheler, Max 46–47, 238 Schiffer, Stephen 48 Schiller, Friedrich 197, 226 Schleiermacher, Friedrich D. E. 32, 138, 270, 279–289, 298, 314, 323, 326–327, 340 Schlick, Moritz 249 Schmalenbach, Herman 404–407, 409, 417 Schmid, Hans B. 47, 51, 53, 182, 335– 336, 397–398

502 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

Register Schmitt, Frederick F. 28, 180–182, 184, Schütz, Alfred 27, 42, 83–92, 101, 105–106, 115, 120, 147, 157, 183, 238, 242–244, 306, 355 Searle, John R. 15, 24, 27, 39–43, 45– 56, 58–59, 80, 92–97, 99–101, 105– 108, 115, 118–119, 121, 125, 132, 147–148, 166–167, 183, 185, 189, 331–334, 336, 348–349, 386 Sellars, Wilfrid 27, 42, 95, 98–99, 178, 327 Seneca 22, 43 Simmel, Georg 24, 27, 33, 42, 46, 62– 74, 82–83, 92, 101, 105–106, 115, 120, 147, 178, 183, 189, 349–251, 353–355, 358, 362–363, 387, 404– 405, 411 Smith, Adam 135 Sombart, Werner 33, 80, 353–354 Spencer, Herbert 150, 367 von Stein, Lorenz 135–136 Stewart, Potter 310–311, 322, 454– 455 Tarde, Gabriel 143151 Taylor, Charles 118, 341–342, 456 Thatcher, Margaret 97–99, 100

Thomas von Aquin 22, 43, 195 de Tocqueville, Alexis 117, 120 Tönnies, Ferdinand 41, 82, 137–139, 150, 180, 236 Tuomela, Raimo 42, 94, 104, 106, 107, 115, 121, 126, 128 Ulpian 174 Vierkandt, Alfred 33, 74, 350, 387, 411 Voltaire 131, 209 Weber, Max 24, 27, 42, 74–88, 90–93, 101–102, 105–106, 108, 115, 120, 138, 147, 157, 163, 176, 183, 243, 272, 355, 358, 404 von Wiese, Leopold 20, 33, 74, 80, 350–351, 353, 387, 411, 433 Wilby, Michael 58–59, 122 Wittgenstein, Ludwig 30, 50, 55, 143, 190, 245–268, 270, 272–279, 288– 291, 293, 295–298, 301, 304, 309, 314, 328, 340, 366, 399–400, 435– 438, 441, 446–447, 454, 458 Zhuangzi 277

503 https://doi.org/10.5771/9783495997789 .

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