Historiogenese des Rechts: Der Beitrag des Rechts zur sozialen Evolution des Menschen (Historische Rechtsanthropologie) [1 ed.] 9783428583362, 9783428183364

Die Untersuchung gibt Antwort auf die Frage, inwieweit sowohl Veränderungen innerhalb der menschlichen Psyche als auch v

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Historiogenese des Rechts: Der Beitrag des Rechts zur sozialen Evolution des Menschen (Historische Rechtsanthropologie) [1 ed.]
 9783428583362, 9783428183364

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Historiogenese des Rechts Der Beitrag des Rechts zur sozialen Evolution des Menschen (Historische Rechtsanthropologie) Von Ernst-Joachim Lampe

Duncker & Humblot · Berlin

ERNST-JOACHIM LAMPE Historiogenese des Rechts

Historiogenese des Rechts Der Beitrag des Rechts zur sozialen Evolution des Menschen (Historische Rechtsanthropologie)

Von Ernst-Joachim Lampe

Duncker & Humblot · Berlin

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„Wer das innere Wesen des Rechts … theoretisch verstehen will, für den gibt es keinen besseren Weg als den, die Entwicklung dieser Kulturerscheinung in den verschiedenen Kulturkreisen vergleichend zu verfolgen.“ 

H. Maier (1914), S. 14

Vorwort Fragen nach der Entwicklungsgeschichte des Rechts können heutzutage nicht mehr unabhängig von der Evolution der menschlichen Natur durch­ dacht und beantwortet werden. Denn die Rechtsgeschichte setzt die Linie der menschlichen Evolution zwar nicht geradlinig fort; zu deutlich ist der Sprung, der sie abgekoppelt hat. Doch fallen immer wieder Parallelen ins Auge, die zwischen beiden bestehen. Das ist kein Wunder, denn jede Entwicklung muss in dem Stoff angelegt sein, aus dem sie hervorgegangen ist, sonst wäre die gesamte Evolutionslehre auf bloße Beschreibung anstelle von Erklärung an­ gewiesen. Im Kosmos musste also von Anfang an der Stoff vorhanden gewe­ sen sein, der kraft seiner inneren Dynamik den Menschen, und im Menschen von Anfang an der Stoff, der kraft seiner inneren Dynamik das Recht hervor­ gebracht hat. Und obgleich sowohl der Gang der natürlichen Evolution bis zur Genese des Menschen, der Gang der menschlichen Entwicklung bis zur Genese des Rechts und schließlich der Gang der rechtlichen Entwicklung bis hin zur Genese der heutigen Rechtsordnungen (auch) aus einer ununterbro­ chenen Folge von Zufällen bestanden haben mag, ist offenbar eine innere Dynamik zur Höherentwicklung permanent darin wirksam gewesen. Diffe­ renzierung und Integration waren offenbar jene Eigenschaften der Evolution, deren Wirken in der Natur sich in der Kultur und folglich auch im Recht wiederholt hat. Deshalb bildeten sowohl die menschliche Genese als auch die Geschichte des Rechts Entwicklungsreihen von einfachsten Anfängen bis zu immer höheren Formen aus. Verbindet man aufgrund dieser einheitlichen Entwicklungsdynamik die Darstellungen von Genese und Geschichte miteinander, muss man deren Aufgaben allerdings schärfer trennen, als das bisher geschehen ist. Die Auf­ gabe der geschichtlichen Darstellung muss sich dann auf den Bericht be­ schränken, was im Laufe der Zeit geschah sowie wann und wo es geschah, und die Aufgabe der genetischen Darstellung muss auf die Erklärung be­ grenzt bleiben, warum das Spätere sich aus dem Früherem so und nicht an­ ders entwickelt hat. Die Geschichte darf m. a. W. keine Genese, die Genese keine Geschichte kennen, sondern beides zusammen erst muss das Ganze ergeben, das Geschichte hat und das Genese ist: das Werden in Zeit und Raum. Meine Untersuchung, die laut ihrem Motto „das innere Wesen des Rechts“ betrifft, folgt dieser Aufgabenteilung. Sie erfasst einesteils die ge­ schichtlichen Daten und andernteils die dynamischen Ursachen, die für „die Entwicklung dieser Kulturerscheinung“ maßgeblich waren. Und sie sieht den

VIII Vorwort

Wert dieser Aufgabenteilung darin, dass sie der Genese nicht nur – wie sonst in den geschichtlichen Abhandlungen – eine dienende Funktion zur Erklä­ rung der geschichtlichen Ereignisse, sondern eine eigenständige Bedeutung zuweist und erlaubt, nach den Gesetzmäßigkeiten jener Prozesse des Wer­ dens zu fragen, für die die geschichtlichen Geschehnisse den empirischen Beleg darstellen. Die Gesetzmäßigkeiten genetischer Prozesse konnten bisher freilich erst teilweise erforscht werden. Denn je weiter die Entwicklung voranschritt und ihren Schwerpunkt zunächst vom biologischen auf den psychologischen und sodann vom psychologischen auf den kulturologischen Bereich verlagerte, desto mehr gerieten die antreibenden Kräfte miteinander in eine Gemenge­ lage, die schwer zu entwirren war. Deshalb kann heute die Forschung für die Entwicklung im biologischen Bereich zwar gut bestätigte Gesetzmäßigkeiten vorweisen, doch für die Entwicklungen im psychischen und erst recht im kulturellen Bereich muss sie eher Ratlosigkeit anmelden. Das ist kein Wun­ der, denn wenn es hier Gesetzmäßigkeiten gibt, sind die Möglichkeiten zu ihrer Erkenntnis begrenzt, weil nur in der Biologie ein Zwang zur Generie­ rung des Gleichen besteht, wogegen in der Psychologie der Zwang zum Erlernen von Ähnlichem überwiegt und in der Kultur gar ein Zwang zu ­ schöpferischer Freiheit das Feld beherrscht. Nur das Gleiche, nicht auch das Ähnliche und schon gar nicht das schöpferisch Einmalige lässt sich indessen in wissenschaftliche Formeln fassen. Deshalb haben alle Versuche, durch Übertragung der im biologischen Bereich geltenden Entwicklungsgesetze auch die psychischen und kulturellen Entwicklungsprozesse zu erklären, sich in der Vergangenheit als nicht zielführend erwiesen, sondern nur die selbst­ verständliche Erkenntnis bestätigt, dass unter komplexeren Verhältnissen differenziertere Tendenzen oder gar Einmaligkeiten die Entwicklung beherr­ schen. Der Titel meiner Untersuchung ist daher nicht so zu verstehen, dass ich die Erkenntnisse zur Darwinschen Evolutionstheorie als biologische Variante ei­ ner Allgemeinen Evolutionstheorie begreife, die sich per analogiam auch auf die Rechtsentwicklung anwenden lässt. Vielmehr bezeichnet er den Versuch einer Antwort auf die Frage, inwieweit auch Veränderungen innerhalb der menschlichen Psyche sowie vom Menschen schöpferisch gestaltete Verände­ rungen seines Umfelds die Genese des Rechts vorangetrieben und dabei ge­ wisse Regelhaftigkeiten gezeigt oder erzeugt haben. Denn es war zu berück­ sichtigen, dass ebenso, wie die Bioevolution Ursachen hatte, die in der unbe­ lebten Natur noch keine Rolle spielten, die Psychoevolution wiederum Ursa­ chen hat, die biologisch unbedeutend sind, und die Rechtsentwicklung vor allem auf schöpferischen Prozessen beruht, die weder biologisch noch psy­ chologisch erfasst und erklärt werden können. Deshalb kann die Genese des Rechts letzthin nur als das Produkt auch einer Rechtsgeschichte vollständig

VorwortIX

erklärt werden, die ihrerseits vom menschlichen Augenblickswillen geformt wurde − weshalb beide, Genese und Historie des Rechts, zusammengeführt werden müssen, damit die Rechtsentwicklung als Historiogenese, als das gemeinsame Produkt beider, verständlich wird. Einer kurzen Erläuterung bedarf noch der Untertitel meiner Untersuchung. Er postuliert zunächst als inneres Wesen des Rechts, dass es eine Macht zur Ordnung menschlicher Gemeinschaften und daher Bestandteil einer spezi­ fisch sozialen Evolution ist. Deren Untersuchung kann dann nicht nur als Makroevolution auf die Weltbevölkerung oder einzelne ihrer Populationen, sondern auch als Mikroevolution auf soziale Gruppen und einzelne ihrer In­ stitutionen bezogen werden. Meine Untersuchung umfasst beides: Sie beginnt mit der Makroevolution der sozialen Ordnung innerhalb der einst weltweit verbreiteten Wildbeuterhorden; sie geht voran zur sozialen Ordnung der Ackerbau und/oder Viehzucht betreibenden Stammesvölker und endet − vor­ erst − bei der sozialen Ordnung der vorindustriellen Protostaaten. Insoweit erörtere ich nur die ersten Anfänge der Rechtsentwicklung: ihre Gemeinsam­ keiten und umfeldbedingten Verschiedenheiten. Für die weitere Untersuchung der Makrogenese der Weltbevölkerung als auch der Mikrogenese einzelner politischer oder rechtlicher Institutionen wähle ich anschließend wegen der genauer bekannten Tatsachengrundlage die nähere Vergangenheit und Gegen­ wart aus. Dabei richte ich den Blick speziell auf die modernen Industrie­ nationen; denn in ihnen hat die neuzeitliche Entwicklung ihren Schwerpunkt gefunden und es den Menschen gestattet, sich mittels einer technisch/techno­ logischen Revolution von ihren biotischen und psychischen Grundlagen weitgehend zu lösen und damit ohne Kontrolle ‚von unten‘ Macht über den Erdball zu gewinnen. Gleichzeitig hat sie ihnen aber auch die Grenzen ihrer Macht aufgezeigt: dass sie in kosmische Gesetze eingebunden geblieben sind und, da diese sie nicht hindern, ihre erworbene Macht gegen sich selber ein­ zusetzen, Gefahr laufen, wieder in jenes Chaos hinabzustürzen, aus dem sie einst aufgestiegen sind. Wollen sie dieser Gefahr entgehen, müssen sie daher eine ihnen ebenfalls zugewachsene Fähigkeit einsetzen: sich an Normen zu binden, die ihnen ein eindeutig selbstzerstörerisches Verhalten untersagen, und diese Bindung in die Praxis des Überlebens umzusetzen. Denn ebenso, wie wissenschaftliche Erkenntnis den Umgang mit der Realität aufs Äußerste verbessert, verbessert normative Erkenntnis den Umgang der Menschen mit­ einander und damit ihr Überleben.

Ernst-Joachim Lampe

Inhaltsübersicht Teil I

Entwicklung 

1

A. Historie, Genese, Historiogenese– Versuche einer Begriffsklärung –  . . . . . . 1. Was ist Historie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Was ist Rechtsgeschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Was ist Genese? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Was ist Historiogenese? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Was ist Historiogenese des Rechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 3 5 8 12

B. Die Aufgabe: Erforschung der Historiogenese des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Konkretisierung der Aufgabe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Formulierung einer kulturenübergreifenden Typologie rechtlicher Ordnungen und Institutionen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Aufweis von Gesetzmäßigkeiten für die Entstehung, den Wandel und den Untergang rechtlicher Ordnungen und Institutionen  . . . . . . . 2. Die methodische Lösung der Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14 14

C. Genetische Materialien zur Rechtsgeschichte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Humangenetische, ökogenetische und soziogenetische Ursachen  . . . . . . a) Biogenetische Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Psychogenetische Ursachen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ökogenetische und soziogenetische Ursachen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Kulturelle Diffusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Humangenetische Gesetzmäßigkeiten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wirken die biologischen Evolutionsgesetze fort?  . . . . . . . . . . . . . . . . b) Worin liegt die Bedeutung der psychologischen Evolutionsgesetze? . c) Welche Bedeutung hat soziales Lernen für die Evolution kultureller Artefakte?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Materielle Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Strukturelle Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Öko- und soziogenetische Gesetzmäßigkeiten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Spezifisch rechtsgenetische Gesetzmäßigkeiten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28 28 29 30 35 38 40 40 42

D. Bisherige Untersuchungen zur Historiogenese des Rechts (Auswahl)  . . . . . . 1. Untersuchungen zum Einfluss humangenetischer Faktoren  . . . . . . . . . . . a) Biogenetische Untersuchungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Psychogenetische Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70 70 71 72

15 18 23

44 45 48 59 66

XII Inhaltsübersicht c) Ethnogenetische Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Eigene Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Neueste Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Exkurs zur Sprachentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Untersuchungen zum Einfluss öko- und soziogenetischer Faktoren  . . . . a) Ökogenetische Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Soziogenetische Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ökonomische Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Untersuchungen zum Einfluss autochthoner Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung und Überleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73 73 75 80 85 85 92 95 98 109

Teil II

Historische Entwicklung des Rechts 

112

E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen  . . . . . . . . 1. Was ist ‚Recht‘? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Induktive Bestimmungen des Rechtsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Legalistische Definitionen des Rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Funktionalistische Definitionen des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vermittelnde Auffassungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Deduktive Bestimmungen des Rechtsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Typologische Bestimmungen des Rechtsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anthropologische Bestimmung der Begriffskonstanten . . . . . . . . . . . . b) Soziologische Bestimmung der Begriffskonstanten . . . . . . . . . . . . . . . c) Kulturelle Bestimmung der Begriffsvariablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Philosophische Bestimmung des ‚Rechtlichen im Recht‘ . . . . . . . . . . 5. Protostaatliches, staatliches und poststaatliches (‚gubernatives‘) Recht . . 6. Hoheitliches und privates Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

112 112 115 116 117 119 119 121 123 124 127 128 130 138

F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Materialien, Methoden und Ziele der vorliegenden Untersuchung  . . . . . 2. Prästaatliche Entwicklungen von Recht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Rechtsentwicklung innerhalb von Horden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Rechtsentwicklung innerhalb von Stammesgesellschaften  . . . . . . c) Die Rechtsentwicklung innerhalb von Häuptlingsschaften . . . . . . . . . d) Die Rechtsentwicklung innerhalb von Königreichen . . . . . . . . . . . . . . 3. Prästaatliche Entwicklungen von Rechtsinhalten (Überblick) . . . . . . . . . . 4. Leitlinien der (vor)geschichtlichen Entwicklung eines prästaatlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

140 140 150 150 162 178 191 202 229

InhaltsübersichtXIII G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Rechtsentwicklung in Ägypten und Mesopotamien  . . . . . . . . . . . . . 2. Die Rechtsentwicklung in Indien und China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Rechtsentwicklung in Griechenland und Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Inhaltliche Entwicklungen des protostaatlichen Rechts im Überblick  . . . a) Verfassungs- und Verwaltungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Statusrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Familienrecht (Ehe- und Kindschaftsrecht)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Sachenrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Vertrags- und Haftungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Gesellschaftsrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Rechtsverwirklichung (Prozess- und Vollstreckungsrecht) . . . . . . . . . . j) Beweisrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . k) Kriegseröffnungs-, Beute- und Friedensvertragsrecht  . . . . . . . . . . . . . 5. Leitlinien der protostaatlichen Rechtsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

233 240 259 275 292 295 299 304 311 317 319 324 324 330 335 338 339

Teil III

Genetische Entwicklung des Rechts 

H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts(I: Ursachen) . 1. Rückschau und Vorschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anthropologische Faktoren der Rechtsgenese  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bedürfnisse, Bestrebungen und Interessen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wahrnehmungs- und Denkprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Entmythologisierung der Wahrnehmungs- und Denkprozesse . . . bb) Genese neuartiger Wahrnehmungs- und Denkprozesse  . . . . . . . . c) Bewertungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Streben nach Gerechtigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ausdifferenzierungen der Gerechtigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Sicherung der Gerechtigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Begründungen der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Der Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Schrift   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Genese der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Bedeutung der Schrift für die Genese des Rechts  . . . . . . . . . . . . 3. Weitere Faktoren für die Rechtsgenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ökologische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Soziologische und ökonomische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Reaktionen auf die Bevölkerungsvermehrung  . . . . . . . . . . . . . . . bb) Erfordernisse der Außenverteidigung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

355 355 357 362 362 382 382 386 405 406 407 418 422 448 451 451 454 462 462 470 471 476

XIV Inhaltsübersicht cc) Erfordernisse einer breiten Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Religiöse Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Politische Faktoren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zusammenfassung aller Faktoren, die zur Rechtsgenese beigetragen haben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Autochthone Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Adjunktionen   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konjunktionen   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Interpenetrationen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

479 483 494 498 502 504 506 507

J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts(II: Gesetzmä­ ßigkeiten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 1. Das Recht als hyperzyklisches System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 2. Gesetzmäßigkeiten in der Genese von Rechtsbewusstsein . . . . . . . . . . . . 514 a) Gesetzmäßigkeiten in der individualen Ontogenese  . . . . . . . . . . . . . . 514 aa) Emotivistische Theorien zur moralischen Ontogenese . . . . . . . . . 515 bb) Kognitivistische Theorien zur moralischen Ontogenese  . . . . . . . 518 cc) Volitivistische (‚personalistische‘) Theorien zur moralischen Ontogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532 b) Gesetzmäßigkeiten in der sozialen Ontogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534 aa) Nativistische Theorien zur moralischen Ontogenese  . . . . . . . . . . 534 bb) Konditionierungs- und Lerntheorien zur moralischen Onto­ genese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 cc) Identifikationstheorie zur moralischen Ontogenese . . . . . . . . . . . . 540 c) Gesetzmäßigkeiten in der aktional- und interaktional-moralischen Genese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542 d) Zusammenfassende Stellungnahme zur Bedeutung der vorgenannten Theorien für die Rechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 3. Gesetzmäßigkeiten in der Genese von Verrechtlichungsprozessen . . . . . . 557 a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 b) Sechs Phasen innerhalb der historischen Genese . . . . . . . . . . . . . . . . . 558 c) Quantitative Ursachen und qualitative Folgen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562 4. Ergebnisse der historischen Genese  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578 a) Die Entwicklung einer machtgestützten Herrschaft  . . . . . . . . . . . . . . 578 b) Die Entwicklung eines abstrakt-schriftlichen Gesetzesrechts  . . . . . . . 585 c) Die Entwicklung eines den Rechtsnormen zugrunde liegenden Menschenbildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 d) Partikulare Themen in der Historiogenese des Rechts (Auswahl) . . . . 598 5. Abschluss: Soziogenese, Anagenese, Orthogenese und Irreversibilität in der frühantiken Rechtskultur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 a) Rechtsordnungen als evolutionäre Systeme  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 b) Die Soziogenese der Rechtskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612 c) Die Anagenese der Rechtskultur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626 d) Die Orthogenese von Rechtskulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638

InhaltsübersichtXV e) Die Irreversibilität der Rechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Zusammenfassung: Phasen und Mechanismen der Rechtsentwick­ lung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Phasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Mechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Anhang: Die Entwicklung von Rechtswissenschaft und Jurisprudenz in den frühantiken Rechtskulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Präzedenzien und Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Rechtsordnung als Schöpfung der Rechtswissenschaft . . . . . . . . . c) Recht vs. Billigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

657 662 663 665 671 671 674 686

Teil IV

Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht 

K. Entwicklungstendenzen im neuzeitlichen Recht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entwicklungstendenzen innerhalb der staatlichen Verbände und ihres Rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Parallelentwicklungen von Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konjunktionen von Staaten (‚Globalisierung‘) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Interpenetration von nationalstaatlichen Institutionen und Rechts­ normen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entwicklungstendenzen innerhalb der Privatunternehmen und ihres Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wirtschaftliche und politische Macht – ein Rückblick . . . . . . . . . . . . . b) Die nationale Entwicklung von privatem Unternehmensrecht . . . . . . . c) Die Entwicklung von inter- bzw. transsozialem Verbandsrecht . . . . . . d) Rechtliche Entwicklungen infolge von Diffusion (insbesondere aus der anglo-amerikanischen Rechtskultur) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Entwicklungstendenzen innerhalb des prozessualen Rechts   . . . . . . . . . . a) Aufgabe: Herstellung von Rechtssicherheit im staatlichen Bereich  . . aa) Die Abgrenzung des rechtssicheren Zentralbereichs von den Randbereichen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Herstellung von Rechtssicherheit in den Randbereichen  . . . cc) Die Herstellung von Rechtssicherheit im zwischenstaatlichen Bereich  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Aufgabe: Herstellung von Gerechtigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gerechtigkeit aufgrund einer philosophischen Entscheidungs­ theorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gerechtigkeit aufgrund prozessualer Zuständigkeitsregelungen und Hierarchieprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Gerechtigkeit aufgrund von richterlichem Judiz . . . . . . . . . . . . . .

689 689 689 690 705 714 727 730 731 734 742 747 750 752 753 754 755 767 775 776 777 780

XVI Inhaltsübersicht dd) Zusammenfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Entwicklung hybriden (hoheitlich-privaten) Rechts (A: Ausgangspunkte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das hoheitliche Rechtsmonopol aufgrund staatlicher Eigenmacht (‚Souveränität‘) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das private Rechtsmonopol aufgrund persönlicher Eigenmacht (‚Rechtsfähigkeit‘) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Entwicklung hybriden (hoheitlich-privaten) Rechts (B: Tendenzen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die nationale Entwicklung hybriden Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die internationale Entwicklung hybriden Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Legitimationsprobleme hybriden Rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Evolutions- und Devolutionsgesetze im Recht der Neuzeit  . . . . . . . . . . . a) Randbedingungen für den Wandel des Rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wandlungen des Rechts aufgrund seiner Randbedingungen . . . . . . . . c) Gesetzmäßigkeiten des rechtlichen Wandels  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Ergebnis: Die Verrechtlichung der neuzeitlichen Lebenswelt  . . . . . . . . . a) Verrechtlichungsbreite (differenzierender Aspekt) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verrechtlichungshöhe (integrierender Aspekt)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verrechtlichungstiefe (sozialethischer Aspekt)  . . . . . . . . . . . . . . . . . .

783 784 785 792 798 799 823 839 858 864 864 885 917 978 978 984 996

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1022

Inhaltsverzeichnis Teil I

Entwicklung 

A. Historie, Genese, Historiogenese– Versuche einer Begriffsklärung –  . . . . . . 1. Was ist Historie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Was ist Rechtsgeschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Was ist Genese? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Was ist Historiogenese? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Was ist Historiogenese des Rechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 1 3 5 8 12

B. Die Aufgabe: Erforschung der Historiogenese des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1. Die Konkretisierung der Aufgabe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 a) Formulierung einer kulturenübergreifenden Typologie rechtlicher Ordnungen und Institutionen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 b) Aufweis von Gesetzmäßigkeiten für die Entstehung, den Wandel und den Untergang rechtlicher Ordnungen und Institutionen  . . . . . . . 18 (α) Erster Einwand: Leugnung jeder Gesetzmäßigkeit . . . . . . . . 19 (β) Zweiter Einwand: Behauptung einer zu großen Komplexität der Einflussfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2. Die methodische Lösung der Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 C. Genetische Materialien zur Rechtsgeschichte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Humangenetische, ökogenetische und soziogenetische Ursachen  . . . . . . a) Biogenetische Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Psychogenetische Ursachen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ökogenetische und soziogenetische Ursachen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Kulturelle Diffusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Humangenetische Gesetzmäßigkeiten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wirken die biologischen Evolutionsgesetze fort?  . . . . . . . . . . . . . . . . b) Worin liegt die Bedeutung der psychologischen Evolutionsgesetze? . c) Welche Bedeutung hat soziales Lernen für die Evolution kultureller Artefakte?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Materielle Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Subjektiv-strukturelle Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Strukturelle Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Objektiv-strukturelle Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Strukturelle Vereinigungstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Öko- und soziogenetische Gesetzmäßigkeiten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28 28 29 30 35 38 40 40 42 44 45 48 48 50 53 59

XVIII Inhaltsverzeichnis (α) Kulturökologische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Soziobiologische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Auswirkungen auf die Evolution von Normen . . . . . . . . . . . . 4. Spezifisch rechtsgenetische Gesetzmäßigkeiten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59 64 65 66

D. Bisherige Untersuchungen zur Historiogenese des Rechts (Auswahl)  . . . . . . 1. Untersuchungen zum Einfluss humangenetischer Faktoren  . . . . . . . . . . . a) Biogenetische Untersuchungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Psychogenetische Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ethnogenetische Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Eigene Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Neueste Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Helmut Helsper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Alexandre von Rohr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Christoph Henke  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (δ) Marie Theres Fögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Exkurs zur Sprachentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Untersuchungen zum Einfluss öko- und soziogenetischer Faktoren  . . . . a) Ökogenetische Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Bedeutung der natürlichen Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Bedeutung des sozialen Milieus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Bedeutung des geistigen Milieus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Niklas Luhmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Soziogenetische Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Max Weber  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ökonomische Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Nutzenökonomische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Evolutionsökonomische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Bioökonomische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Untersuchungen zum Einfluss autochthoner Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Der Trend zur Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Maßstäbe für die austeilende Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . (γ) Maßstäbe für die ausgleichende Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . (δ) Maßstäbe für die Verfahrensgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung und Überleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70 70 71 72 73 73 75 76 76 77 78 80 85 85 85 87 89 92 92 93 95 95 96 96 98 99 101 104 108 109

Teil II

Historische Entwicklung des Rechts 

112

E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen  . . . . . . . . 112 1. Was ist ‚Recht‘? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 2. Induktive Bestimmungen des Rechtsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

InhaltsverzeichnisXIX a) Legalistische Definitionen des Rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Funktionalistische Definitionen des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vermittelnde Auffassungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deduktive Bestimmungen des Rechtsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Typologische Bestimmungen des Rechtsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anthropologische Bestimmung der Begriffskonstanten . . . . . . . . . . . . b) Soziologische Bestimmung der Begriffskonstanten . . . . . . . . . . . . . . . c) Kulturelle Bestimmung der Begriffsvariablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Philosophische Bestimmung des ‚Rechtlichen im Recht‘ . . . . . . . . . . Protostaatliches, staatliches und poststaatliches (‚gubernatives‘) Recht . (α) Die Entstehung von Protostaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Protostaatliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Staatliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (δ) Das Recht staatsähnlicher Gebilde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ε) Poststaatliches (‚gubernatives‘) Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hoheitliches und privates Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

116 117 119 119 121 123 124 127 128 130 130 133 135 136 137 138

F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Materialien, Methoden und Ziele der vorliegenden Untersuchung  . . . . . (α) Rechtserkenntnisquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Erkenntnisquellen speziell für das Prärecht und das Früh­ recht indigener Völker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Der Aufbau der vorliegenden Untersuchung . . . . . . . . . . . . . (δ) Drei Thesen zu Beginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Prästaatliche Entwicklungen von Recht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Rechtsentwicklung innerhalb von Horden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zusatz: Die Komantschen als Beispiel einer kriegerischen Horde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zusatz: Die !Kung als Beispiel einer friedlichen Horde . . . . . . b) Die Rechtsentwicklung innerhalb von Stammesgesellschaften  . . . . . . Zusatz: Die Nuer als Beispiel einer segmentären Stammes­ gesellschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Rechtsentwicklung innerhalb von Häuptlingsschaften . . . . . . . . . (α) Genese von Häuptlingsschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Institutionalisierung von Herrschaftsfunktionen . . . . . . . . . . . (γ) Institutionaliserung von Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatz: Die Dschagga als Beispiel einer Häuptlingsschaft . . . . . . d) Die Rechtsentwicklung innerhalb von Königreichen . . . . . . . . . . . . . . Zusatz: Die Edo als Beispiel eines afrikanischen Königreiches . . (α) Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Familienrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Sachenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (δ) Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

140 140 140

3. 4.

5.

6.

143 145 146 150 150 156 159 162 169 178 178 180 182 182 191 196 197 198 199 200

XX Inhaltsverzeichnis (ε) Obligationenrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ζ) Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (η) Rechtsverwirklichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Prästaatliche Entwicklungen von Rechtsinhalten (Überblick) . . . . . . . . . . (α) Soziale und politische Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Verwandtschaftliche Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Sachenrechtliche Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (δ) Erbrechtliche Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ε) Obligationenrechtliche Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ζ) Strafrechtliche Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (η) Strukturen der Konfliktbeilegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (θ) Die Entwicklung eines gerichtlichen Beweisverfahrens . . . . 4. Leitlinien der (vor)geschichtlichen Entwicklung eines prästaatlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

200 201 201 202 204 206 211 214 215 217 223 226

G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Städte als Keimzellen von Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Frühantike Protostaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Probleme der Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Rechtsentwicklung in Ägypten und Mesopotamien  . . . . . . . . . . . . . (α) Politische Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Wirtschaftliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Rechtsbegriff und rechtliche Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . (δ) Gesetzgebung und Rechtsprechung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ε) Rechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Rechtsentwicklung in Indien und China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Politische Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Wirtschaftliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Rechtsbegriff und rechtliche Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . (δ) Gesetzgebung und Rechtsprechung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ε) Rechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Rechtsentwicklung in Griechenland und Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Politische Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Wirtschaftliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Rechtsbegriff und rechtliche Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . (δ) Gesetzgebung und Rechtsprechung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ε) Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ζ) Rechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Inhaltliche Entwicklungen des protostaatlichen Rechts im Überblick  . . . a) Verfassungs- und Verwaltungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Statusrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Persönliche Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Politische Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

233 233 236 238 240 240 244 246 250 252 259 259 264 265 268 269 275 275 278 280 283 286 289 292 295 299 299 302

229

InhaltsverzeichnisXXI (γ) Soziale Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Familienrecht (Ehe- und Kindschaftsrecht)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Verhältnis von Mann und Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Stellung der Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Kinderlosigkeit, Adoption, Leviratsehe . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Sachenrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Grundeigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Fahrniseigentum  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Gesetzliches Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Testamentsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Vertrags- und Haftungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Verbindlichkeit von Verträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Haftung für Vertragsverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Gesellschaftsrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Rechtsverwirklichung (Prozess- und Vollstreckungsrecht) . . . . . . . . . . (α) Verfahrensarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Die Vollstreckungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Gerichtsaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . j) Beweisrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . k) Kriegseröffnungs-, Beute- und Friedensvertragsrecht  . . . . . . . . . . . . . 5. Leitlinien der protostaatlichen Rechtsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Entwicklung der sozialen Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Entwicklung der politischen Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Entwicklung des Schriftgebrauchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (δ) Entwicklung von Gesetzeskodizes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ε) Ewiges Recht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ζ) Was also treibt die Rechtsgeschichte an? . . . . . . . . . . . . . . . .

302 304 305 309 310 311 311 315 317 317 318 319 319 321 324 324 330 330 333 334 335 338 339 339 341 345 347 350 352

Teil III

Genetische Entwicklung des Rechts 

355

H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts(I: Ursachen) . 355 1. Rückschau und Vorschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 (α) Die Faktoren und Randbedingungen für die Rechtsentwick­ lung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 (β) Die Stufen der Rechtsgenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 (γ) Die Funktionen des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 2. Anthropologische Faktoren der Rechtsgenese  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 a) Bedürfnisse, Bestrebungen und Interessen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 (α) Vital-organische Bedürfnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363

XXII Inhaltsverzeichnis (β) Bestrebungen zu personaler Entfaltung und sozialer Integ­ ration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 (γ) Interessen an Existenzerhellung und metaphysischer Integ­ ration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 (δ) Der Einfluss der Bedürfnisse etc.auf die Rechtsentwicklung. 376 b) Wahrnehmungs- und Denkprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 aa) Entmythologisierung der Wahrnehmungs- und Denkprozesse . . . 382 bb) Genese neuartiger Wahrnehmungs- und Denkprozesse  . . . . . . . . 386 (α) Genese eines neuen Selbstbewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 (β) Genese eines neuen normativen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . 388 (αα) Genese normativer Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 (ββ) Genese normativer Sätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 (γ) Bedeutung abstrakt-normativen Denkens für das Recht . . . . 398 (δ) Bedeutung logischer Schulung für die Geltung abstrakten Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 c) Bewertungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 aa) Streben nach Gerechtigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 bb) Ausdifferenzierungen der Gerechtigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 (α) Materiale Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 (αα) Ausgleichs- und Austeilungsgerechtigkeit . . . . . . . . . . . 407 (ββ) Abstrakte und konkrete Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . 409 (γγ) Herstellende und vorsorgende Gerechtigkeit . . . . . . . . . 410 (δδ) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 (β) Formale Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 (αα) Grundlinien der Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 (ββ) Völkertypische Einzelheiten der Entwicklung  . . . . . . . 415 cc) Sicherung der Gerechtigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 dd) Begründungen der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 (α) Magisch-holistisches Weltbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 (β) Egozentrisches Weltbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 (γ) Egozentrisch-holistisches Weltbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 (αα) Gründe für seine Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 (ββ) Soziale Folgen seiner Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 (δ) Weltbild und rechtliche Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 (ε) Die bleibende Bedeutung von Kausalität und Reziprozität für die Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 (αα) Negative Reziprozität und Kausalität im Unrecht . . . . 437 (ββ) Positive Reziprozität und Kausalität im Recht . . . . . . . 438 (ζ) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 (η) Verbleibende Problembereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 (αα) Reziproke Gleichheit innerhalb von nicht-verwandt­ schaftlichen Näheverhältnissen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443

InhaltsverzeichnisXXIII (ββ) Reziproke Gleichheit innerhalb von hierarchischen Verhältnissen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γγ) Reziproke Gleichheit im Verhältnis zu Göttern und Geistern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Der Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Schrift   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Genese der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Bedeutung der Schrift für die Genese des Rechts  . . . . . . . . . . . . 3. Weitere Faktoren für die Rechtsgenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ökologische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Soziologische und ökonomische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Reaktionen auf die Bevölkerungsvermehrung  . . . . . . . . . . . . . . . bb) Erfordernisse der Außenverteidigung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Erfordernisse einer breiten Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Religiöse Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Politische Faktoren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zusammenfassung aller Faktoren, die zur Rechtsgenese beigetragen haben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Psychogene Faktoren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Endogene Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Autochthone Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Adjunktionen   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konjunktionen   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Interpenetrationen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts (II: Gesetzmäßigkeiten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Recht als hyperzyklisches System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gesetzmäßigkeiten in der Genese von Rechtsbewusstsein . . . . . . . . . . . . a) Gesetzmäßigkeiten in der individualen Ontogenese  . . . . . . . . . . . . . . aa) Emotivistische Theorien zur moralischen Ontogenese . . . . . . . . . (α) Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Die Relevanz für die Rechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kognitivistische Theorien zur moralischen Ontogenese  . . . . . . . (α) Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (αα) Jean Piaget . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ββ) R. L.Selman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γγ) Lawrence Kohlberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Relevanz für die Rechtsentwicklung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Volitivistische (‚personalistische‘) Theorien zur moralischen Ontogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

444 446 448 451 451 454 462 462 470 471 476 479 483 494 498 499 501 502 504 506 507 510 510 514 514 515 515 515 517 518 518 518 521 523 528 529 532 532

XXIV Inhaltsverzeichnis (β) Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Relevanz für die Rechtsentwicklung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gesetzmäßigkeiten in der sozialen Ontogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Nativistische Theorien zur moralischen Ontogenese  . . . . . . . . . . (α) Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Relevanz für die Rechtsentwicklung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Konditionierungs- und Lerntheorien zur moralischen Ontogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Relevanz für die Rechtsentwicklung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Identifikationstheorie zur moralischen Ontogenese . . . . . . . . . . . . (α) Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Relevanz für die Rechtsentwicklung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gesetzmäßigkeiten in der aktional- und interaktional-moralischen Genese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Hierzu vertretene Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Relevanz für die Rechtsentwicklung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassende Stellungnahme zur Bedeutung der vorgenannten Theorien für die Rechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Bedeutung für die Anagenese von Rechtsbewusstsein . . . . . . (β) Bedeutung für die Orthogenese von Rechtsbewusstsein . . . . (γ) Bedeutung für die Konditionierung von Rechtsverhalten . . . 3. Gesetzmäßigkeiten in der Genese von Verrechtlichungsprozessen . . . . . . a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sechs Phasen innerhalb der historischen Genese . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Quantitative Ursachen und qualitative Folgen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Erste und zweite Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Dritte Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Vierte Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (δ) Fünfte Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ε) Sechste Phase  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnisse der historischen Genese  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Entwicklung einer machtgestützten Herrschaft  . . . . . . . . . . . . . . (α) Die Entwicklung einer machtpolitischen Grundlage . . . . . . . (β) Die Entwicklung eines machtpolitisch gestützten Rechts . . . (γ) Hoheitliche und private Rechtsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Entwicklung eines abstrakt-schriftlichen Gesetzesrechts  . . . . . . . (α) Städte als territoriale Zentren der Rechtsentwicklung . . . . . .

533 533 534 534 534 536 537 537 537 539 540 540 540 541 541 542 542 544 544 545 546 550 554 557 557 558 562 562 564 567 571 576 578 578 578 581 583 585 585

InhaltsverzeichnisXXV (β) Die Entstehung eines Rechts „ohne Ansehen der Person“ . . 586 c) Die Entwicklung eines den Rechtsnormen zugrunde liegenden Menschenbildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 (α) Kultur, Zivilisation und Recht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 (β) Kultur, Sozialstruktur und Recht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 (γ) Sozialstruktur und Weltbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592 (δ) Recht und Menschenbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 594 (ε) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 d) Partikulare Themen in der Historiogenese des Rechts (Auswahl) . . . . 598 (α) Intrasoziale Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 (β) Internationale Handelsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 (γ) Außenpolitische Schutz- und Trutzmaßnahmen . . . . . . . . . . . 605 5. Abschluss: Soziogenese, Anagenese, Orthogenese und Irreversibilität in der frühantiken Rechtskultur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 a) Rechtsordnungen als evolutionäre Systeme  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 b) Die Soziogenese der Rechtskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612 (α) Der Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 (β) Die Soziogenese eines mündlichen Prärechts und Früh­ rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 (γ) Die Soziogenese eines verschrifteten Rechts . . . . . . . . . . . . . 617 (αα) Soziogenese des materiellen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . 617 (ββ) Soziogenese des formellen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 624 c) Die Anagenese der Rechtskultur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626 (α) Rückbeziehung auf Systembegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626 (β) Rückbeziehung auf die reziproke Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . 628 (γ) Rückbeziehung auf die symmetrische Gerechtigkeit . . . . . . . 634 (δ) Rückbeziehung auf das Gefühl von Rechtssicherheit . . . . . . 635 d) Die Orthogenese von Rechtskulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638 (α) Orthogenese als linearer Richtungstrend . . . . . . . . . . . . . . . . 638 (β) Globale Orthogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643 (αα) Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643 (ββ) Höherentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 648 (γ) Ethnische Orthogenesen und Radiation . . . . . . . . . . . . . . . . . 653 (δ) Der Schwerpunkt der Höherentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . 654 e) Die Irreversibilität der Rechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657 (α) Grundlagen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657 (β) Strukturelle Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659 (γ) Inhaltliche Irrelevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 662 f) Zusammenfassung: Phasen und Mechanismen der Rechtsentwick­ lung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 662 aa) Phasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663 bb) Mechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665

XXVI Inhaltsverzeichnis 6. Anhang: Die Entwicklung von Rechtswissenschaft und Jurisprudenz in den frühantiken Rechtskulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Präzedenzien und Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Rechtsordnung als Schöpfung der Rechtswissenschaft . . . . . . . . . (α) Die Entwicklung abstrakter Rechtsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . (β) Die Entwicklung abstrakter Rechtsnormen . . . . . . . . . . . . . . (γ) Die Entwicklung eines abstrakten Rechtssystems . . . . . . . . . c) Recht vs. Billigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

671 671 674 677 678 680 686

Teil IV

Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht 

K. Entwicklungstendenzen im neuzeitlichen Recht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entwicklungstendenzen innerhalb der staatlichen Verbände und ihres Rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Parallelentwicklungen von Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Vom personalistischen zum institutionalistischen Staat . . . . . (β) Vom liberalen zum sozialen Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Vom Sozialstaat zum Wohlfahrtsstaat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . (δ) Weitere inflationäre Zunahme von Rechtsgesetzen . . . . . . . . b) Konjunktionen von Staaten (‚Globalisierung‘) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Staatliche Kooperation durch politische Koordination . . . . . . (β) Staatliche Kooperation durch nationalgesetzliche Koordination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Staatliche Kooperation durch vertragliche Koordination . . . . c) Interpenetration von nationalstaatlichen Institutionen und Rechtsnormen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Pakte zwischen den Nationalstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (αα) Internationales Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ββ) Transstaatliches (transnationales) Recht . . . . . . . . . . . . (β) Überstaatliche Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (αα) Supranationale Institutionen und ihr Recht . . . . . . . . . . (ββ) Globale Institutionen und ihr Recht (Völkerrecht) . . . . (γγ) Völkergewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (δδ) Globale Vertragsstandards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (εε) Bremsklotz nationalstaatliche Souveränität . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entwicklungstendenzen innerhalb der Privatunternehmen und ihres Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wirtschaftliche und politische Macht – ein Rückblick . . . . . . . . . . . . . b) Die nationale Entwicklung von privatem Unternehmensrecht . . . . . . . (α) Erste Periode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

689 689 689 690 690 697 702 704 705 708 708 711 714 714 714 716 717 717 719 720 724 725 727 730 731 734 735

InhaltsverzeichnisXXVII (β) Zweite Periode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 735 (γ) Dritte Periode  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 738 c) Die Entwicklung von inter- bzw. transsozialem Verbandsrecht . . . . . . 742 (α) Bedeutung einer inter- bzw. transsozialen Wirtschaft . . . . . . 743 (β) Staatliche Grenzen für ihre Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745 d) Rechtliche Entwicklungen infolge von Diffusion (insbesondere aus der anglo-amerikanischen Rechtskultur) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 747 e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 750 3. Entwicklungstendenzen innerhalb des prozessualen Rechts   . . . . . . . . . . 752 a) Aufgabe: Herstellung von Rechtssicherheit im staatlichen Bereich  . . 753 aa) Die Abgrenzung des rechtssicheren Zentralbereichs von den Randbereichen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 754 bb) Die Herstellung von Rechtssicherheit in den Randbereichen  . . . 755 (α) Konflikte zwischen den hoheitlichen Normen . . . . . . . . . . . . 755 (β) Konflikte zwischen privaten Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 757 (γ) Konflikte zwischen hoheitlichen und privaten Normen . . . . . 758 (δ) Konflikte zwischen nationalen und transsozialen (multinati­ onalen)Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 759 (ε) Konflikte zwischen hoheitlichen und sittlichen Normen . . . . 760 (ζ) Konflikte zwischen hoheitlichen und religiösen Normen . . . 763 (η) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 766 cc) Die Herstellung von Rechtssicherheit im zwischenstaatlichen Bereich  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 767 (α) Normenkonflikte im hoheitlichen Bereich . . . . . . . . . . . . . . . 768 (β) Normenkonflikte im privaten Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 769 (γ) Normenkonflikte im gemischt hoheitlich-privaten Bereich . . 771 (δ) Normenkonflikte im gemischt national-völkerrechtlichen Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 772 (ε) Normenkonflikte im gemischt privat-transsozialen Bereich . 774 (ζ) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 775 b) Aufgabe: Herstellung von Gerechtigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 775 aa) Gerechtigkeit aufgrund einer philosophischen Entscheidungsthe­ orie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 776 bb) Gerechtigkeit aufgrund prozessualer Zuständigkeitsregelungen und Hierarchieprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 777 (α) Sach- und Rechtskunde der Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 777 (β) Neutralität (Unparteilichkeit) der urteilenden Richter . . . . . . 777 (α) Auf der programmatischen Ebene  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 780 cc) Gerechtigkeit aufgrund von richterlichem Judiz . . . . . . . . . . . . . . 780 (β) Auf der begrifflich-gedanklichen Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . 781 (γ) Auf der teilautonomen Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 782 (δ) Verhältnis der Rechtsebenen zueinander  . . . . . . . . . . . . . . . . 782 dd) Zusammenfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783

XXVIII Inhaltsverzeichnis 4. Die Entwicklung hybriden (hoheitlich-privaten) Rechts (A: Ausgangspunkte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 784 a) Das hoheitliche Rechtsmonopol aufgrund staatlicher Eigenmacht (‚Souveränität‘)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 785 (α) ‚Isolierte‘ und ‚parallele‘ hoheitliche Rechtsordnungen . . . . 786 (β) Begegnungen hoheitlicher Rechtsordnungen (‚Adjunktion‘) . 788 (γ) Verbindend geltendes hoheitliches Recht (‚Konjunktion‘) . . . 790 (δ) Einheitlich geltendes Reichsrecht (‚Penetration‘) . . . . . . . . . 791 b) Das private Rechtsmonopol aufgrund persönlicher Eigenmacht (‚Rechtsfähigkeit‘) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 792 (α) Von der staatlichen Souveränität ausgenommene (‚isolierte‘) Rechtsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 792 (β) Berührung privater Rechtsbereiche miteinander und mit dem Staat (‚Adjunktion‘) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 794 (γ) Verbindung privater Rechtsbereiche miteinander und mit dem Staat (‚Konjunktion‘) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 795 (δ) Vereinigung privater Rechtsbereiche miteinander und mit dem Staat (‚Interpenetration‘) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 797 5. Die Entwicklung hybriden (hoheitlich-privaten) Rechts (B: Tendenzen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 798 a) Die nationale Entwicklung hybriden Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 799 (α) Alleingeltung von hoheitlichem Recht (‚Isolation‘) . . . . . . . . 799 (β) Parallelgeltung von hoheitlichem und privatem Recht . . . . . 803 (γ) Adjunktion von hoheitlichem und privatem Recht . . . . . . . . 806 (αα) Hoheitliche Einwirkungen auf die Privatsphäre . . . . . . 806 (ββ) Privatrechtliches Eindringen in die Staatssphäre  . . . . . 809 (δ) Konjunktion von hoheitlichem und privatem Recht . . . . . . . 813 (ε) Interpenetration von hoheitlichem und privatem Recht . . . . . 815 (αα) Interpenetration auf der institutionellen Ebene . . . . . . . 815 (ββ) Interpenetration auf der Gesetzgebungsebene . . . . . . . . 820 b) Die internationale Entwicklung hybriden Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 823 (α) Akteure (Übersicht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 823 (β) Supranationale und internationale Akteure . . . . . . . . . . . . . . . 825 (γ) Transsoziale Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 828 (δ) Hybride Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 832 (ε) Zusatz: Hybrides Völkerrecht zum Schutz von Menschen­ rechten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 835 c) Legitimationsprobleme hybriden Rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 839 (α) Grenzen der demokratischen Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . 839 (β) Verfahren als Ersatz demokratischer Legitimation . . . . . . . . . 847 (γ) Hybride Gerechtigkeit als Ausdruck der Sozialstaatlichkeit . 851 d) Zusammenfassung   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 858 (α) Verbindungen zwischen hoheitlichen und privaten Rechts­ subjekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 858

InhaltsverzeichnisXXIX (β) Die Hyperstruktur hybriden Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 860 (γ) Wechselseitige Kontrolle hoheitlicher und privater Rechts­ subjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 861 6. Evolutions- und Devolutionsgesetze im Recht der Neuzeit  . . . . . . . . . . . 864 a) Randbedingungen für den Wandel des Rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 864 (α) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 864 (β) Bevölkerungsveränderungen, insbesondere durch Migration . 866 (γ) Wirtschaftliche Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 873 (δ) Umweltveränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 876 (ε) Psychische Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 878 (ζ) Verwissenschaftlichung, technisch/technologische Revolu­ tion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 881 b) Wandlungen des Rechts aufgrund seiner Randbedingungen . . . . . . . . 885 (α) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 885 (β) Entwicklungen aufgrund von Bevölkerungsveränderungen . . 887 (γ) Entwicklungen aufgrund von wirtschaftlichen Veränderun­ gen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 890 (αα) Entwicklungen im Recht des internationalen Warenund Dienstleistungshandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 892 (ββ) Entwicklungen im internationalen Kommunikations­ recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 894 (γγ) Entwicklungen im internationalen Transportrecht . . . . . 895 (δδ) Souveränitätsverluste der Nationalstaaten als Folgen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung . . . . . . . . . . . . 897 (δ) Entwicklungen aufgrund von Umweltveränderungen . . . . . . 899 (ε) Entwicklungen aufgrund von psychischen Veränderungen . . 902 (αα) Leitbilder ersetzen Abbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 902 (ββ) Erstreckung des Eigentums auf Geisteswerke . . . . . . . . 905 (γγ) Erstreckung der Vergeistigung auf Zahlungsmittel . . . . 907 (δδ) Das ‚geistige Reich‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 909 (ζ) Entwicklungen aufgrund von wissenschaftlichen und tech­ nologischen Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 910 (αα) Einflüsse auf die Industrieprodukte . . . . . . . . . . . . . . . . 911 (ββ) Einflüsse auf die menschliche Umwelt . . . . . . . . . . . . . 912 (γγ) Einflüsse auf den Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 914 c) Gesetzmäßigkeiten des rechtlichen Wandels  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 917 (α) Rechtsordnungen als sich wandelnde Teile humaner Systeme . 917 (β) Rechtsordnungen als sich wandelnde Teile sozialer Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 921 (γ) Rechtsordnungen als sich wandelnde Teile staatlicher Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 923 (δ) Rechtsordnungen als sich wandelnde Macht- und Gerech­ tigkeitssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 933

XXX Inhaltsverzeichnis (αα) Internationale Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 937 (ββ) Nationale Analyse  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 939 (γγ) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 941 (ε) Entwicklungstrends zur Gewinnung von Gerechtigkeit im hoheitlichen Rechtsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 943 (αα) Staatsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 943 (ββ) Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 947 (γγ) Verwaltungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 950 (δδ) Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 953 (ζ) Entwicklungstrends im privaten Rechtsbereich . . . . . . . . . . . 956 (η) Gesetzmäßigkeiten im Verhältnis der Rechtsbereiche zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 958 (θ) Zusammenfassung der evolutiven Gesetzmäßigkeiten im heutigen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 965 (ι) Künftige Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 975 7. Ergebnis: Die Verrechtlichung der neuzeitlichen Lebenswelt  . . . . . . . . . 978 a) Verrechtlichungsbreite (differenzierender Aspekt) . . . . . . . . . . . . . . . . 978 b) Verrechtlichungshöhe (integrierender Aspekt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 984 c) Verrechtlichungstiefe (sozialethischer Aspekt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 996 (α) Individuale Gerechtigkeit unter den Bedingungen des neuzeitlichen Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 998 (β) Soziale Gerechtigkeit unter den Bedingungen des neuzeit­ lichen Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1000 (αα) Wohlstandsgewinnung gemäß der ratio naturalis . . . . . 1001 (ββ) Wohlstandsaufteilung gemäß der ratio utilitatis . . . . . . 1001 (γγ) Wohlstandsverteilung gemäß der ratio aequitatis . . . . . 1008 (δδ) Toleranz und Billigkeit gemäß der ratio voluntatis . . . 1012 (γ) Globale Gerechtigkeit unter den Bedingungen neuzeitlicher Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1013 (αα) Erweiterung der nationalen Souveränität durch inter­ nationale Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1014 (ββ) Begrenzung der staatlichen Souveränität durch inter­ nationale Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1016 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1022

Teil I

Entwicklung A. Historie, Genese, Historiogenese – Versuche einer Begriffsklärung – 1. Was ist Historie? In der Vorrede zu seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ stellte Hegel den später berühmt gewordenen Satz auf: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“1 Es hieße, den Sinn dieses Satzes missverstehen, wollte man ihm Hegels Meinung entnehmen, dass Vernunft und Realität sich decken. Seinem auf die Erkenntnis des absoluten Geistes gerichteten Blick war keineswegs entgangen, dass manches in der Relativität der Erscheinungen nicht so vernünftig war, wie es sein sollte.2 Aber er meinte, dem im positivistischen Sinne Seienden infolge der Zufällig­ keit seiner Existenz nicht den emphatischen Namen des Wirklichen zuspre­ chen zu dürfen.3 Wahrhaft wirklich war für ihn allein dasjenige, worin die Vernunft sich hervorbringt. Als Ort solcher Selbstproduktion der Vernunft sah er die Weltgeschichte an: Dass es darin „vernünftig zugegangen sei, diese Überzeugung und Einsicht ist eine Voraussetzung in Ansehung der Ge­ schichte als solcher überhaupt“4. Der von Hegel begründeten Unterscheidung zwischen den Begriffen einer positiven (positivistischen) und einer geschichtlichen Wirklichkeit entspre­ chen unterschiedliche Methoden der Begriffsbildung. Der Begriff der positi­ ven Wirklichkeit wird von der Erfahrung aus gebildet. Positive Wirklichkeit ist die Summe des Erfahrbaren, des auf die Sinne ‚Wirkenden‘ und von die­ sen als ‚wirklich‘ Wahrgenommenen. Ein solcher Begriff hat seine Grenzen; 1  G. W. F. Hegel

(l821), S. XIX. (1830), § 6. 3  G. W. F. Hegel (1830), § 6: „Im gemeinen Leben nennt man etwa jeden Einfall, den Irrtum, das Böse und was auf diese Seite gehört, sowie jede noch so verküm­ merte und vergängliche Existenz zufälligerweise eine Wirklichkeit. Aber auch schon einem gewöhnlichen Gefühl wird eine zufällige Existenz nicht den emphatischen Namen eines Wirklichen verdienen; – das Zufällige ist eine Existenz, die keinen grö­ ßeren Wert als den des Möglichen hat, die so gut nicht sein kann, als sie ist.“ 4  G. W. F. Hegel (1840), 5.20. 2  G. W. F. Hegel

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Teil I: Entwicklung

denn als wirkend erfahren wird nur das Einzelne der Erscheinungswelt, das sich zwar mit einem Namen belegen, nicht aber begrifflich fassen lässt. Den anderen Teil der Wirklichkeit versuchte Hegel, als Vernunft in den (Be-)Griff zu bekommen. Methodisch entstand damit indes ein Problem: Welche Er­ kenntnismittel stehen der Vernunft zur Verfügung? Es ist bekannt, dass Hegel insoweit höchst einfach auf eben diese Vernunft zurückverwies: Die Vernunft erkenne sich selbst in der Wirklichkeit, da sie es sei, die aus dem Strom zu­ fälliger Erscheinungen die ‚Wirklichkeit‘ (im Hegelschen Sinne) hervor­ bringt.5 Damit aber geriet er in einen Zirkel, der für seine Philosophie ver­ hängnisvoll wurde und deren fast allgemeine Ablehnung begründet hat. Doch wie kann man den Zirkel vermeiden? Was die Historie anbelangt, bot sich ein Weg, den Heinrich Rickert beschritt.6 Er stellte der naturwissen­ schaftlichen Begriffsbildung, die er als generalisierend bzw. „nomothetisch“ bezeichnete, die individualisierende bzw. „idiographische“ Begriffsbildung gegenüber, die für die historischen Wissenschaften typisch sei. An der Fran­ zösischen Revolution beispielsweise interessierten den Historiker nicht die allgemeinen Züge, die sie mit anderen Revolutionen gemeinsam hat, sondern die individuellen Besonderheiten. Zwar könne der Historiker ebenso wenig wie der Naturwissenschaftler das Individuelle unmittelbar im Begriff erfas­ sen; doch ergebe die Vielzahl der allgemeinen Elemente für ihn ein Ganzes, das historisch unverwechselbar nur einmal existiert. Selbstverständlich halte der Historiker dann längst nicht alles für aufzeichnungswürdig, was je ge­ schah.7 Vieles erscheine ihm zu ‚gleichgültig‘, zu ‚banal‘, als dass es der 5  G. W. F. Hegel (1807), Abschnitt V: „Die Vernunft ist die Gewissheit des Be­ wusstseins, alle Realität zu sein.“ 6  Zum Folgenden H. Rickert (192l), S.  197  ff. und passim; aber auch schon R. von Jhering (1907/1993), S. 58 ff., 58: „Auf der niedrigsten Stufe der Geschichts­ schreibung vollzieht sich bereits die Scheidung zwischen wesentlichen und unwesent­ lichen, geschichtlichen und ungeschichtlichen Ereignissen.“ In einem Zirkel verfängt sich dagegen vom Standpunkt seiner analytischen Philosophie A. C. Danto (1980), indem er die Aufgabe der Geschichtsschreibung in der Rekonstruktion und Erklärung geschichtlicher (!) Vorgänge sieht (S. 404 f.): Erklärungen „werden verwendet, um Veränderungen zu erklären, und zwar – was überaus charakteristisch für sie ist – um­ fassende Veränderungen, die innerhalb von Zeiträumen stattfinden, die, verglichen mit der Dauer eines Menschenlebens, gewaltig sind. Es ist Aufgabe der Geschichte, uns diese Veränderungen offenbar zu machen … und [sie] gleichzeitig mit der Ent­ wicklung dessen, was sich zugetragen hat, zu erklären.“ Die Romanistin M. Th. Fögen (2003) sieht dementsprechend die Aufgabe des Rechtshistorikers darin, den „er­ zählerischen Überbau ‚abzutragen‘ “, den die Texte der antiken Geschichtsschreiber mit sich geführt haben (S. 3). Sie erzählt deshalb die „römischen Rechtsgeschichten“ nach, um anschließend darin (oder darunter) die ‚römische Rechtsgeschichte‘ aufzu­ spüren und um zu erklären, weshalb „das Recht so wurde, wie wir es in jeweiligen historischen und gegenwärtigen Situationen vorfinden“ (S. 17, Nachw. in Fn. 30). 7  H. Rickert (1921), S. 244 ff., 256 ff.



A. Historie, Genese, Historiogenese3

Geschichte oder gar ihren Marksteinen zuzuordnen wäre. Nur Weniges be­ sitze genügend Wert, um dem Schleier des Vergessens, den die Zeit allmäh­ lich über das Gewesene breitet, entrissen und der Nachwelt überliefert zu werden. Was aber besitzt diesen Wert? Hier antwortete Rickert als Neukan­ tianer sehr formal: das, wofür in der Kulturgemeinschaft, in welcher der Forscher lebt, ein allgemeines Erkenntnisinteresse besteht.8 Damit waren die Begriffe ‚Wert‘ und ‚Interesse‘ in die Methodenlehre ein­ geführt, wo sie im Folgenden von den Sozialwissenschaften unter Einschluss der Rechtswissenschaften aufgegriffen werden konnten. 2. Was ist Rechtsgeschichte? Auch die Sozialwissenschaften erschließen aus dem Strom zufälliger Er­ scheinungen ihre ‚Wirklichkeit‘. Aber während die Geschichtswissenschaften sie meist aus einmaligen Ereignissen abstrahieren, abstrahieren die Sozialwis­ senschaften sie aus sich ähnlich9 wiederholenden Vorgängen.10 Ihre Begriffs­ bildung entspricht daher zumindest teilweise der naturwissenschaft­lichen – sie ist generalisierend hinsichtlich der zugrunde gelegten Befunde, und sie ist „nomothetisch“ hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen den Befunden.11 Anders als die Naturwissenschaften bedienen sich die Sozialwissenschaften jedoch keiner einheitlichen Methode der Begriffsbildung, sondern je nach ­Erkenntnisinteresse einer wertfreien oder einer wertbezogenen. Die erste Me­ thode ist die der empirischen Sozialwissenschaften, die somit den Naturwis­ senschaften nahestehen. Die zweite Methode dagegen ist die der normativen Sozialwissenschaften (Kulturwissenschaften), zu denen auch die Rechtswis8  H. Rickert (1921), S. 245 ff. Ich gehe hier nicht auf die Fragen ein: Ob es über­ haupt ‚die‘ Geschichte gibt oder ob wir uns mit mehreren Arten von Geschichte ab­ zufinden haben? Ob es ‚geschichtslose Völker‘ gibt, oder ob alle Völker eine Ge­ schichte durchlaufen? Ob Geschichte nur das ist, was Menschen (zielgerichtet?) ma­ chen oder auch das, was sie ziellos, zufällig herbeiführen? Auch das, was sie zwar nur erfahren, aber einen ‚geheimen Sinn‘ darin vermuten, der für sie wichtig ist? usf. Solche Fragen mögen sich einer Geschichtsanthropologie stellen, aber in diese hier einzudringen, ist nicht mein Ziel. 9  Im Sinne von R. Boudon/F. Bourricaud (1992), S. 165 ff., ist ‚Ähnlichkeit‘ hier als ‚strukturelle Gleichheit‘ zu begreifen. 10  Ob dieser Gegensatz absolut ist, bleibe hier dahingestellt. 11  Wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass die heutigen Sozialwissenschaftler nicht (wie noch K. Marx) nach Gesetzen suchen, welche die historische Entwicklung determinieren, sondern nur nach solchen, die sie programmieren. „One of the impor­ tant differences between the 19th- and 20th-century forms of evolutionism is the shift from deterministic to probabilistic formulation“ – so zutreffend G. Lenski (1976), p. 557. Verneinend allerdings selbst insoweit R. A. Nisbet (1969), p. 3 ff. und passim; gegen ihn jedoch zutreffend G. Lenski, op. cit.

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Teil I: Entwicklung

senschaft gehört; sie heben sich durch den Wertbezug ihrer Begriffe von den empirischen Sozialwissenschaften und erst recht von den Naturwissenschaften ab und stehen folglich insoweit den historischen Wissenschaften nahe. Nun geht das Interesse der normativen Sozialwissenschaften allerdings auch auf die historische Wirklichkeit menschlicher Gesellschaften. Daher umschließen sie neben ihrer dogmatischen auch eine eigene historische For­ schungsrichtung: die Sozialgeschichte. Einen Ausschnitt davon stellt die Rechtsgeschichte dar. Sie ist die Geschichte der Vergesellschaftungsformen (Ehe, Familie, weitere Personenverbände, genossenschaftliche und herr­ schaftliche Organisationen), der Besitzverfassungen (Grundeigentum, Fami­ liengüterrecht, Vererbung), der sozial anerkannten Verhaltensregeln (Vertrag, Delikt, Rechtsstreit, Vollstreckung) sowie der sozialpsychologischen Grund­ lagen für die Anerkennung all dieser Formen und Verhaltensregeln (Überzeu­ gung, Rechtsbewusstsein). Ihre Methode ist daher grundsätzlich die der all­ gemeinen Geschichtswissenschaft: sie ist individualisierend bzw. ‚idiogra­ phisch‘ sowie auf kulturelle Werte bezogen.12 Als Geschichte kultureller Gesellschaftsformen und Verhaltensregeln bedarf sie jedoch zusätzlich zum allgemeinen kulturhistorischen Wertbezug eines speziellen Bezugs auf jene sozialen und politischen Institutionen, die für die Entwicklung von (Proto-) Staaten und des spezifisch (proto-)staatlichen Rechts bedeutsam waren.13 12  So zunächst auch F. Wieacker (1967), S. 17: „Die Rechtsgeschichte ist, wie jede Geschichtsschreibung, idiographische Wissenschaft, d. h. sie hat es zu tun mit individu­ ellen Vorgängen und Zuständen der geschichtlichen Welt.“ Dann allerdings schränkt er ein: „System, Lehrsätze und Begriffe, d. h. die Dogmatik einer jeweils geltenden Rechtsordnung, sind streng genommen nicht Gegenstand ‚idiographischer‘ Darstellung (im Sinne Rickerts): sie haben als solche so wenig Geschichte wie die Naturgesetze oder die logischen Sätze – mag auch ihr Erscheinen im Bewusstsein des Dogmatikers und der Rechtsgenossen geschichtlich und geschichtlichem Wandel unterworfen sein. Ihre ‚Entwicklungen‘ sind in Wahrheit nur Wandlungen im Bewusstsein, in den Über­ zeugungen und den Verhaltensregeln geschichtlicher Rechtsgemeinschaften.“ Wie­ ackers Platonische Auffassung von den juristischen Dogmen teile ich nicht. Den Unter­ schied zwischen der allgemeinen Geschichte und der Rechtsgeschichte sehe ich aus­ schließlich darin, dass sich jene auf empirische, diese auf normative Tatsachen bezieht (oder, wenn man den Begriff ‚Tatsache‘ vermeiden will: auf normative Konstrukte). Im Übrigen stimme ich aber mit ihm überein: So wenig sich die Geschichte für bloß empi­ rische (Natur-)Ereignisse interessiert, so wenig interessiert sich die Rechtsgeschichte bloß für das Kommen und Gehen von normativen Konstrukten). Und ebenso wie für die Geschichte empirische Tatsachen erst auf der Ebene sozialer Bedeutung zu ‚Tatsa­ chen‘ werden, so werden für die Rechtsgeschichte normative Konstrukte erst auf der Ebene von Gewohnheits- oder Gesetzesrecht zu bedeutsamen ‚Normen‘. Ereignisse ohne überregionale Bedeutung sind für die Geschichte, Normen ohne überregionale Bedeutung sind für die Rechtsgeschichte uninteressant. 13  Zum Ganzen auch M. Bretone (1998), S. 30 f. Zur einstweilen noch bedeutungs­ losen Unterscheidung zwischen Protostaaten und Staaten siehe meine Ausführungen unter E 5.



A. Historie, Genese, Historiogenese5

Diese Institutionen unterlagen einem historischen Wandel. Doch da sie als Auswahl- und Deutungsmodelle für das historische Material logisch zwin­ gend auf einer höheren Stufe standen als das Material selbst, unterlagen sie – zumindest hypothetisch – anderen, weniger vom Zufall beherrschten, m. a. W. stärker kausalgesetzlichen Wandlungen als das Material. 3. Was ist Genese? Mit kausalgesetzlich verlaufenden Wandlungen haben sich bisher vor allem die evolutiven Biowissenschaften beschäftigt.14 Sie unterscheiden zwischen (1) der Stammesentwicklung oder Phylogenese (einschließlich der Anthropogenese), (2) der Individualentwicklung oder Ontogenese, (3) der Erlebnis- und Verhaltensentwicklung oder Aktualgenese und schließlich (4) der Entwicklung sozialer Biosysteme oder Soziogenese15. In sämtlichen Fällen bezeichnet ihr Begriff ‚Entwicklung‘16 oder ‚Genese‘ Veränderungsreihen, für die gewisse Gesetzmäßigkeiten kennzeichnend sind oder, vorsichtiger ausgedrückt, ge­ wisse Trends, nach denen sie verlaufen. Für die Phylogenese, also die Entwicklung ‚von einem Ei zum anderen‘, kann als Trend angenommen werden, dass sie orthogenetisch, d. h. ausschließ­ lich in die einmal eingeschlagene Richtung,17 und irreversibel, d. h. unum­

14  Freilich nicht nur sie, denn alles Seiende ist sowohl Gewordenes als auch Grundlage für künftig Werdendes. Der gesamte Kosmos lässt sich nur als ein Wer­ dender und alles darin Vorhandene nur als ein Gewordenes und wieder Vergehendes, in anderem Wiederauferstehendes begreifen (1. Hauptsatz der Thermophysik bzw. Energieerhaltungssatz der Mechanik). 15  Hierbei übergehen sie allerdings, dass die Soziogenese sich als Gruppen- und Populationsgenese, Berührungs- und Beziehungsgenese vollziehen kann. Vgl. dazu noch unten K 6 c. 16  Als ‚Entwicklung‘ (= Genese auf einer Zeitschiene) bezeichne ich im Folgenden jede nachhaltige Veränderung bzw. (gleichbedeutend) Wandlung eines realen, d. h. materiellen oder immateriellen (geistigen), Zustands auf einer Zeitschiene, während ich als ‚Evolution‘ (ohne Zusatz) nur die irreversible Höherentwicklung (‚Anage­ nese‘) bezeichne. 17  Der Orthogenese (grundlegend zu ihr H. Werner, 1957) liegt, das sei ausdrück­ lich betont, kein ‚Richtungsplan‘ einer übernatürlichen Macht zugrunde, der einfache Formen veranlasst, sich in gerader Richtung zu komplexeren Formen (etwa des Kör­ perbaus) zu entwickeln. Sie beschreibt lediglich den biotischen Trend aller Lebewe­ sen, auf Umweltveränderungen durch Ausdifferenzierung neuer Eigenschaften (Mutation) und Integration der mutierten Eigenschaften in die Einheit des Organismus zu reagieren – weshalb die Struktur der Organismen tendenziell komplexer wird. Dieser in den Organismen angelegte Entwicklungstrend führt, das sei weiterhin betont, kei­ neswegs immer zum Ziel. Im Gegenteil ist das Aufkommen einer neuen komplexeren Organismusgruppe ein außerordentlich seltenes Ereignis, das dann freilich für den

6

Teil I: Entwicklung

kehrbar,18 verläuft, also zwar kausal, aber kausalgesetzlich nicht nach der For­ mel S1 ® S 2 ® S3 ®  ® S n-1 ® S n ,19

(1)

sondern aufgrund von Mutation und Selektion nach der Formel (2)

S1 ®

S¢ S1¢ S¢ Þ S 2 ® 2 Þ S3  S n-1 ® n-1 Þ S n .20 + x1 + x2 + xn-1

Die Darwinsche Evolutionstheorie nahm an, dass Mutationen ungerichtet erfolgen, Selektionen dagegen durch die Umwelt determiniert würden – was konkret bedeuten würde, dass jeweils nur die der Umwelt angepassten Indivi­ duen einer Art überleben und ihr genetisches Material an die Artgenossen weitergeben können. Aufgrund dieser Annahmen lässt sich jedoch die Ortho­ genese als Entwicklungstrend nicht erklären.21 Ferner bleibt ein weiterer Ent­ wicklungstrend unerklärt: die Anagenese, d. h. der Trend zur Ausbildung im­ mer speziellerer organismischer Funktionen, die durch weitere, ebenfalls neu ausgebildete Funktionsträger in den Gesamtorganismus integriert werden.22 Alle Theorien, die sowohl die Orthogenese als auch die Anagenese bejahen (und gleichzeitig die Orthogenese auf anagenetische Prozesse be­schränken)23, berücksichtigen deshalb zusätzlich eine Eigendynamik der innerorganismi­

Fortgang der Evolution einzig zählt, während eine Unmenge von Misserfolgen der Preis ist, den die Natur dafür bezahlt. 18  J. Monod (1975), S. 113: „Jede einfache, punktuelle Mutation … ist unumkehr­ bar. … Jede merkliche Evolution … setzt jedoch eine große Anzahl unabhängig von­ einander erfolgender Mutationen voraus, die nach und nach in der ursprünglichen Art sich häufen und dann – immer noch zufällig – durch den mit der Geschlechtlichkeit entstandenen ‚genetischen Gezeitenstrom‘ rekombiniert werden. Wegen der Fülle der unabhängigen Ereignisse, aus denen sie hervorgeht, ist eine solche Erscheinung sta­ tistisch irreversibel.“ 19  Im Fall statistischer Gesetze ist ein probabilistischer Index zu ergänzen. 20  S1  , S n sowie S1¢ , S n¢-1 bezeichnen hierbei Sachverhalte, die aus den vorange­ henden Zuständen erklärt werden können, während x1  , xn-1 zusätzliche genetische Informationen darstellen, die eingeschoben werden müssen, um den nachfolgenden Zustand zu erklären. 21  Ebenfalls nur eine Teilerklärung liefert die Zusatzannahme, dass jede Gerichtet­ heit der Evolution durch die Stabilität der Selektionskräfte erzeugt werde. Vgl. etwa G. Schurz (2011), S. 135 f., 191 f. 22  Wegweisend K. E. von Baer (1828), nach dessen Theorie basale Strukturen früh entwickelt und später lediglich ausdifferenziert werden. 23  H.-D. Schmidt (1977), S. 386 f.



A. Historie, Genese, Historiogenese7

schen Entwicklung – ohne allerdings bisher eine allgemein anerkannte Erklä­ rung dafür gefunden zu haben.24

24  Noch nicht erkannt wurde die Problematik im Zeitalter der Aufklärung, die des­ halb jeden Fortschritt auf die Veränderungen des menschlichen Geistes beschränkte, während sie in der nicht-menschlichen Natur nur einen ewigen Kreislauf am Werke sah. Vgl. A. R. J. Turgot (1750/1990), S. 140: „Die Erscheinungen der Natur, die konstanten Gesetzen unterliegen, sind in einen Kreislauf immerwährend gleicher Um­ wälzungen eingeschlossen. … Die Abfolge der Menschen hingegen bietet von einem Jahrhundert zum anderen ein immer neues Schauspiel.“ Die menschliche Gattung besitze eine nur ihr eigene Triebkraft, sich zu perfektionieren, indem sie nach immer vollkommeneren Erkenntnissen strebt. Vgl. allerdings auch ders. (1753/1990), S. 168 ff., wo er (S. 168) auch den Tieren eine geschichtliche Entwicklung zubilligt und somit zur Unterscheidung zwischen einer geschichtsfähigen Natur des Organi­ schen und einer unhistorischen Natur des Mechanischen vorstößt. Gleichzeitig trägt er dort der Ungleichzeitigkeit der menschlichen Entwicklung in unterschiedlichen geographischen Räumen Rechnung (S. 169, 182 ff.). Genauer erkannt wurde die Besonderheit der menschlichen gegenüber der tieri­ schen Entwicklung hundert Jahre später, dann jedoch mit unterschiedlichen Konse­ quenzen. A. R. Wallace (1870/2001) nahm an, dass der menschliche Geist von den Gesetzen der Evolution ausgespart bleibe. Darwin selbst dagegen verwarf die Begren­ zung der Evolution auf die biotische Entwicklung und bezog die Entwicklung der Psyche in seine Evolutionstheorie mit ein, ohne insoweit allerdings ein Forschungs­ programm zu entwerfen. Der Vorstoß zur Einbeziehung der Kultur in die Evolution des Menschen gelang erst in neuester Zeit, indem man dem Hervorgehen von Lebe­ wesen mit differenzierten Bau- und Funktionsweisen sowie aufeinander aufbauenden Hierarchieebenen durch ein zwar von der Biologie ausgehendes Differenzierungssys­ tem Rechnung trug, das jedoch zur weiteren Entwicklung spezifisch kultureller For­ men des sozialen Daseins bedarf. Dadurch verlagerte man die evolutive Aufgabe des Menschen von der äußeren Anpassung an die jeweiligen Umweltbedingungen auf die Entwicklung innerer Funktionssysteme, welche nicht mehr die Früchte von Umwelt­ veränderungen, sondern von überwiegend inneren Gesetzmäßigkeiten sind. Vgl. dazu beispielsweise H.-R. Duncker (1998), S. 20: Nur aufgrund „eines komplementären Denkens sowohl in einer darwinistischen Weiterentwicklung von Merkmalen wie zugleich in den zunehmenden funktionellen Verknüpfungen ihrer Leistungen, wo­ durch die phänomenologisch neuen Funktionssysteme und Fähigkeiten entstehen, ist die Komplexität der menschlichen Erscheinung zu erfassen und damit seine über die Biologie weit hinausgehende Eigenständigkeit in seinen sozialen und kulturellen Leistungen.“ Die Aufgabe, auch Mechanismen der inneren Selektion in den Evolutionsvorgang einzubeziehen, hat zuerst die Systemtheorie der Evolution durch die Annahme einer zur äußeren Selektion hinzutretenden „inneren Selektion“ zu lösen versucht (vgl. dazu R. Riedl, 1975, S. 287 ff., 298): Diese innere Selektion begrenze die Wirkung äußerer Selektionsfaktoren auf Veränderungen, die sich in die Entwicklung des Gesamtorganis­ mus einfügen lassen, ohne die innere Stimmigkeit der Untersysteme negativ zu beein­ flussen. Ein empirischer Nachweis von inneren Selektionsfaktoren ist bisher allerdings nicht gelungen. Siehe dazu K. Eder (1987); F. M. Wuketits (1989), S. 137 ff. Insgesamt werde ich auf die Problematik einer Weiterentwicklung der Evolutionstheorie im letz­ ten Teil meiner Untersuchung zurückkommen (vgl. unten K 6 c).

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Teil I: Entwicklung

Eine solche Erklärung wäre auch für die Soziogenese wichtig, weil sich die Problematik hier wiederholt. Ansatz der Selektion ist hier sowohl die überindividuelle Gruppe (bzw. Population) als Einheit eines Genpools als auch das Individuum als Element innerhalb dieses Genpools. Neben die Genselektion tritt hier folglich die Gruppenselektion: Selegiert werden dieje­ nigen Gruppen, die intrasozietär für das Überleben in der Umwelt gerüstet sind. Und weil unbestritten ein altruistisches und kooperatives Verhalten der Gruppenmitglieder dazu gehört, sind es diejenigen Gruppen, deren Genpool die im Verhältnis zur Gesamtzahl größte Anzahl von altruistischen und ko­ operierenden Teilen bzw. Mitgliedern hervorbringt. Unbeantwortet bleibt wiederum die Frage, warum überhaupt einzelne Arten von Lebewesen einem orthogenetischen Trend zu sozialen Bindungen und darüber hinaus zum sozi­ alen Zusammenleben gefolgt sind und warum das Zusammenleben einiger von ihnen vom anagenetischen Trend bestimmt wurde, die Beziehungen zu­ einander immer differenzierter und komplexer auszugestalten, sodass dann immer zahlreichere soziale Mechanismen nötig wurden, um die Komplexität wieder zu reduzieren – zum Beispiel ein hierarchisches Organisationsgefüge und eine dahinter stehende geballte Macht. Neuere Theorien nehmen hier wiederum eine (auf Lernen gestützte) Eigendynamik an, für die sie jedoch noch keine allgemein akzeptierte Erklärung anbieten können.25 4. Was ist Historiogenese? Kommen wir auf die Rechtsentwicklung zurück. Es ist leicht zu bemerken, dass sie sich weder allein der Phylo- noch allein der Soziogenese unterord­ nen lässt. Der Grund liegt darin, dass das Recht weder ein natürliches noch ein sozial-empirisches, sondern ein sozial-normatives (soziokulturelles) Phä­ nomen ist. Will man die Begriffe ‚Entwicklung‘ und ‚Genese‘ dennoch auch auf geschichtliche Veränderungsreihen im Recht anwenden, muss man sie daher sozial-normativ interpretieren. Und um dies zu verdeutlichen, erscheint es zweckmäßig, statt von einer Rechtsentwicklung oder Rechtsgenese besser von einer Historiogenese des Rechts als Teil einer soziokulturellen Entwick­ 25  Die meisten Anthropologen nehmen an, dass Differenzierungen innerhalb des Gehirns zu besseren geistigen Leistungen führen und dass bessere geistige Leistungen einen evolutiven Vorteil bringen. Allerdings bedingt ein größeres Gehirn einen größe­ ren Kopf, und ein größerer Kopf erschwert den Geburtsvorgang. Überdies verlängert ein komplizierteres Gehirn die Kindheit, sodass der Nachwuchs längerer elterlicher Pflege bedarf. Sozialwissenschaftlich bessere Anwendungsmöglichkeiten erlaubt m. E. eine mittels Computersimulation gewonnene Theorie von S. A. Kauffmann (1993; 1995; 2000), wonach die Evolution zusätzlich zur äußeren Selektion auf einer spontanen inneren Organisation als endogenem Faktor beruht. Diese bringe das Sys­ tem an den Rand des Chaos und steigere dadurch seine dynamische Fähigkeit zur Selbstorganisation.



A. Historie, Genese, Historiogenese9

lung zu sprechen. Doch ist mit der terminologischen Klarstellung nicht viel gewonnen, solange man nicht weiß, was unter einer Historiogenese und einer soziokulturellen Entwicklung im Gegensatz zu einer Phylogenese und einer Soziogenese zu verstehen ist. Was also sind die beiden? Im Gegensatz zur Phylogenese vollzieht sich die Historiogenese nicht nur mittels individueller Verknüpfung ‚von einem Ei zum anderen‘, sondern auch mittels überindividueller Verknüpfung von menschlichen Adultformen. Und im Gegensatz zur Soziogenese verknüpft die soziokulturelle Entwicklung Adultformen weder infolge ihrer Zugehörigkeit zu einer biotischen Fort­ pflanzungsgemeinschaft, sondern infolge ihrer Zugehörigkeit zu einer geis­ tig-seelischen Kulturgemeinschaft,26 noch infolge einer aktualgenetisch her­ gestellten sozialen Gemeinsamkeit, sondern infolge ihrer gemeinsamen Ein­ gebundenheit in einen sozialen Herrschaftsraum. Weil aber die menschlichen Adultformen eine je eigene, voneinander weitgehend unabhängige Ontoge­ nese durchlaufen, verändert sich die Kultur historisch nicht nach der linearkausalen Formel (3)

W1 ® W2 ® W3 ® Wn-1 ® Wn ,

sondern aufgrund einer Unmenge kumulativer, für einander zufälliger Ein­ flüsse, die sich zwar weitgehend, aber niemals vollständig neutralisieren.27 In ihrer Gesamtheit erzeugen sie infolgedessen Veränderungen, die je nach der schöpferischen Vielfalt einer Gesellschaft zwar mal langsamer, mal schneller verlaufen, insgesamt jedoch eine gewisse Stetigkeit in der Geschwindigkeit wie in der Ausrichtung besitzen: (4)

W1 ®

W¢ W1¢ W¢ Þ W2 ® 2 Þ W3 ® Wn-1 ® n-1 Þ Wn .28 + x1 + x2 + xn-1

26  Zur Koevolution von Genen und Kultur allgemein vgl. P. Barth (1915), S.  160 ff.; R. Hernegger (1989), S. 45 ff.; J. Y. Sasaki (2013), p. 64: „Cultural psy­ chology provides an explanatory framework for understanding meaningful variation in thought and behavior across cultures, and neuroscience offers explanations of how the brain and genes underlie psychological processes. By combining these two per­ spectives into a new field, cultural neuroscience may be well equipped to investigate the mind more completely, as arising from multiple interacting forces within and be­ yond the individual.“ 27  Vermutet wird beispielsweise ein Langzeit-Trend zu demokratischen politischen Strukturen von J. Z. Xue (2013). 28  W W sowie W ¢W ¢ 1 n 1 n-1 bezeichnen hierbei die kulturell werthaften Zustände, die aus den vorangehenden Zuständen erklärt werden können, während x1  xn-1 die kulturellen Mittelwerte von individuell-schöpferischen Einflüssen bezeichnen, die zur Begründung der nachfolgenden Zustände eingeschoben werden müssen.

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Teil I: Entwicklung

Die Veränderungen erscheinen daher dem Auge der Gegenwart zwar als zufällig, ‚spontan‘; im Rückblick jedoch erkennt man einen irreversiblen Trend, der die Wiederkehr stilistisch29 gleicher kultureller Formen aus­ schließt. Um eine Erklärung dafür ist man abermals verlegen. Man hat auf die ungeheure Komplexität selbst der einfachsten Kulturen hingewiesen, die eine komplette Wiederholung im Laufe der Geschichte schon rein statistisch ausschließt.30 Wenn gleichwohl manche Kulturerscheinungen (wie etwa das Barock) immer wiederkehrten, dann jeweils ausgehend von einer anderen Entwicklungsstufe, wodurch sie sich in ihrer Qualität notwendig unterschie­ den. Indes versagt diese Erklärung, wenn man auf Kulturentwicklungen trifft, die unabhängig voneinander dieselbe Richtung eingeschlagen, oder auf Stil­ entwicklungen innerhalb von Kulturen, die sich gleich oder zumindest ähn­ lich wiederholt haben (etwa vom Barock zum Rokoko). Die Wissenschaft muss also auch hier nach einem überzeugenden Konzept noch fahnden.31 Für einen weiteren kulturellen Trend ist die Wissenschaft eine überzeu­ gende Erklärung bisher ebenfalls schuldig geblieben: für die Anagenese, ge­ nauer für die kulturelle Höherentwicklung aufgrund von Differenzierung, Spezialisierung und Integration in übergeordnete Einheiten.32 Erklären kann sie lediglich das Wie der Entwicklung: Die Kultur verknüpft die erwachse­ nen Glieder einer Gesellschaft, weil sie die gesellschaftlich erarbeiteten Kulturleistungen als Anforderungen an die nachfolgende Generation wieder­ kehren lässt und damit einen wesentlichen Einfluss auf deren Heranwachsen und damit auf die Historiogenese der Gemeinschaft insgesamt ausübt.33 Zu­ 29  Vgl. K. Zeitlinger (1986), S. 214: „Geist tritt immer in Form von Stil auf, in dem sich das Verhältnis von Geist und Wirklichkeit spiegelt. Stil zeigt sich schon in den frühesten Kulturen und erst recht in den Hochkulturen der Menschheit.“ Ähnlich schon A. Weber (1931), S. 289. Zur Geschichte des Stilbegriffs und seinen Konnota­ tionen vgl. H. U. Gumbrecht (2006), S. 159 ff. 30  Dazu schon J. G. Herder (1784–1791/1906), S. 157: „Das haben alle Gattungen menschlicher Aufklärung gemein, dass jede zu einem Punkt der Vollkommenheit stre­ bet, der, wenn er durch einen Zusammenhang glücklicher Umstände hier und dort erreicht ist, sich weder erhalten noch auf der Stelle wiederkommen kann, sondern eine abnehmende Reihe anfängt. … Als Homer gesungen hatte, war in seiner Gattung kein zweiter Homer denkbar.“ 31  Zum Stand der Forschung vgl. M. Harris (1989), S. 436 ff.; St. K. Sanderson (1991); M. Schmid (1998). Vgl. auch unten J 5 d α: Orthogenese als linearer Rich­ tungstrend. 32  Gemeint sind etwa eine verfeinerte Technik, eine größere Vielfalt an Waffen-, Werkzeug- und Apparateformen mit spezieller Funktion, Gesamtheiten wie Jagdge­ räte, Kriegswaffen, Ackergerätschaften, Baumaterialien usw. 33  Übereinstimmend G. Dux (2000), S. 274 ff. (zu seiner „historisch-genetischen Theorie der Kultur“ vgl. noch unten bei Fn. 84). Kultur ist somit Aktualisierung eines kollektiven Gedächtnisses. Ihre Bedeutung kommt sowohl in der antiken Terminolo­ gie (παραδιδόναι, ‚tradere‘ von ‚transdare‘) als auch in deren neusprachlichen Äqui­



A. Historie, Genese, Historiogenese11

gute kommen ihr dabei zwei spezifisch menschliche Fähigkeiten: die zum Lernen durch Imitation intentionalen Verhaltens (vor allem seitens der Kin­ der) und die zum gezielten Unterricht (vor allem seitens der Erwachsenen), der insbesondere das (den Tieren unbekannte) Gesolltsein von Formen des Verhaltens umfasst.34 Allerdings ‚mutiert‘ das Gelernte jeweils, weil jedes Individuum kraft einer Fähigkeit zur kulturellen Invention dazu tendiert, es seinen eigenen – evolutiv von Generation zu Generation weiterentwickel­ ten – Bedürfnissen und Fähigkeiten anzupassen.35 Auf diese Weise entstehen immer neue sozialrelevante Einsichten und Artefakte, die von anderen Indi­ viduen übernommen und die wiederum an künftige Generationen weiterge­ geben werden. Man kann dies als (genetisch und soziokulturell basierte) „kumulative Evolution“ bezeichnen.36 Evolutive Veränderungen sind umso leichter möglich, je formbarer die Materie ist, an der sie sich vollziehen. Solange der Mensch mit Steinen han­ tierte, konnte er wenig verändern; die Evolution der Steinwerkzeuge vollzog sich daher nur langsam. Als der Mensch sich dagegen leichter formbaren Materialien zuwandte, konnte die Evolution an Tempo zulegen. Vollends in Trab kam sie aber erst, als der Mensch sein Schöpfertum von der Fertigung von Artefakten auf die Kreation von Methoden zur Fertigung von Artefakten verlagerte, m. a. W. in die rein geistige Ebene vorstieß und hier ein ‚Material‘ vorfand, das nahezu beliebig formbar und vermehrbar war. Zu diesen geisti­ gen Methoden gehörte u. a. die soziale Organisation von Fertigkeiten, um (etwa mittels Arbeitsteilung) Gemeinschaftsprodukte hervorzubringen. Vom Zeitpunkt ihrer Erfindung an verhalf der Mensch der Evolution zu jener atemberaubenden Geschwindigkeit, die wir mit dem Namen ‚Revolution‘ belegen können (dazu unten B 2 [3]).

valenten (‚überliefern‘, ‚transmettre‘, ‚hand down‘) zum Ausdruck. Hinzuweisen ist aber auch auf die weit verbreitete Synonymität von παραδιδόναι und διδάσκειν bzw. ‚tradere‘ und ‚docere‘ – lehren als weitergeben, lernen als empfangen. 34  Dazu M. Tomasello (2002), S. 49 ff. 35  Die menschliche Psyche ist ein evolutiv ziemlich neues Phänomen. Sie hat sich auf der Grundlage physiologischer und biochemischer Prozesse im Gehirn herausge­ bildet und entwickelt sich auf dieser Grundlage auch noch weiter. Ihr enger Zusam­ menhang mit einer physiologischen Grundlage ergibt sich daraus, dass durch die Reizung gewisser Hirnareale psychische Wirkungen evoziert werden können, dass isolierte organische Defekte des Gehirns spezifische psychische Ausfälle hervorrufen und dass es immer häufiger gelingt, auch für normale psychische Vorgänge physiolo­ gische Grundlagen zu identifizieren. 36  So M. Tomasello (2002), S. 50: Mehrung und Häufung der Kulturgüter. Siehe ferner R. Boyd/P. J. Richerson (1985), ch. 3; Ch. Antweiler (1988); P. J. Richerson/ R. T. Boyd/J. Henrich (2003). Andere Autoren sprechen von „akkumulierender Evo­ lution“, meinen aber dasselbe.

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Teil I: Entwicklung

Sobald eine individuelle Kultur37 infolge der Akkumulation von materiel­ len und immateriellen Gütern immer reicher wird, kommt es zu einer Diskre­ panz: Die geistig-seelische Entwicklungskapazität ihrer Mitglieder zum Kulturerwerb stößt an eine natürliche Grenze,38 es kommt zur Ausdifferen­ zierung von (oft miniaturhaften) Subkulturen sowie zum Niedergang oder Abbruch einzelner kultureller Entwicklungen und zum vereinfachten Neube­ ginn. Parallel dazu entsteht das Bedürfnis nach übergeordneten Leitwerten und institutionellen Regeln, um die Gesamtkultur eines Volkes als die höhere, anagenetisch gewordene Einheit erscheinen zu lassen und nicht als ein mul­ tikulturelles Konglomerat. 5. Was ist Historiogenese des Rechts? Die Historiogenese des Rechts, als letzter hier zu erörternder Begriff, ist ein spezielles Beispiel für die Historiogenese von Kultur.39 Sie weist einige Besonderheiten auf. Denn was sich als Recht entwickelt, sind nicht einfach kulturelle Artefakte, sondern Institutionen40 – d. h. kulturelle Artefakte, die 37  Die Problematik der Unterscheidung zwischen einer individuellen Kultur und der gesamtmenschlichen Kultur kann hier nicht erörtert werden und braucht es auch nicht, weil jedenfalls individuelle (nationale) Rechtskulturen sich aufgrund ihrer Sat­ zungen klar voneinander unterscheiden, während es sonst nichts gibt, was nur in einer Kultur bei allen Mitgliedern vorkommt und bei keinem Mitglied einer anderen Kultur (vgl. Ch. Antweiler, 2009, S. 139 ff., 32 ff.). Die Eigenständigkeit von Kulturen wird daher weniger durch ihre Güter und Werte als vielmehr durch deren Hierarchie be­ gründet. Vgl. E. Holenstein (1998), S. 240: „Was zwei Kulturen unterscheidet, ist weniger die An- oder Abwesenheit bestimmter Eigenschaften als vielmehr die unter­ schiedliche Dominanz von annähernd universal gegebenen Eigenschaften.“ 38  Vgl. zum Stand einer Kultur und zum kulturellen Stand ihrer Mitglieder G. Simmel (1908/1957), S. 94: „Zum mindesten geht die geschichtliche Entwicklung darauf, die sachlich schöpferische Kulturleistung von dem gesamten Kulturstand der Indivi­ duen mehr und mehr zu differenzieren. Die Dissonanzen des modernen Lebens – ins­ besondere das, was sich als Steigerung der Technik jedes Gebietes und als gleichzei­ tige tiefe Unbefriedigung an ihr darstellt – entspringen zum großen Teil daraus, dass zwar die Dinge immer kultivierter werden, die Menschen aber nur in geringerem Maße imstande sind, aus der Vollendung der Objekte eine Vollendung des subjektiven Lebens zu gewinnen.“ 39  Zum Recht als Kulturerscheinung vgl. die Nachweise bei G. Sprenger (1991), S.  134 ff. 40  Der Begriff ‚Institution‘ besitzt keine allgemein anerkannte Bedeutung und wird deshalb auch von mir in einem wechselnden Sinne gebraucht. Meistens verstehe ich den Begriff im weiten Sinne als „the humanly devised constraints that structure poli­ tical, economic and social interactions, [which] consist of both informal rules (sanc­ tions, taboos, customs, traditions, and codes of conduct), and formal rules (laws, property rights)“ (D. C. North, 1991, p. 97). Gelegentlich verstehe ich den Begriff jedoch auch (im Anschluss an M. Hauriou, 1925) im engeren Sinne als eine unter



A. Historie, Genese, Historiogenese13

soziale Verbindlichkeit beanspruchen und deren Verbindlichkeit einer Kultur als so wichtig erscheint, dass sie ihre Durchsetzung der Herrschaft von Nor­ men unterlegt und spezielle Machtmittel, um sie durchzusetzen, entwickelt. Die Erforschung dieser Artefakte ist alsdann eine Aufgabe, in die sich Historiogenese, Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung teilen. Die Rechts­ geschichte beschäftigt sich vorwiegend diachronisch mit der Erforschung des Werdens von rechtlichen Institutionen und Normen innerhalb empirischer Rechtsordnungen,41 die Rechtsvergleichung vorwiegend synchronisch mit der Erforschung von Übereinstimmungen und Differenzen von rechtlichen Institutionen und Normen in verschiedenen Rechtsordnungen, die dasselbe Regelungsproblem zu lösen versuchen. Die historiogenetische Forschung beschäftigt sich dagegen sowohl mit den diachronischen Faktoren, die für die Entwicklung maßgeblich wurden, als auch mit den synchronischen Faktoren, die von dieser Grundlage aus in ausgewählten Rechtsordnungen zu entweder gleichen oder unterschiedlichen rechtlichen Institutionen oder Normen ge­ führt haben. Vor allem aber bezieht sie zusätzlich zwecks Erklärung der diachronischen Entwicklung gleicher Faktoren die genetische und soziale Evolution des Menschen in die Betrachtung ein, die auch die Entwicklung der Bedürfnisse und Interessen und ihrer Befriedigung umfasst, sodass man in Kürze sagen kann: Die Aufgabe der historiogenetischen Erforschung des ‚Rechts‘ besteht darin, die Gesamtheit derjenigen Faktoren zu erfassen, die aufgrund gleicher Bedingungen zu gleichen und aufgrund unterschiedlicher einer Leitidee stehende und mit normativer Kraft ausgestattete Organisation von Mit­ teln, die entweder einem gesellschaftlichen Kollektiv zur Interessenbefriedigung (‚so­ ziale Institution‘) oder einem Staat zur Erfüllung seiner staatlichen Herrschaftsauf­ gabe (‚politische Institution‘) dienen (dazu E.-J. Lampe, 2008, S. 80 ff.). Welcher Sinn jeweils gemeint ist, ergibt sich aus dem Zusammenhang oder wird von mir ei­ gens angezeigt. 41  Vgl. F. Wieacker (1967), S. 15 Fn. 5: „Ziel und Methode der Rechtsgeschichte sind keine anderen als die der allgemeinen Geschichte: … Sie will durch Erschlie­ ßung der geschichtlichen Dimension des Rechts vergangene (und möglicherweise noch geltende) Rechtsordnungen besser verstehen. … Sie hat durchweg Sachverhalte und Texte zum Gegenstand, die auf eine Ordnung des menschlichen Zusammenlebens durch das spezifische Mittel des Rechts, d. h. durch allgemeine und durchsetzbare äußere Verhaltensgebote (und nicht etwa durch Gewalt, Orakelsprüche, religiöse oder sittliche Vorstellungen oder durch Wirkungen auf Trieb und Gefühl) ausgingen …“ Weitergehend meint G. Dulckeit (1950, S. 10), die Rechtsgeschichte habe auch die Aufgabe, die Entfaltung des Rechtsbegriffs darzustellen. Hiergegen ist jedoch einzu­ wenden, dass die Entfaltung des Rechtsbegriffs allenfalls die Aufgabe einer „Univer­ salrechtsgeschichte“ (L. Wenger, 1927) sein kann, wenn diese sich die Aufgabe stellt, „womöglich die Rechte aller Völker zu erforschen, der lebenden wie der toten, und zwar nicht nur, was die objektive Rechtsordnung, sondern auch was die Betätigung der Rechtsordnung im subjektiven Rechtsleben betrifft“ (J. Kohler, 1915, S. 1, 14, 16 ff.).

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Teil I: Entwicklung

Bedingungen zu unterschiedlichen historischen Entwicklungen von ‚Rechtsordnungen‘, d. h. ausdifferenzierten Gesamtheiten (‚Kodifikationen‘) recht­ licher Institutionen und Normen zwecks Befriedung menschlicher Bedürfnisse und Interessen, geführt haben.

B. Die Aufgabe: Erforschung der Historiogenese des Rechts Nachdem ich den Begriff ‚Historiogenese des Rechts‘ umrissen habe, stelle ich mir die Frage, wie sich ihre Erforschung methodisch bewältigen lässt. Ich erleichtere mir die Antwort zunächst, indem ich sie in den Teilen II und III meiner Arbeit schwerpunktmäßig auf Rechtskulturen des frühen Al­ tertums beschränke und von ihnen diejenigen auswähle, die uns schriftliche Zeugnisse hinterlassen haben, sodass deren Geschichte teilweise bereits er­ forscht (und bisweilen sogar in universalgeschichtlicher Absicht verglichen42) worden ist. Die hochkomplizierte Aufgabe, die Historiogenese des Rechts in der Neuzeit (seit Mitte des 17. Jh.s) und der Gegenwart zu erforschen, ver­ schiebe ich auf einen abschließenden Teil IV. 1. Die Konkretisierung der Aufgabe Die Methode der historiogenetischen Erforschung des Rechts muss ihrer Aufgabe angepasst sein, die äußere (historische) Entwicklung des Rechts auf übereinstimmende innere (genetische) Faktoren und auf gleiche (Umwelt-)Be­ dingungen, Unterschiede in der Rechtsentwicklung dagegen auf entweder un­ terschiedliche innere (genetische) Faktoren oder auf die Einwirkung unter­ schiedlicher (Umwelt-)Bedingungen zurückführen. Sie entspricht daher in etwa der Methode der vergleichenden Erforschung der Sprachentwicklung, die es ebenfalls einerseits mit inneren (genetischen) Faktoren, andererseits mit Ein­ flussfaktoren aus der natürlichen und sozialen Umwelt zu tun hat.43 Sie muss 42  Dazu J. G. Lautner (1933). Er unterscheidet zwischen einer allgemeinen antiken Rechtsgeschichte, deren Hauptaufgabe „die Herausarbeitung der den verschiedenen Rechtssystemen innewohnenden übereinstimmenden Rechtsgedanken“ sei (S. 37), und einer vergleichenden antiken Rechtsgeschichte, deren Aufgabe u. a. darin bestehe, unsichere oder bruchstückhafte Überlieferungen einer Rechtsordnung durch einen Blick auf andere, auf gleicher Kulturstufe stehende Rechtsordnungen zu sichern oder zu ergänzen, sofern dort gleichartige Rechtsprobleme unter gleichartigen Umständen gelöst werden mussten. Die Methoden beider Forschungsrichtungen können nach seiner Meinung nebeneinander bestehen, da „Untersuchungen der universalrechtsge­ schichtlichen Methode … auf den Forschungsergebnissen von Arbeiten im Sinne der komparativen Methode aufbauen“ (S. 72 f.). 43  Das Bestreben, die historische und vergleichende Rechtswissenschaft zu einer – der vergleichenden Sprachwissenschaft entsprechenden – „vergleichenden Rechtsge­



B. Die Aufgabe: Erforschung der Historiogenese des Rechts 15

•• eine Typologie rechtlicher Institutionen und Normen zugrunde legen. Da Typen das Ergebnis von (wertenden) Abstraktionen sind, müssen alle Be­ sonderheiten rechtlicher Institutionen und Normen, die auf atypische Ur­ sachen zurückzuführen sind, ausgeschieden werden (dazu unten a). •• Veränderungen in den Typen rechtlicher Normen und Institutionen auf das Wirken innerer (genetischer) Faktoren und/oder äußerer Umwelteinflüsse zurückführen. Sie muss insbesondere deutlich machen, dass analytisch isolierte gleiche Faktoren in den untersuchten Rechtsordnungen gleiche Effekte, unterschiedliche dagegen unterschiedliche Effekte hervorgebracht haben, weshalb die Veränderung eines der Faktoren konsequent zu einer Veränderung der entsprechenden Rechtsordnung führen musste (dazu un­ ten b α). •• nachweisen, dass Übereinstimmungen von rechtlichen Institutionen und Normen nicht lediglich Auswirkungen entweder von Diffusion oder kultur­ übergreifenden Willensentscheidungen sind, die statt so auch anders hätten ausfallen können und deshalb ausschließlich ein Teil der Rechtsgeschichte sind (dazu unten b β). Diesen Anforderungen kann die Forschung in ihrer gegenwärtigen Früh­ phase nur annähernd gerecht werden, sodass Abstriche – wie die erwähnte Beschränkung auf frühantike Rechtsordnungen – nicht nur notwendig sind, sondern auch Freiräume für weitere Forschungen schaffen. a) Formulierung einer kulturenübergreifenden Typologie rechtlicher Ordnungen und Institutionen Bereits die Schwierigkeiten, die sich der Formulierung einer kulturüber­ greifenden Typologie rechtlicher Institutionen und Normen entgegenstellen, sind gewaltig. Den Vertretern eines strengen ‚kulturellen Relativismus‘ gal­ ten sie für schlechterdings unüberwindbar, weil dafür die Unterschiede zwi­ schen den einzelnen Kulturen viel zu groß seien. Sofern im Einzelfall Über­ einstimmungen beständen, seien sie entweder das Ergebnis von Zufällen oder aber der ‚Diffusion‘, d. h. der Verbreitung einer kulturellen Errungenschaft von einem Volk auf das andere.44 schichte“ zusammenzuführen, um „die Naturgesetze festzustellen, welche die Ent­ wicklung des Rechtsphänomens bestimmen und beherrschen“, finden wir klar formu­ liert bei M. Rotondi (1933), S. 15 ff. Die Bedenken hiergegen finden wir, ebenso klar formuliert, u. a. bei W. Mincke (1984), S. 318 ff. (dazu unten a a. E.). 44  Kritisch Ch. Thies (2004), S. 116 f. Er stellt neben (a) die historische Erklärung des Diffusionismus (Beispiele: Demokratie und Wissenschaft, die seit dem 5. Jh. v. u. Z. von Griechenland aus in fast alle Kulturkreise vorgedrungen sind) als Alternativen (b) die ökologische Erklärung des Funktionalismus (Beispiele: Bewässe­

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Teil I: Entwicklung

Dieser kulturelle Relativismus hatte seinen Ursprung in den Feldforschungen von Ethnologen, die, überwältigt von der Mannigfaltigkeit der Kulturen und der Unter­ schiedlichkeit der darin vertretenen Anschauungen, nicht nur jeden ‚Ethnozentrismus‘ bei der Bewertung von Kulturen ablehnten, sondern anfänglich auch das Vorhanden­ sein unterschiedlicher kultureller Institutionen und Normen zum Abgrenzungskriteri­ um zwischen eigenständigen Kulturen machten. Inzwischen hat man den empiristi­ schen Ansatz jedoch als zu einseitig erkannt. Er war Folge einer Blickverengung auf die Eingeborenenstämme Afrikas und Australiens, auf die Indianerstämme Nordame­ rikas und auf die Inselbewohner des Pazifiks. Die kulturelle Einheit von stärker zivi­ lisierten, komplexen und für kulturellen Austausch offenen Kulturen erschien als eine Randerscheinung und verleitete dazu, die Fülle der allen Menschen gemeinsamen Eigenschaften in ihrer Bedeutung zu verkennen.45

Wenn ein kultureller Relativismus heute noch vertreten wird, stützt er sich auf die Annahme, dass nicht der Mensch die Kultur, sondern die Kultur den Menschen forme. In reiner Form wird diese Annahme zwar nur noch selten vorgetragen;46 aber dass ein starkes Determinationsgefälle von der Kultur zum Individuum besteht, erscheint zumindest den Vertretern der ‚Cultural Anthropology‘ als offensichtlich. Die menschliche Seele, wesentlicher Faktor für alles Kulturelle, besitzt nach ihrer Meinung eine nahezu unbeschränkte ‚Plastizität‘; kulturelle Universalien hätten daher nicht in übereinstimmenden psychischen Strukturen des Menschen ihre Ursache, sondern in historischen Zufälligkeiten oder Diffusionen. Dabei übersehen sie jedoch, dass die Einheit der modernen, zivilisationsgeprägten Kultur nicht in einer erworbenen, son­ dern in einer ursprünglichen Einheit des Kulturellen seinen Ursprung haben muss. Wie sonst sollten kulturelles Verständnis, kultureller Austausch und wechselseitige kulturelle Beeinflussung, also Diffusion, jemals möglich ge­ wesen sein? Der menschlichen Seele wohnt offenbar eine große Anzahl von Faktoren inne, die sämtlich zur Kultur hinleiten und anschließend in deren Erzeugnissen Ausdruck finden. Die Kulturrelativisten schätzen den Wir­ kungsbereich dieser Faktoren viel zu klein ein.47 rungslandwirtschaft in Verbindung mit Städtebau in allen Flussuferkulturen) und (c) die anthropologische Erklärung etwa des Strukturalismus (Beispiele: Gemeinsamkei­ ten in den Tiefenstrukturen der Sprachen, Mythen und Moralsysteme aller antiken Kulturen) und fährt fort: „Wahrscheinlich spielen alle drei Möglichkeiten in der Menschheitsgeschichte eine Rolle.“ 45  Vgl. dazu jetzt Ch. Antweiler (2009). 46  Ehemals waren F. Boas (1858–1942) und seine Schüler Vertreter dieser Extrem­ position; in Deutschland stand ihr A. Gehlen nahe. „ ‚Es gibt nichts, was es nicht gäbe‘ – das ist sozusagen der abstrakte Ertrag dieser Kulturforschung“ (A. Gehlen, 1961, S. 22). Schlechthin alle seelischen Bedürfnisse und Intentionen seien dem Men­ schen anerzogen. Der Mensch sei in positiver Wertung mithin als das absolut kultu­ roffene, in negativer Wertung als das restlos manipulierbare Wesen zu begreifen. 47  Nach einer gemäßigten Position (vertreten vor allem von A. I. Hallowell, A. L. Kroeber, E. Sapir und C. Geertz) sind die Bedürfnisse und Intentionen des Menschen



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Ziel einer vergleichenden Untersuchung der Rechtsentwicklung kann aller­ dings auch nicht sein, rechtliche Institutionen und Normen in möglichst vie­ len Kulturen unverändert wiederzufinden, um eine von außerrechtlichen Gegebenheiten weitgehend unbeeinflusste Genese des Rechts nachzuweisen. Mannigfaltige Gründe stünden einem solchen Versuch entgegen. Zum einen bestehen zwischen den Rechtsbegriffen unterschiedlicher Sprachen unver­ meidbare Bedeutungsunterschiede. Das Wort ‚König‘ beispielsweise besitzt eine andere Bedeutung als das Wort ‚rex‘ und das Wort ‚šarrum‘; das eine Wort kann daher nur notdürftig als Übersetzung für das andere dienen. Selbst innerhalb derselben Sprachgeschichte haben sich die Bedeutungen von Wör­ tern gewandelt: Das Wort ‚Eigentum‘ bezeichnete beispielsweise in der mit­ telhochdeutschen Sprache noch ein ‚besonders freies Besitzrecht‘ und ließ damit seine Herkunft vom althochdeutschen Wort ‚eigan‘ (= ‚in Besitz ge­ nommen‘, ‚besessen‘; vgl. noch heute ‚leibeigen‘) erkennen; in der gegen­ wärtigen Juristensprache48 bedeutet es dagegen das rechtliche Gehören von Sachen im Gegensatz zum bloßen ‚Besitz‘. Ähnlich haben sich im romani­ schen Rechtskreis die Begriffe ‚dominium‘, ‚esse in bonis‘49 und ‚possessio‘ gewandelt. Gleichwohl sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Rechtskulturen nicht derart stark ausgeprägt, dass die eigene (scil. deutsche) Sprache schlechthin außerstande wäre, das in einer fremden Sprache Ge­ meinte einigermaßen zuverlässig zum Ausdruck zu bringen. Denn eine ‚Fa­ milienähnlichkeit‘ besitzen die gegenübergestellten Rechtsbegriffe allemal; und was sie voneinander trennt, können erklärende Zusätze behutsam heraus­ heben.50 Damit ist auch schon gesagt, dass man einerseits mit normativen und ins­ titutionellen Kernbereichen zu rechnen hat, die über alle Kulturen hinweg in der Menschheit verankert sind und die deshalb – unabhängig voneinander – in (fast) allen Völkern ab einem gewissen Enwicklungstand funktional glei­ dagegen zwar primär naturhaft determiniert und kulturell lediglich überdeterminiert. Nichtsdestoweniger wird die kulturelle Überdetermination als so bedeutsam und als so variantenreich begriffen, dass der kulturelle Relativismus auch für diese Position der beherrschende Aspekt bleibt. Der Mensch gilt innerhalb dieser Position als ein „kulturelles Artefakt“ (C. Geertz, 1992, S. 72 ff.). Zutreffend wendet W. Rudolph (1971), S. 63, dagegen jedoch ein: „Der Mensch als das (biotisch) ‚nicht festgestellte Tier‘ … kann auch durch die kulturelle Prägung nicht zu einem ‚Gewohnheitstier‘ ‚festgestellt‘ werden. … Keine Kultur kann sich erlauben, die ihr angehörigen Men­ schen so zu gängeln, dass sie unfähig zu Entscheidungen, d. h. zu Urteilen und Wer­ tungen, werden.“ 48  Die Alltagssprache ist nicht so genau. Doch würde jede rechtsvergleichende Untersuchung uferlos werden, wenn sie außer der Juristensprache auch noch die des Alltags berücksichtigte. 49  = ‚im Besitz der Güter (einer Erbschaft) sein‘. 50  Das übersieht W. Mincke (1984), S.  320 f.

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Teil I: Entwicklung

che oder zumindest gleichartige Rechtserscheinungen hervorgebracht haben. Man denke an die Ehe als ein fest geknüpftes Band zwischen zwei Menschen (bisher Mann und Frau); an die Ausbildung von Familien, in denen der Vater, an Sippen (bzw. Clans), in denen der Älteste, an Stämme, in denen der Häuptling eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Herrschaftsposition in­ nehatte; an den religiösen Kult, der zunächst den Ahnen, dann den Hausgöt­ tern, dann den Stammes- oder Stadtgöttern und schließlich dem einen Welt­ gott galt; an die Herausbildung von Vermögensrechten, deren Innehabung sich von der Gemeinschaft über Zwischenstufen allmählich auf den Einzel­ nen verlagerte; und an das Entstehen von förmlichen Gerichten sowie von geregelten Verfahren, worin Streitigkeiten verhandelt und verglichen oder entschieden werden.51 Solche universell gewordenen Rechtserscheinungen zu erkunden und ihre funktionale Äquivalenz, aber auch ihren Wandel im Laufe der Zeiten genauer herauszuarbeiten, ist eine durchaus lösbare Aufgabe der (historischen) Rechtsvergleichung. Es steht andererseits freilich auch fest, dass äußere Einflüsse, etwa militärische Gewalt, das Eindringen fremder Rechtsanschauungen, die spontanen Willensbekundungen einzelner Machtha­ ber oder gewisse Modeerscheinungen die Entstehung, den Wandel oder den Untergang von Rechtsinstituten verursachen können. Diese Einflüsse menschlicher Willkür oder Gewalt sind, weil zufällig und daher (fast) aus­ schließlich der Geschichte zugehörig, aus der historiogenetischen Untersu­ chung auszuscheiden;52 hierbei kann die Rechtsvergleichung wertvolle Hilfe leisten. b) Aufweis von Gesetzmäßigkeiten für die Entstehung, den Wandel und den Untergang rechtlicher Ordnungen und Institutionen Die Möglichkeit, durch den Aufweis von Gesetzmäßigkeiten die Entste­ hung, den Wandel und den Untergang typischer rechtlicher Institutionen und Normen zu erklären,53 ist wiederholt verneint worden. Zur Begründung der Verneinung wurden zwei Argumentationen vorgetragen: Einzelheiten dazu unten G 4 i. Lautner (1933), S. 42. 53  Nach dem Hempel-Oppenheim-Schema gilt eine Tatsache dann als erklärt, wenn sie deduktiv aus einer Kombination von Aussagen über Einzelfaktoren mit Gesetzes­ aussagen abzuleiten ist. Benötigt werden danach (a) eine Klasse von Faktenaussagen F , F … F und 1 2 n (b) eine Klasse von Gesetzesaussagen G , G … G , um 1 2 n (c) ein Ereignis E deduktiv als Konsequenz hieraus zu erklären. Dieses Schema lässt sich für Erklärungen innerhalb der Historiogenese des Rechts aus zwei Gründen nur mit Einschränkungen anwenden. Zum einen würde es hier Erklärung und Voraussage gleichsetzen: Nur wenn ein gemäß dem Schema erklärtes E vorausgesagt werden kann, gälte es als erklärt. Die meisten historischen Erklärun­ 51  Einige 52  J. G.



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(α) Erster Einwand: Leugnung jeder Gesetzmäßigkeit. Am häufigsten fin­ den wir eine Behauptung, die auf die Leugnung jeder wie immer gearteten Gesetzmäßigkeit in der Rechtsentwicklung hinausläuft. Menschliche Ge­ schichte, heißt es, sei kein sich selbst entwickelnder Prozess, bei dem die Menschen lediglich interessierte Zuschauer sind; sie werde vielmehr von den Menschen ‚gestaltet‘.54 Und was für die allgemeine Geschichte gelte, müsse genauso für die Rechtsgeschichte gelten: Aus eigener Kraft vermöge sie nicht voranzuschreiten; vielmehr komme freies menschliches Wirken darin zum Ausdruck und bringe jeden Fortschritt hervor. Kurz gesagt: Das Recht entwickle sich nicht – es werde entwickelt. Wer gleichwohl von einer ‚Evo­ lution des Rechts‘ spreche, tue das in einem metaphorischen Sinne.55 Darauf ist zu erwidern: Wenn das Recht sich nicht entwickelt, sondern le­ diglich ‚entwickelt wird‘ – wer hat dazu die Macht? Derjenige, der dazu ei­ gens berufen ist, es zu schaffen, abzuändern oder aufzuheben: der ‚Gesetzge­ ber‘? Das hieße, lediglich ein Abstraktum an die Stelle jener mit sagenhafter Macht ausgestatteten Personen setzen, die angeblich früher den Menschen das Recht ‚gaben‘ und, wenn nötig, es ‚entwickelten‘– etwa des Sonnengot­ tes Re, des Kreterkönigs Minos oder des Göttervaters Zeus –, ohne dass diesem Abstraktum ein höherer Erklärungswert zukäme. Und es hieße vor allem verdecken, dass der konkrete Gesetzgeber von einem Jahrzehnt aufs andere wechseln kann und die Frage dann offenbleibt: ob nicht innerhalb der immerwährenden Folge von Gesetzgebern sich etwas entwickelt, das über diese Folge hinausweist und sie zu einer übergreifenden Einheit verbindet? Auf all diese Fragen erhalten wir die beste Antwort von jenen Völkern, deren Recht nicht auf Gesetzgebungsakten, sondern auf ständiger Übung oder auf Gerichtsentscheidungen beruht. Bei ihnen zeigt sich, dass es vor allem die immerwährenden Versuche zur Anpassung an die Erfordernisse des sozialen Lebens gewesen sind und weniger Versuche zur freien Daseinsgestaltung, welche das Recht vorangetrieben haben – weshalb menschliche ‚Gestaltung‘ gen enthalten indessen kein Voraussageelement; ihre Erklärung lässt vielmehr die Zukunft offen. Zum anderen ließe das Schema nur unzweifelhafte Erklärungen zu. Die meisten historischen Erklärungen können indes angezweifelt werden, indem an­ dere Fakten oder andere Gesetzmäßigkeiten für E angeführt werden. Durch die An­ gabe von historischen Fakten und historischen Gesetzmäßigkeiten muss E daher be­ reits dann als erklärt gelten, wenn deren Angabe einen Beitrag zu seinem Verständnis leistet. Näher dazu D. W. Theobald (1973), S. 150 ff. 54  G. Wiswede/Th. Kusch (1978), S. 63 ff.; H. Esser (2000), S. 349 ff.; u. a. 55  Im Hinblick auf die Kulturgeschichte vgl. O. Spengler (1923), S. 28: „Die Menschheit hat kein Ziel, keine Idee, keinen Plan, so wenig die Gattung der Schmet­ terlinge oder der Orchideen ein Ziel hat. ‚Die Menschheit‘ ist ein leeres Wort.“ Im Hinblick auf die Rechtsgeschichte vgl. E. B. Gager (1919), p. 618: So wenig wie ein Haufen Ziegel die Tendenz in sich trägt, ein Haus zu werden, so wenig trägt das Recht als solches eine ‚Tendenz‘ in sich.

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Teil I: Entwicklung

nur ein in der Rechtsgeschichte wirksamer Faktor war und wahrscheinlich nicht einmal der wichtigste. Was aber sind dann jene ‚Erfordernisse des sozialen Lebens‘, die den ver­ mutlich wichtigeren Faktor bilden? Werden sie nicht ebenfalls von den Men­ schen ‚gestaltet‘? Oder werden sie den Menschen von der Natur – der eige­ nen oder der sie umgebenden – vorgegeben, etwa durch die Ausbreitung einer Seuche oder durch eine Veränderung des Klimas? Die Antwort lautet: Beides ist der Fall oder kann es sein. Einesteils schaffen sich die Menschen selber ihre sozialen Probleme, die sie anschließend mithilfe von Rechtsnormen zu lösen versuchen; anderenteils stehen sie vor Problemen, die sie nicht, zumin­ dest nicht bewusst und auf keinen Fall planvoll, geschaffen haben. Ein Beispiel: In Altmesopotamien und Altägypten trocknete die Erde nach der Eiszeit aus und verengte den Lebensraum. Es entstanden Wüsten, die die Menschen zwangen, sich in den Flusstälern und Oasen anzusiedeln, anstatt wie bisher als Jäger und Sammler frei umherzuschweifen. Um die verringerten Jagdmöglichkeiten zu kompensieren, mussten die Menschen Tiere domestizieren, und um dieselbe Menge an Früchten wie bisher zu ernten, mussten sie den Boden kultivieren und zu diesem Zweck den Wasserhaushalt regulieren. Das alles taten sie und lösten damit die Pro­ bleme, die ihnen ihre Umwelt vorgab. Aber sie lösten sie so erfolgreich, dass sie im verengten Lebensraum sich explosionsartig vermehrten – und damit sich selber wie­ der neue Probleme schufen. Denn mittelbar zwangen sie sich dadurch, ihre Siedlun­ gen zu verdichten sowie Städte zu gründen und diese durch Mauern gegen feindliche Übergriffe abzusichern. Dazu bedurften sie freilich vieler weiterer Fortschritte: in der Güterproduktion, in der Kapitalakkumulation, in der Technik, in der Organisation und in der Verwaltung. Das aber war wiederum Auslöser für die Erfindung der Schrift. Und infolge der Erfindung der Schrift entstand nunmehr etwas ganz Neues: eine staatlich durchorganisierte Gesellschaft. Sie war die bestmögliche Form der Anpas­ sung an die neue Situation: beruhend auf einer autoritären Macht, die mittels ver­ schrifteter genereller Normen das soziale Leben ordnete, durch Androhung von Sanktionen die Ordnung festigte und durch ihre metaphysische Legitimation sich als gemeingültig etablieren konnte. Diese Macht war das Recht.

Führen wir uns nunmehr die innere Entwicklung und deren Konsequenzen vor Augen, die sich anschloss, als das Recht – teils ungeplant, teils aufgrund vorausschauender Planung – entstanden war. Im Laufe der Zeit wurde es, da man seine Vorteile erkannt hatte, immer mehr zur bewussten Gestaltung der nahen und ferneren Zukunft eingesetzt. Die Möglichkeit hierfür schuf eine höhere Geistesbildung, die in den Tempeln und Schulen vermittelt wurde, wo man das Wissen der damaligen Zeit sammelte und es an die nachfolgende Generation weitergab. Die Normen des Rechts konnten daher nunmehr den Bau von Gemeinschaftseinrichtungen, die Abschöpfung von Wasser aus Flüssen und Kanälen, die Bevorratung mit Getreide, die Leistung von sozia­ len und militärischen Diensten und vieles andere organisieren, was der Vor­ aussicht und dem Willen eines Stadtherrn, eines Königs oder einer Beamten­



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schaft entsprang und seine Legitimation im Nutzen für die Gemeinschaft fand. Auch trat an die Stelle religiöser häufig eine weltliche Formenstrenge: etwa für die Eheschließung und Ehescheidung, für die Ehelichkeit und Erb­ folge von Kindern, für die Adoption, für den Abschluss und die Sicherung von Verträgen, für die Rechtsfolgen bei Vertragsverletzungen u. a. m. Auch hoheitliche Befehle – für die Bewässerung und die Bebauung des Bodens, für die Beschäftigung von Arbeitskräften, für die Bevorratung mit Produkten, für den Schutz des Hausfriedens, für den Frieden in der Stadt u. a. m. – ergin­ gen streng förmlich und wurden mit vorbestimmten Sanktionen für den Fall ausgestattet, dass sie nicht befolgt würden, damit sie sich formelhaft im Be­ wusstsein der Menschen einnisten konnten. Das Recht erreichte auf diese Weise einen hohen Differenzierungsgrad und konnte so den immer komple­ xer werdenden sozialen Verhältnissen gerecht werden. Methodisch gesehen, liegt in der Zweckbewusstheit, mit der die Normen der Rechts allmählich gesetzt wurden und worin sie sich von denen der Sitte klar unterschieden, ein nicht wegzudiskutierender Unterschied zur biologischen Evolution, weil diese ohne bewussten Zweck verläuft. Dennoch zwingt dieser Umstand uns nicht, der Ent­ stehung und dem Wandel des Rechts den Namen ‚Evolution‘ zu versagen; denn deren wesentlichen Charakteristiken – Anagenese und Irreversibilität – haben auch den Gang durch die Geschichte mitbestimmt. Freilich darf man auch niemals aus den Augen verlieren, dass es sich bei der rechtlichen um eine spezifisch menschliche Art der Evolution handelte56 – um eine Evolution nämlich, die sich nicht durch geneti­ sche Anpassung des Menschen an die Umwelt, sondern durch die kulturelle Anpas­ sung der Umwelt an den Menschen, an seine Bedürfnisse und an seinen Gestaltungs­ willen, vollzog.57

(β) Zweiter Einwand: Behauptung einer zu großen Komplexität der Einflussfaktoren. Gegen die Redeweise von einer ‚Historiogenese des Rechts‘ richtet sich noch eine andere Argumentation. Sie lautet: Selbst wenn das Recht aufgrund von Anagenese und Irreversibilität evolviere, sei doch die Vielzahl bzw. Komplexität der Einflussfaktoren so ungeheuer groß, dass sie verhindert, die exakten Gründe für bestimmte Effekte festzustellen. Denn selbst dort, wo eine Entwicklungsübereinstimmung besteht, die sich als Aus­ fluss einer Gesetzmäßigkeit deuten lässt, sei man niemals sicher, ob sie nicht in Wahrheit das Produkt eines Zusammenwirkens von ganz unterschiedlichen Faktoren und somit bloßer Zufall ist. Folgende Möglichkeiten seien nämlich nicht auszuschließen: Die übereinstimmenden Entwicklungen haben eine

56  Übereinstimmend W. J. Brown (1920), p. 398: „ ‚Legal evolution‘ is evolution of a particular character, if it be conceded that legal change exhibits the processes which constitute the stock in trade of the evolutionist in biology.“ Vgl. ferner E.-J. Lampe (1993), S. 207 ff. 57  Th. Dobzhansky (1966), S. 165 f. Zur selektiven Leistung der Kultur vgl. W. Rudolph (1971), S.  66 ff.

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Teil I: Entwicklung

andere als die angenommene Ursache.58 Oder sie haben verschiedene Ursa­ chen, die dennoch zur gleichen Entwicklung führen, weil eine Zusatzursache den Unterschied der Ursachen ausgleicht.59 Oder sie können durch eine we­ niger komplexe Ursache als die angenommene begründet sein. Wegen dieser Eventualitäten sei es methodisch unzulässig, von der Gleichheit einer Ent­ wicklungsreihe auf die Gleichheit der Faktoren, die sie bewirkt haben, zu­ rückzuschließen. Die Redeweise von einer ‚Evolution des Rechts‘ sei also zwar nicht notwendig falsch, wissenschaftlich aber letzthin unergiebig. In der Tat ist der angeführte Einwand nicht ganz unberechtigt. Indessen weist er nur auf eine methodische Schwierigkeit hin, welche die Auffindung von Gesetzmäßigkeiten innerhalb komplexer Zusammenhänge überall beglei­ tet; er legitimiert dagegen den Wissenschaftler nicht, die Suche nach Gesetz­ mäßigkeiten in der Rechtsentwicklung gar nicht erst in Angriff zu nehmen und sich stattdessen aufs Faulbett zu legen. Aber sie warnt immerhin: Ent­ deckt der Wissenschaftler eine Regelmäßigkeit, der er Gesetzescharakter zu­ schreibt, so ist er nur berechtigt, sie als eine Erklärungshypothese anzubieten. Denn das von ihm gefundene Gesetz ‚gilt‘ nur solange, bis es durch neue Erkenntnisse modifiziert oder falsifiziert wird.60 Das freilich ist letzthin ebenfalls ein evolutiver Prozess (und überdies das Schicksal der meisten wissenschaftlichen Erkenntnisse). Zumindest eine Einschränkung ist indessen noch zu beachten: Selbst wenn eine evolutive Gesetzmäßigkeit für das Recht nachgewiesen oder wenigstens wahrscheinlich gemacht wird, ist damit noch nichts über ihre Bedeutung für den historischen Prozess der Rechtsentwicklung ausgesagt. Denn innerhalb eines historischen Prozesses können die vorangegangenen Zustände die nachfolgenden niemals vollständig, sondern stets nur ausschnittsweise erklä­ ren, so dass zur Vervollständigung zusätzliche Antecedensbedingungen ein­ geschoben werden müssen.61 Demnach hängt es auch von der Art und vom 58  Beispiel: Die agnatische Verwandtschaftsstruktur verschwindet regelmäßig, so­ bald ein Staat mit einer stratifizierten Gesellschaftsstruktur entsteht. Gleichwohl braucht weder die Entstehung eines Staates noch die einer stratifizierten Gesellschaft die Ursache für das Verschwinden der agnatischen Verwandtschaftsstruktur zu sein. 59  Beispiel: Staaten mit einer rechtlichen Ordnung entstehen regelmäßig dann, wenn die Bevölkerung innerhalb eines Gebietes über ein gewisses Maß anwächst. Gleichwohl kann auch ohne das Anwachsen der Bevölkerung ein rechtlich geordneter Staat entstehen: etwa wenn der Druck von außen so stark wird, dass die vorhandene Bevölkerung ihm nur durch eine von Rechtsnormen gestützte straffe staatliche Orga­ nisation begegnen kann. 60  Vgl. dazu auch oben Fn. 53. 61  Vgl. das Schema (4) oben A 4. Partielle Erklärungen werden von W. Stegmüller (1983), S. 146, wie folgt charakterisiert: „Das vorgeschlagene Explanans reicht nicht aus, um das Explanandum-Phänomen in all den Hinsichten, in denen es beschrieben wird, zu erklären, vielmehr liefert es nur eine Erklärung für einige dieser Aspekte. Da



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Gewicht der zusätzlichen Bedingungen ab, welchen Erklärungswert eine evolutive Gesetzmäßigkeit für einen historiogenetischen Prozess besitzt. Sind Antecedensbedingungen z. B. übereinstimmende Willensentscheidungen von zur Gesetzgebung berechtigten Potentaten, dann dürfen ihre Folgen, selbst wenn die Entscheidungen zusätzlich in vergleichbaren Situationen getroffen wurden, i. d. R. nur der historischen, nicht auch der genetischen Seite der Entwicklung zugerechnet werden. Denn obwohl menschliche Evolution mit­ samt ihren Produkten eng mit der Geschichte verzahnt ist, muss eine histori­ sche Serie gleicher Willensentscheidungen von einer genetischen Serie glei­ cher natürlicher Abläufe unterschieden werden. Z. B. führt Diffusion zu Ver­ änderungen, ohne dass ein evolutionärer Prozess dabei im Spiele ist.62 Trotz dieser Einschränkung bleibt indessen zu bedenken,63 dass zum einen derlei Erkenntnisprobleme in jede Gewichtung einfließen, die zusätzliche Antecedensbedingungen berücksichtigen muss, um eine bestimmte Folge gesetzmäßig abzuleiten, und dass zum anderen die Bewertung der Antece­ densbedingungen stets auf den Präferenzen gründet, welche Rolle man ihrem historischen und welche man ihrem genetischen Anteil zuschreibt. Werden diese Präferenzen offengelegt und sind sie, wie vorliegend, eindeutig auf die Darstellung eines evolutiven Prozesses gerichtet, dann liegt das Schwerge­ wicht der Rollenzuschreibung projektbezogen auf dem genetischen Anteil der Antecendensbedingungen, weshalb dieser zwar an Bedeutung verlieren, je­ doch, sofern vom historischen abtrennbar, im Rahmen der Erklärung von Rechtsevolution berücksichtigt werden darf. 2. Die methodische Lösung der Aufgabe Dennoch bedarf die Lösung der Aufgabe, die Historiogenese des Rechts zu erforschen, methodisch in einem ersten Teil der Sichtung des historischen Materials. Aus diesem Material können sodann (a) im Wege der phänomena­ der Erklärungsvorschlag aber meist so dargeboten wird, dass im Hörer oder Leser der Eindruck entsteht, als seien alle Hinsichten befriedigend erklärt worden, so verbindet sich mit den partiellen Erklärungen eine Irrtumsgefahr: Es wird ein stärkerer Erklärungswert vorgetäuscht als wirklich vorliegt.“ 62  W. E. Mühlmann (1984), S. 226: „Der Pflug ist aus der verlängerten Hacke ent­ standen, vor die man ein Zugtier spannte, aber dieser Fortschritt setzte eine bestimmte soziale Situation voraus, nämlich das Zusammentreffen von Hackbauern und Rinder­ züchtern. … Die logische Kette Hacke–Pflug besagt lediglich, dass irgendwann und irgendwo dieser Schritt einmal (genetisch) getan werden musste, sie besagt aber nicht, dass jede menschliche Gruppe (historisch) durch die frühere Stufe hindurch­ musste. Es kann z. B. ein Stamm ohne Kenntnis des Hackbaus den Pflug direkt als Zivilisationsimport übernehmen, z. B. Wildbeuter aus Indien.“ 63  Vgl. dazu Th. Haussmann 1991, S. 101 ff.

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len Gestaltbildung diejenigen Elemente herausgehoben werden, die sich aufgrund ihrer Einfachheit oder periodischen Wiederkehr dem Bewusstsein besonders stark einprägen und sich daher als Leitbilder zur Typenbildung eignen, und (b) diejenigen begrifflichen Bezeichnungen ausgewählt werden, die mit der geringstmöglichen Informationsvermehrung auskommen, um die rechtlich relevanten Zustände und Vorgänge der sozialen Welt gedanklich herauszuheben und zu ordnen. Begriffe der höchsten Redundanzstufe haben alsdann die besten Chancen, zu Oberbegriffen zu werden, Begriffe einer je­ weils geringeren Redundanzstufe müssen sich mit dem Status von Unterbe­ griffen begnügen. Doch sind beide Arten von Begriffen erforderlich, um jene Begriffspyramide zu erzeugen, die zur Darstellung hierarchisch aufgebauter Rechtsordnungen benötigt wird. In einem zweiten Teil können sodann diejenigen Gesetzmäßigkeiten her­ ausgehoben werden, welche zur Entstehung und Wandlung von Rechtsbe­ wusstsein sowie zur Ausbildung rechtlicher Institutionen und Normen geführt haben. Dies erfordert sechs methodische Schritte:64 (1) Zunächst ist der Ausgangszustand zu identifizieren, der einer Untersu­ chung zugrunde gelegt werden soll: die Existenz einer menschlichen Population und ihrer normativen Ordnung in einem bestimmten Zeit­ punkt (abgeschwächt: innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens). Von der Population müssen wir aus der Geschichte Kunde haben, von seiner Ordnung entweder aus schriftlichen Zeugnissen oder zumindest aus nor­ mativen Begriffen in ihrer Sprache. Daneben werden als Quellen auch für zuverlässig gehaltene Berichte zeitnaher Schriftsteller über die Be­ handlung von Streitigkeiten und andere Vorfälle von rechtlicher Relevanz anerkannt. Da sowohl der Entstehung als auch dem Wandel rechtlicher Institutionen und Normen soziale Bedürfnisse oder Interessen zugrunde liegen, identifizieren sie sowie die Organisation zu ihrer Befriedigung den Ausgangszustand mit. (2) Sodann ist derjenige Zustand einer normativen Ordnung als Zielzustand zu identifizieren, bis zu der die Entwicklung verfolgt werden soll. Wird die eigenständige Entwicklung der Ordnung durch eine gleichartige fremde Ordnung abgelöst (z. B. eine indigene Rechtsordnung von einer Kolonialmacht zugunsten ihrer eigenen außer Kraft gesetzt) oder wird die Entwicklung eines heimischen Instituts durch das Eindringen eines fremden obsolet, dann ist damit der Endpunkt der Untersuchung eben­ falls im Voraus fixiert. Im Übrigen kann der Forscher überall dort einen Endpunkt setzen, wo es ihm sinnvoll erscheint bzw. wo sein Erkenntnis­ 64  Ich lehne mich im Folgenden an das Sieben-Stufen-Modell von R. C. Clark (1981, p. 1256 ff.) an.



B. Die Aufgabe: Erforschung der Historiogenese des Rechts 25

interesse erlischt. Außerdem kann er seine Untersuchung, soweit es ihm sinnvoll erscheint, in Stadien einteilen: vom Anfangszustand a bis b, von dort bis c usf. bis zum Endzustand n – die mesopotamische Rechtsent­ wicklung etwa in die sumerisch-akkadische und die babylonische, die ägyptische in die des Alten und die des Mittleren Reiches. (3) Zwischen dem Ausgangs- und dem Zielzustand muss sich eine Differenz identifizieren lassen, die sich als normative Entwicklung (Wachstumsoder Verfallserscheinung) interpretieren lässt. Den Begriff ‚Evolution‘ wird man ausschließlich für eine Wachstumsentwicklung im Sinne einer irreversiblen Anagenese zu reservieren haben, also eines Wandels zu größerer Bestimmtheit, größerer Ungleichartigkeit und größerem Zusam­ menhalt im Sinne der Definition von R. L. Carneiro:65 „Evolution is a change from a relatively indefinite, incoherent homogeneity to a relatively definite, coherent heterogeneity, through successive differentiations and integrations.“ Eine evolutionäre Entwicklung ist oft schwer von einer revolutionären zu unter­ scheiden. Während es bei jener um eine allmähliche Veränderung geht, stellt diese eine plötzliche Umwälzung der Verhältnisse dar, bei der die neu hinzukom­ menden Elemente die vorhandenen wesentlich überwiegen.66 Für die Beurteilung ist die geschichtliche Perspektive unmaßgeblich; denn den Zeitgenossen wird eine evolutionäre Entwicklung oft als revolutionär erscheinen. Aber auch aus der ungeschichtlichen Per­spektive werden Fragen offenbleiben: War beispielsweise der Übergang von der Klassenjustiz zur Gleichheit aller vor dem Gesetz ein evolutionärer oder war er ein revolutionärer Vorgang? Von einer kulturellen Evolution ist ferner die Vervollkommnung einzelner kultu­ reller Elemente (z. B. einzelner technischer Geräte innerhalb einer allgemeinen technischen Höherentwicklung) zu unterscheiden. Lediglich als Vervollkomm­ nung einer Rechtsordnung stellt sich z. B. die Reaktion auf den Umfang des Außenhandels mittels Verbesserung der Standardverträge dar. Rechtsevolution ist dagegen die Entwicklung von Standardverträgen und ihre Einbettung in eine globale Ausrichtung des Vertragsrechts, worin sich die Verträge entweder im Gleichschritt mit den übrigen Merkmalen der Rechtsordnungen entwickeln oder aber ihnen so voranschreiten, dass die Entwicklung insgesamt davon profitiert.

(4) Nachdem man mittels der Schritte 1–3 eine rechtliche Evolution identifi­ ziert hat, muss man in einem 4. Schritt nach den genetischen Faktoren Ausschau halten, welche die Evolution vorangetrieben haben.67 Für Ent­ 65  R. L. Carneiro (1973b), p. 90, im Anschluss an H. Spencer. Vgl. im Übrigen die Ausführungen oben A 4. 66  Vgl. oben A 4 (4). 67  Dies kann auch rückblickend geschehen, nachdem man – gemäß Schritt 6 – eine Gesetzmäßigkeit gefunden hat, die offenbar zu dem vorgefundenen Zielzustand hin­ geführt hat. Th. Mommsen (1905, S. 199) hat dieses Verfahren als das „Erkennen des

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Teil I: Entwicklung

wicklungen innerhalb der Struktur rechtlicher Normen68 wird man vor al­ lem auf psychische, für Entwicklungen ihres Inhalts vor allem auf sozio­ kulturelle Faktoren abzustellen haben69 – auch wenn, wie anzuneh­men,70 zwischen den psychischen Faktoren auf der einen und den soziokulturel­ len Faktoren auf der anderen Seite Wechselwirkungen bestanden haben. Als Beispiel diene die Erfindung der Schrift: Sobald die rechtlichen Normen schriftlich aufgezeichnet wurden, mussten sie nicht mehr als psychische Ge­ dächtnisinhalte überliefert und gelernt werden. Sie brauchten daher nicht mehr vorzugsweise die Struktur von einfachen Sprichwörtern oder Merkversen zu ha­ ben, sondern konnten detaillierter, komplexer, aber auch abstrakter werden.71 Die Erfindung der Schrift wiederum hing u. a. davon ab, dass ein die psychische Merkfähigkeit übersteigendes Maß an empirischen Daten sozial relevant wurde und daher ein soziokulturelles Mittel gefunden werden musste, um die Datenflut zu bewältigen.

(5) Des Weiteren müssen die Randbedingungen (Antecedensbedingungen) identifiziert werden, aufgrund deren die angenommenen Gesetzmäßigkei­ ten wirksam geworden sind. Neben sozialen und kulturellen Errungen­ schaften, etwa der Arbeitsteilung, kommen auch ephemere Ereignisse wie z. B. der Einfall einer feindlichen Horde, eine lange Trockenperiode oder die Ausbreitung einer Seuche innerhalb der Bevölkerung für die Rechtsentwicklung in Betracht. Nicht zu berücksichtigen sind dagegen persönliche Willensentscheidungen einzelner Personen (etwa von Herr­ schern), die nicht überwiegend Reaktionen auf äußere Umstände waren. (6) Schließend ist noch zu untersuchen, ob der für die Evolution in (3) und (4) postulierten Ursächlichkeit eine allgemeine Regel (Gesetzmäßigkeit) zugrunde liegt, die von der gleichen Ausgangslage aus unter gleichen Randbedingungen wieder zum gleichen Zielzustand führen würde. Erfor­ derlich für diese Untersuchung ist ein Vergleich mit Entwicklungen in anderen Rechtsordnungen, die unter vergleichbaren Randbedingungen stattgefunden haben. Führte z. B. die Ausbreitung der Schriftkunde über­ all zu Veränderungen im gerichtlichen Verfahren (etwa zur Zurückdrän­ gung des Ordals), dann kann dies als allgemeine Regel postuliert werden. Gewesenen aus dem Gewordenen mittels der Einsicht in die Gesetze des Werdens“ bezeichnet. Ähnlich bereits J. Kohler (1897), S. 194 f. 68  Ausschließlich auf langfristige Strukturveränderungen des gesamten Rechtssys­ tems wird die Rechtsevolution von R. Voigt (2003, S. 252) begrenzt. Indessen kann man z. B. den Übergang von mündlichen zu schriftlichen Normen, der zweifellos ei­ nen evolutionären Fortschritt darstellt, nicht als Strukturveränderung des Rechts anse­ hen. 69  Übereinstimmend W. Wundt (1918), S. 348. 70  Siehe unten D 2 c. 71  Siehe dazu unten C 2 c.



B. Die Aufgabe: Erforschung der Historiogenese des Rechts 27

Die Benutzung der vorstehend dargestellten methodischen Schritte führt, das sei nochmals betont, nicht zu stringenten Ergebnissen, wie wir sie von einigen Naturwis­ senschaften her kennen. Sie hebt aber die bisher getrennt betriebene Rechts(ent­ wicklungs)geschichte und Rechtsvergleichung aus ihrem überwiegend geisteswissen­ schaftlichen Niveau heraus und nähert sie den Naturwissenschaften so weit an, dass sie sich ihnen als Teile einer empirischen Rechtswissenschaft (verstanden als Gegen­ satz zur Jurisprudenz)72 zur Seite stellen lassen. Der Anwendung der Methode stellen sich allerdings Schwierigkeiten entgegen, die zumindest derzeit noch unüberwindlich sind. Sie beginnen mit der geschichtlichen Abgrenzung des zugrunde zu legenden Zeitraums: Wollten wir von den Anfängen des Rechts ausgehen, müssten wir festlegen, wann das Recht entstanden ist. Das aber ist schon deshalb unmöglich, weil Recht nicht überall zeitgleich und auch nicht auf ei­ nen Schlag entstanden ist, sondern sich allmählich aus den Sittenordnungen der Völ­ ker heraus entwickelt hat. Auch ist nirgends ‚das‘ Recht entstanden, sondern die eine oder die andere Sittennorm ist als Rechtsnorm stärker ins allgemeine Bewusstsein getreten. Weitere Schwierigkeiten stehen dem Vergleich von Rechtsentwicklungen entgegen. Welche Zeitabschnitte soll man dafür auswählen? Die Rechtsordnungen unterschiedlicher Völker sind weder gleichzeitig entstanden noch haben sie sich im gleichen Tempo entwickelt. Entschließt man sich deshalb, für jedes Volk eine dem gleichen Enwicklungstand entsprechende Zeitspanne zugrunde zu legen, schafft man sich neue Probleme, weil man nunmehr vor der Aufgabe steht, an den kulturellen Enwicklungstand einen Maßstab anzulegen, ohne hierfür klare Kriterien zu besitzen. So ist etwa die ägyptische Rechtsentwicklung mit der mesopotamischen nur begrenzt vergleichbar, schon weil der Enwicklungstand beider Völker niemals exakt gleich war und eben deshalb die Entwicklung teilweise anders verlief. Eine weitere Schwierigkeit bietet die Verwendung des vorliegenden Textmaterials. So sehr wir es begrüßen dürfen, wenn uns Texte aus frühantiker Zeit überkommen sind, so sehr müssen wir uns hüten, sie für eine getreue Spiegelung des lebendigen Rechts innerhalb der sozialen und politischen Realität zu nehmen. Gerade Staats­ inschriften übermitteln uns eher ein Wunschbild denn ein Abbild dessen, was tatsäch­ lich der Fall war oder von Rechts wegen der Fall hätte sein sollen. Und zusätzlich mahnt uns die an Ferdinand de Saussure anknüpfende Strukturale Anthropologie, je­ den Text auf das System zu beziehen, dessen Teil er ist und auf das hin er zu inter­ pretieren ist.73 Ich werde die genannten Schwierigkeiten nicht durchweg lösen können; aber ich werde versuchen, mir im weiteren Verlauf meiner Untersuchung ihrer bewusst zu bleiben und Wege zu finden, sie bestmöglich zu überwinden, ohne dass mein wissen­ schaftliches Ziel einer Historiogenese ‚des‘ Rechts mir aus den Augen gerät.

näher E.-J. Lampe (2014). de Saussure (1931); C. Lévi-Strauss (1977).

72  Dazu 73  F.

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Teil I: Entwicklung

C. Genetische Materialien zur Rechtsgeschichte Die menschliche Entwicklung vollzog sich, soweit wir zurückblicken kön­ nen, in der Weise, dass entweder von Gruppen oder von Einzelnen ihrer Angehörigen innovative Effekte ausgingen. Deshalb werde ich im Folgenden versuchen, einen Überblick über die Voraussetzungen für diejenigen innova­ tiven Effekte zu geben, welche die normative Ordnung des menschlichen Gemeinschaftslebens vorantrieben und die somit entweder dem Recht oder einer seiner Vorstufen zuzurechnen sind. Dabei ist zusätzlich zu beachten, dass innovative Effekte von Gruppen oder Einzelnen zwar ausgehen können, darüber hinaus aber der positiven Selektion seitens der Gemeinschaft unter­ liegen, und dass, ob diese sie selektiert oder nicht, von einer Vielzahl weite­ rer Faktoren abhängt: etwa von der Macht und dem Ansehen derer, von denen die Effekte ausgehen, flankierend von der generellen Bereitschaft der Ge­ meinschaft zur Übernahme neuer Effekte, speziell von der Möglichkeit zur Einpassung der Effekte in den Ist-Zustand der Kultur sowie von ihrer vermu­ teten Nützlichkeit für die Zukunft. Wo immer neue soziale Normen geschaf­ fen wurden, waren sie deshalb nicht nur Innovationen einzelner Gruppen oder Persönlichkeiten, sondern wesentlich auch Maßnahmen der Akzeptanz durch die Gemeinschaft. Und da sie dem psychischen Bereich angehörten, drückte sich die Akzeptanz der Gemeinschaft vor allem darin aus, dass sie sozial handlungsleitend wurden. Transsozial konnten sie sich anschließend (z. B. durch Diffusion) verbreiten, und sie taten dies, wenn sie den Bevölke­ rungsgruppen, die sie übernahmen, einen Vorteil gegenüber denen verschaff­ ten, die sich nicht nach ihnen verhielten und infolgedessen (z. B. im Kampf um Lebensraum) das Nachsehen hatten. 1. Humangenetische, ökogenetische und soziogenetische Ursachen Während die Voraussetzungen für normatives Verhalten heute global im menschlichen Gehirn gespeichert sind (unten a), gilt das für die rechtlichen Normen selbst nicht. Diese müssen vielmehr nachgeburtlich erlernt und im Gedächtnis abgespeichert werden (unten b). Angeregt, aber auch begrenzt wird das Erlernen und Abspeichern rechtlicher Normen durch das soziale und politische Umfeld, worin der Mensch aufwächst. Dieses Umfeld ist i. d. R. nicht nur unterschiedlich, sondern auch in einer ständigen Entwick­ lung begriffen, weshalb man es als Randbedingung für konkretes rechtsnor­ matives Denken und Verhalten einzuordnen hat (unten c).



C. Genetische Materialien zur Rechtsgeschichte 29

a) Biogenetische Ursachen Biogenetisch kommt der heutige Mensch nicht mit einer Psyche als tabula rasa auf die Welt,74 sondern versehen mit einer großen Anzahl von Instinkt­ residuen, die ihn auf das Überleben in einer sozialen Umwelt vorbereiten und ihm erlauben, sich darin soziokulturell weiterzuentwickeln.75 Als Er­ wachsener ist er also das Produkt nicht nur seiner biosozialen Speziesge­ schichte (Anthropogenese), sondern auch seiner soziokulturellen Individual­ geschichte (Ontogenese). Diesen von seiner Geschichte ‚geschichteten‘ Cha­rakter erfasst heute die wissenschaftliche Anthropologie, indem sie zwi­ schen den ererbten biopsychischen Faktoren, die im Laufe eines jeden Men­ schenlebens ausreifen und keiner Lernvorgänge bedürfen, und den durch Lernen erworbenen soziokulturellen Faktoren, welche die Psyche eines jeden Menschen prägen, unterscheidet sowie gleichzeitig annimmt, dass ererbte wie erlernte Faktoren sich wechselseitig beeinflussen. Die Geschwindigkeit der ausschließlich biotischen Evolution ist meistens gering gewesen. Deshalb dürfen wir vermuten, dass die menschliche Genera­ tionenfolge der letzten ca. 40.000 Jahre nicht ausreichte, um den Menschen biotisch so signifikant zu verändern, dass auch seine Rechtsentwicklung da­ von betroffen war.76 Vielmehr fand in dieser Zeit die Evolution fast aus­ schließlich im psychischen und soziokulturellen Bereich statt, indem der Mensch sich aus der Macht seiner biotischen Determinanten allmählich be­ freite und seine weitere Entwicklung vor allem auf die Kulturierung sowohl seiner selbst als auch seiner Umwelt ausrichten konnte. Die Entwicklung rechtlicher Normen war in diesen Kulturierungsprozess eingeschlossen, hatte aber keine spezifisch hirnphysiologische Grundlage.

74  So noch Thomas von Aquin, Summa theologiae I, 79, 2: „Intellectus humanus … in principio est sicut tabula rasa, in qua nihil scriptum est.“ Vgl. auch Aristoteles, De anima III 4 (430a). 75  A. Gehlen (1986b), S. 129 ff. Zu einseitig ist es, wenn R. Dawkins (1976) den Menschen als eine genetisch programmierte „Überlebensmaschine“ (survival machine) bezeichnet. Diese Einseitigkeit, die man schon im 18. Jh. beim französischen Arzt J. O. de Lamettrie (1748/1985) angekreidet hat, gilt heute allgemein als über­ holt. Mit Recht vorsichtig daher P. Finke (2005), S. 39 f.: Der Mensch ist nicht nur ein Teil der Natur geblieben, sondern hat auch seine neu erworbenen Fähigkeiten letztlich von dieser ererbt und sie zwar erheblich, aber nicht gänzlich umgestaltet; biologische Erkenntnisse darf man deshalb „für die Gewinnung eines neuen Bildes menschlicher Aktivitäten [nur] bis zu einem gewissen Grade fruchtbar machen.“ 76  Dazu R. Boyd/P. J. Richerson (1985; 2005); M. Tomasello (1999), p. 2 f.; ferner unten 2 a.

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Teil I: Entwicklung

Bis zur Zeit vor etwa 40.000 Jahren hatte der Mensch zwar gewisse kulturelle Fähigkeiten entwickelt,77 doch beschränkte sich die Entwicklung hauptsächlich auf die biogenetische Einpassung in die Umwelt: etwa im Körperbau, in der Blutzusam­ mensetzung und in der Hautfarbe. Erst danach übernahmen mehr und mehr psycho­ genetische Komponenten das Kommando und bewirkten mittels Variation und Selek­ tion des jeweils Überlebensnützlichen jenen steilen kulturellen Anstieg, aus dem auch die Normen hervorgingen. Bis zur Zeit vor ca. 15.000 Jahren war die Entwicklung allerdings primär auf die Weiterentwicklung der schon zuvor erworbenen normativen Fähigkeiten zur technischen Herstellung von Werkzeugen (aus Stein, Knochen oder Holz) gerichtet, die vor allem der Nahrungsgewinnung, Bekleidung und Behausung dienten. Es entstanden neue oder verbesserte Werkzeuge zur Jagd, zum Zerlegen der Beute, zum Abschaben der Felle, zum Abschneiden von Pflanzen usw.78 Sozialer Normen bedurfte man hauptsächlich, wenn man, wie z. B. für die Jagd, eine bestimm­ te Art der Zusammenarbeit regeln musste. Im Wesentlichen gleichzeitig erstreckte sich der Gebrauch der Werkzeuge jedoch auch schon auf den Krieg gegeneinander. Die für solche Kriege erforderlichen Normen entsprachen wahrscheinlich im Wesent­ lichen denen, die auch zur Ordnung der Jagd auf größere Tiere diente. Und wie man bei der Jagd desto erfolgreicher war, je bessere Waffen man benutzte und je besser man organisiert war, galt das auch für den Krieg: Kriege führten infolgedessen regel­ mäßig zur Ausrottung der schwächer bewaffneten und schlechter organisierten Men­ schengruppen und damit auch zur kulturellen Selektion. Dadurch schloss der Mensch nicht nur die Entwicklung neuer biologischer Spezies neben homo sapiens sapiens aus,79 sondern innerhalb der eigenen Spezies weitgehend auch die Entwicklung von technisch- und/oder sozial-normativ zurückgebliebenen Spezies. Die Zukunft gehörte den (handwerklich und organisatorisch) Tüchtigen.

b) Psychogenetische Ursachen Die Psychogenese des Menschen in den letzten ca. 15.000 Jahren beruht nur zu einem geringen Anteil auf strukturellen hirnphysiologischen Veränderun­ gen, hauptsächlich dagegen auf der quantitativen Zunahme der Neuronenver­ bände, weshalb psychische Prozesse eher auf die Hirnphysiologie strukturie­ rend eingewirkt haben als umgekehrt. Doch wie immer man das Verhältnis beurteilt, tut man gut daran, in Bios und Psyche ein sich wechselseitig bedin­ gendes und anregendes Kontinuum zu sehen – weshalb noch heute beispiels­ weise sowohl die somatische Belastbarkeit des Menschen eine Grenze für seine Psyche bildet (rechtlich z. B. ‚ultra vires nemo obligatur‘) als auch um­ 77  Nachweise bei M. Pagel (2012). Siehe zum Zeitraum von 40.000 Jahren unten Fn. 109. 78  F. Facchini (2006), S. 110 f., 119 f. 79  Außerhalb von Afrika war es offenbar zu Verpaarungen gekommen zwischen homo sapiens sapiens und homo sapiens denisova (ausgestorben vor ca. 40.000 Jah­ ren) sowie homo sapiens sapiens und homo sapiens neanderthalensis (ausgestorben vor ca. 30.000 Jahren). Aber das lag weit zurück. Weitere Verpaarungen von homo sapiens sapiens mit anderen Spezies sind bisher nicht bekannt geworden.



C. Genetische Materialien zur Rechtsgeschichte 31

gekehrt die psychische Belastbarkeit eine Grenze für das menschliche Soma (rechtlich z. B. ‚Angststarre‘ als Ausschluss rechtlicher Handlungsfähigkeit). Die anfängliche Entwicklung einer Psyche diente allen höheren Lebewesen dazu, ihr Verhalten an diejenigen natürlichen Umweltbedingungen anzupas­ sen, für die der zeitliche Spielraum einer biogenetischen Anpassung zu kurz war. Die weitere Entwicklung bestand dann in der Differenzierung (: in der thematischen Erweiterung) der Anpassungsleistungen, wobei es homo sapiens sapiens gelang, das weiteste Spektrum abzudecken: Er konnte Hitze wie Kälte ertragen, Hunger und Durst durch unterschiedlichste Nahrungsmittel stillen, sowohl in nahrungsreichen als auch in nahrungsarmen Landstrichen siedeln, Erkenntnisse nicht nur über die Gesetzmäßigkeiten der Natur, sondern auch zu ihrer Beherrschung gewinnen u. a. m. Bei allen sozialen Lebewesen dienten die psychischen Entwicklungen darüber hinaus zur Herstellung von sozialen Kontakten zu Ihresgleichen: zu Interaktionen und Kommunikationen. Denn im Gegensatz zu Organismen mit einfacher Struktur (z. B. zu den sozialen Insekten) waren diese ihnen lediglich als ein mehr oder weniger festes Funda­ ment (‚instinktoid‘) angeboren. Speziell beim Menschen beruhten sie •• auf der Neigung zu einem harmonisch geordneten Zusammenleben, die allerdings interne und externe Konkurrenz nicht ausschloss; •• auf der Neigung zur kulturellen Ordnung seiner sozialen Umwelt, z. B. auf der Tendenz, Gegenstände durch die (miteinander verwandten) Konzepte des ‚Gehörens‘ (: mein Haus, meine Familie) und ‚Gehorchens‘ (: mein Chef, mein Hund) einander ‚normativ‘ zuzuordnen; •• auf der Neigung, zukünftige Erwartungen auf frühere Erkenntnisse zu gründen, z. B. aufgrund früherer Erfahrungen Informationsdefizite hin­ sichtlich der Zukunft auszugleichen; •• auf der Neigung, zwei aufeinander folgende Zuständen mittels gedank­ licher Konzepte zu verbinden, z. B. als ‚kausalen‘ Grund eines sozialen Prozesses eine Person als ihren ‚Urheber‘ zu identifizieren und als ‚rezip­ roke‘ Folge eine adäquate Sanktion (im positiven Falle eine Belohnung, im negativen eine Strafe o. ä.) zu erwarten oder diese sogar selbst zu ver­ längern und zu vollziehen. Auf diesem Fundament globaler Neigungen erwuchsen mit der Zeit aller­ dings so viele persönliche Neigungen (und Abneigungen), dass sie, um ihre Gemeinverträglichkeit zu gewährleisten, von einer Ordnungsmacht beherrscht werden mussten. Als solche boten sich ‒ auf der Grundlage der die lebende Natur auszeichnenden generellen und der das soziale Zusammenleben aus­ zeichnenden speziellen Ordnungstendenz80 ‒ soziale Normen an. Deren Aus­ 80  Zur allgemeinen Tendenz zum Ordnungsgewinn bzw. zum ‚Komplexitätsabbau‘ vgl. noch unten J 2 d β.

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Teil I: Entwicklung

arbeitung erstreckte sich auf sämtliche Bereiche der menschlichen Psyche, also sowohl den Gefühls-, Verstandes-, Willens- als auch den Ich- (bzw. Selbst-)Bereich. Die weitere Aufgliederung ergibt Folgendes: (1) Im (vierdimensionalen) Gefühlsbereich81 lösten Typen von Zuständen bzw. Ereignissen unter gleichen Randbedingungen bei den meisten oder bei bestimmten Gruppen von Menschen gleiche Wirkungen aus, sodass diese normativ festgeschrie­ ben werden konnten – so etwa • in der Dimension ‚Lust vs. Unlust‘ gleiche Lust- oder Unlustgefühle; • in der Dimension ‚Erregung vs. Beruhigung‘ gleiche psychische Erregungszustän­ de, die allesamt ins Stadium der Beruhigung zurückzukehren trachteten; • in der Dimension ‚Dominanz vs. Submission‘ gleiche Ordnungstendenzen, die die Komplexität der wahrgenommenen Zustände bzw. Ereignisse reduzierten, indem sie ihre Eindrucksstärke hierarchisch gliederten; • in der Dimension ‚Kontrolle vs. Beliebigkeit‘ gleiche Beherrschungstendenzen, die dem entscheidungsfähigen ‚Ich‘ einer ‚Person‘ einen Weg mittlerer Voraussicht zwischen den Polen (unerreichbarer) vollständiger Kontrolle über die Zustände bzw. Ereignisse einerseits und (willenlosem) Ausgeliefertsein an ihre Überra­ schungsfülle andererseits ebneten. (2) Den rationalen Bereich82 beherrschte allenthalben die Tendenz, wahre bzw. richtige Urteile über Zustände bzw. Ereignisse zu bilden. Gewonnen wurden solche Urteile, indem sich das Denken durch einen ‚Suchraum‘ hindurch den Weg zur ‚Lö­ sung‘ der sich stellenden ‚Probleme‘ bahnte. Aufgrund dieser übereinstimmenden Tendenz ließ sich ein in etwa gleicher Erkenntnisgewinn bei allen Menschen erwar­ ten, der notfalls miteinander abgestimmt und sodann zur Grundlage von Normen ge­ macht werden konnte. Generell leitend waren • das Gesetz der Berührung: Zwei Gedanken, die zeitlich und örtlich bereits einmal verbunden aufgetreten sind, haben die Tendenz, wieder gemeinsam aufzutreten; • das Gesetz der Gleichheit bzw. Ähnlichkeit: Zwei Gedanken werden umso wahr­ scheinlicher miteinander verknüpft, je ähnlicher entweder die Eigenschaften von oder die Relationen zwischen den Zuständen oder Ereignissen sind, die von ihnen erfasst werden; • das Gesetz der Konvergenz: Das Zusammenwirken der Gesetze der Berührung und der Gleichheit erzeugt die Tendenz, nach Gründen für Zustände bzw. Ereignisse zu suchen und hierfür die Kategorien der Kausalität und der Reziprozität auszubilden; • das Gesetz der Bekräftigung: Es besteht die Tendenz, den von der Realität bestä­ tigten und somit erfolgreichen Gedankenoperationen das Prädikat der Richtigkeit und somit normative Kraft zu verleihen.

81  Zum 82  Zum

Folgenden näher E.-J. Lampe (1991), S. 224 f. m. Nachw. Folgenden näher E.-J. Lampe (1988), S. 130 ff. m. Nachw.



C. Genetische Materialien zur Rechtsgeschichte 33

(3) Im Ich-Zentrum schließlich wurden bei allen Menschen Willensprozesse ausge­ löst, die sich sowohl der Informationen bedienen, die von den Wahrnehmungsorganen über den Hypothalamus und das limbische System laufen, also insbesondere die subjektive Betroffenheit anzeigen, als auch derjenigen, die von den Rezeptoren un­ mittelbar an die zuständigen Hirnrindenpotentiale geleitet werden, also primär der objektiven Orientierung dienen. Weil die Informationen beider Kanäle (von Ausnah­ mefällen abgesehen) die Verhaltensreaktionen nicht determinieren, muss das IchZentrum noch den internen Akt der Willkür beisteuern, d. h. unter den vorhandenen Reaktionsmöglichkeiten diejenige Reaktion auswählen, die zur Ursache der Reak­ tionswirklichkeit werden soll. Zusätzlich wirken hierbei gewisse Gesetzmäßigkeiten des Sollens auf den Entscheidungsakt ein, die sich der – aus der Realität übernomme­ nen, sie aber überhöhenden – Konzepte der Kausalität und Reziprozität bedienen und sich in die Tendenzen zum Wahren, zum Guten, zum Schönen und zum Heiligen aufschlüsseln lassen.83

Eine Erklärung, nicht wie, sondern warum es zur normativen Ordnung der menschlichen Beziehungen kam, hat Günter Dux vorgelegt und in vielen Einzelbeiträgen erläutert bzw. gegen Einwände verteidigt.84 Dux geht davon aus, dass der Mensch die sozial-normative Ordnung seines Da­ seins nicht ererbt haben kann, sondern sie erst erschaffen musste. Wie das geschah, könnten uns allerdings, meint er, weder die Humanbiologie noch die Soziobiologie sagen. Der Anschluss an die Naturgeschichte des Menschen müsse vielmehr, bedingt durch den Mangel an instinktiver Determination (und hieraus folgender Variabilität) der Antworten auf Erwartungen von Artgenossen, autogen-konstruktiv gewesen sein: gedankliches Erfassen der konstruktiven Möglichkeiten, die sich der Reaktion auf eine Situation im sozialen Umfeld bieten, und sprachliche Beschränkung auf die im Verhältnis zu den Mitgliedern der Gemeinschaft kommunizierbaren und verantwort­ baren Möglichkeiten.85 Damit seien die individuellen Möglichkeiten freilich erschöpft gewesen. Ein soziales Zusammenleben hätten die Mitglieder deshalb nur gemeinsam mithilfe von „Organisationsmedien“ erzeugen können: Wahrheit (als Bedingung für die Schaffung einer gemeinsamen Welt), Ideen (als Vergegenwärtigung der sinnhaften Verfassung einer sozialen Welt), soziale Vernunft (als Verständigung über gemeinsa­ me bzw. reziproke Interessen) und Macht (als kulturelle Form der Selbstbehauptung durch den Willen). Diese Mechanismen hätten sich als lebensdienlich bzw. Fitness fördernd erwiesen, weshalb ihre Beachtung von jedermann erwartet worden sei – sie wurden ‚normativ‘.

83  Es muss betont werden, dass diese Tendenzen ich-bezogen sind, also nur das für mich Wahre, Gute, Schöne und Heilige betreffen. Allerdings geht es mir niemals nur um mich, nur um Ich-Verwirklichung, sondern auch um Selbst-Verwirklichung, d. h. um die Verwirklichung der selbst gewählten oder sozial aufgegebenen Ideale. Verrat an diesen Idealen ist Selbstverrat. 84  Zum Folgenden vor allem G. Dux (2000) und (2001). 85  G. Dux (2001) S. 26 f.: Sprache ist „die erworbene Möglichkeit der Verständi­ gung“ mit anderen und damit „die Bedingung der Möglichkeit für das gesellschaft­ liche Zusammenleben“.

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Teil I: Entwicklung

An der Dux’schen Theorie überzeugt, dass der durch Instinkte nicht ‚fest­ gestellte‘ Mensch gewisser „Organisationsmedien“ bedurfte, um sein Sozial­ verhalten vorausberechenbar zu gestalten. Doch lässt sie (vor dem Hinter­ grund der generellen Tendenz zum Abbau von Ordnung86) die Frage offen, welche evolutionäre Kraft in der Lage war, diese Organisationsmedien zu entwickeln?87 Ich habe diese Kraft (ich nenne sie ‚Lebenskraft‘) aus einem dem biologischen analogen psychologischen Hyperzyklus von Wille und so­ zialer Neigung hergeleitet.88 Hieran halte ich fest. Denn die Herleitung ist zwar theoretisch-spekulativ; aber zu einem Mehr sind wir m. E. aufgrund der überlangen Zeit, die seit dem ersten Hervortreten von Normen verflossen ist, nicht in der Lage. Es bleibt dann noch die Frage nach dem Inhalt der Sozialnormen. Begrün­ dend dafür waren m. E. die menschlichen Bedürfnisse nach Behauptung in der Umwelt, nach Aneignung von Ressourcen aus der Umwelt, nach Fami­ lienbildung, nach Egalität einerseits, Hierarchiebildung anderseits, nach Gleichheit im Austausch und nach Gerechtigkeit bei der Verteilung usw., deren Geltung teils biopsychisch, teils kulturell verfestigt,89 deren Ausfor­ mung deshalb teils einheitlich, teils sozial unterschiedlich war. Sitte und Recht nahmen sie später (als „negatives Naturrecht“90) auf, wobei die Auf­ gabe, ein harmonisches soziales Zusammenleben zu ermöglichen und Dis­ harmonien mit Sanktionen zu belegen, aufgrund der exponentiellen Vermeh­ rung der Menschen von der Sitte immer stärker auf das stärker formalisierte und mit Sanktionen ausgestattete Recht überging. 86  Zur allgemein wirksamen Tendenz zum Ordnungsabbau (‚Entropiegesetz‘) vgl. unten J 5 f bb (2). 87  Zutreffend bemerkt H.-J. Niedenzu (2012, S. 336), dass „die Funktionalität ei­ nes Phänomens nicht schon die Erklärung von dessen Genese ist“. Die Argumentation müsse umgekehrt ansetzen, „nämlich dass mit der Vergrößerung des Gehirns und dem medialen Verbund von Denken und Sprache eine neue Möglichkeit entstand, die so­ zialen Verkehrsverhältnisse mittels begrifflich-symbolischer Kommunikation auf eine flexiblere Basis zu stellen und zu reorganisieren“. 88  E.-J. Lampe (1987), S. 70 f.: „Substanzen sind erstens die – in Konkurrenz zu­ einander stehenden – Einzelwillen der Menschen und zweitens die menschliche Nei­ gung zur sozialen Lebensweise. Die Normen entstanden aus einer Verkoppelung bei­ der ‚Substanzen‘ als ‚hyperzyklische‘ Organisationsgesetze, die über die Konkurrenz von Einzelwillen die Kooperation und über die individuellen sozialen Neigungen die allgemeine soziale Verbindlichkeit stellten. Das Wollen wurde dadurch zum Sollen, die Neigung zur Pflicht.“ Näheres dazu unten J 1. 89  F. J. Ayala (1987), p. 237: „Moral codes, like any other cultural systems, de­ pend on the existence of human biological nature and must be consistent with it in the sense that they could not counteract it without promoting their own demise. Moreover, the acceptance and persistence of moral norms is facilitated whenever they are consistent with biologically conditioned human behaviours.“ 90  E.-J. Lampe (1988), passim.



C. Genetische Materialien zur Rechtsgeschichte 35

Folgende Tendenzen lagen der inhaltlichen Entwicklung rechtlicher Normen zu­ sätzlich zugrunde: (1) im Bereich des Rechtsgefühls91 die Tendenzen zur Differenzierung • zwischen (formellem oder informellem) Recht und Unrecht, • zwischen Rechtsgrund und Rechtsfolge, • zwischen Rechtsanspruch und Rechtspflicht, • zwischen der Ordnungs- und der Freiheitsfunktion des Rechts; (2) im Bereich des rechtlichen Denkens92 die Tendenzen • zur Wiederholung bereits früher aufgetretener Gedankenverbindungen zwecks For­ mulierung von generellen (Gesetzes-)Aussagen, • zur Verknüpfung ähnlicher Wahrnehmungen zwecks Einbindung ähnlicher Sach­ verhalte in einen identischen begrifflichen Rahmen („Tatbestand“), • zur Zusammenfassung sich wiederholender Ereignisfolgen zwecks Bildung von konditionalen (‚immer wenn …, dann …‘-)Normen, • zur Bekräftigung erfolgreicher Gedankenverbindungen zwecks Begründung der (Soll- bzw. Darf-)Geltung von Normen; (3) im metaphysischen Rechtsbereich die Tendenzen • zum Wahren zwecks Überzeugungsbildung in Bezug auf einen rechtlich relevanten Sachverhalt (‚A hat an B den Hengst H verkauft‘), • zum Richtigen zwecks Findung der Rechtsfolge für einen rechtlich relevanten Sachverhalt (‚B soll an A einen Kaufpreis zahlen‘), • zum Geheiligten zwecks Sanktionierung der Folgeentscheidung (‚Der Folgeaus­ spruch soll [in Ewigkeit] beständig sein‘).

Die rechtlichen Normen mussten innerhalb der Ontogenese erlernt werden, wodurch regelmäßig zunächst die Meinung entstand, dass nur diese Normen und sie nur in dieser sprachlichen Fassung ‚richtig‘ seien. Unter dem Ein­ fluss des Handels und der vermehrten Kenntnis auch fremder Kulturen ent­ wickelte sich jedoch die Fähigkeit, auch fremde Normen als ‚richtig‘ zu be­ greifen und sie zumindest als für fremde Kulturen gültig zu akzeptieren. c) Ökogenetische und soziogenetische Ursachen Außer endogenen (‚psychogenetischen‘) waren für die Normentwicklung exogene (‚ökogenetische‘ und soziokulturelle) Ursachen relevant.93 Als E.-J. Lampe (1991), S. 226 ff. m. Nachw. E.-J. Lampe (1988), S. 147 ff. 93  Der die Soziologie seit mehr als 150 Jahren beherrschende Streit um die Erklä­ rung der soziokulturellen Entwicklung scheint mir heute im Sinne einer sowohl sub­ jektive als auch objektive Faktoren berücksichtigenden Vereinigungstheorie entschie­ 91  Vgl. 92  Vgl.

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Teil I: Entwicklung

Randbedingungen94 beeinflussten sie sowohl das Werden als auch den Inhalt der Normen.95 Beispiele: 1. Klimatische Bedingungen beeinflussten die Bevölkerungsdichte, wes­ halb in gemäßigten Zonen mehr Menschen lebten als in extrem warmen und in ex­ trem kalten. Die Bevölkerungsdichte wiederum beeinflusste Art und Inhalt der Sozi­ alnormen: (a) Dichte Besiedlung führte zur Anonymität der Sozialbeziehungen und erforderte abstrakte Sozialnormen; die durch Anonymität erhöhte Chance, sich der sozialen Verantwortung zu entziehen, erforderte eine strengere Kontrolle ihrer Befol­ gung und schärfere Sanktionen gegen ihre Übertretung. (b) Geringe Bevölkerungs­ dichte ermöglichte die Individualisierung der sozialen Normen; ihre Einhaltung konnte i. d. R. leicht kontrolliert werden, was wiederum einen erheblichen Ermessens­ spielraum für die Sanktionierung angesichts einer Übertretung eröffnete. – 2. Das soziokulturelle Niveau beeinflusste die Zahl der Verhaltensnormen und die Komple­ xität der sozialen Ordnung: Kulturen, welche – etwa durch Erziehung in (Tempel-) Schulen – die Intelligenzentwicklung förderten, waren zu einer komplexer strukturier­ ten Sozialordnung mit einer größeren Anzahl von Normen befähigt als Kulturen, die keine Schulung der Intelligenz kannten.

Von ihren Randbedingungen, insbesondere von denen der „Kulturumwelt“96, hing insgesamt die Entwicklungshöhe des normativen Niveaus ab. In den ca. 6 Millionen Jahren, seit sich der Mensch von den übrigen Primaten ab­ spaltete, hat sich diese Entwicklung immer mehr in die Höhe geschraubt.97 Während der Mensch in den ersten 4 Millionen Jahren noch kaum Fertigkeiten erwarb, die über die der übrigen Primaten wesentlich hinausgingen, gewann seine Entwicklung an­ schließend an Fahrt und zog in den letzten 250.000 Jahre nochmals kräftig an. In diesem, schon verhältnismäßig engen, Zeitraum flexibilisierte sich das menschliche Sozialverhalten; gleichzeitig verlagerten sich die prägenden Einflüsse vom endogen sozialpsychischen auf den exogen soziokulturellen Bereich. In den letzten 40.000 Jahren erhöhte sich die Zahl der soziokulturellen Faktoren nochmals, und entspre­ den zu sein. Vgl. dazu die noch heute gültigen Ausführungen von F. Engels (1925/1978), S. 498: „Naturwissenschaft wie Philosophie … kennen nur Natur einer­ seits, Gedanken andererseits. Aber grade die Veränderung der Natur durch den Menschen … ist die wesentlichste und nächste Grundlage des menschlichen Denkens, und im Verhältnis, wie der Mensch die Natur verändern lernte, in dem Verhältnis wuchs seine Intelligenz. Die naturalistische Auffassung der Geschichte, … als ob die Natur ausschließlich auf den Menschen wirke, die Naturbedingungen überall seine ge­ schichtliche Entwicklung ausschließlich bedingten, ist daher einseitig und vergisst, dass der Mensch auch auf die Natur zurückwirkt, sie verändert, sich neue Existenzbe­ dingungen schafft.“ 94  Vgl. oben B 2 [5]. 95  Th. Dobzhansky (1975), S. 18: „Ähnliche Gene können in unähnlichen Umwel­ ten verschiedene Wirkungen haben, ebenso wie unähnliche Gene in ähnlichen Um­ welten.“ 96  A. Gehlen (1986a), S.  337 f. 97  Das menschliche Erbgut hat sich seit der Abspaltung von den übrigen Primaten dagegen nur um wenig mehr als ein Prozent verändert.



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chend stiegen auch die Zahl und die Differenziertheit98 der das Sozialverhalten len­ kenden Normen an. Und seit etwa 15.000 Jahren verdichtete sich die Kulturierung des menschlichen Sozialverhaltens derartig, dass soziale Stratifizierung nebst Nor­ menhierarchisierung gegensteuern mussten.

Zuerst waren es vor allem die Quantität und Qualität der Nahrungsgrund­ lagen, die geographische Gliederung des Siedlungsraumes, die Bodenbe­ schaffenheit, das Klima und die Wasservorräte, die eine herausragende Be­ deutung für die Kultur- und Normentwicklung besaßen. Dann traten infolge der Sesshaftigkeit die Kulturierung des Bodens, die Domestizierung von Tieren und eine immer größere Anzahl technischer Erfindungen (z. B. des Pfluges) hinzu. Und in den letzten 15.000 Jahren verstärkten Urbanisierung, Alphabetisierung, Errichtung von Schulen, Ausbildung einer gelehrten Pries­ terschaft, Gründung von Märkten und Geldwährungen, Aufklärung der Be­ völkerung mithilfe schriftlicher Medien und viele weitere Faktoren die Ent­ wicklung, sodass es schon fast unmöglich ist, ein einigermaßen vollständiges Bild von den äußeren Umständen zu entwerfen, unter denen die antiken Hochkulturen ihre Sitten- und Rechtsordnungen erzeugten. Denn man muss die genannten Randfaktoren ja nicht nur in das Bild eines sozialnormativ geordneten Gemeinschaftslebens einbringen, sondern zusätzlich berücksichti­ gen, dass es darin außer zu linearen Kausalbeziehungen auch zu zirkulären Mustern kam, worin die Randfaktoren die sozialen Normen, die sozialen Normen aber wiederum die Randfaktoren veränderten.99 Heute ist daher je­ der Forscher, der die Gesamtheit der antiken Sitten- und Rechtsordnungen darstellen will, gezwungen, aus der Unzahl der seinerzeit vorhandenen Rand­ faktoren die ihm wesentlich erscheinenden auszuwählen und seine Schluss­ folgerungen auf Näherungswerte zu beschränken100 – um schließlich zu hoffen, dass diese Näherungswerte dem ‚wahren Bild‘ der antiken Verhält­ 98  Differenziertheit ist das Ergebnis der Ausbildung einer immer größeren Mannig­ faltigkeit von Eigenschaften oder Funktionen. In der Phylogenese wird sie entweder durch die Ausbildung neuer oder durch die Aufspaltung vorhandener Eigenschaften oder Funktionen erzeugt, wobei man zwischen horizontaler, vertikaler und funktiona­ ler Differenziertheit unterscheidet. Für jede ihrer Arten gibt es eine große Anzahl geschichtlicher Belege: für die horizontale Differenziertheit die Aufspaltung in Stadtund Landbewohner, für die vertikale Differenziertheit die Herausbildung hierarchi­ scher Machtstrukturen, für die funktionale Differenziertheit die Ausbildung von Ar­ beitsteilung und die Entstehung typisch ländlicher und typisch städtischer Berufe. 99  Daraus ergeben sich komplexe Entwicklungsmodelle, worin die Akteure einer­ seits unterschiedliche, sowohl ihren Bedürfnissen als auch ihrer Umwelt angepasste Sozialisationsmuster erzeugen, andererseits ihr äußeres Erscheinungsbild und Verhal­ ten (so gut es geht) daran anpassen. Einzelheiten zu den Entwicklungsmodellen etwa bei L. R. Bergman/R. B. Cairns/R. B. Nilsson, L.-G. & L. Nystedt (2000). 100  Dasselbe gesteht R. McC. Adams (1966, p. 174 f.) bereits für seinen Vergleich zwischen den Entwicklungen im antiken Mesopotamien und im vorspanischen Me­ xiko zu.

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nisse wenigstens in etwa entsprechen. Der Blick auf die neuzeitlichen Ver­ hältnisse im letzten Teil meiner Untersuchung wird dieses Problem nochmals verstärken. d) Kulturelle Diffusion Kulturelle Diffusionen, die in diesem Zusammenhang ebenfalls zu erwäh­ nen sind, haben eine teilweise nur historische, teilweise aber auch genetische Bedeutung. Aus ihnen ergibt sich jene Unschärfe, welche die Eigenständig­ keit vieler antiker kultureller Entwicklungen infrage stellt. Die folgende Darstellung kann sie nicht ganz vermeiden, obwohl ich wechselseitige Be­ fruchtungen aufgrund meiner Auswahl innerhalb der antiken Kulturen best­ möglich auszuschließen versucht habe. Diffusionen durchbrechen zwar die Evolution nicht – vielmehr liefert gerade die biotische Evolution den Beweis dafür, dass sich die unermessliche Fülle von Pflanzen- und Tierarten nicht linear aus einem einheitlichen Urzustand aufgrund von Verzweigungen ent­ wickelt hat, sondern dass Vermischungen von miteinander reproduktionsfähi­ gen Arten kräftig daran mitgearbeitet haben.101 Und deshalb schadet es grundsätzlich nicht, wenn für Entwicklungen im kulturellen Bereich Diffu­ sionen ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Doch lässt sich das historisch zweifellos vorhandene Gewicht beispielsweise von Prägung, Konditionie­ rung, Beobachtung und Imitation102 genetisch kaum abschätzen, wenn es durch Diffusionen immer wieder beeinflusst wurde. Und da es mir im Fol­ genden darauf ankommt, genetische Gesetzmäßigkeiten aufzuzeigen, muss ich durch Diffusionen erzeugte Einflüsse so weit wie möglich auszuschließen versuchen. Ich habe infolgedessen auf eine Einbeziehung derjenigen Rechts­ ordnungen verzichtet, die in einer besonders intensiven Berührung mit ande­ ren Rechtskulturen gewachsen sind ‒ diesem Verzicht fiel insbesondere die israelische Rechtsordnung zum Opfer.103 Ein Rückgang auf einen einheitlichen Ursprungsort, von dem aus sich alle Rechtsordnungen entwickelt haben, war dagegen unmöglich, weil die meis­ ten Rechtsordnungen örtlich und zeitlich unabhängig voneinander entstanden sind. Ihre Vorläufer waren zwar überall Urnormen, deren Wurzeln weit zu­ 101  Jüngst ist das sogar für die Entstehung des europäischen Menschen nachgewie­ sen worden: Er war das Produkt einer Vermischung von homo sapiens sapiens mit homo sapiens neanderthalensis. 102  L. Cavalli-Sforza/M. W. Feldman (1981), p. 53 ff.; ferner B. Rensch (1970) so­ wie (1991), S. 142 ff. 103  Allerdings nur teilweise! Zwar wurde die israelische Rechtsordnung sowohl vom mesopotamischen als auch vom ägyptischen Recht stark beeinflusst. Doch war angesichts der guten Quellenlage (AT der Bibel!) die Verlockung zu groß, immer wieder auf in ihr sichtbar werdende Determinanten hinzuweisen.



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rück in eine vorgeschichtliche Vergangenheit und in einen gemeinsamen Boden reichen, deren Keime aber von Anbeginn durch spezielle Umwelten beeinflusst wurden.104 Deshalb leben pränormative Organisationsmechanis­ men zwar sowohl in den Urnormen als auch in allen späteren Sitten- und Rechtsordnungen fort, und selbst moderne Rechtsordnungen stehen noch unter ihrem Einfluss.105 Doch haben sie Veränderungen durchlaufen, die sich mangels historischem Material nicht nachvollziehen lassen. Lediglich soweit nachweislich übereinstimmende tatsächliche zu nachweislich übereinstim­ menden normativen Entwicklungen geführt haben, musste ich sie zur Be­ gründung oder Begrenzung von Gesetzmäßigkeiten verwenden. Das wich­ tigste Beispiel ist die exponentielle Vermehrung der Menschen und ihr Zu­ sammenleben in immer engeren Räumen, auf die ich schon hingewiesen habe und im weiteren Verlauf meiner Untersuchung noch wiederholt zurück­ kommen werde. In neuhistorischer Zeit haben die diffundierenden Einflüsse allmählich überhandgenommen und nahezu alle nationalen Rechtsordnungen stark ver­ ändert. Meistens haben sich die Veränderungen – ebenso wie die entspre­ chenden Bastardisierungen in der Biologie – als erfolgreich erwiesen. Bei­ spiele liefern die Einflüsse europäischer Rechtsordnungen auf verschiedene asiatische und afrikanische Rechte,106 aber auch die Einflüsse fremder Rechtsordnungen auf das deutsche Zivilprozessrecht.107 Zuletzt jedoch haben sich die meisten Einflüsse in Globalisierungsbestrebungen aufgelöst – darauf werde ich im letzten Teil meiner Untersuchung eingehen. An dieser Stelle sei lediglich erwähnt, dass rechtliche Regelungen, die aufgrund von Diffusion zurückgedrängt oder gar ersetzt wurden, oft latent erhalten geblieben sind – sei es, weil man sie aus Gründen der Tradition bewahrte und sich bei bestimm­ 104  Zu ihrer Entwicklung aus pränormativen Bedingungen vgl. insbesondere H.-J. Niedenzu (2012). 105  Das ist die Situation, von der u. a. die von mir entwickelte Lehre vom „negati­ ven Naturrecht“ ausgeht (vgl. E.-J. Lampe, 1988). Was das Verhältnis der fortwirken­ den pränormativen zu den normativen Faktoren anbelangt, besteht offenbar eine Wechselwirkung, die mal den einen, mal den anderen Faktoren einen bestimmenden Einfluss zuweist. 106  In Asien wurden etwa die Rechtsordnungen Japans und Vietnams von verschie­ denen europäischen Rechten befruchtet: so der Inhalt des japanischen Bürgerlichen Gesetzbuchs vom französischen, der Aufbau vom deutschen Recht. In Afrika war der Einfluss der europäischen Kolonialmächte auf die dortigen Stammesrechte dagegen eher bescheiden. Die meisten afrikanischen Völker blickten auf eine überwiegend gewohnheitsrechtliche und mündliche Rechtstradition zurück. Das schriftliche euro­ päische Recht galt in den kolonialisierten Gebieten daher nur alternativ neben den Stammesrechten und wurde meistens auch nur dann genutzt, wenn es im Einzelfall den Klägern einen größeren Vorteil brachte. Vgl. dazu unten K 3 a bb ε. 107  Nachweise bei Ch. Althammer (2012).

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ten Anlässen noch an sie erinnerte, sei es aber auch, weil man sie vergessen und sie deshalb nicht entsorgt hatte. Auch diese Einnischung alten Rechts in ein modernes Recht hat ihr Pendant in der Natur, nämlich in der ‚Annidation‘ von Teilen einer Art z. B. durch Wegzug vom Festland auf eine abgeschiedene Meeresinsel. Beispiele für die Einnischung nach außen abgeschirmter Sozialsysteme sind kleine gegen die Au­ ßenwelt nahezu hermetisch abgeschlossene Gemeinschaften wie etwa die der AmischLeute (Amish people), die in einer Jahrhunderte alten, vorwiegend religiös begründe­ ten Ordnung verharrt haben, abgeschottet gegenüber den hochzivilisierten und hoch­ technisierten Kulturen der USA und Kanadas. Sie kennen selbst heute noch außer den biblischen Geboten keine feststehenden Normen, erst recht keine klare Unterschei­ dung zwischen Sitte und Recht. Neue Normen beschließen sie bei Bedarf, alte bleiben bestehen, bis sie von der Gemeinde abgeändert oder aufgehoben werden. Normenver­ stöße ahnden sie mit dem Ausschluss aus der Gemeinde und schützen sich so vor Veränderungen.

2. Humangenetische Gesetzmäßigkeiten a) Wirken die biologischen Evolutionsgesetze fort? Auch wenn die Evolution des Menschen seit der Nacheiszeit, also innerhalb der letzten 10.000 Jahre, zu keinen ins Gewicht fallenden körperlichen Veränderungen geführt hat, besitzen die biologischen Evolutionsgesetze – Mutation und Selektion als Mechanismen, Anagenese und Orthogenese als Trends108 – doch nach wie vor Rele­ vanz. Für die Entwicklung von Sozialnormen könnten sie während dieser Zeit109 allerdings nur bedeutsam geworden sein, weil die Evolution des soziokulturellen ­ 108  E.-J. Lampe (1987), S. 47 ff. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass auch eine mithilfe der qantitativen Modelle der Genetik durchgeführte Untersuchung von L. Cavalli-Sforza/M. W. Feldman (1981) zum Ergebnis kommt, dass in der kulturellen wie in der biotischen Evolution prinzipiell vergleichbare Mechanismen (Mutationen, Se­ lektionen, Transmissionen, Strömungen [drifts]) wirksam gewesen sind (p. 53 ff.). 109  Anders stellt sich die Situation lediglich dar, wenn man einen Zeitraum von ca. 40.000 Jahren zugrunde legt. Dieser Zeitraum umfasst etwa zweitausend Generationen, in denen sich die Erbanlagen durchaus verändern konnten und dies auch mit Sicherheit getan haben, was körperliche Merkmale (Hautfarbe, Behaarung, Körperbau) anbelangt (hierzu L. Cavalli-Sforza, 1999, S. 22 ff.). Zudem haben vor etwa 40.000 Jahren (viel­ leicht auch schon einige tausend Jahre früher) zwei wichtige Entwicklungen begonnen: Es kam zu Migrationsbewegungen und zu künstlerischen, technischen und sozialen Neuerungen, indem Steinwerkzeuge variabler und differenzierter hergestellt und Kno­ chen, Elfenbein, Geweihe, Muscheln zu Projektilen, Harpunen, Knöpfen, Ahlen, Na­ deln und Ornamenten umgestaltet wurden (F. Facchini, 2006, S. 110 f., 119 f.). Über die Gründe für diese Entwicklungen herrscht Unklarheit. Man vermutet, dass eine Begriffssprache seinerzeit die von Lauten begleitete Gebärdensprache ersetzte und so­ wohl das Denken als auch die Kommunikation grundlegend veränderte (vgl. etwa M. C. Corballis, 2002). Die Entwicklungen dauerten etwa 10.000 Jahre. Anschließend verlangsamten sie sich wieder, doch kam von nun an die kulturelle Evolution insge­ samt schneller voran als die biotische, sodass die Umwelt des Menschen sich mehr und mehr von derjenigen unterschied, auf die hin der Mensch biotisch angepasst war.



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­ ebens in der biotischen Evolution seines Gehirns dem Grunde nach mit angelegt L ist110 und sich möglicherweise dort über Veränderungen vollzogen hat. In der Annahme, dass die menschlichen Gehirne sich allmählich entwickelt haben und dass diese Entwicklung mutmaßlich bis heute nicht zum Stillstand gekommen ist, liegt einer der wesentlichen Unterschiede zwischen der Anthropologie des 18. Jh.s und der heutigen. Zur Zeit der Aufklärung war man sich einig, dass der Fortschritt der Menschheit auf den gleichbleibenden Fähigkeiten der Menschen und auf einer prozen­ tual gleichbleibenden Anzahl besonders befähigter Menschen111 beruhe. Diese Kon­ stanz garantiere einen in etwa gleichbleibenden kulturellen Fortschritt in der mensch­ lichen Geschichte. Doch dieses Erklärungsmuster geriet in ein Dilemma. Denn um die tatsächlichen Fortschritte begreifbar zu machen, mussten die Aufklärer ein spezifisches Fortschrittsvermögen unterstellen, das der Geschichte vorgelagert ist.112 Dass es aber dieses Vermögen in der angenommenen Form nicht gibt, gilt heute als nachgewiesen.

Ob es während letzten 10.000 Jahre zu neuronalen Veränderungen im Ge­ hirn gekommen ist und ob sie für die Normenentwicklung bedeutsam gewor­ den sind, lässt sich heute nur durch einen Gehirnvergleich von Mitgliedern kulturell unterschiedlich entwickelter Populationen überprüfen. Solchen Un­ tersuchungen stehen heute indes moralische und ideologische Bedenken ent­ gegen. Doch selbst wenn man die Untersuchungen durchführen würde, wären wir derzeit noch unfähig, die kulturelle Relevanz etwa ermittelter Unter­ schiede zu deuten.113 Und auch wenn wir diese Fähigkeit hätten, müssten wir berücksichtigen, dass beispielsweise die Gehirne heutiger Ureinwohner Aus­ traliens nicht mehr mit denen der Einwanderungsgeneration übereinstimmen, sondern sich in der Zwischenzeit den Umweltbedingungen ebenfalls ange­ passt haben, sodass ein Vergleich ihrer Gehirne etwa mit den Gehirnen von heutigen Europäern keinen Aufschluss über eine etwaige evolutionäre Ge­ setzmäßigkeit gibt.114 Für die Entwicklung von Rechtsnormen hatten diese vorgeschichtlichen Entwick­ lungen keinerlei Bedeutung, da sich die sozialen Beziehungen der Menschen in dieser Zeit nicht wesentlich veränderten. Es blieb beim Zusammenleben in Horden und ei­ nem die Mindestvoraussetzungen für ein Zusammenlebens regelnden Brauchtum, über dessen Inhalt wir nur Vermutungen anstellen können. Erst die neolithische Re­ volution bedeutete die nochmalige Beschleunigung des kulturellen Wandels, an dem dann auch das Recht teilnahm. 110  Mit Recht weist Th. Dobzhansky (1965, p. 212) darauf hin, dass die biotische Evolution der Menschheit zwar langsamer verlief als die kulturelle Evolution, dass „nevertheless, biological changes did not cease when culture emerged; cultural evolu­ tion is superimposed on the biological and the inorganic: The evolutionary changes in different dimensions are connected by feedback relationships.“ 111  So etwa A. R. J. Turgot (1750/1990), S. 140 f. 112  J. Rohbeck (1990), S. 54 f. 113  Dazu R. Feustel (1986), S. 185. 114  Jedes Gehirn besitzt kraft der Plastizität seiner Nervenzellen die Fähigkeit, sich so zu ‚verdrahten‘, dass es an die jeweilige Umwelt möglichst gut angepasst ist.

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b) Worin liegt die Bedeutung der psychologischen Evolutionsgesetze? Weit näher als eine Homologie zwischen kultureller und biotischer Ent­ wicklung liegt die zwischen kultureller und psychischer Entwicklung. Denn die Kultur beruht vorwiegend auf psychischen Potentialen. Und obwohl die Psyche des Menschen mit ihren neuronalen Grundlagen eng verbunden ist, ist anzunehmen, dass der Enwicklungstand einer Kultur zumindest vorder­ gründig weitestgehend vom Entwicklungstand der psychischen Potentiale abhängt. Allerdings sind die Gründe, die für eine homologe Evolution von Psyche und Kultur sprechen, derzeit ebenfalls noch ungesichert. Im Hinblick auf die Entwicklung des Rechtsbewusstseins muss man daher frei von wissenschaft­ lich erarbeiteten Vorgaben prüfen, ob die Evolution rechtlicher Institutionen und Normen – d. i. ihre Ausdifferenzierung und Integration in das Gemein­ schaftsleben – jenen Gesetzen folgte, die generell die psychische Entwick­ lung vorangetrieben haben. Man muss also fragen, ob der Evolution des Rechts •• innerhalb des Gefühlsbereichs eine immer klarere Fähigkeit zugrunde lag, (objektives) Recht und Unrecht, Rechtsgrund und Rechtsfolge, (subjekti­ ves) Recht und Pflicht sowie Freiheit und Ordnung zu unterscheiden; •• innerhalb des rationalen Bereichs eine Erweiterung der Fähigkeit korres­ pondierte, Allgemeinbegriffe sowie generelle Regeln zu bilden, die es er­ lauben, soziale Prozesse zu identifizieren, sie Personen als Urhebern zuzu­ rechnen und zweckmäßig darauf zu reagieren; •• innerhalb des Ich-Zentrums eine immer differenziertere Unterscheidung zwischen Gut und Böse sowie ein Wille entsprachen, die subjektive Ver­ antwortlichkeit dafür und die soziale Reaktion darauf gerecht zu bemessen und zu verteilen. Falls man danach eine homologe Evolution von Psyche und Recht grundsätzlich bejaht, muss man zweierlei beachten: zum einen, dass die Evolution in jedem der psychischen Bereiche nicht gleich schnell verlaufen sein muss, sondern dass sie ins­ besondere im Gefühlsbereich langsamer vorangekommen sein kann als im rationalen Bereich;115 und zum anderen, dass die Evolution in jedem der Bereiche mitbestimmt wurde von ihren äußeren Randbedingungen. Dass diese Randbedingungen die psychi­ sche Evolution beeinflussen, ergibt sich bei höheren Tieren aus einem Vergleich zwischen der Menge und Qualität der Lernleistungen und den Anforderungen, welche die natürliche Umwelt an sie stellt. Dass sie verstärkt auch die psychische Evolution des Menschen beeinflusst haben, ergibt sich daraus, dass die menschliche Sozialisa­ Ob und wie sich hieraus genetische Dispositionen entwickeln, ist bisher noch unge­ klärt. 115  Vgl. dazu W. F. Ogburn (1957).



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tion fast ganz aus dem Erlernen von ‚Umwelt‘ besteht.116 Insoweit besteht kaum Streit. Dagegen ist das Ausmaß des Einflusses, die innerpsychische Faktoren einer­ seits, äußere Randbedingungen andererseits auf die Kulturentwicklung ausgeübt ha­ ben, heftig umstritten. Wissenschaftler, die die Psyche von ihrer neuronalen Basis aus betrachten, setzen das Ausmaß des psychischen Einflusses hoch an; Wissenschaftler, deren Blick auf die Fähigkeit zum Lernen und die tatsächlich erbrachten Lernleistun­ gen ausgerichtet ist, neigen dagegen zur Vernachlässigung des innerpsychischen Ent­ wicklungsanteils. Im Einzelnen: • Organismische Theorien betonen die Wichtigkeit der Ausreifung erbmäßig ange­ legter psychischer Faktoren. Ihre Anhänger finden wir unter den Ethologen, die sich um die Konditionalanalyse des menschlichen Verhaltens bemühen,117 unter den Tiefenpsychologen, die in der Tiefe der menschlichen Seele die Vergangenheit des Menschengeschlechts wirken sehen,118 und unter den Vertretern der evolutio­ nären Erkenntnistheorie.119 • Mechanistische Theorien betonen die Prägung des Menschen durch seine Um­ welt:120 im extremen Maße die traditionellen Lerntheoretiker, nach deren Ansicht „nicht der Mensch auf die Welt einwirkt, sondern die Welt auf den Menschen“121; im minderen Maß die modernen Lerntheoretiker, die eine aktive Bedeutung des angeborenen kognitiven Systems auf die Entwicklung anerkennen und den Men­ 116  Für Nachweise steht eine reichhaltige entwicklungspsychologische Literatur zur Verfügung, die hier nicht aufgelistet werden kann. 117  N. Tinbergen (1979); K. Lorenz (1979); D. Morris (1968); weitgehend auch I. Eibl-Eibesfeldt (1987), z. B. S. 768: „Selbst wenn wir Freunde besuchen, befolgen wir bestimmte, im Grunde aggressionsbeschwichtigende, Rituale, z. B. des Geschenk­ überreichens, die ihre Parallelen in den beschwichtigenden Grußritualen der Tiere finden.“ S. 777 f.: „Tiere laufen bei Gefahr zur Mutter, und sie tun es auch, wenn sie dafür bestraft werden. … Der Mensch ist ähnlich veranlagt, und darin liegt die Ge­ fahr der in der anonymen Gesellschaft unterschwellig stets vorhandnen Angst: Sie fördert die Bereitschaft der Menschenmassen, sich der Führung von Personen mit ‚Charisma‘ anzuvertrauen – in Krisenzeiten geradezu blindlings.“ 118  S. Freud (1930/1974), S. 191; ähnlich aber auch schon G. W. F. Hegel (1840/ 1970), S. 105. 119  K. Lorenz (1973); G. Vollmer (1975). 120  So bereits die französischen Empiristen, z. B. P. H.Th. d’Holbach (1770/1960), S. 132: „Alle Ideen, Begriffe, Seins- und Denkweisen der Menschen werden erwor­ ben. … Die physischen Ursachen, die dauernd auf ihn [den Menschen] wirken, üben auf seinen Organismus notwendig Einfluss aus und bewirken, dass er … mit zwanzig Jahren nicht mehr derselbe ist, der er bei seiner Geburt war.“ Später die US-amerika­ nischen Behavioristen, z. B. J. B. Watson (1914/1997), S. 123: „Gebt mir ein Dutzend gesunder, wohlgebildeter Kinder und meine eigene Umwelt, in der ich sie erziehe, und ich garantiere, dass ich jedes nach dem Zufall auswähle und es zu einem Spezia­ listen in irgendeinem Beruf erziehe, zum Arzt, Richter, Künstler, Kaufmann oder zum Bettler und Dieb, ohne Rücksicht auf seine Begabungen, Neigungen, Fähigkeiten, Anlagen und die Herkunft seiner Vorfahren.“ 121  B. F. Skinner (1971), p. 211.

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schen innerhalb seiner biologisch vorgegebenen Grenzen auch schöpferisch tätig sehen.122

Trotz ihrem unterschiedlichen Blickwinkel stimmen alle Wissenschaftler aber überein, dass die psychische Evolution des Menschen sich aufgrund ei­ ner Verflechtung von internen (angeborenen) und externen (durch Umwelter­ fahrung erworbenen) Einflüssen vollzogen hat, dass allerdings die soziale Evolution überwiegend durch Lernen vorankam.123 Diese Einigkeit schließt indes nicht aus, dass die Bedeutung des sozialen Lernens für die Evolution soziokultureller Artefakte und somit auch für die Evolution von Institutionen und Normen für das menschliche Zusammenleben unterschiedlich bewertet werden kann. c) Welche Bedeutung hat soziales Lernen für die Evolution kultureller Artefakte? Generell war Lernen für die soziale Evolution von Bedeutung, weil es den Menschen erlaubte, Artgenossen als intentionale Wesen zu erkennen, sich mit ihren Intentionen zu identifizieren, die darauf beruhenden Verhaltensstrate­ gien zu reproduzieren und darauf in typischer Weise zu reagieren. Infolge­ dessen war es ihnen auch möglich, Verhaltenstraditionen aufzubauen sowie Artefakte in Form von sozialen Institutionen und Normen zu erzeugen (bzw. schon vorhandene zu verbessern)124, die an die nachfolgende Generation weitergegeben und über eine historische Zeitspanne hin akkumuliert werden konnten.125 Strittig ist unter den Psychologen allerdings, ob, was die Evolu­ 122  A.

Bandura (1979), S. 23 ff. näher J. Hill (1978). Siehe ferner unten J 2 b bb. 124  Man spricht hier von „kultureller Auslese“, vgl. L. Cavalli-Sforza/M. Feldman (1981), p.  15 f.; W. H. Durham (1991), p. 161 ff. 125  M. E. überzeugend M. Tomasello (2002), S. 14 f.: „Die grundlegende Tatsache besteht darin, dass Menschen die Fähigkeit besitzen, ihre kognitiven Ressourcen in einer Weise zu bündeln, die anderen Tierarten abgeht. … Keine der komplexesten Artefakte oder sozialen Praktiken des Menschen, einschließlich der Werkzeugherstel­ lung, der symbolischen Kommunikation und der sozialen Institutionen, wurden ein für alle Mal zu einem einzigen Zeitpunkt von einem Einzelnen oder einer Gruppe von Individuen erfunden. Vielmehr war es so, dass ein Individuum oder eine Gruppe zu­ nächst eine primitive Version des jeweiligen Artefakts oder der betreffenden Praxis erfand und spätere Benutzer eine Veränderung oder ‚Verbesserung‘ einführten, die dann von anderen manchmal unverändert viele Generationen lang übernommen wurde. Dieser Prozess, der manchmal ‚Wagenhebereffekt‘ (‚ratched effect‘) genannt wird, setzte sich über einen historischen Zeitraum fort. Der Vorgang kumulativer kul­ tureller Evolution erfordert nicht nur Erfindungsgabe (die bis zu einem gewissen – freilich beschränkten – Grade auch die nicht-menschlichen Primaten besitzen), son­ dern auch und ebenso sehr zuverlässige soziale Weitergabe, die ähnlich wie ein Wa­ genheber das Zurückfallen verhindern kann, sodass das gerade erst erfundene Artefakt 123  Dazu



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tion anbelangt, entweder die Produkte des Lernens oder die Art, wie sie er­ zeugt wurden, in den Vordergrund zu rücken sind. Die dazu vertretenen Theorien kann man in materielle und strukturelle einteilen. Der Übersicht­ lichkeit halber werde ich sie zunächst ohne Bezug auf die Evolution speziell rechtlicher Institutionen und Normen darstellen.126 aa) Materielle Theorien Materielle Theorien lesen die Evolution allein von den Ergebnissen des sozialen Lernens – von den kulturellen Artefakten und speziell den sozialen Institutionen und Normen – ab. Sie wurden insbesondere vom Briten Edward Burnett Tylor und vom US-Amerikaner Lewis Henry Morgan vertreten. Tylor ging davon aus, dass die im Laufe der soziokulturellen Evolution hervorgebrachten Institutionen des Menschen „so deutlich nacheinander ge­ schichtet sind wie die Erde, auf der er lebt“ und dass sie einander „auf dem ganzen Globus in grundsätzlich der gleichen Reihung folgen – unabhängig von den vergleichsweise oberflächlichen Unterschieden von Rasse und Spra­ che, geformt jedoch von der gleichartigen Menschennatur“127. Jede Gleichar­ tigkeit in den Institutionen lasse sich auf das Wirken gleichförmiger Ursachen zurückführen. Auf welche ‒ darauf legte sich Tylor nicht fest. Er nahm ledig­ lich eine „regelrechte Kausalität“ an, „die die Erscheinungen des Menschen­ lebens hervorbringt“, sowie „Gesetze der Beharrung und Diffusion, denen zufolge sich diese Erscheinungen auf bestimmten Kulturstufen als beständige Grundzüge der Gesellschaft festsetzen“128. Zur Rangordnung der kulturellen Institutionen, die er verglich, nahm er nicht Stellung. Das tat erst Morgan, indem er die Gesellschaften als Ganze und nicht nur einzelne ihrer Institutionen untersuchte.129 Er unterschied drei „ethnische oder die soziale Praktik die neue und verbesserte Form einigermaßen zuverlässig beibehält, bevor eine weitere Modifikation oder Verbesserung hinzukommt.“ 126  Zur Bedeutung für die Produktion speziell rechtlicher Normen vgl. unten D. 127  E. B. Tylor (1888/1994), p. 269. Tylor stützte sich auf die Untersuchungen von Geologen seiner Zeit (z. B. Ch. Lyell), woraus sich seine bildhafte Darstellung erklärt, während die Theorie Darwins eher den Vergleich mit einem sich verzweigenden Baum nahegelegt hätte. 128  E. B. Tylor (1871/1994), p. 12. Dazu St. Diamond/B. Belasco (1980), p. 557: „Ultimately, therefore, Tylor’s evolutionism must be seen as an inevitable progress, a natural course embracing all peoples in a determined movement toward greater ration­ality on the evolutionary scale.“ 129  Ansätze finden wir bereits beim Schotten J. F. McLennan, der die Evolution der Menschenrassen von einem Zustand der Wildheit ausgehen und sie dann in hö­ here, stärker vergeistigte Zustände aufsteigen ließ. McLennan führt dies (1865/1886) am Beispiel der Paarbildung näher aus: Anfangs hätten die Horden, um Stärke zu

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Perioden“, welche den jeweiligen Entwicklungsstand der Völker widerspie­ geln: Wildheit, Barbarei und Zivilisation.130 Als Kriterien für den Übergang von der ursprünglichen Wildheit zur Barbarei benannte er u. a. die Erfindung der Töpferei, für den Übergang von der Barbarei zur Zivilisation u. a. die Erfindung der Schrift. Diese Kriterien waren beliebig und konnten daher durch andere ersetzt werden. Einige Wissenschaftler taten das denn auch. L. A. White beispielsweise hielt ein tech­ nologisches Kriterium für ausschlaggebend: die pro Kopf und Jahr verarbeitete Ener­ giemenge. Entwicklung ist es nach seiner Meinung, wenn „die Energiemenge, die man pro Kopf und Jahr verarbeitet, sich vergrößert; oder wenn die Effizienz der technischen Mittel, die diese Energie in Arbeit umsetzen, verbessert wird, oder wenn beweisen, ihren weiblichen Nachwuchs so weit dezimiert, dass nur wenige Frauen übrig blieben, um die herum sich dann die männlichen Partner scharten. Dieser Zu­ stand archaischer Polyandrie sei später dahingehend evoluiert, dass sämtliche männli­ chen Partner einer Frau von einer Mutter abstammen, also Brüder sein mussten. Und daraus sei wiederum die spätere Sitte des Levirats entstanden: wonach, wenn ein Ehemann starb, dessen Bruder verpflichtet war, die Witwe zu heiraten. 130  Zur Geschichte: Der Neapolitaner G. Vico hatte in seiner „Scienza nuova“ (1725) eine zyklische Entwicklungstheorie entworfen, wonach alle Völker drei Sta­ dien durchlaufen: das sakrale, das heroische und das humane Stadium. Danach seien die Völker erlahmt und in die Barbarei zurückgefallen; das Spiel habe aufs Neue begonnen – corsi e ricorsi. Auf ihn gestützt unterschied der schottische Historiker und Philosoph A. Ferguson in seinem „Essay on the History of Civil Society“ (1767) ebenfalls drei Stadien, die er jedoch mit der Entwicklung der ökonomischen Verhält­ nisse in Verbindung brachte: Das erste Stadium der Wildheit hätten die Jäger und Sammler bestimmt; sie hätten funktional selbstständig gearbeitet und außer an ihrer persönlichen Habe kein Eigentum gekannt. Im zweiten Stadium, dem der Barbarei, hätten dann Arbeitsteilung und Sacheigentum bei den Hirtengesellschaften einen be­ herrschenden Einfluss gewonnen; es seien Abhängigkeitsverhältnisse entstanden, die vordem unbekannt waren. Das dritte Stadium, das der Zivilisation, habe schließlich die komplexen Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse durch Rechtsgesetze gefestigt. Näher dazu W. Ch. Lehmann (1930); H. H. Jogland (1959). Morgan (1871, p. 8) übernahm von Ferguson die drei Stadien der Wildheit, Barba­ rei und Zivilisation, interpretierte sie aber teilweise anders: Die Wildheit sei gekenn­ zeichnet gewesen durch Jagen und Sammeln sowie durch die grundsätzliche Gemein­ samkeit aller Güter und Promiskuität; für die Barbarei seien charakteristisch gewesen Siedlung, Haustierzähmung und Gartenbau, Eisenbearbeitung, Eigentum der Stämme oder Clans, patriarchalische Familienstruktur; die Zivilisation schließlich sei bestimmt gewesen durch Ausbildung einer Schriftkultur, zunehmende Technisierung, Privatei­ gentum, staatliche Institutionen, monogame Familienstruktur. Im Unterschied zu Fer­ guson stellte Morgan außerdem weniger den Entwicklungsgedanken als vielmehr den des Fortschritts ins Zentrum seiner Theorie. Morgans Ideen wurden vor allem von F. Engels in seiner Abhandlung über den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates (1884) propagiert. Vgl. dazu und zur (fehlenden) marxistischen Rechtsentwicklungslehre L.-J. Constantinesco (1983), S. 45 ff. Ähnlichkeit mit Morgans Auffassung besitzt die über einzelne Epochen hinausreichende Gliederung der menschlichen Entwicklung in Vorzeit, Kul­ tur und Zivilisation von O. Spengler (1923), S. 71.



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beide Faktoren gleichzeitig wirksam sind“131. Andere Wissenschaftler versuchten, präzisere Maßstäbe bereitzustellen – so etwa R. L. Carneiro, der u. a. auch das Recht bei der vergleichenden Bestimmung der Kulturhöhe eines Volkes gewichtete.132

Die Evolutionisten trauten jedem Volk eine eigenständige Entwicklung zu. Sie standen damit im Gegensatz zu den (radikalen) Diffusionisten, welche meinten, dass alle bedeutenden kulturellen Fortschritte einzig auserwählten Völkern zu verdanken seien und sich von ihnen aus über die ganze Welt verbreitet (diffused) hätten.133 Lord Raglan beispielsweise verstieg sich zur Behauptung, dass „Wilde niemals etwas erfinden oder entdecken“134. Indes – befand sich nicht die Menschheit insge­ samt einmal im Zustand der Wildheit? Folgte man seiner Ansicht, wäre ihr Aufstieg zur Zivilisation ein Wunder, einzig erklärbar durch den Eingriff einer höheren Macht: eines Gottes oder eines Weltgeistes.135

Der Haupteinwand gegen alle materiellen Theorien136 liegt auf der Hand: Sie sind außerstande, diejenigen Komponenten verlässlich zu benennen, die 131  L. A. White (1943), p. 338; idem (1959), ch. 2. Whites Formel lautet: E x T → P (E = energy, T = technology, P = production). In die gleiche Richtung arbeiteten M. D. Sahlins/E. R. Service (1960) sowie G. Lenski (1973). Zur Kritik an White vgl. Ch. Guksch (1982), S. 78: Seine These sei „mit ihrem Allgemeinheitsanspruch so grundlegend, dass sie – obschon richtig, da sie keiner physikalischen Theorie wider­ spricht – unbrauchbar ist: sie kann nur die Forschungsstrategie leiten …, aber nicht die Entwicklung einer speziellen Kultur erklären“. St. Diamond/B. Belasco (1980, p. 559 f.) beurteilen die Theorie als „a special case of Social Darwinism wedded to the second law of thermodynamics“, und meinen, dass man die soziale Evolution nicht in ein wissenschaftliches Prokrustesbett pressen dürfe. Zum zweiten Hauptsatz der Thermophysik und seine Bedeutung für die Erklärung der Rechtsentwicklung siehe unten J 2 d γ sowie K 6 c α. Vgl. ferner J. W. Raum (1995), S. 264. 132  R. L. Carneiro (1973a), p. 864 f.; (1973b), p. 106; (1996). 133  Zum Diffusionismus vgl. auch U. Wesel (1984), S. 526 f. 134  Lord Raglan (1939), p. 170. 135  Die (radikalen) Diffusionisten haben stattdessen ein einzigartiges Zusammen­ treffen verschiedener Umstände als Erklärung bemüht. Sie konnten jedoch niemals den Ort bestimmen, an dem es zu dem einzigartigen Zusammentreffen gekommen ist. 136  Zu ihnen gehört auch die marxistische Theorie, wonach Geschichte das Ergebnis eines ständigen Kampfes der sozialen Klassen um die Kontrolle über Produktionsmit­ tel ist. „Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt“ (K. Marx, 1859/1964, S. 839). Sämtliche Kulturen hätten die Phasen eines primitiven Kommunismus, der Sklavenhaltergesell­ schaft, des Feudalismus, des Kapitalismus und des Kommunismus durchlaufen. Verwandt mit der marxistischen Theorie ist der Kulturmaterialismus von M. Harris (1989). Danach dominieren die materiellen Zwänge des Lebens das Denken und Ver­ halten der Menschen. Diese Zwänge ergäben sich „aus der Notwendigkeit, Nahrung, Wohnung, Werkzeuge und Maschinen zu produzieren und die menschliche Bevölke­ rung innerhalb der von der Biologie und der Umwelt gesetzten Grenzen zu reprodu­ zieren“ (S. 445). Zu Harris ausführlich St. K. Sanderson/A. S. Alderson (2005), p.  22 ff.

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über die Höhe einer Kultur entscheiden. Die Ägypter kannten beispielsweise bis zur 2. Zwischenzeit keine Räderfahrzeuge – doch standen sie deshalb kulturell niedriger als die Völker der nordsyrischen Steppen, die den Räder­ karren schon fünfzehnhundert Jahre früher benutzten? Selbst wenn man, um diesem Einwand zu entgehen, sämtliche Errungenschaften einer Kultur zu­ sammenzählt, steht man nicht besser da: Man hat dann entweder ein unge­ wichtetes Zufallsprodukt in der Hand oder muss sich das Produkt aus der eigenen Erkenntnisperspektive erst noch bilden, indem man entscheidet, was wichtig ist, was nicht.137 bb) Strukturelle Theorien Die strukturellen Evolutionstheorien stellen im Gegensatz zu den materiel­ len die Evolution des Lernens selbst in den Vordergrund. Sie lassen sich in drei Klassen einteilen, die allerdings nicht exakt zu trennen sind: subjektivstrukturelle, objektiv-strukturelle und subjektiv-objektiv-strukturelle Vereini­ gungstheorien. (α) Innerhalb der subjektiv-strukturellen Theorien ist am bedeutsamsten die von Jean Piaget auf kognitionspsychologischer Grundlage entwickelte „genetische Erkenntnistheorie“.138 Ihr Grundgedanke ist: Die historiogeneti­ schen Verlaufsmuster lassen sich aufgrund von Gesetzmäßigkeiten rekonstru­ ieren, die wir heute noch in der menschlichen Ontogenese feststellen können. Und da das Denken (das Piaget in den Vordergrund stellt) ontogenetisch drei gesetzmäßig aufeinander aufbauende Stadien durchläuft – ein prä-operationa­ les, ein konkret-operationales und ein formal-operationales Stadium139 –, 137  Dies gilt als Einwand auch gegen den Versuch von R. L. Carneiro (1973a), einen „Index der kulturellen Akkumulation“ aufzustellen und den Wert einer Kultur an der Gesamtzahl der indizierten Merkmale zu messen, denen man darin begegnet. Zur Kritik vgl. etwa J. W. Raum (1995), S.  264 f. 138  Vgl. zum Folgenden insbesondere J. Piaget (1950/1975). Zur Bedeutung der „genetischen Erkenntnistheorie“ speziell für die Entwicklung des moralischen Be­ wusstseins vgl. unten J 2 a bb. 139  Hauptmerkmal des prä-operationalen Stadiums (Kinder von 2 bis 7 Jahren) ist die Umwandlung der sensorischen und motorischen Schemata aus den ersten (sensu­ motorischen) Welterfahrungen in innere Vorstellungen und in die Fähigkeit, mit den Vorstellungen wie mit realen Dingen umzugehen (Beispiele: Die Namen der Dinge sind deren Eigenschaften. Denken ist eine Eigenschaft des Sprechens, man denkt mit dem Mund). Hauptmerkmal des konkret-operationalen Stadiums (Kinder von 7 bis 11 Jahren) ist das Sich-Lösen-Können von der vorgestellten Realität und die Fähig­ keit, die Realität selbst zum Gegenstand mentaler Operationen zu machen (Beispiel: Die Flüssigkeitsmenge bleibt gleich, wenn man sie von einem Behälter in einen mit anderen Abmessungen gießt). Hauptmerkmal des formal-operationalen Stadiums (Ju­ gendliche von 11 bis 15 Jahren) ist das Sich-Lösen-Können auch von der Realität und



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müssen in der Historiogenese die Kulturen entsprechende Stadien durchlau­ fen haben. In der Tat liegt einigen ethnologischen Untersuchungen eine vergleichbare Annah­ me zugrunde. Die Untersuchungen von J. G. Frazer, L. Lévy-Bruhl und Ch. R. Hall­ pike seien genannt. Nach Frazer140 hat die Geschichte der Menschheit drei Phasen durchlaufen: Ma­ gie, Religion und Wissenschaft. Das magische Denken schrieb sich Macht über natür­ liche Abläufe zu und versuchte, sie durch rituelle Praktiken zu betätigen.141 Das reli­ giöse Denken vermutete die Macht zur Veränderung bei den Göttern; deshalb ver­ suchte der religiöse Mensch, die Götter durch Gebete wunschgemäß zu beeinflussen. Das wissenschaftliche Denken erkannte all dies als irrig und suchte nach physikali­ schen und chemischen Gesetzen in der Natur, um mit ihrer Hilfe die gewollten Wir­ kungen zu erzeugen. Lévy-Bruhl142 verwarf den evolutionären Universalismus. Stattdessen unterschied er traditionale und zivilisierte Völker und sah jene in einem „prälogischen“, magischmystischen Denken gefangen, während diese alles Magisch-Mystische im Laufe der Geschichte abgestreift und durch ein „logisches“, begrifflich-abstraktes Denken er­ setzt hätten. Ähnlich behauptete Hallpike143 (ausdrücklich mit Bezug auf die Stadientheorie Piagets), dass das Denken der traditionalen Völker im niederen Stadium eines präoperationalen Symbolismus stecken geblieben sei, während zivilisierte Industrienatio­ nen das Stadium des formal-logischen Denkens erklommen hätten.

Mängel besitzen die auf den Strukturwandel des Subjekts zentrierten gene­ tischen Theorien in zweierlei Hinsicht: Zum einen sind sie außerstande, eine Erklärung für die Verzweigung der menschlichen Sozialkulturen zu geben.144 die Fähigkeit, bloß gedankliche Konstrukte zum Gegenstand logischer Operationen zu machen (Beispiel: Für die Geschwindigkeit einer Pendelschwingung können meh­ rere Faktoren entscheidend sein: die Länge des Fadens, die Höhe, aus der das Pendel losgelassen wird, die Kraft beim Anstoßen des Pendels, das Gewicht des schwingen­ den Gegenstands. Anders als konkret-operativ denkende Kinder stellen sich formaloperativ denkende Jugendliche zunächst die möglichen Einflussfaktoren der Pendel­ geschwindigkeit vor, variieren dann einen Faktor nach dem anderen, beobachten je­ weils das Ergebnis und identifizieren dann den relevanten Faktor, d. i. die Fadenlänge). 140  J. G. Frazer (1928/1991). 141  Frazer unterschied genauer noch zwischen Nachahmungs- und Übertragungs­ magie: Jene gehe davon aus, durch Nachahmung eine natürliche Wirkung herbeifüh­ ren zu können, z. B. durch rituelle Vernichtung eines Bildes die abgebildete Person selbst. Diese glaube, durch rituelle Manipulation an Dingen, die raumzeitlich einmal verbunden waren, eine Wirkung übertragen zu können, z. B. eine Wunde durch Ölen der Tatwaffe zu heilen. 142  L. Lévy-Bruhl (1910/1926; 1922/1927; 1927/1930). 143  Ch. R. Hallpike (1979/1994). 144  Zur Einteilung der Evolutionstheorien in Verzweigungs- und Stufentheorien vgl. J. W. Raum (1995), S. 255 f.

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Zum anderen ignorieren sie die Bedeutung von Außeneinflüssen auf die Kul­ tur. Die Umwelt spielt bei ihnen, soweit überhaupt, eine lediglich vom Sub­ jekt her konstruierte passive Rolle. Sowohl das erfahrungsbedingte Lernen als auch sämtliche historisch, sozial und individuell beeinflussten Soziali­ sationsprozesse erscheinen ihnen daher als „oberflächlich“ gegenüber der „transzendentalen“ Ebene der Stadienstrukturen.145 (β) Den subjektiv-strukturellen stehen die objektiv-strukturellen Theorien gegenüber. Sie legen ihrer Deutung der soziokulturellen Evolution einzig die objektiv-sozialen Mechanismen zugrunde, denen nichts Psychisches beige­ mengt ist – obwohl auch für sie die Lernfähigkeit der menschlichen Psyche die Ursache für jede soziokulturelle Evolution ist. Zu messen sei ein sozio­ kultureller Fortschritt am Übergang von weniger komplexen zu komplexeren Formen der sozialen Beziehungen bzw. am Übergang von Kulturen mit Normen, die von allen zu befolgen sind, zu solchen mit Normen, die aus­ schließlich für bestimmte Personengruppen gelten. Eine Analogie zur biopsy­ chischen Evolution ergebe sich dadurch, dass einfache soziale Verbände, bestehend aus Familien und Sippen, weder vollständig verschwinden, sobald ein komplexeres Entwicklungsstadium erreicht ist, noch lediglich als Fossi­ lien aus der Vergangenheit weiterleben, sondern modifiziert werden und in dieser modifizierten Form in neue übergeordnete Konfigurationen, etwa Bürgerschaften oder Volksgruppen, eingehen, die dann neue, emergente Or­ ganisationsformen aufweisen.146 Genauer noch sind danach statische (evolutionsfeindliche) und dynamische (evolutionsfreundliche) Kulturen147 zu unterscheiden. • Innerhalb einer im Wesentlichen statischen (‚verkrusteten‘) Kultur mit einem evo­ lutionsfeindlichen (‚konservativen‘) Wertesystem werden etwaige destabilisierende Faktoren148 möglichst eliminiert, um das soziale Gleichgewicht zu erhalten. Treten Wirkungen ein, welche die Eliminationskraft des kulturellen Systems überfor­ dern – etwa infolge abrupten Zerfalls eines Wertesystems oder gravierender Verän­ derungen der Umwelt –, kommt es zum kulturellen Zusammenbruch149 mit der Folge, dass entweder bisher nur latent vorhandene stabilisierende Kräfte an die Stelle der überforderten treten oder ein völlig neues (etwa durch Kolonisation von

H. Aebli (1978). Steward (1955a, p. 51 f.) spricht von „levels of sociocultural integration“, in denen nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Differenzen zwischen den Kulturen zum Ausdruck kommen. 147  Zu statischen und dynamischen Gesellschaften vgl. W. F. Ogburn (1969), S. 82 ff. (mit sehr negativer Charakteristik der dynamischen Gesellschaften). 148  „Störfaktoren“ – vgl. G. Wiswede/T. Kusch (1978), S. 86. 149  Vgl. T. Parsons/E. A. Shils (1962), p. 107 f.: Soziale Systeme brechen zusam­ men, wenn die funktionalen Voraussetzungen wegfallen, die ihren Bestand sichern. 145  Vgl.

146  J. H.



C. Genetische Materialien zur Rechtsgeschichte 51 einem Mutterstaat importiertes) kulturelles System die Stabilisation übernimmt. Eine eigentliche soziokulturelle Evolution bleibt dagegen aus.

• Innerhalb einer dynamischen Kultur mit einem evolutionsfreundlichen (‚offenen‘) Wertesystem begegnet man dagegen destabilisierenden Faktoren mittels einer akti­ ven (prä)adaptiven Kontrolle. Einerseits bemüht man sich um die Sozialisation und Integration der ‚Abweichler‘, andererseits stellt man verschärfte Sanktionen für integrationsunwillige ‚Abweichler‘ zur Verfügung.150

Welche Bedingungen im Einzelnen erforderlich sind, damit eine Kultur als dynamisch und evolutionsfreundlich angesehen werden kann und welche evolutiven Mechanismen in ihnen wirken müssen – darüber gehen die Mei­ nungen auseinander.151 • Nach der ‚Theorie der strukturellen Differenzierung‘152 bedeutet ‚sozialer Wan­ del‘153 (a) Teilung eines sozialen Systems in mehrere Einheiten, die sich in ihrem strukturellen Aufbau sowie in der Funktion, die sie ausüben, unterscheiden und dadurch (b) das Anpassungsvermögen an die Umwelt des Systems erhöhen.154 Bedingungen für sozialen Wandel seien (a) eine (wenn auch primitive) Technolo­ gie, (b) ein Komplex kultureller Werte, (c) eine einheitliche Sprache zur Kommu­ nikation und (d) eine (wenn auch primitive) Differenzierung von Verwandtschafts­ rollen.155 Als ‚evolutiv‘ erscheint der Theorie ein sozialer Wandel, wenn die Funktionen des Systems ausdifferenziert werden entweder (a) durch Einführung von „Universalien“156 wie etwa nicht-verwandtschaftlichen Schichtungs- und ­Prestigestrukturen, bürokratischen Organisationsformen, einem Marktsystem, oder (b) durch Schaffung von kulturellen Wertzuwächsen wie etwa einer Schriftsprache oder einem Rechtssystem.157 Da die Ausdifferenzierung sozialer Funktionen indes­ sen nicht nur die Komplexität des Systems, sondern auch seinen Integrationsbedarf steigert, müssen übergreifende Normensysteme ihn befriedigen, die auf generelle Situationen anwendbar sind und dadurch die Komplexität reduzieren.158 Insgesamt begreift diese (hochkomplizierte) Theorie also das Wesen der sozialen Evolution als Prozess der strukturellen Differenzierung verbunden mit einer normativen Ge­ neralisierung. ‚Dynamisch‘ ist für sie eine Sozialkultur, die sowohl zur Ausdiffe­ 150  T.

Parsons (1971/2000), S. 26 ff.; N. J. Smelser (1959), p. 10 f. Folgenden M. Schmid (1982), S. 145 ff., 176 ff.; ders. (1998). 152  Hauptvertreter sind É. Durkheim (1893/1999); T. Parsons (1971/2000); N. J. Smelser (1959); S. N. Eisenstadt (1969), S. 75 ff. 153  Der Begriff ‚sozialer Wandel‘ (‚social change‘) wurde in spezifisch soziologi­ scher Bedeutung erstmals von W. F. Ogburn (1922, p. 56 ff.) verwendet. Er wollte mit ihm die seinerzeit mit dem Begriff ‚soziale Evolution‘ assoziierten Bedeutungen der ‚Höherentwicklung‘ und des ‚sozialen Fortschritts‘ vermeiden. Zur Geschichte des Begriffs siehe J. S. Roucek (1969/1981). 154  T. Parsons (1966), p. 22 f.; idem (2000), p. 41. 155  T. Parsons (1964/1969), S. 58; (1966), p. 30 ff. 156  T. Parsons (1964/1969), S.  55 ff. 157  T. Parsons (1964/1969), S. 72; (2000), p. 29 ff. 158  Im Einzelnen dazu T. Parsons (1951), p. 37 ff.; (1966), p. 9 f. 151  Zum

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renzierung ihrer systemischen Strukturen als auch zur Ausbildung von normativen Regeln fähig ist, welche die ausdifferenzierten Strukturen reintegrieren. Kritisch ist dazu anzumerken, dass in einigen Situationen allerdings gerade eine Verringerung der sozialen Komplexität gegenüber Veränderungen der Umwelt ad­ aptiv ist: beispielsweise ein nationales Zusammenstehen (gegenüber einem kriege­ rischen Angriff) statt der Bewahrung eines hochkomplexen Systems wechselseiti­ ger Kontrolle der unterschiedlichen Binnensysteme.159 Insoweit bedarf die Theorie mindestens einer immanenten Korrektur.160 • Die ferner zu nennende ‚Theorie der strukturellen Selektion‘ beschränkt sich da­ rauf, den sozialen Wandel zu erklären, ohne das Problem der kulturellen Evolution in sich aufzunehmen. Teilweise angelehnt an die biologische Evolutionstheorie begreift sie den sozialen Wandel als eine Folge von blinden sozialen Variationen, die den Selektionskriterien der sozialen Umwelt unterliegen.161 Und da, wie ihre Vertreter meinen, die Umwelt keiner Evolution unterliegt, gibt es für sie keine evolutionären ‚Gesetzmäßigkeiten‘. Dass in der Vergangenheit unleugbar immer komplexere soziale Systeme entstanden sind und es regelmäßig zu einer soziokul­ turellen Evolution kam, erscheint ihr deshalb als eine lediglich kontingente Folge von Mechanismen, die eine Komplexitätssteigerung begünstigten und anders gear­ tete soziale Mechanismen ausschalteten.162 ‚Dynamisch‘ ist für sie mithin jede Kultur, die sich der Umwelt anpasst – gleichgültig ob dies durch eine Steigerung oder durch eine Verringerung ihrer Komplexität geschieht.

Sämtliche objektiv-strukturellen Theorien weisen typische Mängel auf, die sich durch eine immanente Korrektur nicht beheben lassen. Ihr Hauptmangel besteht darin, dass sie die Bedeutung psychogener Phänomene für die sozio­ kulturelle Evolution entweder leugnen oder ignorieren. Das Subjekt schrumpft bei ihnen zu einem passiven Teil innerhalb des sozialen Systems zusammen und vermag daher nur, dessen Veränderungen staunend zu bewundern und allenfalls marginal zu beeinflussen. Daher ist das Fazit aus der Analyse sowohl der subjektiv-strukturellen als auch der objektiv-strukturellen Theorien: Beide Theoriestränge müssen un­ terstellen, dass die soziale Ordnung einer Population und die psychische Struktur ihrer Mitglieder einander entsprechen und dass daher Veränderungen der psychischen Struktur sich regelmäßig in Veränderungen der sozialen Ordnung (so die subjektiven Theorien), Veränderungen der sozialen Ordnung sich regelmäßig in Veränderungen der psychischen Strukturen (so die objek­ tiven Theorien) niederschlagen. Bewertet man diese Annahmen allerdings als fiktional, kann man die Theorien nur noch als einander ergänzend aufrecht­ 159  Zutreffend bemerkt M. Schmid (1982), S. 172, dass somit „kontingente Um­ weltfaktoren darüber entscheiden, ob die Erhöhung von Differenzierungsleistungen anpassungsrelevant ist oder nicht“. 160  Vgl. dazu D. Rüschemeyer (1974), S. 279 ff.; idem (1977), p. 1 ff. 161  Dazu D. T. Campbell (1965). 162  H. Esser (2000), S. 356 ff.



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erhalten. Und das bedeutet: Einesteils sind an jeder sozialen Evolution Indi­ viduen mit bestimmten psychischen Dispositionen beteiligt;163 soziale Errun­ genschaften sind also stets auch die Außenseite von psychischen Veränderun­ gen.164 Andernteils ist die Evolution der Psyche stets auch ein Produkt sozi­ aler Enkulturation; die psychischen Dispositionen der Individuen entwickeln und wandeln sich also mit Art und Veränderung des soziokulturellen Um­ felds.165 (γ) Zusammengeführt werden beide Theoriestränge von den strukturellen Vereinigungstheorien. Diese sehen die gesellschaftliche Evolution als Folge einer Koproduktion von subjektiv- und objektiv-strukturellen Faktoren an: Ohne durch soziale Institutionen stimuliertes Lernen gäbe es keine kognitive Entwicklung, und ohne kognitive Entwicklung gäbe es keinen sozialen Fort­ schritt; jede langfristige gesellschaftliche Höherentwicklung sei also eine Ko-Evolution. Allerdings wird die so hergestellte Harmonie brüchig, sobald als Motor des evolutiven Wandels primär objektive oder subjektive Faktoren in Betracht gezogen werden.166 Primär auf objektive Faktoren als Motor stellen diejenigen Theorien ab, welche für die soziokulturelle Evolution vor allem das (durch den urge­ schichtlichen Fertilitätstrieb bedingte) Bevölkerungswachstum verantwortlich machen.167 Ihnen zufolge waren segmentäre (d. h. aus autonomen, gleich strukturierten Gruppen bestehende) Gesellschaften168 das Ergebnis einer niedrigen Bevölkerungsdichte sowie eines Nahrungserwerbs, der einerseits 163  D. Lerner (1958), p. 78: „Social change operates through persons and places. Either individuals and their environments modernize together or modernization leads elsewhere than intended. If new institutions of political, economic, cultural behavior are to change in compatible ways, then inner coherence must be provided by the personal matrix which governs individual behavior.“ 164  F. H. Harbison (1973), p. 3 („Human resources – not capital, nor income, nor material resources – constitute the ultimate basis for the wealth of nations.“), 112 ff. Einschränkend G. W. Oesterdiekhoff (1997), S. 249 ff. 266: „Auch wenn kognitive Strukturen einen kausalen Einfluss auf die zivilisatorische und materielle Entwick­ lung einer Gesellschaft ausüben, so lassen sich aus methodischen Gründen keine präzisen Aussagen über die Determinationsstärke des psychologischen Faktors ma­ chen.“ 165  Eine Gesetzmäßigkeit zwischen der Art der Enkulturation und späteren Cha­ rakteristika der Psyche ist zwar oft behauptet worden, lässt sich aber nicht nachwei­ sen. So trifft beispielsweise die Behauptung, dass eine repressive Erziehung einen aggressiven Charakter erzeuge, auf die Kinder der Ngoni (einer Volksgruppe der Bantu im Südosten von Sambia) nicht zu. Die Ngoni waren früher zwar Krieger, le­ ben jetzt aber friedlich von Viehzucht und Ackerbau und werden als freundlich, erfin­ derisch und glücklich beschrieben. 166  Vgl. D. T. Campbell (1965), p. 28. 167  Siehe E. Boserup (1965); L. Cavalli-Sforza (1999), S. 188 ff. 168  Näher dazu unten F 2 b.

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keinen hohen Arbeitsaufwand erforderte, dessen Ertrag andererseits so gering war, dass er keinen zu hortenden oder zu verteilenden Überschuss ergab. Als die Bevölkerung sich jedoch über einen kritischen Punkt verdichtete, sei es zur Übernutzung der wildlebenden Tier- und Pflanzenarten gekommen. Da­ her habe man, um die nötige Nahrung zu produzieren, die Zahl der Nutztiere mittels Domestikation erhöhen und ernährungswichtige Pflanzen kultivieren müssen. Zusätzlich habe man zwecks Arbeitserleichterung mechanische Ge­ räte (Grabstock, Hacke, Holzpflug) herstellen und zwecks Ertragssteigerung die Böden künstlich wässern und düngen müssen. Dadurch sei es zu einem wirtschaftlichen Surplus gekommen, das die Bevölkerung habe weiter wach­ sen lassen, sodass nunmehr die soziale Kontrolle der – in immer größeren Dörfern und Städten lebenden – Menschen sowie die Lösung der sich ver­ stärkenden Konflikte um bebaubares Land und persönliches bzw. Familien­ eigentum zum Problem wurden. Um auch dieses Problem zu lösen, seien schließlich auf der Grundlage von Technologie, Verkehrswesen, Schrift- und Rechtskunde Staaten mit einer stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft entstanden. In den Staaten habe eine beherrschende Oberschicht einer ihr ergebenen Unter­ schicht (dem ‚gemeinen Volk‘) gegenübergestanden Die Regierenden hätten ökono­ mische Leistungen und die Abtretung von Rechten verlangt, dafür aber versprochen, die Ordnung im Innern aufrecht zu erhalten und den Schutz nach außen zu gewähr­ leisten (etwa ab 3000 v. u. Z.).169 Darüber hinaus sei es zu sozialen Maßnahmen ge­ kommen, die das Wohlstandsgefälle abmilderten, sowie zu ersten Ansätzen von Sozial­staatlichkeit.170

Parallel zu diesen objektiv-strukturellen Veränderungen sowohl durch die Verdichtung der Bevölkerung171 als auch durch die Technisierung der Pro­ duktion von Nahrungs- und Gebrauchsmitteln sei ein Wandel im Bewusstsein der Menschen entstanden:172 Städtisches Wohnen habe ein städtisches (‚zivi­ lisiertes‘) Bewusstsein hervorgebracht, Arbeitsteilung eine unterschiedliche Wertschätzung geleisteter Arbeiten, die Ausbildung sozialer Klassen und 169  Dazu G. Lenski (1973), S. 296: „Zur regierenden Klasse zu gehören, war gleichbedeutend mit dem verbrieften und durch die höchste Macht im Land garantier­ ten Recht darauf, am wirtschaftlichen Surplus, den die Bauernmassen und die Hand­ werker in den Städten produzierten, zu partizipieren. Das war der Lohn dafür, dass die Angehörigen dieser Klasse für die Aufrechterhaltung der Autorität des bestehen­ den Regimes im Allgemeinen und des Herrschers im Besonderen sorgten und ihr die nötige Geltung verschafften.“ 170  Näher dazu vor allem unten G 1–3 und K 1 a. 171  O. D. Duncan/A. J. Reiss jr. (1956), p. 67 ff. 172  K. Marx/F. Engels (1845–46/1971), S. 55: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht.“



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Stände ein Klassen- und Standesdünkel, usw.173 Diese Bewusstseinsverände­ rungen hätten die objektiven Veränderungen sowohl begleitet als auch inner­ lich bejaht und dadurch gestützt. • Am weitesten in der Anerkennung der produktiven Rolle des Bewusstseins ging August Comte, indem er nicht nur drei historische Epochen der Menschheitsge­ schichte annahm, sondern auch drei konvergierende Weisen des Denkens. Im „Kindesalter der Menschheit“ habe ein „theologisches oder fiktives Denken“ vor­ geherrscht, das sich natürliche Erscheinungen als Folge der Einwirkung von über­ natürlichen Kräften vorstellte.174 Im zweiten Stadium sei die Erkenntnis gereift, dass bewegende Ursachen des Weltgeschehens nicht transzendente Wesen, sondern abstrakte innerweltliche Kräfte sind, die vom Menschen gelenkt und zu Verände­ rungen der Gesellschaftsordnungen benutzt werden können.175 Im dritten Stadium sei auch diese Annahme als irrig erkannt und von einem wissenschaftsorientierten Denksystem abgelöst worden, wonach der Mensch aufgrund seiner Kenntnis der Naturgesetze in der Lage ist, auf die Außenwelt lenkend einzuwirken und u. a. ein Optimum an Wohlstand und sozialer Befriedigung zu erzeugen.176 • Weniger weit als Comte entfernte sich Herbert Spencer vom objektiven Ausgangs­ punkt, indem er die Evolution der Kooperationsformen mit einer Evolution des Den­ kens verband, ohne zwischen ihnen eine Wirkungsrichtung zu behaupten.177 Entspre­ chend der organisatorischen Integration menschlicher Bedürfnisse und Tätigkeiten habe es nacheinander drei Stadien der Kooperation gegeben: primitiv, militant und industriell.178 Ihnen hätten, aufeinander aufbauend, drei Denkweisen entsprochen:179 eine unreflektierte gemäß der Sitte, eine abstrakt auf soziale Gesetze reflektierende, und eine konkret auf ein System frei ausgehandelter Verträge setzende.180 173  K. Marx/F. Engels (1971), S. 23: „Die Moral, Religion, Metaphysik und sons­ tige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewusstseinsformen … haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklich­ keit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens. Nicht das Bewusstsein be­ stimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein.“ Im Gegensatz zu Marx hob Mao die Macht des revolutionären Bewusstseins hervor. Vgl. dazu R. Inglehart (1998), S. 20 f. 174  A. Comte (1830–42/1923), Bd. II S. 1 ff. 175  A. Comte (1923), Bd. II S. 362 ff. Comte meinte damit die neuzeitlichen Staats­ philosophien, die mithilfe abstrakter Prinzipien (etwa des Vertragsprinzips) die Ge­ sellschaftsordnung konstruieren wollen. 176  A. Comte (1923), Bd. III; vgl. auch Bd. I S. 214 f. 177  H. Spencer (1876 ff., 1882), vol. II-2, §§ 567 ff. 178  Unter „militant“ verstand Spencer (1882) das zwanghafte Moment zur Koope­ ration und zum Zusammenhalt in einer wenig differenzierten Gesellschaft (nach Art einer ‚Horde‘); unter „industriell“ verstand er die freiwillige und friedliche Arbeitstei­ lung der Gesellschaftsmitglieder zur Produktion von Gegenständen, die der Befriedi­ gung verfeinerter Bedürfnisse dienen (vgl. vol. II-2, p. V, ch. XVII–XVIII). 179  H. Spencer (1876 ff., 1882), vol. II-2, § 576. 180  Diesem Ansatz folgt heute noch eine Systemtheorie, die als Maßstab für die gesellschaftliche Entwicklung den Differenzierungsgrad der sozialen Funktionen und,

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Teil I: Entwicklung

• Diese Dreiteilung reduzierte wiederum Émile Durckheim auf zwei Idealtypen von Gesellschaftssystemen: auf ein „niederes“ und auf ein „höheres“ System. Er hielt aber an der gleichzeitigen Entwicklung organisatorischer und kommunikativer Komplexität fest. Das niedere System sei ausgezeichnet durch eine eher unreflek­ tierte, erzwungene („mechanische“) Solidarität, die sich in Bräuchen und Sitten niederschlägt, das höhere dagegen durch eine eher reflektierte und internalisierte („organische“) Solidarität, die sich rechtlichen Regelungen unterwirft.181 Die Ent­ wicklung sei von der „mechanischen“ zur „organischen“ Solidarität verlaufen und mit einer entsprechenden psychischen Evolution verbunden gewesen.182

Weniger vielgestaltig als die bisher genannten sind die primär auf subjektive Faktoren abstellenden Evolutionstheorien. Ihr gemeinsames Kennzeichen ist, dass sie die kulturelle Entwicklung als ein Produkt des menschlichen Geistes ansehen und somit dessen Autonomie gegenüber den objektiven Ver­ änderungen in der Sozialstruktur behaupten.183 Während in der Naturge­ schichte gemäß dem Prinzip der natürlichen Auslese die stärkeren, weil der Umwelt besser angepassten Individuen den Weg der Entwicklung bestimm­ ten, hätten in der Kulturgeschichte Wertideen, Weltdeutungsmodelle (Ideolo­ gien) oder zweckrationale Vorgaben die Entwicklung vorangetrieben.184 Im Laufe der Zeit hätten diese immer mehr an Bedeutung gewonnen, weil neue Erkenntnisse inzwischen durch Schriften und andere Kommunikationsmittel universell verbreitet wurden und in dieser Form auch die nachfolgenden Ge­ nerationen zuverlässig erreichen konnten.185 darin eingeschlossen, der gedanklichen Reflexion zugrunde legt (vgl. J. D. Y. Peel, 1969). 181  É. Durkheim (1893/1999). 182  Nach Durkheim konnte das kontraktuelle Element – im Gegensatz zu Spencers Ansicht – nur aus einem veränderten Kollektivbewusstsein heraus entstehen. 183  Als vorwärtstreibend wird das ‚symbolische Denken‘ mittels einer Kombina­ tion ‚frei geschaffener‘ Zeichen genannt (vgl. L. v. Bertalanffy, 1970, S. 49 ff.). Ein solches Denken repräsentiere nicht nur (i. S. einer Abbildtheorie) die Situationen oder Objekte der realen Welt, sondern mache „die Existenz oder das Auftreten dieser Situ­ ationen oder Objekte erst möglich“, weil es „ein Teil jenes Mechanismus [ist], durch den diese Situationen oder Objekte geschaffen werden“ (G. H. Mead, 1973, S. 117). Da der Mensch in seiner Sprache die reale Welt transzendiere, verlaufe sein Leben primär innerhalb einer kulturellen Sphäre, die zwar in mannigfacher Weise von den Strukturen der Realität beeinflusst wird, jedoch ihre Ordnung und ihr Ziel letzthin durch gesellschaftliche Ideen und Werte erhält (T. Parsons, 1975, S. 14 ff.; P. Meyer, 1982, S.  113 ff.). 184  Vgl. K. R. Popper/J. C. Eccles (1977: „Pilot-Funktion“ des Geistes); D. T. Campbell (1974), p. 179 ff.; H. Plotkin (2001). Dazu R. Inglehart (1998), S. 28, 327 ff., 448 ff. 185  Man hat versucht, die Weitergabe von Wissen an die folgenden Generationen mit der Weitergabe des genetischen Materials gleichzusetzen, indem man die Wissens­ einheiten als „Kulturgene“ (C. L. Lumsden/E. O. Wilson, 1981), „Meme“ (R. Dawkins, 1976; W. G. Runciman, 2009, p. 53 ff.; G. Schurz, 2011, S. 207 ff.) u. ä. bezeichnete.



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• Als bedeutender Vertreter dieser Richtung unterschied Alfred Weber drei Ebenen des Fortschritts: eine gesellschaftliche, eine zivilisatorische und eine kulturelle. Auf jeder dieser Ebenen hätten unterschiedliche psychische Kräfte die Evolution angetrieben und eine fortschreitende Rationalisierung und Differenzierung der subjektiven Handlungsschemata bewirkt.186 Auf der gesellschaftlichen Ebene habe die „Totalität der naturalen menschlichen Trieb- und Willenskräfte“ die Entwick­ lung universell und unumkehrbar von niederen zu immer höheren Stadien ge­ führt – „von Naivität zu Bewusstheit, von Dumpfheit zu immer intensiverem und ausgebildeterem Aufgehellt-sein aller Daseinssphären“187. Auf der zivilisatorischen Ebene seien in einem unumkehrbar fortschreitenden Intellektualisierungsprozess Werkzeuge, wissenschaftliche Methoden sowie Prinzipien der Organisation entwi­ ckelt worden, welche die Kontrolle über die natürliche und die soziale Umwelt ausdehnten. Und auf der kulturellen Ebene habe der Volksgeist kraft inneren Dran­ ges mittels Umformung des Vorgefundenen188 ständig neue symbolische Formen (Kulturgüter) hervorgebracht. Ob die vormaligen Triebkräfte dabei unterschwellig weiterwirkten oder ob sie abstarben, erfahren wir von Weber nicht.

Zwischen den jeweils an unterschiedliche Grenzen stoßenden objektiven und subjektiven Theorien steht nochmals eine vermittelnde Theorie, die objektive (institutionelle) und subjektive (psychische) Evolutionsfaktoren als im Wesentlichen gleich verteilt und in Wechselwirkung zueinander stehend an­ sieht: die Zivilisationstheorie von Norbert Elias.189 Sie nimmt an, dass einer­ Dadurch wird jedoch der Unterschied beider Evolutionsprozesse eher verwischt als ein Erkenntnisgewinn erreicht; denn Wissenseinheiten sind im Gegensatz zu biogeneti­ schen Einheiten nicht rigide, sondern ständig veränderbar, und ihre Übertragung ge­ schieht im Wege postnataler Instruktion anstelle von pränataler Prägung. Deshalb for­ dert Ch. Weinberger (1983, S. 201 f.) mit Recht, zwischen der biogenetischen Übertra­ gung von „Informationen“ und der soziokulturellen Weitergabe von „Wissen“ oder „Kenntnissen“ streng zu unterscheiden. Vollends verfehlt ist es, wenn man die soziokulturelle Evolution als Bildung und Weitergabe von „normativen Genen“ begreift (so aber B. Giesen/C. Lau, 1981, S. 229 ff.). Denn durch die Weitergabe von Normen wird die Vermehrung von Er­ kenntnissen keineswegs immer gefördert, sondern oft behindert. 186  A. Weber (1931), S. 286 ff. 187  A. Weber (1950), S. 26. 188  Nach A. Weber (1931, S. 290) ist die Kultur im Gegensatz zur Zivilisation nicht „fortschrittlich“; vielmehr gibt es „nur verschiedene Kulturphysiognomien der verschiedenen Geschichtskörper und Zeiten und in ihnen Aufstiegs-, Abstiegs- und Vollendungsepochen“. Denn (S. 291) jede Kulturproduktivität ist „stets ein unerwartet neu aus der Spontaneität der menschlichen Seele Erwachsendes“, dessen Entstehung nicht prognostiziert werden kann. 189  N. Elias (1939/1976). Zu Vorläufern der von ihm erstmals in größerem Zusam­ menhang entwickelten Zivilisationstheorie vgl. S. Jaeger (1986). Als heutige Vertreter der Wechselwirkungslehre können u. a. die im Sammelband von K.-S. Rehberg (1996) vereinigten Autoren angesehen werden. Eine Widerlegung von Elias’ Zivilisationsthe­ orie hat H. P. Duerr (1988 ff.) unternommen; kritisch hat sich u. a. auch G. Oesterdiekhoff (2000) geäußert. Beachtung verdient, dass Elias seine Entwicklungstheorie auf das Mittelalter und die Neuzeit Westeuropas bezogen und damit das Missver­

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seits Institutionen und Figurationen190 Anreizbedingungen für die psychische Entwicklung der Bevölkerung gewesen seien; andererseits habe die psychi­ sche Entwicklung der Bevölkerung aber auch selbst neue, weiterreichende Institutionen und Figurationen hervorgebracht. In der Geschichte ließensich folglich sowohl eine soziogenetisch bedingte Differenzierung und Integration psychischer Funktionen nachweisen als auch eine psychogenetisch bedingte Entstehung von differenzierteren Sozialsystemen – die dann ihrerseits den psychischen Differenzierungs- und Integrationsprozess gestützt hätten usf. Soziogenetisch seien Staatenbildung, Mechanisierung und Kulturierung des Lebens Produkte dieser Wechselprozesse gewesen, psychogenetisch Intellek­ tualität bzw. Rationalität des Weltbildes und des davon abhängigen Handelns. Übereinstimmendes Ziel der Entwicklung war jedoch in jedem Stadium, für den Menschen ein kompossibles Maximum an Gleichgewicht zu erzeugen „zwischen den gesamten Anforderungen seiner sozialen Existenz auf der ei­ nen Seite und seinen persönlichen Neigungen und Bedürfnissen auf der anderen“191. Dieser letztgenannten Vereinigungstheorie, welche die Verteilung der An­ teile von Psychogenese und Soziogenese je nach der historischen Situation als offen ansieht, dürfte der Vorzug vor allen Theorien zukommen, die sich für ein Überwiegen entweder der psychischen oder der sozialen Anteile ent­ schieden haben, ohne hierfür hinreichende Gründe angeben und absichern zu können. Dahinstehen kann dagegen, ob – wie bei Elias – die Tiefenpsy­ chologie einen besseren Ansatz zur wissenschaftlichen Analyse des psychi­ schen Anteils liefert oder ob – wie Georg W. Oesterdiekhoff in seiner Kritik des Elias’schen Werkes meint192 – der genetischen Erkenntnistheorie von Piaget der Vorrang einzuräumen ist. Dahinstehen kann ferner, ob Elias über­ haupt seinen Anspruch eingelöst hat, erstmals eine universalhistorische Ana­ ständnis gefördert hat, dass die Entwicklung zur Zivilisation erst im Mittelalter be­ gonnen habe. Dies lässt sich angesichts der bekannten Zivilisationshöhe in zumindest einigen der antiken Staaten (dazu unten G) nicht aufrechterhalten. Am wahrschein­ lichsten ist die Annahme, dass der Zivilisationsprozess mit der Gründung von Städten (civitates) eingesetzt hat, d.s. nicht weniger als fünf Jahrtausende vor dem Zeitraum, den Elias seiner Untersuchung zugrunde gelegt hat. 190  Unter „Figurationen“ versteht Elias (im Anschluss an G. Simmel) von indivi­ duellen Menschen gebildete „Interdependenzen“, bei der die Identität der Individuen gleichgültig ist (Beispiel: Arbeitsteilung); unter „Figurationsanalyse“ versteht er ein auf das Aufspüren solcher zwischenmenschlichen Zusammenhänge bzw. tatsächlichen „Interdependenzgetriebe“ gerichtetes Verfahren. 191  N. Elias (1939/1976), Bd. 2, S. 454. Dieser Fortschrittsoptimismus von Elias wird von H. P. Duerr (1990, S. 20 ff., 353 ff.; 1993, S. 20 ff.) allerdings mit der Be­ hauptung kritisiert, dass Stämme und Dörfer zivilisiert, Städte dagegen dezivilisiert hätten, sodass insgesamt ein Verfall zu diagnostizieren sei. 192  G. Oesterdiekhoff (2000) S. 135 ff.



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lyse der Zivilisationsentwicklung zu liefern. Für die nachfolgende – hier al­ lein zu behandelnde – historiogenetische Rechtstheorie ist dies gleichgültig, weil sie ein viel kleineres Spektrum umfasst als eine Zivilisationstheorie: Das Recht beschränkt sich auf die normative Ordnung des sozialen (und teilweise auch des politischen) Umgangs miteinander, seine Antriebskraft ist der feste Wille zur Gerechtigkeit der sozialen (und politischen) Verhältnisse; der große Rest der Zivilisation bleibt dagegen außen vor. Deshalb werde ich meiner folgenden Untersuchung die Vereinigungstheorie von Elias mit dieser Einschränkung zugrunde legen (siehe unten H 1) und den übrigen Theorien nur Aufmerksamkeit schenken, soweit sie zusätzliche Detailbeiträge geleistet haben. 3. Öko- und soziogenetische Gesetzmäßigkeiten Sowohl rechtliche Ordnungsnormen als auch ein ihnen entsprechendes Gerechtigkeitsbewusstsein entwickeln sich innerhalb von Rahmenbedingungen. Im Anschluss an Charles de Montesquieu und A. R. J. Turgot lassen sich diese in natürliche, soziale und kulturelle Bedingungen unterteilen.193 Und für die Entwicklung kann ihnen eine entweder fördernde oder hem­ mende Bedeutung in unterschiedlicher Stärke zugemessen werden. (α) Kulturökologische Theorie. Eine starke Bedeutung weist den natür­ lichen Rahmenbedingungen die ‚Kulturökologie‘ zu. Ihr Begründer, Julian Haynes Steward, definierte als ihre Methode „die Erforschung der Prozesse, durch die eine Gesellschaft sich ihrer Umwelt anpasst“,194 und als ihr Ziel, den Trend herauszufinden, dem Anpassungen an Umweltbedingungen gehor­ chen. Insoweit falle zunächst auf, dass im selben geographischen Raum – dem biologischen Entwicklungstrend entsprechend ‒ komplexere Organisa­ tionsformen aufeinander folgten.195 Weiterhin entspreche dem Trend, dass frühere Entwicklungsformen nicht einfach aussterben, sobald komplexere erreicht werden, sondern bestehen bleiben und ggf. Spezialaufgaben über­ 193  Ch. de Montesquieu (1748/1965), XIX 4 (: „Mehrere Dinge regieren die Men­ schen: Klima, Religion, Staatsmaximen, Beispiele aus der Geschichte, Sitten, Lebens­ stil. Aus all dem bildet sich als Ergebnis ein Gemeingeist.“); A. R. J. Turgot (1751/1990), S.  166 f. 194  J. H. Steward (1968), p. 337. Weiter heißt es bei ihm: „Its principal problem is to determine whether these adaptations initiate social transformations or evolutionary change. It analyses these adaptations, however, in conjunction with other processes of change. Its method requires examination of the interaction of societies and social in­ stitutions with one another and with natural environment.“ Zusammenfassend zu Stewards Werk: J. W. Raum (1990); Kritik aus darwinistisch-ökologischer Sicht: A. Alland (1970), S. 169. 195  J. H. Steward (1950), p. 106 f.

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nehmen. Und schließlich deute auf eine allgemeine Gesetzmäßigkeit hin, dass eine Reihe konkreter Umweltfaktoren in der Vergangenheit übereinstim­ mende Anpassungen zur Folge hatten. Zum Nachweis für die von ihm sog. ‚multilineare Evolution‘ untersuchte Steward196 die frühantiken Kulturen Mesopotamiens, Ägyptens und Chinas, deren Entwicklung auch für die antike Rechtsgeschichte bedeutsam war.197 Sie haben, so Steward, infolge der Gleichheit ihrer Umweltfaktoren überein­ stimmend vier zeitliche Phasen198 durchlaufen: eine Phase der Formung, eine der regionalen Blütezeit, dann eine der Dunkelzeit und schließlich eine Zeit der zyklischen Eroberungen. (1) In der Phase der Formung (formative era) wurde die Basis für technologische Entwicklungen gelegt, nämlich mit der Bewässerung des Landes, der Kultivierung des Bodens und der Viehhaltung begonnen. Sozialpolitische Einheit war die kleine Ortsgemeinde, deren Mit­ glieder waren Verwandtengruppen bzw. lineages.199 Jede Ortsgemeinde hatte ein religiöses Zentrum, dem gleichzeitig eine integrative Funktion für das Gemeinschaftsleben zukam. Die religiösen Führer organisierten alle wichti­ gen Gemeinschaftsaufgaben, insbesondere den Bau von Kanälen zur Bewäs­ serung des Bodens. (2) Der Phase der Formung folgte allenthalben eine regi­ onale Blütezeit (era of regional development and florescence), worin die Bevölkerung wuchs und gleichzeitig Klassenstrukturen herausbildete. Staats­ gebilde entstanden, die theokratisch geführt wurden; an ihrer Spitze stand eine Priesterschaft, gelegentlich auch ein erfolgreicher Feldherr. Da die Priesterschaft von der übrigen Bevölkerung mit allem Lebensnotwendigen versorgt wurde, hatte sie Muße genug, sich mit Astronomie, Mathematik und schriftlichen Aufzeichnungen zu beschäftigen. Aus der übrigen Bevölkerung ragten die Handwerker heraus. Sie entwickelten sich zu Spezialisten und trieben ihre Kunst auf eine bis dahin unbekannte Höhe. Zu den sozialpolitischen Verhältnissen in den antiken Staaten während ihrer beiden ersten Phasen bemerkt Steward: • Mesopotamien (ca. 4000 – nach 3000): Die Urbanisation beginnt. Es bilden sich mehrere Gemeinden umfassende Staaten, die im Wesentlichen theokratisch geführt werden, deren Führer aber im Krieg auch das Heer anführen. Man baut große Pa­ last-Tempel, die vor allem den Göttern der Landwirtschaft geweiht werden. Noma­ den bedrängen und infiltrieren gelegentlich die Staaten. Wichtigste kulturelle Er­ Folgenden J. H. Steward (1949/1955b); ferner (1955c). zu diesen Kulturen näher unten G 1 und 2. In seinen Vergleich hat Ste­ ward ferner Kulturen Mesoamerikas und Nordperus eingeschlossen. Seine Ergebnisse hat u. a. E. R. Service (1977) übernommen (S. 28); zu den genannten Kulturen vgl. bei ihm S. 217 ff. 198  Voran ging als erste Phase die des Jagens und Sammelns. 199  Verwandtengruppen sind die bilateralen Angehörigen einer Familie, lineages die Angehörigen unilateraler Abstammungsgruppen. Vgl. dazu noch unten F 3 β. 196  Zum 197  Vgl.



C. Genetische Materialien zur Rechtsgeschichte 61 rungenschaften sind eine phonetische Schrift, mathematische Systeme und erste Erkenntnisse in der Astronomie.

• Ägypten (ca. 3600 – nach 3000): Auch hier finden wir Tendenzen zur Urbanisation. Es entstehen mehrere Gemeinden umfassende Staaten mit jeweils einer eigenen Tiergottheit und Herrschaft der Oberhäupter der jeweils angesehensten lineages. Aufgrund von Kriegen kommt es zur Ausdehnung des Staatsgebiets. Je nach ihrem Rang in der Gemeinschaft erhalten die Einwohner unterschiedliche Begräbnisse, die von einem Totenkult zeugen. Man beginnt mit schriftlichen Aufzeichnungen; bleibende kulturelle Bedeutung erlangen kalendarische und numerische Systeme. • China (ca. 3000–2000): Es besteht eine Feudalherrschaft; Leibeigene müssen den Landbesitz des lokalen Herrschers bebauen. Ein göttlicher Monarch herrscht über allen; seine letzte Ruhestätte ist ein tiefes Grab. Knochen werden zur Vorhersage von Regen und für andere Orakelsprüche gebraucht. Drachengottheit; Menschenund Tieropfer. Kriegerische Konflikte werden ausgelöst um Weideland und auf­ grund des Drucks von Vieh treibenden Nomaden. Kulturelle Errungenschaft ist eine Bilder- und Zeichenschrift.

Kennzeichen der sich (3) nach einer dritten (Dunkel-)Zeit anschließenden (4) vierten Phase der zyklischen Eroberungen (era of cyclical conquests) sind die Ausweitung der politischen und ökonomischen Herrschaft über große Gebiete, eine starke Tendenz zur Verstädterung der Bevölkerung, das Entste­ hen eines ausgedehnten Militarismus und die Errichtung von Befestigungsan­ lagen rund um die Städte. Kriegsgötter erhalten im Pantheon der Gottheiten einen prominenten Platz; Priester-Krieger bilden die führende soziale Schicht, zumeist angeführt von einem göttlichen Monarchen, dessen Bedeutung auch noch nach seinem Tode mit einer aufwendigen Grabstätte gewürdigt wird. Die sozialen Klassengrenzen, die zuvor durchlässig waren und tüchtigen Leuten den Aufstieg gestatteten, werden nunmehr hereditär gefestigt. Zur sozialen Entwicklung bemerkt Steward im Einzelnen: • Mesopotamien (frühe sumerische Dynastien – Dynastie von Akkad): Die Städte wachsen und dienen als militärische, politische, religiöse und wirtschaftliche Zen­ tren. Der König ist sowohl religiöser als auch militärischer Führer und herrscht über ein Reich mit vielen Gemeinden. Die soziale Statuszugehörigkeit ist streng geregelt: der König, Repräsentant des höchsten Gottes (manchmal eines Kriegsgot­ tes), steht an der Spitze, die Priesterschaft und der Adel erlangen erblichen Status; Bauern, Handwerker und Lohnempfänger sind entweder einem Tempel zugeordnet oder arbeiten auf privatem Landbesitz; Gefangene werden Sklaven; Soldaten erlan­ gen bisweilen einen eigenen Status. Der Totenkult erlangt eine gewisse Bedeutung. • Ägypten (frühe Dynastien I–IV): Städte werden nach Plan angelegt. Die sozialen Strukturen verfestigen sich. Dem Gottkönig steht die militärische und politische Führung eines Staates zu, der durch Kriege stark vergrößert wird; seine Macht ver­ dunkelt diejenige der Priesterschaft. Ein Erbadel kontrolliert den Reichtum des Landes. Die Theologie gründet sich auf ein Pantheon von allgemeinen Gottheiten und auf einen Totenkult, der sich im Bau von Pyramiden machtvoll zur Geltung bingt.

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• China (Zhōu- bis einschl. Ming-Dynastien): Mit der Zhōu-Dynastie beginnt das Zeitalter der Eroberungen. Städte wachsen, bilden administrative, religiöse und wirtschaftliche Zentren. Ein göttlicher Führer und eine auf ihn eingeschworene Beamtenschaft kontrollieren den Staat. Die Gesellschaft ist streng geteilt in den militärisch und ökonomisch mächtigen Erbadel, Kaufleute, Hörige und Sklaven.

Steward200 erkannte an, dass der Nachweis einer gleichen sozialen Ent­ wicklung innerhalb einzelner Kulturen noch kein Beweis für das Wirken von allgemeinen kulturellen Gesetzmäßigkeiten ist. Auffinden ließen sich solche Gesetzmäßigkeiten jedoch, sobald man die Randbedingungen mitberücksich­ tigte, unter denen sich die untersuchten Kulturen entwickelten: Sie entstan­ den in einem trockenen oder halbtrockenen Gelände und waren daher, wenn sie wachsen wollten, auf die Anlage künstlicher Bewässerungssysteme ange­ wiesen.201 Die Bewässerung des Landes durch Kanäle war in der damaligen Zeit jedoch eine gewaltige Aufgabe: Sie war nur möglich, wenn natürliche Flussläufe das Land durchzogen und die Nahrungsgrundlage für eine größere Bevölkerung verbreiterten. Und sie bedurfte dann detaillierter Organisation und politischer Kontrolle, die ein Herrscher nur im Bunde mit den Göttern ausüben konnte; er musste deshalb zusammen mit seiner Familie die Spitze einer sowohl politisch als auch theokratisch führenden Schicht bilden.202 Waren all diese Voraussetzungen gegeben, war der durch Bewässerung erreichte Produktivitätsgewinn bei der Nahrungsbeschaffung allerdings so groß, dass er nunmehr Arbeitskräfte freisetzte, die sich der Entwicklung neuer Techniken widmen konnten – etwa der Herstellung von Geräten für die 200  Zum Folgenden J. H. Steward (1949), p. 16 ff., sowie die Zusammenfassung p.  22 f. 201  Dies gilt freilich nicht für den Norden von China, dessen regnerisches Klima eine von künstlicher Bewässerung unabhängige Agrikultur erlaubte (vgl. J. H. Steward, 1955c, p. 59). 202  Steward folgt darin, wie er selbst erwähnt (1969, p. 165), der Theorie der „hy­ draulischen Gesellschaft“ von K. Wittfogel (1957/1962). Nach dieser Theorie sind alle originären antiken Staaten (Mesopotamien, Ägypten, China, Indien, Mexiko und Peru) im Zuge des Auf- und Ausbaus von Bürokratien zwecks Steuerung riesiger Bewässerungssysteme entstanden. Der Staat beanspruchte eine Art ‚Obereigentum‘ über Grund und Boden, das Volk wurde auf einen unfreien Status herabgedrückt und der Willkür mächtiger Herrscher und deren Bürokratien ausgeliefert. Diese politische Maschinerie des Staates kam in Gang, als „a number of farmers eager to conquer [agriculturally] arid lowlands and plains [were] forced to invoke the organizational devices which … offer[ed] the one chance to success; they … work[ed] in coopera­ tion with their fellows and subordinate[d] themselves to a directing authority“ (p. 18). Wittfogels Theorie ist heute insoweit allgemein anerkannt, als der Zwang zum Bau größerer Bewässerungssysteme entweder das Bestehen einer zentralen politischen Macht voraussetzte oder aber ihr Entstehen bzw. Ausbau förderte (vgl. E. R. Service, 1977, S. 338 ff.). Ein durchgehender Trend war damit allerdings nicht verbunden (W. P. Mitchell, 1973).



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Hauswirtschaft oder von Waffen für die Kriegsführung. Eine solche Spezia­ lisierung der Handwerksberufe ließ ihre Produkte nicht nur immer zweckmä­ ßiger, sondern auch immer reicher und schöner werden – es bildete sich ein besonderer Sinn für Kunst heraus. Als die Bevölkerung, nachdem die Grenzen der landwirtschaftlichen Pro­ duktivität erreicht waren, immer noch anschwoll, musste man nach mehr Land und nach neuen Produktionsstätten suchen. Und da man sich nur noch in bewohnte Gebiete ausdehnen konnte, begann eine Phase der Kriege und der aufsteigenden und fallenden Reiche (era of rising and falling empires), die von Kriegern und militärischen Führern beherrscht wurde. Von jetzt an kam es deshalb nur noch zu wenigen kulturellen Neuerungen. Jedes Reich erreichte zwar noch eine Blütezeit und einen Gipfelpunkt, was Bewässerung, Bevölkerung und politische Organisation anbelangt; aber es folgte auch jedes Mal eine Periode des Verfalls. Wesentlich ausführlicher im Detail, allerdings im vorliegenden Zusammenhang weniger einschlägig, ist eine vergleichende Untersuchung von Robert Adams zur Entwicklung der Kulturen von Mesopotamien und Zentralmexiko.203 Auch er sah, dass – außer einigen wichtigen Faktoren, welche den Datenvergleich behindern204 – sich eine Fülle fundamentaler Übereinstimmungen feststellen lässt: zentrale Bedeu­ tung des Bewässerungsmanagements für das Anwachsen staatlicher Institutionen, allmähliche Stratifikation der Gesellschaft infolge des Entstehens von politischen und ökonomischen Eliten in den Städten neben den ursprünglichen gleichberechtigten Verwandtschaftsgruppen auf dem Land, zunehmende Bedeutung militärischer Grup­ pen, Spezialisierung der Arbeitsleistung (vor allem bei der Herstellung von Waffen, Geräten für den landwirtschaftlichen und Werkzeugen für den hauswirtschaftlichen Gebrauch), wiederholtes Hineindrängen von Randgruppen in die Führungsschicht. Abschließend aber kam auch er zu dem Ergebnis,205 dass beide von ihm untersuchten „räumlich ausgedehnten, komplexen, langlebigen, innovativen, typisch ‚zivilisier­ ten‘ Gesellschaften fundamental ähnlich waren, was freilich nicht bedeutet, dass es eine alle Einzelheiten umfassende Übereinstimmung gibt – weder in den allgemei­ nen Funktionen noch in den formalen Details. Aber die Ähnlichkeiten sind genü­ gend dicht und zahlreich, um in diesem wie in ähnlichen Fällen den Nutzen … einer eher verallgemeinernden, vergleichenden als Unterschiede betonenden, Gren­ zen setzenden Haltung zu rechtfertigen … So entdecken wir von Neuem, dass so­ ziales Verhalten nicht nur nach Gesetzen verläuft, sondern die Zahl solcher Gesetze sogar begrenzt ist. Im Falle kultureller Subsysteme (z. B. Verwandtschaft) und für ‚Primitive‘ (z. B. Jägerhorden) hat man dies zwar schon immer zugestanden. Doch nicht nur als abstrakter Glaubenssatz, sondern gleichermaßen als gültiger Aus­ gangspunkt für eine detaillierte empirische Analyse einiger der komplexesten und kreativsten menschlichen Gesellschaften trifft das zu.“ Folgenden R. McC. Adams (1966). Adams (1966), p. 35, 51. 205  R. McC. Adams (1966), p. 170, 175. 203  Zum

204  R. McC.

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(β) Soziobiologische Theorien. Im Unterschied zu der kulturökologischen weisen die soziobiologischen Theorien der natürlichen Umwelt eine lediglich begrenzende und daher zweitrangige Rolle zu. An die erste Stelle stellen sie neurologische Prozesse im Gehirn, welche die Produktion und die Entwick­ lung von sozialen Kulturnormen fördern. Ch. J. Lumsden und E. O. Wilson sprechen insoweit von „epigenetischen Regeln“206. Sie erkennen zwar an, dass menschliches Verhalten auch durch die natürliche Umwelt stimuliert wird. Und weil speziesgleiche Individuen über homologe Bedürfnisstruktu­ ren verfügen, verhielten sie sich in gleichen Umweltsituationen gleich, in unterschiedlichen Umweltsituationen verschieden. Doch sei mit der Kultur noch eine weitere Ebene der Verhaltensorganisation entstanden, die von Sys­ temgesetzlichkeiten eigener Art bestimmt werde: von Symbolsystemen und von zugehörigen Grammatiken, mit deren Hilfe der Mensch sein Verhalten von den Stimuli der Umwelt weitgehend abkoppelt und die Bedeutung seiner intern erzeugten soziokulturellen Werte und Normen erhöht. Aber setzen Stimuli aus der natürlichen Umwelt die schöpferischen Kräfte im Menschen dann wirklich nur frei? Weisen sie ihnen nicht vielmehr gleichzeitig auch die Richtung – sodass unterschiedliche Umwelten notwendig zu unterschiedlichen Kulturschöpfungen führen müssen? Diese Frage hatte Steward bejaht.207 Er hatte al­ lerdings, ebenso wie andere Autoren,208 als richtungweisend nur die Stimuli aus der geographischen Umwelt benannt, die Stimuli aus der sozialen Umwelt dagegen nicht einbezogen. Dadurch war er hinter Charles de Montesquieu zurückgefallen,209 dessen 206  Ch. J. Lumbsen/E. O. Wilson (1981), p. 7: „The rules comprise the restrains that the genes place on development … and they affect the probability of using one culturegene as opposed to another.“ Als ‚culturegene‘ ist ein Kultur produzierender Mechanismus im menschlichen Gehirn zu verstehen, der genetisch von einer Genera­ tion auf die andere übertragen wird (siehe dazu oben A 4). Heute verwendet man dafür meistens den von R. Dawkins (1976) gebildeten Begriff „mem“. Vgl. neuer­ dings G. Schurz (2011). 207  J. H. Steward (1955a), p. 30 ff. 208  Von älteren Autoren ist vor allem A. Bastian (1826–1905) zu nennen mit seiner Lehre von den „geographischen Provinzen“ als den „gesetzlich umgrenzten Arealen, innerhalb welcher das organische Leben unter einem charakteristischen Typus er­ scheint“ (1893, S. 36). Die Wechselwirkung zwischen Mensch und geographischer Umwelt wird von ihm allerdings nicht näher ausgeführt (vgl. auch unten Fn. 222). Ferner weist L. H. Morgan (1871/1908) den Unterschieden im geographisch spezifi­ schen Milieu einen (begrenzenden) Einfluss auf die durch Gehirn und Intelligenz gesteuerte Entwicklung zu – so etwa dem Fehlen domestizierbarer Wildformen in der westlichen Hemisphäre auf die Haustierhaltung (wo er als Kriterium für die Mittel­ stufe der Barbarei deshalb statt der Domestizierung von Tieren den Hausbau mit ge­ trockneten Lehmziegeln und die künstliche Bewässerung benennt). Schließlich spielt das geographische Konzept einer spezifischen Kulturlandschaft (cultural area) manchmal eine tragende Rolle, so etwa in der Arbeit von A. L. Kroeber (1939). 209  Ch. de Montesquieu (1748/1965), XIX. Auf ihn geht die Erkenntnis zurück, dass ökologische und soziokulturelle Elemente nicht nur den Gemeingeist eines Vol­



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Untersuchung über den „Geist der Gesetze“ schon Ende des 18. Jh.s erschienen war und gerade die stimulierende Bedeutung sozialer Faktoren in den Vordergrund ge­ rückt hatte. Montesquieu hatte sich ursprünglich als Naturwissenschaftler betätigt, dann aber seine naturwissenschaftliche Fragestellung auf die Erforschung der menschlichen Sitten und Gesetze angewandt. Er fragte statt nach den Erzeugungsursachen für die Naturgesetze nach den Erzeugungsursachen für die menschlichen Sozialgesetze, und er fand diese sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart210 im Gemeingeist der Völker. Diesen Gemeingeist sah er überall geprägt erstens vom Klima und von der Bodenbeschaffenheit der geographischen Umwelt, zweitens aber auch vom Verhältnis zu anderen Völkern, mit denen die Menschen Warenhandel und Wissens­ austausch betrieben, und drittens von der Religion.211

Vor allem dieser umfassende Ansatz Montesquieus verdient es m. E., wei­ terverfolgt zu werden, auch wenn man seine Erklärungskraft nicht überschät­ zen darf. Denn er kann zwar erklären, warum alle Völker meinten, sie stün­ den unter Obhut höherer Wesen: weil sie nämlich allesamt eine in sich abge­ schlossene Welt brauchten, um sich sicher zu fühlen. Aber er kann beispiels­ weise nicht erklären, warum ein Volk Rituale benutzt, um den sehnlich erwünschten Regen zu erzeugen, das Nachbarvolk aber nicht.212 (γ) Auswirkungen auf die Evolution von Normen. Schauen wir nun speziell auf die Entwicklung von Normen. Wir können erkennen, dass diese sich im selben Maße entwickelten, wie die Bedeutung der Stimuli aus der natürlichen Umwelt ab- und die aus ihrer soziokulturellen Umwelt zugenommen hat. Als Jäger und Sammler lebten die Menschen in kleinen Horden fast ausschließ­ lich davon, was ihnen die Natur als Nahrungsgrundlage bot; deshalb waren sie vor allem von der natürlichen Umwelt abhängig und mussten sich hüten, durch ihre Lebensweise die Übereinstimmung mit ihr zu stören. Für ihr Ver­ hältnis zueinander brauchten sie dagegen nur wenige einfache soziale Nor­ men, die kaum aus dem, was zwischen ihnen Brauch war, hervorstachen. Als sie dagegen an den Flüssen auf engerem Raum sesshaft wurden, mussten sie kes, sondern auch dessen Recht hervorbringen. Nach Deutschland kamen seine Ge­ danken u. a. über den Juristen Gustav Hugo, der zusätzlich darauf hinwies, dass der Engländer Edward Gibbon in seinem berühmten Werk „Decline and Fall of the Ro­ man Empire“ (1776–1788) mit seiner Einteilung des römischen Rechts in drei Perio­ den „eben die Methode fortführte, die Montesquieu für das historische Studium von Rechten vorgeschlagen hatte“ (P. Stein, 1981, S. 124). Für eine stärkere Berücksichti­ gung der sozialen Ursachen gegenüber den physischen, die bei Montesquieu im Vor­ dergrund stehen, sprach sich vor allem A. R. J. Turgot (1751/1990) aus. 210  Ch. de Montesquieu (1748/1965), Vorwort. 211  Ch. de Montesquieu (1748/1965), XIV ff. 212  So berichtet M. Douglas (1966, p. 68) vom Glauben der Dinka, „that rain ritu­ als will cause rain“, während E. E. Evans-Pritchard (1956, p. 200) vom Nachbarvolk der Nuer mitteilt, „that they are little interested in the rituals for bringing rain“.

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sich auch normativ klarer voneinander abgrenzen: auf eigenen Feldern mit festen Grenzen Ackerbau betreiben, auf eigenen Wiesen eigenes Vieh hüten, durch eigene technische Erfindungen ihr Arbeitspensum entlasten. Und als ihr Lebensraum nochmals enger wurde, weil sie in Städten lebten, wuchs ihr Bedarf an Organisationsnormen wie nie zuvor. Doch nicht nur das. Die neuen Normen erforderten auch neue Formen der Legitimation, weshalb neue Legi­ timationsstränge entstehen mussten, die von überirdischen Wesen über irdi­ sche Herrscher bis zu den gemeindlichen Ordnungshütern reichten.213 Und um das alles auch gedanklich zu bewältigen, bedurften sie entweder einer Vergrößerung ihrer Gehirnpotentiale oder aber einer Umorganisation ihrer Gehirnfunktionen, indem bisher wenig gebrauchte Potentiale Platz machten für neue. Was seinerzeit geschah und wie es geschah – wir wissen es nicht. Wir wissen auch nicht, ob die Entwicklung vielleicht schon vorbereitend in Gang gekommen war.214 Wir wissen nur, dass der Mensch offenbar genügend Potentiale hatte215 oder hinzuerwarb, um sich den Herausforderungen eines immer differenzierteren Zusammenlebens in immer größeren Gemeinschaf­ ten auf immer engerem Raum mittels einer immer größeren Menge und Vielfalt an Normen erfolgreich zu stellen. Der Weg für die künftige Entwick­ lung bis hin zu den riesigen Massenstaaten der Neuzeit und ihrem hoch aufgetürmtem, von Einzelnen nicht mehr überschaubarem Rechtsmaterial wurde damals jedenfalls freigegeben. Ich werde zum Abschluss meiner Un­ tersuchung eine Skizze von dieser Welt zu geben versuchen (unten K 7). 4. Spezifisch rechtsgenetische Gesetzmäßigkeiten Im Gegensatz zur großen Anzahl von Untersuchungen zu den humangene­ tischen Ursachen und Gesetzmäßigkeiten für die allgemeine soziokulturelle Entwicklung liegen nur wenige Untersuchungen zu etwaigen autochthonen Ursachen und Gesetzmäßigkeiten für die historische Rechtsentwicklung vor. Ansätze finden wir vor allem bei den Rechtshistorikern des 19. Jh.s Friedrich Carl von Savigny und Henry Maine – allerdings undifferenziert unter Hinweis auf das gesamte ‚organische Leben‘, dessen integraler Bestandteil auch das werdende Recht gewesen sei und sich deshalb mit entwickelt habe: für Savi­ gny als Bestandteil der Volkskultur, hervorgebracht vom „stillwirkenden“ Volksgeist, für seinen Schüler Maine als ein Produkt ausschließlich „fort­ schrittlicher Gesellschaften“ („progressive societies“), die dem Recht mehr Einzelnen dazu L. Cavalli-Sforza (1999), S. 188 ff. dazu etwa St. Mithen (1996). 215  Die Beherrschung des Feuers könnte für hirnphysiologische Veränderungen die notwendigen Voraussetzungen geschaffen haben, da es einen höheren Fleischkonsum und damit einen erhöhten Anteil von Phosphorverbindungen in der Nahrung ermög­ lichte. Vgl. dazu J. H. Reichholf (1993), Kap.12. 213  Im

214  Vgl.



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oder weniger weit voraus gewesen seien. Repräsentanten des Volksgeistes wa­ ren für Savigny anfangs die Priester und Laienrichter, später ein abgesonderter gelehrter Juristenstand.216 Maine wurde konkreter und damit folgenreicher. Er arbeitete insbesondere den Unterschied zwischen den frühen Gesellschaften heraus, in denen die persönliche Verwandtschaftsbindung die wesentliche Grundlage des Zusammenhalts darstellte (Statusgesellschaften), und den spä­ teren Gesellschaften, in denen der Zusammenhalt auf unpersönlichen Bindun­ gen und schließlich auf dem Zusammenschluss im Territorialstaat gründete (Vertragsgesellschaften), und er behauptete, dass die Entwicklung im Privat­ recht überall „from Status to Contract“ und damit in Richtung persönlicher Befreiung verlaufen sei.217 Heute erkennt man diese Behauptung zwar nicht mehr als ein strenges Entwicklungsgesetz an, jedoch immer noch als eine zu­ treffende Trendbeschreibung.218 Sie ist m. E. jedoch insofern falsch, als eine Evolution niemals die Ebenen wechseln, mithin niemals von der Ebene des sozialen Status auf die des individuell verpflichtenden Vertrages überspringen kann. Auch war sie niemals eine Einbahnstraße, sondern in ihren Funktionen und Fähigkeiten stets an die Gesamtheit des Organismus rückgekoppelt – wes­ halb der individuelle Vertrag jene sozialen Bindungen wieder in sich aufneh­ men musste, aus denen er sich (scheinbar) emanzipiert hatte.219 Spätere Autoren220 erkannten dem Recht und seinen Prinzipien eine spezi­ fisch eigene Entwicklung zu. Sie äußerten sich aber nicht über eine mögliche Übereinstimmung der vorantreibenden Kräfte. Leopold Wenger erblickte221 das letzte Ziel eines jeden Vergleichs individueller Rechtsentwicklungen zwar noch darin, dass es einer „universalrechtsgeschichtlichen“ Betrachtung des Rechts das Tor öffne infolge „der Aufdeckung von Gesetzen, nach denen sich die Rechtsentwicklung überhaupt vollzieht“.222 Doch schränkte er be­ insbesondere F. C. von Savigny (1814). (1874), p. 170. Auf Maine aufbauend, wenngleich teilweise kri­ tisch, die Untersuchung von N. C. Sen-Gupta (1962), speziell zur Entwicklung des Kontraktes p.  99 ff. 218  Zur Kritik vgl. etwa L. Pospíšil (1982), S. 189 ff.; J. Stone (1976), S. 220 ff. 219  Vgl. dazu unten IV 1 (β). 220  Zu nennen sind Arbeiten von O. Holmes, A. L. Corbin, R. Ch. Clark, die zwar auf den Thesen Savignys oder Maines aufbauen, darüber hinaus aber stärker die Ei­ genentwicklung der gesetzlichen Normen und Prinzipien betonen. 221  Vgl. zusammenfassend L. Wenger (1953), S. 15 ff. (Zitat S. 23). Zu ihm vgl. etwa W. Selb (1993), S.  47 ff., 55 f. m. w. Nachw. 222  Wenger bezieht sich in diesem Zusammenhang u. a. auf die Lehre des Ethnolo­ gen A. Bastian (1881), wonach die Menschen aufgrund ihrer gleichen psychischen Veranlagung in allen Teilen der Erde unabhängig voneinander zu gleichen oder doch ähnlichen kulturellen – und somit auch rechtlichen – Entwicklungen hätten kommen müssen. Alles „ideell Gestaltete“, so hatte Bastian (a. a. O., S. 14 f.) ausgeführt, sei „als ein Produkt des psychischen Wachstumsprozesses aufzufassen, als eine nach dem 216  Vgl.

217  H. S. Maine

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reits ein, dass man in den Vergleich individueller Rechtsentwicklungen dann nur diejenigen einbeziehen dürfe, die auf demselben kulturellen Level statt­ gefunden haben, also etwa nur die eines Naturvolks mit der eines anderen oder die in einer asiatisch-orientalische Despotie mit der in der absolutisti­ schen römischen Kaiserzeit. Und noch vorsichtiger glaubte Paul Koschaker223, selbst dann den Vergleich auf gewisse „Richtungskomponenten“ be­ schränken zu müssen, „die keinen Anspruch auf allgemeine naturgesetzliche Geltung haben, sondern unter bestimmten Verhältnissen typisch auftreten“.224 Werde beispielsweise eine Menschengruppe in ein bestimmtes geographi­ sches, soziales und wirtschaftliches Milieu hineingestellt, dann könne es sein, dass sie zu hierfür typischen Rechtsbildungen gelange: etwa zu be­ stimmten Weisen der Haftung für Schädigungen, zu einem Pfandrecht als bedingte Ersatzleistung für Schulden oder zur Kaufehe als typische Reaktion auf ein patriarchalisches Familiensystem. Aufgabe der Rechtsvergleichung sei deshalb lediglich, möglichst viele solcher typischen Komponenten zu sammeln.225 Doch dabei sei stets zu berücksichtigen, dass die Entwicklung Gesetze des menschlichen Organismus durch äußerlich einfallenden Reiz angeregte Bildung“ (Elementargedanke); es werde nur unwesentlich modifiziert durch die Be­ sonderheiten der geographischen, klimatischen und wirtschaftlichen Bedingungen (Völkergedanke). Einblicke in die Wachstumsprozesse des Menschengeistes gewähre uns vor allem die Betrachtung der Naturvölker; doch auch für die höheren geistigen Stadien der Menschheit gebe sie „Leitungsfäden“ ab (S. 17). Wenger hält diesen Thesen allerdings entgegen, dass Kulturerscheinungen wie das Recht weniger einer naturwissenschaftlichen als vielmehr einer historischen Erklä­ rung bedürften und dass deshalb „gegenüber dem nivellierenden und generalisieren­ den Elementargedanken der individualisierende Völkergedanken stärker hervorgeho­ ben werden“ müsse (S. 14). Man müsse daher „nach einseitigen oder nach gegensei­ tigen Rechtsbeeinflussungen suchen, wie solche vor allem aus Wanderungen, Mischungen, Überlagerungen von Rechtskreisen ermittelbar sind“ (S. 23). Dieser teilweise zutreffenden Kritik lässt sich heute vor allem hinzufügen, dass Bastians Grundthese insoweit überholt ist, als man aufgrund von psychologischen Studien an einerseits US-amerikanischen, andererseits koreanischen und japanischen Jugendli­ chen annimmt, dass das Heranwachsen des Menschen in einer Kultur sein Weltbild und seine Denkungsart wesentlich beeinflusst (vgl. T. Masuda/R. E. Nisbett, 2001; R. E. Nisbett/K. Peng/I. Choi/A. Norenzayan, 2001; zusammenfassend R. E. Nisbett, 2003). Offenbar ist die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns genetisch nur unvoll­ kommen vorgeprägt und weitestgehend epigenetisch entwicklungsfähig und somit unterschiedlichen Umwelt- und Kultureinflüssen gegenüber „plastisch“. Deshalb ist es auch nicht erstaunlich, wenn das Rechtsbewusstsein und die Rechtsinstitute, die ja insgesamt einer Spätphase der kulturellen Entwicklung der Menschheit angehören, bereits in ihren ersten nachweisbaren Anfängen erheblich voneinander abweichen (vgl. dazu schon E.-J. Lampe, 1988, S.  97 ff.). 223  Vgl. insbesondere P. Koschaker (1936; 1938). 224  P. Koschaker (1936), S. 148. 225  Dies entspricht auch der kulturökologischen Auffassung von J. H. Steward (vgl. oben C 3 α).



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durch atypische Umstände abgeändert werden könne: etwa aufgrund der aty­ pischen Veranlagung eines Volkes oder aufgrund des atypischen Verlaufs seiner Geschichte. Koschaker war sich im Klaren, dass solche Einschränkun­ gen „die vergleichende Rechtswissenschaft als besondere historische Diszi­ plin im Grunde negieren“ und dass, wenn „die typischen Komponenten nur relativen Wert“ haben, lediglich „Rechtsgeschichte unter Verwendung der komparativen Methode“ übrig bleibe. Was nach seiner Meinung dennoch gefördert werde, sei eine bessere „Einsicht in die Rechtsbildung“226. Während Wenger und Koschaker die Frage vernachlässigten, welche inne­ ren Kräfte eines Volkes sein Rechtssystem entwickeln und nach welchen Ge­ setzen die Entwicklung verläuft, war die Antwort gerade hierauf das Anliegen Rudolph von Jherings.227 Obwohl er vom römischen Recht und seiner Einzig­ artigkeit ausging, war sein Ziel doch, mehr zu liefern als nur eine „nach Zeit und Inhalt angeordnete Zusammenstellung des rechtshistorischen Materials“, verbreitert etwa durch einen vergleichenden Blick auf fremde Rechtsordnun­ gen. Vor Augen stand ihm vielmehr eine „allgemeine Naturlehre des Rechts“, der er dadurch näher zu kommen hoffte, dass er nicht das römische, sondern das universelle Recht am Beispiel des römischen Rechts untersuchte und des­ halb nicht die individuelle Ausgestaltung, sondern den Geist des römischen Rechts zu seinem Thema machte.228 Denn im Geist des römischen Rechts sah er den Geist des Rechts schlechthin und damit des Rechts eines jeden Volkes Gestalt gewinnen. Was aber machte diesen Geist aus? Nach Jhering waren es „jene treibenden Kräfte des Rechts im tiefsten Innern“, die „zwar den ganzen Organismus durchdringen, aber regelmäßig an keinem einzigen Punkt so deut­ lich hervortreten, dass man sie notwendigerweise wahrnehmen müsste“. Es waren „Qualitäten, Charakterzüge der Rechtsinstitute, allgemeine Gedanken, die als solche keiner Anwendung fähig sind, sondern nur auf die Gestaltung der praktischen Sätze des Rechts einen bestimmenden Einfluss haben“229. Al­ lerdings – wie diese Kräfte das Recht vorantreiben, das blieb bei ihm unklar; denn sein Ausgangspunkt, die Lehre vom Recht „als eines objektiven Organis­ mus der menschlichen Freiheit“230, zwang ihn zu der metaphysischen Deu­ tung, dass der Rechtsgeist ein Teil des „schaffenden Weltgeistes“231 sei, der über die Köpfe der Menschen hinweg die Rechtsgeschichte gestaltet. Damit landete er aber im Reich der Spekulation, worin die wissenschaftliche Diskus­ sion ihm nicht mehr folgen konnte. 226  P.

Koschaker (1936), S. 150. (1907). 228  R. von Jhering (1907), S. VII, 24 f. 229  R. von Jhering (1907), S. 45. 230  R. von Jhering (1907), S. 25. 231  R. von Jhering (1907), S. 89. 227  R. von Jhering

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In neuester Zeit hat man an die Stelle der idealistischen Konzeption J­herings deshalb eine (oder mehrere) sozialwissenschaftliche treten lassen und das Recht sowie seine Entwicklung lediglich von einem Außenstand­ punkt aus betrachtet. Doch dadurch hat man zwar die Seiten vertauscht, ist aber genau so einseitig geblieben (weil außer Recht und Soziologie in den neuen Konzeptionen nichts mehr vorkommt232). Man hat übersehen, dass das Recht so wenig wie der Mensch, der sein Schöpfer ist, der Umwelt passiv gegenübersteht, sondern dass beide die Umwelt formen, sozialfeindliche Zustände und Verhaltensweisen bekämpfen, sozialfreundliche fördern233 und damit auf den Selektionsdruck reagieren, dem der Mensch von Seiten der Umwelt ausgesetzt wird. Dieser Selektionsdruck wird auch die zukünftige Formung des Rechts umso stärker bestimmen, je freier der Mensch glaubt, sich gegenüber seiner Umwelt verhalten zu können. Er ist zwar der Schöpfer seines Rechts und der Dirigent seiner Entwicklung; aber sein (oft verderb­ licher) Einfluss auf die Umwelt begrenzt mittelbar sein rechtliches Schöpfer­ tum und wird auch künftig immer mehr Randbegrenzung sein.

D. Bisherige Untersuchungen zur Historiogenese des Rechts (Auswahl) Abschließend will ich einige Untersuchungen zu den genetischen Voraus­ setzungen der Rechtsgeschichte kurz vorstellen, von denen die meisten deren Zusammenhang mit der frühgeschichtlichen Kulturentwicklung betonen. Ich gliedere sie in (1) Studien zum Einfluss humangenetischer Faktoren und Gesetzmäßigkeiten, (2) Studien zum Einfluss ökologischer und soziokultu­ reller Faktoren und Gesetzmäßigkeiten und (3) Studien zum Einfluss autoch­ thoner Faktoren und Gesetzmäßigkeiten auf die Rechtsentwicklung. 1. Untersuchungen zum Einfluss humangenetischer Faktoren Ausgangspunkt der erstgenannten Gruppe von Untersuchungen ist die Be­ obachtung, dass, wie alle soziokulturellen Erscheinungen, so auch das Recht 232  Siehe dazu etwa T. Parsons (1967) und N. Luhmann (1972; 1993, S. 16: „Der Soziologe beobachtet das Recht von außen, der Jurist beobachtet es von innen.“). Zu Luhmann vgl. noch unten 2 b α. 233  J. Monod (1975, S. 114 f.) bringt dazu den Vergleich mit dem Verteidigungs­ system des Organismus gegen ‚fremde‘ Substanzen (z. B. Bakterien oder Viren) durch Antikörper. Diese sind Eiweißstoffe, die einen in den Organismus eingedrungenen Schadstoff erkennen, wenn sie mit ihm schon zuvor einmal (z. B. durch Impfung) Bekanntschaft gemacht haben, und die die Produktion von Zellen fördern, die den Schadstoff bekämpfen.



D. Bisherige Untersuchungen zur Historiogenese des Rechts (Auswahl) 71

sich im Einklang mit den Menschen, die es setzten und ihm gehorchten, entwickelt hat.234 a) Biogenetische Untersuchungen Der österreichische Zivilrechtsdogmatiker Franz Gschnitzer setzte als „Elementargedanken“ an die Stelle von Jherings „schaffendem Weltgeist“ die Prinzipien der natürlichen (biotischen) Evolution.235 Die Akte des Gesetzge­ bers seien vergleichbar mit biotischen Mutationen:236 Ebenso wie diese un­ terlägen sie „weiterer Auslese, wobei freilich im Großen der Eindruck stetiger Entwicklung in bestimmter Richtung [= Orthogenese] erhalten bleibt“. Auch die biotische Differenzierungstendenz habe im Recht ihre Parallele. Beispiel­ haft lasse sich das an der Gebrauchsüberlassung verdeutlichen: Von der Ur­ leihe führe die Entwicklung über die römische locatio conductio im österrei­ chischen ABGB zur Aufspaltung in den Bestandvertrag, der wiederum in Miete und Pacht divergiert, und in den Lohnvertrag, der sich wieder in den Dienst- und Werkvertrag gabelt, wobei der Dienstvertrag sich zum großen Gebiet des Arbeitsrechts ausgewachsen und auch der Werkvertrag zahlreiche Sonderformen (Beförderungsvertrag, Kommission, Verlagsvertrag) hervorge­ bracht hat. Resümierend schreibt er: „Wenn wir im Recht von Ahnenreihen, Urtypen, Mutationen, Selektion, Adaption, Senilismen sprechen, kann das nur im übertragenen Sinn gemeint sein, weil sich alle diese Vorgänge nur unter Dazwischenkunft des Menschen vollziehen, der die Rechtsinstitute ererbt oder erzeugt. Nicht Vererbung, sondern Tradition finden wir vor. Und doch ist das Gesamtergebnis so, als ob eine biologische Vererbung statt­ gefunden hätte. Ich glaube, dies so erklären zu können: Der Mensch ist nach Na­ turgesetzen gebildet, es ist daher nicht verwunderlich, dass das, was er hervor­ bringt, den gleichen Gesetzen wie er selbst unterworfen ist. Das Gegenteil wäre unnatürlich.“

234  J. Kohler (1923), § 5 II: „Das Recht kann nicht ein gleiches bleiben. Es muss sich der jeweils wandelbaren Kultur anpassen und so gestaltet sein, dass es den wech­ selnden Kulturanforderungen entspricht.“ Ferner E.-J. Lampe (1974), S. 153  ff., 162 ff. 235  F. Gschnitzer (1946). 236  Vgl. aber L. Cavalli-Sforza/M. W. Feldman (1981), p. 65 f.: „Mutation is typi­ cally an error in copy, which as a result is not identical to the master, or it is a chemical change in the master to be copied. … In the cultural process the change is not necessarily a copying error, but can often be directed innovation.“ E.-J. Lampe (1987), S. 26 f.: „Die genetische Differenzierung entsteht … als ein Produkt von Zu­ fall und Notwendigkeit. Die juristische Differenzierung dagegen wird typischerweise weder zufällig noch notwendig herbeigeführt, sondern wohlüberlegt und vernünftig.“

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Einige Jahrzehnte später knüpfte Herbert Zemen – auch er ein österreichi­ scher Zivilrechtler – an dieses Resümee an.237 Allerdings sah er die steigende Komplexität der Rechtskultur und die Vereinheitlichung divergierender Rechtskulturen weniger durch die biotische Evolution begründet als vielmehr durch die „Zielstrebigkeit der menschlichen Natur“238. Und im weiteren Ver­ lauf seiner Arbeit versuchte er sogar, „alle Eigenschaften des [natürlichen] Evolutionsprinzips“ in dieses Konzept einzubeziehen. Das Schwergewicht seiner Untersuchung blieb allerdings eindeutig das Evolutionsgesetz der Di­ vergenz. Denn für entscheidend hielt er, welches von mehreren divergieren­ den Rechten sich durch seine „innere Qualität“ gegenüber dem selegierenden Druck der übrigen behaupten bzw. sogar expandieren kann. Als diese innere Qualität bezeichnete er (anstelle des ökonomischen Nutzens)239 die Fähigkeit des Rechts zur Integration all seiner Institutionen – insbesondere der drei Institutionen der Staatsgewalt (föderatives, Gewaltenteilungs- und Rechts­ schutzsystem) – in ein einheitliches Gesamtsystem und damit die Sicherung einer einheitlichen Rechtsordnung. „Die Spezialisierung und Auffächerung der Rechtsordnung in Disziplinen“ müsse in der dogmatischen Systembil­ dung ihr Gegengewicht erhalten. b) Psychogenetische Untersuchungen Noch einen Schritt weiter als Zemen entfernte sich Georg W. Oesterdiekhoff vom biogenetischen Konzept. Stattdessen unternahm er es, die Entwick­ lung von Rechtseinrichtungen mittels der psychogenetischen Erkenntnistheo­ rie Piagets240 zu erklären: In den frühen Kulturen seien die traditionellen Familienstrukturen und der Ahnenkult, Erfolgshaftung, Racherecht und Or­ dalverfahren Ausflüsse eines präformalen, das Ordalverfahren Ausfluss eines magisch-animistischen Denkens gewesen;241 in den fortgeschrittenen Kultu­ ren dagegen hätten analytisches Denken und wissenschaftliche Weltsicht diese Wirklichkeitskonstruktion überwunden und einem rationalen Rechts­ verständnis Platz gemacht.242

237  H. Zemen 238  Kritisch

(1983). zu diesem Ausgangspunkt meine Besprechung in: ARSP 72 (1986),

S.  144 ff. 239  Zur ökonomischen Theorie des Rechts vgl. unten D 2 a. 240  Zu ihr vgl. oben C 2 c bb α. 241  G. W. Oesterdiekhoff (1997), S. 88 ff., 115 ff. 242  G. W. Oesterdiekhoff (1997), S.  183 ff.



D. Bisherige Untersuchungen zur Historiogenese des Rechts (Auswahl) 73

c) Ethnogenetische Untersuchungen Aus der großen Zahl ethnologischer Untersuchungen243 seien lediglich diejenigen von Paul Vinogradoff und von E. Adamson Hoebel hervorgeho­ ben. Vinogradoff vertrat zur Rechtsevolution die Ansicht, dass rechtliche Prinzipien „veränderliche Entitäten [sind], die verschiedene Entwicklungssta­ dien durchlaufen: undifferenzierten Anfang, allmähliche Differenzierung, Kämpfe und Kompromisse, Wachstum und Verfall“244. Die Gründe für ihren Wandel stimmten mit denen überein, die nach dem heutigen Stand der Evo­ lutionsbiologie in der gesamten Natur gelten. Hoebel stimmte diesem Ansatz in einer Reihe von Einzeluntersuchungen zu245 und kam zu dem Schluss:246 „Wie die Gesellschaft und die Kultur, so ist auch das Recht in seiner Entwicklung dadurch gekennzeichnet, dass es immer komplexer wurde. […] Es ist zugleich die Tendenz offenkundig geworden, das Vorrecht der Verfolgung eines Delikts und der Verhängung rechtlicher Zwangsmaßnahmen vom Individuum und seiner Verwandt­ schaftsgruppe auf beauftragte Repräsentanten der Gesellschaft mit klaren Kompe­ tenzen zu übertragen. […] Richterliche Aufgaben gewinnen allgemein gegenüber der bloßen Rechtsetzung stetig an Bedeutung.“

d) Eigene Untersuchungen Die bisher referierten Äußerungen – mit Ausnahme derjenigen Oesterdiek­ hoffs – beschränkten sich darauf, das Grundmuster der biotischen Evolution (Mutation, Selektion, Stabilisation) auf die Rechtsentwicklung zu übertragen. Bei den Gleichsetzungen ‚rechtliche Neuerungen = Genmutationen‘ und ‚Beibehaltung/Ablehnung solcher Neuerungen = natürliche Auslese‘ handelt es sich jedoch nur um relativ unverbindliche Analogien. Ich selbst habe 243  Auf die große Zahl von Untersuchungen im Sammelband von W. Fikent­ scher/H. Franke/O. Köhler (1980) sei hier nur pauschal hingewiesen. Sie werden je­ weils in den historischen Abschnitten F und G der vorliegenden Untersuchung ausge­ wertet. 244  P. Vinogradoff (1920), p. 160: „Mobile entities, passing through various stages: different beginnings, gradual differentiation, struggles and compromises, growth and decay“. Ähnlich äußert sich wenig später O. Spengler (1923), S. 29: „Jede Kultur hat ihre eigenen Möglichkeiten des Ausdrucks, die erscheinen, reifen, verwelken und nie wiederkehren.“ 245  Hoebels Beweisführung beruhte auf Studien an den indigenen Völkern Ameri­ kas und Afrikas. Andere Forscher, die ihre Untersuchungen auf andere Regionen und weitere Rechtsordnungen erstreckt haben, sind indes zu keinen wesentlich anderen Erkenntnissen gelangt. Vgl. die Literaturhinweise bei U. Wesel (1985), S. 356 ff. Rei­ ches Material aus der Feder älterer „Forschungsreisender und Gelehrter“ überliefert A. H. Post (1894–95/1970). 246  E. A. Hoebel (1968), S. 364, 412 f.

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nachzuweisen versucht,247 dass weitere Gesetzmäßigkeiten der biotischen Evolution248 der Redeweise von einer ‚Evolution [auch] des Rechts‘ mehr Berechtigung verleihen.249 Mein Ausgangspunkt war, dass eine Rechtsordnung zwar – gleich einem biotischen Organismus – ein in sich geschlossenes, nach außen aber offenes System ist, das einerseits aufgrund von Impulsen aus der Umwelt seine Ak­ teure, andererseits aufgrund von Impulsen seiner Akteure die Umwelt verän­ dert.250 Das System lasse darüber hinaus gleich einem Bioorganismus eine Zunahme seines Differenzierungsgrades erkennen (Auseinandertreten von Zivilrecht und Strafrecht, Vertrag und Delikt u. a. m.) mit der Folge, dass Rechtsprobleme nicht mehr aufgrund abstrakter Rechtsprinzipien oder vager Analogien gelöst werden müssen, sondern aufgrund unmittelbar anwendbarer Spezialregelungen. Die aus der biologischen Sphäre bekannte Spezialisation kehre mithin im Recht wieder (lex specialis derogat legi generali). Rückläu­ fig komme es ferner zur Ausbildung von ‚unselbstständigen‘ Normen, deren Funktion darin bestehe, die diversen Spezialnormen in die einheitliche Ge­ stalt eines Rechtsinstituts oder eines Rechtsgesetzes und schließlich in die ‚Einheit der Rechtsordnung‘ zu integrieren. Ohne eine solche Integrationsleistung wäre das Recht von Widersprüchen und bizarren Wucherungser­ scheinungen nicht frei. Und damit die Integration gelingt, gebe es zusätzlich Zentraleinheiten als höchste Kompetenzen bzw. Werte für Gesetzgebung, Gesetzesauslegung und Gesetzesanwendung – etwa die eines obersten Ge­ 247  Zum Folgenden E.-J. Lampe (1987), S. 41 ff., 67 ff. Ob die Annahme homolo­ ger Prozesse in Biologie und Recht auch für die Kultur insgesamt oder nur für ein­ zelne ihrer Bereiche gilt, habe ich nicht erörtert; das Problem kann m. E. nur empi­ risch gelöst werden. 248  Dazu B. Rensch (1991), S.  140 ff.; F. M. Wuketits (1989), S. 87 ff.; (1984), S. 33 ff. 249  Dazu auch Ch. Henke (2010), S. 105 ff. 250  Die These, dass Bioorganismen den von außen auf sie einwirkenden Einflüssen nicht einfach ausgeliefert sind, sondern auch selber ihre Evolution steuern, und dass diese Steuerung an den Veränderungen zum Ausdruck kommt, die sie an der Umwelt vornehmen, ist von mir seinerzeit eher intuitiv als wissenschaftlich entwickelt wor­ den. Die seit den 70er Jahren von der „Senckenbergischen Arbeitsgruppe Phylogene­ tik“ in Frankfurt M. angestellten, in die gleiche Richtung gehenden Untersuchungen waren mir seinerzeit unbekannt. Inzwischen haben sich ihre Ergebnisse (als „Kriti­ sche Evolutionstheorie“ bzw. „Hydroskelett-Theorie“) weitgehend durchgesetzt und zur Annahme einer auf den Organismus zentrierten neuen Evolutionstheorie geführt, wonach Organismen hydraulische, energiewandelnde (1. Hauptsatz der Thermophy­ sik!) Konstruktionen sind, die, statt sich an ihre Umwelt anzupassen, ihren Lebens­ raum nach Maßgabe ihrer Konstruktions- und Funktionsbedingungen selbst erschlie­ ßen. Soweit die Evolution allein auf die Aktivität der Organismen zurückgeführt wird, erscheint mir die Theorie allerdings als zu einseitig. M. E. sind Organismen autonome Subjekte der Evolution, die mit ihrer Umwelt in einem ständigen wechselseitigen Anbzw. Einpassungsprozess stehen. In diese Richtung gehen auch die Ausführungen von F. M. Wuketits (2000), S.  66 ff.



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setzgebers, einer obersten Rechtsprechungsinstanz und einer obersten Leit­ linie für die Auslegung des Rechts (‚Willkürverbot‘). Für all dies fänden sich Parallelen auch in der biotischen Evolution. Der erste Vorteil einer solchen ‚Evolution‘ bestehe darin, dass ein mittels Differenzierung und Spezialisation, Integration und Zentralisation sich ent­ wickelndes Rechtssystem auf intrasozietäre Ereignisse aller Art hochsensibel reagieren kann – dass es m. a. W. jene Plastizität (Anpassungsfähigkeit) ge­ genüber der gesellschaftlichen Umwelt besitzt, die der von Lebewesen ge­ genüber ihrer natürlichen Umwelt gleicht.251 Der zweite Vorteil bestehe darin, dass die ‚Evolution‘ des Rechtssystems eine fortschreitende Rationalisierung ermöglicht: zum einen der sozialen Sachverhalte in schriftlich fixierten ‚Tat­ beständen‘ und ihnen zugeordneten ‚Rechtsfolgen‘, zum anderen der sitt­ lichen Grundlagen in (General-)Klauseln, die durch intellektuelle Begrün­ dung (etwa aus der Natur der Sache bzw. des Menschen) das kompensieren, was ihnen an sittlicher Sanktion inzwischen verloren gegangen ist. Abschließend habe ich noch zu den beiden hoch umstrittenen Fragen Stel­ lung genommen: ob die juristische Evolution insgesamt irreversibel verläuft und ob sie orthogenetisch über alle menschlichen Bemühungen, in sie einzu­ greifen, hinweggegangen ist? Meine Stellungnahme lautet: Anfangs habe zwar noch gegolten, dass die normative Evolution eine Fortsetzung der bio­ logischen Evolution und deshalb gegenüber allen Bemühungen, in sie einzu­ greifen, irreversibel ist. Spätestens seit der Sesshaftigkeit252 aber sei sie bio­ logisch kaum noch determiniert gewesen. Nicht, dass der Mensch sein nor­ matives Zusammenleben nunmehr völlig voraussetzungs- und richtungslos hätte gestalten können; seine Normen blieben vielmehr an die Evolution insbesondere seiner Psyche und seines Geistes gebunden. Aber diese Bin­ dung determinierte die Rechtsentwicklung nicht mehr in dem Maße, dass sie vorhersagbar gewesen wäre; sie gab lediglich ein generelles Spektrum vor, innerhalb dessen ihr Weiterschreiten orthogenetisch auf den einmal einge­ schlagenen Weg begrenzt war (Stichwort: ‚Pfadabhängigkeit‘). e) Neueste Untersuchungen In den letzten Jahren hat die Zahl der Veröffentlichungen zu evolutionären Tendenzen, die die Geschichte des Rechts teils begleiten, teils steuern, zuge­ zusätzlich M. Bock (1997). ersten Formen der Sesshaftigkeit stammen – noch vor Einführung des Ackerbaus – aus der Natuf-Kultur zwischen Euphrat und Sinai (12500–10000). Als erste stadtähnliche Siedlung sind uns Jericho in Palästina (8. bis 6. Jt.) mit ca. 2.000 Einwohnern und Çatal Hüyük in der Türkei (etwa 6200 bis 5400) mit etwa 5–6.000 Einwohnern bekannt. 251  Vgl. 252  Die

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nommen. Einige davon habe ich in der Vergangenheit rezensiert,253 andere will ich im Folgenden kurz referieren. (α) Auf Strukturähnlichkeiten zwischen der biologischen Evolution und der des Rechts hat Helmut Helsper in seiner 1989 erschienenen Monographie „Die Vorschriften der Evolution für das Recht“ hingewiesen. Die Bedeutung seiner mit vielen Beispielen belegten Untersuchung für die Historiogenese des Rechts ist allerdings eng begrenzt. Erwähnt sei darum nur: Gesetzgebung be­ deutet für Helsper „Evolution machen“254, d. h. der bestehenden teleonomen Ausrichtung der natürlichen Evolution sinnorientierte Komponenten hinzufü­ gen, die aufeinander aufbauen und sich ergänzen. Zu den Vorgaben der bioti­ schen Evolution für die Kultur gehöre daher, dass das Erkennen innerhalb komplexer Systeme grundsätzlich auf Hierarchieebenen verteilt und deshalb auf jeder Ebene nur ein Merkmalsausschnitt aus der Fülle der Einzeltatsachen relevant wird: Wie das Tier nur auf diejenigen Signale achten muss, für die ihm die Natur genetische Muster mitgegeben hat, so müsse auch der Mensch als Adressat von Rechtsnormen lediglich auf diejenigen Merkmale reagieren, die der Gesetzgeber seinen Normen zugrunde gelegt hat.255 Entsprechendes gelte für die staatlichen Behörden: Sie bräuchten nur denjenigen Teil der sozi­ alen Umwelt zu verwalten, den sie überblicken, während sie den Rest der Selbstorganisation der daran Beteiligten überlassen dürfen.256 (β) Näher dem hier behandelten Thema steht die Dissertation von Alexandre von Rohr, die sich unter dem Titel „Evolutionsbiologische Grundlagen des Rechts“ allerdings nur mit dem Einfluss des natürlichen (genetischen und neuronalen) Informationsflusses auf das im Übrigen normgelenkte mensch­ liche Verhalten befasst257 und diesen Einfluss am Beispiel des rechtlichen Vertrauensschutzes exemplifiziert. Der Verfasser begreift biotische und kul­ turelle Evolution als eine (koevoluierende) Einheit. Die Bestandteile dieser Einheit, Natur und Kultur, evoluierten allerdings mit unterschiedlicher Ge­ schwindigkeit: der biotische Bestandteil relativ träge, der kulturelle dafür umso schneller, heute in geradezu rasendem Tempo.258 Die Rechtsentwick­ 253  In ARSP 69 (1983), S. 282 ff. (betr. F.-H. Schmidt, Verhaltensforschung und Recht. Ethologische Materialien zu einer Rechtsanthropologie); ARSP 70 (1984), S.  186 ff. (betr. W. Schurig, Überlegungen zum Einfluss biosoziologischer Strukturen auf das Rechtsverhalten); ARSP 71 (1985), S. 131 ff. (betr. E. Quambusch, Recht und genetisches Programm. Ansätze zur Neubelebung des Naturrechtsgedankens); ARSP 72 (1986), S. 144 ff. (betr. H. Zemen, s. o. D 1 b). 254  H. Helsper (1989), S. 89. 255  H. Helsper (1989), S. 73 ff. 256  H. Helsper (1989), S. 123 ff. 257  Die Verhaltensregulation durch das Recht stellt auch die „Rechtsethologie“ von H. Hof (1996) in ihren Mittelpunkt. 258  A. von Rohr (2001), S. 20.



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lung teile die Schnelligkeit der kulturellen Evolution:259 Sie trage mittels ei­ ner ständig anschwellenden Flut von neuen Normen dem sozialen Bedarf nach Festigung der menschlichen Verhaltensplastizität in der Umwelt Rech­ nung. Und ihre Mittel seien überdies dieselben wie die der biotischen Evolu­ tion: nämlich ständige Differenzierung und Spezialisierung des vorhandenen Normenrepertoires. Irreversibel sei dabei die Zunahme an rationaler Begrün­ detheit des Rechts, d. h. das Beruhen auf Informationen, die der Mensch durch sein phylogenetisches Erbe und durch seinen ontogenetischen Erfah­ rungsschatz, vor allem aber durch seine Teilhabe am Informationspool der Kulturgemeinschaft erhält.260 Dies alles schließe eine Rückkehr zu abergläu­ bischen Verhaltensdirektiven aus.261 Das genetische Erbe sei daneben unter­ schiedlich bedeutsam: Subkortikale Informationen bewirkten u. a. die Unter­ scheidung von Recht und Pflicht, darüber hinaus die Achtung von Territoria­ lität, Besitz und Eigentum;262 das genetisch jüngere limbische System gene­ riere darüber hinaus den Sinn für eine optimal gerechte Ressourcenverteilung;263 und dem Erkenntnispotential des Neokortex als jüngstem Teil des Gehirns stehe der gesamte Normenvorrat einer Kultur zur Verfügung einschließlich der Kraft zur Produktion neuer Normen.264 (γ) Noch stärker verbunden der vorliegend behandelten Thematik verbun­ den ist die Arbeit von Christoph Henke „Über die Evolution des Rechts“. Im Gegensatz zur hier gebrauchten Terminologie versteht Henke unter „Rechts­ evolution“ allerdings einen „allmählichen, nicht umkehrbaren Wandel des Rechts … mit bestimmter Richtung“265 und bezieht infolgedessen auch Devo­ lutionserscheinungen in den Begriff ein. Evolutiv sind für ihn alle „Verände­ rungen des Rechts“266, irreversibel allerdings nur die Entwicklungen ganzer Rechtsordnungen, weil jede Rechtsevolution „selbst bei scheinbarer Rückent­ wicklung neue Wege einschlägt“.267 Die einzelnen Rechtsnormen unterstän­ den der Darwinschen Trias von Mutation, Selektion und Stabilisierung, die von ihrer biologisch-genetischen Grundlage abzulösen und als Versuch-undIrrtum-Prinzip zu begreifen seien. Damit weitet Henke das Untersuchungsfeld der Rechtsevolution freilich ins nahezu Unendliche aus – stehen doch fast alle

259  A.

von Rohr (2001), S. 22. von Rohr (2001), S. 36 ff. 261  A. von Rohr (2001), S. 22 f. 262  A. von Rohr (2001), S. 101 f., 72 ff. 263  A. von Rohr (2001), S. 102 ff. 264  A. von Rohr (2001), S. 108 ff., 124 ff. 265  Ch. Henke (2010), S. 26. 266  Ch. Henke (2010), S. 102. 267  Ch. Henke (2010), S. 106. 260  A.

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Rechtsnormen unter dem Vorbehalt ihrer Bewährung.268 Weitere Begren­ zungsprinzipien aufgrund von Orthogenese und Anagenese kommen dagegen bei ihm nicht ins Spiel, die Tendenz von Rechtsordnungen zu höherer Kom­ plexität schlägt er ihrer „Fortschrittlichkeit“ zu.269 Insgesamt enthält seine Un­ tersuchung aber viele neue und beachtenswerte Erkenntnisse, auf die ich im Rahmen der vorliegenden Untersuchung zurückkommen werde. (δ) Unter den in letzter Zeit veröffentlichen Untersuchungen, welche Rechtsgeschichte und Evolutionstheorie bewusst verbinden, m. a. W. „Rechts­ geschichte als Geschichte von der Evolution des Rechts zu (be)schreiben“ suchen, ragt die von Marie Theres Fögen hervor.270 Angeregt vom römischen Geschichts- (und Geschichten-)schreiber Livius, schreibt sie die römische Rechtsgeschichte in mehreren Geschichten auf, worin sie „die Bedingungen der Möglichkeit“ benennt, „dass Recht so wurde, wie wir es in jeweiligen historischen und gegenwärtigen Situationen vorfinden“271. In ihrer ersten Geschichte, auf die ich mich an dieser Stelle beschränke,272 geht es um den Selbstmord der Lukretia nach einer Vergewaltigung durch den Königssohn Sextus Tarquinius, worin Fögen, der Sage folgend, den Ursprung der römi­ schen Republik erkennt. Fögen knüpft dabei an Theodor Mommsens Be­ hauptung an, es bedürfe „keiner Erklärung, aus welchen Gründen in Rom die Consuln an die Stelle der Könige getreten sind; der Organismus der alten griechischen und italischen Politie entwickelt vielmehr die Beschränkung der lebenslänglichen Gemeindevorstandschaft [d. i. des Königstums] auf eine kürzere meistenteils jährige Frist mit einer gewissen Naturnothwendigkeit aus sich selber“.273 Dazu bemerkt Fögen kritisch, dass die Auffassung, die menschliche Geschichte entwickle sich „mit einer gewissen Naturnotwendig­ keit“, inzwischen zerbröselt sei und der Ungewissheit auch über die Entste­ hung der römischen Republik Platz gemacht habe.274 Was stattfand, sei eine im Vorhinein eher unwahrscheinliche Evolution gewesen. Deren ersten Akt, die „Variation“, habe die allgemeine soziale Erregung über den öffentlichen Selbstmord der Lukretia nach ihrer Vergewaltigung gebildet. Als zweiter Akt sei ihm die „Selektion“ aus mehreren Möglichkeiten zur Veränderung der Ch. Henke (2010), S. 134. Henke (2010), S. 125 f. 270  M. Th. Fögen (2003), S. 16. Sehr kritische Besprechung ihres Buches durch H. H. Jakobs in: Savigny-Zeitschr. (romanist. Abt.) 120 (2003), S. 200 ff. 271  M. Th. Fögen (2003), S. 17. Sie stützt sich dabei u. a. auf N. Luhmann (1993 u. ö.) und G. Teubner (1989). 272  Zur zweiten Geschichte von der tugendhaften Verginia vgl. unten H 4 e γ. Zum wissenschaftlichen Ansatz an erzählten Geschichten zum Zwecke der historischen Untersuchung vgl. oben Fn. 6. 273  Th. Mommsen (1856), S. 227 (Hervorhebung von mir). 274  M. Th. Fögen (2003), S. 23 f. 268  Vgl. 269  Ch.



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politischen Realität gefolgt. Dass hierbei die Wahl gerade auf die Republik fiel, sei der Absicht zu verdanken gewesen, durch Umbenennung und Ver­ dopplung der Herrscherstellung eine gewisse Kontinuität zu wahren: An die Stelle des einen sollten nunmehr zwei Herrscher treten, an die Stelle des Königs zwei Konsuln. Die „Restabilisation“ der neuen Republik schließlich sei die Hinrichtung der Söhne des Brutus gewesen, weil sie versucht hatten, die Monarchie wiederherzustellen.275 Allerdings: Zeigt Fögen damit wirklich so etwas wie eine Rechtsevolution auf? Sie unterscheidet zwischen Evolution und Entwicklung: „Entwicklung“ bedeute einen li­ nearen Prozess, der es erlaubt, ein Phänomen auf ein anderes und dieses wiederum auf ein noch früheres zurückzuführen usf.; „Evolution“ dagegen beziehe sich auch auf die Gründe für die Aufeinanderfolge: Sie registriert, dass wir sie „hilflos und ratlos als ‚Zufälle‘ bezeichnen“ müssen.276 War also die dargestellte, mit Lukretias Selbstmord beginnende, Entwicklung Zufall? Aus Sicht der Historiker mögen es Lu­ kretias Vergewaltigung und ihr anschließender Selbstmord gewesen sein. Der nach­ folgenden Entwicklung dagegen lag, wie sowohl Mommsen als auch lange vor ihm schon Machiavelli erkannten, eine in der Verfassung Roms begründete „gewisse Na­ turnothwendigkeit“ zugrunde, weshalb, wenn nicht dieser, so ein anderer Anlass die­ selbe ‚Entwicklung‘ auslösen konnte. Nur aus der Art der römischen Verfassung nämlich erklärt sich, welche Gedanken die damaligen Akteure, an ihrer Spitze Brutus, sich über die Selektion der möglichen Folgen machten, und warum sie in der Hin­ wendung zur Republik das Optimum dessen erkannten, was aus damaliger Sicht die Zustimmung des römischen Volkes zu finden vermochte. Gewiss war es dann keine Naturnotwendigkeit, welche die Entwicklung vorantrieb, wohl aber eine in der dama­ ligen Situation angelegte historiogenetische Notwendigkeit (‚Tendenz‘). Und wenn später das römische Volk dennoch wieder zur Monarchie zurückkehrte und Augustus zum Kaiser krönte, dann war diese Monarchie aufgrund dessen, was ihr voranging, notwendig (‚tendenziell‘) eine andere als diejenige, die einst unter den Königen be­ stand. Denn nichts in der Geschichte wiederholt sich, ihr Verlauf ist so irreversibel wie die Zeit, worin sie geschieht!

Als überwiegend richtig erscheint es mir, wenn Fögen die Bedeutung sozi­ aler und staatlicher Veränderungen auf die Evolution des römischen Rechts als marginal beurteilt: „Das Recht nahm gerade so viel ‚Leben‘ auf, wie es … benötigte, und so viel, wie es verarbeiten konnte und wollte. Es nahm letzthin so wenig Leben auf, dass römisches Recht weitgehend geschichtslos, namenlos und zeitlos erscheint. Es kannte nur seine eigene Zeit, … in der es keine Menschen und keine Ereignisse gab, in der nur eines stattfand: juristi­ sche Dogmatik.“277 Eine spätere Zeit allerdings, das europäische Mittelalter, wurde der historischen Möglichkeiten gewahr, die im römischen Recht ange­ legt waren. Und sie ergriff sie, um soziale Streitigkeiten als juristische aus­ 275  M. Th. Fögen

(2003), S. 25 ff., 27 ff., 56. (2003), S. 18. 277  M. Th. Fögen (2003), S. 210. 276  M. Th. Fögen

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zufechten – etwa indem sie das Verhältnis zwischen Staat und Bürger als ein rechtsvertragliches darstellte. f) Exkurs zur Sprachentwicklung Abschließend zur Untersuchung humangenetischer Faktoren für die Rechtsentwicklung möchte ich kurz noch auf einige Tendenzen in der menschlichen Sprachentwicklung hinweisen: weil zum einen die Sprache für den Menschen als homo loquens eine unentbehrliche Voraussetzung für die soziale Kommunikation278 und für die Entwicklung von Normen war, und weil zum anderen „das Recht wie die Sprache im Bewusstsein des Volkes lebt“279 und deshalb beide, Sprache und Recht, ähnliche Entwicklungen durchlaufen mussten.280 Zunächst: Was ist ‚Sprache‘? Einigkeit besteht hinsichtlich ihrer mechanischen Erzeugung durch den Stimmapparat und ihres mechanischen Vernehmens durch den Hörapparat. Erforscht sind ferner die physiologischen Erfordernisse für bedeutsames 278  A. Allott (1974), S. 124: „Law is an ordered set of rules for the structuring of human behaviour in society. … Language is an ordered set of rules which embodies and structures human communication within a society.“ Zu beachten ist allerdings: Sprache ist nicht nur Mittel des Denkens, sich anderen mitzuteilen, sondern auch Formung des Denkens: zum einen durch die Art und Weise, wie ihr Wortschatz die Welt abbildet oder konstruiert, zum anderen durch die Art und Weise, wie sie sich (schriftlich, mündlich oder durch Gebärden) darstellt. 279  F. C. von Savigny (1814), S. 8. Ferner S. 11: „Dieser organische Zusammen­ hang des Rechts mit dem Wesen und Charakter des Volkes bewährt sich auch im Fortgang der Zeiten, und auch hierin ist es der Sprache zu vergleichen. So wie für diese, gibt es auch für das Recht keinen Augenblick eines absoluten Stillstandes, es ist derselben Bewegung und Entwicklung unterworfen …“ Eingehende Stellung­ nahme dazu bei A. Dufour (1974), der dem Vergleich einen hauptsächlich (wenn auch nicht ausschließlich) rhetorischen Charakter zumisst (p. 168 f.). Zur Rechtsforschung mittels „Etymologie von Rechtsausdrücken“ vgl. B. Grossfeld (1984), S. 165 ff. 280  Was Ch. Darwin (1871/1992), I. Teil, Kap. 3, von den unterschiedlichen Spra­ chen sagt, lässt sich daher ebenso von den unterschiedlichen Rechtsordnungen der Menschen sagen: „Man kann sie entweder natürlich nach ihrer Abstammung oder künstlich nach anderen Charakteren klassifizieren. Herrschende Sprachen und Dia­ lekte verbreiten sich weit und führen allmählich zur Ausrottung anderer Sprachen. Ist eine Sprache ausgestorben, so erscheint sie … gleich einer Spezies niemals wieder. Ein und dieselbe Sprache hat nie zwei Geburtsstätten. Verschiedene Sprachen können sich kreuzen oder miteinander verschmelzen. Wir sehen in jeder Sprache Variabilität, und neue Wörter tauchen beständig auf; da es aber für das Erinnerungsvermögen eine Grenze gibt, so sterben einzelne Wörter wie ganze Sprachen allmählich ganz aus. Max Müller hat sehr richtig bemerkt: ‚In jeder Sprache findet beständig ein Kampf um’s Dasein zwischen den Wörtern und grammatischen Formen statt: Die besseren, kürzeren, leichteren Formen erlangen beständig die Oberhand, und sie verdanken ih­ ren Erfolg ihrer eigenen inhärenten Kraft.‘ … Das Überleben oder die Beibehaltung gewisser begünstigter Wörter in dem Kampfe um’s Dasein ist natürliche Zuchtwahl.“



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Sprechen (‚Broca‘-Zentrum des Gehirns) und für Verstehen von Sprachbedeutung (‚Wernicke‘-Zentrum des Gehirns). Die Sprache selbst wird als ein System von sym­ bolischen Zeichen (Wortschatz, ‚Lexikon‘) begriffen, um insbesondere Mitteilungen zu machen, Erfahrungen auszutauschen und Regeln (u. a. auch rechtliche) vorzuge­ ben. Die konstruktive Verbindung mehrerer symbolischer Zeichen zu einem ‚Satz‘ von Wörtern geschieht nach bestimmten Ge‚setzen‘, die zu einer ‚Satz‘lehre zusam­ mengefasst werden können und auch für das Recht verbindlich ist. Der Grammatiker steht über dem Gesetzgeber! Daneben gibt es Akzidenzien, durch die die einzelnen Sprachen sich unterscheiden: u. a. unterschiedliche Bezeichnungen für die Gegenstän­ de, die der jeweiligen Umwelt oder der gemeinsamen Vorstellungswelt angehören, sowie für die Eigenschaften der Gegenstände und die Relationen zwischen ihnen.

Unstreitig ist, dass die Entstehung der Sprache der des Rechts weit vor­ ausging.281 Eine Protosprache besaß wahrscheinlich bereits Homo rudolfensis vor zwei Millionen Jahren, spätestens aber Homo erectus vor 1,6 Millionen Jahren. Denn das Sozialleben und die Herstellung von Artefakten waren zu dieser Zeit schon so komplex, dass die Verständigung hierüber nicht mehr ausschließlich mittels Gesten erfolgen konnte, sondern zusätzlich282 verbaler Äußerungen bedurfte. Der weitere Verlauf der Sprachevolution283 lässt sich 281  Dagegen wird über den Ursprung der Sprache viel gestritten. Den dazu aufge­ stellten Theorien ist gemeinsam, dass sie weder zu beweisen noch zu widerlegen sind. Als höchst unwahrscheinlich gilt, dass Gott den Menschen die Sprache gab oder dass ein genialer Frühmensch sie erfand. Sprache ist vielmehr ein Produkt der menschli­ chen Evolution, möglicherweise dasjenige Produkt, welches homo einst den entschei­ denden Überlebensvorteil brachte. Eine Kritik der Annahme, dass die menschliche Sprache aus der tierischen Kommunikation hervorgegangen sei und daher zwischen ihr und den niederen Formen der Kommunikation keine wesentlichen Unterschiede, wohl aber eine kontinuierliche Höherentwicklung bestehe, findet sich bei E. H. Lenneberg (1967/1977), S. 277 ff. Er vertritt stattdessen eine Diskontinuitätstheorie, wo­ nach das menschliche Sprachvermögen auf gewisse artspezifische Veränderungen im genetischen Material zurückgeht, die vor der Entstehung menschlicher Rassenunter­ schiede stattgefunden habe und kein Analogon in der tierischen Kommunikation auf­ weise (S. 287 ff.). Neuere Veröffentlichungen, deren Zahl seit den späten 1980er Jahren stark angeschwollen ist, stammen von Vertretern der Evolutionären Anthropo­ logie, Kognitionswissenschaftlern sowie Psycho- und Neurolinguisten. Interessant erscheint mir vor allem die Spiegelneuronen-Theorie: Die (zunächst bei Affen beob­ achtete) Aktivierung motorischer Areale im Gehirn bei der Beobachtung von Greifbe­ wegungen habe sich allmählich auf manuell-faciale Gesten, die zur Kommunikation verwendet wurden, ausgedehnt und sich schließlich auch auf vokalische Gesten er­ streckt (vgl. G. Rizzolatti & W. I. Arbib, 1998; W. I. Arbib, 2005). Die vokal-audito­ rische Modalität der Kommunikation habe anschließend Priorität über die manuellvisuelle gewonnen, weil sie vom Sichtkontakt der Kommunikationspartner unabhän­ gig war. Und sofern mehrere Gruppen von Frühmenschen von ihr Gebrauch machten, könnten von Anfang an mehrere Sprachen entstanden sein. 282  Vgl. dazu D. McNeill (2012). 283  Dazu wiederum E. H. Lenneberg (1967/1977), S. 469 ff.: Wir haben es (a) auf der Ebene der latenten Sprachstruktur mit einer biologischen Evolution auf der Grundlage von mutmaßlichen Veränderungen in der Molekularstruktur des Gehirns

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allerdings nur vage rekonstruieren. Das isolierte Wort dürfte dem Satz vor­ ausgegangen sein. Aufgrund von Computersimulationen284 lässt sich ferner annehmen, dass – entsprechend dem heutigen Spracherwerb des Kindes285 – zunächst einfache, nur Subjekt und Prädikat umfassende Sätze generiert wurden, erst später Sätze mit differenzierterer Syntax. Vor allem in neolithi­ scher Zeit dürften die Sprachen dann wesentlich komplexer und differenzier­ ter geworden sein, indem sie neue Wörter akkumulierten, neue syntaktische Konstruktionen generierten und somit denselben evolutionären Prozess durchliefen wie gleichzeitig die sozialen Verhältnisse. Teilweise ausgeglichen wurden diese Prozesse wahrscheinlich durch Reduktionstendenzen, indem Redundanzen in den sprachlichen Begriffen und Konstruktionen beseitigt wurden286 und generalisierende Begriffe die Kommunikation vereinfach­ ten.287 Beispielsweise konnten an die Stelle von Begriffen, die spezielle Vorstellungen benennen, solche mit allgemeinerem Vorstellungsgehalt treten,288 an die Stelle von beschreibenden zusammenfassende Begriffe,289 an die Stelle von kompletten Aufzäh­ lungen die begriffliche Hervorhebung einer Eigenschaft, welche die übrigen Eigen­ schaften mit ‚vertritt‘.290 sowie einer natürlichen Selektion (insbesondere durch den Grad der Mitteilbarkeit von terms, vgl. J. J. Freyd, 1983) zu tun, welche zu irreversiblen Veränderungen führte, während wir (b) auf der Ebene der realisierten Struktur mit dem Einfluss an­ derer lenkender Tendenzen rechnen müssen, die mit der Sprachfähigkeit meist unmit­ telbar nichts zu tun haben (Veränderungen im Vokabular, Bedeutungserweiterung oder -verengung, Lautverschiebungen u. a.) und z. T. reversibel sind. Aus der Literatur seit der Jahrtausendwende sind insbesondere die Arbeiten von P. F. MacNeilage (2008) und R. P. Botha (2009) zu nennen. 284  J. R. Hurfard (2000); S. Kirby (2002): Leichte Variationen in der Produktion von Zeichen haben in einer über die Jahrtausende hinweg ablaufenden Serie von Lernprozessen zu einer regulären Sprache mit Subjekt und Prädikat sowie am Ende zu einer Sprache mit einer immer größeren kompositionalen Syntax geführt. 285  P. F. MacNeilage (2008), p. 10: „The ontology of speech recapitulates its phy­ logeny – that is, its development retraces, at least to some degree, the steps of its evolution.“ 286  Vgl. dazu schon Ch. Darwin (1871), S. 99. 287  M. Tellerman (2009), p. 193 ff. 288  Beispiel: Ein Stück Land mit Obstbäumen und Blumenbeeten sowie Wegen dazwischen ist ein ‚Garten‘. Bei diesem Beispiel handelt es sich bereits um eine Ge­ neralisation auf höherer Stufe. Denn auch die Begriffe ‚Obstbaum‘, ‚Beet‘ und ‚Blume‘ sind durch Generalisation entstanden. Ferner müssen die in einem Begriff zusammengezogenen Eigenschaften nicht gleichzeitig vorhanden sein, sie können auch (ganz oder teilweise) nacheinander auftreten, z. B. im Begriff ‚Gewitter‘. 289  Beispiel: ‚Wagen‘ für ein Fortbewegungsmittel auf vier Rädern. 290  Beispiel: ‚Quartett‘ ist sowohl ein Musikstück aus mehreren Sätzen, das von vier zumindest teilweise unterschiedliche Instrumente spielenden Musikern vorgetra­ gen wird, als auch die Zusammenfassung der Musiker, die das Musikstück vortragen.



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Unstreitig ist ferner, dass die Evolution der Sprache wesentlich durch die Evolu­tion des (seinerseits von der Sprache beeinflussten) Denkens vorange­ trieben wurde. Das Denken aber wurde von der Wahrnehmung (bzw. Vorstel­ lung) immer unabhängiger,291 bis es schließlich nicht nur vergangene292 und zukünftige, sondern auch hypothetische Situationen293 genauso symbolisch repräsentieren konnte wie real gegenwärtige.294 Die in mehreren Gegenden unabhängig voneinander erfundene Schrift verstärkte diesen Trend noch, weil ihre Präsenz die der bezeichneten Gegenstände vertrat,295 und insbesondere die spätere Lautschrift abstrahierte so vollkommen von der wahrnehmbaren Realität, dass die reale Existenz eines Gegenstands i­nnerhalb von logischen Operationen letzthin gleichgültig wurde.296 Strukturell entwickelte sich die 291  Der Vorrang der räumlichen vor der zeitlichen Welterfassung zeigt sich noch heute daran, dass zeitliche Phänomene grundsätzlich mittels raumbezogener Ausdrü­ cke metaphorisch benannt werden („Vormittag“, „mitten im Krieg“). 292  Viele primitive Gesellschaften passten die Vergangenheit allerdings ständig der veränderten Gegenwart an. So berichten beispielsweise die Anthropologen J. Goody und I. Watt vom Stamm der Gondsha in Ghana: Um die Wende zum 20. Jahrhundert gab es den Mythos, dass der Gründer des Gondsha-Staates, Ndewura Japka, sieben Söhne hatte, die über die sieben Distrikte des Landes herrschten. Sechzig Jahre später waren infolge der politischen Entwicklung zwei der Distrikte weggefallen. Der My­ thos berichtete daher nur noch von fünf Söhnen, die über die fünf Distrikte herrsch­ ten. 293  Viel zitiert wird eine Befragung usbekischer Bauern durch den russischen Neurowissenschaftler A. R. Luria (1976). Er konfrontierte seine Probanden mit Syl­ logismen wie diesem: „Im hohen Norden, wo es Schnee gibt, sind alle Bären weiß. Nowaja Semlja ist im hohen Norden, und dort liegt immer Schnee. Welche Farbe haben dort die Bären?“ Typische Antworten lauteten dann: „Ich weiß es nicht; ich habe einen schwarzen Bären gesehen, ich kenne keine anderen.“ Oder: „Man erkennt die Farbe eines Bären, wenn man ihn anschaut“ (p. 182). Luria meinte, dass die Bauern zur Repräsentation hypothetischer Situationen nicht in der Lage waren, mit­ hin nur präformal denken konnten. M. E. hat Ch. R. Hallpike (1979/1994, S. 584) jedoch mit Recht dagegen eingewandt, dass eine Denkweise latent bereits vorhanden sein kann, bevor sie auf ein logisches Problem angewandt wird. Man solle deshalb auch gegenüber jeder weiteren Anwendung von Piagets Entwicklungstheorie im Rahmen eines Kontexts skeptisch sein, die den ethnologischen Hintergrund nicht berücksichtigt. 294  Vgl. dazu P. Ohler/G. Nieding (1997). 295  Platon (Phaidros 275a) beklagte aus diesem Grunde die Nachteile der Schrift: Sie sei „ein Mittel für das Gedächtnis, nicht für die Erinnerung“. Ihre Verbreitung werde den Seelen Vergessenheit einflößen, weil diese „nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden“. 296  Dass Schrift, Sprache und Kultur in einem engen Zusammenhang stehen, ist zwar unbestritten, doch sind die kulturellen Unterschiede, die sich mit dem Gebrauch verschiedener Schriftsysteme verbinden, bisher unerforscht (vgl. F. Coulmas, 1983, S. 172). W. von Humboldt lobte die Nähe der Lautschrift zu den Gedanken und zu deren Gliederung, die er beide durch die Sprache bedingt sah, „weil Denken ohne Sprache unmöglich ist“ (1824/1963, S. 88 f., 98 f.). Verbunden ist damit freilich eine

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Sprache ferner, indem sie zusätzlich zu Eigennamen Begriffe297 ausbildete sowie Nomina und Verba unterschied und mittels logischer Partikel („und“, „oder“) gedankliche Kombinationen und Ableitungen ermöglichte. Das Recht setzte nicht nur Sprache voraus, sondern wiederholte mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die späteren Teile ihrer Entwicklung.298 Der Schatz an speziell normativen Termini, arm in früher Zeit, wurde reicher, die Dik­ tion stereotyper. Die Zahl seiner zuerst konkret-, später abstrakt-generellen Normen vermehrte sich im selben Maße, wie die Populationen sich vergrö­ ßerten und die sozialen Beziehungen variantenreicher wurden. Die Erfindung der Schrift kam der Präzision und Vielfalt des zuvor nur mündlich tradierten Rechts zugute.299 Wo es, gegen Ende der hier untersuchten Epoche, zu Systematisierungen des Rechts kam, bedienten diese sich der sprachlichen Ten­ denz zur Generalisation und Abstraktion: Anschaulich-konkrete Regelungen wurden von gedanklich-abstrakten abgelöst; symbolische Handlungen verlo­ ren ihre Bedeutung. Man bildete z. B. einen abstrakten Begriff des Eigentums, damit man für die Institution des Eigentums generelle Regeln entwickeln konnte300, man bildete einen abstrakten Begriff des Tausches, um eine Grund­ lage für die Institution des Tausches zu haben und die generellen Rechte und Pflichten der Partner umreißen zu können.

Ferne von jenen Dingen, die begrifflich erfasst und in der Schrift symbolisch zum Ausdruck gebracht werden können. Näher dazu noch unten H 2 d. 297  Man unterscheidet ‚konkrete Begriffe‘, die auf Erfahrung bzgl. der Umwelt zurückgehende Allgemeinvorstellungen bezeichnen, und ‚abstrakte Begriffe‘, die ge­ danklich abgehobene Konzeptualisierungen solcher Vorstellungen benennen. Dazu noch unten J 6 c. 298  Zur Bedeutung symbolischer Handlungen für das alte Recht vgl. F. C. von Savigny (1814), S. 10. 299  Dazu K.-J. Hölkeskamp (1999), S. 273 f.: „Gerade die typischen Charakteris­ tika der Gesetzgebung in archaischer Zeit – die ‚Setzung‘ von präzisen Normen zu eingehend bestimmten und definierten Gegenständen, die Aufzählung und Auffäche­ rung genau formulierter und (bei Strafe) ebenso genau anzuwendender Einzelregelun­ gen und Sanktionsbestimmungen bis hin zu Katalogen fester Strafsätze und Bußen – setzen einerseits das Medium der Schrift schon notwendig voraus. Eben diese Präzi­ sion und die explizite, detailbesessene Vielfältigkeit der Vorschriften werden andererseits erst möglich, wenn das in diesem Medium angelegte Potential für eine bewusst trennscharfe Differenzierung bei gleichzeitiger objektiver Fixierung von Re­ gelungen bereits erkannt ist und voll ausgeschöpft werden kann.“ 300  Ein indogermanisches Wort für ‚Eigentum‘ und ‚Eigentümer‘ gibt es nicht (O. Schrader, 1917–23, S. 231 ff.). Im deutschen Recht ersetzte das tatsächliche Ge­ nussrecht der ‚Gewere‘ das Eigentumsrecht, weil es die bewehrte und gerüstete Hand war, welche die Habe festhielt. Selbst bei den Römern, die das Eigentumsrecht erst­ mals durchbildeten, heißt es in den leges actionis anstelle von ‚Eigentum‘ stets nur ‚hanc rem meam esse‘.



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Sowohl die sprachliche Tendenz zur Generalisation und Abstraktion als auch die Tendenz zur juristisch-präzisen Formulierung sozialer Tatbestände waren im Menschen höchstwahrscheinlich evolutionär angelegt.301 Der Ge­ brauch von Worten für die Kommunikation wie auch die Entwicklung von Bräuchen für die Interaktion entsprangen einem urtümlichen Bedürfnis nach sozialem Kontakt und sozialer Verträglichkeit. Sprachregeln und die Überset­ zung der Bräuche in Sittennormen dienten beide dem Bedürfnis nach Ver­ lässlichkeit auf der verbalen und auf der Handlungsebene. Die vergleichende Analyse der historisch ersten Rechtsordnungen wird zeigen, dass rechtliche Normierungen vor allem denjenigen Interaktionen galten, die sich zuvor ha­ bituell als soziale Bräuche herausgebildet, später als Sitten normative Gestalt erlangt und schließlich der Sicherung gegen Erwartungsenttäuschung bedurft hatten. Und sie wird ferner zeigen, wie sehr die Sprache zunächst durch ein­ fache Worte, später durch rituelle Wortformeln und schließlich durch feier­ liche Schwüre an dieser Entwicklung beteiligt war. Das Recht integrierte also den sprechenden Menschen in den Prozess seiner Entwicklung und institu­ tionalisierte mittels der Sprache dessen soziale Lebensform.302 2. Untersuchungen zum Einfluss öko- und soziogenetischer Faktoren Ökologische und soziokulturelle Randbedingungen haben zusätzlich zu den humangenetischen Faktoren die Rechtsentwicklung vorangetrieben. Hierzu referiere ich diejenigen Theorien, welche vor allem die Einflüsse entweder (a) aus der natürlichen oder (b–c) aus der sozialen Umwelt als Gründe für die Entstehung und Entwicklung von Rechtsnormen benennen.303 a) Ökogenetische Untersuchungen (α) Bedeutung der natürlichen Umwelt. Den starken Einfluss der natür­ lichen Umwelt auf Leben und Kultur der Menschen im frühen Altertum steht 301  Übereinstimmend H. Henkel (1977), S. 360: „In der Sozialität des Menschen ist die ‚Institutionalität‘ mit enthalten. Sie kommt deshalb als Urdrang in allen Sozi­ albildungen zur Geltung.“ Der Tendenz zur Abstraktion haben sich am stärksten die Ägypter widersetzt. Aber auch sie haben am Ende des NR ihren Widerstand aufgeben müssen. 302  R. Smend (1928/1994), S. 136 ff. 303  Gegenüber dem Referat über Theorien zur Evolution der Sozialkultur und ihrer Normen ergibt sich insoweit ein Unterschied, als das Recht nur einen Teil der Kultur und die Rechtsnormen nur einen Teil der Sozialnormen ausmachen. Die ‚Umwelt‘ des Rechts ist also umfangreicher als die der Kultur, die Umwelt der Rechtsnormen umfangreicher als die der Sozialnormen. Die Evolution des Rechts muss sich folglich auch der (außerrechtlichen) Kultur eines Volkes, seine Normen müssen sich auch den (außerrechtlichen) Sozialnormen anpassen.

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im Zentrum der kulturökologischen Theorie von Julian Haynes Steward.304 Ihr zufolge hat insbesondere das Vorrücken der Wüsten, der Zwang zur Mi­ gration, die Ansiedlung an Flussufern und Küsten und die ständig wachsende Bevölkerungsdichte305 damals die Lebensschicksale der Menschen geprägt und sie gezwungen, ihre Probleme schöpferisch zu bewältigen. Im Anschluss an Stewards Theorie ist der Einfluss der natürlichen Umwelt auf die Kultur­ entwicklung von anderen Autoren zwar unterschiedlich beurteilt, aber es ist nie mehr bestritten worden, dass ein solcher Einfluss stets bestanden hat. Hinzuzufügen ist, dass die schöpferischen Mittel zur Bewältigung der Um­ weltprobleme vier Bereichen zugehörten: Wissenschaft, Technik, Organisa­ tion und Kunst, und dass ihr Einsatz nicht immer unproblematisch war. •• Die Wissenschaft diente den Menschen dazu, die Art ihrer Umwelt, deren Gesetzmäßigkeiten und die Möglichkeiten eines Einflusses hierauf zu er­ forschen und als Planungsgrundlage dem eigenen Verhalten zugrunde zu legen:306 etwa die Höhe des Wasserspiegels in kommunizierenden Becken dem Bau von Zisternen. •• Die Mittel der Technik benutzte der Mensch, um die Umwelt zu verändern und sich das Überleben darin zu erleichtern: etwa um Kanäle zur Regula­ tion des Wasserhaushalts zu bauen, um Gerätschaften zur Bebauung des Bodens herzustellen, um Waffen zur Abwehr feindlicher Angriffe zu ent­ wickeln. Allerdings benutzte er lange Zeit nicht alle technischen Erfindun­ gen, die ihm zur Verfügung standen, sondern – soweit dies einfacher oder billiger war – menschliche Arbeitskräfte. •• Konkurrierend zu den Fortschritten in der Technik kam es zu Fortschritten auch in der Organisation. Man erkannte die Vorteile hierarchischer Struk­ turen und nutzte sie: Ein bürokratisch verwalteter Staat konnte die interne gesellschaftliche Ordnung, ein unter einheitlichem Oberbefehl stehendes Heer den externen Schutz vor Feinden besser gewährleisten als jede ande­ re Organisationsform. Allerdings galt auch: Große Mengen an Sklaven können unter dem Druck von Peitschen genauso produktiv und dazu billi­ ger arbeiten als Maschinen, die eine komplizierte Bedienung erfordern. •• Die Künste dienten anfangs ebenfalls in erster Linie dem gesellschaft­lichen Nutzen (Handwerk, Medizin) und erst in zweiter Linie der Befriedigung emotionaler (religiöser und weltlicher) Bedürfnisse. Allmählich erwarben sie sich jedoch eine gewisse Selbstständigkeit und bauten diese noch aus, sobald der gesellschaftliche Wohlstand höher stieg (Musik, Tanz, Dich­ schon oben C 3. Hill (1978, p. 383) erwähnt ferner klimatische, geologische und topographi­ sche Faktoren sowie die Entstehung und Auslöschung biologischer Arten. 306  Vgl. dazu P. Finke (2005), S. 21 ff. 304  Siehe 305  J.



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tung). Allerdings dienten Musik und Tanz in Verbindung mit der Verwen­ dung von Rauschmitteln auch kultisch-rituellen Ausschreitungen. So wie die Sitte nahm auch das werdende Recht die Neuerungen in sich auf und profitierte insbesondere von den organisatorischen Fortschritten. (β) Bedeutung des sozialen Milieus. Auf die Bedeutung des geographi­ schen, sozialen und wirtschaftlichen Milieus für die Rechtsbildung und Rechtsfortbildung hatte bereits Paul Koschaker aufmerksam gemacht, ohne indes die „Einsicht in die Rechtsbildung“307 durch Einzeluntersuchungen der unterschiedlichen Milieus zu fördern. Giorgio del Vecchio308 und Uwe Wesel309 haben inzwischen ebenfalls bestätigt, dass – entsprechend dem MarbeHaffschen Gesetz310 – übereinstimmende Entwicklungen des sozialen Mi­ lieus übereinstimmende Rechtsentwicklungen zur Folge haben. Aber auch sie haben die Übereinstimmungen nicht in größerem Umfang aufgezeigt. Wesel hat als Beleg nur das Institut der Brautpreisleistungen angeführt: in Meso­ potamien (Leges Ur-Namma § 12, Codex Hammurapi § 163), im antiken hebräischen Recht (mohar), bei Homer (ἕδνα) und bei den alten Germanen.311 Eine weitaus grö­ ßere Fülle von Material – freilich nur, soweit es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erforscht und geordnet war – findet sich in dem dreibändigen Werk von Paul Wilutzky.312 Darüber hinaus ist auf die Beiträge in der „Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft“ (ab 1878)313 sowie im „Jahrbuch der Internationalen Vereini­ gung für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre“ (ab 1895 bis 1907)314 hinzuweisen. 307  P.

Koschaker (1936), S. 150. del Vecchio (1962) S. 6: „Es besteht kein Zweifel daran, dass die Grundmo­ tive der menschlichen Seele, aus denen die Regeln des Rechts hervorgehen, wenigstens zum größten Teil gleichförmig und konstant sind. Es ist auch sicher, dass ein und das­ selbe Motiv in sehr verschiedene und sogar gegensätzliche Formeln übertragen werden kann, wenn es sich unter völlig verschiedenen Umständen geltend machen muss.“ 309  U. Wesel (1984), S.  530 f. 310  Vgl. K. Marbe (1919); K. Haff (1915), S. 28 ff.; (1929), S. 10: „Gleichmäßig­ keit des rechtlichen Geschehens bei ähnlichen kulturellen und wirtschaftlichen Bedin­ gungen“. Vgl. auch oben C 3 (α). 311  Tacitus, Germania 18,2: „Dotem non uxor marito, sed uxori maritus offert.“ Dazu U. Wesel (2001), Rn. 180: „Was Tacitus als Mitgift bezeichnet, waren in Wirk­ lichkeit die für segmentäre Gesellschaften mit lineage-Struktur typischen Brautpreis­ leistungen an die Verwandtschaftsgruppe der Frau.“ 312  P. Wilutzky (1903); zu ihm S. Kuck (2001), S. 16 ff. 313  Auswahlweise seien genannt: F. Bernhöft (1880); L. Dargun (1884); K. Friedrichs (1892 und 1897); J. Kohler (1884a; 1884b; 1897 und 1905); Kulischer (1903 und 1905). Vgl. weiterhin das Generalregister zu den Bänden 1–20 in Bd. 20 (1907), S. 345 ff., sowie das Generalregister und insbesondere das systematisch-geographi­ sche Register der Bände 21–50 in Bd. 50 (1936), S. 335 ff. (337 ff.). 314  Zum Zweck des Jahrbuchs F. Bernhöft (1895), S. 1 ff.: Es werden vor allem Gesetzgebung und Literatur der großen Kulturen aus ethnologischer, historischer und dogmatischer Sicht referiert. 308  G.

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Ursächlich für den Mangel an Forschungsarbeiten dürfte sein, dass viele Veränderungen der wirtschaftlichen und sonstigen sozialen Bedingungen so eng mit solchen der Sitte und des Rechts verbunden sind, dass sie kein wis­ senschaftliches Interesse geweckt haben und Gefahr liefen, zu trivialen Er­ kenntnissen zu gelangen. Wenn Eskimos verbieten, Seehunde zu verscheu­ chen, Indianerstämme, Büffel vor Beginn der gemeinsamen Jagd zu vergrä­ men, javanische Eingeborenenstämme, Kokosnüsse aus dem Gemeindebesitz zu stehlen, dann liegt der Schluss allzu nahe, dass dies geschieht, weil die Tiere bzw. Früchte zum einen auf den Territorien der Völker vorkommen und zum anderen den Völkern zur Nahrung dienen. Und ebenso selbstverständ­ lich ist, dass in der Frühantike erst die Existenz einer Bodenkultur das Verbot von Flurschädigungen erforderlich machte und dass erst schiffbare Gewässer und der Betrieb von Schiffen den Erlass von Normen für den Schiffsverkehr veranlassten, usw. Allerdings gab und gibt es auch weniger selbstverständliche Beziehungen zwischen der Umwelt der Völker und ihren Sitten- und Rechtsordnungen, deren Erforschung durchaus der Mühe wert wäre. Wie etwa verhalten sich Umwelt und rechtliche Ordnung zueinander, wenn alle oder auch nur die höheren sozialen Schichten einer Gesellschaft an den realen Einfluss überna­ türlicher Kräfte auf das menschliche Leben glauben: Sind dann Magie, Zau­ berei und Hexerei auch rechtliche Realität? Hat man gar mit Strafnormen gegen ihren Missbrauch zu rechnen? Was geschieht ferner, wenn der allge­ meine Glaube den Göttern Einfluss auf die Rechtsfindung einräumt: Begrün­ det der Glaube überall Ordalverfahren? Und wie steht es, wenn umgekehrt Kulturen mehrheitlich alles Überirdische für einen Gegenstand abergläubi­ scher Anschauungen oder „groben Unverstands“ halten: Gilt dann, dass der Einsatz überirdischer Kräfte zur Begehung von Straftaten nicht pönalisiert wird?315 Oder wird auch dann noch der Eid unter Anrufung höherer Mächte zur Aufklärung von Straftaten benutzt und der Falscheid (‚Meineid‘) schärfer bestraft wird als die uneidliche Falschaussage?316 Problematisch sind ferner die Rechtsverhältnisse beim Zusammenstoß unterschied­licher Kulturen, etwa eines Eingeborenenrechts mit dem Recht einer modernen Zivilisation oder eines religiösen Rechts mit einem laizistischen. Welches der Rechte hat dann den Vorrang? Entscheiden hierüber Macht, Belieben oder kulturelle Regeln, gar das Recht selber? Wahrscheinlich wird bei der Lösung solcher und ande­ rer Probleme sich keine Rechtsordnung von den Wurzeln ihrer Tradition losreißen können, sondern die historisch überkommenen Mittel verwenden.317 315  Vgl. als Teilbeweis gegen eine solche Regel den § 23 Abs. 3 StGB: Beim so­ gen. ‚abergläubischen‘ Versuch „kann das Gericht von Strafe absehen“. 316  So das deutsche Recht, vgl. §§ 153, 154 und 163 Abs. 1 StGB. 317  Vgl. dazu insbesondere A. Watson (1985), p.  12 ff.



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Selbst gleichartige Veränderungen des sozialen Milieus werden deshalb das Recht nicht überall gleichermaßen verändern, sondern zusätzlich die Ei­ genrationalität als Rahmen seiner Veränderlichkeit (als ‚Pfadabhängigkeit‘) berücksichtigen.318 Und letztendlich werden die Veränderungen im Recht auch dann noch Produkte der menschlichen Freiheit bleiben, sodass jede wissenschaftliche Vergleichung auf Unterschiede treffen wird, die in dieser Freiheit und nicht in einer Gesetzmäßigkeit ihre Ursache haben. (γ) Bedeutung des geistigen Milieus. Berechtigt haben einige Autoren ins­ besondere die Erfindung der Schrift als ubiquitär bedeutsam für das geistige Miliueu, aber auch für die Art und Verbreitung des Rechts hervorgehoben.319 Wie es (Ende des 4. Jahrtausends) zur ‚Erfindung‘ der Schrift kam, ist umstrit­ ten.320 Rechtliche Bedürfnisse waren offenbar nicht die Ursache. Stattdessen nimmt man einen engen Zusammenhang entweder mit wirtschaftlichen Erfordernissen oder mit religiösen Praktiken an. Belegen lässt sich die eine Annahme für Mesopotamien, wo die ältesten erhaltenen Urkunden wirtschaftliche Vorgänge betreffen,321 die ande­ re für Alteuropa, wo der älteste Schriftgebrauch offenbar eng mit dem religiösen Le­ ben verbunden war,322 und für China, wo die Schrift offenbar aus der Aufzeichnung 318  Zu neueren Theorien evolutiver Plastizität (Evolutionsfähigkeit) des Rechts vgl. A. Abegg (2006), S.  378 ff. m. w. Nachw. 319  Allgemein: W. J. Ong (1982/1987); J. Goody (1986/1990); J. Goody/I. Watt/ K. Gough (1991). Speziell auf das Recht bezogen: E. R.Service (1977), S. 279 u. ö.; P. Goodrich (1986); L. Kuchenbuch (1993); N. Luhmann (1970), S. 245 ff.; (1993), S.  252 ff.; H. Wimmer (1997), S. 217, 241 ff. Nach H.-J. Gehrke (1994, S. 3 f.) ent­ spricht es einer „Grundannahme“, dass lediglich „mündlich und im kollektiven Be­ wusstsein … verankerte Regeln sich auf die Struktur einer Gemeinschaft anders auswirken als schriftlich fixierte Gesetze“. 320  Die ältere Auffassung, dass die Schrift an einem bestimmten Ort erfunden wurde und sich von dort in alle Welt ausbreitete, ist heute aufgegeben. „Vor dem Hintergrund allgemeiner kulturtheoretischer Überlegungen ist es ohnehin naheliegend davon auszugehen, dass die mentalen Kapazitäten für originelle Schriftschöpfungen in der kulturellen Evolution des Menschen als Spezies angelegt sind und dass ent­ sprechende Fähigkeiten bei den Menschen in vielen Regionen der Welt bereitstanden. Diese Kapazitäten sind voneinander unabhängig in verschiedenen lokalen Gesell­ schaften unter unterschiedlichen soziokulturellen Bedingungen zum Einsatz gekom­ men. Nach heutigen Erkenntnissen gilt also die These von der Polygenese der Schrift“ (H. Haarmann, 2002, S. 34). Den Beginn der Vorgeschichte der Schrift sieht L. S. Vygotsky (1978) dennoch einheitlich in der Geste: Sie sei „Schreiben in der Luft“, Schrift also „fixierte Geste“. Das würde erklären, warum die Symbolschrift überall der Lautschrift voranging und die weitere Kulturgeschichte die Geschichte eines zä­ hen Ringens um die Vorherrschaft zwischen bildlichen und sprachlichen Zeichen ist (W. J. Th. Mitchell, 1990, S. 17 ff., 43). 321  M. Krebernik/H. J. Nissen (1994), S.  281 f. 322  Funde im Vinča-Areal (Serbien, West-Bulgarien und Nordwest-Rumänien) aus der Jungsteinzeit (zumeist aus der Periode zwischen 4500 und 4000) zeigen weibliche Statuetten, die offenbar Weihinschriften oder rituelle Formeln tragen und wohl einst

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von Mustern auf Knochen und auf den Panzern von Schildkröten entstand, die angeb­ lich – nach entsprechender Präparierung lesbare – Weissagungen enthielten.323 Wie auch immer – da in allen frühen Hochkulturen Rechtsprobleme entweder als Voraus­ setzungen oder Folgen wirtschaftlicher Prozesse oder als Divinationsprobleme auftre­ ten konnten, profitierte das Rechtsleben von den Möglichkeiten der Schrift: Man schrieb nicht nur auf, welche Zeichen günstige, welche ungünstige Entwicklungen anzeigen, sondern auch, welche Handlungen günstige und welche ungünstige Rechts­ folgen nach sich ziehen sollen.

Bedeutung erhielt die Schrift vor allem deshalb, weil sie dem Recht Kon­ stanz verlieh:324 Das orale Recht musste im Gedächtnis der Bevölkerung bewahrt werden; es trat außer Kraft, wenn es vergessen oder nicht mehr ge­ braucht wurde, weil die Verhältnisse sich geändert hatten. Das publizierte Recht dagegen konnte an Wänden oder Stelen veröffentlicht werden; es er­ hielt dadurch eine zwar virtuelle, dafür aber zeitlich unbegrenzte Geltung, bis es formell aufgehoben wurde.325 Allerdings hatte das orale Recht den Vorteil der Flexibilität: Es konnte den Umständen des besonderen Falles angepasst werden, weil das Gedächtnis zusammen mit den Worten stets deren Sinn bewahrte und deshalb Abweichungen vom Wortlaut zuließ, wenn sie den Wortsinn nicht antasteten. Und selbst wo erst der tradierte Wortlaut einer Rechtsformel den Rechtssinn erzeugte, war man sich bewusst, dass die For­ mel gleich einer divinatorischen Zauberformel niemals das Ganze des kon­ kreten Rechtsvorgangs erfasste, sondern lediglich jenes symbolische Stück, das einen Vorgang aus dem Alltag heraushob und ihm eine rituelle Weihe

als Votivgaben dienten (dazu H. Haarmann, 1999). Klarer wird die Existenz einer Schrift erst in der frühen minoischen Kultur auf Kreta, wo wir um die Wende vom 3. zum 2. Jahrtausend erste Anzeichen auf Siegeln finden, denen in größeren zeitlichen Abständen drei Schriften folgten: Hieroglyphisch, Linear A und Linear B. Von ihnen konnte bisher allein die etwa ab 1370 v. u. Z. verwendete Linear B entziffert werden. Sie enthält überwiegend Informationen über Verwaltungsaufgaben, Ablieferungen von Wirtschaftsgütern sowie Zuweisungen von Personen, Tieren und Waren. Religiöse Bezüge fehlen vollständig. 323  Vgl. dazu L. Vandermeersch (1974). Im Stadium magischer Zeichen scheint sich die Entwicklung der Induskultur (2900–1900 v. u. Z.) festgefahren zu haben, weil sie uns zwar piktographische, aber keine Schriftzeichen übermittelt hat (vgl. St. Farmer/R. Sproat/M. Witzel, 2004). 324  Die Konstanz betraf sowohl den Gesetzgeber als auch den Inhalt seiner Ge­ setze. Ein Beispiel ist der sagenhafte Vorgang auf dem Berg Sinai, wo Moses von Gott zwei Steintafeln empfing, die beiderseits „mit dem Gottesfinger beschrieben waren“ und die Zehn Gebote für das Volk Israel enthielten sowie verschiedene andere Gesetze und Weisungen einschließlich der Strafen für Verstöße (2. Mose 19 ff.). 325  G. Simmel (1927/1992), S. 429. Welch geringe Wichtigkeit manche antike Ge­ setzgeber der Deklaration ihrer Gesetze allerdings beimaßen, zeigt die berühmte Sage, dass der römische Kaiser Caligula sie zwar an Säulen anbringen ließ, jedoch so hoch, dass niemand sie lesen konnte. Vgl. dazu R. Thomas (1992), p. 84 ff.



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gab.326 Das schriftliche Recht dagegen galt starr; es umfasste nicht nur den idealen Gehalt, sondern auch die reale Gestalt rechtlicher Vorgänge. Es war daher weniger mythisch, weniger divinatorisch, mehr diesseitig, der Sache und ihrem Nutzen zugewandt.327 Allerdings war das ein Nachteil, den man allmählich zu beherrschen lernte und der sich mit Vorteilen verband. Man lernte, dass das schriftliche Recht ausgelegt werden konnte und dass sich in die Auslegung vorteilhaft auch zeitnahe Nutzenüberlegungen einbeziehen ließen. Und man sah generell seinen Vorteil darin, dass es sich schnell und wirksam verändern ließ, weil Änderungen auf demselben Wege wie die ur­ sprüngliche Bekundung erfolgen konnten. Kurzum – die Vorteile des schrift­ lichen Rechts überwogen letzthin seine Nachteile, und die Entwicklung lief darauf hinaus, dass die Schriftlichkeit zur Geltungsbedingung zumindest für gesetzliches Recht erhoben wurde. Für die Verweltlichung des gesetzlichen Rechts war dann die Phonetisierung der Schrift ein weiterer Grund.328 Denn während die symbolische Zeichen benutzende Keilschrift noch für etwas stehen konnte, das durch seinen Ursprung im göttlichen Willen divinatorischen Charakter hatte, war die phonetische Schrift Aufzeichnung des vom Menschen Verlautbarten,329 sodass nur noch der Gebrauch gewisser mündlich auszusprechender Formeln (wie heute noch der Eid) und einige Begriffe (etwa σύμβολον für Vertrag, συμβολαίον für Schuld) daran erinnerten, dass es etwas gab, was das Recht über reines Menschenwerk hinaushob und seinen Wert als Gottesgabe zum Ausdruck brachte – dass der rechtlich zu ordnende Tatbestand im Vordersatz kasuistischer (konditionaler) Normen zwar vom Menschen gesetzt, die den Nachsatz beherrschende ‚Sanktion‘ (bzw. ihr Gesolltsein) aber von einer höheren Macht legiti­ miert wurde.330 326  Dadurch wird verständlich, dass in Athen das nichtschriftliche Recht (die ἄγραφοι νόμοι)  – es entspricht unserem ‚übergesetzlichen‘ Recht  – für höherwertig angesehen wurde als das schriftliche Recht. Siehe dazu J. W. Jones (1956), p. 26 ff. 327  P. Goodrich (1986), p. 27: „Orally transmitted customs as sources of law at least have the benefit of being generally available within societies based upon tradi­ tions of story- and myth-telling. Writing in such cultures was always the monopoly of a restricted elite class and the reduction of oral to written law served to maintain the power and status of the literate classes where literacy was not widespread. The writ­ ten text of law, far from being a clear and accessible statement of law, is rather to be understood as a coded representation of an absent source of speaker. The written text is to be read by specialized interpreters (hierophants/priests) who can, through skill, knowledge and inspiration, decipher the true meaning of the law by going behind it, by penetrating the written word to discover its absolute source in the word of God.“ Siehe ferner M. Th. Fögen (2002), S. 82 ff. 328  Bei der Phonetisierung handelt es sich insofern um eine universalhistorische Entwicklung, als nirgendwo, weder in der Alten noch in der Neuen Welt, die Schrift­ tradition direkt mit der Phonographie einsetzt, sondern ihr überall die Logographie vorausgeht. 329  Vgl. J. Bottéro (1992), p.  98 ff., 105 ff. 330  Zum Ganzen siehe auch N. Luhmann (1970), S. 245 ff.

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b) Soziogenetische Untersuchungen Die Idee vom Fortschreiten der Rechtsentwicklung nach evolutiven Geset­ zen haben auch einige Rechtssoziologen aufgenommen. Ich beschränke meine Darstellung auf die beiden wirkungsmächtigsten von ihnen: Niklas Luhmann und Max Weber. (α) Niklas Luhmann. Für Luhmann hat das Recht keinen erkennbaren An­ fang; denn es ist historisch eingebettet in vorgegebene soziale Strukturen.331 Sein Rekurs auf die biologische Trias – (1) Erzeugung neuartiger Möglich­ keiten (Variation), (2) Auswahl brauchbarer und Abstoßung unbrauchbarer Möglichkeiten (Selektion), (3) Stabilisation der brauchbaren Möglichkeiten innerhalb der Systemstruktur – gilt allerdings vor allem dem Zweck, seine Systemtheorie zu dynamisieren und sie nicht nur auf das bestehende Recht, sondern auch auf dessen Entwicklung anwendbar zu machen. Ansatzweise bereits in seiner ersten Stellungnahme,332 genauer dann innerhalb seiner spä­ teren ausführlichen Behandlung des Themas,333 legt er dar, dass (1) die Erzeugung neuartiger Möglichkeiten, welche die Evolution des Rechts voran­ treibt, soziologisch gesehen aus „unerwarteten normativen Erwartungen“ bestehe. Bei einem Streit um die Berechtigung solcher Erwartungen müssten Interaktionssysteme entweder schlichten oder feststellen, wer im Recht und wer im Unrecht ist. Und da infolge der antagonistischen menschlichen Natur „keine Gesellschaft ihr Recht [ausschließlich] auf Konsens stützen“ könne, hänge die weitere Evolution davon ab, (2) „wie das Problem der sozialen Abstimmung stattdessen gelöst wird“: welche Verfahren die Gesellschaft entwickle, in denen selegiert wird, welche der widerstreitenden Auffassun­ gen dem Recht entspricht. „Der entscheidende Bruch mit älteren Gesell­ schaftsformationen“ trete jeweils dann ein, wenn „in den für Entscheidungs­ selektion ausdifferenzierten Rechtsverfahren nicht mehr nur ad hoc und nicht mehr nur ad hominem argumentiert wird“,334 sondern wenn an die Stelle solcher Argumente die Berufung auf Gesetze tritt, die auch in anderen Fällen angewandt werden können. Von da an fordere die Gerechtigkeit, dass gleiche Fälle gleich und ungleiche ungleich entschieden werden; von da an werde das Recht „selbstreferentiell“, d. h. von juristischen Tatbeständen unabhän­ gig; und von da an komme es zu einer rechtseigenen Evolution, die sich insbesondere in der Ausdifferenzierung von professionellen juristischen Rol­ len, zunächst im römischen Adel, sodann im Bereich des mittelalterlichen 331  N. Luhmann (1993), S. 58: „Die Möglichkeit, Recht als Recht zu erkennen, reicht aus, um Rechtspflege als gesellschaftliche Autopoiesis in Gang zu bringen.“ 332  N. Luhmann (1970/1981). 333  N. Luhmann (1993), S. 239 ff. 334  N. Luhmann (1970), S. 262.



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kanonischen Rechts, niederschlägt. Doch nicht nur durch Variation und Se­ lektion, sondern auch (3) durch die Stabilisierungsfunktion der juristischen Dogmatik werde das Recht differenziert. Denn die Dogmatik garantiere, „dass das Rechtssystem sich in seiner eigenen Veränderung als System be­ währt“, d. h. innere Konsistenz aufweist. Fehlt es daran, verlange die Dogma­ tik nach Veränderung. Insgesamt operiere die Evolution somit zirkulär, „in­ dem sie teils mit Variation auf Außenanstöße reagiert und teils die Stabilisie­ rung zur Motivierung von Innovationen wiederverwendet“.335 Auf die nationale Diskussion hat Luhmanns Übertragung des Darwinschen Algo­ rithmus auf die Rechtsentwicklung zeitweise großen Einfluss ausgeübt und darüber hinaus auch die internationale Diskussion befruchtet.336 Die entscheidende Verände­ rung gegenüber der biologischen Prämisse von der selegierenden Wirkung der Au­ ßenwelt besteht darin, dass Luhmann diese Funktion nunmehr in die Innenwelt des Rechts verlegt. Diese Veränderung ist allerdings, weil sie für die Selektion Entschei­ dungsverfahren auf der Grundlage von abstrakten Gesetzen sowie als stabilisierende Wirkung eine juristische Dogmatik voraussetzt, trotz einigen Hinweisen auf das vor­ klassische Recht allenfalls auf die Evolution des römischen Rechts in Kontinental­ europa anwendbar und auch auf sie erst seit dem 11. Jh.337

(β) Max Weber. Eindeutiger als Luhmann hatte zuvor schon Max Weber der Rechtsentwicklung das römische Recht seit dem 11. Jh. zugrunde gelegt, teils weil es seiner Vorstellung vom Recht als einem formal-rationalen Ord­

335  N.

Luhmann (1970), S. 275, 277. die evolutorisch fundierte Rechtstheorie N. Luhmanns mehr bietet als eine Reformulierung der üblichen juristischen Arbeitsweise in den komplizierten Begriffen seiner Systemtheorie, ist strittig geblieben. Dass das Recht als autochthones soziales System sich mit seinen konkreten sozialen Umwelten beschäftigt und von ihnen ei­ nerseits seine Probleme bezieht, ihnen andererseits aber auch seine Probleme auf­ drängt, ist keine Entdeckung der Systemtheoretiker, sondern allgemeine Meinung. Zur Diskussion in Deutschland vgl. vom systemtheoretischen Standpunkt aus u. a. M. Amstutz (2001 u. ö.); Th. Huber (2007), passim; G. Teubner (1989), passim; Ch. Henke (2010), bes. S. 41 ff., 62 ff., 85 ff. (vgl. zu ihm schon oben 1 f γ); M. Schulte (2011), bes. S. 84 ff. – alle m. w. Nachw. Die internationale Diskussion wird mehr als von Luhmanns Theorie durch die stark mathematisch ausgerichtete Dual inheritance theory und die stärker biologisch fundierte Cultural selection theory geprägt, über die u. a. die Bücher von R. Boyd/P. J. Richerson (1985, 2005) sowie die Untersuchungen von A. Fog (1999), G. K. D. Crozier (2008) und W. G. Runciman (2009) Auskunft geben. Die Entwicklung des Rechts wird dort allerdings nur beiläufig thematisiert; denn „its principal contention is that collective human behaviour-patterns should be analysed as the outwardly observable expression of information affecting phenotype transmitted at the three separate but interacting levels of heritable variation and com­ petitive selection – biological, cultural, and social“ (W. G. Runciman, p. vii). 337  Historisch unhaltbar und widersprüchlich M. Schulte (2011), S. 89: „Am An­ fang war Rom, obwohl wir von Anfang an wissen, dass das Problem des Anfangs ein unlösbares ist und bleibt.“ 336  Ob

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nungssystem338 am besten entsprach, teils weil es aus seiner Sicht eine klare organische Entwicklung zu immer mehr Rationalität und Logizität aufwies.339 Den Beginn dieser Entwicklung sah Weber zum einen in der Orientierung an eindeutigen Tatbestandsmerkmalen, zum anderen in der Ausschaltung aller rational unkontrollierbaren Mittel zur Rechtsschöpfung und Rechtsfindung, etwa von Orakeln und gefühlsmäßigen Wertungen. Innerhalb der Tatbe­ standsmerkmale unterschied er zusätzlich zwischen solchen sinnlich an­ schaulichen Charakters und solchen durch logische Sinndeutung erst zu er­ schließenden. Jene erlaubten nur eine Rechtsschöpfung in Form von Kasuis­ tik und Präjudizien, diese dagegen auch eine juristische Systembildung, d. h. die Zusammenfassung von Rechtsregeln zu einem widerspruchsfreien Gan­ zen.340 Entwickelt habe sich das Recht, indem es vom Bezug auf sinnlich anschauliche Merkmale zum Bezug auf durch Sinndeutung zu erschließende Merkmale überging. Dadurch habe es in Kontinentaleuropa einen „Höchst­ grad methodisch-logischer Rationalität“ erreicht,341 weshalb seine Entwick­ lung im Rechtspositivismus an der Wende vom 19. zum 20. Jh. auf ihrem Höhe- und gleichzeitig Endpunkt angelangt sei. Die treibenden Kräfte der Entwicklung sah Weber in den Veränderungen des Rechtsdenkens: einesteils aufgrund einer an Präjudizien und Analogien gebundenen Behandlung des einheimischen Rechts und der anwaltlichen Schulung von Rechtspraktikern, wie sie idealtypisch in England üblich ist;342 anderenteils aufgrund der Schulung von theoretisch an den Universitäten und anschließend in der Praxis ausgebildeten Juristen, wie sie idealtypisch in Kontinentaleuropa geübt wird.343 Wichtigste Eigentümlichkeiten der univer­ 338  Dazu M. Weber (1960), S. 53: Die Rechtsordnung sei ein logisch in sich wider­ spruchsfreies System von „Sätzen, deren Inhalt sich als eine Ordnung darstellt, wel­ che für das Verhalten eines irgendwie bezeichneten Kreises von Menschen maßge­ bend sein soll“. Die Rechtsdogmatik habe die Aufgabe, diese Sätze „auf ihren richti­ gen Sinn, und das heißt: auf die Tatbestände, welche ihr, und die Art, wie sie ihr unterliegen, zu untersuchen“ und danach zu trachten, „dass sie dadurch in ein logisch in sich widerspruchsfreies System gebracht werden“. Ausführlich zum „Recht als System“ F. J. Peine (1983). 339  Zu Weber u. a. H. A. Hesse (2004), insbes. S. 61  ff. („Maschinenmodell“), 127 ff. („Rechtsprechungsmodell“), 147 ff. („Bürokratiemodell“), 195 ff. (Zusammen­ fassung); Th. Vesting (2015), Rn.  251 ff. m. w. Nachw. 340  M. Weber (1960), S. 102. 341  M. Weber (1960), S. 103. 342  M. Weber (1960), S. 197 ff. 343  M. Weber (1960), S. 201. Eine Sonderstellung räumte Weber (1960, S. 201 ff.) der Rechtslehre in den Priesterschulen und in den an die Priesterschulen angeschlos­ senen Rechtsschulen ein, wo die hinduistische, die islamische und die jüdische Rechtskultur gepflegt wurden. Von dort seien auch religiöse und moralische Postulate vermehrt in das Recht eingedrungen. Sie hätten trotz hoher Rationalität allerdings nicht zu einer systematisch alle Lebensbereiche abdeckenden Rechtsordnung geführt,



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sitären Ausbildung seien der „eminent analytische Charakter“ des Rechtsden­ kens sowie der „abstrakte Charakter der Rechtsbegriffe“.344 Beide Eigentüm­ lichkeiten hätten das römische Recht für die Praxis interessant gemacht, weil sie zum einen ermöglichten, außerordentlich verschiedene Sachverhalte mit einem Begriff zu erfassen, der zu diesem Zweck interpretiert, gedehnt oder erstreckt wird, und zum anderen, den Begriff als Baustein für einen größeren systematischen Zusammenhang, etwa für ein Rechtsinstitut, zu benutzen. c) Ökonomische Untersuchungen (α) Nutzenökonomische Theorien. Ökonomische Theorien des Rechts se­ hen den Zweck von sozialen Normen allein in der Vermehrung des gesell­ schaftlichen Nutzens. Dementsprechend deuten sie die Evolution von Nor­ men als ein Ringen um ein Höchstmaß an sozialem Nutzen: Die effizienteren Normen setzten sich gegenüber den weniger effizienten regelmäßig durch, weil sie größeren Nutzen versprechen. Die Entwicklung verlaufe deshalb in Richtung von Rechtsnormen, weil diese infolge ihrer Ausstattung mit schar­ fen Sanktionen die höchste Effizienz aller Normenarten entfalten. Ökonomische Theorien sind zunächst in den USA entwickelt worden,345 haben später aber auch in Deutschland Beachtung und zunächst sogar An­ klang gefunden.346 Mittlerweile ist die Kritik an ihnen allerdings gewachsen. Man wirft ihnen Einseitigkeit vor, weil sie alle nicht-ökonomischen Motiva­ tionen wie Altruismus, Umverteilung und Paternalismus347 sowie alle (nichtkonsentierten) Gerechtigkeitskriterien aus ihrem Gesichtsfeld verbannen.348 Auf Einzelheiten der Diskussion kann und brauche ich im vorliegenden Zu­ sammenhang nicht einzugehen, da für differenzierte ort- und zeitspezifische Untersuchungen, die sicherlich nötig wären, das erforderliche Material fehlt.349 sondern vor allem zur Anwendung idealer religiös-ethischer Forderungen an die Men­ schen und an ein dafür offenes Recht. 344  M. Weber (1960), S. 209, 213. 345  Grundlegend R. A. Posner (1998; zuerst 1973). Anhänger der Theorie sind u. a. R. Rubin (1977), G. Priest (1977) und R. Cooter/L. Kornhauser (1980). Zusammen­ fassend E. Schanze (1993). 346  Zusammenfassende Darstellungen: H. B. Schäfer/C. Ott (1986); C. Kirchner (1997); M. Adams (2002); A. von Aaken (2003). Vgl. ferner die Beiträge in: H. Assmann/Ch. Kirchner/E. Schanze (1993); Ch. Engel/M. Morlok (1998). 347  Vgl. etwa D. Kennedy (1981 und 1982). 348  K.-H. Fezer (1974); C. R. Sunstein (1994). Zum breiteren Ansatz einer evolu­ torischen Ökonomik vgl. G. von Wangenheim (1995), S. 3 ff. 349  Ausführliche Darstellung und Kritik der philosophischen Grundlagen bei K. Mathis (2009); abgewogene Stellungnahme aus juristischer Sicht bei J. Wieland (2003).

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(β) Evolutionsökonomische Theorien. Eng mit den utilitaristischen sind die evolutionsökonomischen Theorien (evolutionary economics) verwandt,350 die auf Ideen von Joseph Alois Schumpeter und Friedrich A. Hayek351 aufbauen und vor allem Mutations- und Selektionsprozesse auf Handelsmärkten zum Zwecke der Erleichterung und der Absicherung von Transaktionen zum Ge­ genstand haben. Schumpeter hatte Anfang des vorigen Jahrhunderts eine Theorie der wirt­ schaftlichen Entwicklung mittels diskontinuierlicher Veränderungen aufge­ stellt. Dynamische Unternehmer hätten diese Veränderungen herbeigeführt, indem sie sie im Wettbewerb mit anderen Innovationen durchsetzten, dadurch Gewinne erzielten und zum Aufschwung der wirtschaftlichen Konjunktur beitrugen. Hayek übertrug diese Theorie auf die kulturelle Entwicklung mit­ tels eines wettbewerblichen Prozesses von Variation und Selektion bzw. von Versuch und Irrtum, deren Verlauf zufällig sei und deren Ergebnisse (Tech­ nologien, Institutionen u. a.) einer ständigen, gleichwohl unvorhersehbaren Selektion durch den Markt unterlägen. Neuerdings sind die auf das Marktgeschehen bezogenen ökonomischen Evolutionstheorien auch auf andere institutionelle Evolutionsprozesse ange­ wandt worden. In diesem Zusammenhang wird Hayeks These, dass die Ver­ haltensnormen einer Gesellschaft Früchte eines langen Prozesses von Varia­ tion und Selektion seien, allgemein akzeptiert. Zugleich wird sie aber auch auf die Anwendung von Rechtsnormen durch die Gerichte ausgeweitet. (γ) Bioökonomische Theorien. Wiederum eng versandt mit den evolutions­ ökonomischen Theorien sind gewisse bioökonomische Evolutionstheorien. Ausgehend von der Erkenntnis, dass soziale Gruppen sich gegenüber kon­ kurrierenden nur behaupten können, wenn sie im Innern gefestigt und gegen Attacken von außen gewappnet sind, kommen sie zu dem Schluss, dass effi­ ziente juristische Normen hierzu das am besten taugliche Mittel sind und diese daher auch schon im frühen Altertum die Entwicklungsrichtung be­ stimmt haben. Jack Hirshleifer352, ein US-amerikanischer Ökonomie-Professor, hat die Wurzeln des Rechts in der Suche nach einem optimalen Abbau von internen sozialen Konflikten gesehen. Optimal möglich sei der Abbau durch regelmä­ ßige Intervention seitens mächtiger Dritter353 – etwa der Eltern bei Rivalitä­ ten ihrer Kinder oder des Staates bei Streitigkeiten seiner Bürger. Solche In­ die Übersicht von C. Herrmann-Pillath (2002). Schumpeter (1912/2006); F. A. von Hayek (1978); (2003). Zu von Hayek vgl. noch unten K 6 c β. 352  J. Hirshleifer (1980). 353  Siehe dazu auch A. Holtwick-Mainzer (1985). 350  Vgl.

351  J. A.



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terventionen reduzierten auf der einen Seite die Bereitschaft zum Streit und schüfen auf der anderen Seite Vertrauen in die Verlässlichkeit sozialer Ko­ operation und in die Erfüllung wechselseitiger Versprechen. Sozialen Grup­ pen verhälfen sie zu einem Vorteil im Wettstreit mit anderen Gruppen und hätten sich deshalb sozialintern überall durchgesetzt. Drei ethische Regeln hätten sich darüber hinaus allgemein bewährt: die Goldene Regel des Teilens innerhalb der Gemeinschaft, die Silberne Regel der privaten Rechte und die Eiserne Regel der Dominanz.354 Die Entwicklung aller fortgeschrittenen Ge­ sellschaften sei diesen Regeln gefolgt: Ihre Mitglieder hätten überall einer­ seits persönliche Unverletzlichkeit und Eigentum beansprucht, andererseits aber auch überall lernen müssen, dass diese Rechte allen Mitgliedern in gleicher Weise zustehen.355 Hirshleifer hat damit die Dominanz derjenigen Rechtsnormen erklärt, de­ ren Befolgung für den Daseinskampf zwischen Gruppen zentral ist. Da aber der Daseinskampf zwischen Individuen einer Gruppe ebenfalls der Regula­ tion bedarf, um die Fitness zu steigern, hat Richard Epstein356, Rechtsprofes­ sor in Chicago, die Notwendigkeit zum Abbau interner sozialer Konflikte auch darin begründet gesehen, dass die Mitglieder einer Gruppe mit festen Normen besser überleben und mehr Nachwuchs aufziehen können als andere. Vier Normbereiche sind nach seiner Meinung dafür spezifisch relevant: das intrasozietäre Gewaltverbot (mit Ausnahme der Notwehr), das Recht zur Aneignung herrenloser Sachen, die elterlichen Pflichten und die Bindung an Versprechen. Dagegen sei ein Einfluss der biologischen Evolution auf das Privatrecht (entgegen Hirshleifer) zu verneinen. Denn „the gene-environment interactions that drive natural selection are strongest in matters that … come closest to the raw nerve of survival and propagation. The questions of privacy are simply too far removed from these dominating concerns to have much imprint upon the development to tastes for any given normative orders.“357

Hirshleifers und Epsteins Theorien scheinen mir trotz einigen Gegensätzen sich eher zu ergänzen als sich auszuschließen. Dies kann jedoch dahingestellt bleiben, weil beiden Theorien – neben der Einseitigkeit ihrer soziobiologi­ schen Begründung358 – derselbe Mangel anhaftet: dass sie den Daseinskampf 354  J.

Hirshleifer (1980), p. 655. Hirshleifer (1980), p. 653. 356  R. Epstein (1980). 357  R. Epstein (1980), p. 669 p. 358  Eine gründliche Kritik der soziobiologischen Begründung von Rechtsnormen ist hier nicht möglich. Sie erscheint mir allerdings auch nicht erforderlich, solange sich die Soziobiologie mit der Forderung begnügt, dass soziokulturelle Normen gene­ tischen Programmierungen nicht widersprechen dürfen – dass diese Programmierun­ gen also ein Teil des ‚negativen Naturrechts‘ sind und folglich nur in seltenen Fällen 355  J.

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in eine imaginäre Welt verlegen, der nur menschliche Gruppen bzw. Indivi­ duen angehören. Beide übersehen, dass zu jeder menschlichen Sozietät auch eine spezifische natürliche Umwelt gehört und dass ebenso, wie die Men­ schen einen Teil ihrer Bedürfnisse und der Mittel zu deren Befriedigung aus der Umwelt empfangen, sie auch die Normen für ihr Recht teilweise mit Rücksicht auf die Umwelt gewinnen müssen. Menschen, die am Wasser wohnen, brauchen ein anderes Recht als Menschen inmitten festen Landes, Menschen im fruchtbaren Urwald ein anderes als solche in einer kargen Wüste, Menschen in Städten ein anderes als die Bewohner kleiner Dörfer oder jene, die als Nomaden umherziehen. Jede evolutionäre Rechtstheorie muss deshalb zusätzlich zur antagonistischen Natur menschlicher Individuen und Gruppen die Besonderheiten ihrer Umwelt (einschließlich deren u. U. abrupter Veränderung)359 in die Erklärung einbeziehen. Tut sie das nicht, ist sie defizitär. 3. Untersuchungen zum Einfluss autochthoner Faktoren Wie jedem sozialen System liegt auch dem Rechtssystem ex origine ein dynamischer Trend zugrunde. Hier ergibt er sich aus einem Spannungsver­ hältnis zwischen der sozialen Realität und einem Ideal, das der Mensch zwar niemals erreicht, aber auch niemals aus dem Auge verloren hat: dem Ideal vollkommener sozialer Gerechtigkeit. Der dynamische Trend geht dahin, die einen determinierenden, häufiger dagegen einen lediglich programmierenden Einfluss auf die Ausgestaltung rechtlicher Normen ausüben. Geht die Soziobiologie allerdings darüber hinaus und nimmt sie an, dass die Entwicklung des Rechts vonseiten der menschlichen Gene „an die Leine“ genommen wird, sieht sie sich der Frage ausge­ setzt, wie es dann zu einer gegenüber der genetischen viel rascheren kulturellen Ent­ wicklung von Recht überhaupt hat kommen können. Auf diese Frage hat sie bisher keine Antwort gefunden. Vgl. dazu auch M. Tomasello (1999), S. 13 ff., 50 ff. 359  Mit Recht betonen heute auch die Soziobiologen, dass insbesondere die Verän­ derungen der natürlichen Umwelt innovative Kräfte im Menschen freigesetzt haben. (Das Konzept einer Herausforderung seitens der Umwelt und der Antwort seitens der schöpferischen Elite einer Kultur prägte allerdings schon A. J. Toynbee, 1934– 61/1954). Im Einzelnen unterscheiden die Soziobiologen vier Möglichkeiten für Le­ bewesen, auf Umweltveränderungen zu reagieren: (1) Erdulden, wobei zwar ein Teil der Population stirbt, aber die Chance besteht, dass die genetische Ausstattung einiger Individuen ausreicht, um auch in der neuen Umwelt zu überleben und sich zu vermehren; (2) Flucht in ein günstigeres Habitat; (3) Aufbau eines Schutzes (z. B. Anlage tieferer Nester seitens der Vögel für ihren Nachwuchs bei zu kalter oder zu warmer Witterung); (4) aktive Veränderung der Umwelt zum eigenen Nutzen (z. B. Dammbau der Biber). Nur die Menschen haben allerdings die Fähigkeit entwickelt, auf Veränderungen der Umwelt in den beiden zuletzt genannten Weisen zu reagieren: Sie bauen einesteils Häuser und stellen wärmende Kleidung her, sie kultivieren ande­ renteils den Boden, rotten Raubtiere aus usf.



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soziale Realität diesem Ideal bestmöglich anzugleichen. Er findet sich seit prähistorischer Zeit in allen uns noch heute erreichbaren Kulturen.360 Die Untersuchungen des Trends und wie man ihm folgen kann und soll, sind allerdings so zahlreich, dass ich von der bisher befolgten Methode eines ­ Referats von Einzeldarstellungen abweichen und einen pauschalen Überblick geben muss. (α) Der Trend zur Gerechtigkeit ist nachweisbar in allen Kulturen, über die uns Untersuchungen vorliegen. Er wirkt im Verhältnis sowohl von Indivi­ duen als auch von Gruppen zueinander, wird allerdings schwächer, je größer die Gruppen sind und je schwerer er sich folglich verwirklichen lässt. „Gerechtigkeit im Lande sichtbar zu machen“ sah in Babylon Hammurapi als sei­ nen göttlichen Auftrag an.361 Er erfüllte ihn, indem er auf einen Denkstein die Worte seiner Gerechtigkeit (offenbar vor allem Leitsätze seiner gerichtlichen Entscheidun­ gen) schreiben ließ, durch die er „den Entrechteten sowie den Witwen und Waisen“ zur Gerechtigkeit verholfen habe.362 Gerechtigkeit im Lande sichtbar zu machen, verfolgten auch die ägyptischen Pharaonen als Garanten der Ma`at, wie sie die Ge­ rechtigkeit nannten. Sie verwirklichten sie durch Gegensteuerung gegen das ‚Gesetz der Fische‘, wonach die großen die kleinen fressen.363 Und als ein umfassendes Weltprinzip sah die Gerechtigkeit auch der Gott des Alten Testaments an; denn Ge­ rechtigkeit verbinde Himmel und Erde.364

Ein Differenzierungsbedürfnis innerhalb der Gerechtigkeit ergab sich bei der Schlichtung von Streitigkeiten, wo beide Teile Gerechtigkeit für sich in Anspruch nahmen: Gerechtigkeit war in diesem Fall gefragt zunächst als ‚Tugend‘ desjenigen, der einen Streit schlichten sollte; er bewährte die Tu­ gend, wenn er jedem der Streitenden ‚das Seine‘ zuteilte. Gerechtigkeit war danach also die Tugend der ‚Verteilungsgerechtigkeit‘. Später löste man aber die Gerechtigkeit von ihrer Bindung an die Verteilung, indem man sie auch zur verpflichtenden Maxime für den Ausgleich einer Veränderung machte. Gerechtigkeit war dann zusätzlich ‚Ausgleichsgerechtigheit‘. Die Entwicklung lässt sich bei Aristoteles gut verfolgen. Dieser hatte die Gerechtig­ keit zunächst als eine soziale Tugend (ἀρετή) begriffen, „die jegliche Tugend umfasst“365, und sich durch die ursprüngliche Bedeutung von δίκη darin bestätigt ge­ sehen, dass sie sich allein auf die Austeilung bezog, „durch die jeder das Seine erhält und wie es das Gesetz angibt“ (δίκαιον διανεμητικόν, iustitia distributiva). Später 360  Zur Gerechtigkeit als einem weltumspannenden Ordnungsprinzip vgl. H. H. Schmid (1968). 361  CH Prolog. 362  CH Epilog. 363  J. Assmann (1995), S. 226 ff. 364  Auch im Alten Testament bedeutet ‚Gerechtigkeit‘ gemeinschaftsgerechtes Ver­ halten (vgl. etwa 1. Mose 38 26; Hesekiel 45 9 f.). 365  Aristoteles, Pol. 1282b, 14 ff.; NE 1129b, 28 ff.

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fügte er aber der Gerechtigkeit den Aspekt des reziproken Ausgleichs hinzu, wonach bei jedem Vollzug eines Gütertauschs bzw. seiner vertraglichen Vorbereitung gleiche Werte auf beiden Seiten stehen sollen (δίκαιον διορθωτικόν, iustitia commutativa).

Nun müssen allerdings bei der Feststellung, ob ein Ausgleich gerecht ist, jeweils auch die anderen Fälle mitbedacht werden, die ‚in einer Reihe‘ dazu­ gehörten und daher einen Anspruch auf dieselbe Art des Ausgleichs haben. Dieses Mitbedenken führte die Entwicklung auf eine höhere Stufe, weil an­ gesichts einer immer größer werdenden Anzahl ähnlicher Ausgleichsfälle das ihnen Gleiche zulasten der Besonderheiten des einzelnen Falles in den Vor­ dergrund trat. Es bildete sich m. a. W. der Trend zu einer ‚normativen Gerech­ tigkeit‘ heraus, die zur Gleichbeurteilung und Gleichbehandlung grosso modo, des konkreten Falles also als Beispiel für seinesgleichen, verpflichtete. Historisch erschien diese Gerechtigkeit als Forderung spätestens auf der Stufe eines Frührechts.366 Die soziale Gemeinschaft bedurfte ihrer als Maß­ stab einer herrscherlich garantierten Friedensordnung, die sich gleichermaßen auf alle ‚in der Reihe‘ ähnlichen und deshalb der Friedenssicherung gleicher­ maßen bedürftigen Gegenstände und Ereignisse erstreckte.367 Der Maßstab galt im Falle eines Streits sowohl dem Verfahren, das dem Gebot gleicher Fairness gegenüber den Parteien, als auch der Entscheidung, die dem Ziel eines gerechten Ausgleichs zwischen den Parteien unterworfen werden muss­ ten. Bis heute sind die verschiedenen Arten der Austeilungs-, Ausgleichs-, normativen und Verfahrensgerechtigkeiten Gegenstände einer Unzahl theoretischer Erörterungen geblieben, die freilich meistens nur Teile des Gesamtphänomens ‚Gerechtigkeit‘ be­ treffen. Ich fasse im Folgenden ihre mir vorliegend wesentlich erscheinenden Ge­ sichtspunkte zusammen, ohne auf Vollständigkeit Anspruch zu erheben. dazu unten E 5 α. dennoch kleinste Ungleichheiten, wo sie gehäuft auftreten oder eine lange Reihe bilden, Urheber von sozial relevanten Ungerechtigkeiten werden können, sei immerhin angemerkt. Beispiele: 1. Pfennigrundungsfall: Ein Computer wurde vom Täter so manipuliert, dass bei jedem Buchungsvorgang der Betrag stets auf den letzten Pfennig abgerundet und die Differenz auf das Konto des Täters gutgeschrieben wurde. Obwohl die Diffe­ renz zum gerechten Ausgleich im Einzelfall minimal war, nämlich unter einem halben Pfennig lag, erlangte der Täter infolge der Häufung der Fälle eine beträchtliche ihm nicht zustehende Nebeneinnahme. – 2. Schneeballsystem: Allen dem System gegen eine Gebühr beitretenden Teilnehmern werden Gewinne versprochen, sofern sie wei­ tere Teilnehmer zu denselben Konditionen werben. Da die Rahmenbedingungen für das Spiel begrenzt sind, das System aber auf ständiges Wachstum ausgerichtet ist, ist vorab zu erkennen, dass nur die ersten Mitspieler einen sicheren Gewinn erzielen, während die große Masse der späteren Teilnehmer ihren Einsatz verliert. Die an sich nicht gegen die Gerechtigkeit verstoßende Chance, durch Werbung weiterer Mitspie­ ler Geld zu verdienen, wird mithin durch die Wiederholung unter ständig erschwerten Bedingungen ungerecht. 366  Näher 367  Dass



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(β) Maßstäbe für die austeilende Gerechtigkeit. Die hierzu vertretenen Auffassungen hat Ch. Perelman in sechs Forderungen zusammengefasst: „1. Jedem das Gleiche, 2. Jedem gemäß seinen Verdiensten, 3. Jedem gemäß seinen Werken, 4. Jedem gemäß seinen Bedürfnissen, 5. Jedem gemäß sei­ nem Rang, 6. Jedem gemäß dem ihm vom Gesetz Zugeteilten.“368 Ich lasse dahingestellt, ob diese Zusammenfassung erschöpfend ist, lege sie aber im Folgenden zugrunde. Hinreichend lässt sie m. E. jedenfalls erkennen, dass Gerechtigkeitstheorien entweder formal und inhaltsleer sind und deshalb keiner Entwicklung unterliegen (Nr. 1), oder dass sie vom Gefühl gestützt werden und daher dessen Entwicklung teilen (Nr. 2 bis 4)369, oder dass sie auf sozialen oder politischen Vorentscheidungen beruhen und sich infolge­ dessen inhaltlich auch mit ihnen wandeln (Nr. 5 und 6). •• Die Gültigkeit der 1. Forderung „Jedem das Gleiche“ lässt den Inhalt des einem jeden Zuzuteilenden unbestimmt, wenn man ihn mit Perelman so versteht, „dass gerecht sein eine gleiche Behandlung für alle Wesen be­ deutet, die in bestimmter Hinsicht gleich sind“370. •• Die Gültigkeit der 6. Forderung „Jedem gemäß dem ihm vom Gesetz Zugeteilten“ benennt dagegen den Inhalt des Gerechten zwar bestimmt, übernimmt die Bestimmung aber einer gesetzespolitischen Entscheidung. Als Maßstab ist sie deshalb an deren Gerechtigkeit gebunden; ein eigener Maßstand liegt ihr nicht zugrunde. Beispielsweise beruht die in § 1 des deutschen Versorgungsausgleichsgesetzes von 2009 enthaltene Zuteilung der Hälfte der in der Ehezeit erworbenen Anteile von Anrechten auf Versorgung (z. B. aus der gesetzlichen Rentenversícherung) an jeden Ehegatten anlässlich einer Scheidung darauf, dass der Bund als verfassungsrecht­ lich zur Rechtserzeugung legitimierte Instanz diese Norm erlassen hat (vgl. Art.74 Abs. 1 Nr. 1 GG). Falls es zu einem Rechtsstreit kommt, sind die Gerichte an die Gerechtigkeit dieser Zuteilung gebunden (Art. 20 Abs. 2 GG) – gleichgültig, ob ihnen das Ergebnis in concreto als gerecht behagt.

•• Der 5. Forderung „Jedem nach seinen Rang“ liegt ebenfalls eine Vorent­ scheidung zugrunde, die diesmal die Gesellschaft getroffen hat, indem sie sich sozial nach Rängen strukturiert hat. Allerdings kann der Begriff ‚Rang‘ auch in einem sehr weiten Sinne verstanden werden.371 Aristoteles beispielsweise bezog ihn auf die konkrete ‚Würdigkeit‘ einer Person, eine Sache zu erhalten, und meinte, dass die ‚Angemessenheit‘ einer Verteilung darin zutage tritt, ob sie geometrisch entsprechend der ‚Würdigkeit‘ der 368  Ch.

Perelman (1967), S. 153. Gefühlsentwicklung vgl. unten H 2 c. 370  Ch. Perelman (1967), S. 27. 371  Ich werde auf die unterschiedlichen sozialen Ordnungsprinzipien, die damit verbunden werden, später eingehen (vgl. unten G 4 b γ). 369  Zur

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Empfänger erfolge. Doch berücksichtigte er dabei schon, dass die ‚Wür­ digkeit‘ je nach Staat und Gesellschaft (sowie je nach Gruppe innerhalb der Gesellschaft) unterschiedlich ist: In Demokratien werde jedem freien Manne der gleiche Rang zugesprochen, in Oligarchien dagegen der Rang auf Reichtum oder Geburtsadel gestützt und in Aristokraten auf die Tüch­ tigkeit.372 Das aber bedeutet, dass die Strukturierung einer Gesellschaft nach Rängen (nebst deren geschichtlicher ‚Mutation‘) die Verteilungsge­ rechtigkeit bestimmt und das Recht diese Aufgliederung lediglich wider­ spiegeln soll. •• Nicht politisch oder sozial, sondern individuell begründet ist schließlich die heute bedeutendste 4. der von Perelman genannten Forderungen: „Jedem nach seinen Bedürfnissen“. Freilich sind auch ihrer Weisungskraft enge Grenzen gesetzt. Denn es geht ihr (zumindest im normativen Rah­ men) nicht darum, welche ‚Bedürfnisse‘ der Einzelne hat, sondern welcher ‚Bedarf‘ ihm zuerkannt und von einem Staat befriedigt werden soll, der sich als ‚Sozialstaat‘ ausgibt. Es handelt sich also um eine normative Ge­ rechtigkeitsforderung, die mit einem typisch staatlichen Umverteilungs­ problem verbunden ist: Der Staat muss sich die Mittel, die er an einen Teil seiner Bürger verteilt, vom anderen Teil seiner Bürger erst noch beschaf­ fen. Während daher die Verteilung vorhandener Mittel zwecks staatlicher „Daseins­ vorsorge“373 keine unlösbaren Probleme aufwirft, weil alle darin übereinstimmen werden, dass ein Zustand, worin der Bedarf aller vollständig befriedigt ist, der besten aller möglichen Welten entspricht und daher als Ziel anzustreben ist, weist die gerechte Beschaffung der Mittel auf die Grenzen hin, die dem Staat für die Verteilung gesetzt sind. Denn der Staat kann sich die Mittel lediglich durch eine Besteuerung seiner reichen Bürger verschaffen und die Bedarfsbefriedigung da­ nach übernehmen.374 Doch ist er darum auch legitimiert, seine reichen Bürger nach dem Maßstab zu besteuern, den ihm der Bedarf seiner armen Bürger vorgibt? Die Frage bejahen hieße, das Gerechtigkeitsproblem einseitig lösen. Denn die Auf­ erlegung einer Steuerlast an die reichen Bürger einer Gesellschaft unterliegt nicht weniger dem Maßstab der Gerechtigkeit (‚Jedem nach seinem Vermögen‘) als die Verteilung der eingenommenen Steuergelder an die Armen. Deshalb lässt sich die staatliche Legitimation zur Auferlegung von Steuern nur aus einer Gerechtigkeits­ forderung zum sozialen Ausgleich zwischen Reichen und Armen herleiten. 372  Aristoteles, NE 1131a. Ihre Bedeutung erhielt die Lehre des Aristoteles vor allem dadurch, dass Thomas von Aquin sie übernahm und ihre Geltung über das Mit­ telalter hinaus bis auf den heutigen Tag sicherte. Vgl. dazu K. Engisch (1971), S.  150 ff.; W. Kersting (1999), S. 46 ff., jeweils m. w. Nachw. 373  E. Forsthoff (1938). 374  Dies gilt insbesondere im Verhältnis zu den gesellschaftlichen Wohlfahrtsver­ bänden, die andernfalls gefordert wären, weil sie sich früher dieser Aufgabe ange­ nommen hatten. Vgl. dazu im Einzelnen unten K 1 a β.



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•• Die Maßstäbe 2 und 3 („Jedem nach seinen Verdiensten bzw. seinen Werken“) scheinen die klarsten inhaltlichen Verpflichtungen zu enthalten: Normen für die Entlohnung von Arbeits- und Werkleistungen sollen sich nach Leistungsverdienst bzw. Leistungserfolg ausrichten.375 Im Rahmen von Vertragsverhältnissen soll es somit für Lohn und Preis auf Quantität und Qualität der einander wechselseitig geschuldeten Leistungen ankom­ men. Doch welche konkreten Folgen ergeben sich daraus? Ein Blick auf das positive Recht zeigt ein wenig klares Bild. Beispielsweise hat der deutsche Gesetzgeber einerseits zwischen Dienstverträgen und Werkver­ trägen unterschieden und für beide Vertragstypen unterschiedliche Normen erlassen. Andererseits hat er die Grenze zwischen beiden Vertragstypen nicht selber bestimmt, sondern die Bestimmung der Rechtsprechung über­ lassen. Für die Rechtsprechung war die Bestimmung schon deshalb schwierig, weil beim Dienstvertrag der Schuldner sich auch um den Erfolg seiner Arbeit kümmern muss, während er beim Werkvertrag auch verpflichtet ist, die für die Herstellung des Werks berechnete Zeit (jedenfalls sofern er sie seiner Lohnberechnung mit zugrun­ de legt)376 auf das übliche Maß zu beschränken. Zu Missverhältnissen hat die Entlohnung folglich immer dann geführt, wenn entweder der Dienstleistende sich als unfähig oder der Werkunternehmer sich als trödlig erwies. Weitere Schwierig­ keiten gab es bei der Ausrichtung der Entlohnung an der Qualität der Dienste bzw. Werke: Sollen Dienste, die jedermann verrichten kann wie etwa das Fegen vor der Haustür, denjenigen Diensten gleich bezahlt werden, die eine universitäre Ausbil­ dung erfordern? Und sollen Werke, die nur auf der Grundlage einer längeren oder schwierigeren Ausbildung hergestellt werden können, denen im Preis gleichstehen, zu deren Erschaffung lediglich Allerweltsfähigkeiten genügen? Das Gesetz schweigt. Und die Gerichte, die (aufgrund des non-liquet-Verbots) nicht schweigen dürfen, tun sich mit der Entscheidung im Einzelfall schwer.377

auch R. Zippelius (1989), § 16 II 2 (S. 109). ein fester Preis vereinbart worden, wird ihm meistens eine durchschnittliche Arbeitszeit zugrunde gelegt werden. Andernfalls werden Angebot und Nachfrage über den Preis entscheiden oder ein Liebhaberpreis festgesetzt werden. Siehe dazu unten im Text. 377  Für den Werkvertrag verweist § 632 II BGB „bei dem Bestehen einer Taxe [auf] die taxmäßige Vergütung, in Ermangelung einer Taxe [auf] die übliche Vergü­ tung“. Doch kann als Grund für die rechtliche Geltung einer taxmäßigen oder übli­ chen Vergütung lediglich der Vertrauensgrundsatz angeführt werden – und der ist mit dem Gerechtigkeitsgrundsatz nicht identisch. Fehlt es an beidem, geht die Verweisung vollends ins Leere. Stattdessen bleibt die Bestimmung des Preises dann dem Werkun­ ternehmer (§ 316 BGB) überlassen, der sie „nach billigem Ermessen zu treffen“ hat (§ 315 I BGB) – d. h. so, wie sie unter Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen und des in ähnlichen Fällen Üblichen als angemessen erscheint (BAG in EzA § 315 BGB Nr. 32 unter A II 2 a). Das aber heißt: Das mit der Entscheidung über die Lohn­ höhe befasste Gericht muss die Antwort aus dem Hut zaubern. 375  Dazu 376  Ist

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Sehen wir von den Dienst- und Werkverträgen ab und suchen wir nach allgemeinen Kriterien für gerechte Löhne und Preise, stoßen wir abermals ins Leere. Historisch lässt sich nur feststellen, was zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten als gerechter Lohn bzw. gerechter Preis akzeptiert worden ist – und das war höchst unterschiedlich. Daraus lässt sich ablesen, dass das Wertbewusstsein jeweils schwankend war und offenbar von unterschiedlichen Faktoren bestimmt wurde. Mode folgte auf Mode; was das Alter schätzte, wollte die Jugend auf keinen Fall gelten lassen. Und die moderne Industrie hat die Schnelligkeit des Wechsels so­ gar zum Programm erhoben. Lediglich ein Wert wird heute allgemein hochgeschätzt: wie man mit möglichst wenig Aufwand möglichst viel Geld verdient. Doch was ist schnell verdientes Geld wert? (γ) Maßstäbe für die ausgleichende Gerechtigkeit. Die ausgleichende Ge­ rechtigkeit setzt für die Bewertung ‒ sei es von Personen, sei es von Hand­ lungen und Erfolgen ‒ von vornherein keine Maßstäbe, sondern sie setzt sie voraus. Was sie anschließend verlangt, ist Reziprozität, d. h. Übereinstim­ mung beider Maßstäbe: des zuvor (z. B. beim ‚Seinstatbestand‘) angelegten und des nachher (z. B. bei der ‚Sollensfolge‘) für richtig befundenen. Die Diskussion ist insgesamt kaum weniger kontrovers als bei der austeilenden Gerechtigkeit. Fünf Auffassungen und die sich daraus ergebenden Forderun­ gen seien genannt: •• Nach Aristoteles378 besteht Ausgleichsgerechtigkeit in der Herstellung eines arithmetisch „Mittleren“ zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig. Doch wie kann jemand anders als durch die Anlegung eines zuvor als richtig akzeptierten Maßstabs ermessen, ob etwas zuviel und ein anderes zuwenig ist? Linear mag das möglich sein, etwa wenn ein Richter „eine in ungleiche Teile geteilte Linie vor sich hat, von deren größerem Teil er das Stück, um welches er größer ist als die Hälfte, wegnimmt und dem kleine­ ren Teil hinzutut“. Aber welcher Richter hat schon „eine in ungleiche Teile geteilte Linie vor sich“? Die richterliche Aufgabe ist komplizierter: Haben sich die Vertragsparteien über die Höhe des beiderseitigen Aus­ gleichs der Leistungen zuvor geeinigt, dann hat der Richter ihren Partei­ willen zugrunde zu legen, auch wenn Leistung und Gegenleistung nach seiner Überzeugung nicht ausgeglichen sind. Allenfalls bei einer laesio Beim Dienstvertrag ist nach heutigem Recht die Leistung von abhängiger und von selbstständiger Arbeit zu unterscheiden. Für die Bezahlung abhängiger Arbeit gelten i. d. R. Tarifverträge mit quasi-gesetzlichen Vorgaben, während die Bezahlung selbst­ ständiger Arbeit nur teilweise festgelegten Standards folgt (z. B. die Bezahlung ärzt­ licher Leistungen nach den Gebührenordnungen für Ärzte und Zahnärzte). Um die Gerechtigkeit dieser Vorgaben wird im Allgemeinen im Kompromiss zwischen den Interessenvertretungen entschieden. 378  Aristoteles, NE V 1131b–1132b.



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enormis, d. i. einem „auffälligen Missverhältnis“ zwischen einer Leistung und einem vereinbarten Ausgleich, wird ihm eine Korrektur zu gestatten sein.379 Haben die Parteien über die vertragliche Gegenleistung keine Ver­ einbarung getroffen, oder ist eine ungerechtfertigte Bereicherung auszu­ gleichen, ein zugefügter Schaden zu ersetzen oder ein unrechtes Tun zu sühnen, dann steht der Richter statt vor einem mathematischen vor einem realen Problem, und das ist nicht mit der Schere, sondern nur mit der Vernunft (man nennt sie ‚Judiz‘) zu lösen. Betrachten wir das Beispiel der unerlaubten Schädigung. Frühe Gesellschaften er­ blickten den Ausgleich dafür in der Talion, der Vergeltung von Gleichem mit Gleichem. Doch leuchtete schon damals der Talionsgedanke allenfalls als einer der Gesichtspunkte ein, der einem Ausgleich (Schadensersatz bzw. Strafe) zugrunde zu legen ist. Denn selbst wo seine Anwendung naheliegt, nämlich in der Anwendung auf Sachbeschädigung, Tötung und Körperverletzung, erscheint er bedenklich, weil er oft nur eine Verletzung auf die andere folgen lässt. Deshalb erscheint anstelle von Schädigung gegen Schädigung, ‚Leben gegen Leben‘, ‚Auge gegen Auge‘ usf. eine Buße, die zur Versöhnung einlädt, als gerechter – wie überhaupt mildere Sanktionen im Laufe der Geschichte die grausamen meistens verdrängt haben, weil sie der Harmonie des Gemeinschaftslebens besser dienten. Ausgleichung ja, aber nicht immer führt Gleiches sie herbei – Verzeihen ist oft besser als Grollen!

•• Kriterien für einen gerechten Ausgleich sind nach einer zweiten Auffas­ sung ausschließlich dem positiven Gesetz zu entnehmen. Antike Gesetze haben deshalb die Käufer auf dem Markt vor Übervorteilung geschützt, indem sie Preise für häufig gehandelte Waren festsetzten.380 Ferner haben sie die Höhe von Ersatzleistungen für unerlaubte Handlungen bestimmt, z. B. für Körperverletzungen381, aber auch für die Kosten der Ärzte382, weil sich häufig hierüber Streit erhob. Haben die Gesetze damit aber die Gerechtigkeitsfrage beantwortet? Sie haben sie nur vom konkreten auf den generellen Fall verschoben und sind den Nachweis, dass ihre Antwort gerecht ist, schuldig geblieben. 379  Laesio enormis liegt nach Dig. 4, 44, 2, 8 vor, wenn unter dem halben Wert ver­ kauft ist – der Verkäufer erhält dann (nach einem Reskript von Diocletian) das Recht, den Kauf rückgängig zu machen, falls der Käufer nicht den vollen Wert nachzahlt. Anders sowohl in den Voraussetzungen als auch in den Folgen jetzt § 138 II BGB. 380  § 4 des akkadischen Gesetzbuchs von Ešnunna (vgl. dazu unten G 3 δ) lautet „Die Miete für ein Schiff mit [einem Fassungsvermögen von] einem Kor [ca. 300 l] beträgt zwei Liter, und ⅓ Liter beträgt die Miete des Schiffers. Er [der Eigner] fährt [das Schiff dafür] einen vollen Tag.“ 381  Ich zitiere aus dem Codex des Hammurapi § 197: „Wenn ein Bürger einen Knochen eines anderen Bürgers bricht, so soll man ihm einen Knochen brechen.“ § 198: „Wenn er … einen Knochen eines Palasthörigen bricht, so soll er eine Mine Silber zahlen.“ 382  § 221 CH: „Wenn ein Arzt einen gebrochenen Knochen eines Bürgers heilt …, so soll der Patient dem Arzt 5 Scheqel Silber geben.“

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Teil I: Entwicklung

Nur die Verfechter einer Reinen Rechtslehre haben im vergangenen Jahrhundert die Auffassung vertreten, dass Ausgleichsnormen, wenn in den positiven Gesetzen enthalten, die Frage nach ihrer Gerechtigkeit überflüssig machen.383 Doch ihre Auffassung hat berechtigten Widerspruch erfahren. Denn das soziale Leben setzt sich gegen die Anwendung grob ungerechter Normen genauso zur Wehr wie gegen ungerechte Einzelentscheidungen. Und wenn das geschieht, dann müssen auch die Vertreter der Reinen Rechtslehre seinem Votum folgen ‒ weil sie Normen nur dann als gültig anerkennen, wenn diese „im großen und ganzen wirksam sind, das heißt tatsächlich befolgt und angewendet werden“384. Und eben das ist bei grob unge­ rechten Normen nicht der Fall.

•• Nach einer dritten Auffassung folgen Kriterien für einen gerechten Aus­ gleich aus dem im Volk lebendigen Gerechtigkeitsgefühl: ob und inwieweit dieses den Bürger im Gewissen zur Gewährung eines Ausgleichs ver­ pflichtet.385 Diesem noch von F. C. von Savigny als Ideal begriffenen Geltungsgrund kommt allerdings kaum noch Erklärungswert zu, seit die Legitimation zur Rechtserzeu­ gung dem Volke von der staatlichen Gesetzgebung weitgehend genommen wurde. Das Gerechtigkeitsgefühl eines Volkes erzeugt heute nur noch einen winzigen Bruchteil der geltenden Normen. Und wenn dennoch der Ruf nach Gerechtigkeit ertönt, kann man sicher sein, dass dafür nicht das im Volke noch lebendige Gerech­ tigkeitsgefühl die Grundlage bildet, sondern dass sich sozialpolitische Forderungen dieses Gewands bemächtigt haben, um an Legitimität zu gewinnen.

•• Weitaus näher kommt der heutigen sozialen Realität daher eine vierte Auffassung, welche die Gerechtigkeit ausgleichender Rechtsnormen zu­ nächst danach einteilt, ob diese auf Adressaten treffen, die sich vor allem als natürliche Mitglieder eines sozialen Ganzen empfinden, oder auf sol­ che, die sich vor allem als unabhängige Elemente begreifen, aber aus ei­ genem Entschluss sich in eine soziale Abhängigkeit begeben haben.386 Im ersten Falle ergänzen die Rechtsnormen die natürliche Ordnung des Zu­ sammenlebens, die sich aus Verwandtschaft, Nachbarschaft und Freund­ schaft entwickelt hat und die durch eine „gegenseitig-gemeinsame, verbin­ dende Gesinnung“ und „gemeinsame Güter“ charakterisiert wird.387 Ihre Gerechtigkeit ergibt sich dann aus ihrer Übereinstimmung mit dieser na­ türlichen Ordnung. Im zweiten Falle sind die Rechtsnormen dagegen Produkte einer vor allem nach ökonomischen Nutzengesichtspunkten or­ ganisierten Gesellschaft, welche durch eine staatliche Macht einerseits 383  H. Kelsen (1960), S. 201: „Jeder beliebige Inhalt kann Recht sein. Es gibt kein menschliches Verhalten, das als solches, kraft seines Gehalts, ausgeschlossen wäre, Inhalt einer Rechtsnorm zu sein.“ 384  H. Kelsen (1960), S. 219. Vgl. dazu näher E.-J. Lampe (1985a), S. 11 f. 385  Ch. Perelman (1967), S. 40. 386  F. Tönnies (1935/1991), 3. Buch § 4. 387  F. Tönnies (1935/1991), 1. Buch §§ 6, 9, 11.



D. Bisherige Untersuchungen zur Historiogenese des Rechts (Auswahl) 107

zusammengehalten,388 andererseits vor der Unerbittlichkeit einer aus­ schließlich ökonomisch gelenkten Organisation beschützt wird.389 Ihre Gerechtigkeit ergibt sich alsdann aus der richtigen Balance zwischen ökonomischer Vernunft und sozialem Schutz. Diese vor allem in der heutigen kommunitaristischen Literatur390 vertretene Auf­ fassung geht auf Ferdinand Tönnies zurück. Ihr schwebt als Ideal die auf natürlichmoralischer Grundlage stehende Gesellschaft vor. Sie erkennt aber an, dass die heute weitgehend anonyme, funktional ausdifferenzierte Massengesellschaft ein solches Ideal nicht mehr abbildet und dass einzig die willentliche Unterwerfung aller unter die vorherrschenden wirtschaftlichen Notwendigkeiten sowie unter die Schutzmacht eines Sozialstaats die soziale Homogenität – trotz individueller Kon­ kurrenz – zu begründen vermag.391

•• Die Vorherrschaft hat m. E. jedoch eine fünfte Auffassung, die das Ver­ trauen der Bürger in die Richtigkeit des positiven Rechts als den Anker benennt, an den ein Gemeinwesen gebunden ist, und die gesetzliche Aus­ gleichsnormen folglich immer dann als gültiges Recht anerkennt, wenn sie diesem Vertrauen entsprechen.392 Ausdruck hat diese Auffassung in der bekannten Formel Gustav Radbruchs gefunden, wonach „das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist“, und dass es nur dann „als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat“, wenn sein Widerspruch zur Gerechtigkeit „ein unerträgliches Maß erreicht“393. Diese Formel lässt freilich offen, wann ein Widerspruch des Rechts zu den Rechts­ erwartungen der Bevölkerung ein „unerträgliches Maß“ erreicht hat, insbesondere welche Gerechtigkeitsideale es nicht erfüllt (beliebt: Vorstellungen von einer ‚sozi­ alen Gerechtigkeit‘), wer hierfür die Messlatte zur Verfügung stellt und wer be­ stimmt, wann auf deren Skala das Maß der Unerträglichkeit überschritten ist. Kommt dafür allein das Rechtsgefühl „aller billig und gerecht Denkenden“ in Be­ 388  F.

Tönnies (1935/1991), 1. Buch § 25. Sozialstaat, schreibt St. Lessenich (2012, S. 37), „ist in dieser Sichtweise wesentlich ein Instrument zur politischen Begrenzung von Marktmechanismen, ihrer Wirkungsweise und ihres Geltungsbereichs. Er schafft … Sphären der Marktunabhän­ gigkeit für die Angehörigen jener übergroßen gesellschaftlichen Mehrheit, die nichts anderes auf den Märkten anzubieten haben als ihre Arbeitskraft; er ermöglicht ih­ nen … ein Leben auch jenseits des erfolgreichen Verkaufs ihrer Arbeitskraft auf den Arbeitsmärkten.“ 390  Wichtige Vertreter sind Michael Sandel, Alasdair MacIntire, Charles Taylor, André Gorz u. a. Zusammenfassend M. Haus (2003). 391  In der deutschen Rechtsprechung finden sich zwar gelegentlich Anklänge an diese Zweiteilung, jedoch kein klares Bekenntnis zu ihr. 392  Nachweise hierzu finden sich u. a. bei K. Engisch (1977), S. 306 f., und (2005), S.  231 f. 393  G. Radbruch (1946/1999), S. 216. Siehe dazu auch wikipedia: „Radbruch’sche Formel“. 389  Der

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Teil I: Entwicklung

tracht, dann kann jeder mit der Formel gut leben; aber dann fehlt ihr auch nahezu jeder gedanklich objektivierbare Aussagegehalt.

Als Ergebnis bleibt somit festzuhalten, dass die Meinungen, was ausglei­ chende Gerechtigkeit bedeutet und welche Folgerungen sich aus ihr ergeben, sich im Laufe der Zeit zwar gewandelt haben, aber weder einem klaren Ent­ wicklungspfad gefolgt sind noch sich zu einem allgemein befriedigenden (und die Diskussion beendigenden) Ergebnis zusammengefunden haben. Den zur Entscheidung aufgerufenen Rechtspolitikern ist daher heute (d. h. innerhalb der modernen Parteiendemokratie) das Tor zum Feld der Opportunität weit geöffnet. Dennoch hindert sie vor einem allzu unbesonnenen Hineinstürmen in das Feld der unbarmherzige Zwang zur wirtschaftlichen Vernunft394 – so­ dass am Ende die kapitalistische Tendenz zur immer weiteren Öffnung der Schere zwischen Arm und Reich und die basisdemokratische Tendenz, die Schere immer wieder zu schließen, sich in etwa die Waage halten. (δ) Maßstäbe für die Verfahrensgerechtigkeit. Wichtig, aber weniger erör­ tert, weil kaum umstritten, sind die Maßstäbe, die an die gerechte Durchfüh­ rung eines juristischen Entscheidungsverfahrens – heute gewöhnlich als ‚faires Verfahren‘ bezeichnet – anzulegen sind.395 Völlig unbestritten betref­ fen die Maßstäbe die Erforschung der ‚Wahrheit‘, d. h. die Erforschung des Sachverhalts, der einem gerechten Urteil zugrunde liegen soll. Dieser Sach­ verhalt besteht aus entweder strittigen oder unstrittigen Behauptungen von Fakten – wobei zusätzlich noch zwischen entscheidungsrelevanten und -irrele­vanten Fakten zu unterscheiden ist, was freilich ohne voraussschauen­ den Blick auf die entscheidungserheblichen Normen nicht geschehen kann. Die insoweit zu leistende Aufklärungsarbeit obliegt primär den Parteien eines Streits, falls diese um Entscheidung oder Schlichtung ersucht haben (‚da mihi facta, dabo tibi ius‘); sie obliegt primär der entscheidenden oder ihr vorgeschalteten Untersuchungsinstanz, falls entweder die Gesellschaft oder der Staat an der Entscheidung interessiert ist – wie regelmäßig bei der Ab­ urteilung einer Straftat, wenn diese Auswirkungen auf das Gemeinschafts­ leben bzw. die staatliche Ordnung hat. Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung haben sich die Möglichkeiten zur Wahrheitsermittlung einesteils verbessert, weil heute genauere Untersu­ chungsmethoden (z. B. Feststellung von Fingerabdrücken, DNA-Analyse) zur Verfügung stehen als früher. Sie haben sich andernteils verschlechtert, weil sowohl ungewöhnliche Vorfälle als auch die Gründe für gewöhnliche Strei­ tigkeiten in größeren Gesellschaften weniger gemeinbekannt sind als in den kleinen Gemeinschaften der Frühzeit, wo es weiterer Ermittlungen vor einem 394  Vgl. 395  Vgl.

K 3 b.

dazu noch unten K 7 c. zum Folgenden W. Bottke (1991) m. w. Nachw. sowie unten H 2 c und



D. Bisherige Untersuchungen zur Historiogenese des Rechts (Auswahl) 109

Prozess oft gar nicht erst bedurfte. Doch während früher das, was nicht be­ kannt war, sich oft auch nicht ermitteln ließ, die Gerechtigkeitsfrage also unbeantwortet blieb, erlauben heute bessere Ermittlungsmethoden und daher auch bessere Ermittlungschancen, bei einem Versagen ein non liquet als ge­ recht anzunehmen und nach Beweislage, beispielsweise in dubio pro reo, zu entscheiden. Vor allem wenn eine ‚objektiv‘ gerechte Entscheidung über einen Sachver­ halt nicht gesichert ist, müssen die von der Entscheidung Betroffenen in de­ ren verfahrensmäßiges Zustandekommen soweit wie möglich einbezogen werden. Das verlangt zum einen die Gewährung von ‚rechtlichem Gehör‘ insbesondere an die im engeren Sinne Streitbeteiligten (i. e. Kläger und Be­ klagter); das verlangt zum anderen auch, dass ihrem Gehör die gleiche Chance eingeräumt wird, auf die Überzeugung der Richter einzuwirken. Der schon im ältesten Recht geltende Grundsatz audiatur et altera pars muss somit heute durch den Grundsatz der ‚Waffengleichheit‘ verstärkt werden: u. a. also durch die Chance eines Beklagten, sich gegen einen rechtskundigen Kläger mithilfe eines Rechtsanwalts wehren zu dürfen. Sind Interessen drit­ ter Personen oder Institutionen in einen Rechtsfall involviert – etwa in einen Ehescheidungsfall die Interessen der ehelichen Kindern, in ein Verwaltungs­ verfahren die Inte­ressen der betroffenen Bürger –, dann verlangt die Fairness außerdem, dass auch ihnen Gelegenheit gegeben wird, sich zu äußern und sachdienliche Hinweise zu geben, denen das Gericht dann nachgehen muss. Insgesamt kommen heute an der Fairness von gerichtlichen Prozessen keine grund­ sätzlichen Bedenken auf. Anders verhält es sich bei anderen rechtlichen Entschei­ dungsprozessen, insbesondere zur Vorbereitung oder Durchführung von Gesetzen und von Verwaltungsakten. Hierauf werde ich an späterer Stelle eingehen.396

4. Zusammenfassung und Überleitung Was können wir als Gewinn aus den bisherigen Erörterungen mitnehmen? M. E. ist es so viel, dass wir den folgenden Untersuchungen eine Grundlage geben können. Zunächst (oben A) ging es um die Klärung des relativ neuen Begriffs ‚Historiogenese‘. Der Begriff setzt sich aus zwei Teilen zusammen und beinhaltet auch zweierlei: in seinem zweiten Teil die (vor allem psychosoziale) Evolu­ tion (des Rechts), in seinem ersten Teil die Geschichte (des Rechts) ‒ jene seit der Zeit, als der Mensch den Stand eines homo sapiens sapiens erreicht hatte und sich kaum noch biotisch, dagegen immer stärker psychisch und sozial veränderte, diese seit der Zeit, als das menschliche Dasein sich in 396  Vgl.

unten K 5 c β.

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Teil I: Entwicklung

einzelne Geschichten zu zergliedern begann, weshalb es nur teilweise noch typologisch dargestellt werden kann, teilweise dagegen schon eingeteilt auf einzelne Völker dargestellt werden muss. Sobald Evolution und Geschichte (des Rechts) sich zeitlich vereinigten, verliefen sie innerhalb einer Umwelt, deren ‚Koevolution‘ ebenfalls mit in die Darstellung eingehen muss. Für die Erforschung der Historiognese des Rechts (zur Methode oben B) liefern konsequent Evolution und Geschichte nur zusammen das Material. Für die genetische Untersuchung stellen sich dabei die Fragen: Warum brauchte der homo sapiens sapiens für sein Zusammenleben Normen? Wel­ che biopsychischen und welche sozialen Faktoren dienten ihm dafür als Material? Und welche Faktoren aus der Umwelt erzeugten (als Randbedin­ gungen) einerseits Impulse für ihre schöpferische Gestaltung und setzten dieser andrerseits Grenzen? Eine Durchsicht der bisherigen Untersuchungen zur Beantwortung dieser Fragen (oben C 1) legt nahe, als internen Hauptgrund für die Normentwick­ lung die menschliche ‚Anagenese‘ anzunehmen, d. h. die Entwicklung zu höherer Differenziertheit und Komplexität im Fühlen, Denken und Handeln: weil diese einerseits der Anpassung an wechselnde Umweltverhältnisse zu­ gutekam, andererseits aber die Passung der internen mitmenschlichen Bezie­ hungen lockerte. Folgen waren einerseits die starke Vermehrung der Men­ schen sowie ihr Zusammenrücken in immer größeren sozialen Einheiten, andererseits die Stratifizierung der Einheiten, damit sie beherrschbar blieben. Für die Beherrschung kam alsdann lediglich ein psychischer Mechanismus in Betrachtung, der sich evolutionär als Hyperzyklus von individuellem Willen und sozialer Neigung bildete und zunächst Sollnormen als „Organisations­ medien“ erzeugte. Als die Einhaltung dieser Sollnormen danach nicht mehr nur psychisch, etwa durch Lernen, gesichert werden konnte, musste aller­ dings psychischer Zwang hinzutreten, der die Abweichler traf und bis zum Ausschluss aus der Gemeinschaft gehen konnte. Inhaltlich mussten die Nor­ men nicht nur auf die internen sozialen Belange, sondern auch auf die spe­ ziellen Umweltgegebenheiten sowie die konkreten Mittel zu ihrer technischen Beherrschung ausgerichtet werden. Darüber hinaus konnten sie befördert und ergänzt werden durch „kuturelle Diffusion“, d. h. durch die (bisher nur beim Menschen beobachtete) Fähigkeit, kulturelle Errungenschaften von einer Population in eine andere zu übernehmen. Die Frage, ob der skizzierten Entwicklung gewisse Gesetzmäßigkeiten zu­ grunde lagen, die sie als notwendig darstellen, wird bis heute kontrovers diskutiert (dazu oben C 2). Zugestanden werden solche Gestzmäßigkeiten für die interne Entwicklung des Menschen, insbesondere für die seiner geistigen Fähigkeiten, die ihm sowohl handwerklich/technische als auch soziale Kom­ petenzen verschafften. Als vorantreibend erwies sich aber auch die Wechsel­



D. Bisherige Untersuchungen zur Historiogenese des Rechts (Auswahl) 111

wirkung zwischen Mensch und Umwelt, weil sie die Menschen vor immer neue Herausforderungen stellte. Insbesondere erforderte die inflationäre Vermehrung der Menschheit auf immer enger werdendem Raum eine kon­ gruent verdichtete Organisation ihres Zusammenlebens, aber auch eine immer intensivere Ausnutzung aller erreichbaren Umweltressourcen. Beides begrün­ dete den Bedarf nach einer neuen Ordnung, den schließlich nur noch Rechtsnormen aufgrund ihres Zwangscharakters befriedigen konnten. Es war daher konsequent, dass diese sich vor allem in den städtischen Siedlungen heraus­ bildeten, wo das Zusammenleben besonders verdichtet war und daher die Ausnutzung der Umweltressourcen einen Höhepunkt erreichte (oben C 3). Fasst man den Inhalt des bisher gesammelten vorgeschichtlichen und ge­ schichtlichen Materials pauschal zusammen, legt es thesenhaft folgende Ent­ wicklung nahe: Vom natürlichen Sozialtrieb geleitet, konnte die Menschheit ihr Zusammenleben, das infolge des Verlusts von Instinktsicherheit chaotisch zu werden drohte, anfangs durch ein pränormatives Brauchtum so ordnen, wie es ihre Gewohnheiten im wechselseitigen Umgang miteinander bisher ergeben hatten. Als allerdings die naturhafte Kraft des Brauchtums den in immer größeren Verbänden siedelnden Menschen nicht mehr ausreichte und abweichende Gewohnheiten Einzelner die gemeinsame Ordnung immer leichter zu sprengen drohten, mussten normative Sitten kreiert werden, die dafür sorgten, dass das Althergebrachte gegenüber Neuerungen die Oberhand behielt und dass ein Zerbröseln verhindert wurde. Gleichwohl waren es ge­ rade Abweichler von den Sitten, die künftig den Fortschritt anführten – sofern ihre Abweichungen die im Althergebrachten weniger verwurzelte jüngere Generation überzeugten. Das indessen geschah oft nur zufällig und war nicht immer den Erfordernissen einer neuen Zeit angemessen. Deshalb musste früher oder später die Veränderungen der Sittenordnung einer weiteren Ord­ nung unterstellt werden, wozu es jedoch hierarchisch höherer Normen be­ durfte, die vor allem von denen gesetzt werden konnten, die einer hierarchisch höheren Schicht innerhalb der Gesellschaft angehörten (oben C 4). Perennierendes Ziel dieser hierarchisch höheren Rechtsnormen war und blieb es, für eine immer größere und einander immer fremder werdende Zahl von Menschen das Zusammenleben als soziale Gemeinschaft auf immer en­ gerem Raum zu ermöglichen. Es gelang trotz einem sich verstärkenden in­ trasozialen Wettbewerb und der Entdeckung einer immer größeren Welt, die immer weitere auch intersoziale Beziehungen zuließ. Diese weiteren Bezie­ hungen ergaben sich vor allem aus dem kaufmännischen Handel, der sowohl was die gehandelten Waren als auch was die juristischen Handelsverträge anbelangte, immer vielfältiger wurde. Relativ schnell entwickelte sich daher das Recht außer zu einer Ordnung geschlossener Sozialsysteme nebst ihren Umwelten auch zu einer Ordnung weltweit offener Handelssysteme nebst Austauschs von kulturellen Errungenschaften.

Teil II

Historische Entwicklung des Rechts E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 1. Was ist ‚Recht‘? Ich habe den Rechtsbegriff aus meiner Untersuchung bisher ausgeklam­ mert, teils weil er bei den bisher zitierten Autoren nicht im Vordergrund stand, sondern undefiniert als bekannt vorausgesetzt wurde, teils weil eine Diskus­ sion der Angemessenheit des jeweils verwendeten Begriffs die komprimierte Übersicht über das vorhandene Schrifttum zu stark belastet hätte. Doch bevor ich jetzt einen Überblick über das historische Werden des Rechts und die ver­ schiedenen Stufen seiner Entwicklung gebe, muss ich mich zu einer Defini­ tion des Rechtsbegriffs vorarbeiten und insbesondere genauer differenzieren (a) zwischen dem Recht in unserem heutigen Sinne, (b) dem Frührecht als seiner Vorstufe und (c) dem (gubernativen) Spätrecht (‚Governance‘) der Mo­ derne und Postmoderne, worin der Begriff allmählich verschwimmt. Im Zent­ rum wird dabei das Recht ‚in unserem heutigen Sinne‘ stehen; es wird den Kernbegriff des Rechts bilden, von dem ich ausgehe und von dem aus ich die Grenzen zum Frührecht und zum Spätrecht ziehe. Das Kriterium für die Grenzziehung wird das Ausmaß der Ähnlichkeit bilden, die das Frührecht schon und das Spätrecht noch zum ‚Recht in unserem heutigen Sinne‘ besitzt. Zwei Einschränkungen erscheinen mir zusätzlich als notwendig. Erstens begreife ich als Recht ‚in unserem heutigen Sinne‘ ausschließlich das Recht heutiger säkularer Staaten; religiös fundierte Rechte, insbesondere also das islamische und das jüdische Recht, scheide ich also von der Bildung des Kernbegriffs und damit aus der weiteren Untersuchung aus.1 Diese Ein­ schränkung lässt sich m. E. deshalb vertreten, weil spezifisch religiöse Rechte von Prämissen ausgehen, die nur Gläubige anerkennen und die deshalb für 1  Das islamische Recht beruht nicht allein auf dem Koran (der šarī’a) und auf den normsetzenden Reden und Handlungen Mohammeds (der sunna), sondern wird durch den fiķh als die hierauf bezügliche Jurisprudenz der Rechtsgelehrten ergänzt. Iğmā (der Konsens) und qiyās (der Analogieschluss) der islamischen Rechtsgelehrten gehö­ ren deshalb ebenfalls zum Recht. Inwiefern auch die fatwās (Rechtsweisungen) isla­ mischer Geistlicher es ergänzen, ist umstritten.



E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 113

die Erkenntnis des Rechts der gegenwärtigen säkularen Staaten nur eine mit­ telbare Bedeutung haben.2 Zweitens erkenne ich sowohl als Vorstufe des sä­ kularen Rechts unserer Tage (und somit des Kernbegriffs ‚Recht‘) als auch in dessen Nachfolge nur das an, was zuvor dieselben Funktionen wie dieses erfüllt hat und was voraussichtlich auch künftig dieselben Funktionen erfül­ len wird. Die Fragen lauten also: Was bildet aufgrund einer funktionalen Betrachtungsweise eine Vorstufe zu unserem heutigen staatlichen Recht? Und welche hoheitlichen oder privaten Institutionen haben Funktionen unse­ res staatlichen Rechts inzwischen übernommen und werden sie künftig ent­ weder an seiner Stelle oder neben ihm erfüllen? Der ersten Frage werde ich in den Teilen II und III meiner Arbeit nachgehen, der zweiten im Teil IV.3 Aktuell wurde die Problematik, was Recht ‚ist‘, als die Ethnologen bei ihren Untersuchungen der sozialen Ordnung von kolonialisierten Völkern Afrikas, Asiens und des Pazifiks auf eine Gemengelage von Eingeborenen­ recht und europäischem Recht stießen: Das staatliche Recht des Mutterlandes war dort zwar offiziell eingeführt, das Eingeborenenrecht aber nicht schlecht­ hin, sondern nur insoweit außer Kraft gesetzt worden, wie es dem mutterlän­ dischen Recht widersprach.4 Hellsichtig geworden, bemerkten die Ethnolo­ gen, dass das Recht der europäischen Kolonialstaaten keineswegs das erste war, das auf das Eingeborenenrecht einwirkte und es zur Auseinandersetzung zwang. Von wo auch immer Bevölkerungsgruppen eingewandert oder als Missionare oder Händler ins Land gekommen waren, hatten sie ihre eigenen Vorstellungen von ‚Recht‘ mitgebracht und mit ihnen das vorgefundene Recht beeinflusst oder gar umgestaltet. Darüber hinaus aber entdeckten ­Ethnologen und Soziologen auch innerhalb der Makrokulturen der zivilisier­ ten Staaten Mikrokulturen,5 die ein eigenes Recht ausgebildet hatten. Diese Das jüdische Recht (die halacha) umfasst nicht nur die Normen der fünf Bücher Mose (der Tora bzw. des Pentateuch) und deren spätere Auslegung im Talmud, son­ dern auch noch weitere religiöse Bräuche und Traditionen. 2  Zur Bedeutung der Religionen für das staatliche Recht vgl. noch unten H 3 c. 3  Vgl. unten K 4 und 5. 4  Allerdings wurde das mutterländische Recht oft auch mit der Klausel versehen, dass es nur gelten solle, soweit es mit den örtlichen Verhältnissen vereinbar sei. Doch selbst wenn diese Klausel fehlte, wie z. B. in Canada und teilweise in Indien, machten die örtlichen Gerichte oft kraft einer Usance davon Gebrauch. Wie notwendig dieses eigenmächtige Verfahren war, zeigt sich darin, dass – mit oder ohne Klausel – die Anpassung oft so stark wurde, dass anstelle des mutterländischen Rechts überhaupt das Eingeborenenrecht angewendet wurde, und zwar mit der lapidaren Begründung: es werde den Verhältnissen der Eingeborenen am besten gerecht. Dazu auch ­E.-J. Lampe (1974), S.  155 f. m. w. Nachw. 5  Zum Begriff der ‚Kultur‘, der sowohl im Singular als auch im Plural verwendet werden kann, sowie zu den mit ‚Kultur‘ zusammengesetzten Begriffen vgl. W. Fikentscher (2016), p.  75 ff., 112 ff.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

‚subkulturellen‘ Rechte traten dann mit dem Recht der Makrokultur in Kon­ kurrenz, und zwar umso stärker, je intensiver dieses versuchte, verloren ge­ gangenes Terrain zurückzugewinnen. Sie grenzten bestimmte Bevölkerungs­ gruppen aufgrund ihrer besonderen kulturellen, ökologischen oder wirtschaft­ lichen Situation oder auch nur aufgrund ihrer gemeinsamen Überzeugung aus dem Anwendungsbereich des staatlichen Rechts aus und verlangten stattdes­ sen von ihnen die Anerkennung ihres semiautonomen Normenbestands und drohten notfalls mit zivilem Ungehorsam gegenüber der Rechtsordnung des Staates bis hin zum bewaffneten Konflikt. Die Bezeichnungen ‚Subkultur‘ bzw. ‚subkulturelles Recht‘ machen bereits deut­ lich, dass nicht alle Kulturen und alle Rechte gleichen Rang besitzen: Manche Rech­ te, z. B. die (national-)staatlichen, sind gewöhnlich dominant, andere, z. B. solche privater Institutionen, sind ihnen unterworfen. Nicht alle Rechtsordnungen haben überdies denselben Charakter: Die der Makrokulturen sehen meistens Gerichtsverfah­ ren zur Streitentscheidung vor, die der Mikrokulturen meistens Ausgleichsverfahren zur Streitbeilegung (conflict-settlement).6 Europäische Rechtskulturen beziehen sich auf die Gesamtgesellschaft eines Staates, asiatische Rechtskulturen hauptsächlich auf jenen ‚barbarischen‘ Teil, der sich nicht an die ‚guten Sitten‘ der Gesellschaft, ihre Moral und ihre Etikette hält, sondern sich vor den Gerichten streitet. ‚Rechts‘staaten weisen dem Recht eine höhere Bedeutung zu als sozialistische Staaten, die stärker auf Ordnungen vertrauen, die der Gemeinschaft inhärent sind. H. Coing hat daraus die Folgerung gezogen, dass es ‚das Recht‘ im Sinne einer einheitlichen Ordnung über­ haupt nicht gebe. „Was die Kulturgeschichte uns zeigt, ist vielmehr eine Vielzahl von einzelnen Ordnungen, die sich nebeneinander und nacheinander entwickelt haben und in den einzelnen Entwicklungen ganz verschiedene Stufen erreicht haben.“7

Doch mahnen uns die ethnologischen und soziologischen Forschungen wirklich, nicht nur von der einheitlichen Vorstellung, sondern auch vom be­ grifflich einheitlichen Konzept des Rechts Abschied zu nehmen? Oder kön­ nen wir einen Rechtsbegriff definieren, der nur den Kernbereich des Rechts zivilisierter Staaten von heute abdeckt, dagegen einen sinnvoll abgrenzbaren Bereich von Normen ausschließt, die diesem Kernbereich nur nahestehen und folglich sinnvoll zu ihm lediglich in Beziehung gesetzt oder entweder als Vorläufer oder als Nachfolger akzeptiert werden können? Dieses letzte würde voraussetzen, dass es identische Merkmale des Rechts gibt, die sich in der Entwicklung des Rechts ‚genidentisch‘ erhalten und so etwas wie eine ‚Fa­ milienähnlichkeit‘ (aber auch nicht mehr) zwischen kulturell aufeinanderfol­ genden Rechten begründet haben. Ich will versuchen, diese Merkmale im Folgenden aufzuweisen und sie zur Grundlage eines pluralistischen Rechts6  Vgl. auch die Gegenüberstellung von S. Roberts (1981), S. 163 ff.: Aggression in Form des kontrollierten Schlagabtauschs einerseits, Diskussion zwecks Schlichtung andererseits. 7  H. Coing (1993), S.  134 f.



E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 115

begriffs zu machen, der gleichermaßen das Frührecht, das Kernrecht und das (gubernative) Spätrecht abdeckt.8 Methodisch gehe ich so vor, dass ich zunächst die bisherigen Bemühungen der Rechtsethnologen betrachte, mittels Induktion und Abstraktion zu einem gültigen Rechtsbegriff zu gelangen; diese Bemühungen sehe ich als gescheitert an. Ebenfalls als gescheitert halte ich aber auch die von (rechts)philosophischer Seite unternomme­ nen Bemühungen, den Rechtsbegriff mittels Deduktion und Konkretion zu begründen. Notwendig erscheint mir vielmehr eine typisierende Begriffsbildung,9 die um einen rechtlichen Begriffs‚kern‘ als organisatorisches Zentrum herum diejenigen Phänome­ ne anordnet, die funktional auf den ‚Kern‘ bezogen sind.

2. Induktive Bestimmungen des Rechtsbegriffs Die Definitionsversuche der Rechtsethnologen sind relativ jungen Datums und hatten schon deshalb kaum die Chance, das altehrwürdige Problem, was Recht ‚ist‘ (quid sit iuris), zu lösen. Interessanter als ein vollständiger Über­ blick über sie ist deshalb, was die Gründe ihres Scheiterns sind. Rüdiger Schott hat als einheitlichen Grund genannt, dass die sozialen Phänomene, die der Begriff ‚Recht‘ erfasst, zu verschiedenartig sind, um eine feste Definition zu ermöglichen. Er schreibt: „Das Dilemma des Rechtsethnologen liegt darin, dass er über den Schatten seiner eigenen Denkvoraussetzungen springen muss: Wenn er seine Rechtsbegriffe auf fremde Kulturen anwendet, verfremdet er deren Verhaltens- und Denkweisen zu einem zwar uns verständlichen, aber den dortigen Verhältnissen unangemessenen System von Normen. Der umgekehrte Weg: der Ethnologe untersucht die Rechts­ verhältnisse fremder Völker in den ihnen eigenen Begriffen, wie z. B. jir, tar, mbatsav, lässt uns diese Verhältnisse [dagegen] als besonders fremdartig, ‚exotisch‘ erscheinen. In letzter Konsequenz führt diese ‚kulturrelativistische‘ Auffassung [dann] dazu, die Möglichkeit eines Verstehens fremder Rechtsauffassungen über­ haupt zu leugnen, ja zu bezweifeln, ob exotische Völker überhaupt ‚Recht‘ in un­ serem Sinne besitzen.“10

Gemeinsames Motiv für die dennoch unternommenen Definitionsversuche der Ethnologen war, dass sie einerseits einen einheitlichen Begriff ‚Recht‘ beibehalten mussten, um sich weiterhin als Rechtsethnologen bezeichnen zu können, dass sie andererseits den Begriff aber von seiner Bindung an den Staat im modernen Sinne (konkret: an den Territorialstaat) befreien wollten, weil sie andernfalls ständig in rechtsfreie Räume hineingeraten wären. Des­ halb setzten sie für die Existenz von Recht lediglich soziale Einheiten voraus, 8  Die folgenden Ausführungen sind teilweise eine Wiederholung von E ­ .-J. Lampe (1995), S. 12–25. 9  Zum ‚Typus‘ und seiner Bedeutung für die Jurisprudenz vgl. insbesondere K. Larenz (1992), S.  349 ff. 10  R. Schott (1988), S. 167; auch schon ders. (1970), S. 112.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

die ihre internen Angelegenheiten und ihre äußeren Beziehungen selbst ord­ nen.11 Außerhalb dieser für sie notwendigen Voraussetzung gerieten sie dann allerdings miteinander in Streit: die einen definierten das Recht ‚legalistisch‘ bzw. regelzentriert, die anderen definierten es ‚funktional‘ bzw. prozessual. a) Legalistische Definitionen des Rechts Vertreter der ‚legalistischen‘ Position, die auch als ‚rule-centered paradigm‘ bezeichnet wird12, waren vor allem die Rechtsethnologen E. Adamson Hoebel (1954), Leopold Pospíšil (1971) und Ian Hamnett (1977). Für sie war das entscheidende Charakteristikum des Rechts die Verhängung von Sank­ tionen für regelwidriges Verhalten durch eine hierzu befugte Autorität mit dem Ziel der Regelabsicherung bzw. -verstärkung13. ‚Rechts‘forschung hatte somit für sie zum Gegenstand, welche Autoritäten entscheiden und welche Regeln sie bestätigen. Leopold Pospíšil bekannte sich am ausführlichsten zu dieser Position. Er nannte vier „Attribute“, die nach seiner Meinung jedem Recht zueigen sein müssen: „Autorität“, „Intention allgemeiner Geltung“, „obligatio“ und „Sank­ tion“.14 Mittels dieser Attribute lasse sich das Recht definieren als „eine Reihe von Prinzipien institutionalisierter sozialer Kontrolle …, wobei diese Prinzipien im Wege der Abstraktion aus Entscheidungen gewonnen werden, die durch eine rechtliche Autorität (Richter, Häuptling, Vater, ein Tribunal oder ein Rat der Alten) gefällt wurden; bei diesen Prinzipien ist intendiert, dass sie allgemein gelten sollen (d. h. in allen ‚gleichartigen‘ Problemlagen in der Zukunft); sie betref­ fen jeweils das Verhältnis zweier Parteien, die in der Beziehung der obligatio zu­ einander stehen; und sie sind schließlich mit Sanktionen ausgestattet“15.

Die Kritik hat Pospíšils Definition des Rechts nicht gelten lassen. Sie stehe und falle „mit der Konzeptualisierung des Institutionalisierungsgrades der ‚Autorität‘ “. Für die Analyse akephaler Gesellschaften müsse Pospíšil diesen Institutionalisierungsgrad so gering ansetzen, „dass er wahrscheinlich jedes institutionalisierte, asymmetrische Beziehungsgefüge einzuschließen ver­ mag“. Die Entscheidungen von Führern jugendlicher Banden seien dann ebenso ‚Recht‘ wie die von Vätern, Häuptlingen, Abteilungsleitern, Gangs­ terbossen, Gerichten oder Königen. Zwar lasse sich ein derart weiter Rechts­ begriff bilden; doch sei er sinnlos, weil er auch eindeutig illegale Erschei­ etwa M. G. Smith (1974), p. 97 u. ö. Comaroff/S. Roberts (1981), p. 5 ff. 13  R. Schott (1988), S. 163; P. Just (1992), p. 374. 14  L. Pospíšil (1982), S. 65 ff.; er bezeichnet dies als „analytische Konzeption des Rechts“. Ausführlich zu Pospíšil die Diskussion bei W. Fikentscher (2016), p. 24 ff. 15  L. Pospíšil (1982), S. 136. 11  Vgl.

12  J. L.



E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 117

nungen wie etwa „Verbrecherbanden“ umschließe.16 Wolle man die vermisste Einschränkung allerdings darin sehen, dass nur Abstraktionen aus den Ent­ scheidungen „rechtlicher“ Autoritäten das Recht bilden, sei zu bemängeln, dass die Definition tautologisch wird, weil unbestimmt bleibe, was unter ei­ ner „rechtlichen“ Autorität zu verstehen ist.17 Ebenfalls als ungenügend angesehen worden sind die Definitionsversuche von E. A. Hoebel18 und von Ian Hamnett19.

b) Funktionalistische Definitionen des Rechts Die Anhänger einer ‚funktionalen‘ Rechtsbestimmung, die auch als ‚processual paradigm‘ bezeichnet wird,20 verstanden das Recht „aus dem Funk­ tionszusammenhang von sozialen Regeln und Normen mit anderen Lebens­ bereichen (Verwandtschaftsordnungen, Wirtschaft, Religion usw.)“ heraus,21 „ohne a priori festzulegen, welche sozialen Regeln oder Normen als ‚Recht‘ zu gelten haben“.22 Hauptgegenstand ihrer Untersuchungen und daher zentra­ ler Begriff ihrer Rechtsdefinition war der Streit, für dessen Regelung nach ihrer Auffassung das Recht den (im Wesentlichen prozessualen) Rahmen bildet. Sie begriffen ihn als ‚endemic feature of social life‘, der in den ge­ samten sozialen Kontext einzubetten und darin zu untersuchen sei.23 Die Kritik hat dieser Richtung „Substitution von Recht durch Streit“ vor­ geworfen.24 Ihr Vorteil sei zwar, „dass (1) Rechtskonflikte ebenso wie (2) das Recht als Mittel der Konfliktlösung ihren privilegierten Status verlieren und 16  T.

von Trotha (1987), S. 66 f., mit Bezug auf L. Pospíšil (1982: S. 71, 82, 155). von Benda-Beckmann (1986), S. 5. Vgl. ferner die Kritik bei S. Roberts (1981), S. 210, und bei W. Fikentscher (2016), p. 29 f. 18  E. A. Hoebel (1954), S. 26: Rechtsnormen seien diejenigen Normen, die, im Falle ihres Bruchs von einer über den Parteien stehenden Instanz in einem geordneten Verfahren sanktioniert werden. Diese Definition klammert sämtliche staatlichen (auch verfassungsrechtlichen) Organisationsnormen aus dem Rechtsbegriff aus. 19  I. Hamnett (1975), p. 14: „Customary law can be regarded as a set of norms which the actors in a social situation abstract from practice and which they invest with binding authority.“ Diese Definition unterliegt den gegen Pospíšils Definition vorgebrachten Bedenken; insbesondere bleibt unbestimmt, wann eine Norm als „mit bindender Autorität“ ausgestattet ist. 20  J. L. Comaroff/S. Roberts (1981), p. 11 ff. 21  Indem sie die Regeln nämlich als Teil eines funktionalen Ganzen verstehen. Vgl. dazu U. Wesel (1984), S. 534 ff. 22  R. Schott (1988), S. 162. Grundlegend für diese Forschungsrichtung war das Buch von P. H. Gulliver (1963). 23  J. L. Comaroff/S. Roberts (1981), p. 13 p. Einen Überblick über „the basic as­ sumptions of dispute theory“ geben M. Cain/L. Kulcsár (1983), p.  10 ff. 24  T. von Trotha (1987), S. 64; F. G. Snyder (1981), p. 145. 17  F.

118

Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

mithin (3) als Konstitutionsprozesse einer ‚Verrechtlichung‘ erscheinen, des­ sen Bedingungen es zu analysieren gilt, dass insbesondere (4) nicht-rechtliche Formen der Konflikt- und Streitlösung in den Blick geraten (Stichwort: ‚Al­ ternativen zum Recht‘) und dass (5) eine Verlagerung von der Analyse mate­ riellen Rechts zugunsten von Institutionen der Streitregelung und Bedingun­ gen ihrer Formen und Arbeitsweisen erfolgt“25. Dem stehe jedoch der Nach­ teil gegenüber, dass „das Konzept des Rechts selbst abhandenkommt“ und dieser Umstand auch noch als die einzig sinnvolle Antwort auf die unfrucht­ bare Frage nach dem Rechtsbegriff ausgegeben wird.26 Bedenklich erscheine darüber hinaus, dass der Begriff des Streits nicht weniger ungeklärt ist als der des Rechts. Zwar gebe es ausgiebige Diskussionen darüber, wie ‚Streit‘ von verwandten Erscheinungen wie Wettkampf, Meinungsverschiedenheit, Auseinandersetzung, Hader, Kampf usw. abzugrenzen ist.27 So liege nach vorherrschender Auffassung ein ‚Streit‘ z. B. dann vor, wenn ein ursprünglich zweiseitiger Konflikt die Öffentlichkeit erreicht und in ihr (zumeist nach standardisierten Regeln) abgehandelt wird.28 Aber werde denn nicht in allen zivilisierten Staaten der Konflikt mittels Privatisierung und Intimisierung der Familie und des Wohnens der Öffentlichkeit gerade entzogen?29 Würden nicht heute Formen der Konfliktbeilegung geschaffen, um der wachsenden Formalisierung und Bürokratisierung staatlicher Rechtspflege gerade auszu­ weichen – man denke nur an die Schiedsgerichtsbarkeit innerhalb und außer­ halb von betrieblichen Organisationen?30 Könne jene Phase, die dem öffent­ lichen Streit vorangeht, überhaupt sinnvoll abgegrenzt werden, um sie an­ schließend bei der Untersuchung auszuklammern?31 Und vor allem: Lebten nicht Menschen auch außerhalb von Streit nach rechtlichen Regeln, sei es weil sie diese durch Lebenserfahrung und Erziehung verinnerlicht haben, sei es weil sie sich vor einer Sanktion fürchten?32 25  T.

von Trotha (1987), S. 63. T. von Trotha (1987), S. 63, mit kritischem Bezug insbesondere auf R. L. Abel (1974: p. 221 ff.) und S. Roberts (1981: S.  30 ff.). 27  Vgl. M Gluckman (1965), p. 109 p.; ferner M. Cain/K. Kulcsár (1983), p. 10; S. Roberts (1981), S.  46 ff.; R. L. Abel (1974), p.  226 ff.; P. H. Gulliver (1969), p. 14. 28  P. H. Gulliver (1969), p. 14; (1979), p. 75; R. L. Abel (1980), p. 227; F. G. Snyder (1981), p. 147 (zusammenfassend). 29  T. von Trotha (1987), S. 69. 30  Vgl. etwa L. Nader (1978), p.  83 ff. 31  Verneinend etwa J. Starr (1978), p.  125 ff.; B. Yngvesson (1978). 32  N. Rouland (1988), p. 73, der sich deshalb für eine Synthese aus „analyse nor­ mative“ und „analyse processuelle“ entscheidet. Vgl. aber auch E. Ehrlich (1913), S. 17: „Es ist dem Recht weder begriffswesentlich, dass es vom Staate ausgehe, noch auch, dass es die Grundlage für die Entscheidungen der Gerichte oder anderer Behör­ den, oder für den darauf folgenden Rechtszwang abgebe“, sondern dass es im tagtäg­ lichen Leben befolgt wird. 26  So



E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 119

c) Vermittelnde Auffassungen Mittlerweile zeichnet sich daher eine Verbindung zwischen der prozessua­ len und der regelzentrierten Perspektive ab.33 Zum einen wird innerhalb der Erforschung von Streitverfahren auch der Regelanwendung, zum anderen innerhalb der Erforschung der Regelanwendung auch dem staatlichen Recht und – damit verbunden – den staatlichen Gerichtsverfahren wieder mehr Bedeutung zugemessen. Franz von Benda-Beckmann bezeichnet die Vertreter dieser letztgenannten Richtung als „Genremischer“. Sie hätten eingesehen, „dass das ‚Recht‘ von Institutionen, Verbänden, semi-autonomen Bezie­ hungs- und Interaktionsnetzwerken aus einer Vielzahl von Regelungskomple­ xen besteht, wovon das Recht des Staates und der Rechtswissenschaft nur eines ist“34. Sie hielten infolgedessen einerseits Distanz zur herrschenden Ideologie des Westens, die den Rechtsbegriff an den Staat als Souverän kop­ pelt, andererseits aber auch zu jenen Rechtsethnologen, die das Recht als einen (nahezu) ununterscheidbaren Faktor innerhalb der Gesamtheit gesell­ schaftlicher Normen betrachten.35 Wodurch aber hebt sich dann nach Auffassung der „Genremischer“ das Recht von den sonstigen sozialen Normen ab? Masaji Chiba meint, jedes Recht müsse entweder offiziell, d. h. vom Staate gesetzt oder anerkannt, oder zwar inoffiziell sein, aber deut­ lichen Einfluss auf die tatsächliche Geltung des offiziellen Rechts haben.36 Damit macht er jedoch einerseits die Existenz von Recht mittelbar wieder vom Staat abhän­ gig und erhebt andererseits auch bloße Sittennormen, wenn sie die Auslegung staatli­ chen Rechts beeinflussen (vgl. etwa § 138 BGB), in den Rang von Rechtsnormen. S. F. Moore und J. Griffiths sehen stattdessen grundsätzlich alle Selbststeuerungsnor­ men eines ‚sozialen Feldes‘ als Recht an – allenfalls mit der Einschränkung, dass sie hinreichend ausdifferenziert und spezialisierten Funktionären zwecks Kontrolle des Sozialverhaltens überantwortet sein müssen.37 Damit lassen sie indessen das Spezifi­ kum des Rechts unterbelichtet; es geht in der Struktur sozialer Felder und in der dort vorhandenen Autonomie scheinbar auf – in Wahrheit jedoch unter.

3. Deduktive Bestimmungen des Rechtsbegriffs Deduktive Bestimmungen des Rechtsbegriffs nehmen ihren Ausgang meis­ tens bei Immanuel Kant.38 Dieser hielt eine bloß empirische Rechtslehre für J. L. Comaroff/S. Roberts (1981), p. 17 ff. von Benda-Beckmann (1991), S. 103, unter Hinweis auf C. Geertz (1983). 35  F. von Benda-Beckmann (1991), S. 105 f., 112. 36  M. Chiba (1986), p. 6; vgl. auch p. 386: „It is clearly evident, that further steps are necessary before the concept of inofficial law can be finalized“. 37  S. F. Moore (1973), p. 720, 722; J. Griffiths (1986), p. 38 f., 50. 38  I. Kant (1798), Einleitung in die Rechtslehre, § B. 33  Vgl. 34  F.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

so hohl wie den hölzernen Kopf in des Phädrus’ Fabel: „Ein Kopf, der schön sein mag, nur schade! dass er kein Gehirn hat.“ Stattdessen bestimmte er das Recht apriorisch (d. h. unabhängig von jeder Empirie) aus Merkmalen, die er dem menschlichen Bewusstsein entnahm – aus der Freiheit des Menschen, der Gleichheit mit seinen Mitmenschen und der Allgemeinheit der Regeln ihres sozialen Zusammenlebens: „Das Recht ist der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusam­ men vereinigt werden kann.“

Kant ließ unklar, warum uns das menschliche Bewusstsein einerseits ge­ rade zu diesen Begriffsmerkmalen verhilft. Und er ließ auch offen, warum der Rechtsbegriff andererseits gerade durch diese Merkmale vollständig be­ stimmt sein soll. Zum einen stupiert, dass das Recht ein „Inbegriff von Be­ dingungen“ sein soll, während doch das allgemeine Bewusstsein es eher als einen ‚Inbegriff von Normen‘ begreift. ‚Bedingungen‘ sind etwas nur theo­ retisch, nur gedanklich Vorhandenes; Recht aber muss in der sozialen Rea­ lität auch praktisch vorhanden sein – es muss dort wirken und, anders als Sitte und Moral, notfalls auch autoritativ durchgesetzt werden.39 Spätere Definitionen haben deshalb fast stets den sowohl normativen als auch zwin­ genden Charakter des Rechts betont oder zumindest gefordert, dass das Recht für das soziale Erleben „Determinationskraft“ besitzen müsse.40 Wichtiger noch ist, dass der Kantischen Definition jeder Hinweis auf den Zweck des Rechts fehlt und deshalb jeder beliebige Inhalt zum Inhalt einer Rechtsnorm werden kann.41 Spätere Definitionen haben deshalb zumeist den sittlichen oder zumindest den prosozialen Charakter des Rechts betont, der krass unsittliche bzw. asoziale Inhalte aus dem Rechtsbegriff aus­ schließt.42 Die Neukantianer schlossen sich dem Kantischen Apriorismus bei der Bestimmung des Rechtsbegriffs nicht an. Rudolf Stammler, der bekannteste unter ihnen, meinte vielmehr, dass man „stets die Möglichkeit seiner Anwen­ dung im Auge behalten“ müsse.43 Daher ging er von der Erfahrung eines geschichtlich gegebenen Rechts aus und versuchte, diese Erfahrung – ohne

39  G.

Rümelin (1881), S.  326 f. Zippelius (1989), §  4 m. w. Nachw. 41  G. W. F. Hegel (1802/03), S. 461. 42  Zu erwähnen ist hier vor allem die bekannte Formulierung G. Radbruchs (1973, S. 346), dass „man Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren kann denn als Ordnung und Satzung, die ihrem Sinn nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen“. Vgl. ferner G. Rümelin (1881), S.  327 ff. 43  R. Stammler (1928), § 24. 40  R.



E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 121

Rücksicht auf kulturelle Besonderheiten – zu analysieren und das Ergebnis in Definitionsmerkmalen zusammenzufassen.44 Ausgangspunkt seiner Analyse war der Unterschied zwischen kausaler und finaler Bestimmung von Vorgängen in der Zeit. Kausal werde etwas als Wirkung einer vor­ ausgegangenen Ursache erkannt, final dagegen etwas als Mittel für ein zukünftiges Ziel erwählt.45 Da Gegenstand des Rechts nicht die Erkenntnis eines Ursache-Wir­ kung-Zusammenhangs sei, gehörten seine Normen offenbar dem Bereich von Mittel und Zweck an. Und da die Auswahl von Mitteln für einen Zweck vom Wollen getrof­ fen werde, bedeute „der Gedanke des Rechts eine Art des Wollens“, jeder Rechtssatz ein gewolltes Mittel für „ein zu bewirkendes Ziel“.46 Vom Wollen als dem allgemei­ nen Oberbegriff des Rechts gelangte Stammler dann über die weiteren Begriffe des „verbindenden Wollens“, des „selbstherrlich verbindenden Wollens“ zum „unverletz­ lich selbstherrlich verbindenden Wollen“ und damit letztendlich zur Definition des Rechts.

Was Stammler mit seinen Definitionsmerkmalen im Einzelnen meinte, brauche ich hier nicht auszuführen. Denn zu bestreiten ist schon die Mög­ lichkeit, mittels einer Analyse des menschlichen Bewusstseins das Recht zu definieren. Das Recht ist kein Gegenstand allein des Bewusstseins, sondern darüber hinaus des Handelns und noch darüber hinaus der sozialen Interak­ tion und der Verfassung spezifischer sozialer Gebilde. Und es wird überdies nicht nur vom Willen, sondern auch von individuellen Bedürfnissen und so­ zialen Interessen sowie von kulturellen ‚patterns‘ gestützt oder begrenzt.47 Doch wenn weder Induktion noch Deduktion zum Rechtsbegriff führen – welche Methode hilft dann weiter? 4. Typologische Bestimmungen des Rechtsbegriffs Am besten geeignet zur Bestimmung eines einheitlichen Rechtsbegriffs erscheint mir jene Methode zu sein, die Ludwig Wittgenstein begründet hat und die man als ‚typologische Methode‘ bezeichnen kann. Wittgensteins Ausgangspunkt war die scheinbar so plausible These: Wenn wir Gegenstände unter einen gemeinsamen Begriff bringen, dann müssen sie etwas Gemeinsa­ mes haben. Wittgenstein hielt diese These für falsch. Warum sie falsch ist, verdeutlichte er durch Einführung des Terminus „Familienähnlichkeit von Begriffen“48. Anhand des Wortes ‚Spiel‘ wies er nach, dass es unmöglich ist, 44  R.

Stammler (1928), § 5. Stammler (1928), § 25. 46  R. Stammler (1928), § 30. 47  Im Einzelnen habe ich das an anderer Stelle begründet (E.-J. Lampe, 1988, S.  42 ff., 138 ff.). 48  L. Wittgenstein (1969), Nr. 67. 45  R.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

die Gemeinsamkeit aller Spiele – das, was ihr ‚Wesen‘ ausmacht – zu finden. Denn keine Eigenschaft, die als definiens in Betracht kommt, sei allen Spie­ len gemeinsam: weder dass Glück oder Geschicklichkeit eine Rolle spielen, noch dass sie unterhaltend sind, noch dass es Gewinner und Verlierer gibt. Vielmehr sprängen Ähnlichkeiten ins Auge, die einander übergreifen und kreuzen.49 Statt nach Gemeinsamkeiten und allgemeinen Wesenszügen zu suchen, müsse der Philosoph daher die Mannigfaltigkeit von Erscheinungen beachten und sich damit begnügen, dass ihre Ähnlichkeit uns Anlass ist, sie mit demselben Sprachzeichen zu belegen.50 Folgt man dieser Methode, dann kann man auch den Begriff ‚Recht‘ als sprachliche Bezeichnung für eine Mannigfaltigkeit von Erscheinungen neh­ men, die einander ähnlich (‚familienähnlich‘) sind, sodass man auf die ‚klas­ sische‘ Definition des Rechtsbegriffs durch Angabe der notwendigen und hinreichenden Merkmale verzichten kann. Allerdings – bliebe man hierbei stehen, liefe man Gefahr, dass der Rechtsbegriff ausufert, indem eine prinzi­ piell unendliche Anzahl von Ähnlichkeiten in ihn Aufnahme findet. Deshalb muss man innerhalb des Rechtsbegriffs zusätzlich noch abstufen und unter­ scheiden zwischen Eigenschaften, die dem Recht notwendig sind, weil sie ihm von jeher zukamen (‚prototypischen Eigenschaften‘), und Eigenschaften, die ihm nicht notwendig sind, aber ihm später hinzugefügt wurden und heute für eine hinreichende Bestimmung des Rechts gebraucht werden (‚realtypi­ schen Eigenschaften‘).51 Jene lassen sich teils anthropologisch aus der Natur des Menschen, teils soziologisch aus der sozialen Organisation seiner Le­ bensweise begründen, diese ethnologisch durch die Untersuchung jener Fülle von Kulturen, die der Mensch im Laufe seiner kulturellen Entwicklung nach­ einander oder nebeneinander herausgebildet hat. Zusammengehalten werden sie dann durch den philosophischen Telos des Rechts: die ‚Gerechtigkeit‘ bzw. das, was die Geltung des Rechts als Recht begründet.

49  L.

Wittgenstein (1969), Nr. 66. Auffassungen werden in der denkpsychologischen Forschung im Rah­ men des Prototypansatzes (W. Labov, 1973; E. H. Rosch, 1973, 1975) vertreten. Da­ nach gibt es zu vielen Begriffen zwar Gegenstände, die diese in prototypischer Weise repräsentieren, daneben aber auch eine ganze Reihe von Gegenständen, die vom Prototyp mehr oder weniger abweichen. Solche Gegenstände werden dem Begriff aufgrund einerseits perzeptueller, andererseits aber auch funktioneller Merkmale zu­ geordnet, wobei keineswegs alle Merkmale vorliegen müssen, um einen Gegenstand als positives Beispiel für einen Begriff erscheinen zu lassen. E. H. Rosch/C. B. Mervis (1975) haben darüber hinaus nachgewiesen, dass die Begriffszugehörigkeit in vielen Fällen mit dem Prinzip der Familienähnlichkeit korreliert, dass also die Anzahl über­ einstimmender Eigenschaften zwischen Begriffskandidaten und Begriffsmitgliedern über die begriffliche Zuordnung entscheidet (vgl. insbes. S. 603). 51  Siehe dazu auch H. Wennerberg (1967), p.  116 ff. 50  Ähnliche



E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 123

a) Anthropologische Bestimmung der Begriffskonstanten Ich beginne mit dem Aufweis derjenigen Eigenschaften, welche dem Recht von jeher zukamen, weil sie zwingend aus seiner Verbindung mit dem Men­ schen folgten. Da unbestritten von Sachen, Tieren, Wind und Wetter, kurzum von der Natur kein Recht herrührt – wo Naturgesetze walten, ist dem Recht der Zugang versperrt –, muss Urheber des Rechts eine Eigentümlichkeit des Menschen gewesen sein, die ihn über die Natur hinaus hob.52 Diese Eigen­ tümlichkeit war das – dem menschlichen Wollen nahestehende – Sollen. Dass die Psyche des Menschen im Laufe der Entwicklung eine Sollens­ struktur in sich aufnahm, kann als unbestritten gelten. Wie es dazu kam, liegt allerdings weitgehend im Dunkeln und lässt sich wahrscheinlich niemals vollständig aufklären. M. E. muss uns die Vermutung genügen, dass (a) der aus dem allgemein-genetischen Trieb sich fortschreitend herausdifferenzie­ rende individuale menschliche Wille und (b) der zur sozialen Neigung sich abschwächende Sozialinstinkt irgendwann einmal amalgamierten und (c) ein neues Ganzes mit neuen Gesetzmäßigkeiten herausbildeten – das System der sozialen Normen, das an die Stelle des natürlichen Systems instinktiver Ver­ haltenssteuerung trat und, sprachlich geformt, das Gemeinschaftsleben in Zucht nahm.53 Recht lässt sich auf dieser Grundlage definieren als System sozialer Verhaltensnormen, die einem verpflichtenden Gemeinwillen sprachlichen Ausdruck verleihen.54 Diese Definition führt uns allerdings noch nicht bis zum Recht. Die eigentlich rechtlichen Normen mussten auf der genannten Grundlage erst noch entstehen. Doch waren die Weichen bereits so weit gestellt, dass die Rechts­ normen sich auf der Sollensgrundlage ausdifferenzieren, also jene dimensio­ nale Formung in sich aufnehmen konnten, welche die menschliche Psyche insgesamt55 und damit auch das darin enthaltene Sollen charakterisiert: die Dimensionierung in ‚Lust – Unlust‘, ‚Erregung – Beruhigung‘, ‚Submis­ sion – Dominanz‘ und ‚Kontrolle – Kontingenz‘. Auf dieser Dimensionie­ rung beruhen insbesondere jene vier Rechtsdimensionen, die sich bis heute erhalten haben: ‚Recht vs. Unrecht‘, ‚Rechtstatbestand vs. Rechtsfolge‘, ‚Recht vs. Pflicht‘ sowie ‚Rechtskontrolle vs. Rechtsfreiheit‘. Doch hat auch die Mehrdeutigkeit des Rechtsbegriffs darin ihren Ursprung, die in den Attri­ buten ‚objektives‘ Recht (vs. Unrecht), ‚bestimmendes‘ (vs. ‚sanktionieren­ des‘) Recht, ‚subjektives‘ Recht (vs. Pflicht) und ‚Schutz‘- (vs. ‚Freiheits‘-) auch R. Schott (1985), S. 163. genauer dazu unten J 1 sowie E.-J. Lampe (1987), S.  70 ff. u. ö. 54  In diesem Sinne etwa T. O. Elias (1956), p. 55: „The law of a given community is the body of rules which are recognized as obligatory by its members.“ 55  Vgl. oben C 1 b. 52  So

53  Vgl.

124

Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Recht zum Ausdruck kommt. Und endlich folgt daraus, dass eine Rechtsnorm wie etwa die des heutigen deutschen § 212 StGB „Wer einen Menschen tötet, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft“ (genauer: „Wer ei­ nen Menschen getötet hat, soll mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft werden“) viererlei beinhaltet: (a) die Bewertung der Tötung als Un­ recht, (b) die genauen Voraussetzungen und Folgen dieses Unrechts, (c) den (staatlichen) Strafanspruch und die Strafschuld sowie, in Verbindung mit prozessualen Normen, (d) die Kontrolle der Rechtsverwirklichung. b) Soziologische Bestimmung der Begriffskonstanten Soziologisch waren die urtümlichen Sollensnormen (‚Urnormen‘) noch kein Recht. Sie bildeten lediglich die Grundlage, auf der das Recht entstand – wesentlich später als die Urnormen, wesentlich früher aber als die ersten rechtlichen Urkunden, die uns von Rechtsgesetzen Kunde geben, etwa als die leges Urnamma in Altmesopotamien (vor 2100 v. u. Z.) oder das XII-Tafelge­ setz vom Beginn der Römischen Republik (ca. 450 v. u. Z.). Geburtshelfer waren die Verletzer der Urnormen, die ‚Abweichler‘; denn sie lieferten jene Wirkkräfte, die das Recht aus dem sozialen Uterus hervortrieben. Gewöhn­ lich war ihre Wirkung zwar eng begrenzt; doch ganz gelegentlich ‚flippte‘ einer ‚aus‘ und tat etwas, was alle anderen niemals getan hätten: er verhielt sich ‚deviant‘, er ‚spielte verrückt‘ – und dann war die Gemeinschaft ge­ zwungen, Strategien zu entwickeln, wie sie mit ihm fertig wird.56 Das geschah bereits in den vorrechtlichen Gemeinschaften. Hauptsächlich wandte man familiäre Maßnahmen an, die vom Entzug der Aufmerksamkeit bis zur Aussto­ ßung gingen – was in nomadischen Gesellschaften oft gleichbedeutend mit Tod war.57 Solche Maßnahmen schieden indes aus, wenn ein Familienmitglied einer anderen Familie Schaden zufügte oder wenn mehrere Familien miteinander stritten. Zwei streitende Brüder konnten von ihrem Vater getrennt werden; zwei streitende Männer aus nicht verwandtschaftlich verbundenen Familien warfen Vermittlungsprobleme auf. Eine gemeinsame Autoritätsperson gab es nicht – die Familien standen einander im Rang gleich. Manchmal konnte ein Älterer den Streit schlichten, manchmal die gemeinsame Beratung zu einer Übereinkunft führen, manchmal auch ein öffentlicher Wettkampf (Boxen, Ringen, Speerwerfen, Streitgesang) die Entscheidung bringen. Klappte das nicht, dann blieb nur der Krieg – die egalitären Formen der Konfliktbei­ legung hatten ihre Kraft verloren, die kulturelle Evolution war in einer Sackgasse. Nur eine neue soziale Strategie konnte sie hieraus befreien; und deshalb galt der Entwicklung dieser Strategie die Hauptsorge in allen Sozietäten. 56  Der Wert des ‚Streits‘ für die Entwicklung der Gesellschaft wird heute meistens auch von denen anerkannt, welche die Gesellschaft als ‚geordnet‘ definieren. Ihnen kommt es auf das ‚rechte Verhältnis‘ zwischen beiden, Streit und Ordnung, an. Aller­ dings kann dieses Verhältnis unterschiedlich bewertet werden (vgl. dazu unten c). 57  J. Makarewicz (1906), S. 216; E. R. Service (1977), S. 86.



E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 125

Die Suche nach einer neuen Strategie zur Konfliktbeilegung brachte je nach ökologischem und sozialem Umfeld unterschiedliche Ergebnisse hervor und damit auch unterschiedliche Formen sozialer Kontrolle. Auf Dauer am wirkungsvollsten erwies sich jene Strategie, die sich später in hierarchisch aufgebauten Gemeinschaften vollends durchsetzte: die Streitentscheidung durch sowohl mächtige als auch unparteiische Dritte. Sie verlangte nach Autoritätspersonen, deren Autorität nicht genetisch, sondern kulturell be­ gründet war und deren Macht wirkungsvoll durch Zwangsbefugnisse gestützt wurde. In den egalitären Gemeinschaften gab es sie noch nicht. Dort war es mal der Sippenälteste, auf dessen Ansehen und Erfahrung man vertraute, mal ein angesehener ‚Vermittler‘ (Go-between) oder ‚Priester‘ – jedenfalls einer, der ein gutes Gespür für die allgemeine Meinung hatte und sie zu verlautba­ ren verstand, das kontrovers geführte Gespräch zwischen den Parteien zu einem Ergebnis lenken konnte oder in den gemeinsamen Zeremonien Be­ scheid wusste und deshalb berufen war, sich mit den Göttern oder Ahnen zu beraten. Fehlte es an einer solchen Autoritätsperson, dann mussten sich ent­ weder die Oberhäupter der streitbeteiligten Familien zusammenfinden und den Streitfall schlichten oder, falls das nicht gelang, ihn der Gemeinschaft unterbreiten, damit diese ein weiteres Schwelen unterband. Präjudizien für künftige Fälle wurden auf diese Art nicht geschaffen, erst recht keine Nor­ men, die künftig für alle galten. Erst die hierarchische Struktur der Gemein­ schaften veränderte die Situation: Auf ihrer Grundlage unterstanden sowohl die Mitglieder der Gemeinschaft als auch gewisse Sachbereiche der Herr­ schaft eines Anführers (‚Häuptlings‘). Und als es gelang, dessen Herrschaft zu institutionialisieren,58 war entwicklungsgeschichtlich der entscheidende Schritt nach vorn getan.59 Denn die Institutionalisierung war Ausdruck einer neuen Dimension des sozialen Zusammenlebens: der Zivilisation. Was aber bedeutet ‚Zivilisation‘? Kennzeichnend60 für sie war eine neue Form der politischen Organisation,61 welche den Mitgliedern der Gemein­ 58  ‚Institutionalisieren‘ bedeutet entindividualisieren und als gesellschaftliche Funktion auf Dauer stellen. Das Ausmaß der Institutionalisierung unterlag selbstver­ ständlich geschichtlicher Entwicklung, sowohl was die Festigkeit der Institutionen als auch was ihre Macht zur Durchdringung des sozialen Lebens anbelangt. Die Entwick­ lung ging, zumeist kontinuierlich und insgesamt irreversibel, von einem ‚Weniger‘ zu einem ‚Mehr‘. Zum Begriff der ‚Herrschaft‘ vgl. noch unten 2 d. 59  Ich folge insoweit E. R. Service (1977), zusammenfassend S. 374 ff. 60  Der Begriff ‚Zivilisation‘ ist vielseitig einsetzbar. Teilweise wird er in Gegen­ satz zu ‚Kultur‘ gestellt, doch eine solche Entgegensetzung ist hier nicht intendiert. ‚Kultur‘ stellt vielmehr eine Bereicherung der ‚Zivilisation‘ dar, indem sie ihr völki­ sche, ethnische oder nationale Züge verleiht. Vgl. dazu noch unten J 4 c. 61  An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass man zwischen ‚politischem Sys­ tem‘ und ‚Staat‘ zu unterscheiden hat. Ein ‚Staat‘ ist nicht nur eine politische, d. h. auf Dauer angelegte, funktional autonome und mit Herrschaftsbefugnissen ausgestat­

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

schaft Rollen zuwies, sie bestimmten Funktionen verband und gleichzeitig eine oder mehrere Zentralinstanzen schuf, die über die Erfüllung der Funkti­ onen wachten. Sie ermöglichte Gemeinschaften von nahezu beliebiger Größe und Komplexität und stellte deshalb eine neue Entwicklungsstufe im mensch­ lichen Zusammenleben dar. Dass sie es tat, verdankte sie insbesondere jener neuen Art des Sollens, die auf ihrer Grundlage erwuchs: dem rechtlichen Sollen. Das Recht war somit, soziologisch gesehen, ein Produkt der Zivilisa­ tion. Einmal in Gang gesetzt, war der Zivilisationsprozess umfassend. Er ergriff nicht nur die Einzelsubjekte, die zu Personen mit abstrakt gleichen Rechten und Pflichten wurden und deren individuale Macht sich zur entindividuali­ sierten Rechtsmacht wandelte. Er ergriff auch die Gemeinschaft insgesamt, die zur Gesellschaft, zur juristischen Einheit von Rechtsgenossen wurde und deren hierarchischer Bau die politische Herrschaft und schließlich den Staat als deren vorerst bestorganisiertes Produkt hervorbrachte. Individuen und Gemeinschaft waren darin umfassend verortet; sie hatten sich aus ihren ‚na­ iven‘ Verbindungen und Verbänden gelöst und diese in ‚kulturell‘ geformte Beziehungen und Gebilde verwandelt. Und die Organisation dieser Bezie­ hungen und Gebilde – auch die ihres Streits! – war Aufgabe von allgemein­ gültigen (zunächst allerdings: nicht notwendig abstrakten) Rechtsnormen geworden. Damit haben wir die weiteren Merkmale gefunden, die uns für die Rechts­ definition dienen sollen. ‚Recht‘ ist danach eine Summe von sozialen Normen; es bewertet soziale Prozesse und Zustände, knüpft an sie positive oder negative Folgen, begründet Ansprüche und Verpflichtungen und wirkt so als Kontrollinstanz über das soziale Leben; es beruht entweder auf einem sozialen oder politischen Willen (Gemeinschaftswillen oder Willen kompetenter ‚Personen‘, d.s. Individuen oder ‚Organe‘ einer ‚Gesellschaft‘ oder eines ‚Staates‘) oder auf spontanen psychosozialen Prozessen; es wird sprachlich verlautbart und ist im Streitfall unter Einschaltung kompetenter Instanzen nach allgemeinen Verfahrensregeln durchsetzbar.62 tete, Organisation von Menschen innerhalb eines umgrenzten Gebietes, sondern darü­ ber hinaus auch die Heimat einer umfangreichen Bürokratie, die sich insbesondere durch die schriftliche Dokumentation wesentlicher Verwaltungsvorgänge hervortut (vgl. unten 5). Dagegen ist für ein ‚politisches System‘ eine solche Bürokratie nicht erforderlich; ihr genügt das Vorhandensein von – nicht verwandtschaftlich organisier­ ter – Herrschaft. Gesellschaft und Kirche beeinflussen dieses System, sind aber nicht deren Teil. Vielmehr ist es gerade das Kennzeichen eines politischen Systems, dass zwischen seiner Organisation auf der einen Seite, Gesellschaft und Kirche auf der anderen Seite klare Grenzlinien vorhanden sind. 62  Die meisten soziologischen Definitionen des Rechts stimmen mit der hier ge­ gebenen überein, stellen aber ausschließlich auf den Staat und seine Organe, Apparate



E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 127

Diese Definition gilt für die gesamte Rechtsentwicklung – der Rechtsbe­ griff bleibt m. a. W. im Frührecht, Kernrecht und Spätrecht genidentisch, in­ dem er u. a. die Gattung der Rechtsnormen aus der Klasse der Sollensnormen eindeutig abgrenzt. Weitere Begriffsmerkmale schaffen zwar noch Differen­ zierungen, z. B. zwischen staatlichem und privatem, ‚westlichem‘ und ‚östli­ chem‘, analytisch-wissenschaftlichem und holistisch-globalisierendem Recht. Aber diese Differenzierungen beeinflussen nicht mehr den gattungstypischen Charakter des Rechts ‚als solchen‘. Sie schaffen m. a. W. kein neues Recht, sondern nur noch diachron oder synchron zueinanderstehende Rechts‚fami­ lien‘.63 c) Kulturelle Bestimmung der Begriffsvariablen Die vorstehend entwickelte Rechtsdefinition enthält nur die notwendigen, nicht auch die hinreichenden Bestimmungsgründe des Rechts – obwohl die empirischen Rechtsordnungen erst in ihnen ihre sie kennzeichnende Gestalt gewinnen.64 Denn sie vernachlässigt alle soziokulturellen Besonderheiten des Rechts. Diese betreffen zum einen die tragenden Rechtsprinzipien, die in unterschiedlichen Kulturen unterschiedliche Bedeutungen annehmen und damit dem Recht seinen unterschiedlichen Charakter verleihen – man denke etwa an das Gewaltverbot, den Treuegedanken (‚pacta sunt servanda‘), das Prinzip der Verantwortlichkeit, das Konzept des Eigentums und die Fairness im Wettbewerb. Sie betreffen zum anderen die Institutionen für Rechtsset­ zung, Rechtserkenntnis und Rechtsdurchsetzung: Die Form der Verlautba­ rung von Normen etwa ist in den einen Rechtsordnungen so wichtig, dass von ihrer Einhaltung ihre Gültigkeit abhängt; andere Rechtsordnungen dage­ gen vernachlässigen sie. Die Auslegung von Normen wird in den einen Rechtsordnungen den Gerichten anvertraut,65 in den anderen wird sie Herr­ schern, Priestern oder Weisen vorbehalten. Die Durchsetzung von Rechtsnor­ und Stäbe ab. Sie sind daher Variationen eines ‚etatistischen‘ Rechtsbegriffs, oft zu­ sätzlich hingeordnet auf den modernen Territorialstaat. Ihnen entgegen steht die Defi­ nition E. Ehrlichs (1913/1963), der für das ‚Recht‘ auf die Anerkennung von sozialen Normen seitens ihrer Adressaten abstellte und danach unterschied, ob der Bruch einer Norm „Empörung“ oder aber „Entrüstung“, „Ärgernis“, „Missbilligung“, „Lächer­ lichkeit“ oder „kritische Ablehnung“ auslöst. Nur im erstgenannten Fall handle es sich um eine Rechtsnorm, in allen anderen Fällen dagegen um eine Norm der Moral oder der Konvention (S. 132). 63  Zum Begriff ‚Rechtsfamilie‘ vgl. R. David/G. Grasmann (1966), S.  16 ff. 64  Dies ist heute allgemein anerkannt – vgl. etwa H. Coing (1993), S.  131 ff.; M. Chiba (1986), p.  1 ff. 65  Vgl. W. Seagle (1941), p. 34: „The text of law in the strict sense [!] is the same for both primitive and civilized communities: namely the existence of courts.“

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

men obliegt in einem Volke der staatlichen Gewalt,66 im anderen muss ent­ weder der Verletzte selbst oder seine Sippe die Initiative ergreifen,67 im in­ ternationalen Bereich bedarf sie der Initiative der ganzen Nation, usf. Noch einmal: Diese Besonderheiten sind nicht notwendige, sondern zusätzliche Merkmale, die dennoch ein Recht erst wahrhaft zum Recht eines Volkes (ei­ nes Volksteils, einer Völkergemeinschaft) machen, weil hauptsächlich sie das Rechtsbewusstsein der Rechtsadressaten prägen. Auch entsteht und entwi­ ckelt sich erst durch sie das ‚lebendige Recht‘, das der Kultur eines Volkes (eines Volksteils, einer Völkergemeinschaft) zugehört und nicht nur der menschlichen Zivilisation. Kulturbedingt war daher stets auch die Wertschätzung, die dem Recht im öffentli­ chen Leben entgegengebracht wurde. Den Chinesen war das Recht ein Anzeichen von Barbarei; denn im edlen Menschen waltet nach ihrer Meinung ein natürliches Gesetz, das zum Frieden und, wenn es Streit gab, zur Versöhnung verpflichtet. Den Deut­ schen, die den Menschen als frei und nur durch das Recht begrenzt ansahen (vgl. Art. 2 I GG), war dagegen der „Kampf ums Recht“ nötig, um sozialen Frieden zu gewinnen.68 Den Japanern erschien die Gleichheit des Menschen vor den Rechtsge­ setzen als eine Dekapitation ihrer Persönlichkeit, weshalb man das Recht möglichst nur für so depersonalisierte Angelegenheiten wie Handel und Industrie einsetzen solle. Die Deutschen und mit ihnen viele andere Europäer haben dagegen heute kaum Bedenken, das Recht auch zur Regelung von Bereichen einzusetzen, die früher wegen ihrer Intimität dem Recht strikt entzogen waren (z. B. im familiären Bereich). Den afrikanischen Völkern waren gute Beziehungen zu ihren Göttern und Geistern wich­ tiger als die Ausbildung von Rechtspositionen. Den europäischen Völkern dagegen ist die Rechtsstaatlichkeit wichtiger als die Beziehungen zu den transzendenten Mächten, die sie vielmehr der Konkurrenz von Glaubens- und Religionsgemeinschaften über­ lassen.

d) Philosophische Bestimmung des ‚Rechtlichen im Recht‘ So unterschiedlich die kulturellen Besonderheiten des Rechts indes auch sind – sie dienen allesamt einem einheitlichen Ziel: der Herstellung von Gerechtigkeit. Die hier entwickelte Definition des Rechts, die dieses Ziel nicht erwähnt, ist deshalb auch insofern unvollständig. Sie ist es bewusst, denn bei E. A. Hoebel (1954), p. 277. Eigeninitiative zur Rechtsdurchsetzung unterscheidet sich von der ‚Rache‘, weil sie nicht im Zorn der Verletzten oder seiner Angehörigen, sondern in den aner­ kannten Normen der Gesellschaft ihr Maß findet. Vgl. E. A. Hoebel (1954), p.  276 f.; R. Schott (1970), S. 129. 68  R. von Jhering (1874), S. 1 (Motto: „Im Kampfe sollst Du Dein Recht finden.“) und S. 2: „Alles Recht in der Welt ist erstritten worden, jeder Rechtssatz, der da gilt, hat erst denen, die sich ihm widersetzen, abgerungen werden müssen … Darum führt die Gerechtigkeit, die in der einen Hand die Waagschale hält, mit der sie das Recht abwägt, in der anderen das Schwert, mit dem sie es behauptet.“ 66  Vgl. 67  Die



E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 129

der Gerechtigkeit handelt es sich um ein offenes Ziel, das keine klaren Vor­ gaben für die völkischen Rechte enthält, sondern jedem Volk lediglich die­ selbe Aufgabe stellt, um deren Erfüllung es sich sowohl allein als auch ge­ meinsam mit anderen Völkern bemühen muss. Zunächst hatten die Völker die Gerechtigkeit entweder aus der Natur oder aus Gott als ihrem Schöpfer abgeleitet. Das bot sich ihnen an, weil sie sich (zumindest unterschwellig) bewusst blieben, dass soziale Normen die Auf­ gabe haben, unwirksam gewordene Naturgesetze zu ergänzen oder zu erset­ zen – und das schien ihnen am besten möglich, wenn sie deren Vorgaben in sich aufnehmen und deren Charakter lediglich ausdifferenzieren. Daneben war den Völkern aber auch das voluntaristische Element ihrer Rechtssetzung bewusst, selbst wenn sie es als ‚Willen Gottes‘ oder als Willen ihres gottbe­ gnadeten Herrschers ausgaben. Erst später stellten sie dem volutaristischen Element ein rationales zur Seite: die Sachgerechtigkeit. Und erst seither galten Normen vor allem dann als ‚richtiges Recht‘, wenn sie sich ‚in der Sache‘ bewährten und sich das ‚richtige Verhalten‘ im Alltag aus ihnen ab­ leiten ließ.69 Für Krisenzeiten Normen zu entwickeln, erschien dagegen ris­ kant; denn Krisen waren unberechenbar, weshalb das für sie Richtige ad hoc gefunden werden musste – noch heute besteht Krisenmanagement ja vor al­ lem darin, dass man den ‚Ausnahmezustand‘ ausruft, d. h. die für Normalzu­ stände geltenden Normen außer Kraft setzt und stattdessen ad-hoc-Anord­ nungen erlässt. Die Sachgerechtigkeit für Normalzustände dagegen konnte man ermitteln, sofern man gewisse Leitprinzipien als Prämissen akzeptierte: beispielsweise die soziale Gerechtigkeit für das Zusammenleben in der Ge­ meinschaft, die distributive Gerechtigkeit (suum cuique tribuere) für die Aufgabenverteilung innerhalb der Gemeinschaft, die providentielle Gerech­ tigkeit (bzw. iustitia gubernativa) für die Vorsorge auf die Zukunft, die reziproke Gerechtigkeit für den Austausch von Leistungen, aber auch für die Vergeltung von sozialem Fehlverhalten („tit for tat“70), und die symmetrische Gerechtigkeit für die Machtverteilung sowie für die Struktur von Streitver­ fahren zwischen den Parteien.71 69  Der Übergang wird historisch sichtbar, wenn die alttestamentlichen Propheten angesichts der Deportation der Juden ins babylonische Exil nach der Gerechtigkeit Jahwes fragten und diese mangels sachlich erkennbarer Gründe nur dadurch glaubten retten zu können, indem sie eine ‚Schuld‘ Israels postulierten; oder wenn die Vor­ sokratiker das kosmische Recht noch als eine gottgegebene Ordnung begriffen, die von den Priestern zu weissagen war, man später aber das ius gentium aus den Beson­ derheiten herleitete, denen die Völker in weit auseinanderliegenden Ländern Rech­ nung tragen mussten und deren Ordnung zu erklären nunmehr die Aufgabe einer iusti atque iniusti scientia sei. 70  Siehe dazu etwa Axelrod (1987). 71  Siehe unten J 5 b δ ββ.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

5. Protostaatliches, staatliches und poststaatliches (‚gubernatives‘) Recht (α) Die Entstehung von Protostaaten. Gehen wir nochmals zurück zu den Anfängen. Vorgänger unseres (‚klassischen‘) Rechts war etwas, das ich als Frührecht bezeichne, weil es einerseits schon alle prototypischen Merkmale des Rechts besaß, also ‚echtes‘ Recht war, ihm andererseits aber eine Eigen­ schaft fehlte, die für unser heutiges Recht typisch ist: die Monopolisierung seiner normativen Setzung und zwangsweisen Durchsetzung seitens einer staatlich organisierten Macht. Frührecht existierte m. a. W. solange, bis aus hierarchisch organisierten prästaatlichen Einheiten (Häutlingsschaften und Königreichen) erste Staaten (‚Protostaaten‘) wurden.72 Wodurch geschah das? Wir können für die Entstehung weder ein festes Datum noch ein bestimm­ tes Ereignis benennen, etwa den eines gemeinsamen Vertragsschlusses zwi­ schen den Angehörigen eines Volkes. Die zur Zeit der Aufklärung vertretenen sogen. ‚Vertragstheorien‘ zur Staatsentstehung sind überholt. Ihre Vertreter haben zwar für den Abschluss eines staatsbildenden Vertrages niemals ein historisches Datum reklamiert, doch gingen sie immerhin von einem plötzli­ chen Bruch zwischen dem (angeblich) anarchischen Naturzustand, in dem sich die Menschen zuvor befanden, und dem Staatszustand aus, in den sie sich anschließend hineinbegaben. Einen solchen Bruch aber gab es nicht. Denn wenn auch, wie die Theorien richtig annahmen, dem staatlichen ein inferiorer Zustand vorherging, hat nicht ein gewillkürter Akt, sondern eine kontinuierliche soziopolitische Entwicklung die Menschen zur Abkehr von diesem Zustand und zur Schaffung von Staaten geführt.73 Was die Gründe anbelangt, gibt es eine Reihe von Theorien, von denen ich drei nenne: •• Die Eroberungstheorie ist interessant, weil sie auf die erste Voraussetzung für die Staatsentstehung hinweist.74 In ihrer modernen Form (Robert L. Carneiro) sieht sie als Vorläufer der Staaten hierarchisch strukturierte ‚Häuptlingsschaften‘ (chiefdoms) an. Diese seien den nicht hierarchisch 72  Übereinstimmend etwa M. H. Fried (1967), p. 14 ff. (hinsichtlich prästaatlicher Häuptlingsschaften vgl. p. 144 ff.); U. Wesel (2001), S. 65 f.: „In vorstaatlichen Ge­ sellschaften hat es [das Recht] nur Ordnungs- und Gerechtigkeitsfunktion. Mit der Entstehung des Staates erhält es auch Herrschaftsfunktion.“ 73  Vgl. A. Augustinus, De civitate Dei IV 4: Selbst Räuberbanden seien kleine Reiche: „eine Schar von Menschen, geleitet vom Willen eines Führers, die durch ei­ nen Gesellschaftsvertrag zusammengehalten werden.“ Wachse eine solche Schar „der­ art an, dass sie Gebiete besetzt, Niederlassungen gründet, Staaten erobert und Völker unterwirft, dann legt sie sich ganz unverhüllt den Namen ‚Reich‘ bei.“ 74  Wichtige Vertreter: I. Khaldun (14. Jh.), J. Bodin (16. Jh.), R. L. Carneiro (1981).



E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 131

strukturierten ‚Stämmen‘ militärisch überlegen gewesen und hätten sie entweder erobert oder in eine hierarchische Struktur hineingezwungen. – Die Theorie überzeugt insofern, als sie politische Hierarchisierung und Machtkämpfe als Voraussetzungen für die Entstehung von Staaten an­ nimmt. Sie enthält jedoch keine Begründung weshalb Staaten aus den ­hierarchisch strukturierten Häuptlingsschaften hervorgingen. •• Eine Teilbegründung dafür liefert eine zweite Theorie: die Integrationstheorie.75 Sie ist interessant, weil sie in den Staaten nicht nur Ergebnisse eines Kampfes um die Vorherrschaft sieht, sondern auch politische Inte­ grationsgebilde, die ihre hierarchische Struktur mit der Monopolisierung des physischen Zwanges in einem Machtzentrum verbanden und sie da­ durch gegen interne Störungen absicherten.76 Diese Autoritätsstruktur habe auf der Regierungsebene die Zweiteilung der Bevölkerung in eine regie­ rende und eine regierte Klasse, auf der Verwaltungsebene den Ausbau ei­ ner zentral geleiteten Bürokratie und auf der Rechtsebene die Schaffung einheitlich geltender Gesetze und einheitlich urteilender Gerichtshöfe er­ laubt; ferner habe sie durch die einheitliche Ausbildung von Verwaltungs­ beamten und Richtern ermöglicht, dass alle Verwaltungsakte und Rechts­ sprüche als Ausdruck einer einheitlichen Staatsgewalt durchgesetzt werden können. Die Legitimation für ihre Autoritätsstruktur hätten sich die Staaten durch zwei „Gratifikationen“ verschafft: zum einen durch den Schutz der Bevölkerung gegen Feinde und Unruhestifter (rivalisierende Nachbarn ähnlicher Kulturstufe, kriegerische Nomaden, professionelle Beutejäger, Diebe); zum anderen durch die glaubhafte Zusicherung, dass nur ihre Struktur es langzeitig den Bürgern erlaube, über genügend gutes Land als Nahrungs- und Nutzungsgrundlage zu verfügen. – Die Theorie benennt damit weitere Eigenschaften, die Voraussetzungen für das Entstehen staat­ licher Zuständ waren.77 Noch immer greift sie aber zu kurz, weil zum ei­ nen auch Häuptlingsschaften und Königreiche ähnliche „Gratifikationen“ für ihre Mitglieder bereithalten konnten und weil zum anderen große Häuptlingsschaften und Königreiche auch gewisse Verwaltungsstrukturen sowie ein Rechtswesen aufwiesen, das u. a. eine mehrstufige Gerichtsbar­ keit einschloss. Der Unterschied zwischen Häuptlingsschaften bzw. Kö­ nigreichen auf der einen und Staaten auf der anderen Seite besteht auf­ grund dieser Theorie daher in der Monopolisierung von hoheitlicher Macht

u. a. E. R. Service (1977), S. 122 f., 367 ff. diesem Sinne die Definition von M. Weber (1992), S. 158 f.: „Staat ist dieje­ nige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes das Monopol legitimer physischer Gewalt für sich (mit Erfolg) beansprucht.“ 77  Teilweise andere Eigenschaften benennen A. W. Johnson/T. Earle (2000), p. 267. 75  Vertreter 76  In

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

als Voraussetzung innerer Souveränität. Dies aber reicht für die Begrün­ dung staatlicher Souveränität noch nicht aus. •• Deshalb benennt erst die Bürokratietheorie78 das fehlende Mehr: indem sie einerseits an die Integrationstheorie anknüpft, andererseits das organi­ satorische Element bürokratischer Macht nunmehr in den Mittelpunkt stellt. Ihre Vertreter argumentieren, dass zwar schon die Königreiche eine zentral gelenkte Bürokratie sowie eine einheitliche Rechtsordnung zur Stützung des Gewaltmonopols besessen hätten. Doch habe sich die Zu­ sammensetzung der Bürokratie in den Königreichen auf die Königsklientel beschränkt und die Einheit der staatlichen Ordnung infolge der Mündlich­ keit allen Rechts nur in relativ engen Grenzen gewährleistet.79 Erst der staatlichen Bürokratie sei es gelungen, diese Beschränkungen abzuschüt­ teln: Ihre Beamten hätten nach größerer Macht, höherem Prestige, stärke­ rer Sicherheit und gesteigertem Einkommen gestrebt, weshalb es erstens zur Vermehrung ihrer Aufgaben und zur Verstärkung ihrer organisatorischen Autonomie gekommen sei. Weil ferner aufgrund der Einführung der Schrift innerhalb der Verwaltung identische Normtexte den Ton angaben, sei zweitens die Einheit der Rechtsordnung gestärkt worden. Und weil nur eine kleine gebildete Schicht schreiben konnte und deshalb Geschriebenes einen Mehrwert gegenüber dem gesprochenen Wort besaß, sei drittens die Autorität der staatlichen Verwaltung und des Rechts gewachsen. Auf die­ ser Grundlage seien die Beamten in die Lage gekommen, sowohl selber kulturelles Schöpfertum zu entfalten80 als auch andere zu solchem Schöp­ fertum anzuregen.81 M. Weber (1922/2005), S. 671 ff. Bewahrung und Verbreitung der nur mündlich überlieferten sozialen Nor­ men der Rückversicherung durch immer gleiche (‚rituelle‘) Redens- und Verhaltens­ weisen bedurften, betont W. J. Ong (1987), S. 68 ff. 80  Das Inka-Reich, das keine Schrift kannte, war gleichwohl nach heutiger Kennt­ nis ein bis ins Letzte durchorganisiertes Gemeinwesen mit einer so vollständigen Kontrolle über die Bürger, dass deren Arbeitskraft total absorbiert und für staatliche Aufgaben eingesetzt werden konnte. Dies führte jedoch zu einer Schwächung der kreativen Fähigkeiten des Einzelnen: Dieselben Dinge, die vordem die Mayas produ­ ziert hatten, wurden während der Herrschaft der Inka zwar mit immer größerem tech­ nischem Geschick und in immer größerem Stil weiter produziert, aber mit einer fortschreitenden Verminderung ihres künstlerischen Wertes und ihrer Originalität. Darüber hinaus kam es auch zu einer Schwächung der intellektuellen Aktivitäten: Die Inkas brachten weder in den Bereichen der Astronomie und Mathematik noch in der Literatur Bemerkenswertes hervor. Ganz anders die Mayas: Sie hatten zwar bis zur Zeit der spanischen Eroberung kaum technisches Geschick entwickelt, ihre Bauten waren primitiv in der Konstruktion; doch sie besaßen künstlerische Fantasie, ihre Bauten waren reich mit Ornamenten geschmückt. Ferner war ihre politische Organi­ sation zwar auf der Basis von Stammeskulturen stehen geblieben, sodass sie ihre zi­ vilisatorischen Kräfte in endlosen internen Kämpfen vergeudeten; doch sie erzielten 78  Hauptvertreter

79  Dass



E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 133

Dieses Ergebnis ist m. E. überzeugend. Es lässt für die Protostaaten des Altertums folgende Definition zu: Sie waren hierarchische, von einem städtischen Zentrum aus geleitete politische Systeme, die in ihren Bauten und Ämtern sowohl die höchste politische Macht (Herrschaft) als auch das höchste Recht zu deren Ausübung vereinigten. Eine schriftkundige Bürokratie erhob in ihnen die Steuern und vergab gemeinnützige Arbeiten, sicherte ferner die innere Ordnung sowie die Nahrungs- und sonstigen vitalen Bedürfnisse der Bevölkerung (insbesondere durch Förderung der Landwirtschaft). Sie verfügten weiterhin über ein Heer zur Bekämpfung der äußeren Feinde sowie eine Priesterschaft, die durch regelmäßige rituelle Handlungen und Opfer das Wohlwollen höherer Mächte erflehte sowie Kunst und Wissenschaft förderte. (β) Protostaatliches Recht. Noch eine Eigenschaft der antiken Staaten ist wichtig, an die die spätere Entwicklung der Staaten anknüpfen wird: Sie waren i. d. R. imperialistisch und personalistisch organisiert, d. h. in ihrem Zentrum stand eine Persönlichkeit (ein ‚Imperator‘), die über ein Territorium (das ‚Staatsgebiet‘) und dessen Bewohner (das ‚Staatsvolk‘) herrschte, somit die Einheit der Teile,82 den ‚Protostaat‘ (abgeleitet von πρῶτος = erster), konstituierte und ihre Legitimation dazu entweder von den Göttern oder aus ‚unvordenklicher‘ Tradition ableitete.83 große Fortschritte in der Astronomie und in der Mathematik und entwickelten u. a. einen Kalender, dessen Genauigkeit sogar den Gregorianischen übertraf. 81  Angeregt und gefördert wurden seitens der staatlichen Verwaltung Tempelbau­ ten im Bereich der Religion, Steinmetzarbeiten im Bereich der Kunst, die Entwick­ lung der Metallverarbeitung im Bereich der Technik, der Aufbau eines Vermessungs­ wesens im Bereich der Wissenschaft u. a. m. 82  Ich lege die von G. Jellinek (1914/1960, S. 394 ff.) ausgearbeitete Drei-Ele­ mente-Lehre zugrunde, deren sich u. a. auch die völkerrechtliche Definition in der Konvention von Montevideo über die Rechte und Pflichten der Staaten von 1933 (LNTS no. 165) bedient hat: „The State as a person of international law possesses the following qualifications: a) a permanent population; b) a defined territory; c) a government and d) capacity to enter into relations with other States.“ Zur Kritik der Lehre, dass sie zu vage sei, u. a. die Abhängigkeit der Staatsgewalt von den Bürgern und andere Legitimationsprobleme nicht hinreichend zum Ausdruck bringe, siehe D. Kettler (1995). Zur Staatsherrschaft (government) vgl. auch noch unten K 7 c. 83  Das galt schon für die Häuptlingsschaften: „Chiefdoms sind nur lose integrierte Gebilde, deren politische Strukturen fast ausschließlich auf persönlichen Beziehungen beruhen. … [Sie sind daher] jederzeit von Desintegration und Zusammenbruch be­ droht. Um solchen Tendenzen entgegenzuwirken, greifen die Paramount Chiefs zeit­ weise zu besonderen Methoden der Machtdemonstration: In Buganda z. B. konnte der ‚Kabaka‘ ohne besonderen Anlass anordnen, dass 200 oder auch 500 Menschen ge­ fangen und öffentlich hingerichtet wurden. Solche Massenabschlachtungen hatten einzig und allein den Sinn, aller Welt zu zeigen, dass ‚der Kabaka lebt‘ und dass da­ her Ordnung im Lande herrscht“ (H. Wimmer, 2001, S. 105). Brach dennoch die Ord­ nung einmal zusammen, dann trat ein Zustand völliger Rechtlosigkeit an die Stelle:

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Für das Altertum erscheint mir die Verwendung des personalistischen Staatsbe­ griffs als angemessen, obwohl damals durchaus unterschiedliche Formen der Herr­ schaft entstanden.84 Entscheidender Unterschied zu den Staaten der Neuzeit war dagegen die Legitimation der Macht:85 Sie wurzelte seinerzeit in der mythisch-me­ taphysischen Auserwähltheit einer Person und einem gewissen Grad der Anerkennung seitens des Volkes, während sie heute diese metaphysische Wurzel i. d. R. eingebüßt hat und deshalb (‚selbstreferentiell‘) das Volk (bzw. die Nation) an ihre Stelle treten konnte.86

Mit der Entstehung der ersten Staaten ging eine Differenzierung des Rechts in ein protostaatliches (‚öffentliches‘) und in ein nichtstaatliches (‚privates‘) Recht einher. Diese Differenzierung blieb unverändert auch erhalten, als eine weitere hinzutrat: diejenige zwischen Stadtstaaten und Flächenstaaten (die in Deutschland gern als ‚Reiche‘ bezeichnet werden). Die Stadtstaaten bestan­ den aus einer Stadt nebst so viel an Umland, wie zur Versorgung der Ein­ wohner mit Naturalien erforderlich war. In den Flächenstaaten war dagegen das Verhältnis zwischen Stadt und Umland umgekehrt: Das Umland bedurfte so viel an Stadt, wie zur Beherbergung einer Macht- und Verwaltungszen­ trale erforderlich war. Gab es in einem Land mehrere Städte, dann wurde Verbrechen wurden verübt, ohne dass jemand die Täter hinderte, geschweige denn sie aufgrund ihrer Taten verurteilte. 84  Personaler ‚Herrscher‘ konnte in besonders gut organisierten Staaten beispiels­ weise auch das Volk selber sein. Ganz überwiegend waren es dann die Städte, worin statt eines Monarchen eine beschränkte Anzahl von Bürgern, meist Angehörige einer bestimmten Klasse oder Kaste, die Herrschaft ausübten und diese auch auf das Um­ land, im Falle von Athen und Rom (vgl. dazu unten G 3) sogar noch weit darüber hinaus, erstreckten. Als Beispiele aus der Neuzeit können sowohl die oberitalieni­ schen Städte (z. B. Venedig) als auch die nordalpinen Städte (z. B. die Hansestädte) genannt werden. 85  Der Machtbegriff kann (ebenso wie der Staatsbegriff) unterschiedlich definiert werden. Ganz allgemein hielt Th. Hobbes das Streben nach Macht für einen allgemei­ nen Trieb der Menschen (Leviathan, ch. 11, p. 64: „In the first place, I put for a gen­ eral inclination of all mankind, a perpetual and restless desire of power after power, that ceaseth only in death.“). Ebenfalls gefolgt sind dieser Auffassung F. Nietzsche („Grundtrieb nach Macht“; „man nennt diesen Trieb ‚Freiheit‘ “) und A. Adler. Die heutige Politikwissenschaft hat sich dagegen überwiegend zu einem reifizierten Machtbegriff bekannt und ihn zum Hauptinhalt der staatlichen Souveränität gemacht. H. J. Morgenthau (1963), S. 69 ff. u. a. haben Macht geradezu als Mittel der Politik definiert, um Wünsche und Interessen durchzusetzen (69: „Wo immer die letzten Ziele der internationalen Politik liegen mögen, das unmittelbare Ziel ist stets die Macht.“). Stärker zum Recht hin offen ist eine sozial-relationale Auffassung, wonach Macht derjenige Einfluss auf andere ist, der die Menschen zu einem Verhalten veran­ lasst, das sie sonst nicht ausüben würden. Die Staatsmacht besteht danach in der Fä­ higkeit, berechtigt verhängte Sanktionen mittels physischer Gewalt durchzusetzen. Allerdings wird die Machtanwendung nach außen von dieser Auffassung nicht um­ fasst, obwohl sie ebenfalls den modernen Staat charakterisiert. 86  Vgl. Art 20 Abs. 2 GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“



E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 135

diejenige zur Hauptstadt, die der Herrscher sich als Zentrum seiner Regie­ rungstätigkeit erwählte. Meistens war das die größte Stadt, schon weil sie gleichzeitig das Zentrum der Staatsverwaltung war, doch notwendig war das nicht. Das Recht der Stadtstaaten hatte meistens eine größere Zahl an Nor­ men als das der Flächenstaaten, und das Stadtrecht trat außerdem meistens in sich geschlossener auf, sodass es bereits im Altertum den Keim zur Kodifi­ zierung in sich trug. Das Recht der Flächenstaaten dagegen musste auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Stadt- und Landbewohner Rücksicht neh­ men und konnte sich überdies auf dem Lande nur durchsetzen, wenn es sich dort mit den meist noch lebendigen Sittennormen verband. Innerhalb der Frühantike traten diese Unterschiede insbesondere im Verhältnis zwischen dem griechischen und dem indischen Recht zutage. (γ) Staatliches Recht. Akzeptiert man die Bezeichnung der antiken Staaten als Protostaaten, dann sind eigentliche ‚Staaten‘ erst in der europäischen Neuzeit entstanden. Denn im gesamten europäischen Mittelalter blieb es bei der aus der Antike überkommenen Staatsform.87 Erst als nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges (1648) in Münster und Osnabrück der Westfälische Frieden geschlossen wurde, schrieb man den neuen Nationalstaat fest: Man entpersonalisierte die ‚Herrschaft‘ über den Staat88 und institutionalisierte, dass ‚staatlich‘ nunmehr das Attribut eines Territoriums (des ‚Staatsgebiets‘) sei, worin eine durch Gesetze kontrollierte ‚Bürokratie‘ unter der Leitung einer ‚Regierung‘ die Zwangsgewalt (die ‚Staatsgewalt‘) über die Bewohner (das ‚Staatsvolk‘) ausübt. Darin lag eine so grundlegende Veränderung der Staatsform, dass sie m. E. mit der Ausbildung einer neuen biologischen Art verglichen werden kann. Nur liegt der Unterschied darin, dass die alte perso­ nalistische Staatsform nicht unterging (wie es bei einer biologischen Art na­ türlich gewesen wäre), sondern nebenher fortbestand und wir es von nun an mit zwei eigenständigen Staatsformen zu tun haben: einer personalistischen und einer institutionalistischen. Zahlreiche afrikanische Staaten (‚Despotien‘)

87  Generell ist die Bezeichnung ‚Protostaaten‘ dennoch wohl nur für die antiken Staaten vertretbar, während für die europäischen Staaten des Mittelalters stattdessen vielfach die Bezeichnung ‚Reiche‘ bevorzugt wird. Vorliegend kann das dahinstehen, zumal der Staatsbegriff selbst neueren Datums ist. Er leitet sich aus dem italienischen lo stato her und wurde zum ersten Mal von Machiavelli gebraucht. Er bezeichnete damals noch den Status des Fürsten (status principis); erst später wurde er auf die vom Fürsten getrennte öffentliche Gewalt sowie das politische System im Gegensatz zum gesellschaftlichen angewandt (vgl. K. von Beyme, 2000, S. 181 f.; zur Wortge­ schichte H. Ehmke, 1962, S. 26 ff.). Vgl. ergänzend noch die Ausführungen unten K 1. 88  Noch 1356 hatte dagegen Karl IV. mit der Goldenen Bulle die Primogeniturerb­ folge für die Kurwürde festgesetzt und dadurch die rechtliche Sukzession des ehelich Erstgeborenen (heres legitimus) als Fundament legitimer Herrschaft gesichert.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

sind noch heute Beispiele für die erste, die europäischen Staaten dagegen ausnahmslos Beispiele für die zweite Staatsform. Für das Recht brachte die Entstehung der neuen Staatsform ebenfalls eine Differenzierung mit sich: Es zerfiel in ein i. d. R. urkundlich niedergelegtes Verfassungsrecht einesteils und in ein vom Staat aufgrund seiner verfas­ sungsrechtlichen Ermächtigung erlassenes hoheitliches bzw. Verwaltungs­ recht andernteils. Im Einzelnen werde ich hierauf im letzten Teil meiner Untersuchung eingehen. (δ) Das Recht staatsähnlicher Gebilde. Neben die neue Form des Territo­ rialstaates traten im Laufe der Zeit noch weitere staatsähnliche Gebilde, die lediglich einige Eigenschaften mit den Staaten gemeinsam hatten. Von ihnen erwähne ich hier die Konföderationen und die Imperien. Die Konföderationen waren keine Staaten, sondern lediglich Bündnisse souveräner Staaten (bzw. politisch eigenständiger Populationen) zur Verfol­ gung gemeinsamer Ziele, etwa zur Abwehr gemeinsamer Feinde oder zu enger wirtschaftlicher bzw. politische Zusammenarbeit. Das Mittel zur Festi­ gung einer Konföderation war allerdings i. d. R. ein Verfassungsrecht gleich dem der Staaten, das sowohl die gemeinsamen Ziele als auch die Mittel zu ihrer Erreichung festlegte. Im Altertum scheinen die Völker im östlichen Kleinasien, die (Proto-)Hattier, in einer Art Konföderation gelebt zu haben, bis sie von den Hethitern besiegt und ent­ weder ausgerottet oder aufgesogen wurden. Von anderen afrikanischen Völkern wis­ sen wir, dass zwischen ihnen zwar konföderative Bestrebungen im Gange waren, al­ lerdings aus Furcht vor dem Verlust der eigenen kulturellen Identität nicht zu Ende geführt wurden. Ferner können wir eine Bereitschaft zur Bildung von Konföderatio­ nen bei den mesoamerikanischen Völkern der Maya und der Azteken vermuten. Die Völker der Inka lebten dagegen nicht in einer Konföderation, sondern in einem ein­ heitlichen Staat zusammen.

Keine Staaten waren ferner die sogen. Imperien. Sie waren Herrschaftsbe­ reiche, die sich von einer Zentrale aus auf mehrere politisch selbstständige Völker erstrecken. Im Altertum entstanden sie meist dadurch, dass ein Volk ein anderes unterwarf, ohne sein Land zu annektieren, sondern es lediglich ausplünderte und vor dem Rück­ zug mit erneuter Plünderung bedrohte, falls es sich nicht zu regelmäßigen Leistungen (Tributzahlungen, Teilnahme an künftigen Feldzügen o.dgl.) verpflichtete. Beispiels­ weise geriet zwischen 2200 und 1950 v. u. Z. der Stadtstaat Assur in eine derartige Abhängigkeit gegenüber Sumer und Akkad. Und im 4. und 3. Jh. v. u. Z. brachten die Römer die ganze italische Halbinsel derart unter ihre Kontrolle: Sie respektierten zwar die Autonomie der übrigen Stammesgebiete und verlangten keine Tributzahlun­ gen, bestimmten dafür aber deren Militär- und Außenpolitik künftig mit.



E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 137

Soweit Imperien auf eine rechtliche Grundlage gestellt wurden, diente diese dazu, das Verhältnis des beherrschenden Volks zu den unterworfenen Völkern zu festigen. (ε) Poststaatliches (‚gubernatives‘) Recht. Die im modernen Territorial­ staat vollendete Differenzierung zwischen dem Staat, dem monopolistisch sowohl die hoheitliche Gewalt als auch das hoheitliche Recht zukommen, und der Gesellschaft, deren Wohlfahrt nebst Rechten und Pflichten ihren ei­ genen Institutionen überlassen bleibt, konnte sich angesichts der schnellen technisch/technologischen Entwicklung seit dem 18. Jh. und den durch sie ausgelösten sozialen Veränderungen seit dem 19. Jh. nicht lange behaupten. Innerhalb der Gesellschaft tat sich nämlich eine immer größere wirtschaftli­ che Kluft auf zwischen den Eigentümern von Produktionsmitteln, die eine Machtposition besaßen, und den Werktätigen, denen sie fehlte, weil sie nichts als ihre Arbeitskraft anzubieten hatten. Und da der Schutz des liberalen Staa­ tes lediglich den Produktionsmitteln, nicht dagegen den Arbeitskräften galt, wurden sehr bald Forderungen nach einer Macht laut, die die Arbeiter vor der Ausbeutung ihrer Kräfte seitens der Eigentümer von Produktionsmitteln schützt und die sich überdies der Not derer annimmt, die zu alt oder zu schwach zur Arbeit oder arbeitslos sind. Der Erfolg der schließlich gemein­ schaftlich vorgetragenen Forderungen war zwiespältig und spaltete infolge­ dessen die Welt in zwei Blöcke: Einerseits führte er zur totalen Enteignung aller großen Wirtschaftsunternehmen zugunsten des Staates – zur Staatswirt­ schaft und zum staatlichen Dirigismus, gleichzeitig allerdings auch zur rest­ losen staatlichen Absicherung aller Lebensläufe; andererseits führte er ledig­ lich zu sozialeren Formen der Marktwirtschaft, worin der Staat die Macht der Wirtschaft (Industrie und Handel) lediglich sozial deckelte und die sozi­ ale Lage der arbeitenden Bevölkerung so weit festigte, dass niemand ins Bodenlose stürzen musste. Im Wesentlichen hat sich nach langem Kampf die zweite Art durchgesetzt und wird, wenngleich mit unterschiedlichen Schwerpunkten, heute nahezu weltweit als bestmöglich anerkannt.89 Für das Recht hatte sie allerdings zur Konsequenz, dass der Staat einen Teil seines Rechtsmonopols einbüßte. Er musste der Wirtschaft (Industrie und Handel) einen Raum gewähren, worin sie sich nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen betätigen konnte, und auf dessen normative Kontrolle verzichten, konnte sich aber dafür eine Art MitKontrolle über die Verwaltung von Wirtschaftsbetrieben (‚Governance‘) vorbehalten und den von der Wirtschaft Beschäftigten eine Mindestteilhabe an der Leitung von Wirtschaftsbetrieben (durch ‚Betriebsräte‘) sichern. In­ nerhalb der Gesellschaft erwarb er sich darüber hinaus gewisse Kompeten­ 89  Näheres

dazu unten K 1 a β.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

zen, indem er über das private Bürgerengagement für soziale Zwecke sein Schutzschild ausbreitete und es zusätzlich durch Steuerfreiheit oder Steuer­ zuschüsse stärkte. Dafür verzichtete er allerdings auf die Chance, die Aus­ richtung des gesellschaftlichen Engagements mitzubestimmen. Insgesamt entstand innerhalb des ‚Sozialstaates‘ eine besondere Sphäre des staatlichen Gewährleistungsrechts, das sich teilweise sogar mit dem Privatrecht verband und alsdann zu einem hybriden (hoheitlich-privaten) Recht mutierte.90 6. Hoheitliches und privates Recht Wie erwähnt, entsprach die Trennung von öffentlichem und privatem Recht der Trennung von Staat und Gesellschaft in den Protostaaten. Das öf­ fentliche Recht regelte die politischen Verhältnisse im Staat sowie die Unter­ ordnung der Bürger unter die Staatsgewalt, während das Privatrecht die sozi­ alen Verhältnisse innerhalb der Gesellschaft und die privaten Beziehungen der Bürger untereinander regelte. Die antiken Herrscher hatten noch vor allem die organisatorischen Kompe­ tenzen für sich beansprucht, etwa zur Kriegsführung oder zur Ausführung gemeindlicher Arbeiten (Bau von Kanälen, Wehrbefestigungen und anderen Großprojekten). Später kamen Vermögensabgaben an den Herrscherhof hinzu: zum einen für die Verwaltung des Staates, zum anderen für den Luxus der Hofhaltung.91 Darüber hinaus nahmen viele Herrscher immer größere Feldflächen für sich in Anspruch und verlangten, dass ihre Untertanen (ggf. mit Unterstützung durch erbeutete Sklaven) sie bearbeiteten. Die antiken Bürger hatten dagegen ausschließlich einen durch körperliche Nähe bestimmten Bereich für sich beansprucht, etwa für Sachen, deren sie sich tagtäglich bedienten und die man nach dem Tode ihnen mit ins Grab legte, damit sie sie auch im Jenseits nicht zu entbehren brauchten; etwa für Personen, die ihnen in besonderer Weise lieb und teuer geworden waren wie etwa dem Mann die Mitglieder der ‚eigenen‘ Familie (insbesondere Weib und Kinder) sowie die seinem Hause zugehörigen Mägde und Knechte. Sie alle standen, solange ihre Herren lebten, rechtlich allein unter deren Gewalt, sodass beispielsweise ihre Verletzung zugleich eine Rechtsverletzung ihrer Gewalthaber war;92 und nach deren Tod wurden sie ihnen manchmal ins Jenseits nachgeschickt. dazu unten K 4 und 5. Entwicklung eines regulären Steueranspruchs vgl. oben D 3 β. 92  So war die Beleidigung des Haussohns nach römischem Recht zugleich eine Verletzung der hausväterlichen Rechte, die Auspeitschung eines fremden Sklaven ein Verstoß gegen die Rechte seines Herrn. 90  Vgl. 91  Zur



E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 139

Beide Bereiche, der politische wie der private, hatten sich danach jedoch ständig weiterentwickelt. Die Entwicklung des privaten Bereichs begann, so­ weit vom Landbesitz bestimmt, vor der politischen. Doch gerade dies war der Grund, weshalb sie der politischen Entwicklung in die Hände spielte. Denn der Besitz von Land differenzierte die Gesellschaft in Arme und Reiche, und als die Differenz größer wurde, bedurfte sie zu ihrer Legitimation einer höhe­ ren Macht. Dass diese Macht nicht die Religion sein konnte, erwies sich bald.93 Die irdische Macht, deren sie bedurfte, war der Staat. Obwohl aus den Häuptlingsschaften und Königreichen hervorgegangen, war sein Charakte­ ristikum nicht die verwandtschaftliche Verflechtung, sondern die äußerste Machtkonzentration. Deshalb konnte er ein Recht hervorbringen, das weder von der Verwandtschaft noch vom Reichtum abhängig war, sondern sozial und ökonomisch neutral, und er konnte es ohne Rücksicht auf Verwandtschaft und Reichtum durchsetzen, soweit sein Machterhalt es erforderte. Das zeigte sich nirgends deutlicher als in Rom, der Geburtsstätte des klassischen Rechts: Rom brauchte die Masse der Armen zu seinem Schutz, wenn es von außen angegriffen wurde und um seine Macht fürchten musste; und es brauchte die Hilfe der Reichen, wenn es im Innern Frieden und Wohlstand zu stiften galt, damit seine Macht nicht zerfiel. Wahrhaft mächtig war aber Rom allein. Wie scharf die Trennung zwischen Staat und Gesellschaft und damit zwi­ schen hoheitlichem und privatem Recht wurde, richtete sich jeweils nach der Anschauung vom Wesen und den Aufgaben des Staates und der Gesellschaft. Dort, wo man im Staat noch eine große Familie erblickte, deren Oberhaupt der Fürst (König, Kaiser o. ä.) war, betonte man die enge Anbindung an die familiären Strukturen des sozialen Zusammenlebens. Hoheitliches und priva­ tes Recht flossen dann ineinander mit der Folge, dass der Fürst i. d. R. befugt war, tief ins private Leben der Bürger einzugreifen. Insbesondere in China herrschte diese Doktrin vor.94 Waren die Staaten dagegen stärker politisch organisiert (und insbesondere bei den jüngeren unter ihnen, etwa Athen und Rom, war das der Fall), trat die Trennung des hoheitlichen vom privaten Machtbereich sowie die Unterscheidung zwischen hoheitlichem und priva­ tem Recht deutlicher hervor.95 Absolut war die Trennung allerdings nirgends; denn es hätte der Ordnungsfunktion jeden Staates widersprochen, im politi­ schen Bereich seine Bürger gleich unpersönlichen Systemelementen zu len­ ken, im privaten Systembereich sie aber ausschließlich ihrem persönlichen Belieben zu überlassen. Völlig eigene Rechtshoheit gab es für den Staat nur 93  Die Religion hatte nur insoweit eine sozialisierende Wirkung, als der Glaube an die Allgegenwart übernatürlicher Wesen die Neigung minderte, sich normwidrig zu verhalten (vgl. M. J. Rossano, 2007, p. 272 f.). 94  Vgl. dazu unten G 2 ε a. E. 95  In Griechenland kennzeichneten beispielsweise die Kompetenzen der Volksver­ sammlung die Scheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht.

140

Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

im Ausnahmezustand und für Staatsbürger nur innerhalb eines engen (‚höchstpersönlichen‘) Bereichs, den sie dann mit ihrem „Lebensfluidum“ füllen konnten.96 Aber selbstverständlich gab es fließende Übergänge.

F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts Das Recht ‚im klassischen Sinne‘ setzte den Staat voraus. Das vorklassi­ sche Recht – ich habe es ‚Frührecht‘ genannt – kam ohne den Staat aus, nicht jedoch ohne eine politische Macht. Fehlte diese Macht, weil in einer ersten Phase soziale Gruppen sich herrschaftsfrei organisierten oder weil sie in einer zweiten Phase noch zu schwach war, um die Organisation von grö­ ßeren Populationen zu bewältigen, dann musste sich die soziale Ordnung auf die überkommenen Normen der Gewohnheit stützen. Die Entwicklung von sozialer Ordnung vor dem Recht ‚im klassischen Sinne‘ werde ich in diesem Kapitel darstellen. Beginnen wird meine Darstel­ lung mit der Herrschaft des Brauchtums, also jenem prä-normativen Zustand, der für die längste Zeit der Menschheits(vor)geschichte kennzeichnend ist.97 Anschließen wird sich die Darstellung eines ersten konkret-normativen Zu­ stands, den die Sitten gestalteten und der bis heute nicht vollständig über­ wunden ist. Beenden wird diesen Abschnitt die Darstellung des frühesten rechtlichen Zustands, worin erstmals die politische Macht ihr Haupt erhob: die Darstellung der frührechtlichen Organisation von Häuptlingsschaften und Königreichen. 1. Materialien, Methoden und Ziele der vorliegenden Untersuchung (α) Rechtserkenntnisquellen. Das Studium frühester Rechtskulturen und ihres Ursprungs aus einem prärechtlichen Zustand kann sich auf sechs Quellen stützen: •• Erstens kommen die Rechtsbücher und -urkunden in Betracht, die uns die frühen Völker hinterlassen haben, etwa die Babylonier den Kodex des Hammurapi, die Juden die Gesetze des Alten Testaments (2. und 5. Buch R. Thurnwald (1934), S. 8. pränormative Brauchtum gab zwar Anweisungen, wie man sich zu verhal­ ten habe, und setzte dadurch der menschlichen Freiheit Grenzen. Doch hatte sich die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen in den Köpfen der unter seiner Herrschaft lebenden Menschen noch nicht entwickelt. Brauchtum war für die Menschen daher ebenso gelebtes Sein wie verbindendes Sollen und damit nichts anderes als alles, was sich sonst um sie herum ereignete: Teil einer kosmischen Ordnung, die das ursprüng­ liche Chaos hinter sich gelassen hatte. 96  So

97  Das



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts141

Mose), die Chinesen das Buch der Urkunden, die Inder das Gesetzbuch des Manu, die Griechen die Gesetzesinschrift von Gortyn (Kreta), die Römer das XII-Tafel-Gesetz, die Germanen die Leges barbarorum, usf. Diese können ihrerseits die Wurzeln, aus denen sie hervorgingen, nicht verleugnen; sie geben deshalb nicht nur über die Zeit ihrer Entstehung, sondern auch über deren Vorzeit Auskunft. •• Zweitens kann sich das Studium auf Berichte antiker Autoren stützen.98 Allerdings geben diese Berichte nur den Kenntnisstand ihrer Verfasser von den sozialen Institutionen und Normen der damaligen Zeit und ihres da­ maligen Umfelds wieder. Oft sind sie außerdem getrübt vom Interesse, das die Verfasser mit ihrer Darstellung verfolgt haben, und vermengen daher Wunsch und Wirklichkeit, Sollen und Sein. Beispiele sind aus Griechen­ land die Ilias und die Odyssee Homers, aus Indien das Mahabhārata, aus Island die Edda u. a. m. •• Drittens geben uns Berichte antiker Autoren auch über die sozialen Institu­ tionen und Normen von Völkern Auskunft, die selbst keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen haben, so etwa die Historien Herodots, die Geogra­ phika Strabos, abermals die Dichtungen Homers. Auch insofern dürfen wir die Berichte nur mit größter Vorsicht benutzen. Denn zum einen wissen wir oft nicht, ob unsere Gewährsleute eigene Erfahrungen wiedergeben oder nur über Gehörtes berichten,99 und zum anderen müssen wir damit rechnen, dass sie das Erfahrene ethnozentrisch, als den eigenen Institutionen gegen­ über minderwertig, interpretieren und damit verzeichnen. Beispiele sind die Berichte von Herodot über die Troglodyten (Höhlenbewohner)100 und von Homer über die Kyklopen.101 Umgekehrt kann allerdings die Tendenz, die heimischen Institutionen zum Richtmaß für die fremden zu nehmen, auch durch die entgegengesetzte ersetzt werden, die fremden Institutionen so weit zu idealisieren, dass die des eigenen Landes dagegen abfallen. Als Beispiel dafür lässt sich Xenophons Kyropaedie anführen.102 Auf ‚objekti­ ve‘ Darstellungen werden wir deshalb nur selten treffen. 98  Ergänzend geben auch Götter- und Heldensagen über die vorgeschichtlichen Zustände der Völker Auskunft. 99  Herodot beispielsweise reiste in Ägypten zwar viel umher, jedoch offenbar ohne die Landessprache zu verstehen. 100  Herodot, Historien IV 183. Er behauptet, dass sie Schlangen, Eidechsen und andere Reptilien verzehren. Ihre Sprache ähnle keiner anderen, und sie schwirrten umher wie die Fledermäuse. 101  Homer, Od. IX 106 ff. (112 ff.: „Dort ist weder Gesetz noch öffentliche Ver­ sammlung, [sondern] jeder richtet nach Willkür seine Kinder und Weiber und küm­ mert sich nicht um den andern.“) 102  Xenophons Kyropädie ist „ein tendenziöser pädagogischer Roman, in dem er [Xenophon] in dichterischer Freiheit die Lebensgeschichte des älteren Kyros erzählt

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

•• Viertens kann sich die Untersuchung auf die real-objektiven steinernen und hölzernen Überreste menschlichen Lebens stützen, die seit Jahrtau­ senden in der Erde geschlummert haben und erst von den Archäologen (Prähistorikern) wieder ans Tageslicht geholt werden mussten. Sie sind – nicht zuletzt aufgrund einer immer weiter verbesserten Datierungsmetho­ de – die zuverlässigsten, wenngleich stummen Zeugnisse für die soziokul­ turellen Verhältnisse von einst: sowohl für die soziale Ordnung als auch für einige der Institutionen, auf denen diese Ordnung beruhte. Detailliert geben sie vor allem über die hierarchischen Verhältnisse früherer Zeiten Auskunft, höchst selten dagegen über die (prä)rechtlichen Normen.103 •• Die fünfte Quelle, die uns einen Blick über die Grenze schriftlicher Über­ lieferung hinaus in die Vergangenheit erlaubt, sind die etymologischen Wurzeln der Sprache. Rechtsbegriffe haben ihre Geschichte; Sprachfor­ scher können sie erhellen, Juristen aus ihnen erkennen, was späteren Ge­ nerationen als ‚Recht aus unvordenklicher Zeit‘ erschien. Die romanisti­ sche, germanistische und slawistische Forschung hat aus dieser Erkennt­ nisquelle bereits Belehrung erhalten. Dennoch fehlt es noch immer an einer Sammlung der Erkenntnisse speziell im Hinblick auf die Entwicklung des rechtlichen Denkens. •• Sechstens und letztens können uns zeitnahe Berichte von Reisenden, Mis­ sionaren und ausgebildeten Ethnologen über die sozialen Verhältnisse bei heutigen indigenen Völkern zu Rückschlüssen auf die prä- und frührecht­ lichen Verhältnisse dieser und vergleichbarer anderer Völker verhelfen, besonders wenn sie sich auf Erzählungen der Eingeborenen stützen, wel­ che die Vergangenheit in ihren Mythen bewahrt haben. Die hierfür im we­ sentlichen zuständige ethnologische Forschung wurde systematisch und mit wissenschaftlichem Anspruch allerdings erst seit dem 19. Jh. betrieben. Vor allem Herbert Spencer studierte vom evolutionistischen Standpunkt aus die sozialen Institutionen der archaischen Völker, weil, wie er schrieb, diese zum Leben der Völker ebenso gehörten wie Essen und Trinken. In seinen „Principles of Sociol­ ogy“ schuf er daher die Grundlage für eine seither immer ausgedehnter betriebene Erforschung primitiver Institutionen und Normen durch exakte Beobachtungen und Berichte aus erster Hand.104 Heute wissen wir über fast alle rezenten Völker der Welt, insbesondere über die Eingeborenen Afrikas, Amerikas, Südostasiens und Australiens, ziemlich gut Bescheid, sodass sich der Arbeitsplatz des Ethnohistorikers mehr und mehr vom Feld der Forschung ins Archiv der Forschungsberichte verlagert hat. Dage­ gen können wir unmittelbar nur noch aus dem Studium weniger von der Zivilisation unberührter Naturvölker erschließen, wie vermutlich die meisten Menschen vor ­ und seine eigenen Gedanken über die Erziehung und Bildung eines idealen Herr­ schers pragmatisch entwickelt“ (Lexikon der Antike, Leipzig 1982, S. 615). 103  V. G. Childe (1975), S. 60. 104  H. Spencer (1876–1896).



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts143

40.000 Jahren lebten, wie sie in kleinen Horden von bis zu 80 (selten bis zu 150) Personen Tiere jagten und Früchte sammelten und wie sie von Ort zu Ort umherzo­ gen, bis sie vermutlich vor etwa 12.000 Jahren sesshaft wurden und sich zu Stammes­ gesellschaften vereinigten.

„Vermutlich“ – dieses Wort wird wichtig bleiben. Denn ob die der komparativen Methode zugrundeliegende Prämisse richtig ist, dass die frühen Kul­ turen und ihr werdendes Recht sich zumindest andeutungsweise noch in den heutigen Kulturen der Naturvölker wiederfinden lassen, wissen wir nicht und werden es auch nie sicher erfahren. Erkannt wurde die Problematik aller­ dings erst relativ spät. L. H. Morgan sah die Prämisse im 19. Jh. noch nicht einmal als bestätigungsbedürftig an:105 „Es ist ferner zu betonen, dass die Familienordnungen der barbarischen und selbst der wilden Vorfahren der Menschheit noch gegenwärtig in einzelnen Teilen des Menschengeschlechts so vollständig zu finden sind, dass mit Ausnahme der aller­ ursprünglichsten Periode die verschiedenen Stadien dieses Fortschritts sich ziem­ lich gut erhalten haben. … Die Kultur der Menschheit hat überall ziemlich den gleichen Weg durchlaufen, die menschlichen Bedürfnisse sind unter ähnlichen Bedingungen ziemlich dieselben und die Wirkungen der geistigen Tätigkeit kraft der Übereinstimmung des Gehirns aller Menschenrassen gleichförmig gewesen.“

Man hat ihm entgegengehalten,106 „dass selbst die einfachste rezente Gruppe eine längere Vergangenheit hat, während der sie sich tatsächlich sehr weit von jenem hypothetischen Anfangsstadium ent­ fernt hat“.

Doch die Relevanz dieses Einwands ist ebenso ungesichert wie die Prä­ misse selbst.107 Neuere Forschungen bringen der komparativen Methode deshalb wieder stärkeres Vertrauen entgegen,108 zumal man zu ihrer Absiche­ rung heute auf eine seit Morgan stark angewachsene Zahl von Untersuchun­ gen zur Rechtsentwicklung zurückgreifen kann. Und da man inzwischen nichts Besseres gefunden hat, werde ich den Ergebnissen ebenfalls ein vor­ sichtiges Vertrauen entgegenbringen. (β) Erkenntnisquellen speziell für das Prärecht und das Frührecht indigener Völker. Das Material, das ich meiner folgenden Untersuchung zugrunde gelegt habe, stammt aus vier Quellen: aus den Berichten von (unterschiedlich ausgebildeten) Wissenschaftlern, von Reisenden mit oder ohne Forschungs­ interesse, von Missionaren einer Kirche und von Abgesandten eines Staates. 105  L. H. Morgan

(1877/1908), S. 6 f. Lowie (1937), p. 25. 107  Dasselbe gilt für den Einwand, dass die rezenten ‚Barbaren‘ ja in geographi­ schen und ökologischen Randgebieten leben und schon deshalb nicht als repräsentativ für frühere Menschengruppen angesehen werden dürfen. 108  Vgl. etwa J. H. Steward (1949); R. McC. Adams (1966) – zu ihm vgl. oben C 3 α. 106  R.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Sie alle haben über die Normen und Institutionen der von ihnen besuchten Völker entweder aus eigener Anschauung oder aufgrund von Auskünften ih­ rer Gewährsleute berichtet. Herausgekommen ist ein Gesamtbild, das ich als einigermaßen zuverlässig ansehe. Forschungsreisende aus älterer Zeit haben mehr oder weniger naiv ihre Erfahrun­ gen mitgeteilt oder die Nachrichten wiedergegeben, die ihnen auf ihren Reisen zuge­ tragen wurden; ihre Berichte lassen sich nur ergänzend zu anderem Quellenmaterial verwenden, sind aber wertvoll, wenn sie von Völker handeln, die seinerzeit von der modernen Zivilisation noch wenig beeinflusst waren. Prototyp eines Forschungsrei­ senden, der sich fast ausschließlich auf Berichte von Gewährsleuten verließ, ist Herodot (ca. 484–425 v. u. Z.). Cicero würdigt ihn als „pater historiae“. Seine Berichte über Zustände und Ereignisse aus einer Zeit, die ihm noch historisch nahestand, werden heute als im Wesentlichen zuverlässig beurteilt, lediglich seine gelegentlich eingestreuten Auskünfte über sagenhafte Primitivvölker werden mit einiger Skepsis betrachtet. Neuere Berichte (etwa ab dem 16. Jh.) von Expeditionsteilnehmern, Handelsreisenden oder in fremde Länder versetzten Militärs über das Leben der Eingebo­ renen vor ihrer näheren Begegnung mit der europäischen Zivilisation bieten darüber hinaus manchmal glaubhafte Einzelheiten, über die die später ausgeschwärmten Eth­ nologen nicht mehr berichten konnten; sie sind aber, je abenteuerlicher sie klingen, mit desto größerer Vorsicht aufzunehmen. Wertvoll sind dagegen die Berichte der Missionare, weil ihr Auftrag sie zu längeren Aufenthalten bei den Eingeborenen ver­ pflichtete und sie infolgedessen deren Sprache erlernen sowie die Sitten und Bräuche genauer studieren konnten.109 Leider befassen ihre Berichte sich nur selten mit den rechtlichen oder rechtsähnlichen Beziehungen innerhalb der missionierten Völker. Dadurch unterscheiden sie sich von den Berichten der Abgesandten europäischer Kolonialmächte. Auftragsgemäß bewerteten diese die Sozialstrukturen fremder Völ­ ker danach, welche kolonialen Verwaltungsstrukturen sie zulassen und inwieweit die Implantation mutterländischen Rechts möglich und sinnvoll erscheint. Lediglich be­ reits vollzogene Eingriffe ihrer Staaten in das Stammesleben beschönigten sie meis­ tens. Dennoch hat gerade ein von der britischen Regierung entsandter, zuvor im englischen Recht ausgebildeter Ethnologe, Sir Edward E. Evans-Pritchard (1902– 1973), Wesentliches zur Erkenntnis der Sozialstrukturen und der prä- und frührecht­ lichen Institutionen des von ihm mehrfach besuchten Volkes der Nuer im südlichen Sudan beigetragen.110

Den größten Einfluss auf unser heutiges Bild von den indigenen Völkern haben jene Ethnologen ausgeübt, die Feldforschung unabhängig von außer­ wissenschaftlichen Interessen betreiben konnten. Lediglich ihre mitgebrachte 109  Insbesondere die französischen Missionare operierten mit bemerkenswerter Offenheit und Unabhängigkeit gegenüber den Eingeborenen. Vgl. etwa U. Bitterli (1976, S. 112): „Der Missionar schlief in den Hütten der Eingeborenen auf gestampf­ ter Erde, ernährte sich von denselben Naturprodukten, bediente sich derselben Trans­ portmittel. Er teilte mit den Indianern die Härte des winterlichen Klimas, litt wie sie unter Hungersnöten und den Raubzügen feindlicher Stämme und setzte sich, wenn die Not es gebot, den Entbehrungen der nomadisierenden Lebensweise aus.“ 110  Vgl. unten d bb (Nuer).



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts145

wissenschaftliche Voreinstellung war ihren Erkenntnissen nicht immer för­ derlich. So waren für die dem Funktionalismus anhängenden Ethnologen Individuen nur interessant, soweit sie institutionell vorgegebene Rollen für die Aufrechterhaltung des Gesamtsystems spielten; der Schwerpunkt ihrer Forschung lag also auf der Außenansicht der Individuen und ihrem Zusam­ menleben in der Gesellschaft (etische Perspektive). Von der Tiefenpsycholo­ gie geprägte Ethnologen legten dagegen den Schwerpunkt auf das Verstehen der Individuen und ihres gesellschaftlichen Zusammenlebens; ihr Schwer­ punkt lag folglich auf der Innenansicht (emische Perspektive). Manche Eth­ nologen vereinigten allerdings auch beide Sichtweisen mittels ‚teilnehmender Beobachtung‘ zu einer ‚synthetischen Ethnographie‘, d. i. einem Miteinander von Verstehen und beobachtender Distanz.111 Diese letztgenannte Methode wird, weil am differenziertesten, in letzter Zeit sogar meistens angewandt. Doch kann auch sie nicht verhindern, dass zumindest bei der Auswahl und Interpretation des aufgenommenen Materials der kulturelle Hintergrund des Forschers bestimmend mitwirkt. Die Herausgabe der lange unveröffentlich­ ten Feldtagebücher von Bronislaw Malinowski, einem Vertreter dieser Richtung,112 hat die subjektiven Grenzen auch seiner Feldarbeit offenbart. Wie jede Erkenntnis sozialer Kultur bleibt daher (fast notwendig) auch die ethnologische subjektiv begrenzt. Eine Metaebene, auf der die kulturelle Subjektivität der Wahrnehmung fast vollständig verschwindet, gibt es wahr­ scheinlich nur hinsichtlich allgemein-menschlicher, kulturell ungebundener Eigenschaften.113 (γ) Der Aufbau der vorliegenden Untersuchung. Mein hier vorgelegter Versuch, aus dem Quellenmaterial einen Überblick über die allmähliche Ent­ wicklung der frührechtlichen Kultur schriftloser Völkern zu rekonstruieren, stand vor einem doppelten Problem: Erstens ist das ethnologische Material heute derart reichhaltig, dass eine viele Jahrzehnte währende Arbeit erforder­ lich wäre, um es auch nur zu sichten. Angesichts der mir noch bemessenen Lebenszeit musste ich mich daher auf eine relativ kleine Zahl von For­ schungsberichten beschränken, deren Auswahl ich nicht so schlüssig begrün­ den kann, dass sie keinem Tadel ausgesetzt wäre. Lediglich das Ziel meiner Auswahl kann ich darlegen. Es bestand darin, Nachrichten über Völker zu sammeln, die sich entwicklungsmäßig zur Zeit ihrer Untersuchung auf zwar unterschiedlichen, aber aufeinander aufbauenden Organisationsstufen befun­ den haben. Erste Hilfe dazu boten mir die Arbeiten von Forschern, die vor mir dasselbe Ziel angestrebt haben (u. a. A. H. Post, E. A. Hoebel, L. Pospíšil, zu ihm unten e aa. Malinowski (1967/1986). 113  Vgl. dazu einerseits E.-J. Lampe (1970a), S. 171 ff., andererseits W. Fikentscher (1995), insbesondere p. 15 ff., 158 ff. 111  Vgl. 112  B.

146

Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

N. Rouland, U. Wesel, W. Fikentscher). Im Übrigen bleibt mir nur das Ein­ geständnis, dass eine andere Auswahl möglicherweise zu anderen Folgerun­ gen Anlass gegeben hätte. Zweitens musste der Schwerpunkt meiner Unter­ suchung auf jenen Teilen früher Sozialordnungen liegen, die später verrecht­ licht wurden. Dies erzeugte die Schwierigkeit festzulegen, welche Teile der Sittenordnungen durch Verrechtlichung verändert wurden, welche Teile auf­ grund Funktionsverlustes gleichsam ‚abstarben‘ und durch neue ersetzt wur­ den und welche durch eine Bewusstseinsveränderung obsolet wurden, ohne dass ein Verrechtlichungsprozess dafür ursächlich war. Die exakte Lösung dieses Problem hätte empirische Untersuchungen erforderlich gemacht, die ich nicht durchgeführt habe. Insofern muss ich wiederum einräumen, dass meine Darstellung an Verzerrungen leiden kann, die durch Kritik und weitere Forschung bereinigt werden können und müssen. Als ein Beispiel für die genannte Schwierigkeit sei die abnehmende Bedeutung der Zauberei in Ethnien genannt, deren Sozialordnung stärker verrechtlicht wurde. Bea­ trice Whiting hat das ethnographische Material von über 50 Gesellschaften daraufhin gesichtet und festgestellt, dass von den Gesellschaften, in denen die Zauberei eine erhebliche Rolle spielte, 30 : 5 keine erhebliche Rechtskultur besaßen, während von den Gesellschaften, in denen die Zauberei keine erhebliche Rolle spielte, 12 : 3 eine erhebliche Rechtskultur besaßen.114 Hieraus zu schließen, dass eine zunehmende Verrechtlichung die soziale Bedeutung der Zauberei verdrängt hat, erscheint mir je­ doch voreilig. Denn erstens braucht zwischen beiden Entwicklungen überhaupt kein Zusammenhang zu bestehen, zweitens kann der Rückgang der Zauberei ebenso Ursa­ che stärkerer Verrechtlichung gewesen sein wie die stärkere Verrechtlichung Ursache für den Rückgang der Zauberei, und drittens können beide Entwicklungen ihren Grund in einer externen Entwicklung gehabt haben, etwa im allgemeinen Bedeu­ tungsverlust metaphysischer Erklärungen von natürlichen Vorgängen und im kompen­ satorischen Bedeutungsgewinn rationaler Erklärungen.115

Die von mir nicht ausgeräumten Schwierigkeiten haben mich veranlasst, den Focus meiner Untersuchung schwerpunktmäßig auf die (prä-)historische Entwicklung von Strukturen sich allmählich abzeichnender Rechtsordnungen zu legen. Da diese Strukturen wesentlich vom Entwicklungstand des Den­ kens geprägt wurden und die Entwicklung des Denkens nach allem, was wir wissen, sich gesetzmäßig ubiquitär gleich vollzogen hat, habe ich meine Aufgabe darauf beschränkt, lediglich die strukturelle Entwicklung des Rechts im Rahmen der strukturellen Entwicklung des Denkens exakt zu überprüfen, während ich den Veränderungen des Gedankeninhalts die Nebenrolle zuge­ wiesen habe, Beispiele für die Rechtsentwicklung zu liefern. (δ) Drei Thesen zu Beginn: Hinsichtlich der strukturellen Entwicklung der Sozialkultur im Allgemeinen und speziell ihrer (prä-)rechtlichen Komponen­ 114  B.

Whiting (1950), p. 87. dazu auch J. G. Peoples/G. A. Bailey (2009), p. 101 ff.

115  Vgl.



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts147

ten stelle ich drei auf die Entwicklung der Denkstrukturen gestützte Thesen vor, die ich im Folgenden genauer überprüfen werde: •• Alle Völker lassen sich hinsichtlich des Entwicklungstands ihrer Denk­ strukturen (mehr oder weniger präzise) in eine Stufenfolge einordnen.116 •• Der Entwicklungstand ihrer Sozialkultur im Allgemeinen und ihrer (prä-) rechtlichen Sozialordnung im Besonderen weist Unterschiede auf, die u. a. durch Veränderungen ihrer Denkstrukturen begründet sind und sich als eine gesetzmäßige Entwicklung von einer niederen zu einer höheren Ent­ wicklungsstufe (d. i. als ‚Anagenese‘) darstellen lassen. •• Was die zeitliche Spanne der vorliegenden Untersuchung zur Frühantike (Teile II und III) betrifft, erreichen die höchste Entwicklungsstufe dieje­ nigen Völker, die eine autonome (proto-)staatlich-bürokratische Organisa­ tion und eine differenzierte Rechtsordnung einschließlich einer Gerichts­ verfassung ausgebildet haben. Anlehnen kann ich sich meine Thesenwahl an eine Kategorisierung, die bereits Marshall D. Sahlins und Elman R. Service zur Darstellung der Stu­ fenfolge indigener Kulturen gewählt haben.117 Bei ihnen stehen auf der un­ 116  Die Einschätzung der intellektuellen Fähigkeiten von indigenen Völkern leidet allerdings darunter, dass die latenten Fähigkeiten den interviewenden Forschern oft verborgen geblieben sind. Deshalb wurde ihr Entwicklungstand oft einer zu niedrigen Stufe zugeordnet. Anders lässt sich jedenfalls die schnelle Entwicklung nicht er­ klären, die diese Völker seit dem Zeitpunkt ihrer Begegnung mit den zivilisierten Kulturen (bzw. mit den überall hin ausschwärmenden Ethnographen und Ethnologen) vollzogen haben. Am Beispiel der afrikanischen Mbuti schildert die Entwicklung C. Tunrbull (1983), p. 5: „I was first among the Mbuti pygmies of the Ituri Forest, what was then the Belgian Congo, in 1951. I went back for something over a year in 1954. Even in that short space of time things had changed, and initial impressions had to be corrected. When I returned again in 1957–9 I had quite a hard time recon­ ciling some of my earlier findings with what I found then. And on returning to the same part of the same forest yet again in 1970–2, it seemed as though I had to con­ tradict myself all over again.“ Ausführlich zu den Mbuti vgl. auch U. Wesel (1985), S.  139 ff. m. w. Nachw. 117  Zum Folgenden vgl. M. D. Sahlins & E. R. Service (1960) sowie E. R. Service (1962). Später (1977, S. 375) hat Service „einer einzigen, segmentalen Stufe den Vor­ zug vor der Unterteilung in Horden und Stämme“ gegeben, allerdings es für möglich und für viele Zwecke auch sinnvoll gehalten, „innerhalb dieser Stufe einen Sammler-, frühen Ackerbauer-, Hirten- und Fischer-Typ zu unterscheiden; einen einfachen und einen komplexen, großen und kleinen Typ usw.)“. C. Ph. Kottak (2002, p. 242) be­ merkt dazu: „Many anthropologists have criticized Service’s typology as being too neat and simple, because it condenses a wide range of [social and] political complex­ ity into just four categories. Indeed, in the discussion that follows, we’ll see that the four labels are too simple to account the full range of political complexity we exam­ ine. … Nevertheless, Service’s typology does offer a handy set of labels for highlight­ ing some major contrasts in [social and] political organization.“

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

tersten Stufe die Horden (band societies), d.s. familiär organisierte, lediglich zur Jagd auf größere Tiere oder zu kriegerischen Unternehmungen verbun­ dene Gruppen, zumeist ohne dauerhafte Ansiedlung. Auf der nächst höheren Stufe stehen bei ihnen die größeren, aber nicht zentralisierten Stammesge­ sellschaften (tribal societies), deren ‚Segmente‘ von den Normen patri- oder matrilinearer lineages zusammengehalten werden und die ihrerseits oft Stam­ mesverbände (pan-tribal societies) bilden. Auf der dritten und letzten Stufe vor der Staatenbildung stehen die zentralisierten Häuptlingsschaften (chiefdoms). Sie halten die bisher als ‚Segmente‘ zusammenlebenden ‚Clans‘ poli­ tisch unter der Herrschaft eines Oberhaupts zusammen und ergänzen erstmals die sozialen Normen durch politische. Ich werde diese Kategorisierung mei­ nen Ausführungen zugrunde legen, sie jedoch um eine vierte Entwicklungs­ stufe vor dem Erreichen der (Proto-)Staatenbildung ergänzen: um die der Königreiche (kingdoms), die sich (insbesondere in Afrika) entweder aus der Vergrößerung von Häuptlingsschaften aufgrund eines Bevölkerungszuwach­ ses oder aus dem Zusammenschluss mehrerer Häuptlingsschaften unter ein­ heitlicher Führung herausgebildet haben. Ihr Kennzeichen ist, dass sie die Verwaltungsaufgaben zentral zusammenfassten und von einer geschulten Beamtenschaft unter der Leitung einer einheitlichen Regierung bearbeiten ließen. Daraus ergibt sich folgendes Stufenschema: •• Horden (bands): Zwischen 10 und 80 (selten 150 Individuen) umfassende Zusammenschlüsse von Jägern und Sammlern ohne institutionalisierte Autoritätsstruktur, meistens auch ohne feste Ansiedlung. Horden besitzen zur Regelung ihres sozialen Zusammenlebens nur eine rudimentär ausge­ bildete Normenordnung; interne Konflikte bereinigen sie durch konkrete, das Gesamtwohl der Gemeinschaft berücksichtigende Anweisungen an die Beteiligten. •• Stammesgesellschaften (tribes): Aus meist verwandtschaftlich verbunde­ nen ‚Segmenten‘ von unterschiedlicher Größe zusammengesetzte Gruppen mit – zumindest jahreszeitlich – fester Ansiedlung zwecks (Neben-)Be­ trieb von Landwirtschaft, aber nach wie vor ohne institutionalisierte zent­ ripetale Autoritätsstruktur. Stammesgesellschaften besitzen stärker ausdif­ ferenzierte, dem Recht näherstehende Sozialnormen mit erweiterter Zu­ ordnung von Sachen an Personen oder Personengemeinschaften (‚Eigen­ tum‘) und ausgeprägter Zuweisung von subjektiven Ansprüchen und Verpflichtungen an einzelne Stammesmitglieder. Viele antike Stämme haben sich gleich den Horden auch auf Wanderungen bege­ ben: u. a. die Dorer und Ionier nach Griechenland, die Italiker und Etrusker nach Italien und die Kelten nach Mitteleuropa. Inwieweit man insoweit von ‚Völker‘­ wanderungen statt (kriegerischen) Stammeswanderungen sprechen soll, ist umstrit­ ten. Ich gehe hierauf im Folgenden nicht ein.



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts149

•• Häuptlingsschaften (chiefdoms): Stammesgesellschaften mit einer sozial teilstrukturierten Bevölkerung (u. a. Bauern, Handwerkern, Medizinmän­ nern) sowie einem Häuptling als institutionalisierter Zentralinstanz inner­ halb eines festen Siedlungsgebietes, worin ein Großteil der Nahrung aus der Landwirtschaft bezogen und eine Vorratswirtschaft betrieben wird. Häuptlingsschaften besitzen erstmals eine durch spezifische Rechtspre­ chungsorgane gestützte frührechtliche Ordnung mit Rudimenten einer Verfassung, einfachen Institutionen und sanktionierten Normen. •• Königreiche (kingdoms): Politisch strukturierte Gesellschaften mit einem König als Zentralinstanz und i. d. R. mehreren Häuptlingen als regionalen Unterinstanzen, ferner mit städtischen Residenzen, von wo aus Land und Leute von königlichen Beamten regiert und (fiskalisch) verwaltet werden, ferner mit einer intensiven landwirtschaftlichen Produktion, welche auch die in Städten wohnende Bevölkerung mit Nahrung versorgt. Königreiche besitzen aufgrund von Arbeitsteilung eine ausdifferenzierte Sozialstruktur (u. a. Bauern, Handwerker, Priester, Krieger) und sind gewöhnlich durch Handelsbeziehungen bzw. Tributeinnahmen mit ihren Nachbarvölkern verbunden.118 Ihre frührechtliche Ordnung wird von einer formalisierten Gerichtsbarkeit gestützt und ist so weit ausdifferenziert, dass sich sowohl die Grenzen des Rechts als auch seine wesentlichen Inhalte benennen lassen.119 Dieses Entwicklungsschema wird der folgenden Darstellung vorgeschicht­ licher Völker zugrunde liegen, obwohl diese sich inzwischen stark verändert haben. Denn selbst die von der ‚westlichen‘ Zivilisation noch kaum erreich­ ten und ihres Charakters beraubten Völker haben inzwischen eine Jahrtau­ sende lange Entwicklung durchlaufen und tragen in sich die Spuren dieser

übereinstimmend E.-D. Hecht (1969), S. 155. zwischen den Königreichen gibt es u. a. je nach dem Grad ihrer Zentralisierung und ihrer Thronfolgeregelung. Innerhalb der afrikanischen Königrei­ che kann man beispielsweise unterscheiden zwischen despotic kingdoms, in denen der König über die absolute Macht verfügt und alle Funktionäre ernennt (Beispiele: Rwanda, Buganda, Bunyoro); real kingdoms, in denen der König und die Häuptlinge der gleichen genealogischen Einheit angehören (Beispiele: Burundi, Bemba, Kede); incorporative kingdoms, in denen unter einer fremden Oberherrschaft die alten Hier­ archien erhalten geblieben sind (Beispiele: Bamileke, Lunda, Luba, Lozi); aristocratic kingdoms, in denen die Häuptlinge ihre Legitimation aus einer ehemaligen Verbin­ dung zur Königsfamilie oder zu deren Favoriten herleiten, ihre Ergebenheit gegen­ über dem Herrscher aber nur noch durch Tributzahlungen bekunden (Beispiele: Kuba, Ngonde, Ha, Zinza). Eine Besonderheit bilden die federations (vgl. dazu oben E 5 δ), d.s. die Zusammenschlüsse unter einem König als primus inter pares (z. B. der Stämme der Aschanti unter dem Asantehene). Zum Ganzen vgl. T. C. McCaskie (1995), p.  144 ff. 118  Weitgehend

119  Unterschiede

150

Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Entwicklung.120 Wenn daher überhaupt Rückschlüsse von den rezenten auf die vorgeschichtlichen Völker möglich sind, dann lediglich als Wahrschein­ lichkeitsaussagen aus heutiger ‚westlicher‘ Sicht und nur im Hinblick auf ihr durchschnittliches Lebensprofil.121 Einige rezente indigene Völker werde ich dennoch genauer skizzieren, weil ich nicht vollständig in vagen Durch­ schnittsaussagen verharren will, sondern vermute, dass ihre heutige Lebens­ weise noch immer prototypisch für Völker auf einer entsprechenden Kultur­ stufe in der prähistorischen Vergangenheit ist.122 Fast vollständig ausgeklam­ mert habe ich die meso- und südamerikanischen Völker (Inka und Maya; Indios), deren systematische Erforschung noch in den Anfängen steckt, ob­ wohl über ihre teilweise weit fortgeschrittene Kultur inzwischen viel Mate­ rial zutage gefördert wurde.123 2. Prästaatliche Entwicklungen von Recht a) Die Rechtsentwicklung innerhalb von Horden Horden von Wildbeutern (Jägern und Sammlern) – band societies in der Terminologie von Sahlins und Service – sind die frühesten Erscheinungsfor­ men sozialen menschlichen Daseins. Soweit uns Beobachtungen rezenter Völker124 Rückschlüsse auf ihr prähistorisches Dasein erlauben, bildeten sie Gruppen von 10 bis zu 80 (gewöhnlich 20 bis 50, selten bis 150) Individuen, die meistens verwandtschaftlich verbunden waren und sich allenfalls saisonal mit fremden Gruppen zusammenschlossen (Beispiel: !Kung-Buschleute, dazu E. Haberland (1998), S.  275 f.; J. Kohler (1914), S. 1. Selbstbescheidung beinhaltet auch „eine klare Absage an jene Haltung, die allein dem westlichen Wissenschaftler die Rolle des Subjekts der Forschung, den außereuropäischen Gesellschaften aber die des Objekts der Forschung zuweist“ (K.-H. Kohl, 1993, S. 166). Überhaupt ist die Bildung einer idealen Typologie vorge­ schichtlicher Gesellschaften eine westliche Zutat zur ehemals vorhandenen Realität; denn diese Realität war wesentlich komplexer, als die Typologie sie erkennen lässt, weil Geschichte, Geographie, Kultur und andere Faktoren jeder individuellen Gesell­ schaft ihr Erscheinungsbild mitgegeben haben. 122  Generell zur politischen Anthropology und zum Folgenden C. Ph. Kottak (2002), p.  240 ff. 123  Zu den Ixil-Maya vgl. unten H 2 a α. Vgl. ferner G γ. ‒ Allgemeine Literatur: B. Riese, Die Maya: Geschichte, Kultur, Religion, München 42002; I. Clendinnen, The Cost of Courage in Aztec Society: Essays on Mesoamerican Society and Culture, Cambridge 2010; M. P. Baumann, Weltbild und Symbolik indianischer Tradition in Südamerika, München 1994. 124  Als Horden organisierte Völker haben überlebt: in Zentralaustralien die Abori­ gines, in Südafrika die Buschleute, in der Arktis die Eskimos, in Südamerika die In­ dios, in Nordwestamerika die Indianer, im Pazifik einige der melanesischen, polyne­ sischen und mikronesischen Völker. 120  Vgl.

121  Diese



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts151

unten Zusatz 2). Einige Gruppen waren sesshaft, wohnten in kleinen Camps beisammen und halfen einander bei der Nahrungsbeschaffung, Essensberei­ tung, Kinderpflege u. a. (Beispiel: Inuit/Eskimos).125 Die meisten Gruppen zogen dagegen in ständiger Suche nach neuer Nahrung umher (Beispiel: Schoschonen in Utah und Nevada). Untereinander verband sie keine feste Organisation; wenn sie sich trafen, dann meistens um durch den Austausch von Mitgliedern (Männern oder Frauen) Inzucht zu verhindern, aber auch um durch gemeinsame Feste sich ihrer Zugehörigkeit zu einem größeren Volk zu vergewissern und so Kriege innerhalb ihres Volkes zu vermeiden.126 Die soziale Ordnung der Horden war je nach Größe unterschiedlich. Sie beruhte in einfachen Gruppen mit einer geringen Anzahl von Mitgliedern allein auf Differenzierung nach Alter und Geschlecht, in komplexeren Grup­ pen mit einer größeren Zahl von Mitgliedern zwar auf der Gleichheit aller Familienoberhäupter, aber einer hervorgehobenen, wenngleich nicht institu­ tionalisierten Stellung einzelner (i. d. R. männlicher) Personen, die den Frie­ den innerhalb der Gruppe gewährleisteten und gelegentlich auch Entschei­ dungen für die gesamte Gruppe trafen. Diesen ‚Friedenshäuptlingen‘ traten in eher kriegerischen Völkern (modernes Beispiel: Komantschen, dazu unten Zusatz 1) ‚Kriegshäuptlinge‘ zur Seite, die für die erfolgreiche Durchführung von Feldzügen gegen Nachbarhorden zuständig waren und denen dann ein Befehlsrecht über die Teilnehmer zustand. Darüber hinaus gab es Anführer bei der gemeinsamen Jagd, die zwar Anordnungen treffen konnten, jedoch kein eigentliches Befehlsrecht hatten. Arbeitsteilung bestand ausschließlich insoweit, als Jagdausübung und ggf. Kriegsführung Sache der Männer wa­ ren, Sammeln von Wurzeln und Früchten dagegen Sache der Frauen.127 In­ folgedessen oblagen den Männern die Herstellung von Waffen und Jagdgerät und das Aufstellen von Fallen, den Frauen dagegen alle Arbeiten, die nicht Männersache waren, speziell die Aufzucht der Kinder und die Zubereitung des Essens (mit Ausnahme des Fleisches, dessen Zubereitung meistens den Männern oblag).

125  An der Westküste Nordamerikas entwickelten sich auch sesshafte Stämme, begabt mit hoher Kultur, jedoch ohne Ackerbau und Viehhaltung. Sie ernährten sich vom jährlichen Lachsfang und vom Überfluss an wilden Beeren, und sie lernten, wie man die Nahrung in Zeiten reichen Angebots konserviert, um später längere Perioden ohne Nahrungsmangel in Muße verbringen zu können. 126  In Bezug auf die Schoschonen einschränkend J. H. Steward (1955a), p. 109; vgl. dazu aber auch P. J. Richerson et al. (2003), p. 370 f. m. Nachw. 127  J. G. Peoples/G. A. Bailey (2003), p. 218: „The male hunting/female gathering pattern is not quite universal, but it is widespread enough that many anthropologists believe that there must be some physical differences between men and women that are relevant explaining it.“

152

Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Unterschiede in der Lebensführung waren hauptsächlich durch die Umwelt bedingt. In einer armen Umwelt lebten meist kleinere Horden, die sich vom jahreszeitlich vorhandenen Angebot der Natur ernährten, keine Vorratswirt­ schaft betrieben, dafür aber das Vorhandene jederzeit miteinander teilten. In einer reichen Umwelt lebten meist größere Horden, deren Wirtschaft oft die periodische Ansammlung gemeinsamer Vorräte (etwa von Fischen, Nüssen und Grassamen) vorsah, die später verteilt werden konnten. Unterschiede ergaben sich ferner aufgrund der Art des Wirtschaftens. Diente hauptsächlich vegetarische Kost als Lebensgrundlage, bildeten sich meistens kleinere Ge­ meinschaften von vier bis sechs Familien, die in Camps zusammenwohnten und von Zeit zu Zeit den Wohnort wechselten. Das Vorhandensein von Grab­ stöcken in einigen Gegenden spricht darüber hinaus für den Beginn einer Gartenkultur. Bildete dagegen die Jagd auf Großwild die wichtigste Nah­ rungsquelle, kam es regelmäßig zu größeren Gemeinschaften, die entweder in gemeinsamen oder benachbarten Camps wohnten und sich von Mal zu Mal zu gemeinsamen Unternehmungen verbündeten, hierfür auch ein be­ stimmtes Jagdgebiet in Anspruch nahmen und Fremde von ihm fernhielten. Ein Wechsel des Wohnorts war dann seltener. Möglicherweise gab es in na­ türlich besonders begünstigten Gegenden auch schon erste big men, die grö­ ßeren Haushalten (mit mehreren Frauen und vielen Kindern) vorstanden und von Bediensteten nicht nur versorgt wurden, sondern auch genügend Mittel erhielten, um für die Allgemeinheit Feste zu veranstalten und sich dadurch Ansehen zu verschaffen. In fast allen Belangen wurde das Leben der Wildbeuter von Bräuchen be­ stimmt, die einen prä-normativen Charakter hatten und unterschiedlich streng eingehalten wurden je nachdem, ob man den Wechsel von einer Gruppe in eine andere erschweren (Beispiel: Komantschen) oder erleichtern (Beispiel: !Kung) wollte. Streng normativ abgesichert waren lediglich die familiären Strukturen (gewöhnlich Vater, Mutter, Kinder) und die Nutzungsberechtigung an einzelnen Gegenständen (z. B. Jagdgerät). Gleichwohl ist es zwar mög­ lich, aber wenig sinnvoll, insoweit zwischen Sitten- und Rechtsnormen zu unterscheiden, sofern man bereit ist, innerhalb der Sittenordnung Gradunter­ schiede der Strenge anzuerkennen.128 Ehen wurden formlos geschlossen und aufgelöst.129 Im Interesse der biotischen Evolution war ein häufiger Austausch der Mitglieder von Horde zu Horde wün­ schenswert, weil dadurch die meisten Mitglieder einer Horde wenigstens nicht unmit­ telbar miteinander verwandt waren. Ebenfalls war der Austausch im Interesse der 128  Anders L. Pospišil (1980, S. 240 ff., 261 f.) hinsichtlich der Heiratsregelungen der australischen Aborigines. 129  Es handelt sich in unserem heutigen Sinne nicht eigentlich um ‚Ehen‘, sondern lediglich um die sozial anerkannte Zugehörigkeit einer Frau zu einem Manne. Vgl. dazu noch unten H 3 e aa.



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts153

kulturellen Evolution wünschenswert, weil er die Entstehung großer, hordenübergrei­ fender Netzwerke ermöglichte, worin neue Kulturtechniken sich verbreiten konnten. Ob die Frau in die Horde des Mannes oder der Mann in die Horde der Frau zog oder ob beides möglich war, entschied der Brauch. Monogynie war zwar die (tatsächliche) Regel, weil kaum ein Mann in der Lage war, für mehrere Frauen und deren Kinder (sowie ggf. auch noch für die Eltern der Frauen) zu sorgen. Doch wo es die Versor­ gungslage erlaubte, war auch Polygynie erlaubt. Innerhalb der engeren Familien be­ stand ein der Idee nach strenges Inzesttabu;130 wie umfänglich es die Familienange­ hörigen betraf, war kulturabhängig und oft nur sehr vage geregelt. Kulturabhängig war innerhalb der Ehe auch die Stellung der Frau: Tendenziell war sie dort, wo das Ideal des tapferen Kriegers vorherrschte oder der Jagderfolg über das Wohlergehen der Familie entschied, dem Manne untertan; dagegen stand sie dem Mann tendenziell gleich, wo sie ebenfalls einen wesentlichen Beitrag zur Ernährung der Familie leiste­ te. Gleichwohl wurde überall nur für den Fall Vorsorge getroffen, dass die Familie den männlichen Ernährer verlor: Für Frau und Kinder mussten dann einzelne aus der Verwandtschaft (entweder des Mannes oder der Frau) sorgen, ausnahmsweise auch (etwa bei den Inuit) derjenige, der den Mann getötet hatte. Eine Eigentumsordnung in unserem heutigen Sinne war schon mangels Besitzes wertvoller Sachen unbekannt. Sie wurde weitestgehend131 ersetzt durch ein aus­ schließliches Nutzungsrecht132 – einesteils seitens der Gruppe an einem Territorium, anderenteils seitens Einzelner an gewissen durch Arbeit hergestellten Geräten sowie am Ergebnis des Jagens und Sammelns. Stattdessen gab es soziale Teilungspflichten, die sich vor allem auf die gemeinsame Jagdbeute und das Ergebnis gemeinsamen Sammelns bezogen, u. U. auch auf individuelle Nahrungsvorräte. Die Regelungen waren oft sehr differenziert, schon um Streit zu vermeiden. Mangels Eigentums fehl­ te es an einem ausgebildeten Vertragsrecht und Erbrecht. 130  Eine universell akzeptierte Erklärung für das familiäre (universell verbreitete) Inzesttabu gibt es jedoch nicht. Als wahrscheinlich und durch die Studien von J. Shepher (1983) in israelischen Kibbuzim gut gestützt gilt derzeit die Theorie, dass das Tabu genetisch nicht verankert ist, sondern dass das gemeinsame Aufwachsen in der­ selben Wohngemeinschaft sexuelle Kontakte unattraktiv macht. Allerdings bleibt dann die Frage offen: Warum ist das so? Eine biologische Erklärung hat daher m. E. nach wie vor sehr viel für sich. Vgl. dazu auch I. Eibl-Eibesfeldt (2004), S. 365 ff. 131  Ausgenommen waren lediglich Sachen, die eng mit der Persönlichkeit verbun­ den waren wie z. B. der Speer mit dem Manne oder der Schmuck mit der Frau. Die offene oder heimliche Wegnahme dieser Sachen wurde als Persönlichkeitsdelikt ange­ sehen und geahndet. Nach dem Tode wurden diese Sachen oft mit ins Grab gelegt. 132  Nach § 903 Satz 1 BGB besteht allerdings auch der Inhalt unseres Eigentums im ausschließlichen Recht zur Nutzung: „Der Eigentümer einer Sache kann … mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen.“ Der Unterschied besteht darin, dass das Nutzungsrecht der Wildbeuter endete, wenn kein Interesse mehr an einem Territorium oder einer Sache bestand, während das Ei­ gentum i. S. des § 903 BGB auch dann noch fortdauert. Am Beispiel verdeutlicht: Bei den Inuit musste derjenige, der eine Sache nicht mehr braucht, der Bitte eines ande­ ren entsprechen, sie ihm zum Gebrauch zu überlassen. Beschädigte dieser dann oder verlor er die Sache, hatte der ursprüngliche Nutzer keinen Anspruch auf Ersatz (K. Birket-Smith, 1929, p. 264 f.).

154

Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Dem werdenden Recht sind auf dieser Kulturstufe am ehesten gewisse Strafnormen zuzurechnen. Sie bildeten jedoch nirgends eine systematisch zusammenhängende Ordnung. Auch wurden sie nur flexibel angewandt. So wurde Aggressivität gegen Gruppenangehörige zwar überall als sozial stö­ rend empfunden, jedoch nur selten abgestraft – dann nämlich, wenn die Be­ strafung dem gemeinsamen Nutzen diente. Der Mord stand an der Spitze der eigentlichen Delikte, nicht nur weil er die größte soziale Beunruhigung er­ zeugte, sondern auch weil er die Verwandten des Ermordeten regelmäßig zur Blutrache verpflichtete. Als besonders schwerwiegend wurde ferner der Inzest zwischen nächstverwandten Personen empfunden. Weniger schwerwie­ gende Normverstöße – vielfach aufgrund eines Konflikts um Frauen (Bei­ spiel: Ju/‫׳‬Hoansi-Jäger in der Kalahariwüste), aber auch wegen eines Versto­ ßes gegen die Verteilungsgerechtigkeit oder die Reziprozität – wurden in in­ formellen Verfahren mit offenem Ausgang behandelt. An solchen Verfahren beteiligte sich regelmäßig die gesamte Gruppe, nicht so sehr um den Vorfall aufzuklären (den ohnehin fast alle kannten), sondern um über die ihn aus­ lösenden Faktoren zu beratschlagen. Im Allgemeinen endeten die Verfahren mit einer Versöhnung und ggf. einer Bußleistung des Beschuldigten bzw. seiner Familie an den oder die Ankläger. Wurde anschließend die Buße nicht geleistet, traten allerdings ernstere Sanktionen an ihre Stelle: Der für schul­ dig Befundene wurde dann nicht nur der allgemeinen Verachtung ausgesetzt und gemieden, sondern u. U. auch aus der Gruppe ausgestoßen. Dauerstreit dagegen führte meistens zum Auseinanderbrechen der Gruppe. Intern war das Sozialverhalten überall auf Verteilungsgerechtigkeit und Reziprozität ausgerichtet.133 Jene betraf hauptsächlich die gemeinsam erwor­ bene Nahrung und war durch die in der Gruppe vorherrschende Gleichheit gekennzeichnet; diese bestimmte insbesondere den Austausch von Waren (kalkulatorische Reziprozität) und von Gaben (emotionale Reziprozität), den Austausch von Mitgliedern unter den Gruppen (z. B. Frauentausch), die wechselseitige Unterstützung bei Streitigkeiten und die Vergeltung (z. B. als Blutrache, Spiegelstrafe oder Auferlegung einer Buße). Im Verhältnis zu an­

133  Die Reziprozität als „sozialpsychologische Grundlage allen Rechts“ entdeckt zu haben, ist das Verdienst von R. Thurnwald (1921). Zum universalen Sozialprinzip erhoben wurde sie von M. Mauss (1925/1996). B. Malinowski (1926) bezeichnete sie als „die innere Symmetrie aller sozialen Transaktionen“. Nach E. Voland (1997, S. 128 f.) wird sie von den Ergebnissen der Primatenforschung bestätigt. Sie hat „als Anpassungsproblem die soziale Evolution der Menschheit wesentlich mit vorange­ trieben, weshalb unsere Psyche adaptive Mechanismen hervorgebracht hat, dieses Problem bestmöglich zu lösen. Was immer an Emotionen und Affekten daraus resul­ tiert, kann in gewissem Sinne als biologisch gebahntes Rechtsgefühl aufgefasst wer­ den.“ Einzelheiten dazu noch unten H 2 c δ.



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts155

deren Horden verhielten sich die Horden teils kriegerisch, teils friedlich134 – was ich im Folgenden am Beispiel einerseits der Komantschen, andererseits der !Kung erläutern werde. Gründe für Feindseligkeiten waren Grenzübertre­ tungen, die Entführung von Frauen und Kindern und der Raub wertvollen Guts, aber auch die Absicht der jungen Männer, sich durch die Tötung von ‚Feinden‘ als mutige Kämpfer hervorzutun. Die Lebensweise der wenigen noch vorhandenen Wildbeutergruppen wurde einst vor allem durch Veränderungen der Umwelt bedroht.135 In der Neuzeit erzwangen dann zusätzlich kolonialisierende Europäer viele der Gruppen zum Rückzug in öko­ logische Nischen und zu entsprechenden Anpassungsleistungen.136 Das kann man aus ethnologischer Sicht bedauern. Doch ist ein tieferes Eindringen in das Innenleben unserer prähistorischen Vorfahren heute auch ohne diese Veränderungen kaum mög­ lich – so etwa in Bezug auf das Weltbild oder die Weltanschauung der Steinzeitmen­ schen, kaum mehr auf das Weltbild und die Weltanschauung der bronzezeitlichen Menschen (dazu unten H 2 c dd). Die folgenden Darstellungen der neuzeitlichen Komantschen und der !Kung dürfen also nicht vergessen machen, dass es diese Völ­ ker in der Frühantike entweder noch nicht gab (Komantschen) oder dass sie unter teilweise anderen ökologischen Bedingungen wahrscheinlich andere Sitten und Ge­ bräuche ausgebildet hatten (!Kung). Doch da nicht die Genese der Völker, sondern die ihres Rechts die Auswahl des vorliegenden Materials bestimmt, können Vorstufen des Rechts innerhalb neuzeitlicher indigener Völker mit einiger Berechtigung auch als Indiz für entsprechende Vorstufen innerhalb prähistorischer Völker gewertet wer­ den.

134  Die Frage, ob die Wildbeuterhorden einander bekriegten, ist seit Langem um­ stritten. Aufgrund einer neuen Untersuchung behaupten D. Fry/P. Söderberg (2013), dass kriegerische Auseinandersetzungen im frühen Altertum sehr selten gewesen seien, weil territoriale Konflikte aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte kaum auftreten konnten und es in egalitär ausgerichteten Gruppen auch an potenziellen Kriegstreibern gefehlt habe. Ihre Argumentation stützen sie auf die Zahl an Gewalt­ akten, die im Standard Cross-Cultural Sample (einer ethnologischen Sammlung von seit 1980 gewonnenen Erkenntnissen) dokumentiert sind. Kaum eine der Verletzun­ gen lasse sich eindeutig kriegerischen Unternehmungen zuordnen. Wissenschaftler dagegen, die das Schädelmaterial von Australopithecinen und Knochenverletzungen von Menschen aus der Alt- und Jungsteinzeit untersucht haben, stellten daran u. a. Pfeilverletzungen (z.  T. mit eingeheilten Pfeilspitzen) sowie Schädelverletzungen durch Steinäxte fest und kamen daher zu anderen Ergebnissen. Auch sind uns stein­ zeitliche Felsmalereien (u. a. aus der Valora-Schlucht) überliefert, die eindeutig auf Kämpfe zwischen verfeindeten Jägern hinweisen. Vgl. dazu (mit Belegen) I. EiblEibesfeldt (2004), S.  573 ff. 135  Sie mussten z. B. die Jagdtechnik in Nordamerika nach dem Aussterben des Mammuts auf die Jagd nach Kleintieren umstellen. 136  Dazu etwa J. Diamond (2012), S. 325.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

1. Zusatz: Die Komantschen als Beispiel einer kriegerischen Horde Die Komantschen137 sind ein Indianerstamm, der im 16. Jh. aus dem östli­ chen Wyoming in die Great Plains, die ausgedehnten Grasländer zwischen Mississippi/Missouri und den Rocky Mountains, einwanderte. Sein Ursprung ist ungewiss;138 über die Herkunft seines Namens besteht Streit (Coman­ ches = ‚Fremde‘, ‚Feinde‘?). Er selbst sah in den Rocky Mountains seine angestammte Heimat und bevorzugte für sich den Namen Numunuu (Ne­ mene), was von einem alten uto-aztekischen Dialekt abgeleitet ist und soviel wie ‚menschliches Wesen‘ oder ‚Volk‘ bedeutet. Tatsächlich hielt er sich – wie viele andere Völker auch – für das menschlichste aller Völker; Völker, die eine andere Sprache, andere Sitten und andere Tabus hatten, erschienen ihm als weniger menschlich. Trotz einem gewissen Zusammenhalt untereinander lebten die Komant­ schen verstreut in Horden.139 Ob sie sich jemals zu einem gemeinsamen Treffen zusammenfanden, ist ungewiss; selbst am Sonnentanz nahm stets nur ein Teil von ihnen teil. Da die Suche nach Nahrung ihr Leben beherrschte, wäre das Zusammenleben in größeren Gruppen eher schädlich gewesen; denn der Nahrungsvorrat, den die Natur ihnen bot, war knapp. Bevor sie mit den Spaniern in Berührung kamen, gingen die Männer mit Pfeil, Bogen und Speeren bewaffnet auf die Jagd – hauptsächlich nach Kaninchen, denn das Rotwild war ihnen zu flink, der Elch zu massig und der Bär zu gefährlich. Aller Nahrungssorgen ledig waren sie lediglich, wenn Bison- oder Büffelher­ den vorüberzogen. Dann erlegten sie so viele Tiere, wie sie verwerten konn­ ten, verschlangen das Fleisch und die Innereien, zerlegten die Häute, um Kleidung für die kalte Jahreszeit zu erhalten, und stellten aus Hörnern und Hufen Werkzeuge und sonstige Gerätschaften her. Da die meisten Komantschen mangels genügender Hygiene Krankheiten hatten und mangels ausreichenden Schutzes vor den Unbilden der kalten Winter früh starben, blieben ihre Familien auch ohne Geburtenkontrolle klein. Ihre Praktiken zur Heilung von Krankheiten hatten nur selten Erfolg, obwohl die wenigen Männer und Frauen, denen man medizinische Kennt­ 137  Vgl. zum Folgenden insbesondere E. A. Hoebel (1940); (1968), S. 163  ff.; J. H. Steward (1955), p. 101 ff.; Th. R. Fehrenbach (1992); Th. W. Kavanagh (1999), p.  28 ff.; ferner H. Hartmann (1979); R. Wood et al. (1980). 138  Der Stamm gehörte ursprünglich dem der Schoschonen an, von dem er sich jedoch kurz vor 1700 trennte. Als sicher gilt, dass dieser Stamm aus Asien nach Nordamerika eingewandert war. 139  So wohl der ältere soziale Zustand. Mitte des 19. Jh.s hatten sich die meisten kleineren Horden dann in 5 bis 13 größeren Horden (composite bands) zusammenge­ schlossen (vgl. E. A. Hoebel, 1940; die Schätzungen der Ethnologen fallen unter­ schiedlich aus).



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts157

nisse zuschrieb, bei ihnen in hohen Ehren standen. Unheilbar Kranke und Alte wurden aus der Horde entfernt, sofern sie es nicht vorzogen, Selbstmord zu begehen. Missgeburten wurden getötet, ebenso Zwillinge, die als widerna­ türlich galten. Mädchen wurden während einer Hungerperiode ausgesetzt. Der Tod eines jungen Mannes dagegen wurde von seinen Angehörigen mit Wehgeschrei und anhaltendem Kummer beklagt, weil er oft den Hunger oder gar den Tod auch seiner Familie bedeutete, der der Ernährer fehlte. Deshalb wurde in einigen Verbänden einem toten Mann die Frau sogleich nachgeschickt,140 während die Kinder oder wenigstens die Söhne von ande­ ren Familien adoptiert wurden. Eine andere als die geschlechtliche Arbeitsteilung kannten die Komant­ schen nicht. Jagd und Waffenherstellung waren Männersache. Sache der Frauen war es, durch Sammeln von Früchten und von Pflanzen, die sie als genießbar kannten, zur Ernährung beizutragen sowie nahezu alle Arbeiten zu verrichten, die nicht mit der Jagd zusammenhingen: die Camps aufzubauen, die Kinder zu hüten, die Tiere zu enthäuten und auszunehmen, zu kochen u.dgl.m. Die Sozialordnung einer Horde war einfach. Die Familien wohnten ge­ trennt in kegelförmigen Stangenzelten (tipi), die sie bei einem Ortswechsel mitnahmen. Die Familienoberhäupter standen einander gleich und konnten grundsätzlich tun und lassen, was sie wollten. Nichtsdestoweniger kooperier­ ten sie miteinander und halfen sich, wenn ‚Not am Mann‘ war. Stellte sich einer von ihnen zu weit außerhalb der Gesellschaft, dann verlor er an Ach­ tung. Tat er sich dagegen durch Klugheit oder kühne Taten hervor, gewann er an Ansehen. Und bewies er darüber hinaus gesunden Menschenverstand im Umgang mit anderen, Einfühlungsvermögen in den Geist der Gemeinschaft und die Fähigkeit, mittels seiner Rede andere von seinen Ansichten zu über­ zeugen, dann konnte er zum Friedenshäuptling (peace chief) gewählt zu werden. Seine Aufgabe war es dann, die Horde zusammenzuhalten, über ihr Weiterziehen zu entscheiden, Streitigkeiten zu schlichten, Zeit und Ort der Jagd zu bestimmen, den gemeinsamen Rat zu leiten, den Krieg gegen andere Horden vorzubereiten und die dafür notwendigen Allianzen zu schmieden. Tat er sich stattdessen durch Tapferkeit im Kampf mit verfeindeten Stämmen und weißen Farmern hervor, dann konnte er die Stellung eines Kriegshäupt­ lings (war chief) erlangen. Er organisierte dann die Kriegszüge, führte sie an und durfte mit dem Gehorsam aller Beteiligten rechnen, weil es im Feindes­ land darauf ankam, dass die Truppe ‚wie ein Mann‘ handelte. Nach Abschluss eines jeden Feldzugs endete allerdings seine Autorität; er trat ins Glied zu­ 140  Diese Sitte war auch bei anderen Völkern verbreitet. Sie hielt sich am längsten in Indien – nämlich bis die englische Regierung 1829 dagegen einschritt.

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rück, bis möglicherweise ein neuer Feldzug geplant war und er erneut zum Anführer gewählt wurde. Der Krieg war ein wesentlicher Bestandteil im Leben der Komantschen. Ihre ge­ fürchteten Überfälle, die sie über Mexiko hinaus bis nach Mesoamerika führten, fanden gewöhnlich während der Vollmondnächte statt. Ziel war das Erbeuten von Waffen und Gefangenen, später auch von Pferden,141 oder einfach die Verbreitung von Terror. Dies gelang ihnen, weil jedermann danach lechzte, Ruhm und Beute zu erwerben. Insbesondere die jungen Männer versuchten, einander um des Prestigege­ winns mit nahezu unvorstellbaren Gräueltaten zu übertreffen. Sie töteten ihre Feinde nicht nur und brannten ihr Lager nieder, sondern sie schändeten auch noch ihre Lei­ chen, sofern Zeit dafür blieb, um ihnen den Eingang in die Ewigkeit zu versperren, vergewaltigten die Frauen und entführten die Kinder. Außerhalb von Kriegen gab es Führerschaft nur bei gemeinsamen Jagden. Dann übernahmen erfahrene Männer die Vorbereitung und Leitung, bestimmten Zeit und Ort, ordneten die Aufstellung der Netze für den Fang von Kaninchen und gaben die nötigen Instruktionen an die Treiber.

Die Normen der Komantschen waren vor allem überkommene Sitten. Diese mussten streng eingehalten werden; denn wer sie verletzte, erzürnte die dämonischen Mächte, die über sie wachten. Infolgedessen waren sie star­ rer, als jeder Rechtskodex es gewesen wäre. Zu den prärechtlichen Normen kann man im Wesentlichen den Schutz der familiären und von gewissen sächlichen Beziehungen rechnen. Die Familie war ein (‚patrilinearer‘) Ver­ band der in väterlicher Linie voneinander Abstammenden sowie der Ge­ schwister. Rechte standen darin lediglich den Männern zu, während die Frauen nur zu gehorchen hatten. Ehemänner durften ihre Frauen beliebig misshandeln und sogar töten, ohne dass deren Sippe eingriff oder Rechen­ schaft forderte; allenfalls zogen die Männer sich die Missbilligung ihres so­ zialen Umfelds zu. Verwandtschaftsgrade bestimmten sich nach der Erinne­ rung, die allerdings oft nicht sehr weit zurück reichte. Geheiratet wurde meistens innerhalb der Horde – ohne Zeremonie, einfach indem man mitein­ ander schlief. Der Besitz mehrerer Frauen war zwar nicht verboten, aber ungewöhnlich, weil der Mann gleichzeitig Versorgungspflichten auch gegen­ über seinen Schwiegereltern übernahm und eine Vielzahl davon seine Kräfte überfordert hätte. Tabuisiert war der Inzest zwischen Eltern und Kindern so­ wie zwischen Geschwistern. Frauen, die das Tabu brachen, wurden aus­ nahmslos getötet. Dagegen waren Ehen zwischen Vettern und Basen häufig. Ebenfalls häufig waren sogen. Leviratsehen;142 denn sie bewahrten die Witwe des kinderlos verstorbenen Mannes vor Elend oder Tod. Vorsorglich teilten sich daher manchmal die Brüder von vornherein ihre Frauen (‚antezipatori­ 141  Seit die Komantschen im 16. Jh. von den Spaniern Pferde erbeutet hatten, wa­ ren sie glänzende Reiter. 142  Levir = Schwager. Dazu noch näher unten F 3 β und G 4 c γ.



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts159

sches Levirat‘). Der Ehebruch einer Frau wurde streng bestraft, meist indem der Mann ihr die Nase abschnitt oder, falls sie sehr hübsch war, ihr eine Tracht Prügel verabreichte. Gegen den Ehebrecher ging der Mann dagegen nur selten ernsthaft vor, weil es unter seiner Würde war, wegen einer Weiber­ geschichte Blut zu vergießen. Allenfalls verlangte er eine Buße.143 Innerhalb der Horde wurde der Ehebrecher dagegen moralischer Schande ausgesetzt. Eigentum gab es weder als Stammes- noch als Individualeigentum. Es gab lediglich ausschließliche Nutzungsrechte, die entweder durch geleistete Ar­ beit, z. B. durch Einsammeln von Früchten, oder durch ständigen Gebrauch begründet wurden. Wer früher mit der Arbeit des Einsammelns begann, hatte das bessere Recht; wer später kam, musste sich ein anderes Gebiet suchen, weil andernfalls die Ernte für beide Familien zu gering ausgefallen wäre. Wer ein Wild erjagte, dem gehörte es, gleichgültig ob er es erschlagen oder erschossen hatte oder ob es ihm ins das Netz gegangen war. Jagten mehrere gemeinsam, hatte derjenige Anspruch auf das Fell und die Auswahl des Fleisches, dessen Pfeil zuerst traf. Dauernde Nutzungsrechte standen ausschließlich den Männern zu – das wichtigste bestand an seinem Lieblingspferd, dessen Raub oder Tötung der eines menschlichen Angehörigen, etwa der Frau, gleich geachtet wurde.

Wie das Vertrags- und Sachenrecht war auch das Strafrecht der Komant­ schen unausgebildet. Immerhin – Mord, Vergewaltigung und Diebstahl ge­ genüber einem Stammesgenossen beleidigten den gesamten Stamm und wurden geahndet, freilich ohne dass es dafür feste Sätze gab. Lediglich bei Mord galt das ius talionis: Die nächsten Anverwandten hatten das Recht und die Pflicht, den Mörder zu jagen und ihn zu töten. Die Familie des Mörders mischte sich nicht ein, weshalb es auch nicht zu dauernden Blutfehden kam.144 2. Zusatz: Die !Kung als Beispiel einer friedlichen Horde Die !Kung145 lebten – und leben heute noch – in der Kalahari-Wüste im Süden Afrikas, genauer im Dobegebiet im Nordwesten von Botswana.146 Es heißt, ihre ursprüngliche paläolithische Kultur habe sich bis heute erhalten;

143  A.

Uhde (1861), S. 172. Hoebel (1968), S. 174. 145  Das „!“ bezeichnet einen Schnalzlaut, der durch einen Buchstaben nicht reprä­ sentiert werden kann. 146  Zum Folgenden vor allem R. B. Lee (1979); ferner M. Gusinde (1966); P. Wiessner (1977), G. Silberbauer (1981); sowie der Sammelband von R. B. Lee/ I. DeVore (1976). Vgl. ferner I. Eibl-Eibesfeldt (1972), S. 160 ff. 144  E. A.

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bedroht wird sie inzwischen aber von den benachbarten Bantus147 sowie von den eingewanderten Europäern.148 Die !Kung waren in Stämmen organisiert, lebten aber in kleinen Camps zu insgesamt 9 bis 30 Personen. Eine irgendwie geartete Regierung kannten sie nicht. Sie waren freie Leute, die keinerlei Unterordnung unter Institutionen außer ihrem Brauchtum und ihren Sitten kannten. Ihre Familien standen ein­ ander gleich, innerhalb der Familien waren Mann und Frau im Wesentlichen gleichberechtigt. Wenn einzelne Personen vor den übrigen herausragten, dann aufgrund ihrer besonderen Kenntnisse oder Fähigkeiten. Auf diese Weise gab es regelmäßig Lagerautoritäten, die eine große eigene Familie hatten, sich mit anderen Familien gut verstanden und überdies geschickte Vermittler waren, falls es zum Streit kam. Am wichtigsten aber war, dass sie das heilige Feuer zu hüten hatten, das an jene Tage erinnerte, als die Götter es vom Himmel schickten und den Menschen aufgaben, auf ewig darüber zu wachen. In der Trockenzeit scharten sich die !Kung – oft zusammen mit anderen Gruppen – um ein Wasserloch, das sie mit dem lebensnotwendigen Nass versorgte.149 Außerhalb der Trockenzeit zogen sie dagegen frei umher auf der Suche nach jagdbarem Wild und nach pflanzlicher Nahrung.150 Aufgabe der Männer war die Jagd. Die für Raubtiere, Giraffen, Stachelschweine und An­ tilopen benötigten Waffen – mit vergifteten Knochen- oder Steinspitzen ver­ sehene Pfeile, Wurfspieße und -keulen – stellten sie selber her; Kleintiere fingen sie in Fallen oder Schlingen. Das Fleisch der erbeuteten Tiere zerleg­ ten sie und bereiteten es zu. Aufgabe der Frauen war der gemeinsame Bau von Hütten, ferner das Sammeln und Verarbeiten von Melonen, Orangen, Beeren und Wurzeln. Vor allem aber hatten sie die Kinder zu betreuen, von denen man etwa ab dem 15. Lebensjahr ebenfalls einen Beitrag zum Fami­ 147  Zur Ausbreitung der Landwirtschaft betreibenden, kriegerisch ihren Nachbar­ völkern überlegenen Bantu-Völker im südäquatorialen Afrika vgl. J. Diamond (2002), S.  468 f., 489 ff. 148  Auch die aus den USA von der Harvard-Universität kommenden Forscher ­haben das Leben der !Kung verändert. Lee und andere haben diese Veränderungen in ihren Studien dokumentiert und dabei eine rasche Veränderung von der nomadischen zur sesshaften Lebensweise registriert. Vgl. zur „großen Wildbeuter-Debatte“ C. Ph. Kottak (2002), p. 246 f. 149  Diese Lebensweise nahmen sie freilich erst an, seit sie aus den wirtlicheren Gegenden Südafrikas verdrängt wurden. 150  Ihre Kenntnisse von den Eigenheiten des Wildes hat Beobachter immer wieder tief beeindruckt. N. Blurton-Jones/M. J. Konner schreiben (1976, p. 334): „The sheer volume of knowledge is overwhelming. … The accuracy of observation, the patience, and the experience of wildlife they have had, and appreciate are enviable. The sheer, elegant logic of deduction from tracks would satiate the most avid crossword fan or reader of detective stories.“



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lienunterhalt erwartete: Die Jungen hatten sich der Jagdgesellschaft anzu­ schließen, die Mädchen sich am Sammeln zu beteiligen. Alte Leute genossen aufgrund ihrer Erfahrung in der Gruppe hohes Ansehen und wurden nach Kräften miternährt. Gleichwohl wurden sie beim Weiterziehen oft zurückge­ lassen, wenn die Nahrungssituation kritisch und das Überleben der Jüngeren gefährdet waren. Vielfach wurden in solchen Notsituationen auch neugebo­ rene Kinder von ihrer Mutter nicht ‚aufgenommen‘ – was dann kein Kinder­ mord war, denn zuvor waren sie nach der Auffassung der !Kung noch keine richtigen (d. h. in die soziale Gemeinschaft integrierten) Menschen. Eine Rechtsordnung kannten die !Kung nicht – dazu waren ihre Gruppen viel zu klein. Was zu regeln war, geschah durch Brauchtum und Sitte. Die allerdings waren ziemlich flexibel, weshalb die Trennlinie zwischen den ein­ zelnen Gruppen durchlässig war und durch Ehen, aber auch durch wechsel­ seitige Besuche und den Austausch von Gaben betont durchlässig gehalten wurde. Die Ehen waren monogam; sie wurden entweder von Verwandten oder Freunden durch Austausch zwischen den Gruppen desselben Stammes ver­ mittelt oder kamen direkt auf Wunsch der Partner zustande, einfach indem man in dieselbe Hütte zog und Kinder zeugte. Ob dabei die Frau in das Camp des Mannes wechselte oder der Mann in das Camp der Frau, war Verhandlungssache.151 Merkte man, dass man sich auf Dauer nicht vertrug, trennte man sich ohne viel Aufhebens wieder und verband sich mit einem anderen Partner. Witwen konnten von geschickten Jägern als zusätzliche Frauen angenommen werden. Eigentum kannten die !Kung als gemeinsames Nutzungsrecht am Wasser­ loch, um das sie sich scharten, sowie an der umliegenden Region, die sie außerhalb der Trockenzeit als Jagd- und Sammelrevier durchstreiften. Andere Gruppen oder Personen mussten ihre Zustimmung einholen, wenn sie das Wasserloch ebenfalls nutzen oder das umliegende Revier betreten wollten. Eigentum als individuelles Nutzungsrecht gab es am erjagten Wild und an den gesammelten Wurzeln und Früchten. Wurde, wie üblich, gemeinsam gejagt und gesammelt, dann hatte das Nutzungsrecht am erlegten Tier primär derjenige Mann, dessen Pfeil es als erster traf, das Nutzungsrecht an den Wurzeln und Beeren primär diejenige Frau, die es in ihren Korb tat. Doch teilten sowohl die Teilnehmer an der Jagd die erlegte Beute als auch nach Abschluss der Sammlung die Frauen das von ihnen eingesammelte Gut. Da­ bei achtete man streng auf Gerechtigkeit, denn es sollten weder Zank noch Neid entstehen. Allerdings ließ die Gerechtigkeit auch zu, dass man bei der Teilung Verwandtschaftsbeziehungen berücksichtigte, Freundschaften be­ 151  L.

Marshall (1976), p.  156 ff.

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stärkte oder knüpfte und neue Gruppen mit einbezog. Hatte man mehr er­ langt, als man verbrauchen konnte oder konservieren wollte, und bestand die Gefahr, dass der Rest verdarb, lud man fremde Gruppen sogar förmlich ein, am Verzehr teilzunehmen. Auch dadurch stärkte man den Zusammenhalt und verhinderte künftige Feindschaft. Bereits die Wichtigkeit, die sie dem Teilen zumaßen, zeigt, wie sehr den Buschleuten die Bewahrung des friedlichen Zusammenlebens am Herzen lag.152 Gleichwohl nahmen Konflikte regelmäßig zu, wenn mehrere Gruppen während der Trockenzeit dicht gedrängt um dasselbe Wasserloch herum wohnten und Nahrung und Wasser zusehends knapper wurden. Eine räumli­ che Trennung der Gruppen schied in dieser Zeit aus; die Konflikte mussten also an Ort und Stelle bereinigt werden. Kathartische Wirkung besaßen in solchen Fällen die gemeinsamen Tänze, bei denen sich die Teilnehmer durch rhythmische Bewegungen und Gesänge in Trance versetzten, bis ihnen am Ende die Welt harmonischer vorkam als zuvor. Nützte dies nicht oder er­ schien es von vornherein aussichtslos, dann wurden die streitenden Parteien zunächst von Unbeteiligten getrennt, beruhigt und zum Schweigen gebracht, damit man anschließend ihren Streit in einem öffentlichen Verfahren verhan­ deln und schlichten konnte. An diesem Verfahren konnten grundsätzlich alle teilnehmen; doch gab es traditionell in jeder Gruppe Personen, die sich auf­ grund ihrer natürlichen Autorität für die Schlichtung besonders eigneten und die daher die Meinungsführerschaft übernahmen, während die übrigen sich darauf beschränkten, durch Zurufe, Beifalls- oder Missfallensäußerungen die allgemeine Stimmung zum Ausdruck zu bringen. Gelang die Schlichtung, dann vereinigten sich alle abschließend zu einem gemeinsamen Tanz. Miss­ lang sie, dann blieb nichts übrig als Aufspaltung und Trennung. Eine Ent­ scheidungsgewalt gab es nicht; deshalb redete man miteinander, bis eine Ei­ nigung erreicht war – notfalls stundenlang, die Folgen eines Misslingens ständig vor Augen. b) Die Rechtsentwicklung innerhalb von Stammesgesellschaften Die historisch zweite Stufe sozialer Gruppenbildung war das Zusammen­ wohnen in Stämmen. Diese umfassten feste Siedlungen, ihre Bewohner be­ trieben in aller Regel Landwirtschaft und Gartenbau. Gegenüber den noma­ disierenden Horden der Wildbeuter waren sesshafte Stämme seit etwa 12.000 Jahren in der Mehrheit.153 152  Siehe auch I. Eibl-Eibesfeldt (1972), S. 188: Buschleute „sind den Tag über viele Stunden damit befasst, freundliche Kontakte zu pflegen.“ 153  Hinweise auf vereinzelte sesshafte Phasen gibt es bereits für die Zeit ab ca. 15.000 v.  u.  Z. Fundamente für feste Hütten wurden offenbar schon ca. 20.000



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Das Gebiet, in dem die Entwicklung zur sesshaften Lebensweise begann, war der Nahe Osten: Südanatolien, Palästina, das Jordangebiet und das Zagrosgebirge (Irak/ Iran).154 Was genau sich dort ereignete, wie die ersten Siedler lebten, wie sie mitein­ ander umgingen, wie sich ihre Außenbeziehungen gestalteten, all das wissen wir nicht. Wir können ihren Lebensstil und ihre sozialen Beziehungen nur aufgrund von Beobachtungen jener rezenten Pflanzer- und Viehhaltergesellschaften rekonstruieren, die noch heute ohne hierarchische Struktur in Teilen Afrikas, Amerikas und der Süd­ see siedeln. Vieles spricht dafür, dass die archaischen Verhältnisse den ihren glichen; Genaues wissen wir nicht. Auch über die Gründe für den Übergang zur Sesshaftigkeit ist uns relativ wenig bekannt. Eine neuere Theorie155 nimmt an, dass die Wildbeuter ihr freies Leben nicht etwa deshalb aufgaben, weil sie in festen Behausungen komfortabler und insbesonde­ re ungefährdeter leben und sich trotz weniger Arbeit besser ernähren und kleiden konnten. Vielmehr sei es die Not einer ständigen Bevölkerungsvermehrung gewesen, die sie durch eine rein aneignende Ökonomie nicht mehr bewältigen konnten. Hatte bisher die Möglichkeit bestanden, dass eine zu groß gewordene Horde sich teilte und man getrennte Wege ging, gab es ab etwa 30.000 v. u. Z. diese Möglichkeit immer weniger, weil weite Teile der Erde mit Horden angefüllt waren, die sich kaum noch ausweichen konnten. Schwächere Horden mussten daher in ungünstigere Regionen abwandern, stärkere konnten die fruchtbaren Gebiete an den Flüssen und an den Küs­ ten der Meere besetzen. Und da es leichter war, ein einmal eingenommenes Territori­ um gegen Konkurrenten zu verteidigen, kam es von nun an eher zu Zusammenschlüs­ sen statt zu Teilungen von Horden. Als allerdings immer mehr Menschen sich in im­ mer größeren Siedlungsgemeinschaften zusammenschlossen und ihr Nahrungsver­ bauch entsprechend stieg, mussten sie – nach einer Übergangsphase des Sammelns und Bevorratens von Grassamen (‚Erntewirtschaft‘) – mit der Nahrungsproduktion durch Ackerbau sowie mit der Domestizierung von Nutztieren beginnen, die ihnen Hilfe bei schwerer Arbeit leisten sowie als Milch- und Fleischlieferanten verwendet werden konnten.156

Die neuen Stammesgesellschaften – tribal societies in der Terminologie von Sahlins und Service – bestanden typischerweise aus mehreren Siedlungs­ gemeinschaften auf benachbarten Territorien. Da die meisten von ihnen aus Hordenteilungen und anschließenden Verbindungen hervorgegangen waren und Grund hierfür vor allem der ständige Mitgliederzuwachs infolge hoher Jahre v. u. Z. gelegt. Die am besten erhaltene Häusergruppe, die auf ein Dorfleben hindeutet, stammt aus Ain Mallaha am Ufer des (heute ausgetrockneten) Hule-Sees in Israel und wurde um 12.000 v. u. Z. erbaut. 154  Warum die Entwicklung gerade dort begann, ist strittig. Nach h. M. haben die günstigen Zuchtbedingungen für Getreide, insbesondere Weizen und Gerste, den Aus­ schlag gegeben. Doch auch in China hat sich die Landwirtschaft wenig später durch­ gesetzt, obgleich dort die Bedingungen dafür ungünstiger waren. 155  E. Boserup (1965); R. B. Lee/I. DeVore (1968); M. Sahlins (1974); F. Hassan (1975); M. N. Cohen (1977); M. Harris (1989). 156  Vgl. dazu den Sammelband von G. Burenhult (2000) und ferner noch unten J 5 d α.

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Geburtenzahl war, spielten verwandtschaftliche Bande auch bei der Zusam­ mensetzung der Siedlungsgemeinschaften eine hervorragende Rolle: Sie be­ standen je nach sozialer Tradition aus Blutsverwandten des Vaters (‚Patriline­ arität‘) oder der Mutter (‚Matrilinearität‘) oder beider Linien (‚kognatische‘ Verwandtschaft), waren also begrenzt auf bestimmte lineages innerhalb von Sippen und Clans.157 Allerdings siedelten manchmal auf demselben Territo­ rium auch verwandtschaftlich nicht verbundene Familien. Dann bildete das Dorf eine weitere soziale Einheit innerhalb des Stammes. Der Stamm selbst, d. h. die Gesamtheit aller Clans und Dörfer, war zunächst keine weitere Ein­ heit höherer Ordnung, sondern lediglich die Und-Menge sozialer ‚Segmente‘.158 Sein Zusammenhalt wurde vor allem durch Heiraten herge­ stellt. Denn während innerhalb desselben Clans Heiraten verboten waren, waren sie innerhalb des Stammes erwünscht und wurden durch Absprachen zwischen den Oberhäuptern der Clans gefördert. Jede Frau, die durch Heirat in einen anderen Clan wechselte, war ein Verbindungsglied zu dem sonst fremden Clan und stärkte dadurch die Einheit des Clanverbandes, also des­ sen Zusammenhalt im ‚Stamm‘. Obwohl aus der Not geboren, gilt die sesshafte bäuerliche Lebensweise uns heute als kultureller Fortschritt. Sie war es jedenfalls insofern, als Ackerbau und Viehhaltung ein Mehr an organisatorischer Planung und Tech­ nik verlangten: für den Ackerbau entsprechend den Bedürfnissen und Eigen­ heiten des Bodens, für die Weidewirtschaft entsprechend den Bedürfnissen und Eigenheiten der Tiere.159 Wo immer Ackerbau und Viehhaltung möglich waren, haben die Menschen daher hierfür eine spezielle Begabung entwi­ ckeln müssen. 157  Zu lineages vgl. unten Fn. 249. Die Begriffe ‚Sippe‘ und ‚Clan‘ werden im Folgenden so gebraucht, dass sie sich durch die Zahl der Geburten in gerader Linie voneinander unterscheiden: Innerhalb eines Clans führten zehn bis zwölf Geburten auf die gemeinsamen Ahnen zurück, innerhalb der Sippe waren es nur drei bis fünf. Die Einheit der Sippe war deshalb deutlicher ausgeprägt als die des Clans: Sie stand den Mitgliedern teils aufgrund eigenen Erlebens, teils aufgrund von Erzählungen der Alten als Generationenfolge vor Augen, während die Einheit des Clans sich meistens in sagenhafte Zeiten verlor und eher eine religiöse denn eine lebendige Bedeutung besaß. 158  Bei den ‚Segmenten‘ handelt es sich also nicht um logische, sondern um phy­ sische Einheiten innerhalb eines Volkes, nicht um die Untereinheiten eines hierar­ chisch aufgebauten Gebildes, sondern um die Zweige eines großen Baumes (vgl. Ch. R. Hallpike, 1984, S. 254 ff.). 159  Die Ethnologen unterscheiden heute vier Arten von Ackerbaukultur: (1) das primitive Pflanzertum; (2) den Körnerbau mit Großviehhaltung; (3) den Körnerbau mit Düngewirtschaft, Terrassenanlangen und künstlicher Bewässerung; (4) den Pflug­ bau. Da die sozialen Verhältnisse im Wesentlichen homogen blieben, spielt ihre Un­ terscheidung vorliegend keine beachtenswerte Rolle.



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Ihr kultureller Fortschritt auf der einen Seite brachte den Menschen auf der anderen Seite allerdings soziale Probleme, die sich nicht nur verschärf­ ten, wenn der Boden schlecht war und geringen Ertrag erbrachte, sondern auch wenn er gut war und eine intensive Bebauung ermöglichte. Dann konnte er zwar auf engem Raum eine größere Zahl von Menschen als bisher ernäh­ ren, begünstigte aber auch eine hohe Vermehrungsrate. Größere Familien brauchten dann größere Behausungen, die man nur in Gemeinschaftsarbeit errichten konnte, und sie brauchten größere Viehherden, die von denen der übrigen Familien abgegrenzt und nach außen gegen Raubtiere abgesichert werden mussten. Der zu bearbeitende Boden musste überdies von Generation zu Generation neu aufgeteilt, die Bestellung und die Einbringung der Früchte neu organisiert werden. Ferner waren jederzeit, insbesondere aber während der Erntezeit, feindliche Überfälle zu gewärtigen; auch hiergegen musste man Vorsorge treffen und sich bewaffnen.160 Die genannten Erfordernisse hatten zur Folge, dass sich über der Sozial­ struktur der Familien eine weitere, kongruente Struktur ausbildete: dass nicht nur jede Familie ein Oberhaupt hatte, sondern künftig auch jede Sippe und jeder Clan. Meistens kam dann dem ältesten Mann diese Vorrangstellung zu, doch manchmal hatte auch ein jüngerer sie inne, weil das seltenere Wechsel erforderte. Für den Jüngeren lag darin die große Chance seines Lebens; denn wenn er sich als Oberhaupt bewährte, erlangte er trotz seiner Jugend nicht nur ein höheres Ansehen, sondern auch eine gewisse Machtfülle. Innerhalb eines Dorfes konnte er dann beispielsweise die Funktion eines Bürgermeis­ ters (Dorfschulzen) ausüben und im Stammesrat auch für diejenigen Clans sprechen, denen er nicht angehörte. Ein solcher Stammesrat war nötig geworden, weil zwischen den Sippen und Clans zwar grundsätzlich dieselbe Gleichheit bestand wie zwischen den Familien, es jedoch erheblich stärkere Größenunterschiede gab und naturgemäß größere Clans innerhalb des Stammes ein stärkeres Gewicht als kleinere beanspruchten. Weitere Unterschiede ergaben sich aus dem Alter der Clans: Die älteren hatten regelmäßig ein höheres Ansehen als die jüngeren, das sich dann auch ihren Oberhäuptern mitteilte. Umso wichtiger war es daher für jeden Clan, im Stammesrat einen durchsetzungsstarken, wortgewaltigen Vertreter zu haben, der bei entscheidenden Abstimmungen die ande­ ren Clanoberhäupter mitzuziehen verstand. Allerdings hatte es mit den genannten Rangunterschieden dann auch sein Bewenden. Sofern sonst einem Oberhaupt eine herausgehobene Stellung zukam, etwa wegen besonders hohen Alters oder einer be­

160  Weniger dringlich waren diese Probleme lediglich in Gesellschaften, die den Boden vorwiegend extensiv bebauten. Sie zogen nach Erschöpfung des Bodens wei­ ter, näherten sich also dem Lebensstil von Wildbeutern an. Auch bildeten sie keine Gruppen, die so groß waren, dass sie ihre sozialen Probleme nicht ähnlich den Wild­ beutern lösen konnten.

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sonderen Fähigkeit, blieb er darauf beschränkt, sie ausgleichend, etwa zur Vermittlung bei einem Streit zwischen den Gruppen, zu verwenden.161

Die Entwicklung von Recht wurde vor allem durch die zunehmende Un­ übersichtlichkeit der sozialen Beziehungen vorangetrieben: dadurch, dass die Gesamtheit des Stammes, je größer er wurde, desto mehr zum Abstraktum verblasste und die persönliche Verbundenheit aller innerhalb des Stammes ihre natürliche Basis im Gefühl der Solidarität verlor. Den Platz der Stam­ messitten mussten daher Normen einnehmen, die statt auf dem Solidaritäts­ gefühl auf der Autorität höherer Wesen beruhten: nicht mehr auf der Autorität der allen persönlich vertrauten Ahnengeister, sondern der wesentlich abstrak­ teren Götter, die ursprünglich die Personifikationen von Naturgesetzen wa­ ren, nunmehr aber zu Garanten der Stammesgesetze wurden. Träger von subjektiven Berechtigungen und Verpflichtungen, die sich im­ mer deutlicher herausbildeten, blieben allerdings primär die Verwandtschafts­ gruppen. Dass für sie das Eigentum an Bedeutung gewann, versteht sich bei Pflanzer- und Viehhaltergesellschaften von selbst; denn der bewirtschaftete Grund und Boden bzw. die eigene Herde bildeten nunmehr die Lebensgrund­ lage jeder Familie. Die Berechtigung zur Veräußerung dieses Eigentums war denn auch überall beschränkt: In patrilinearen Gesellschaften (die zumeist Viehzucht und Ackerbau mit dem Pflug betrieben) stand dem Veräußerungs­ recht des Vaters das Recht der Söhne auf die Zuteilung von Land oder Vieh entgegen, sobald sie erwachsen waren und eine Familie gründen wollten. In matrilinearen Gesellschaften (die zumeist Garten- und Hackbau betrieben) galten entsprechende Beschränkungen gegenüber den Frauen, die ihr Eigen­ tum am Land an ihre Töchter weitergeben mussten, sobald diese heirateten. In Gesellschaften mit kognatischer Verwandtschaftsstruktur, in denen die Frauen regelmäßig eine gleichberechtigte Rolle spielten, hatten neben den Söhnen auch die Töchter Ansprüche gegenüber ihren Eltern, doch wurden bei der Verteilung des Landes regelmäßig die Söhne bevorzugt, während die Töchter mit Teilen des Viehbestandes abgefunden wurden. Innerhalb der Familien war das Verfügungsrecht über das Eigentum jeweils be­ darfsgerecht aufgeteilt: Was Lebensgrundlage war, stand der ganzen Familie zu und 161  Waren Clans nicht in einen Stamm integriert, etwa weil die gestaltenden Kräfte der Umwelt keinen Anlass dafür boten, gab es zwischen ihnen keinerlei Rangunter­ schiede. Beispielsweise waren die Oberhäupter der vier Clans auf Tikopia, einer klei­ nen Insel im Pazifischen Ozean, einander völlig gleichgestellt. Die Clans selber be­ standen aus mehreren patrilinearen Sippen mit je einem Oberhaupt, die in einem Rangverhältnis zueinander standen: Diejenige Sippe, von der man annahm, dass sie die älteste sei und dass die anderen aus ihr entsprungen seien, war die edelste und stellte den Chef des Clans. Doch endete damit die Rangordnung; keiner der Clans war den anderen gegenüber dominant. Vgl. näher R. Firth (1936); P. V. Kirch/D. E. Yen (1982).



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts167

konnte, wenn überhaupt, nur mit Zustimmung aller veräußert werden. Was Gegen­ stand des persönlichen Bedarfs war, etwa Kleidung oder Schmuck, stand im indivi­ duellen Eigentum; damit konnte jeder nach Belieben verfahren.

Weil innerhalb von Pflanzer- und Viehhaltergesellschaften die Bedeutung der Arbeit ständig wuchs, gewann auch die Reziprozität ein immer stärkeres Gewicht. Sie erstreckte sich jetzt nicht nur auf den Austausch von Leistun­ gen, sondern auch auf den Austausch von Arbeitskräften, die diese Leistun­ gen erbrachten. Deshalb wurde die Heirat in patrilinearen Gesellschaften regelmäßig mit der Zahlung eines Brautpreises verbunden, wenn anschlie­ ßend die Frau ihren Clan verließ und ihrem Manne folgte, um in seinem Clan nicht nur selbst als Arbeitskraft zur Verfügung zu stehen, sondern auch durch die Geburt von Nachkommen für Kontinuität im Kräftevorrat zu sor­ gen.162 Wurde in matrilinearen Gesellschaften dagegen der Mann Mitglied des Clans der Frau, dann musste dem Clan des Mannes regelmäßig ein Ar­ beiter zugeführt werden, beispielsweise in Gestalt des ersten von ihm ge­ zeugten Sohnes oder eines in entgegengesetzter Richtung heiratenden Man­ nes. Familiär sehen wir jetzt in patrilinearen Viehhalter- sowie in Hackbaugesellschaf­ ten die Polygynie verbreitet. Grund dafür war, dass mehrere Frauen für eine größere Zahl von Kindern und diese zur Bildung von Eigentum nützlich waren. Denn jedes Kind erhöhte das Arbeitspotential, das dem Mann zur Verfügung stand – in Viehhal­ terkulturen zum Hüten der Herden, in Hackbaukulturen zur Bestellung der Felder und zur Einbringung der Ernte. Gebremst wurde der Erwerb von Frauen allerdings durch die Verpflichtung, für jede einen Brautpreis zu zahlen. Die jungen Männer besaßen dafür im Allgemeinen zu wenig Kapital, und ihre Verwandtschaft war zwar bereit, sie bei der Beschaffung der ersten Frau zu unterstützen, nicht aber beim Erwerb weiterer Frauen. In patrilinearen Kulturen mit Pflugackerbau herrschte dagegen die Monogamie vor, weil sie zur Konzentration des Landbesitzes auf eine geringere Zahl von Kindern führte.163

Ein Strafrecht in unserem heutigen Sinne gab es in den Stammesgesell­ schaften noch immer nicht. Dennoch bildeten sich jetzt klarere Typen delik­ tischer Handlungen heraus, deren schädliche Folgen ausgeglichen werden mussten. Intern geschah das durch die Verwandtschaftsverbände im Wege der Verhandlung über einen Schadensausgleich. Wo ein solcher nicht mög­ lich war oder sich als nicht sinnvoll herausstellte, schloss man den Delin­ quenten aus dem Verband aus, wodurch er den Rachegeistern schutzlos aus­ gesetzt war. Extern übte man ursprünglich Rache für die Verletzung oder Tötung eines Mitglieds. Doch wurde diese Art der Sanktionierung allmählich als ungeeignet erkannt, um den Gemeinschaftsfrieden wiederherzustellen. 162  Oft war deshalb der Brautpreis auf die Geburtenzahl (männlicher) Nachkom­ men begrenzt. 163  Nachweise bei Th. Schweizer (1989), S. 471.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Denn überstieg sie, wie so häufig im Zorn, das ausgleichende Maß, dann hatte sie Kettenreaktionen zur Folge. Hielt sie aber das gerechte Maß ein, konnte sie trotzdem dem Wohl des Stammes widersprechen. Denn durch ei­ nen Mord verlor nicht nur die Sippe des Getöteten eine Arbeitskraft, sondern aufgrund von Talion auch die Sippe des Täters; der Stamm verlor also insge­ samt zwei Arbeitskräfte, und das konnte er sich nicht oft leisten. Bei Verlet­ zungen sah es kaum besser aus, weshalb es insgesamt als nützlicher erschien, solche Taten im Wege des Schadensersatzes zu regeln. Nicht nur, aber vor allem auch zwecks Zurückdrängung der Talion durch Schadensersatz schufen viele Stammesgesellschaften die prozessuale Mög­ lichkeit, Konflikte durch Verhandlungen zu lösen. Da es keine territorial ab­ gegrenzten Gerichtsbarkeiten gab, alle Rechte und Pflichten vielmehr durch genealogische Bande erworben wurden, mussten Angehörige der jeweils be­ teiligten lineages die Vermittlung übernehmen. Und damit die Gespräche weniger emotional aufgeladen verliefen, wurden regelmäßig Mediatoren eingeschaltet: Entweder bestellte jede Seite einen Angehörigen als Vermittler oder man einigte sich auf eine angesehene Persönlichkeit, die zwischen den Clans stand, jedoch zu jeder Seite eine gewisse verwandtschaftliche Nähe aufwies und dadurch Zugang zu allen am Streit Beteiligten hatte. Die Mediation fand vielerorts öffentlich statt.164 Der Mediator erinnerte dann in einem Eröffnungsritual nicht nur die Parteien, sondern auch das Auditorium an das allgemeine Interesse an harmonischen Beziehungen innerhalb des Stammes. Danach konnten die Parteien ihre Sicht der Dinge darlegen und sowohl sich gegenseitig be­ fragen als auch aus dem Auditorium heraus befragt werden. Waren alle zu Wort ge­ kommen, schlug der Mediator eine Lösung des Streits vor, von der er vermutete, dass sie vom überwiegenden Teil der Anwesenden gebilligt wird und ihr auch die Parteien zustimmen konnten. Bestätigte sich seine Vermutung, dann entschuldigte sich die unterlegene Partei,165 es wurden Nahrung und Getränke verteilt und eine allgemeine Aussöhnung gefeiert.

Kam der Vermittler nicht voran, weil die Gräben zwischen den Parteien zu tief waren und die Zeit die Wunden noch nicht geheilt hatte, dann konnten auch institutionelle Vermittler eingeschaltet werden, die meistens über ge­ wisse Machtmittel verfügten, um ihren Bemühungen Nachdruck zu verleihen. Bei den Nuern in Nordafrika war das der ‚Erdpriester‘, bei den Ifugao auf den Philippinen der ‚Go-between‘.166 Nirgends dagegen gab es eine Polizei 164  Zum ‚moot‘, einer Form der Mediation bei den Kpelle in Liberia, vgl. J. L. Gibbs (1963); A. Holtwick-Mainzer (1985), S.  115 ff. 165  A. Holtwick-Mainzer (1985), S. 116: „Die umfassende Klärung des Konfliktge­ genstandes führt in der Regel dazu, dass nicht einer Partei allein die Schuld aufgebür­ det werden muss. Handlungen innerhalb enger sozialer Beziehungen stellen sich zu­ meist als Reaktion auf vorausgegangene Taten und Ereignisse dar.“ 166  R. F. Barton (1919) und (1967).



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts169

oder eine Strafjustiz, welche die Aufklärung von Delikten und die Kon­ fliktregelung hätten übernehmen können. Immer wichtiger wurde dagegen bei schweren Taten die Veranstaltung von Ordalen (Gottesurteilen), wozu jeweils Priester zugezogen werden mussten. Sie beruhten auf dem Glauben, dass der zuständige Gott als Hüter der Gerechtigkeit einen Streit entscheiden werde, wenn man ihn anrief. Zu erkennen gebe der Gott seine Entschei­ dung, indem er denjenigen bei einer Probe schützt, der das Recht auf seiner Seite hat: etwa beim Flussordal167 ihn nicht ertrinken, beim Feuerordal168 ihn nicht verbrennen, beim Giftordal169 ihn nicht sterben lässt. Für denjenigen, der im Unrecht war, bedeu­ tete das Unterliegen bei der Probe dann gleichzeitig die Vollstreckung des göttlichen Urteils.

Zusatz: Die Nuer als Beispiel einer segmentären Stammesgesellschaft Die Nuer verdanken ihre ethnologische Berühmtheit als ‚segmentäre Stammesgesellschaft‘ den ausgiebigen Untersuchungen von Sir Edward Evan Evans-Pritchard (1902–1973).170 Als dieser ihre Lebensweise in den dreißi­ ger Jahren des vorigen Jahrhunderts erstmals genauer erforschte, waren sie noch ein seminomadisches Hirtenvolk, das in der Savanne und im Sumpfge­ biet zu beiden Seiten des Weißen Nils seinen festen Wohnsitz hatte und dort hauptsächlich Fruchtanbau sowie in geringerem Maße auch Fischerei und Jagd betrieb. Die Männer blieben nur in der Regenzeit am Ort; in der Tro­ ckenzeit zogen sie mit ihren Herden umher. Sie nannten sich Naadh, was soviel wie „Leute“ bedeutet und ihr Selbstverständnis zum Ausdruck brachte, 167  Der Beschuldigte wurde gefesselt in einen Fluss geworfen. Blieb er oben, dann war er schuldig, weshalb das reine Wasser ihn nicht aufnehmen wollte (bzw. weil der Flussgott ihn als schuldig erkannte). Vgl. auch noch unten F 3 θ. 168  Der Beweispflichtige musste ein glühendes Eisen in die Hand nehmen oder ins Feuer greifen. 169  Kam der Beschuldigte durch das Gift zu Schaden, dann war der Beweis für seine Schuld erbracht. 170  Evans-Pritchard war der erste Ethnologe, der bei den Nuern systematische Feldarbeit leistete. Später weilte sein Schüler P. Ph. Howell als englischer Kolonial­ offizier dort. Weitere Berichte lieferten christliche Missionare wie etwa R. Huffman (1931) sowie Forschungsreisende. Aus diesen Quellen schöpften dann A. Butt (1952) und G. P. Murdock (1956). In den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts schließlich sichtete Sh. E. Hutchinson das bis dahin von ihnen und weiteren Autoren (Sahlins, Gough, Newcomer, Gluckman, Riches, Southall, Sacks, Kelly u. a.) ergänzte oder neu interpretierte Material und erweiterte es durch eine Darstellung des Wandels, der dem Leben der Nuer nach der Entlassung des Sudans aus der britischen Kolonialverwal­ tung (1955) von der arabisch-muslimisch dominierten (und seit den 80er Jahren von den USA massiv unterstützten) Zentralverwaltung aufgezwungen wurde (intensive Feldarbeit vom Dezember 1980 bis Februar 1983, 1990 und im Juni 1992). Dabei beschränkte Hutchinson sich hauptsächlich auf das Leben derjenigen Nuerstämme, die ihrer bäuerlichen Heimat treu geblieben waren.

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dass sie den anderen Völkern überlegen seien. Ihre Herkunft leiteten sie vom Himmel ab, von wo, wie sie meinten, ihre Vorfahren zur Erde herabgestiegen waren (sei es über ein langes Seil oder einen riesigen Feigenbaum). Handel trieben sie so gut wie nicht; was an Händlern bei ihnen vorbeizog, kam meist von außerhalb. Ihren eigenen (bescheidenen) Warenaustausch begriffen sie i. d. R. als wechselseitiges Schenken (gift giving oder sacrifice).171 Politische Ordnung: Trotz ihrer hohen Zahl von 430.000 Mitgliedern leb­ ten sie ohne eine wie immer geartete politische Einheit zusammen. Von fremden Einflüssen waren sie aufgrund ihrer geographischen Lage weitge­ hend abgeschottet. Sie bildeten für Evans-Pritchard das Musterbeispiel einer segmentären Gesellschaft.172 Ihre größten sozialen Einheiten waren die Stämme. Es gab deren fünfzehn; die Zahl der Mitglieder reichte jeweils von einigen Hundert bis zu 40.000. Ihnen gegenüber standen als kleinste (nicht-verwandtschaftliche) soziale Ein­ heiten die Dörfer. Dazwischen gab es weitere Einheiten, die jeweils unter­ schiedliche Namen trugen und deren Zusammensetzung sich oft, aber nicht immer, mit der Aufteilung in Clans deckte. Sowohl innerhalb der Stämme als auch innerhalb der sozialen Segmente herrschte eine „geordnete Anarchie“, wie Evans-Pritchard es nannte.173 D. h. es gab weder Häuptlinge noch Ältes­ tenräte, vielmehr stiftete allein der allgemeine Sinn für soziale Solidarität den Zusammenhalt, und dieser Sinn war umso stärker lebendig, je kleiner das Segment war. Denn in den kleineren Segmenten überwog noch die in ganz Afrika am festesten etablierte Ordnung: die verwandtschaftliche. Es galt das beduinische Sprichwort: „Ich gegen meinen Bruder, ich und mein Bruder gegen meinen Vetter; ich, mein Bruder und mein Vetter gegen die Welt!“174 Verwandtschaftliche Ordnung: Verwandtschaftliche Einheiten waren die Sippen und Clans.175 Zu ihnen gehörte, wer seine Geburt patrilinear auf ei­ nen gemeinsamen Ahn zurückführen konnte. Alle Personen sowohl innerhalb 171  E. E. Evans-Pritchard (1940a), p.  87 f.; (1956), p. 223 f. Vgl. aber Sh. E. Hutchinson (1996), p. 25 n. 2. 172  Vgl. dazu oben F 1 δ sowie Fn. 158. 173  E. E. Evans-Pritchard (1940a), p. 296: „Nevertheless, it [the state] is far from chaotic. It has a persistent and coherent form which might be called ‚ordered anar­ chy‘.“ 174  C. Ph. Kottak (2002), p. 252: „The basic principle of solidarity is that: the closer the relationship in terms of patrilineal descent, the greater the mutual support.“ 175  Es handelt sich allerdings bei den Bezeichnungen ‚Clan‘ und ‚Sippe‘ um be­ griffliche Klassifizierungen, die keine Parallele im Denken und erst recht kein Wort in der Sprache der Eingeborenen hatten. „Man erhält den Namen der Sippe eines Mannes, indem man ihn fragt, wer sein ‚Ahn von vormals‘ oder sein ‚erster Ahn‘ (gwandong) oder was seine ‚Samen‘ (kwai) gewesen seien“ (E. E. Evans-Pritchard, 1940a, p. 195).



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts171

einer Sippe als auch innerhalb eines Clans waren deshalb in männlicher Linie blutsverwandt:176 Man durfte einander nicht heiraten, es galt das Inzestver­ bot. Welche Bedeutung das Zusammenwohnen in einem Dorf besaß, zeigt sich u. a. da­ rin, dass es einerseits dazu führen konnte, eine dort einheimische Sippe um Personen zu erweitern, die mangels Verwandtschaft nicht dazugehörten, und anderseits, dass Personen, die auf längere Zeit aus dem Dorf wegzogen, ihre Zugehörigkeit zur Sippe allmählich verloren. Sippen waren also künftig weder notwendig verwandtschaftlich noch notwendig lokal klassifizierte Einheiten; sie rekrutierten sich vielmehr aus einer Reihe konkreter Beziehungen, die durch Abstammung oder Wohnsitz begründet wur­ den. Manche Sippen verteilten sich sogar auf den gesamten Stammesbezirk, sodass die Bevölkerung dort bunt zusammengewürfelt war. Aber jede bewahrte sich doch so viel an Eigenart, dass ihre Identität niemals vollständig verloren ging und sie von einem fremden Clan aufgesogen werden konnte.

Innerhalb eines jeden Stammes gab es so etwas wie eine Aristokratie. Sie bestand aus den Mitgliedern des dominanten Clans,177 besaß allerdings eher Prestige und Einfluss als Rang und Macht. Ihre Mitglieder wurden beim Streit zwischen zwei Sippen gern um Vermittlung angerufen. Manchmal be­ stimmten sie auch das Geschick des gesamten Stammes. Denn wenn es um Krieg oder Frieden ging, gab meistens ihr Votum den Ausschlag, und wenn es zum Kampfe kam, waren sie die Anführer: der Speername ihres Clans wurde ausgerufen. Ferner herrschte innerhalb eines jeden Clans und jeder Untergruppe das Prinzip der Seniorität: Der Ältere war dem Jüngeren gegen­ über weisungsberechtigt. Die alten Männer saßen folglich den Verhandlungen vor, die jüngeren wurden angehört, die Frauen durch die Männer aus ihrer Sippe vertreten. Familiäre Ordnung: Da patrilinear organisiert, siedelten die Nuer grund­ sätzlich patrilokal zusammen in leicht vergrößerten Familien. Lediglich arme Männer siedelten manchmal matrilokal, weil sich dann der Brautpreis ermä­ ßigte. Die Hütten der Familien178 waren gewöhnlich um den Viehstall angeordnet, der den Mann repräsentierte. Auch die Söhne schliefen da, sobald sie mannbar geworden 176  Sippen unterschieden sich von Clans durch die Zahl der Geburten in gerader Linie. Vgl. oben Fn. 157. 177  E. E. Evans-Pritchard (1940a), p. 211 ff. 178  Die Hütten waren die kleinsten Einheiten einer Siedlung. Darin lebte eine Frau mit ihren Kindern, bisweilen auch mit ihrem Ehemann. Mehrere Hütten, bewohnt von einer einfachen oder polygamen Familie und evt. weiteren nahen Verwandten, bilde­ ten zusammen mit einer Stallung den Kral. Ein Familienverband, bestehend aus na­ hen agnatischen Verwandten (oft Brüdern und ihren Familien), bildete einen Weiler. Das Dorf wurde nicht notwendig nur von miteinander verwandten Familien bewohnt, sondern war eine (kleinste) politische Einheit. Seine Bewohner wurden durch ein starkes Solidaritätsgefühl zusammengehalten; im Kampfe standen sie Seite an Seite

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waren. Nach ihrer Heirat blieben sie im Familienverband und versuchten, selbst noch nach dem Tod ihres Vaters zusammenzubleiben, damit sie die ererbte Rinderherde nicht aufteilen mussten. Freilich misslang das oft, weil das Streben nach Autonomie und eigenem Hausstand in ihnen übermächtig wurde. Die Frauen blieben bis zu ihrer ersten Niederkunft in einer Hütte im Gehöft ihres Vaters, wo ihr Mann sie nur gele­ gentlich des Nachts besuchte. Erst anschließend wechselten sie in den Familienver­ band des Mannes.

Da die Mitglieder einer Wohneinheit gewöhnlich untereinander irgendwie verwandt und infolgedessen durch das Inzesttabu getrennt waren, wurden Ehen fast immer zwischen Mitgliedern verschiedener Wohneinheiten ge­ schlossen. Der Ehe gingen bestimmte Zeremonien voraus: zunächst, wenngleich nicht not­ wendig, die Verlobungszeremonie, sodann einige Wochen später (während derer um den Brautpreis gefeilscht wurde) die Heiratszeremonie. Vertraglich besiegelt wurde die eheliche Verbindung mit der sogen. mut, einer Zeremonie, an deren Ende der Frau der Kopf durch ein Mitglied der Mannesfamilie geschoren wurde (mut nyier). Als vollendet galt der Zusammenschluss indes erst mit der Geburt eines Kindes.

Der Mann hatte in der Ehe das Sagen. Dennoch teilten seine Frauen grundsätzlich seinen Status; insbesondere war jede die Herrin einer eigenen Hütte. Wie viele Frauen ein Mann hatte, richtete sich nach seinem Vermögen;179 denn er musste jede Frau von ihren Eltern gegen Zahlung eines Brautpreises in Form von Rindern erwerben. Und da die meisten Männer arm waren, war der Ehestand gewöhnlich monogam. Kinder begannen mit etwa 7 Jahren im Kral oder im Haushalt zu helfen. Gemeinsame Spiele dauerten bis etwa 14 Jahre – mit Vorliebe spielten sie „Mann und Frau“ mit wechselseitigem Austausch von Geschenken. Zwischen 14 und 16 Jahren wurden dann die Knaben initiiert und erlangten Mannes­ status mit allen Rechten und Pflichten, was Arbeit, Spiele und Kriegsdienst anbelangt. Auch versuchten sie nun, das Herz eines Mädchens aus der Nach­ barschaft für sich zu gewinnen, um später mit ihr eine eigene Familie zu gründen. Das Leben der Mädchen verlief ohne tieferen sozialen Einschnitt. Sie besaßen aber sexuelle Freiheit und somit die Möglichkeit, ihre späteren Lebenspartner genau kennenzulernen. Erst nach der Heirat verloren sie die Freiheit, während die Männer sie behielten und bei Seitensprüngen sogar von ihren Frauen manchmal unterstützt wurden.

und unterstützen einander bei Fehden. In der Trockenzeit bildeten mehrere Dörfer ein Lager. 179  Eine weitere Frau durfte sich ein Mann allerdings erst dann nehmen, wenn seine Brüder verheiratet waren. Ausgeschlossen war u. a. die Heirat einer Schwester seiner Frau oder der Tochter eines gleichaltrigen Mannes (E. E. Evans-Pritchard, 1951, p. 33).



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Zur Familie gehörten außer den Frauen und den gemeinsamen Kindern auch die unverheirateten Geschwister und die Eltern des Mannes. Dagegen hatten die Nuer keine Sklaven. Auch Kriegsgefangene hatten nur anfangs einen geringfügig gemin­ derten Status. Sie lebten mit den Familien zusammen und waren innerhalb weniger Generationen ununterscheidbare Mitglieder des Clans.

Innerhalb der Familien herrschte Arbeitsteilung: Die Herde, das wichtigste wirtschaftliche Gut, wurde vom Manne betreut, doch die Frauen und die nicht initiierten Knaben molken sie und stellten überdies Butter und Käse für den Haushalt her. Die Landarbeit war so aufgeteilt, dass die Männer das Land rodeten, während die Frauen bei der Kultivierung halfen. Arbeitsteilung unter den Männern gab es so gut wie nicht, insbesondere nicht als Handwerker für bestimmte Produkte. Manche Männer waren zwar handwerklich be­ sonders geschickt und besaßen dafür eine gewisse Reputation; doch nutzten sie diese Fähigkeit nur zugunsten ihrer Familien, ohne daraus einen Erwerbszweig zu machen. Darin lag ein wesentlicher Unterschied zur Spezialisierung in der geistigen Sphäre: Für Riten, Magie, Wahrsagung und Heilkunde gab es anerkannte Experten, die ihr Können auch anderen gegen Lohn (meist in Form von Rindern) zukommen ließen. Ihr Expertenwissen gaben sie allerdings ausschließlich innerhalb ihrer Familie weiter.

Geschieden wurden Ehen entweder durch den Tod oder durch die Tren­ nung der Partner. Starb, wie regelmäßig, der Mann zuerst, konnte seine Witwe entweder von einem ihrer Schwäger als Frau übernommen werden (was allerdings voraussetzte, dass der Verstorbene hierfür durch Zahlung von Vieh sowie Vornahme der Heiratsriten Vorsorge getroffen hatte); oder sie heiratete in aller Form einen ihrer Schwäger, der dabei die Stelle des Verstor­ benen vertrat. Im ersten Fall entstand eine Levirats-, im zweiten Fall eine Geisterehe (ghost-marriage)180. Trennte sich dagegen das Paar oder verstieß der Mann seine Frau, etwa weil sie Ehebruch begangen hatte, dann blieben zwar die Kinder beim Manne. Doch wenn die Frau mindestens zwei Kinder geboren und damit ihr Fortpflanzungssoll erfüllt hatte, blieben die für sie hingegebenen Rinder bei ihrer Verwandtschaft.181 Der Mann konnte sich da­ her meist keine neue Frau leisten, weil er dafür den Brautpreis nicht auf­ brachte, während er von nun an die Vaterschaft auch an all den Kindern er­ warb, die seine Frau ‚im Busch‘ empfing.182 180  Geisterheiraten dienten dazu, dem ohne männliche Nachkommen verstorbenen Mann noch einen Erben zu verschaffen. Sie waren normale Heiraten mit der einzigen Ausnahme, dass die Kinder als Nachkommen dessen galten, in dessen Namen die Ehe geschlossen wurde. Leviratsverbindungen zwischen einer Witwe und einem (meist jüngeren) Bruder des verstorbenen Ehemannes wurden dagegen nicht als Ehen begrif­ fen, weil der Bruder lediglich als Samenspender die Stelle des Verstorbenen vertrat. 181  Es war daher kein Wunder, dass der Druck ihrer Verwandtschaft groß war, sie möge doch noch bis nach dem zweiten Kind bei ihrem Manne ausharren! 182  E. E. Evans-Pritchard (1951), p. 92 f.; K. Gough (1971), p. 108.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Soziale Ordnung: Alle zuvor erwähnten Normen waren Teil einer Sittenordnung, auf die man stolz war und die man hochhielt, so dass, wer sie brach, der Verachtung anheimfiel. Aber wie die Sitte, so war auch die Ver­ achtung örtlich begrenzt. Man spürte sie nur im engeren Kreis der Sippe, des Dorfes, allenfalls noch des Distrikts.183 Deshalb war beispielsweise ein Ge­ schädigter zwar theoretisch berechtigt, für einen ihm zugefügten Schaden von jedem Stammesangehörigen Ersatz zu verlangen, praktisch aber hatte er höchstens Aussicht, Ersatz von einem Mitglied seines Distrikts zu erlangen und mit einiger Sicherheit nur von einem Angehörigen seines Clans. Je wei­ ter der Radius, worin die Streitparteien sich begegneten, desto geringer war das Gefühl verbreitet, dass man an sich berechtigte Ansprüche auch anerken­ nen und erfüllen müsse. „The basis of law is force“, schreibt Evans-Pritchard. „We must not be misled by an enumeration of traditional payments for damage into supposing that it is easy to exact them unless a man is prepared to use force. The club and the spear are the sanctions of rights.“184

Eine eigentliche Rechtsordnung kannten die Nuer dagegen nicht – trotz einzelnen dem Frührecht zuzurechnenden Normen, die vor allem Eigentum und Erbschaft betrafen. Sie hatten auch keinen Terminus für Recht.185 Gründe dafür waren sicherlich, dass sie weder innerhalb der Stämme noch mit ihren Nachbarstämmen Handel pflegten und dass weder Geld noch Märkte, weder Handelswege noch Transportmittel existierten.186 Eigentum: Die dem Vermögensrecht zuzurechnenden Normen der Nuer betrafen hauptsächlich das Vieh, das bei ihnen nicht nur Grundlage des Reichtums, sondern auch Erweiterung des Lebensraumes war und überdies Konfliktlöser par excellence.187 Jede Familie hatte ihre eigene Herde, jede 183  Als Distrikt bezeichnet E. E. Evans-Pritchard (1940b, p. 275) „an aggregate of villages lying within a radius which allows easy intercommunications“. 184  E. E. Evans-Pritchard (1940a), p.  169. Die Kritik von U. Wesel (1985, S. 269 ff.) beruht auf einem zu weiten Rechtsbegriff und überzeugt selbst auf dessen Grundlage nicht. 185  Was sie stattdessen gebrauchten, war cuong, was in etwa ‚aufrecht‘ oder ‚rich­ tig‘ bedeutet im Gegensatz zu duer mit der Bedeutung von ‚falsch‘ oder ‚fehlerhaft‘. 186  E. E. Evans-Pritchard (1940a), p. 112: „In a strict sense Nuer have no law. There are conventional compensations for damage, adultery, loss of limb, and so forth, but there is no authority with power to adjudicate to such matters or to enforce a verdict. In Nuerland legislative, judicial, and executive functions are not invested in any persons or councils. Between members of different tribes there is no question of redress; and even within a tribe … wrongs are not brought forward in what we call a legal form, though compensation for damage is sometimes paid. A man who consi­ ders that he has suffered loss at the hands of another cannot sue the man who has caused it, because there is no court in which to cite him, even where he is willing to attend it.“ 187  Sh. E. Hutchinson (1996), p. 60 ff., 158 ff.



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts175

benutzte eigenes Weideland und eigene Brunnen. Weideland gab es reichlich, seine Nutzung allerdings war rechtlich i. d. R. nicht als Eigentum, sondern in unseren Begriffen als Untereigentum oder als (zinsloses) Pachtrecht ausge­ staltet, während das übergeordnete Eigentum dem Stamme bzw. dem örtlich dominanten Clan zustand. Echtes Familieneigentum war daher nur das Vieh. Verfügungsberechtigt darüber war der Mann, der sich jedoch zu allen Verfü­ gungen der Zustimmung der übrigen Mitglieder seiner Familie einschließlich der im Verband mit wohnenden Brüder und erwachsenen Söhne vergewissern musste. Bei seinem Tode entfiel daher anstelle des für eine Erbfolge typi­ schen Eigentumsübergangs lediglich die Verfügungsbeschränkung: Seine Söhne konnten nunmehr frei entscheiden, ob sie die Herde zusammenließen oder unter sich aufteilten. Individuelles Eigentum, das vererbt werden konnte, gab es dagegen kaum außer am Schmuck der Frau und an den Waffen des Mannes. Immerhin wurden diese Dinge – anders als bei vielen anderen Völ­ kern – dem Verstorbenen nicht mit ins Grab gelegt, sondern blieben in der Familie, so dass die Töchter oder Söhne sie an sich nehmen konnten. Konfliktregelung: Prärechtliche Normen betrafen die Regelung des Streits. Die Nuer waren ein ausgesprochen streitsüchtiges Volk. Ihre Nachbarn, ins­ besondere die Dinka, aber auch andere Stämme konnten ein Lied davon singen. Die Nuer überzogen sie regelmäßig mit Krieg, um ihnen ihre Rinder­ herden und ihre jungen Frauen zu rauben. Aber auch intern mangelte es nicht an Streit: zwischen den Stämmen, zwischen den Clans, zwischen den Sippen und zwischen den davon abgespaltenen Segmenten. Selbst die Kinder ermu­ tigte man, Meinungsverschiedenheiten kämpferisch auszutragen. Restriktio­ nen gab es zwar, aber sie waren moderat: Innerhalb des Dorfes durften die Männer ihren Streit nicht mit Speeren austragen, um keine Blutfehde herauf­ zubeschwören; Dritte durften sich nicht einmischen, außer um die Kämpfen­ den zu trennen. Zwischen den Dörfern galt diese Beschränkung jedoch nicht; da fanden die Kämpfe mit Keulen und Speeren unter Beteiligung aller kampffähigen Männer statt. Sie endeten selten ohne Tote, und von den Über­ lebenden gab es kaum einen, der nicht Blessuren vorweisen konnte. Gleichwohl hatten die Nuer auch Normen entwickelt, um den permanenten Kampf aller gegen alle zu verhindern. Diese Normen unterschieden sich zwar von Stamm zu Stamm, doch war das weitgehend folgenlos, weil Kämpfe zwischen Stämmen traditionell selten stattfanden. Die Masse der Streitigkeiten begab sich zwischen benachbarten Dörfern. Und in die durfte nur eine Person autoritär vermittelnd eingreifen: der Leopardenfell-Priester188. Hier wie auch in anderen Fällen, insbesondere bei der Sühne von Delikten, war er der rettende Engel. 188  Er hieß so, weil er mit dem Fell eines Leoparden bekleidet war und der Leo­ pard innerhalb von Afrika ein angesehenes und daher ein auch als Totem beliebtes

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Ein Mord beispielsweise verpflichtete die Verwandten des Opfers zur Blutrache. Doch die daraus folgenden dauernden Blutfehden waren gefürchtet. Deshalb gab der Normenkodex der Nuer dem Leopardenfell-Priester das Recht, dem Mörder Asyl in seinem Hause zu gewähren189 und ihn vom Blut des Getöteten rituell zu reinigen. War dann über die Angelegenheit Gras gewachsen, konnte er versuchen, die Ver­ wandten des Getöteten statt zur Blutrache zur Annahme einer Sühneleistung zu bewe­ gen – gewöhnlich waren es Rinder, so viel wie der Brautpreis.190 Gelang ihm dies, oft unter dem Eindruck einer Verfluchung für den Fall der Weigerung, dann verstand sich einer der Verwandten, unter dem Namen des Getöteten dessen Witwe zu heiraten (Geisterheirat) und mit ihr ein Kind zu zeugen: möglichst einen Sohn, der dann als Kind des Getöteten galt. Damit war der Frieden wiederhergestellt. Gelang ihm die „autoritäre Schlichtung“191 nicht, war er allerdings mit seiner Macht am Ende. Dann konnten die Angehörigen des Ermordeten die Rächung des Mordes weitertreiben. Doch waren sie dabei in der Regel auf die Mithilfe ihrer Gemeinschaft angewiesen, und die wurde ihnen nur gewährt, wenn sie sich nach allgemeiner Auffassung im Recht befanden, während sie sonst befürchten mussten, dass der Mörder seinerseits von seinen Angehörigen Unterstützung erhielt. Ein riskantes Unternehmen also! In Zweifelsfällen gingen sie deshalb lieber auf die Vermittlungsbemühungen des Leopar­ denfell-Priesters ein. Besonders schwierig gestaltete sich die Lage, wenn die Person des Mörders nicht feststand, sondern erst zu ermitteln war. War die Familie oder wenigstens die Sippe bekannt, aus der der Mörder stammte, dann konnten die Verwandten des Getöteten diese zur Rechenschaft ziehen, um sich mit ihr auf eine Sühneleistung zu einigen. Regelmäßig aber wollten sie den wahren Täter entdecken. Und dazu verhalf ihnen dann am besten ein Ordalverfahren, etwa das Speerordal: Der Beschuldigte musste einen Speer über das Grab des Opfers halten und seine Unschuld beschwören. Sagte Tier ist. D. Westermann (1921), S. 220, berichtet beispielsweise über die zentral-libe­ rianischen Kpelle: „Der Leopard verleiht seinem Herrn Stärke und Gewandtheit im Springen; er ist aber auch in besonderem Sinne sein Schutztier, denn nachts bewacht der Leopard die Felder seines Herrn, er spaziert auf ihnen herum und hält alle Antilopen und andere den Äckern verderbliche Pflanzenfresser fern. Deshalb ist der Leopard das angesehenste Totemtier, sein Herr erfreut sich im ganzen Dorfe besonderer Ach­ tung und Scheu; kaum einer würde es jemals wagen, mit ihm anzubinden, da er dank der Stärke seines Tieres allen Gegnern überlegen ist.“ Zu den Aufgaben des Leopardenfell-Priesters vgl. E. E. Evans-Pritchard (1956), p.  289 ff.; (1940a), p.  152 ff.; P. Ph. Howell (1954), p. 27 ff., 39 ff.; T. O. Beidelman (1971), p.  381 ff. 189  Das Recht zur Asylgewährung entstand als Ausweg aus der Beunruhigung, die eine schwelende Blutrache in ein Volk hineintrug. Wir finden es daher nicht nur bei den Nuern, sondern auch anderen indigenen Völkern, z. B. bei den Papuas in Neugui­ nea und bei den Aschanti in Ghana. Weitere Nachweise bei A. H. Post (1895/1970), S.  252 ff. 190  E. E. Evans-Pritchard (1947), p.187 f.; T. O. Beidelman (1971), p. 384. 191  So der von A. Holtwick-Mainzer (1985, S. 57) vorgeschlagene Begriff für ein Verfahren, das sowohl durch einen Rechtsspruch abgeschlossen als auch von den Parteien als die richtige Lösung anerkannt wird.



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er die Wahrheit, geschah ihm nichts; log er, verfiel er alsbald in Siechtum oder starb. Doch was auch immer mit ihm in der Folgezeit geschah – der soziale Frieden war wiederhergestellt, ohne dass erneut Blut vergossen wurde.

Außer dem Mord kannten die Nuer weitere Delikte: Körperverletzungen kamen häufig vor – kein Wunder bei einem so streitsüchtigen Volk. Hatte das Opfer die Verletzung nicht provoziert, gab es Schadensersatz nach festen Sätzen, z. B. 10 Rinder für ein gebrochenes Bein. Ehebruch galt als Verlet­ zung des Ehemanns und wurde am Ehebrecher geahndet. Er durfte getötet werden, wenn man ihn in flagranti ertappte (sonst war die Beweislage zu unsicher); kam die Tat später heraus, musste er als Sühne lediglich 5 Rinder und einen Ochsen zahlen. Die Ehefrau kam regelmäßig mit einer Tracht Prü­ gel davon. Scheidungen waren dagegen extrem selten, zumindest wenn die Frau ihre Fortpflanzungspflicht erfüllt hatte. Inzest (rual192) hatte nach An­ sicht der Nuer nur eine poena naturalis zur Folge, die von Gott gesandt werden musste: Krankheit in leichten, Tod in schweren Fällen, sofort eintre­ tend z. B. beim Geschlechtsakt zwischen Mutter und Sohn. Entsühnung war nur durch ein rituelles Opfer möglich.193 An Eigentumsdelikten stand der Diebstahl an erster Stelle. Gleichwohl war er zahlenmäßig unbedeutend, da er meist entweder im Glauben an seine Rechtmäßigkeit begangen wurde (etwa zwecks Befriedigung eines vermeintlichen Anspruchs auf ein wegge­ nommenes Rind) oder aber wenig wertvolle Gegenstände betraf, die einfach ersetzt werden konnten. Bei wertvolleren Dingen konnte der LeopardenfellPriester um Vermittlung der Rückgabe angegangen werden.194 Zauberei soll in früherer Zeit ebenfalls ein Delikt gewesen sein. Insgesamt bleibt festzustellen: Die Nuer kannten zwar Normen, die ihnen so wichtig waren, dass niemand Anstoß nahm, wenn ihre Befolgung mit Gewalt erzwungen wurde. Aber mangels einer mit Exekutivmacht ausgestatteten Au­ torität195 gab es bei ihnen weder einen Gesetzgeber noch Gerichte noch sons­ tige Organe, die den Normen Rechtscharakter verliehen hätten. Somit hatten die Normen lediglich die Funktion von Richtlinien, allenfalls die eines dispo­ sitiven Frührechts, an dem sich im Streitfall die Vermittlung orientierte.196 192  Das Wort bedeutet sowohl den Inzest als auch das Unglück, das daraus er­ wächst. 193  E. E. Evans-Pritchard (1951), p. 29 ff. 194  Schilderung einer solchen Vermittlungsbemühung bei E. E. Evans-Pritchard (1940a, p. 163 f.), allerdings mit dem Zusatz, dass derlei Bemühungen sehr selten stattfänden. 195  Dieses Fehlen erkennt auch U. Wesel (1985, S. 269) an: „Von den beiden Ele­ menten des Rechts – auctoritas und veritas  – ist das der Autorität bei ihnen am we­ nigsten ausgeprägt. … Dass Autoritäten schwach sind bei ihnen, zeigt sich an der großen Bedeutung von Selbsthilfe im Wege individueller Gewalt.“ 196  S. Roberts (1981), S. 143.

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Führte die Vermittlung nicht zum Erfolg, war der Einzelne auf Selbsthilfe bzw. auf die Nothilfe seiner Sippe angewiesen. Deshalb war die Macht des Einzelnen und seiner Verbündeten letzthin der einzige Garant für die Durch­ setzung von Normen. Das heißt jedoch nicht, dass die Durchsetzung der Nor­ men und der aus ihnen folgenden individuellen ‚Rechte‘ das oberste Ziel war. Oberstes Ziel blieb das harmonische Zusammenleben innerhalb der Dorfge­ meinschaft – auch wenn dieses Ziel infolge der notorischen Streitsucht der Nuer selten erreicht wurde.197 c) Die Rechtsentwicklung innerhalb von Häuptlingsschaften198 (α) Genese von Häuptlingsschaften: Bereits in Ackerbau- und Viehhalter­ gesellschaften musste man lernen, über den Tag hinaus zu denken: etwa dass es einerseits Jahreszeiten gibt, in denen die Natur mehr spendet, als man verbrauchen kann, andererseits Jahreszeiten, in denen Nahrungsknappheit herrscht, weshalb man das Nahrungsangebot mithilfe von Vorräten ausglei­ chen muss. Zunächst bevorratete deshalb jede Familie so viel, wie sie selber zum Ausgleich brauchte. Auf Dauer erwies sich das aber als unpraktisch, weil keine Familie ihren Bedarf exakt vorausberechnen konnte. Besser kam man zurande, wenn man auf kommunaler Ebene Vorratswirtschaft betrieb. Daher sparte man künftig in guten Zeiten gemeinsam so viel an, wie man voraussichtlich brauchte, um Notzeiten zu überstehen. Dann war man sicher, dass die gemeinsame Zukunft nicht mehr in den Händen der Götter lag – auch wenn man sie nach wie vor um günstige Ernten anflehte –, sondern in der eigenen klugen Voraussicht. Sowohl für Garten- als auch für Ackerbaugesellschaften erwies diese kollektive Vorratshaltung sich als die Wirtschaftsform der Zukunft. Die Men­ schen brauchten künftig weniger als bisher um ihren Lebensunterhalt zu bangen und gewannen Zeit und Muße, um über sich selbst, über das Wir der Gemeinschaft, über ihre Stellung innerhalb der Gemeinschaft und über die Möglichkeiten zur Verbesserungen sowohl ihres individuellen Lebens als auch ihres sozialen Zusammenlebens nachzudenken. Und da sie inzwischen auch fähig waren, Normen zu internalisieren, lag es nahe, dass sie aus den wahrgenommenen Unterschieden Einzelner innerhalb der Gemeinschaft eine Arbeitsteilung erdachten,199 die den Gebrauch der individuell unterschied­ 197  U. Wesel

(1985), S. 332. von ‚Häuptlingsschaften‘ kann man auch von ‚Häuptlingstümern‘ sprechen. Der erste Begriff bringt mehr ihren kollektiven, der zweite mehr ihren ­hierarchischen Charakter (‚tum‘ = Besitz) als Überleitung zu den größeren und hie­ rarchisch stärker untergliederten ‚Königreichen‘ zum Ausdruck (vgl. Königreich ⇒ Herzogtum ⇒ Grafschaft). 199  Zur Bedeutung von Institutionalisierungen vgl. oben Fn. 58. 198  Anstelle



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lichen Fähigkeiten und Kenntnisse dem kollektiven Nutzen dienstbar machte: die z. B. handwerklich besonders geschickte Mitglieder von der Lebensmit­ telproduktion freistellte, damit diese sich ausschließlich der Entwicklung und Produktion von Geräten zuwenden konnten (aber auch sollten). Und weil sie dadurch den übrigen Mitgliedern die Nahrungsproduktion erleichterten, konnten sie umgekehrt mit den Produkten belohnt werden. Die Erkenntnis vom Wert einer solchen Arbeitsteilung verbreitete sich schnell; denn sie ge­ stattete, trotz geringerer Arbeitsleistung des Einzelnen einen höheren kollek­ tiven Ertrag als bisher zu erwirtschaften. Ihre Umsetzung verschärfte aller­ dings zwei Probleme, die sich bereits aus der Vorratswirtschaft ergeben hat­ ten: Erstens musste der gemeinsam erarbeitete Überschuss eingesammelt und aufbewahrt werden, damit man ihn später (etwa nach einer großen Trocken­ heit oder nach einer Heuschreckenplage) verteilen konnte. Und zweitens musste ein verbliebener Überschuss, den die Gemeinschaft nicht brauchte, anderweitig möglichst nützlich verwertet werden. Zur Lösung des ersten Problems bot sich der Bau von Speichern an, die in kommunaler Arbeit er­ richtet werden konnten. Zur Lösung des zweiten Problems bot sich an, mit dem Produktionsüberschuss gewinnbringenden Handel zu betreiben und auf diese Weise Waren zu erhalten, die man selber nicht produzieren konnte, aber als begehrenswert ansah. Beide Problemlösungen, so verlockend sie waren, brachten jedoch Organisationsaufgaben mit sich: Man musste regeln, wie man die Arbeit innerhalb der Gemeinschaft am besten verteilt, wie man ihre Durchführung beaufsichtigt, wie man ihren kumulierten Ertrag schließ­ lich verwaltet und wie man ggf. entscheidet, was nicht benötigter Überschuss ist und wie man damit zum Besten der Gemeinschaft verfährt. Zur Bewälti­ gung dieser Aufgaben kamen nur die big men eines Stammes in Betracht, zum einen weil diese schon bisher einem mit hohem Überschuss arbeitenden Haushalt vorstanden und somit Erfahrungen gesammelt hatten, zum anderen weil sie Vertrauen und ein hohes Prestige besaßen, zumal sie einen Teil ihres Überschusses im Rahmen von Festveranstaltungen der Gemeinschaft spende­ ten.200 Teils um ihres Prestiges willen, teils aus Dankbarkeit übertrug man ihnen daher die (als ehrenvoll geltenden) Befugnisse zum Einsammeln und zur Verwendung der Ernteüberschüsse, die ihnen den Zugriff auf die Arbeits­ kraft anderer und auf deren Produkte verschaffte. In der Folge verstärkte sich die Zusammenfassung dieser Befugnisse in einer Hand autokatalytisch zu einem Umverteilungssystem, an dessen Ende es nur noch ein kleiner Schritt war, bis man aus der Zahl der big men dieje­ nige herausragende Persönlichkeit erwählte, in deren Hände man insgesamt die Macht zur Aufgabenverteilung, zur Leitung von Gemeinschaftsaufgaben und zur Verwendung des gemeinsam Erwirtschafteten legte und die man 200  Zu

ihnen siehe noch unten H 2 c dd η ββ.

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folglich zum Häuptling des Stammes erhob.201 Die Stätte, wo die Nahrungs­ überschüsse aufbewahrt, verwaltet, verteilt oder in den Handel investiert und wo sodann aus den Einnahmen die Durchführung von Gemeinschaftsaufga­ ben oder militärischer Unternehmungen geplant, organisiert und kontrolliert wurden, lag in seinem Machtbereich.202 Und zusammen mit weiteren Grün­ den203 führte dies dazu, dass diese Stätte von nun an das Zentrum einer Häuptlingsschaft wurde. (β) Institutionalisierung von Herrschaftsfunktionen: Die hier stichwortartig dargestellte Entstehung von Häuptlingsschaften verlief fließend und ungleich im Tempo. Ihr allgemeines Kennzeichen aber war, dass sie bisher schon vor­ handene, wenngleich nur rudimentär ausgebildete Herrschaftsfunktionen bündelte und auf eine hierarchisch höhere Ebene verlagerte, wo sie zentral von einer Person ausgeübt werden konnten. Die bisherigen Funktionsträger, die Clanchefs und Dorfschulzen, blieben zwar erhalten und behielten auch einen Teil ihrer Funktionen; ja sie erhielten sie sogar wieder zurück, wenn die übergeordnete Ebene bei der Wahrnehmung des abgezogenen Teils der Funktionen versagte. Als Tendenz aber blieb die Verlagerung der zentralen Funktionen nach oben bestehen und wirkte sich auf die Gesamtstruktur des Gemeinschaftsverbandes aus, indem jede organisatorische Lockerung und Unterbrechung darin alsbald ausgeglichen wurde. Starb beispielsweise der Häuptling, so erlosch damit nicht gleichzeitig seine Funktion. Sie wurde vielmehr als fortbestehend (‚institutionalisiert‘204) gedacht, sodass sie auf einen neuen Träger, in der Regel den ältesten Sohn des Verstorbenen, über­ gehen konnte.205 Agierte auch dieser erfolgreich, war dann auch schon der nächste Schritt getan: Die lineage der Häuptlinge wurde zur Dynastie.206 Und deren Institutionalisierung war alsdann eine so wichtige anagenetische 201  F. Barth (1961), p. 74 f.: „His power of decision and autocratic command over his subjects … is a strictly chiefly prerogative. … The chief may give any person an order which the latter must obey without regard to any pre-established organizational pattern.“ 202  E. R. Service (1977), S. 109 ff. 203  Wesentlich war ferner das Aufkommen von sozialer Ungleichheit durch unter­ schiedlichen Reichtum an Land und Vieh, aber auch die unterschiedliche Zahl an Familienangehörigen, die gleichzeitig Arbeitskräfte waren. Obwohl somit vielfältig begründet, wurde Ungleichheit anfangs jedoch meistens auf übersinnliche Kräfte zu­ rückgeführt, die in unterschiedlicher Weise auf die Mitglieder der Gesellschaft verteilt seien. Siehe dazu St. Breuer (1982), S. 171 ff. 204  Zu diesem Begriff vgl. oben Fn. 58. 205  Vgl. zusätzlich über „pantribal sodalities and age grades“ C. Ph. Kottak (2002), p.  253 ff. 206  Vgl. dazu M. D. Sahlins (1963), p. 295: „Power resided in office; it was not made by the demonstration of personal superiority.“; P. Weise/W. Brandes/Th. Eger/ M. Kraft (2005), S.  618 ff.



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Errungenschaft, dass sie einen epochalen Einschnitt in der sozialen Entwick­ lung bedeutete. Was aber bedeutete es, ‚Häuptling‘ eines frühantiken Stammes zu sein? Mangels schriftlicher Zeugnisse können wir die wichtigsten Rechte und Pflichten, die mit der Häuptlingswürde verbunden waren, nur ungefähr benennen:207 • Ein Häuptling hatte Anspruch auf sämtliche Informationen, die für die Ausübung seiner Herrschaft relevant sein konnten, beispielsweise über den drohenden Einfall einer Nachbarhorde, über den Machtmissbrauch eines Untergebenen, über Ernte­ schäden infolge eines Gewittersturms. • Ihm stand zur Aufrechterhaltung der allgemeinen Ordnung und zur Eindämmung jeder Konkurrenz ein Machtmonopol zu. Rebellionen durfte er mit aller Härte be­ kämpfen, Angriffe auf seine Person sogar mit dem Tode bestrafen. • Er durfte im größten Zelt leben und hatte Anspruch auf einen Häuptlingsschmuck, durch den er allen schon allein äußerlich kenntlich wurde. Ihm gebührten alle Eh­ renbezeugungen, die seinem herausgehobenen Status entsprachen. Missachtung seines Status war ein Verbrechen, das von ihm nach Gutdünken bestraft werden konnte. • Er hatte das Recht, von seinen Untertanen die Bearbeitung seiner Felder und ihre Hilfe bei der Einbringung seiner Ernte zu verlangen. War der Stamm groß genug, mussten ihm seine Untertanen darüber hinaus regelmäßig ein Teil der Feldfrüchte, der Jagdbeute und der Zuchttiere zwecks Unterhaltung eines Hofstaats abliefern. Auch standen ausschließlich ihm und seiner Familie sämtliche Luxusartikel zu, die reisende Händler aus dem ‚Ausland‘ einführten. • Verpflichtet war er insbesondere zur Erfüllung von Organisationsaufgaben im Hin­ blick auf die Infrastruktur des Landes (Instandhaltung der Verkehrswege) und auf den Bau und Erhalt von Gemeinschaftseinrichtungen. Ferner hatte er durch gute Beziehungen zu den Erdgöttern und Ahnengeistern für die Fruchtbarkeit des Lan­ des zu sorgen. Bei der Erfüllung dieser Aufgaben hatte er ein Weisungsrecht ge­ genüber den Sippen und Clans seines Stammes. • Er musste darüber hinaus Feste veranstalten, an denen seine sämtlichen Untertanen teilnehmen durften und durch die er sich als der ‚große Versorger‘ seines Stammes legitimierte. Kam ein Unglück über den Stamm, etwa eine Seuche oder eine Miss­ ernte, die zu Not und Elend führten, hatte er nach den Gründen zu forschen und ihnen abzuhelfen. Gelang ihm das nicht, drohten ihm Absetzung oder gar der Tod. • Recht und Pflicht waren es für ihn ferner, als Zauberpriester und Richter tätig zu werden. • Bei kriegerischen Stämmen hatte entweder er selber oder an seiner Stelle ein ei­ gens bestellter Kriegshäuptling die Pflicht, Raubzüge gegen die Nachbarn durchzu­ führen. Als Anführer eines erfolgreichen Raubzuges stand ihm der größte Teil der Beute zu. Von den gefangenen Gegnern musste er einen Teil innerhalb einer großen Zeremonie den Überirdischen zum Dank opfern; den Rest konnte er versklaven und entweder behalten oder an seine Untertanen verteilen. 207  Vgl.

zum Folgenden H. Wimmer (1997), S. 226 ff.

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(γ) Institutionaliserung von Normen: Innerhalb einer hierarchisch aufge­ bauten Gesellschaft mit institutionalisierten Leitungsfunktionen erhielt auch ein Teil der Sittennormen eine institutionelle Bedeutung: Die Normen wur­ den im Sinne des Frührechts verrechtlicht. Sie galten zwar nicht abstrakt, d. h. unabhängig von den Personen, die sie erlassen hatten, und von denen, an deren Adresse sie gerichtet waren, wohl aber unabhängig von den konkre­ ten Umständen, unter denen sie anzuwenden waren. Sie konnten daher im Streitfall von ebenfalls institutionalisierten (d. h. nicht mehr ad hoc zusam­ mengesetzten) Gerichten zur Entscheidungsgrundlage gemacht und damit bestätigt werden. Sie hätten sogar in Gesetzen festgeschrieben werden kön­ nen, wenn es dazu einen Anlass, einen Gesetzgeber und vor allem eine Schrift gegeben hätte. Daran aber fehlte es noch, sodass die Zahl der Normen gering blieb und sich auf besonders wichtige Dinge und Sachverhalte be­ schränkte. Was war seinerzeit so besonders wichtig, dass es normativ geordnet wer­ den musste? Es waren von Volk zu Volk zwar teilweise unterschiedliche, teilweise aber auch wiederkehrende Angelegenheiten: Die politischen Struk­ turen standen obenan; sodann die überkommenen Strukturen der Familien sowie die Institutionen, die ihren Bestand über die Generationen hinweg si­ cherten, etwa die Anerkennung der Leviratsehe und die Möglichkeit einer Adoption; in die Zukunft weisend vielerorts die handelsüblichen Sitten und Gebräuche, die Rechte und Pflichten von Teilnehmern insbesondere am Markthandel (Haftung für Warenmängel, Sicherung eines kreditierten Kauf­ preises); allgemein ferner strafrechtliche Normen, die einerseits ausdrücklich auch fahrlässige Taten (etwa bei Brandstiftung oder Tötung) erfassten, ande­ rerseits die Sühneleistungen dafür an den Geschädigten (oder seine Sippe) begrenzten. Das meiste freilich dürfte, zumindest en détail, nach wie vor dem großen Zwischenreich zwischen Sitte und Recht und damit im Streitfall richterlichem Ermessen überlassen geblieben sein. Für genauere Aussagen fehlt es derzeit noch an Vorarbeiten. Zusatz: Die Dschagga als Beispiel einer Häuptlingsschaft Die Heimat der Dschagga (oder Chaga) war der Kilimandscharo, der „Berg des bösen Geistes“ im Nordosten des heutigen Tansania. In den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts – zur Zeit des Pfarrers Bruno Gutmann, auf dessen Bericht ich mich im Folgenden stütze – lebten dort etwa 800.000 Menschen, die sich hauptsächlich von der Viehzucht und der Kultivierung von Bananenhainen ernährten. Sie verteilten sich auf 30 Häuptlingsschaften und etwa 400 Clans, die über den ganzen Berg und sein Umland verteilt waren. Geeint wurden sie nicht durch einen gemeinsamen Herrscher, sondern lediglich durch einen gemeinsamen männlichen Urahn und ein gemeinsames



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Totem. Innerhalb eines jeden Clans teilten sich die „Häuser“ gemäß ihrer Abstammung von der Mutter auf – nicht etwa zwecks Begründung einer matriarchalischen Verfassung, sondern zwecks Wahrung der blutmäßigen Einheit der vom männlichen Urahn begründeten Sippe, die dann auch im Namen zum Ausdruck kam. Das Bildende und Heiligste innerhalb eines Clans war nämlich das Blut.208 Verfassung: Die Anführer der Häuptlingsschaften nannten sich mangi (= Ordner, Planer). Sie befehligten die militärischen Unternehmungen und waren Richter bei allen inneren Zwistigkeiten. Ihrem Schutz dienten ständige Wachen, ihrem Dienst Späher, welche sie von allen Vorkommnissen auf ih­ rem Gebiet unterrichteten (kite kja mangi = Hund des Häuptlings). Unterei­ nander hielten sie durch Boten Kontakt, deren Kennzeichen und Geleitschutz ein langer Stab sowie ein Messingreif am Handgelenk waren. Dienstleistun­ gen konnten sie von allen arbeitsfähigen Personen ihres Stammes verlan­ gen – lediglich die unverheirateten Frauen waren ausgenommen. Anlässlich ihrer Einsetzung stand ihnen eine allgemeine Steuer in Form von Vieh zu, welche die Anführer der Clans aufzubringen hatten. Nach ihrer Einsetzung hatten sie das Recht, das dritte Kind einer jeden Familie zum Dienst an ih­ rem Hof zu verpflichten, entweder junge Männer zur Sicherung des inneren Areals durch Gräben und Schutzmauern sowie zur Arbeit auf den Feldern oder junge Frauen zum Durchhacken der Bananenhaine. Anführer eines Clans war ‚der Große im Rechtsstreit‘ (msongor oder mrango o kišariń = „der Kluge im Clan“), dem diese Aufgabe nicht wegen seiner Abstammung oder seines Alters, sondern wegen seiner persönlichen Tüchtigkeit zukam. Er war also u. U. ein verhältnismäßig junger Mann aus gutem und wohlhabendem Hause, dem man zutraute, die Interessen des Clans vor dem Häuptling angemessen zu vertreten und insbesondere ver­ nünftig abzuwägen, ob ein Rechtsstreit vor den Häuptling gebracht werden soll, etwa wenn sein Clan wegen einer Steuerschuld oder wegen des Verge­ hens eines Angehörigen haftbar gemacht wurde. Außerdem oblag es ihm, für die Aufbringung der Schuldsumme zu sorgen, sobald die Haftung seines Clans rechtskräftig festgestellt war. Er konnte die Schuld dann auf einzelne Häuser oder auf die diversen Schuldigen aufteilen, haftete aber u. U. mit seinem Sondervermögen, wenn er nicht genügend zusammenbekam. Erst im Rückgriff konnte er dann die eigentlich Schuldigen belangen, z. B. indem er sie sich dienstpflichtig machte. Ein gar zu ungebärdiges Mitglied seines Clans, das für ständige Regressforderun­ gen verantwortlich war, konnte er notfalls – im Verfahren vor dem Häuptling und im Beisein aller Mitglieder – aus dem Clan ausstoßen; doch geschah das äußerst selten. 208  B. Gutmann (1926), S. 9: „Im Bluttausche vollzog sich die Verschmelzung zweier Sippen, wie auch ihre Neufestigung. Hier liegt der Ursprung des Blutbundes.“

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Der Ausgestoßene wurde dann einem anderen Clan übergeben. Besserte er sich auch dort nicht und kam er deshalb an den Häuptling zurück, dann fällte dieser den Spruch: natambio, er soll einem Anschlag erliegen.

Eherecht: Verboten war die Ehe mit einem Mädchen aus dem väterlichen Clan. Dagegen galt es nicht nur als erlaubt, sondern sogar als erwünscht, wenn ein Bursche sich ein Mädchen aus dem Clan seiner Mutter suchte. Nachgeborene Geschwister (aber auch deren Kinder) durften nicht heiraten, solange die vor ihnen geborenen noch ledig waren. Diese Regel wurde aller­ dings oft umgangen, indem man etwa die ältere Schwester in eine Scheinehe mit einem alten Manne presste, um ihren jüngeren Schwestern den Weg zur Hochzeit frei zu machen. Eingeleitet wurden die Ehen durch ein Verlöbnis, das auf Wunsch des Brautpaares die Eltern der Braut arrangierten und dessen wesentlicher Bestandteil die Leistung von Bier- und Fleischgaben für die Lösung der Braut aus ihrem Clan war.209 Der Übergang der Braut in den Clan des Bräutigams war dann der zweite Schritt.210 Er begann mit einer Eheprüfung (oder mit dem Scheinraub des Mädchens durch Ange­ hörige aus dem Clan des jungen Mannes), und er endete mit einer Feier, dem wali wo kilā, worin die Brautleute u. a. über alle künftigen Taburücksichten belehrt wurden, deren Bruch die Heimsendung der Frau oder ihre freiwillige Rückkehr rechtfertigen konnte.211

Eine Scheidung der Ehe war zum einen dadurch möglich, dass die Ehe­ leute sich trennten. In diesem Fall trat meistens der Ehevermittler (mngari) in Aktion, indem er die Frau nicht nur bei sich aufnahm, sondern sich auch ihre Beschwerden anhörte und ggf. den Mann zu einer Entschuldigung oder Sühneleistung anhielt, sodass es anschließend regelmäßig zur Versöhnung kam. Eine Scheidung war zum anderen dadurch möglich, dass der Ehever­ mittler die Frau auf ihr Verlangen hin feierlich ihrem Clan zurückgab. Sie durfte dann eine weitere Ehe eingehen, die allerdings keinen Bestand hatte, 209  Weitere Leistungen des Mannes an den Clan der Frau, die sich noch weit in die Ehezeit hinein erstreckten, wurden von einem Vermittler (mngari) ausgehandelt. 210  Man ersieht hieraus, dass das Verlöbnis kein Teil der Eheschließung war und die Ausübung der ehelichen Rechte lediglich auf den späteren Zeitpunkt der Trauung verschoben wurden, sondern dass es den Verlobten lediglich einen (wechselseitigen?) Anspruch auf die Eheschließung verlieh. Erst das römische Recht hat diese Rechts­ folge beseitigt und den Verlobten lediglich Rückabwicklungsansprüche bei einem Rücktritt sine juxta causa gewährt. Ihm folgte das deutsche BGB in den §§ 1297 ff. 211  Ins Elternhaus zurückkehren durfte die Frau beispielsweise, wenn der Mann sie aufgrund ihrer Regelblutung herabsetzte. Der Häuptling zwang in einem solchen Falle den Schuldigen, mit einem Bußtiere den Schwiegervater aufzusuchen und ihn zu bitten, dass er seine Tochter nicht anderweitig verheirate. Eine andere Frau hätte er schwerlich heimführen können; denn er hatte mit seinem Tun nicht nur seine Frau, sondern das ganze Land beleidigt (B. Gutmann, 1926, S. 186). Diese Sitte ist deshalb so bemerkenswert, weil sie im Gegensatz zu der anderer Völker stand, welche die Menstruation der Frau als Anzeichen ihrer Minderwertigkeit ansahen.



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts185

falls sie sich entschloss, ihre erste Ehe wiederaufzunehmen.212 Endgültig war die Scheidung nur, wenn einer der Eheleute sich als Bettnässer entpuppte, die Frau ihren Ehemann biss oder vor Zeugen unter Selbstverfluchung jede Rückkehr aus dem Haus ausschloss. Dagegen führte ein Ehebruch diese strenge Folge nicht herbei – schon gar nicht, wenn der Mann die Ehe brach, da er sich ohnehin mehrere Frauen leisten durfte. Aber auch wenn die Frau sich einen Geliebten zulegte, zerbrach die Ehe nicht daran. Sie wurde dann dem Ehebrecher mit der Aufforderung ins Haus geschickt, er möge sie auf Dauer behalten; und allein diese Zumutung veranlasste ihn regelmäßig, den Ehemann reumütig um die Rücknahme zu bitten und ihm als Draufgabe ein Schaf zu geben. Wie allenthalben bei indigenen Völkern war die Leviratsehe auch bei den Dschag­ ga eine segensreiche Einrichtung. Sie sicherte der Witwe die Versorgung und bewahr­ te sie dadurch – anders als in Völkern, die diese Einrichtung nicht kannten – vor der Prostitution. Mit der Heirat ging die Vormundschaft über die noch minderjährigen Kinder der Frau auf den Leviratsherrn über. Spätere Kinder galten indes als seine eigenen, nicht als solche des verstorbenen Bruders.

Kindschaftsrecht: Ein neugeborenes Kind stand in der alleinigen Gewalt des Vaters. Diese Gewalt reichte zwar weit, war aber nicht unbeschränkt. Genau vorgeschrieben war, wann er das Kind töten musste: wenn es vorehe­ lich, eine Miss- oder Fußgeburt oder Teil einer Zwillingsgeburt war. Erlaubt war die Tötung, wenn bei der Geburt Anzeichen vorhanden waren, dass das Kind das Leben seines Vaters bedrohen werde.213 Nicht erlaubt war die Tö­ tung, wenn das Kind außerehelich war; es gehörte dann seinem natürlichen Vater, der aber dem Ehemann eine Entschädigung zu zahlen hatte. Adoptiert werden konnte ein Kind formfrei: Man konnte es auf einem Kriegszug ergreifen oder, wenn es Schutzkind des Häuptlings war, sich von diesem erbitten und es dann seinem Hausstand einfügen. Von der Adoption war die Vergeiselung zu unterscheiden, obwohl sie oft dieselbe Wirkung zeitigte. Wurde beispielsweise der Brautpreis nicht völlig geleistet, nahm der Bruder der Frau ein Kind weg, bis der Rückstand beglichen war. Dauerte das sehr lange oder geschah es niemals, verblieb das vergeiselte Kind ganz bei der Mutter­ sippe.

Erbrecht: Vererbt wurde im Mannesstamm, und zwar so, dass nach dem Erstgeborenen der Letztgeborene das Erbe antrat, während die mittleren Söhne abgefunden wurden. Gründe für die Berufung gerade des Jüngsten ins 212  Ein Beispiel für diese sonst vielleicht unverständliche Handlungsweise ist, dass die erste Ehe kinderlos geblieben war und die Frau feststellen wollte, ob sie oder ihr Mann Schuld daran habe. Gebar sie in der zweiten Ehe, konnte sie in der Hoffnung, dass sie nunmehr erschlossen sei, zu ihrem ersten Manne zurückkehren. Das Kind wurde vorher der Sitte gemäß getötet. 213  Vgl. etwa Sophokles, König Ödipus, v. 711 ff., 793.

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Erbe waren, dass der Vater in ihm die Sippe der Mutter ehrte und dass ihn die Pflicht traf, künftig anstelle des Vaters für die Mutter zu sorgen. Der Jüngste erhielt daher den väterlichen Hof (samt Inventar), der Älteste dage­ gen das gesamte Land – wobei es üblich war, dass er die mittleren Brüder darauf siedeln ließ. Verpflichtet war der Älteste ferner, seine noch nicht ver­ heirateten Schwestern an den Mann zu bringen. Gelang es ihm, durfte er dafür die vom Bräutigam zu zahlende Brautlösung (ngosa) in Empfang neh­ men. Starb ein Erblasser ohne einen männlichen Erben, trat nicht etwa seine Witwe die Erbschaft an, sondern sein ältester Bruder, der aber eine Levirats­ ehe mit der Witwe eingehen musste, wenn sie ihn darum bat. Freilich konnte sie sich auch einen anderen ihrer Schwäger zum Leviratsherrn erwählen; der Erbberechtigte hatte das zwar zu respektieren, verlor aber nicht sein Erbe.214 Eine Änderung der Intestaterbfolge war nicht möglich; der Erblasser konnte weder einem gesetzlichen Erben ein Vorrecht verschaffen noch gar einen Sippenfremden zum Erben einsetzen. Allerdings ließ sich das Fehlen eines testamentarischen Erb­ rechts dadurch umgehen, dass der Erblasser vor seinem Tode z. B. einem seiner mitt­ leren Söhne oder seinem Adoptivsohn einen Teil seines Vermögens (insbesondere ei­ nige seiner Rinder) schenkte oder ihm ein Anrecht für den Fall seines Todes einräum­ te.

Eigentum: Grund und Boden waren Gemeineigentum. Dieses war dreifach unterteilt: Ein Teil gehörte dem Clan, einen anderen hatte sich der Häuptling mittels Speer untertan gemacht, und ein dritter Teil war von Einwanderern urbar gemacht worden. Familieneigentum waren nur das Vieh und der Bana­ nenhain. Da zur Bewirtschaftung der Bananenhaine viel Wasser nötig war, hatten die Dschagga ein weites Netz von Kanälen geschaffen: große Kanäle in gemeinsamer Arbeit unter der Leitung des Häuptlings, kleinere Kanäle in Sippenarbeit. Spätere Siedler bildeten mit den vormals einzigen Nutzern eine Genossenschaft, deren Geset­ ze unterschiedlich je nach der Art der Wassergewinnung waren: ob es sich um Flussoder Quellkanäle handelte und um immer fließende oder aufgestaute. Über die Ein­ haltung der Gesetze wachten Verwalter, die insbesondere auch für die regelmäßige Reinigung der Kanäle und für die individuelle Wasserzuteilung zuständig waren.

Handel: Jeder Clan hatte einen Markt, wo die Frauen zusammentrafen, um überschüssige Feldfrüchte abzusetzen oder sie gegen andere Waren einzutau­ schen. Überwacht wurden die Märkte von den Häuptlingsfrauen und dem Bezirksvorsteher. Diese hatten das Recht, alle Marktvergehen auf der Stelle zu ahnden, etwa schlechte oder verfälschte Ware (z. B. unausgewachsene Bananenfrüchte, mit Wasser verdünnte Milch) zu vernichten und in Notzei­ 214  Hatte der Verstorbene keinen Bruder, konnte der Häuptling der Witwe nebst ihren unmündigen Kindern einen Vormund bestellen.



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ten gegen Wucherer einzuschreiten. Auf dem Markt abgeschlossene Verträge wurden erst wirksam, wenn die beiderseitigen Leistungen vollständig er­ bracht waren; zuvor konnte jeder Teil die eigene Leistung zurückverlangen. Diese Regel galt für Verträge über größere Tiere (Rinder, Ziegen) selbst dann, wenn sie, wie meistens, außerhalb des Marktes abgeschlossen wurden. Zur Sicherung der Gegenleistung konnte sich derjenige verbürgen, der das Geschäft vermittelt hatte und Zeuge seines Abschlusses wurde. Seine Bürg­ schaft bot dem Gläubiger freilich nur einen zweifelhaften Schutz, da er sich jederzeit von ihr lossagen konnte.215 Ein häufiger Vertrag war die sogen. Viehleihe (wara). Sie ermöglichte dem Verleiher, der seine Ställe bereits belegt hatte, Tiere bei ärmeren Familien unterzustellen und deren Dienste für die Pflege der Tiere, u. U. aber auch für die Bestellung seiner Äcker, in Anspruch zu nehmen. Diesen Diensten stand der Genuss der Milch gegenüber, die dem Entleiher verblieb, während die Kälber dem Eigentümer abzuliefern waren. Kam der Entleiher nach Ablauf der Leihzeit mit der Rückgabe in Verzug, konnte er seinem Gläubiger zunächst eine Wartegabe zukommen lassen, beispielsweise eine Kufe Bier. Kam er weiterhin in Verzug und leistete er auch den Bierzins nicht mehr, dann verblieb dem Gläubiger nur noch, entweder seine Frau beim Schuldner einzu­ quartieren oder sich selber vor dessen Tür zum Schlafen zu legen und ihm zu drohen: „Wenn mich der Leopard frisst, musst du für mich Blutbuße zahlen.“ Damit beschwor er über den Hof die Gefahr völligen Zusammenbruchs herauf, sodass der Schuldner nunmehr alle Hebel in Bewegung setzte, um den Gläubiger von seinem Hof zu ent­ fernen. Der Gläubiger seinerseits erreichte auf diese Weise, was ihm sonst streng verboten war: sich durch Selbsthilfe aus dem Schuldnervermögen zu befriedigen. Er hatte lediglich das Recht, außerhalb des Hofs weidendes Vieh und auf dem Feld ab­ gelegte Arbeitsgeräte zu pfänden,216 die der Schuldner dann auslösen musste.

Strafrecht: Außer den vorsätzlichen konnten auch fahrlässige Delikte Straf­ folgen nach sich ziehen. Eine strenge Trennung hätte der Gesamtbetrachtung widersprochen, welche die Dschagga jedem Fall angedeihen ließen und die den Motiven, aus denen es zur Tat kam, oft stärkeres Gewicht verlieh als dem finalen Akt. Das galt zum einen für die Brandstiftung, bei der selten feststell­ bar war, ob sie Folge von bösem Willen oder von Unachtsamkeit war. Das galt zum anderen aber auch für die Tötung, deren Beweis noch zusätzlich dadurch erschwert wurde, dass man sie nach allgemeiner Ansicht nicht nur auf physi­ schem, sondern auch auf metaphysischem Wege begehen konnte. Wollte beispielsweise ein Mann seine Frau loswerden, dann konnte er sie entweder erstechen oder aber einen Bananenschaft so herrichten, dass er als Abbild seiner Frau 215  Nur wenn der Schuldner kinderlos starb oder heimlich abwanderte, musste der Bürge an seine Stelle treten. Wurde er in Anspruch genommen, durfte er versuchen, sich an der Hinterlassenschaft des Schuldners schadlos zu halten. 216  Dabei war es gleichgültig, ob die Sachen dem Schuldner oder Dritten gehörten.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

dienen konnte, und diesen dann unter Äußerung von Flüchen durchbohren. Natürlich war die Frau im zweiten Falle nicht sogleich tot. Starb sie aber bald danach, galt er als der Urheber ihres Todes. Seine Strafe bestand dann in 7 Rindern und 7 Ziegen an den Vater der Frau, 4 Rindern und 4 Ziegen an den Mutterbruder und 2 Rindern an den Häuptling, weil er ihm eine Dienstkraft entzogen hatte. Überlebte sie (wahr­ scheinlich deshalb, weil ihre Ahnengeister sie schützten), waren aufgrund der ver­ suchten Tötung der Schwiegervater durch Lieferung eines Rindes und einer Ziege und die Frau selbst durch Hingabe einer Ziege zu versöhnen.

Weitere Delikte, für die der Täter mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen musste, waren insbesondere Körperverletzung, Diebstahl, Hehlerei und Ehr­ kränkung. Die Körperverletzung wurde je nach Schwere geahndet, beim Verlust eines Auges, Armes oder Beines durch die Verpflichtung zu dauernden Fleisch- und Milchlieferun­ gen für die Verpflegung des Verletzten. Die Strafen für Diebstahl und Hehlerei richteten sich teils nach dem Wert der ent­ wendeten Gegenstände, teils nach ihrem Verbleib. Wurde beispielsweise ein Rind gestohlen, an einen Hehler weitergereicht und von diesem irgendwo in der Landschaft versteckt, ließ der Häuptling gegen beide, Dieb und Hehler, einen sogen. ‚Fluchtopf‘ schlagen. Oft meldete sich daraufhin der Hehler und gab den Namen des Diebes so­ wie den Aufenthaltsort des Tiers bekannt, wodurch er Straffreiheit erlangte. Der Häuptling ließ dann den Dieb rufen und verurteilte ihn, sobald er mit einem Schaf und der Bitte um Gnade kam, das Rind dem Eigentümer zurückzugeben und ihm selbst ein Rind und ein Schaf für die Entzauberung des ‚Fluchtopfs‘ zuzuführen. Hatte der Dieb das gestohlene Rind allerdings bereits geschlachtet, dann musste er für jedes Bein, jedes Ohr, jedes Horn sowie für Zunge, Kopf und Hals je ein Bußrind, insgesamt elf an der Zahl, beibringen. Noch schlimmer erging es dem rückfälligen Dieb: Der Häuptling konnte seinen gesamten Viehbestand für verfallen erklären und ihn seinen Mannen übereignen. Ackerdiebstähle, die in Notzeiten häufiger vorkamen, wurden dagegen grundsätzlich nur mit geringen Bußzahlungen geahndet. Aber einem notorischen Faulpelz, den der Häuptling schon einmal verwarnt hatte, wurde die Hand abgehackt, sodass er elend zugrunde gehen musste, weil auch sein Clan meis­ tens nicht mehr für ihn sorgen wollte. Innerhalb der Ehrkränkungen unterschied man zwischen übler Nachrede, Verspot­ tung und Verfluchung. Für jede dieser Taten kannten die Dschagga mehrere Begriffe, die bezeugen, wie wichtig für sie solche Taten waren. Gesühnt wurden sie u. a. durch öffentlichen Widerruf sowie durch Überreichung einer Reinigungsziege an das Opfer. Bei der Strafzumessung wurde beachtet, ob die Tat aus Erregung, in Trunkenheit oder aus Berechnung geschehen war. Grundsätzlich schwerer wogen die Taten, wenn sie sich gegen den Häuptling richteten.

Rechtsverwirklichung: Man unterschied grundsätzlich zwischen Verfahren in Zivil- und in Strafsachen, ohne dass sich daraus aber erhebliche Folgen für den Ablauf des Verfahrens ergaben. Vertragliche Ansprüche wurden – im Unterschied zu Strafsachen – zu­ nächst in einem Güteverfahren vor dem Bezirksvorsteher (mtšili) auf dem



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Bezirksrasen verhandelt. Kam es zu keiner gütlichen Einigung, musste der Kläger sich an den Häuptlingshof wenden, wo dann ein formelles Streitver­ fahren stattfand, das im Gegensatz zum Güteverfahren kostenpflichtig war. Jede der Parteien erhielt dort zunächst einen Hofwächter zum Anwalt. Beide An­ wälte versuchten dann unter dem Vorsitz eines Sprechers, den Sachverhalt und die Schuldfrage einvernehmlich zu klären. Gelang das, gingen sie zu dritt zum Häuptling und trugen ihm die Angelegenheit vor. Der verhandelte nunmehr entweder nur mit ihnen über die aufzuerlegende Leistung und ließ die Entscheidung dann durch den Sprecher verkünden, oder er befragte nochmals die Parteien und entschied danach. Der Unterlegene konnte sich nunmehr entweder gemäß dem Spruche verhalten oder sich weigern, die dem Gegner zugesprochene Leistung zu erbringen. In diesem Fall schloss sich der Versuch einer Zwangsvollstreckung an: Der Häuptling beauftragte den Anwalt des Verurteilten, dem Richterspruch Geltung zu verschaffen und dem Kläger z. B. die ihm zustehenden Rinder aus dem Hofe des Verurteilten zuzuführen. Leistete der Verurteilte oder einer seiner Angehörigen Widerstand, konnte der Häupt­ ling nicht etwa Gewalt anwenden (lassen), vielmehr musste er sich auf Überredung verlegen sowie äußerstenfalls mit dem Schwingen des ‚Fluchtopfes‘ drohen. Weitere Machtmittel standen ihm nicht zur Verfügung, sodass letztendlich bei der Vollstre­ ckung die Gewalt siegte – entweder die des Schuldners oder die des Gläubigers, der sich nunmehr der Hilfe seiner Getreuen bedienen konnte.

Das Strafverfahren vollzog sich im großen Ganzen wie das streitige Zivil­ verfahren: Es fand auf dem Spruchrasen des Häuptlings statt, Kläger und Beschuldigter standen sich gegenüber, der Häuptling fällte das Urteil. Hatte der Beschuldigte sich zuvor selbst angezeigt, konnte der Häuptling ihm u. U. die Sühne erlassen – worauf der Schuldige sich allgemein mit einem Ge­ schenk dankbar zeigte. Leugnete er dagegen die Tat, dann musste man ins Beweisverfahren eintreten, um ihn zu überführen. Blutrache war in alter Zeit als Sühne für Mord bis ins 19. Jh. hinein noch durchaus gebräuchlich. Dann wurde sie jedoch durch die Häuptlinge beseitigt und durch ein Wergeld er­ setzt, für das der Clan des Mörders haftete. Diese Alternative gab es indessen auch schon früher. Denn zum einen war die Blutrache stets mit der Gefahr verbunden, zu erneuter Rache Anlass zu geben. Und zum anderen richtete sie sich nicht notwendig gegen den Täter, sondern u. U. gegen ein anderes Clanmitglied. Sollte sie doch Gleiches mit Gleichem vergelten und da­ durch gleichen Schmerz erzeugen: Auf die Tötung einer schwangeren Frau sollte also die Tötung einer ebenfalls schwangeren Frau aus dem Clan des Mörders folgen. Das wurde in neuerer Zeit jedoch als letzthin ungerecht empfunden. Allerdings galt bei den Dschagga auch die Regel, dass nach geschehener Rache der Streit beigelegt war und sogar der Mörder sich wieder frei bewegen konnte, falls die Rache an ihm vorbeigegangen war. Es war dann Sache seines Clans, sich für ein etwa gezahltes Wergeld an ihm schadlos zu halten. Diese Art der Rechtsverfolgung dulde­ ten die Häuptlinge jedoch in neuerer Zeit nicht mehr. Stattdessen boten sie zunächst dem Verfolgten Asyl in ihrem Hause an und versuchten dann, die Angelegenheit durch Zahlung des Wergeldes aus der Welt zu schaffen. Dadurch stellten sie jedoch

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

denjenigen besser, dem es gelang, bei ihnen Zuflucht zu finden, während der auf dem Weg dorthin gefasste Verbrecher die volle Rachewut des verletzten Clans zu spüren bekam. Später verboten sie deshalb überhaupt die Ausübung von Selbstjustiz und übernahmen sogar die Zahlung des Wergeldes, falls der Clan des Mörders dazu au­ ßerstande war.

Beweisverfahren: Wichtigste Beweismittel in einem Zivil- oder Strafver­ fahren waren die Zeugen. Vor ihrer Vernehmung ermahnte der Häuptling sie zur Wahrheit, etwa indem er sagte: „Ich habe den Fluchtopf, den kann ich über dein Zeugnis schwingen lassen, meine Stirn und Handfläche können dich verderben, wenn du lügst.“ Nach ihrer Aussage mussten die Zeugen daher die Stirn des Häuptlings berühren und dabei die Worte zu sprechen: „Die Stirn des Häuptlings töte mich.“ Ferner mussten sie die Handfläche des Häuptlings lecken. Falls keine Zeugen vorhanden waren, konnte der Beschuldigte von sich aus den Häuptling ermächtigen, den Fluchtopf an den Kläger auszuhändigen. Er tat dies mit den Worten: „Der Fluchtopf soll sich gegen den Kläger wenden, wenn dieser Unge­ rechtes fordert.“ Nunmehr konnte der Kläger den Topf schwingen, und man wartete eine vorbestimmte Zeit, in wessen Familie ein Angehöriger oder ein Haustier starb – dort war dann der Verfluchte zu Haus. Am häufigsten wurde der Fluchtopf allerdings vom Bestohlenen gegen den von ihm verdächtigten Dieb geschwungen. Erfuhr dieser durch eine Ankündigung auf dem Markt davon, brachte er meistens das gestohlene Gut heimlich wieder zurück – zusammen mit Ranken und Zweigen, die der Entsüh­ nung dienen sollten. Erfuhr er nichts, konnte sein Hof nach den gestohlenen Sachen durchsucht werden.

Wie in anderen primitiven Rechtskulturen hatte auch bei den Dschagga das Ordal (kimanganu = Beender einer Ableugnung) eine wichtige Beweis­ funktion. Es gab mehrere Arten, doch wurden das Stechapfel- (Datura-) und das Pfriemordal am häufigsten gebraucht. Der Stechapfeltrank war dafür bekannt, dass er eine halluzigene Wirkung erzeugte und sein Genuss mit einem Verlust, zumindest aber einer Verminderung der Willens­ kraft verbunden war217 (freilich u. U. auch zu langwierigen Vergiftungserscheinungen führte). Dadurch sollte derjenige, der davon trank, zum Bekenntnis seiner Schuld gebracht werden. Das Pfriemordal bestand darin, dass man dem Beschuldigten (oder einem Ziegenbock oder Schaflamm) ein zugespitztes Stück Draht durch die Hautfalte eines Mundwinkels stieß und den Rechtsfall darnach entschied, ob Blut kam (= schul­ dig) oder nicht (= unschuldig).

217  Man wird daher annehmen dürfen, dass dieses Ordalverfahren häufiger zu ei­ nem wahrheitsgemäßen Geständnis führte als die sowohl im Altertum als auch danach noch geübte Folter. Die Folter wurde bei den Dschagga zwar auch angewandt, aber nur auf Verlangen eines Clans, der für die Schulden eines seiner Angehörigen einste­ hen sollte, obwohl er annahm, dass der Angehörige seine Schulden selbst bezahlen kann, sein Vermögen (z. B. seine Rinder) aber irgendwo versteckt hielt (z. B. in frem­ den Ställen abgestellt hatte).



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Weitere Behelfe, um unter mehreren Verdächtigen einen als Täter zu überführen, waren Losstäbchen. Sie wurden bei einem Wahrsager in eine Kalebasse218 getan, die dann unter beschwörenden Worten geschüttelt wurde. Wessen Hölzchen zuerst her­ ausfiel, der war’s gewesen. Reinwaschen konnte er sich dann nur noch durch ein Stechapfel- oder Pfriemordal.

d) Die Rechtsentwicklung innerhalb von Königreichen Ich habe bisher den Begriff ‚Herrschaft‘ vernachlässigt und lediglich einen der Gründe genannt, weshalb es zu Herrschaftsstrukturen219 kam: nämlich um eine soziale Arbeits- und Aufgabenteilung organisatorisch durchzusetzen. Eine Arbeits- und Aufgabenteilung aber bedingte die funktionale Ungleich­ heit und erzeugte das Problem, wie dennoch die zum Zusammenleben erfor­ derliche Gleichheit aller Mitglieder einer Gemeinschaft erhalten werden kann. Die Lösung lag in einer politischen Gleichheit, und die musste von einer mit zentraler Machtbefugnis ausgestatteten politischen Instanz herge­ stellt werden – m. a. W. durch die Institutionalisierung zentraler politischer Herrschaft. In Anlehnung an Max Weber220 kann man ‚Herrschaft‘ definieren als die Institutionalisierung einer von den Betroffenen anerkannten, auf Dauer ge­ stellten221 und i. d. R. zwangsbewehrten Macht. Legitim ist die Ausübung der Macht, wenn die Betroffenen sowohl die Gründe des Machtbesitzes als auch die Ziele der Machtausübung anerkennen. In der Geschichte ist deshalb Herrschaft niemals als brutale Gewalt aufgetreten, sondern stets versehen mit

218  Eine

ses.

Kalbasse ist die ausgehöhlte und getrocknete Hülle eines Flaschenkürbis­

219  Der Begriff ‚Struktur‘ soll hier eine Stufe im evolutiven Prozess der Institutio­ nalisierung (oder Deinstitutionalisierung) von Herrschaft bezeichnen. 220  M. Weber (1922/2005), S. 135: „Unter ‚Herrschaft‘ soll hier der Tatbestand verstanden werden: dass ein bekundeter Wille (‚Befehl‘) des oder der ‚Herrschenden‘ das Handeln anderer (des oder der ‚Beherrschten‘) beeinflussen will und tatsächlich in der Art beeinflusst, dass dies Handeln, in einem sozial relevanten Grade, so ab­ läuft, als ob die Beherrschten den Inhalt des Befehls, um seiner selbst willen, zur Maxime ihres Handelns gemacht hätten (‚Gehorsam‘).“ Kürzer S. 726: Herrschaft ist „die Chance, Gehorsam für einen bestimmten Befehl zu finden.“ Noch kürzer T. von Trotha (1995), S. 15: „Herrschaft ist institutionalisierte Macht.“ 221  Den genetischen Aspekt der Herrschaft betont P. Imbusch (2008), S. 174: „Herrschaft ist Macht, die sich verdichtet, verfestigt, verstetigt und akkumuliert hat. Denn im Gegensatz zur Macht zeichnet sich Herrschaft durch eine gewisse Dauerhaf­ tigkeit aus. Herrschaft kann entsprechend auch als ein institutionalisiertes Dauerver­ hältnis der Machtausübung einer übergeordneten Person oder Personengruppe gegen­ über untergeordneten Gruppen verstanden werden, das ohne ein Mindestmaß an An­ erkennung und Gehorsam … nicht möglich wäre.“

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Gründen und Zielen. Gründe für den Machtbesitz waren in der Antike insbe­ sondere •• der Glaube an das übernatürliche Charisma eines Herrschers: dass er mit Göttern oder anderen übernatürlichen Mächten im Bunde sei und von ih­ nen die Befähigung und Berufung zur Ausübung von Herrschaft empfan­ gen habe (M. Weber: „charismatische Herrschaft“); •• das Vertrauen in den Charakter eines Herrschers: dass er erwiesenermaßen das friedliche Zusammenleben seiner Untertanen sichern, das Land gegen äußere Feinde schützen, den sozialen Wohlstand zu mehren und ihn ge­ recht verteilen wird (M. Weber: „rationale Herrschaft“); •• die Wertschätzung einer kontinuierlicher Herrschaft: dass sie dauernden Frieden und Wohlstand garantiere und dann am besten verbürgt sei, wenn sie sich vom Vater auf den Sohn vererbe (M. Weber: „traditionale Herr­ schaft“).222 Ziele waren in der Antike insbesondere •• die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung durch ein öffentliches Gewalt­ monopol (‚konservatives Sicherheitsziel‘), •• der Schutz der bürgerlichen Freiheit durch eine hoheitliche Verwaltung und der Gerechtigkeit durch unabhängige Gerichte (‚liberales Sicherheits­ ziel‘), •• die Festigkeit der Reichsgrenzen aufgrund der Politik des Herrschers und der Macht eines gut bewaffneten Heeres (‚militärisches Sicherheitsziel‘), •• das wirtschaftliche Wohl des gesamten Volkes (einschl. der „Witwen und Waisen“) (‚ökonomisches Sicherheitsziel‘). Antike Herrscher waren bemüht, ihren Untertanen die Gründe ihrer Herr­ schaft glaubhaft zu machen und ihnen die Zuversicht an das Erreichen der Ziele ihrer Herrschaft zu vermitteln: Sie umgaben sich mit der Aura des Wissens um die kosmische Ordnung, in die auch die überkommenen Sitten und das Recht des Landes eingebettet seien, und nahmen für sich in An­ spruch, im Bunde mit den Göttern den Fortbestand der inneren Ordnung und der äußeren Sicherheit garantieren zu können; sie stellten sich als diejenigen dar, die aufgrund des von ihnen ausgehenden äußeren und inneren (geistigen) Glanzes auch den Glanz des Reiches, den Frieden im Lande und den ökono­ mischen Reichtum des Volkes gewährleisten können;223 und sie behaupteten, 222  M.

Weber (1922/2005), S. 124. Vgl. ferner C. J. Friedrich (1966), S. 18 ff. Herrschaft war deshalb in der Antike stets mit einem extremen Reprä­ sentationsbedürfnis verbunden, was mit ihrem Mangel an Selbstverständlichkeit zu­ sammenhängt. „Die Institution der Zentralherrschaft legt sich als eine vollkommen 223  Zentrale



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dass sowohl sie als auch diejenigen, auf die dereinst ihr Geist übergehen werde, die einzig legitimen Verkörperungen der politischen Integrationsidee und die zentralen Autoritäten der gesellschaftlichen Normenordnung seien.224 Viele Häuptlinge mögen sich um diesen Glauben und diese Zuversicht ihrer Untertanen bemüht haben. Doch nur denjenigen unter ihnen, die ich als ­Könige bezeichne,225 gelang es, sich gleichermaßen als oberste Herrscher, oberste Priester und oberste Richter zu etablieren und diese dreifache Stel­ lung kraft Erbfolge in ihrer Familie zu halten. Ihre Herrschaft vererbten sie meistens auf ihren ältesten Sohn; denn es entsprach allgemeiner Überzeu­ gung, dass der Geist des Vaters auf die Söhne übergehe (während die Mutter den Leib beisteuere) und dass dem ältesten unter ihnen der Vorrang vor den jüngeren gebühre. Fehlte es an einem männlichen Nachkommen, dann trat aus der Seitenlinie meistens der jüngere Bruder des Königs an seine Stelle und vererbte seinerseits die Herrschergaben. Unklar ist, seit wann es zur Wahl eines Königs kam. Mit Sicherheit ging ihr die bloße Anerkennung von Herrschaft seitens der Betroffenen voraus: Jemand warf sich zum Herrscher auf, und das Volk fügte sich ihm entweder freiwillig oder gezwungen. Die Erblichkeit der Königswürde wurde wahrscheinlich in derselben Weise durchge­ setzt. Doch zeigt das Beispiel des Agamemnon auch, dass selbst ein Königsmörder sich zum neuen König aufwerfen konnte, ohne dass das Volk dagegen rebellierte ‒ wahrscheinlich wurde in frühester Zeit auch tatsächlich die Nachfolge in das König­ samt häufig auf diese Weise ‚geregelt‘. Unklar ist ferner, welche Rechte in frühester Zeit mit dem Königsamt verbunden waren. Das Richteramt stand sicherlich in der vordersten Reihe, da es regelmäßig schon mit der Häuptlingswürde verbunden war. Von den Pflichten, die erst mit dem Königsamt verbunden waren, ist die Beiziehung eines Beratungsgremiums für wichtige Entscheidungen erwähnenswert, da ein sol­ ches Gremium nachweislich auch in die richterlichen Entscheidungen einbezogen wurde.226

neuartige Form politischer und sozialer Makro-Organisation über eine Fülle lokaler ethnischer Verbände und ist mit ihrem Anspruch auf Gehorsam darauf angewiesen, sich bis in die entferntesten Provinzen in eindrucksvoller und einschüchternder Weise zu repräsentieren“ (J. Assmann, 2003, S. 28). 224  Vgl. M. Fortes/E. E. Evans-Pritchard (1978), S. 166: „Für sein Volk ist ein afrikanischer Herrscher … die Achse seiner politischen Beziehungen, das Symbol seiner Einheit und Einzigartigkeit und die Verkörperung seiner wesentlichen Werte.“ 225  Der aus dem Althochdeutschen stammende Begriff ‚König‘ bezeichnete ur­ sprünglich jeden ‚aus einem vornehmen Geschlecht stammenden Mann‘. Der Begriff wird hier und im Folgenden ohne Rücksicht darauf verwendet, ob sich in der jewei­ ligen Landessprache ein entsprechender Begriff nachweisen lässt und ob der oberste Herrscher diesen als Titel führte. Entsprechendes gilt für den Begriff ‚Königreich‘, der im Folgenden ein Herrschaftsgebiet bezeichnet, das von einem König regiert wird. 226  Nachweise etwa bei F. Bernhöft (1878), S. 305 ff.

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Könige konnten sich vor allem in Gegenden etablieren, die einerseits fruchtbar genug waren, um eine stark anwachsende Bevölkerung zu ernäh­ ren, andererseits abgegrenzt genug, um ein Ausweichen des Bevölkerungs­ überschusses in benachbarte Gebiete zu verhindern.227 Unter diesen Voraus­ setzungen war es Herrschern möglich, ihre Untertanen zur Ableistung von Militär- und Arbeitsdiensten, zur Zahlung von Steuern und zum Gesetzesge­ horsam zu zwingen, und kraft positiver Rückkopplung (Autokatalyse) da­ durch ihre Macht zu verstärken.228 Dass zusätzlich die Götter ihre Macht le­ gitimierten, begründeten sie damit, dass sie in schwierigen Situationen gött­ lichen Rat und bei der Ausführung der Ratschläge göttliche Unterstützung erhielten. Doch waren derlei Behauptungen nicht ungefährlich; denn als Götterlieblinge durften sie keine Fehlentscheidungen treffen. Deshalb zehrte jede Fehlentscheidung und jede Minderung des Volkswohlstands an ihrer Legitimation – weshalb in weiser Voraussicht die wahrhaft klugen Könige sich vor allen waghalsigen Unternehmungen hüteten, die ihrem Volk Scha­ den bringen und sie selbst den Thron kosten konnten. Wichtig für den Wohlstand eines Königreiches war in erster Linie der Reichtum der Natur, vor allem die Fruchtbarkeit des Bodens, in zweiter Linie das geordnete Zusammenleben arbeitsamer Menschen und die Sicherheit vor feindlichen Überfällen. Den Reichtum der Natur konnten die Könige nur we­ nig beeinflussen. Umso mehr Einfluss hatten sie dagegen auf den Aufbau ei­ ner Bürokratie, die selbst in den entferntesten Winkel ihres Reiches darauf achtete, dass die Bevölkerung nach Sitte und Recht lebte, fleißig arbeitete so­ wie den Anweisungen des Hofes folgte. Garanten dafür waren ein ausgebilde­ tes Verwaltungsrecht sowie ein Strafrecht, das Zuwiderhandlungen gegen die Anweisungen der königlichen Beamten mit harten Sanktionen bedrohte (die dann allerdings regelmäßig durch Geldzahlungen oder Sachleistungen abge­ golten werden durften). Gegen die ungerechte Behandlung seitens eines kö­ niglichen Beamten konnte die Bevölkerung sich an die Gerichte wenden, und gegen die Entscheidungen der Gerichte – damit schloss sich der Kreis – teil­ weise an den königlichen Hof, wo die Hofbeamten Fällen des Machtmiss­ brauchs durch die örtlichen Autoritäten genauestens nachgingen229 und schwere Verfehlungen an den König oder einen seiner Minister meldeten. Mit­ 227  Vgl. P. Weise u. a. (2005) S. 618. Afrikanische Königreiche waren u. a. die der Aschanti (Ghana), Bamum (Kamerun), Edo (Benin bzw. Nigeria), Fon (Dahomey), Ganda (Uganda), Kongo, Lozi (Sambia), Malinke (Senegal, Mali, Guinea, Elfenbein­ küste), Mosi (Ober-Volta), Nupe (Sudan), Rundi (Burundi) und Zulu (Südafrikanische Republik). Zu ihrer Entstehung vgl. noch unten J 3 c δ. Zur Aufgliederung vgl. oben Fn. 119. 228  Ergänzend Ch. Henke (2010), S. 145. 229  Einen solchen Missbrauch abzustellen, war wichtig, weil die Könige aufgrund der Rituale, die zu ihrer Einsetzung führten, verpflichtet waren, die traditionellen re­



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unter erfuhr der König dadurch auch etwas über einen vorbereiteten Aufstand gegen seine Herrschaft, sodass er rechtzeitig das Heer mobilisieren konnte. Es ist einleuchtend, dass diejenigen Königreiche am mächtigsten waren, die am besten regiert wurden. Sie konnten ihre schlechter regierten Nachbar­ reiche deshalb besiegen und sie ihrem eigenen Territorium einverleiben. Je größer ein Königreich dadurch wurde, desto mehr musste freilich die Autori­ tät seines Zentrums ausgebaut und desto strenger die bürokratische Verwal­ tung von der Spitze aus organisiert werden. Ermöglicht wurde dies u. a., in­ dem man die Häuptlinge der besiegten Nachbarstämme als Satrapen (great chiefs) in den eroberten Gebieten weiterhin regieren ließ. (Besonders gut können wir in historischer Zeit diese Entwicklung im persischen Großreich beobachten.) Die Aufgaben der Satrapen bestanden alsdann darin, Sitte und Recht in ihrem Distrikt zu pflegen sowie die Steuern und Abgaben der Unt­ rertanen zu kassieren und an den Hof zu leiten, um den Repräsentationsauf­ wand der Königsfamilie sowie ihres Hofes zu finanzieren. Die Steuern und Abgaben galten allgemein als Gegenleistungen für die Garantie der inneren Ordnung und der äußeren Sicherheit, die dem Land seitens des Hofes ge­ währt wurden. Die ursprüngliche Sitte der Redistribution – durch Veranstal­ tung von großen Festen, an denen jedermann teilnehmen konnte – ging dage­ gen verloren; die Könige verbrauchten den größten Teil der eingehenden Gelder für Zeremonien, zu denen zwar auch Festveranstaltungen gehörten, an denen das einfache Volk aber nicht teilnehmen durfte. Geladen wurde nur eine Oberschicht, die vor allem aus den Satrapen-Häuptlingen und ihrem Gefolge bestand. Zusätzlich zu den Steuern der Untertanen spülte der Fernhandel mehr und mehr Geld in die königlichen Kassen, da jeder Grenzübertritt ins Reich mit einem Zoll belastet war. Aber auch die Rechtsentwicklung erhielt durch den Fernhandel Auftrieb, da die Kaufleute nicht nur fremde Waren ins Land brachten, sondern auch fremde Rechtsanschauungen. Vor allem das allge­ meine Vertragsrecht und das spezielle Kauf-, Kredit- und Sicherungsrecht profitierten davon: das Vertragsrecht, weil es allmählich seine starre, feierli­ che Form zugunsten des schlichten Handschlags o. ä. aufgab, mit dem die Verträge ‚besiegelt‘ wurden; das Kredit- und Sicherungsrecht, weil es den Ankauf von Waren gegen dingliche und persönliche Sicherheiten ermög­ lichte, sodass erst nach Weiterveräußerung bezahlt werden musste.

ligiösen, sittlichen und rechtlichen Normen einzuhalten, und die effektive politische Kontrolle ihr wichtigstes Mittel war, dieser Pflicht nachzukommen.

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Zusatz: Die Edo als Beispiel eines afrikanischen Königreiches Als Edo werden die Bini, d.s. die Bewohner des alten Königreichs Benin, bezeichnet. Sie lebten und leben noch heute im Nigerdelta – einem Gebiet, das jetzt zum Staat Nigeria gehört.230 Die Kunstgeschichte hat sich mit den Edo (Bini) intensiv beschäftigt.231 Eine et­ was genauere Rekonstruktion ihrer politischen Geschichte ist jedoch erst für die Zeit ab 1300 möglich.232 Ihr voraus ging die dynastische Ära der Igodo, einer relativ un­ differenzierten Gesellschaft, die durch ein einigermaßen ausgeglichenes Machtver­ hältnis zwischen dem Ogoso (als oberstem Herrscher) und den unterschiedlichen lo­ kalen Autoritäten (Enejie) geprägt war. Ihre Ära endete 1320, als der letzte Monarch, der sich allgemein unbeliebt gemacht hatte, vom Thron vertrieben wurde. Nach einer kurzen Übergangszeit entwickelte sich bis Mitte des 15. Jh.s eine zentralisierte Mon­ archie mit einem Oba als politischem Herrscher233 sowie mit einer einheitlichen ge­ sellschaftlichen Struktur. Es gelang, die innere Opposition der segmentären Herrscher zurückzudrängen und die äußere Macht durch Aufstellung eines disziplinierten Heeres zu stärken. Beides ermöglichte die Okkupation von Teilen der landeinwärts gelegenen Waldregion sowie den Aufschwung der Wirtschaft und die Kräftigung des Handels. Auch die folgende Zeit bis 1509 war durch ökonomische und territoriale Expansion gekennzeichnet. Oba Ozolua, der letzte Herrscher dieser Periode, „fought and won no less than two hundred battles“234. Er vergrößerte dadurch seine Herrschaft und baute Benin zum Verbindungszentrum von vier Handelsrouten aus, deren erste durch die Küstenregion (Lagune), deren zweite nach Osten durch das Flussdelta, eine dritte nach Norden durch das Hinterland Richtung Sahara und eine vierte von der Küste bis nach Europa verlief. Besonders die beiden letztgenannten Handelsrouten gewannen in der Folgezeit große Bedeutung, verstärkten aber auch den äußeren Einfluss der durch­ weg portugiesischen Händler sowie die inneren Abspaltungstendenzen von der Zen­ tralmacht. In der ersten Hälfte des 16. Jh.s veränderte sich schließlich die politische Geographie, weil Benin einerseits im Konflikt mit dem im Norden gelegenen Idah ein wichtiges Herrschaftsgebiet verlor (1515–1516), andererseits diesen Verlust durch die Einverleibung von Lagos und Mahin mehr als aufwiegen konnte (1536–1563).

Die Edo waren hervorragende Händler. In jedem größeren Ort hatten sie einen Markt, wo sie die Produkte des Landes (Jamswurzeln, Bananen, Mais, Zuckerrohr u. a., einfache Werkzeuge und Handarbeiten) feilhielten. Darüber hinaus gab es seit dem 15. Jh. eigene Märkte für Sklaven, Elfenbein, Palmöl, Pfeffer und andere Produkte, die (auch) zur Ausfuhr bestimmt waren, sowie für Samt, Seide, Gold- und Silberwaren, Brillen, Gin und andere Produkte, 230  Das

Königreich Benin ist daher kein Vorläufer des heutigen Staates Benin. Edo waren (und sind) berühmt für ihre handwerkliche Geschicklichkeit und insbesondere für die künstlerische Qualität ihrer Holzplastiken. 232  Vgl. zum Folgenden J. U. Egharevba (1960); R. A. Sargent (1999), p. 75 ff. 233  Der Titel Oba ersetzte den Ogoso-Titel. Er wurde offenbar eingeführt, um die neue Monarchie von der abgewirtschafteten Igodo-Herrschaft abzugrenzen. 234  J. U. Egharevba (1960), p. 23. 231  Die



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die aus Europa eingeführt wurden. Von allen eingeführten Waren mussten Zölle an den königlichen Hof abgeführt werden. Darüber hinaus verlangte man an den Toren der meisten größeren Städte Zölle, sodass reichlich Kapi­ tal auch in die Haushalte der lokalen Herrscher floss. (α) Verfassung. Wie erwähnt, war oberster Herrscher in Benin ein König (Oba). Seine Person war heilig, seine Herrschaft unumschränkt. Er war oberster Priester und höchster Richter, konnte Gesetze erlassen, ändern und aufheben, Häuptlinge ernennen und aus ihrem Amt entfernen (ihnen aller­ dings nicht ihren Titel nehmen), Sklaven freisprechen, Verräter und Rebellen aus dem Lande verbannen, Verbrecher bestrafen oder begnadigen (die Ver­ hängung der Todesstrafe war ihm vorbehalten) und über Krieg oder Frieden entscheiden. Er war aber nicht nur allmächtig, sondern auch ‚ewig‘; denn starb er, folgte sein ältester Sohn ihm nach, und wenn kein Sohn vorhanden war, trat sein ältester noch lebender Bruder an seine Stelle. Kurzum, ein ge­ netisches Band verknüpfte die beninischen Könige miteinander und garan­ tierte eine ununterbrochene Tradition weit über die Jahrhunderte hinweg. Töchter, wie Frauen überhaupt, waren von der Regentschaft ausgeschlossen. Das bedeutete freilich nicht, dass Frauen auf die Regierungsgeschäfte keiner­ lei Einfluss hatten. Ihr Einfluss, selbst der der Lieblingsfrau, blieb indessen inoffiziell – mit Ausnahme der Königsmutter: Sie stand im Range den Ratge­ bern des Königs gleich. Die Ratgeber des Königs führten die Regierungsgeschäfte. Ihr Zentrum war ein Kabinett unter der Führung eines Premiers. Mit ihm pflegte der Kö­ nig in geheimer Sitzung alle wichtigen Angelegenheiten zu besprechen, be­ vor sie einer Ratsversammlung zur Entscheidung vorgelegt wurden. Haupt­ aufgabe der Ratsversammlung war es dann weniger, die Entscheidungen zu billigen (das war selbstverständlich), als vielmehr ihre Ausführung durch entsprechende Gesetze in die Tat umzusetzen. Außerdem hatte sie über alle Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, die der König nicht wegen ihrer Wich­ tigkeit an sich zog. Eine spezielle Aufgabe kam ferner in Kriegszeiten dem Premier zu: Er war der Oberbefehlshaber des bis zu 50.000 Mann starken Heeres. Unterhalb dieser höchsten Regierungsebene waren in den Städten und größeren Dörfern königliche Beamte tätig, die entweder vom König selber oder von eigens damit Beauftragten ernannt wurden. Beschäftigt wa­ ren sie vor allem mit der Eintreibung der Abgaben an den Königshof und mit der Rechtsprechung in zivilen Streitigkeiten. Bewährten sie sich, konnten sie an den Königshof berufen werden. Bewährten sie sich nicht, missbrauchten sie gar ihre Macht zu illegalen Handlungen, konnten sie des Amtes enthoben und streng bestraft werden (während ihnen ihr Titel verblieb).235 235  Manche

Titel wurden sogar innerhalb der Familie erblich.

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(β) Familienrecht: Die Edo waren eine patrilineare Gesellschaft. Die Fa­ milienzugehörigkeit jedes Einzelnen war klar geregelt, weil die Familie ei­ nerseits Schutz gewährte, andererseits Pflichten mit sich brachte. Um ihren Zusammenhalt zu betonen, nannten sich alle Familienangehörige „Brüder“ und „Schwestern“, auch wenn sie nur entfernt miteinander verwandt waren. Ausnahmen galten lediglich für Verwandte der 1. bis 3. Ordnung: Sie waren nicht nur Vater und Mutter, Großvater und Großmutter, sondern sie hießen auch so. Gewöhnlich lebten drei Generationen zusammen in einem großen Gehöft, das aus einem zentralen Hofgebäude und den umgebenden Wohneinheiten für die Frauen bestand.236 Oberhaupt war der Vater, dessen unbedingte Auto­ rität sowohl mit der Schutzpflicht als auch mit der Verantwortung für alle im Gehöft Wohnenden verbunden war. Streitigkeiten innerhalb des Hauses konnte er nach Ermessen regeln, für Fehlverhalten Strafen verhängen. Die im Gehöft wohnenden Frauen unterstanden zusätzlich der Herrschaft der ältes­ ten Frau. Jeder Mann hatte ein Recht auf mehrere Ehefrauen. Die meisten Männer machten davon auch Gebrauch, weil sie in Benin keinen Brautpreis zu zah­ len brauchten. Der Heirat ging gewöhnlich eine Verlobung voraus, die vom Vater der Verlobten arrangiert wurde.237 Die Hochzeit fand, nach Einholung eines Orakels, zwei Wochen bis drei Monate danach statt. Wichtigster Bestandteil der Hochzeit war die Überführung der Braut aus ihrem Haus in das des Bräutigams. Die Zeit danach verging mit Besuchen zunächst des Bräutigams bei seinen Schwiegereltern, um ihnen Dank zu sagen, sodann des Vaters der Braut im neuen Haus, um ein Geschenk in Empfang zu nehmen, und schließlich der Mutter, um ein mit Blut beschmiertes weißes Tuch als Beweis für die Jungfräu­ lichkeit ihrer Tochter zu überbringen und ebenfalls ein Geschenk als Lohn für deren Bewachung zu erhalten.

Ehebruch war beiderseits streng untersagt. Kam die Tat des Mannes ans Licht, musste er mit einer fühlbaren Geldstrafe rechnen, u. U. konnte sogar sein Vermögen konfisziert und der Krone übereignet werden. Beging die Frau die Tat, erging es ihr noch schlimmer: Sie wurde in Ketten gelegt und ausgepeitscht, und in den höheren Ständen drohte ihr sogar der Tod.

236  Die Frauen des Königs lebten dagegen streng bewacht in einem Harem. Sie waren dort nur von Eunuchen und Dienerinnen umgeben und durften den Harem nicht verlassen. 237  Die Verlobung wurde zwischen den Vätern der Verlobten abgeschlossen und mit der (faktischen) Auslieferung der Frau unter die Herrschaft des Mannes erfüllt. Ihr entsprach später ein in Griechenland ἐγγύη genannter Vertrag, den der κύριος der Frau abschloss und durch den Übergang der Frau in die κυριεία des Mannes (der ἔκδоσις) erfüllte.



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Unverheiratete Frauen, die mit einem Manne Geschlechtsverkehr hatten, brauchten dagegen nur mit Schande zu rechnen. Empfingen sie ein Kind, gehörte es dem Vater. Das von einer verheirateten Frau im Ehebruch erzeugte Kind gehörte dagegen ihrem Ehemann, der es gewöhnlich allerdings wie einen Sklaven hielt oder auf dem Markt verkaufte.

Eine Scheidung der Ehe war nur möglich bei Impotenz oder dem Ausbruch einer auch für andere gefährlichen Krankheit. Nach dem Tode des Mannes wurden sämtliche Ehefrauen jedoch frei und erhielten das Recht, sich wieder zu verheiraten. Für ihre noch minderjährigen Kinder musste dann der neue Ehemann sorgen. Blieben sie verwitwet, übernahm ein Onkel die Erziehung und die Verwaltung der ihnen zukommenden Erbschaft. (γ) Sachenrecht: Grund und Boden waren in Benin kommunales Eigentum, über das auch der König nur als Repräsentant des Volkes verfügen durfte. Verfügte er darüber zugunsten einer Gruppe (z. B. einer Sippe), dann durfte diese das Land für immer und ewig nutzen. Nur wenn sie ausstarb und das Land zu verwahrlosen drohte, konfiszierte es der König und gab es anderen Interessenten. Als Gegenleistung für die Landüberlassung schuldeten die Begünstigten dem Kö­ nig gewisse Dienste sowie die Teilnahme an gemeinnützigen Arbeiten. Ein Entgelt brauchten sie dagegen nicht zu zahlen.238 Da das Land im Sinne der Ahnen und künftiger Generationen genutzt werden musste, war seine Veräußerung i. d. R. ausge­ schlossen. Über die Einhaltung des Verbots wachte ein sog. Erdherr (chef de terre) als Treuhänder. Er war auch zuständig für die religiösen Handlungen, die sich mit der Nutzung des Landes verbanden und die u. a. Bitten an die Erdgeister bei der Aussaat und Dank an sie bei der Ernte einschlossen. Ferner war er Richter, wenn es zwischen Landbesitzern zu Auseinandersetzungen kam.

Ein Pfandrecht an Sachen für eine Schuld zu bestellen, war in Benin nicht üblich. Stattdessen vergeiselte man sich oder einen seiner Angehörigen. Der Wert der Dienste, die der Geisel dann leisten musste, galt als Zinszahlung und wurde nicht auf das geschuldete Kapital angerechnet. Stattdessen erhielt der sich selbst vergeiselnde Schuldner monatlich eine Freizeit, worin er ver­ suchen konnte, das Kapital zur Tilgung seiner Schuld durch anderweit geleis­ tete Arbeit aufzubringen. Misslang ihm das über mehrere Jahre, kam er 238  Das war beispielsweise im Königreich Bunyoro anders geregelt: Dort verteilte der Mukama (der älteste Spross der königlichen Sippe) das Land an seine Untertanen, die ihm dafür aber beträchtliche Mengen an Nahrungsmitteln, handwerklichen Er­ zeugnissen und Dienstleistungen schuldeten. Grund für die unterschiedliche Regelung war ursprünglich, dass der Mukama zur Redistribution an seine Untertanen verpflich­ tet war. Davon war jedoch Mitte des vorigen Jahrhunderts, als John Beattie das Kö­ nigreich erforschte, längst nicht mehr die Rede. Die Einkünfte („in cash, not kind“) kamen statt den Untertanen vor allem dem Mukama selbst und seinen Verwandten zugute, darüber hinaus seinem Hofstaat und seinen Günstlingen (Einzelheiten bei J. Beattie, 1960, p. 30 ff., 34 f.).

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meistens auch ohne Tilgung frei, so dass seine Versklavung vermieden wurde. Sklaven gab es. Wann und wo die Sklaverei erfunden bzw. in Gang gesetzt wurde, ist unbekannt. Aber sie breitete sich überall aus, wo die Menschen sesshaft wurden und daher auf Arbeitskräfte angewiesen waren. Sie wurden im Krieg gefangen oder auf dem Markt erworben und galten als Eigentum ihres Herrn. In Benin waren sie den Sachen aber nicht schlechthin gleichge­ stellt, sondern wurden i. d. R. gut behandelt. Insbesondere die dem König dienenden Sklaven konnten ein ziemlich normales Leben führen. Dafür hat­ ten sie jedoch keine Hoffnung auf spätere Freiheit, während die übrigen Sklaven zwar hart arbeiten mussten, sich jedoch für das Geld, das sie von ihrem Herrn erhielten, schließlich freikaufen konnten. (δ) Erbrecht: Starb der Vater, war Erbe in erster Linie sein ältester Sohn. Doch obwohl er den größten Teil des Vermögens erhielt – Haus, Plantagen, Frauen, Sklaven, Vieh u. a. –, wurden auch die anderen Söhne sowie die übri­ gen Kinder mit einem angemessenen Anteil bedacht. Starb ein Mann ohne Nachkommenschaft, erbten seine nächsten Verwandten, und zwar auch die weiblichen. Dagegen waren die Ehefrauen von der Erbfolge in jedem Falle ausgeschlossen; nur die zu Lebzeiten ihres Mannes erhaltenen Geschenke ver­ blieben ihnen. Starb eine der Ehefrauen, erbten ihre eigenen Kinder. Eine da­ von abweichende Verteilung des Vermögens durch Testament war unbekannt. (ε) Obligationenrecht: Die wichtigsten Verträge der Edo waren Kauf, Miete, Darlehen und Dienstverträge. Die Verträge waren grundsätzlich bin­ dend, ihre Nichterfüllung hatte eine geringe Strafe zur Folge, ließ aber das Recht des Gläubigers, ihre Erfüllung zu verlangen, unberührt. War der Schuldner zahlungsunwillig, konnte ein staatlich bestellter Schuldenein­ sammler (Violent Royal Debt Collector) die Schuld eintreiben, notfalls auch Hand an den Schuldner legen und ihm den geschuldeten Geldbetrag oder Teile seiner Habe (Diener, Sklaven, Vieh, etc.) gewaltsam abnehmen und anschließend verwerten. Besonders eingehend geregelt waren Verträge über die Pflege von Vieh: Wurden Kühe zur Pflege bei anderen untergestellt, gehörte das erste Kalb dem Eigentümer, das zweite dem Pfleger. Hatte die Kuh aufgehört zu kalben, wurde sie verkauft und das Geld zwischen Eigentümer und Pfleger geteilt.

Schadenszufügung: Aufgrund der weiten Verbreitung der Tierhaltung wa­ ren Normen vor allem für Tierschäden erforderlich. Zwecks Vorsorge durften Tiere nur innerhalb einer durch Zäune abgegrenzten Weide gehalten werden. Gelang es ihnen, dennoch auf das Gelände eines Nachbarn überzulaufen und dort Schaden anzurichten, musste der Eigentümer zumindest beim zweiten Mal Ersatz leisten. Tötete der Nachbar allerdings das Tier aus Ärger, dann musste er dessen Wert ersetzen. Tat er dies öfter, riskierte er überdies eine



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Anklage wegen Zauberei, von der er sich nur aufgrund eines Ordals reinigen konnte. (ζ) Strafrecht: Es war von allen Rechtsmaterien das am genauesten ausge­ bildete. Zwar gab es kein eigentliches Strafgesetzbuch, wohl aber eine Reihe von relativ klar umrissenen Deliktstypen. Als Delikte gegen Personen kannte man den Mord, der mit der Hinrichtung des Mörders geahndet wurde, und die gefährliche Körperverletzung239 (durch Machete, Faust oder ein spitzes Instrument), auf die Haft- oder Geldstrafe stand. Schwer bestraft wurde fer­ ner, wer einen anderen zum Selbstmord veranlasste;240 selbst der König galt in diesem Fall als schuldig, obgleich er aufgrund seiner Stellung nicht straf­ bar war. Von weiteren Personendelikten sind Notzucht, Verführung und Ab­ treibung zu nennen. Als Verletzungen des Eigentums standen Raub (insbe­ sondere Straßenraub), Diebstahl,241 Einbruch und Hehlerei unter Strafe. De­ likte waren ferner Hochverrat, Spionage, Verschwörung, Aufruhr, Piraterie, Schmuggel, Verbrechensverabredung, Meineid, falsche Anschuldigung, Zau­ berei, Hexerei und Quacksalberei sowie der Geschlechtsverkehr zwischen nah Verwandten (insbesondere zwischen Mutter und Sohn, Vater und Toch­ ter). Bestechung blieb dagegen straffrei; es galt das Sprichwort „Igh o gbemwen n’Edo“ („Geld löst alle Probleme“). Als Strafen kannte das traditionelle Recht Binden, Anketten, Auspeitschen, Prügeln, Gefängnis (das erste Gefängnis wurde um 1400 gebaut!), Geldstrafe, Verbannung und Hinrichtung. Häuptlinge konnten sich im Allgemeinen von einer Bestrafung freikaufen, indem sie dem König eine großzügige Geld­ spende machten und einen oder mehrere Sklaven übergaben, an denen dann die Strafe vollstreckt wurde. (η) Rechtsverwirklichung: Zwischen zivilrechtlichen und strafrechtlichen Verfahren wurde zumindest seit dem 14. Jh. unterschieden. Klagen in Zivilsachen mussten vor dem Hauptmann des Ortes anhängig gemacht werden, in dem der Beklagte wohnte. Dieser entschied über den Streitfall i. d. R. jedoch nicht allein, sondern unterstützt von dem oder den Dorfältesten. Das Verfahren begann, indem auf Antrag des Klägers ein Bote den Beklagten vor Gericht lud. Dort erhob der Kläger seine Klage, und der Beklagte erhielt Gelegenheit zur Verteidigung. Anschließend konnten beide nochmals zu Wort kommen, bis die gegenteiligen Standpunkte hinreichend geklärt waren. Dann gab jedes Mitglied des Gerichts seine persönliche Mei­ 239  J. U. Egharevba (1947, p. 48) übersetzt izighoyewu als „manslaughter“, defi­ niert es aber im hier angegebenen Sinne. 240  Der Selbstmord galt als schweres Unrecht; deshalb durfte der Leichnam eines Selbstmörders erst nach einer Zeremonie bestattet werden. 241  Hierzu wurde gewöhnlich auch die Nichtzahlung einer Schuld gerechnet. Vgl. dazu noch unten 3 ζ(7) .

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nung über den Streitfall bekannt. Stimmten die Meinungen im Wesentlichen überein, gab der Hauptmann diese als Urteil des Gerichts bekannt. Wider­ sprachen sich die Meinungen, verkündete er sein eigenes Urteil. Den Ab­ schluss des Verfahrens bildeten der gemeinsame Verzehr von Kolanüssen sowie ein Umtrunk als Zeichen des wiederhergestellten Friedens. War eine der Parteien mit dem Urteil unzufrieden, konnte sie beim König Berufung einlegen. Das Verfahren in Strafsachen wurde im Wesentlichen vom König be­ stimmt. Es begann mit der Anklage, der eine Beweisaufnahme folgte, falls der Angeklagte nicht geständig war. Schafften Zeugen keine vollständige Aufklärung oder sah sich der Angeklagte in Beweisnot – wie häufig bei einer Anklage wegen Zauberei oder Hexerei –, konnte ein Ordalverfahren stattfin­ den. Abschließend verkündete der König das Urteil, das auf Hinrichtung, Körper-, Freiheits- oder Geldstrafe lauten konnte. Besonders häufig verhängt wurden Geldstrafen, weil das Geld in die Schatulle des Königs floss. 3. Prästaatliche Entwicklungen von Rechtsinhalten (Überblick) Die vorstehende Untersuchung konnte zwar nur bedingt über die Rechts­ entwicklung in der vorgeschichtlichen Vergangenheit indigener Völker Aus­ kunft geben, doch hat sie gezeigt, dass diese Entwicklung, soweit unsere heutigen Erkenntnismittel reichen, der sozialen und politischen Entwicklung überall gefolgt ist, weshalb bereits im vorrechtlichen Stadium in nuce enthal­ ten war, was später, differenzierter und daher komplexer, zu frühem Recht wurde. Diese Erkenntnis rechtfertigt, dass ich nunmehr den gemeinsamen Inhalt des werdenden Rechts diachronisch darstelle.242 Da ich hierfür weder archäologisches noch gar schriftliches Material heranziehen kann, sondern mich, wie zuvor erwähnt,243 auf ganz unterschiedliche Quellen stützen muss – (a) auf Mythen und Sagen sowie auf Mitteilungen von Reisenden aus dem Altertum, (b) auf Berichte von Missionaren, staatlichen Beamten und privaten Händlern und Reisenden aus der Neuzeit sowie (c) auf Forschungs­ 242  Eine Zusammenstellung von Rechtssitten, die vermutlich universell gelten und daher eine Erkenntnisquelle für „das gemeinsame rechtliche Menschheitsgut“ bilden, findet sich auf der Grundlage der ethnologischen Forschungslage am Ende des 19. Jh.s bei A. H. Post (1891), S. 38–77. Dass sich ein ‚Urrecht‘ „nur auf dem Weg vergleichender Durchforschung aller [!] Sonderrechte rekonstruieren lässt“, bemerken (bezogen auf das altgermanische Recht) K. von Amira/K. A. Eckhardt (1960, S. 1). Bemühungen um die Rekonstruktion eines alt-arischen Jus Civile, teilweise auf der Grundlage indo-arischer bzw. indo-germanischer Sprachwurzeln, bei B. W. Leist (1896). M. E. sind diese Bemühungen so wertlos nicht, wie sie heute manchmal (teil­ weise wohl aus Bequemlichkeit) abgetan werden. 243  Vgl. oben F 1 (β).



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ergebnisse von wissenschaftlich arbeitenden Ethnologen aus neuester Zeit –, beanspruche ich für die folgende Darstellung lediglich ‚mutmaßliche Rich­ tigkeit‘. Sollte ihr darüber hinaus ein höheres Maß an Wahrscheinlichkeit zuzurechnen sein, dann deshalb, weil die rechtlichen bzw. rechtsähnlichen Normen der rezenten indigenen Völker trotz einer Zeitdifferenz von mehre­ ren Tausend Jahren eine starke Ähnlichkeit mit denen zweier Protostaaten besitzen, die uns schriftliche Zeugnisse hinterlassen haben, nämlich Sumer/ Babylon (Mesopotamien) und Ägypten. Ungeachtet der gewaltigen Zeit­ spanne zwischen den indigenen Kulturen der Neuzeit und denen des frühen Altertums lassen sich daher die Lücken in unserem Bild von den Inhalten des werdenden Rechts verengen und manchmal sogar schließen – sofern man die gebotene Vorsicht walten lässt.244 Doch nicht nur die Inhalte der vor- und frührechtlichen Normen sind über die Zeit hinweg ähnlich geblieben, auch ihre historische Entwicklung ist über die Zeit hinweg einem einheitlichen Schema gefolgt. Robert Adams hat die­ ses Schema herausgearbeitet, es auf die soziokulturelle Entwicklung einer­ seits der sumerischen Stadtstaaten im 3. Jt. v. u. Z., andererseits der Azteken im 2. Jt. u. Z. angewandt. Er hat damit gezeigt, dass es trotz einer Zeitdiffe­ renz von fünftausend Jahren im Wesentlichen gleich geblieben ist.245 Deshalb erscheint mir die Meinung der meisten heutigen Rechtsethnologen gerecht­ fertigt, dass die archaischen Völker mit den heutigen nicht nur durch eine kontinuierliche, sondern auch durch eine gleichartige Rechtsentwicklung verbunden sind – die vom Menschen gesteuert wurde und die folglich ‚ty­ pisch menschlich‘ war.246

244  Übereinstimmend U. Wesel (2001), Rn. 3: „Die wenigen historischen Nach­ richten über segmentäre Gesellschaften der Frühantike und der Antike sprechen deut­ lich für die Anwendung dieser [komparativen] Methode.“ Wesel führt (hier und in 1985, S. 42 ff.) als Beispiele lediglich das Vorhandensein von Patrilinearität und Ma­ trilinearität sowie das Institut des Brautpreises an – was ich für stark ergänzungsbe­ dürftig halte. 245  R. McC. Adams (1966) – vgl. oben C 3 (α) a. E. 246  Nur als menschliche war die Rechtsentwicklung unilinear; nicht unilinear war sie dagegen, soweit sie von der (sich ebenfalls entwickelnden) menschlichen Umwelt gesteuert wurde. Unterschiedliche natürliche und soziokulturelle Umwelten hatten vielmehr unterschiedliche soziale und politische Kulturen und diese wiederum unter­ schiedliche Rechtsentwicklungen zur Folge. Dass dennoch die Entwicklung eine ‚ty­ pisch menschliche‘ und als solche unilinear blieb, lag daran, dass der Mensch ihrem Verlauf nicht ohnmächtig ausgeliefert war, sondern stets das Seinige dazu beisteuern konnte. Es wäre daher falsch, die Erforschung der Rechtsentwicklung vollständig den Natur- und Sozialwissenschaften zu überlassen und den schöpferischen Beitrag des Menschen zu übersehen. Vgl. dazu auch A. H. Post (1891 und 1894, S. 4) und zu ihm und der „Naturwissenschaft des Rechts“ sowie ihrer Geschichte, „die vor hundert Jahren in der Lethe ertrunken ist“, R. M. Kiesow (1997), bes. S. 72 ff.

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(α) Soziale und politische Strukturen. Die ersten Völker, von denen wir überhaupt mittelbare Kenntnis haben, kannten lediglich zwei soziale Einhei­ ten: die Familie und die lokale Gruppe. Beide enthielten jedoch bereits die Keime für alle Entwicklungen, die das soziale Leben künftig dauerhaft ver­ ändert haben. Von der Familie ausgehend betrafen sie diejenigen sozialen Einheiten, die auf Blutsverwandtschaft oder Heirat beruhten und den Umfang von Clans erreichten, von der lokalen Gruppe aus jene anderen, die auf ört­ licher Nähe beruhten und den Umfang und die Komplexität von Königrei­ chen erreichten. Die ersten lokalen Gruppen, die man als ‚Horden‘ oder ‚Banden‘ (band societies) bezeichnet, bestanden aus etwa 10 bis 80 Mitgliedern. Sie waren aufgeteilt in Familien und bedurften als solche keiner sozialen Organisation, die über die Anforderungen an das Jagen und Sammeln, das Umherziehen und die Verteidigung gegen andere umherziehende Horden oder den Angriff auf sie hinausging. Waren Umwelt und Witterungsverhältnisse günstig, ver­ größerten sich die Familien aufgrund der längeren Lebensdauer der Erwach­ senen und der höheren Zahl ihrer Kinder. Und da die Kinder heranwuchsen und ihrerseits wieder Familien gründeten, vermehrten sich die Zahl der Fa­ milien und die Größe der Horden. Aufgrund ihrer primitiven sozialen Orga­ nisation konnten sie jedoch nie mehr als 150 Mitglieder umfassen; und von da an mussten sie sich teilen. Eine Aufteilung von Horden war jedoch nur solange problemlos, wie der Lebensraum für eine größere Zahl ausreichte. Sobald er dagegen bis an die Grenzen gefüllt war, konnten sich die Horden nicht mehr ausweichen. Sie mussten entweder kämpfend aneinander geraten oder ihr nomadisierendes Leben aufgeben und aus Wildbeutern zu Pflanzern und Viehzüchtern, aus bloßen Nutzern also zu Erzeugern von Nahrung wer­ den. Das Letztere geschah und hatte zur Folge, dass die ökonomischen Ver­ hältnisse sich änderten. Waren diese bisher durch relative Einfachheit ge­ prägt – durch Nutzung der Natur zur Befriedigung der Nahrungsbedürfnisse; durch Produktionen von Kleidung, Waffen und Werkzeugen für den Eigenge­ brauch; durch die Arbeitsteilung lediglich zwischen den Geschlechtern – so wurden sie jetzt auf eine höhere, differenziertere Stufe gezwungen. Äcker mussten geschaffen, Nutzpflanzen angebaut und Samen für die nächste Vege­ tationsperiode ausgesondert und gespeichert werden. Nutztiere mussten zur Versorgung mit Fleisch und Milch domestiziert, gehütet und gepflegt werden. Für die Feldbestellung brauchte man Arbeitsgeräte, für die Vorratshaltung Tongefäße. Zum Schutz der Menschen vor Wid und Wetter musste man feste Behausungen herstellen, für den Schutz der Tiere Ställe bauen. Und zum Schutz all der getanen Arbeit musste man die gemeinschaftlichen Siedlungen auch noch vor feindlichen Überfällen schützen, sie befestigen und ihre Ver­ teidigung organisieren, damit den Lohn der Arbeit nicht andere ernteten.



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Die Zunahme der Bevölkerung diktierte auch den weiteren Verlauf der Entwicklung, ja sie zog sich von nun an wie ein roter Faden durch die ge­ samte Entwicklungsgeschichte hindurch. Es bildeten sich immer größere so­ ziale Einheiten. Zunächst schlossen sich benachbart wohnende Horden zu Stämmen (tribal societies) zusammen. Sie waren anfangs zwar herrschafts­ frei und daher kaum mehr als die Und-Summe der bisher getrennten Einhei­ ten. Doch teils durch den inneren Druck infolge der Vermehrung der eigenen Mitglieder, teils durch den äußeren Druck infolge der Angriffslust der Nach­ barstämme entstanden alsbald Häuptlingsschaften (chiefdoms), die hierar­ chisch organisiert waren, um den feindlichen Bedrohungen besser standhalten zu können. Begleitet wurde diese Entwicklung von einem ökonomischen Aufschwung, der durch die gleichgeschlechtliche Arbeitsteilung unterstützt wurde, weil hierdurch die individualspezifischen Fähigkeiten der Gemein­ schaftsmitglieder besser zur Geltung kamen. Er erbrachte zum einen die Entwicklung und Produktion von immer vollkommneren Gebrauchsgütern, Waffen und Schmuck nicht nur für den Eigen-, sondern auch für den Fremd­ gebrauch, was zur Gründung von Märkten für den Handel führte; er erbrachte zum anderen auch wissenschaftliche und organisatorische Leistungen für den Gemeinschaftsbedarf, was die Gründung von Zentren mit gemeinschaftlichen Verwaltungseinrichtungen, Vorratsspeichern, Schulen und Tempeln zur Folge hatte. Die Bevölkerung wuchs dadurch noch schneller, soweit Kriege oder Seuchen sie nicht dezimierten, und sah sich bald zum Zusammenschluss mehrerer Stämme zu herrschaftsfreien Stammesverbänden (pan-tribal societies) sowie den Zusammenschluss mehrerer Häuptlingsschaften zu hierar­ chisch organisierten Königreichen (kingdoms) gezwungen. Letztere erwiesen sich als besonders erfolgreich, bedingten aber eine noch kompliziertere, hie­ rarchisch noch stärker strukturierte Verwaltung. Um sie aufzubauen, ver­ suchte man zunächst, an die verwandtschaftlichen Strukturen anzuknüpfen; denn auf die loyale Mitwirkung seiner Verwandten glaubte man nach wie vor sich am besten verlassen zu können. Doch mehr und mehr litt man darunter, dass die Vetternwirtschaft (‚Nepotismus‘)247 zum Nachteil der Gemeinschaft den wahrhaft Fähigen den Zugang zu Spitzenpositionen versperrte. Allmäh­ lich ließ man daher an die Stelle der Verwandtschaft bewährte politische Beamte treten, die man teils aus dem militärischen Bereich, teils aus dem Umkreis des Häuptlings- oder Königshofes rekrutierte. Die Tendenz der Or­ ganisation ging dabei allgemein zur Dreistufigkeit: Dörfer wurden durch Vorsteher (‚Dorfschulzen‘) verwaltet, Distrikte durch deputierte Beamte oder Captains, das Land durch Regierungsmitglieder oder Hofbeamte. 247  J. Beatty (1960, p. 36) schreibt hinsichtlich der afrikanischen Verhältnisse: „Traditionally, political office was not thought of hereditary, though it often tended to become so.“

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Insgesamt wirkten also drei eng verbundene Entwicklungen zusammen, die teils äußeren Zwängen entsprangen, teils schöpferisch gestaltet wurden: (1) eine durch das ständige Bevölkerungswachstum erzwungene soziale Ent­ wicklung, der man durch dichteres Zusammenleben in Städten und durch straffere Organisation der Verwaltung begegnete; (2) eine durch die begrenzte Fruchtbarkeit des Bodens und durch den häufigen Wechsel der Witterung erzwungene ökonomische Entwicklung, der man durch vorsorgliches und nachhaltiges Wirtschaften sowie durch den Einsatz bodenverbessernder Mit­ tel gegensteuerte; und (3) eine durch die vorgenannten Entwicklungen er­ zwungene politische Entwicklung, die man durch arbeitsteilige Spezialisie­ rung der Bevölkerung auf (a) entweder die Nahrungsproduktion (‚Bauern‘), (b) oder die Produktion von Werkzeugen und Waffen (‚Handwerker‘), Schmuckstücken und Devotionalien (‚Kunsthandwerker‘), (c) oder die Pro­ duktion von Normen und Anweisungen mit dem Ziel der harmonischen Or­ ganisation des Zusammenlebens (‚Beamte‘) bewältigte. Folgen dieser Ent­ wicklungen waren u. a. das Entstehen von immer größeren sozialen Verbän­ den, eine immer stärkere Anonymität der sozialen Beziehungen und eine immer ausgeprägtere Stratifikation der Gesellschaft. Zu ergänzen bleibt, dass die historisch älteren sozialen, ökonomischen und politischen Strukturen hinter den neuen lediglich zurücktraten, aber nie­ mals völlig verschwanden. Vor allem die verwandtschaftlichen Bindungen, aber auch die Bindungen aufgrund von sozialer Nähe blieben bestehen und bil­deten oft den Hintergrund der sozialen und politischen Entwicklungen. Auf einige der Strukturentwicklungen werde ich daher im Folgenden einge­ hen. (β) Verwandtschaftliche Strukturen. In allen indigenen Völkern bildete der genetisch begründete Zusammenhalt nach dem Grad der Verwandtschaft den Kern des sozialen Lebens und Erlebens. Die Familie war das wichtigste Band.248 Sie galt so sehr als Einheit, dass alle späteren Sitten- und Rechts­ ordnungen sie als natürlichen Baustein begriffen. Sippen und Clans249 waren 248  Dies jedenfalls innerhalb der Zeitspanne, die wir aufgrund ethnologischer For­ schungen einigermaßen überblicken können. Für die Zeit davor ist das Bestehen von Hordenpromiskuität (ähnlich wie bei den höheren Affen) möglich und sogar wahr­ scheinlich. Siehe im Text. 249  Von den Clans werden gewöhnlich noch die lineages unterschieden: Deren Mitglieder können ihre Altvordern – meistens die männlichen – namentlich benennen (Beispiel: die Abstammungsreihe von Abraham), die Mitglieder von Clans können das nicht mehr, sondern führen ihre Herkunft lediglich auf einen gemeinsamen Urahn zurück. Der Unterschied zwischen beiden Abstammungsformen spielt innerhalb der Völker i. d. R. keine große Rolle, zumal viele von ihnen sowohl lineages als auch Clans kennen. Ich unterscheide daher im Folgenden nicht streng zwischen den beiden Formen.



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abgeleitete Einheiten, die ihre Zusammensetzung aus einer Vielzahl von Fa­ milien nicht verleugneten. Die Zugehörigkeit zu ihnen wurde meist unilinear bestimmt, also durch die Abstammung entweder von der Linie des Vaters oder der Mutter. Hieraus folgten dann Namen, Status, Rechte und totemisti­ sche Pflichten, aber auch Inzesttabus und Heiratsgebote (Endogamie- oder Exogamiegebote) sowie Loyalitätsverpflichtungen.250 Berichte aus der Antike lehren uns, dass der Familienkultur wahrscheinlich eine Kultur der Geschlechtsgemeinschaft (Promiskuität) vorausging und zumindest in zwei Grenzgebieten zu den damaligen Hochkulturen noch bestand: zum einen in Li­ byen bei den Auseern und beim Küstenvolk der Nasamoner,251 zum anderen bei den skytischen Völkern der Massageten und der Agathyrsen.252 Die Frauen gehörten dort nicht einzelnen Männern, sondern der Männergemeinschaft insgesamt; Ehebruch be­ gingen folglich nur diejenigen Frauen, die mit einem Stammesfremden Verkehr hat­ ten. Und da Reste dieser Einrichtung sich bis fast in die Gegenwart hinein in Indien253 und bei einigen Naturvölkern254 erhalten haben, spricht manches dafür, dass die Promiskuität ursprünglich eine universelle Erscheinung war.255 Als deren Überbleib­

Personen- bzw. Statusrecht vgl. unten G 4 b. Historien IV 180 (: „Die Auseer leben in Frauengemeinschaft und haben keine eigenen Frauen, sondern begatten sich wie das Vieh. Wenn das Kind ei­ ner Frau herangewachsen ist, versammeln sich die Männer im dritten Monat und sprechen das Kind dem zu, dem es ähnlich ist.“) und 172 (: „Jeder [der Nasamonen] pflegt viele Frauen zu haben, die sie gemeinsam besitzen.“). Ähnliches berichten Plinius (V 8 und 45), Solinus (30 2) und Pomponius Mela (I 8 und 45) vom äthiopischen Volk der Garamanten sowie Strabo (XVI 775 und 783) und Diodor (III 15, 24 und 32) von den ebenfalls äthiopischen Völkern der Troglodyten, Ichthyophagen, Hylo­ phagen und Spermatophagen sowie von einigen Volksstämmen auf den Inseln im ro­ ten Meer und in Arabien. 252  Herodot, Historien I 216 (: „Zwar heiratet jeder [Massagete] eine Frau, trotz­ dem herrscht Frauengemeinschaft.“) und IV 104 (: „Die Agathyrsen … leben in Frau­ engemeinschaft, damit alle untereinander verwandt und verschwägert sind und kein Neid und keine Zwietracht bei ihnen aufkommen kann.“) Ferner berichtet Nikolaus von Damaskus von einer Frauengemeinschaft bei den ebenfalls skytischen Galakto­ phagen und dem Donauvolk der Liburner (S. 510, 513; 517), Pomponius Mela (I 19, 10) dasselbe bei den Mosynen am Schwarzen Meer. 253  K. Friedrichs (1886), S. 459 f.; F. Bernhöft (1889), S. 22; (1991a), S. 29 ff. 254  Dazu Angaben bei C. N. Starcke (1888), S. 130 ff. 255  Wir können sie heute noch bei allen Primaten beobachten, weshalb anzuneh­ men ist, dass sie zumindest die Lebensform der gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Affe war. Rückfälle lassen sich nicht nur in primitiven Kulturen beobachten – so etwa bei den nordamerikanischen Indianerstämmen und den Inuit (vgl. J. Kohler, 1897, S. 325 f.), bei den australischen Aborigines, den Fidschi-Insulanern und den Bewohnern anderer Teile der Erde (M. Kulischer, 1876, S. 150 ff.) – sondern auch in zivilisierten Gesellschaften, wo sie allerdings als ‚Sexorgien‘ sozial disqualifiziert werden. Ob die weibliche Prostitution ihre Wurzeln im Hetärismus hat, ist allerdings zweifelhaft. Wenn jedoch K. Gough (1975, p. 51 ff.) demgegenüber behauptet, dass es niemals Hordenpromiskuität gegeben habe, mag das für den historisch überschauba­ 250  Zum

251  Herodot,

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sel lassen sich die weitverbreitete Sitte der ‚freien Liebe‘ vor der (Einzel-)Ehe256 sowie die ‚Ehe auf Zeit‘ (Mut’a-Ehe) deuten, die bei den schiitischen Muslimen noch heute erlaubt ist, allerdings bis auf einen Tag begrenzt werden kann. Die Formlosig­ keit der Eheschließung (indem man zusammenzieht) und die Möglichkeit ihrer jeder­ zeitigen Auflösung (indem man sich trennt) bei den Wildbeutern zeugt ebenfalls von einer ehemals generellen Lockerheit der Paarbindung. Solche Lockerheit konnte allerdings nur solange aufrechterhalten werden, wie die Zahl der Mitglieder einer Population eng begrenzt war. Sobald dies nicht mehr der Fall war, gliederten sich Gruppen aus, welche eine neue Identität brauchten. Sie such­ ten und fanden sie im Totemismus.257 Der geschlechtliche Zusammenhalt wurde in den größeren Populationen zunächst zwar noch gewahrt, das Prinzip der Endogamie innerhalb der Populationen jedoch durch das Prinzip der Exogamie innerhalb von Totemgruppen ergänzt: Die Frau musste einer anderen Totemgruppe desselben Stam­ mes angehören als der Mann. Ursprünglich, so ist aufgrund der Verwandtschaftsbe­ zeichnungen vieler Naturvölker anzunehmen,258 heiratete sie aber mit ihrem Manne auch dessen Brüder, wie umgekehrt der in eine andere Totemgruppe hinein heiratende Mann mit der Frau auch deren Schwestern heiratete. Daraus folgte, dass der Mann

ren Zeitraum zutreffen, aber höchstwahrscheinlich nicht für den vorangegangenen paläolithischen und vielleicht noch nicht einmal für den mesolithischen Zustand. 256  Nachweise bei P. Wilutzky (1903a), S. 28 ff. Die Ausübung der ‚freien Liebe‘ findet sich im Altertum häufig in Verbindung mit religiösen Bräuchen, etwa als Tempelprostitution. Im altägyptischen Theben beispielsweise wurde die schönste und vornehmste Jungfrau dem Gott Ammon geweiht; dadurch erwarb sie das Recht, sich der freien Liebe hinzugeben, bis sie unter Wehklagen verheiratet wurde (vgl. Strabon XVII 816). Entsprechende Bräuche finden wir in Babylon, in Indien, in Israel (verbo­ ten ausdrücklich in 5. Mose 23 18: „Es soll keine Tempeldirne sein unter den Töch­ tern Israels.“) und bei vielen afrikanischen Völkern. Wie heftig der Kampf der Kultur gegen die ‚freie Liebe‘ war, erkennen wir am Brauch der sogen. Tobiasnächte (nach dem deuterokanonischen Buch Tobias 6 22, wo es heißt: „Nach Verlauf der dritten Nacht aber nimm zu dir die Jungfrau in der Furcht des Herrn.“). Eine Jungfrau soll nach dem Eheschluss also nicht sogleich, sondern erst nach drei Tagen von ihrem Ehemann defloriert werden, andernfalls böse Geister in die Ehe einbrechen. Ebenso lehrte in Indien das Kāmasūtra des M. Vātsyāyana (III 2): „Nach der Hochzeit müssen die Ehepartner bestimmten Geboten unterworfen wer­ den. Drei Nächte lang haben sie ihr Lager auf dem Fußboden zu nehmen, keusch zu leben und die Beigabe von Salz und anderen Gewürzen an das Essen zu vermeiden. Sieben Tage lang haben sie die Keuschheit beizubehalten …“ Ein entsprechender Brauch wird u. a. von einigen afrikanischen Völkern, von den Papuas und von den Azteken berichtet. 257  Vgl. dazu unten J 5 b α. 258  Wertvolle Ausführungen dazu bei J. O. Dorsey (1884) p. XXXVIII ff., 211 ff., der vierzehn Jahre lang als Missionar unter den Omaha-Indianern lebte und vollstän­ dig mit deren Sprache und Lebensgewohnheiten vertraut war. Vgl. ferner die Tafeln bei L. H. Morgan (1871), p. 155, 156, 158, 161; J. Kohler (1897), S. 253 ff. Dass die Beweisführung aus den Verwandtschaftsbezeichnungen der Omaha-Indianer nicht zwingend ist, zeigen allerdings neuere Beobachtungen von F. G. Lounsbury (1965) bei den Trobriandern (Stellungnahme dazu bei S. Kuck, 2001, S. 32 f.).



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts209

mit allen weiblichen Personen der anderen Totemgruppe umgehen durfte, m. a. W. die Institution der Gruppenehe. Doch auch die Gruppenehe stieß an ihre Grenzen, als die Gruppen zu stark wurden und zu zersplittern begannen. Darüber hinaus dürften immer stärker persönliche Zuund Abneigungen eine die überindividuelle Zusammengehörigkeit sprengende Rolle gespielt haben.259 Dies alles drängte zur individuellen (monogamischen oder polyga­ mischen) Paarbindung, die wahrscheinlich auch hormonell begünstigt wurde, weil der Geschlechtsverkehr Genvarianten aktiviert, die zum Zusammenbleiben motivieren. Übergangserscheinungen blieben indes noch lange sichtbar, etwa im gruppenförmigen Zusammenleben von jungen Männern und Frauen, bis sich in höherem Alter die Paa­ re aussonderten. Auch gehört vielleicht hierhin, dass der Ehemann bei vielen Völkern das Recht besaß, seine Frau aus der Bindung an ihn entweder zu verstoßen oder sie vorübergehend zu entlassen oder sie einem Gast zur Verfügung zu stellen (der diese Gabe dann unbedingt annehmen musste).260

Soweit Berichte aus dem Neolithikum vorliegen, war die Begründung ei­ ner Familie durch Heirat bereits überall Brauch oder Sitte. Der Mann erhielt dadurch einerseits einen privilegierten Zugang zu ‚seiner‘ Frau (oder ‚seinen‘ Frauen), andererseits übernahm er die Verpflichtung, für sie und die gemein­ samen Kinder zu sorgen. Hochzeiten wurden in allen höheren Kulturen mit einem großen Fest begangen, dem eine Reihe von Formalitäten vorausging, u. a. weil für die Braut meistens noch ein Preis ausgehandelt und gezahlt werden musste, falls sie, wie üblich, aus ihrer Sippe in die Sippe des Mannes überwechselte. Dort war sie dem Manne gegenüber regelmäßig zur Treue verpflichtet, während dies beim Manne der Frau gegenüber ebenso regelmä­ ßig nicht oder nicht in gleichem Maße der Fall war, weil fast überall die Polygynie erlaubt war. Mit der Ausdifferenzierung von Hierarchien innerhalb der Männerwelt erhielt der Häuptling manchmal ein Vorrecht auf die Frauen seines Stammes – woraus sich spä­ ter das ius primae noctis, das Recht des Fürsten auf die Brautnacht, entwickelte.261

Zur Entwicklung der Familiengründung durch Heirat ist die Ansicht vertre­ ten worden, dass folgende Entwicklung bestanden habe:262 Zunächst sei die Heirat durch Raub der Braut zustande gekommen, später sei es der Kauf ei­ 259  Keine Beweise liegen vor, dass die Gefahr von Kindstötungen seitens rivalisie­ render Männer (vergleichbar etwa den Kindstötungen rivalisierender Löwen oder Berggorillas) zu monogamen Bindungen führte (so jedoch Ch. Opie et al., 2013, aufgrund von statistischen Modellrechnungen). 260  Wir finden diese Sitte u. a. bei den Inuit. Nachweise zur Verbreitung der Sitte bei P. Wilutzky (1903a), S. 45 ff., und bei K. Friedrichs (1889), S. 372 f. Heute ist es mancherorts noch üblich, eine käufliche ‚Dame‘ dem (gut zahlenden) Gast aufs Ho­ telzimmer zu schicken. 261  Dieses Recht wird schon von Herodot bezeugt, und zwar für das in Libyen wohnende Volk der Adyrmachiden (Historien IV 168). 262  Vgl. dazu insbesondere L. Dargun (1883).

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ner Braut gewesen,263 der zur Heirat führte, die Konsensheirat sei dann die modernste Form. Als Tendenzbeschreibung scheint diese Ansicht richtig zu sein; doch haben offenbar darüber hinaus Angebot und Nachfrage nach jun­ gen Frauen oder Männern sowie äußere Umstände die eine oder andere Art der Eheschließung begünstigt. Insbesondere aber lässt sich ein zeitlicher Vorrang der Raubehe vor der Kaufehe nicht nachweisen. Beschränkungen für die Heirat ergaben sich dagegen allzeit aus den Verwandtschaftsverhältnis­ sen: Eng miteinander Verwandte durften sich nicht heiraten, es galt ein Inzesttabu.264 Wer allerdings mit wem eng verwandt war, sodass er den anderen nicht heiraten durfte, wurde erst allmählich und dann unterschiedlich präzi­ siert. Was das innere Gefüge der Ehe anbelangt, blieb der Mann die gesamte hier untersuchte Zeit über der Herrscher; was wechselte, waren lediglich die Funktionen, die sich mit seiner Position in der Ehe verbanden.265 Bei den Wildbeutern galt die Frau noch überwiegend als minderwertig, zum einen weil sie weniger Kraft besaß als der Mann, zum anderen weil sie zur Ernäh­ rung der Familie weniger beitrug. Im Extrem galt sie sogar nur als ein eigen­ tümlicher Teil des Mannes und wurde ihm bei seinem Tod sogleich ins Jen­ seits nachgeschickt. Viele Völker reagierten ferner mit tiefem Unbehagen auf die Menstruation der Frau.266 Bei den Pflanzern errang die Frau eine dem Manne gegenüber stärkere Stellung, wenn sie auf dem Felde mitarbeitete, z. B. das Jäten übernahm. Später verbesserte sich ihre Stellung abermals dort, wo die größere Kraft des Mannes kaum noch zur Geltung kam. Zementiert blieb lediglich die Arbeitsteilung: Der Mann war auf den produktiven Sektor und öffentliche Aktivitäten festgelegt, während der Frau die Hauptlast der Hausarbeit und der Kinderbetreuung zufiel.267 In der Ehe geborene Kinder wurden neben der Mutter auch dem Vater, bei außerehelich empfangenen Kindern dagegen meistens demjenigen Manne 263  D. h. durch Zahlung eines ‚Brautpreises‘ als Entgelt für den Verlust, den die Familie der Braut durch den Abgang einer Arbeitskraft bzw. eines gebärfähigen Mit­ glieds erleidet, weshalb Unfruchtbarkeit der Frau regelmäßig zur Rückabwicklung des ‚Kaufs‘ führte. Sachenrechtliche Wirkungen (‚Eigentumserwerb‘ an der Braut) waren damit aber nicht verbunden (M. Harris, 1989, S. 165). 264  Zur Strafbarkeit seiner Übertretung vgl. unten ζ. 265  Sagte man anfangs noch, dass der Fürst das Volk zu regieren habe wie ein Vater seine Familie, so war man später der Ansicht, dass der Vater seine Familie zu regieren habe wie ein Fürst das Volk. 266  Bei den Aschanti war es einer menstruierenden Frau verboten, einen Priester anzusprechen, weil er dadurch befleckt würde. Auch galt der Geschlechtsverkehr mit einer menstruierenden Frau (baratwe) für beide Teile als todeswürdiges Verbrechen. Vgl. R. S. Rattray (1929/1956), p. 315, 306. 267  Vgl. dazu J. Lopreato/Th. Crippen (2002), p. 195.



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts211

zugerechnet, der als Erzeuger bekannt war. Darüber hinaus konnte eine künstliche Verwandtschaft durch das wechselseitige Trinken fremden Blutes (‚Blutsbrüderschaft‘)268, ferner durch Pflegschaftsübernahme,269 Adoption270 oder Levirat271 hergestellt werden. Als die verwandtschaftlichen Einheiten sich vergrößerten, wurde die hier­ archische Struktur der Ehen und Familien auf die Sippe und den Clan über­ tragen: Die Sippe hatte i. d. R. den ältesten Familienvater zum Oberhaupt, der Clan i. d. R. den Ältesten aus dem Kreis der Sippenältesten zum Chef und obersten Streitschlichter in Friedenszeiten, einen Jüngeren dagegen i. d. R. als Hauptmann in Kriegszeiten. Vereinigten sich mehrere Clans zu einem hierar­ chisch strukturierten Stamm, war i. d. R. einer der Clanchefs dessen Häupt­ ling. Und schlossen sich mehrere solcher Stämme zusammen, geschah dies i. d. R. unter der Herrschaft eines Häuptlings als Fürsten. (γ) Sachenrechtliche Strukturen. Die Entwicklung des Eigentums lässt sich am besten am Grundeigentum veranschaulichen. Im Übrigen steht die Dar­ stellung vor der Schwierigkeit, dass die antiken indigenen Völker zwischen Sachen- und Obligationenrecht nicht unterschieden. Nomadisierenden Völkern lag der Gedanke an ein Grundeigentum noch fern. Sie gingen lediglich davon aus, dass sie ein abgegrenztes Revier (oder eine Wasserstelle in der Steppe, ein Wasserloch in der Arktis) als Überle­ bensgrundlage benötigen, und folgerten daraus, dass sie dessen Nutzung verteidigen müssen. Sesshafte Völker gingen anfangs ebenfalls davon aus, dass sie das Land, das sie als Überlebensgrundlage nutzen und bewirtschaf­ ten, notfalls verteidigen mussten. Ihre im Verhältnis zu den Wildbeutern aber viel stärkere Verbundenheit mit dem bewirtschafteten Land und ihre viel stärkere Abhängigkeit von seiner Fruchtbarkeit begründeten in ihnen zusätz­ lich entweder die Auffassung, dass es aufgrund der Nutzung ihr ‚Eigentum‘ sei, oder aufgrund seiner Fruchtbarkeit das ‚Eigentum‘ derjenigen sei, die den Boden einst urbar gemacht und ihnen als Lebensgrundlage hinterlassen 268  A. H. Post (1894), S. 93 ff. Die Blutsbrüderschaft verpflichtete einerseits zur Blutrache für die Tötung des Blutsbruders, andererseits begründete sie die Mithaftung für Verbrechen des Blutsbruders, u. U. aber auch für die Aufbringung des Brautprei­ ses. 269  Vgl. A. H. Post (1894), S. 96 ff., dort auch Hinweise auf die unterschiedlichen Rechtswirkungen. 270  A. H. Post (1894), S. 99 ff.; N. Rouland (1988), p. 228 f. Die Adoption wurde gewöhnlich mit einer Zeremonie (Scheinentbindung oder Saugenlassen an der Brust) verbunden, welche den Empfang eines Leibeserben symbolisch nachahmte. 271  N. Rouland (1988), p. 249: Die Witwe blieb mit ihrem verstorbenen Mann ver­ heiratet, verkehrte aber jetzt mit seinem jüngeren Bruder. Die Kinder aus dieser Ge­ meinschaft galten dann (u. a. bei verschiedenen Bantuvölkern und bei den Nuern) als solche des verstorbenen Mannes.

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hatten, nämlich ihrer Ahnen. Denn den noch lebendigen Geist dieser Ahnen sahen sie auf immer mit dem Boden verbunden. Doch die Ahnen waren tot; für die immer noch Leben spendende Fruchtbarkeit des Bodens konnten sie nicht mehr sorgen. Deshalb hypostasierten viele Völker zusätzlich, dass an­ stelle der Ahnengeister Erdgeistern diese Aufgabe zukomme und dass es da­ rauf ankomme, auch deren Wohlwollen zu gewinnen. Wie aber? Während das Wohlwollen der Ahnengeister sich bereits durch die Bewahrung der über­ kommenen Sitten erhalten ließ,272 musste das Wohlwollen der Erdgeister erst erworben werden. Also opferte man ihnen sowohl im Frühjahr bei der Aus­ saat mit der Bitte um reiche Ernte als auch im Herbst als Dank dafür. Zusätz­ lich dachte man daran, dass man dereinst das Land an eine künftige Genera­ tion werde überantworten müssen. Deshalb entzog man dem Boden nicht mehr an Kraft, als man ihm durch Ruhezeiten und Düngung zurückgeben konnte. (Nachhaltiges Wirtschaften als Aufgabe war also schon damals gang und gäbe!) Die Verantwortung dafür passte man der Entwicklung an: Wo noch der Hackbau vorherrschte und der Arbeitsanteil stärker hervortrat, ten­ dierte man zum Gemeinschaftseigentum und zur gemeinschaftlichen Verant­ wortung derjenigen, die sich an der Arbeit beteiligten; wo dagegen schon Pflugackerbau betrieben wurde, tendierte man zum Privateigentum und zur Alleinverantwortung.273 Soweit am Land Privateigentum bestand, umfasste es nicht nur den Boden, son­ dern auch die mit dem Boden fest verbundenen Sachen sowie den aus dem Boden gewonnenen Nutzen (also etwa die Wohnstätten und die Feldfrüchte). Besonders ge­ regelt war das Eigentum dort, wo einzelne Familien den Boden, den sie durch Anlage von Bewässerungseinrichtungen erst fruchtbar gemacht hatten, im Grab- oder Hack­ bau bearbeiteten. Dort wurde ihnen regelmäßig das alleinige Ernterecht an den Früch­ ten zugestanden.274

Ein grundsätzlicher Wandel in den Eigentumsverhältnissen war häufig mit der Stratifizierung der Gesellschaft verbunden. Der oberste Herrscher, etwa 272  Vgl. dazu J. Herbig (1988), S. 64 ff., 73 f.: Indigene Völker bedienten sich des Ahnenkults allerdings nicht nur, um den inneren Zusammenhalt ihrer Gemeinschaft zu stärken und um ihre angeborenen Verhaltensweisen kulturell zu integrieren, son­ dern auch, um ihr Verhalten mittels Interpretation den wechselnden Umweltbedingun­ gen schneller anpassen zu können, als dies genetisch möglich gewesen wäre. In ihren Glaubensüberzeugungen waren meistens Erfahrungen von Jahrtausenden gespeichert, sodass „jede neue Generation in den wenigen Jahren der Sozialisation das Ergebnis einer langen evolutionären Anpassung an die natürlichen und sozialen Gegebenheiten ihres Lebensraums übernehmen konnte“. 273  J. Goody (1976). 274  Typisch sind die Verhältnisse bei den Damara, einem vorwiegend als Jäger und Sammler lebenden, aber daneben auch Gartenanbau und Kleinviehhaltung betreiben­ den Volk in Namibia: Wer ein Stück Land urbar gemacht und bebaut hatte, durfte die Früchte ernten. Dagegen waren offene Quellen und künstlich geöffnete Wasserlöcher Allgemeingut (H. Vedder, 1923, S. 78 f.).



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts213

ein König, beanspruchte das gesamte Land für sich und räumte den ihm un­ tergebenen Häuptlingen lediglich ein Untereigentum an Teilen davon ein. Den Familien, die am unteren Ende der Herrschaftspyramide standen, über­ ließ er das Land lediglich zur Nutzung mit der Maßgabe, zusätzlich auch noch sein Privatland zu bebauen, ohne dafür entlohnt zu werden.275 Ein ‚Eigentum‘ an beweglichen Sachen (wozu bei einigen nomadischen Völkern auch mitgeführte Behausungen gehörten) gab es zwar schon vor der Sesshaftigkeit. Gegenständlich beschränkt war es jedoch auf Lagerstätten276 sowie auf gewisse höchstpersönliche Güter wie die Waffen des Mannes277 oder den Schmuck der Frau. Da diese Sachen regelmäßig als Teile der Per­ sönlichkeit galten und mit magischer Wirkung ausgestattet waren, war das ‚Eigentum‘ an ihnen allerdings weniger ein Sachen- als ein Persönlichkeits­ recht.278 Typisches Sacheigentum konnte dagegen an der Beute begründet werden: bei den nomadisierenden Völkern vor allem an der Beute aus der Jagd, bei den kriegführenden Völkern an der Beute aus Raub und Plünde­ rung. Allerdings handelte es sich selbst insoweit nicht um eine Rechtsposi­ tion im heutigen Sinne, sondern eher um ein rechtlich anerkanntes Besitzver­ hältnis, das zudem beschränkt sein konnte etwa durch die Verpflichtung, die Jagdbeute an die Genossen zwecks Teilung auszuliefern oder die Kriegsbeute dem Häuptling zu überlassen, damit er sie entweder für sich behalten oder nach Belieben verteilen konnte. ‚Eigentum‘ in einem frührechtlichen Sinne war dagegen, was jemand durch Erstokkupation erlangte oder sonst als ihm gehörend kennzeichnete, darüber hinaus alles, was er durch Arbeit oder be­ sondere Fertigkeit geschaffen hatte – es war das Produkt seines Fleißes oder seines Geistes unabhängig davon, ob es einen materiellen oder immateriellen Wert besaß. Wer eine technische Erfindung gemacht oder ein künstlerisches Werk geschaffen hatte, konnte sich gegen Nachahmer allerdings nicht schüt­ zen. Es galt lediglich als sittenwidrig, fremdes Geistesgut als eigenes auszu­

275  Vgl. J. Goody (1971), p. 30 ff. Generell zur Entwicklung des Feudalismus in Afrika, p.  1 ff. 276  Zum allgemeinmenschlichen Bedürfnis nach einem ‚eigenem Heim‘ mit eige­ ner Schlafstatt und eigener Feuerstelle vgl. I. Eibl-Eibesfeldt (2004), S.  859 ff. 277  In Knochen- und Eisenwaffen eingeritzte ‚Eigentumszeichen‘ gehen bis in die Zeit des Altpaläolithikums zurück. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil die Waffen zweifellos von jedermann hergestellt werden konnten, wenn auch vielleicht mit eini­ ger Mühe und Zeitaufwand. Trotzdem hat sich ein Sonderrecht an den Handwaffen des Mannes bis weit in die Neuzeit hinein erhalten (vgl. etwa Sachsenspiegel I 22 § 4, I 24 § 3; preußisches ALR II 1 §§ 502 ff.). 278  Als Teil eines individuellen Persönlichkeitsrechts oder als eines überindividu­ ellen Familien- bzw. Gruppenrechts wird man ferner das ‚Eigentum‘ an Wappenzei­ chen, Gesängen, Zauberformeln u. ä. ansehen dürfen. Vgl. dazu R. Schott (1987), S.  296 f. m. w. Nachw.

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geben und daraus Gewinn zu ziehen.279 Deshalb konnten sich die Handwer­ ker, Mediziner, Sänger und Geschichtenerzähler zu selbstständigen Ständen herausbilden. (δ) Erbrechtliche Strukturen. Die Vererbung von Sachen spielte in alter Zeit nur insoweit eine Rolle, wie es sachenrechtliches Eigentum gab. Erb­ rechtliche Normen gab es daher noch nicht bei Wildbeutern; was denen ausnahmsweise allein gehörte, wurde mit ihnen beerdigt, vernichtet oder einfach nicht mehr benutzt. Erst innerhalb der bäuerlichen Familien brauchte man Normen für den Nachlass, und zwar je nach Sitte in patrilinearer oder in matrilinearer Folge. Die patrilineare Erbfolge kam entschieden häufiger vor. Sie führte bereits unter Lebenden zu Ausgleichsforderungen der Söhne an den Vater, sobald sie heirateten und den Übergang einer Braut in ihren Clan durch Zahlung eines Preises an den Clan der Braut entgelten mussten. Mit dem Tode des Vaters ging dann der Nachlass meist vollständig auf die Söhne über,280 während seine Witwe nicht oder nur zu einem geringen Teil erbbe­ rechtigt war. Um sie dennoch nicht mittellos zu stellen, gab man ihr entweder das Recht, ihre Wohnung zu behalten und dort von einem der Söhne unter­ halten zu werden, oder aber mit einem Bruder des Erblassers eine Levirats­ ehe einzugehen, so dass diesem ihre Versorgung oblag. Für die Töchter än­ derte sich mit dem Tode des Vaters nur so viel, dass an seiner Statt der älteste Bruder alle Rechte und Pflichten übernahm. Bestand ausnahmsweise281 eine matrilineare Tradition, entfiel der Ausgleichsanspruch der Söhne zu Lebzei­ ten: Sie wechselten zum Zeitpunkt ihrer Heirat in den Clan der Frau, sodass sie keinen Brautpreis zu zahlen hatten,282 und nach dem Tod ihrer Mutter gingen sie im Extremfall völlig leer aus, weil der gesamte Nachlass an die 279  Zur Bedeutung des geistigen Eigentums in der Antike siehe J. Kohler (1880). Ferner E.-J. Lampe/U. Wölker (1976), S. 141 f.: „Eine wichtige Rolle dürfte gespielt haben: dass der Bruch des äußeren Rechtsfriedens beim Eingriff in das ‚geistige‘ Gut nicht so offensichtlich zutage tritt wie beim Eingriff in das körperliche Eigentum; dass anders als beim Eingriff in körperliches Eigentum Selbsthilfe in Form der Not­ wehr meistens unmöglich ist und deshalb auch das Recht keinen Anlass sah, stellver­ tretend für den Geschädigten den Eingriff abzuwehren; schließlich dass die positive Kennzeichnung der negativ leichthin Immaterialgüter genannten Rechtsobjekte natur­ gemäß größere Schwierigkeiten bereitete als die Kennzeichnung der materiellen Gü­ ter.“ Zur Kennzeichnung materieller Güter vor der Erfindung der Schrift mittels Ei­ gentumszeichen vgl. unten H 2 e. 280  Vielfach war es allerdings auch Sitte, dass nur der älteste Sohn als neues Fami­ lienoberhaupt erbte, alsdann aber seine Brüder unterhalten musste. 281  Eine eigene historische Stufe der Matrilinearität gab es nicht (und noch weni­ ger eine solche des Matriarchats). Soweit ausnahmsweise Matrilinearität bestand, konnte sie sich zur Patrilinearität entwickeln, nicht aber umgekehrt. Dazu U. Wesel (1980), S. 77. 282  Zum Ausgleich musste oft ein Kind aus der Ehe dem Clan des Mannes über­ antwortet werden.



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Töchter ging. Starb allerdings der Vater zuerst, traten je nach Sitte unter­ schiedliche Regelungen in Kraft: Beispielsweise konnte das Mobiliarvermö­ gen dann an dessen Geschwister (mit denen er über seine Mutter verwandt war) oder an deren Kinder fallen, während das Immobiliarvermögen vater­ rechtlich vererbt wurde.283 Eine testamentarische Erbfolge schied bei nicht-schriftlichen Völkern von vornhe­ rein aus. Was nicht der Sitte gemäß vererbt werden sollte, musste zu Lebzeiten ver­ teilt werden.

(ε) Obligationenrechtliche Strukturen. Historische Wurzel des Obligatio­ nenrechts war der stumme Warentausch primitiver Völker: Weil der Vertrags­ gedanke bei ihnen nicht einmal keimhaft ausgebildet war, dachte und han­ delte man in wirtschaftlichen Transaktionen, ohne darüber hinaus in eine ir­ gendwie transzendent überhöhte soziale Beziehung zu treten.284 Eine Partei legte ihre Waren (z. B. ein erlegtes Wild) an einer bestimmten Stelle nieder und zog sich zurück; die andere Partei erschien, legte neben die Ware, die sie zu erhalten wünschte, ihrerseits eine Ware (z. B. Bananen) und zog sich ebenfalls zurück. Die erste Partei kehrte zurück und besah sich die Gegenleistung. War sie da­ mit zufrieden, dann nahm sie sie an sich und ließ ihre Ware liegen; war sie nicht zufrieden, nahm sie entweder ihre Ware zurück oder ließ sie samt der angebotenen Gegenleistung liegen, sodass der Gegner einen anderen Gegenstand dafür anbieten konnte. Hierbei verhielten sich selbst verfeindete Parteien streng redlich.285

Der wahrscheinlich frühzeitig ausgebildete Gabentausch stand der stum­ men Art des Warentausches einerseits nahe, andererseits entgegen, weil bei ihm die soziale Funktion die wirtschaftliche fast vollständig verdrängte.286 283  Nachweise zum Ganzen bei L. von Dargun (1892), S. 135  ff. Zu den Erb­ schaftsregelungen bei den Minangkabau auf Sumatra, der größten heute noch existie­ renden matrilinearen Gemeinschaft, vgl. F. von Benda-Beckmann (1979). 284  Wie etwa im altrömischen nexus. 285  Ein Beispiel schildert Herodot (IV, 196): Wenn die Karchedonier (Karthager) nach Nordwestafrika (ehemals West-Libyen) fahren, „laden sie ihre Waren ab und legen sie am Strand nebeneinander aus. Dann steigen sie wieder in die Schiffe und geben ein Rauchsignal. Sobald die Einheimischen den Rauch sehen, kommen sie ans Meer, legen Gold als Preis für die Waren hin und ziehen sich von den Waren wieder zurück. Dann gehen die Karchedonier wieder an Land und sehen nach. Entspricht das Gold nach ihrer Meinung dem Wert der Waren, so nehmen sie es an sich und fahren ab; andernfalls ge­ hen sie wieder auf ihre Schiffe und bleiben dort sitzen. Jene aber nähern sich dann wieder den Waren und legen Gold dazu, bis sie sie zufriedenstellen. Keiner fügt dem andern Schaden zu. Die einen rühren das Gold nicht eher an, als bis es ihnen den Waren gleichwertig dünkt; die andern berühren die Waren nicht eher, als bis die Karchedonier das Gold angenommen haben.“ Weitere Nachweise bei K. Friedrichs (1896), S. 88, und bei R. Redfield (1950). In der Gegenwart haben die Kpelle für ‚Markt‘ noch immer ein Wort, das übersetzt ‚Busch‘ bedeutet (D. Westermann, 1921, S. 37). Weitere Beispiele für einen ‚stillen Tausch‘ schildert W. Fikentscher (2016), p. 387. 286  Auch bei nicht-menschlichen Primaten hat man diese Art des Tausches beob­ achtet, vgl. R. Boyd/J. B. Silk (2012), p.  213 ff.

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Sein Prinzip blieb zwar die Reziprozität, diesmal jedoch bezogen nicht auf die ausgetauschten wirtschaftlichen Werte, die allenfalls eine untergeordnete Rolle spielten, sondern auf das Geben und Nehmen.287 Das Prinzip des reziproken Gebens und Nehmens wurde stets nur in egalitären Gesellschaften rein durchgeführt, in hierarchischen Gesellschaften dagegen agonis­ tisch durchbrochen, weil das Geben dort oft Mittel zur Darstellung angehäufter wirt­ schaftlicher Potenz war.

Gleichsam eine Verbindung zwischen dem stummen Warenaustausch und dem Gabentausch stellte in Stammesgesellschaften der kommunikative Austausch dar. Er bestand darin, dass Personen Sachen austauschten, denen sie einen in etwa gleichen Wert beimaßen, diesen Wert jedoch nach dem Nutzen berechneten, den die Sache für die empfangende Partei haben werde.288 Da­ bei lag es ihnen fern, ihr kommunikatives Verhältnis als ein obligatorisches zu begreifen. Wer dem anderen eine Ziege übergab, um dafür einen Sack Getreidesamen einzuhandeln, entäußerte sich vielmehr seines Eigentums in der Erwartung, dass auch der andere aus seinem Eigentum etwas hergeben werde. Erfüllte sich seine Erwartung nicht, weil die Gegenleistung ausblieb, dann war das für ihn nicht etwa eine Vertragsverletzung, sondern ein unan­ ständiges Verhalten, das ihn entweder zur eigenmächtigen Rücknahme seiner Sache oder zur Vergeltung berechtigte. Wichtiges Beispiel für den kommuni­ kativen Austausch war der Austausch von Frauen: Gab eine Sippe eine ge­ bärfähige Frau einem Manne aus einer anderen Sippe zur Ehe, dann erwartete man, dass die Sippe den Nutzen in Form des Brautpreises abgalt.289 Einen weiteren Schritt in der Entwicklung des Vertragsgedankens bedeu­ tete der Handelstausch (Tausch als Handelsgeschäft). Das Vorhandensein von Märkten in den Stammesgebieten war hierfür Voraussetzung. Sie erlaub­ ten einen Wettbewerb zwischen den Händlern (bei knappen Waren auch zwischen den Abnehmern), und sie förderten erstmals auch den Bedarf nach Krediten und damit nach einer Rechtsform, welche die Gegenleistung für eine Leistung nicht auf einen konkreten Gegenstand (wie bei der Leihe) be­ zog, sondern auf einen Gegenwert. Nach der Erfindung des Geldes290 konnte 287  Grundlegend zum Gabentausch der Versuch von M. Mauss (1996), die obliga­ torische, aber nicht rechtlich bindende Kraft der Gabe spirituell durch den „Geist der Gabe“ zu erklären. Dass man Geschenktes nicht weiterverschenken darf, ist bei Kin­ dern noch heute verbreitete Ansicht, sodass man darin möglicherweise eine angebo­ rene Empfindung zu erkennen hat (vgl. E.-J. Lampe, 2006, S. 406). 288  C. S. Belshaw (1965), p. 3: Es ging den Parteien des Austauschs also um den persönlichen, nicht um den wirtschaftlichen Nutzen. 289  Modernes Beispiel eines kommunikativen Austauschs sind Zahlungen eines Staates an einen anderen, aus dem er ausgebildete Facharbeiter abgeworben hat. 290  Geld hat seinen Ursprung wahrscheinlich im sakralen Bereich zur Bemessung der Opfergaben. Mit der Arbeitsteilung und dem Beginn des Tauschhandels erhielt es



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so an die Stelle des Tausches der Kauf als Austausch von Ware gegen Geld treten und alsbald zur Grundform des Austauschgeschäfts überhaupt wer­ den.291 Außer den Tausch- und Kaufgeschäften erlangten bei sesshaften Völkern Pachtverhältnisse erhebliche Bedeutung. Sie dienten dem Ausgleich zwi­ schen einem Zuviel an nutzbarem Grund auf der einen Seite und einem Zu­ wenig davon auf der anderen Seite, sodass ein Teil davon gegen die Ver­ pflichtung zur Zahlung eines Nutzungsentgelts den Besitzer wechseln konn­ te.292 (ζ) Strafrechtliche Strukturen. Das Strafrecht der indigenen Völker zeigt das Bestreben nach (reziproker) Vergeltung von Missetaten.293 Man unter­ schied zwischen intrasozialen und intersozialen Verletzungshandlungen. Für Verletzungen innerhalb einer Familie, einer Hausgenossenschaft, einer Sippe oder eines Clans (in-group-Verletzungen) wurde der Übeltäter bestraft, weil er sich erstens gegen den internen Sittenkodex vergangen hatte, zwei­ tens zur Bekräftigung eben dieses Kodex’ und drittens zwecks Erziehung des Übeltäters zu künftig sittenkonformem Verhalten. Im Falle schwerer oder zusätzlich eine ökonomische Funktion. Als ‚Geld‘ kamen ursprünglich alle Waren in Betracht, die der Sammlung und Aufbewahrung fähig waren. Sieht man davon ab, dass lange Zeit Vieh als Tauschobjekt Geld eher vertrat als war, sind Muscheln das erste weitverbreitete Zahlungsmittel gewesen. Zum wichtigsten aller Zahlungsmittel wurden jedoch, nachdem in Ägypten und in Babylon um die Wende vom 3. zum 2. Jt. die Waage erfunden wurde, Silber und Gold, ferner das bei Homer (Il. VI 48; X 379) erwähnte „geschmiedete Eisen“. Münzgeld wurde erstmals seit Mitte des 7.  Jh.s  v. u. Z. in Lydien geprägt. Seine Einführung in Athen ermöglichte den Übergang zur Markt­ wirtschaft, da die Bevölkerung mit der kurz vor 500 v. u. Z. eingeführten Silberdenar­ münze auf jedem Markt Waren für den täglichen Bedarf einkaufen konnte. Vgl. zur Geschichte des Geldes K. E. Born (1981). Zur Entwicklung der Zahlungsmittel auch unten K 6 b γγ. Ausführliche Nachweise über die Verbreitung von Geld als Zahlungs­ mittel innerhalb von Stammesgesellschaften des frühen Altertums bei K. Friedrichs (1896), S.  42 ff. 291  Die Freiheit des Handels auf den Märkten war regelmäßig durch den (heiligen) Marktfrieden geschützt. Nachweise dazu bei K. Friedrichs (1896), S. 89. 292  Beispiele etwa bei R. Thurnwald (1934), S. 54 f. 293  H. Kelsen (1943/1982) weist daher richtig darauf hin, dass der Ursprung des Strafrechts nicht in der Idee der Willensfreiheit und der daraus resultierenden Verant­ wortung liegt, sondern in der Idee der Vergeltung. Diese hatte ihren Vorläufer wiede­ rum in der Rache, die auch schon sozial lebende Tiere üben: „Es mag wohl sein, dass in dem – nicht erst beim Menschen, sondern vielleicht schon bei dem gesellschaftlich lebenden Tier zu beobachtenden – Rachetrieb noch der elementare Abwehr-Reflex steckt, den ein von außen verursachter Schmerz auslöst. Aber damit dieser Reflex zu einer mehr oder weniger bewussten, auf den Urheber gerichteten Aktion wird, wie es die Rache ist, muss der ursprüngliche Instinkt eine – nur durch das gesellschaftliche Zusammenleben mögliche – Modifikation erfahren“ (a. a. O. S. 54).

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wiederholter Übeltaten derselben Person, bei der interne Maßnahmen wie Arbeitsauflagen, Bußen an den Verletzten, Demutsgesten gegenüber der Ge­ meinschaft und das Gelöbnis zur Besserung nicht mehr ausreichten, trennte man sich von ihr, schickte sie z. B. in die Wüste oder ins ewige Eis, wo sie dann, allein gelassen, jämmerlich umkam. Oder man erklärte sie für friedlos, entzog ihr den Schutz für Leib und Leben, ließ sie gar töten und beauftragte Angehörige mit dem Vollzug.294 Verletzungen von außerhalb (out-group-Verletzungen) trat man mit ande­ ren Mitteln entgegen. Hier galt es, das ausgleichend zu vergelten, was man erlitten hatte (‚Talionsprinzip‘), damit man nicht Schwäche zeigte: die Tö­ tung eines Stammesangehörigen also durch die Tötung eines Mitglieds des anderen Stammes, den Raub von Rindern durch den Raub einer entsprechen­ den oder noch größeren Zahl. Sittliche Grenzen gab es nicht; denn es ging nicht um die Bekräftigung einer Sittennorm, sondern um Gegenwehr und Selbstbekräftigung durch Selbstbestätigung. Insbesondere bei der Blutrache trat indes noch ein metaphysisches Motiv hinzu: die Genugtuung, die man dem Getöteten schuldete. Da dessen Geist im Jenseits fortlebte und unter dem angetanen Unrecht litt, hatten die Lebenden die Pflicht, ihm im Dies­ seits diejenige Genugtuung zu verschaffen, die er sich selber nicht mehr verschaffen konnte. Die Blutrache bot sich nicht nur dem Gefühl der Kränkung als gerechte, weil rezi­ proke, Vergeltung an. Sie hatte auch eine präventive Bedeutung; denn wo sie drohte, hielt sie die Angehörigen einer Sippe von leidenschaftlichen Gewalttaten gegenüber Angehörigen einer anderen Sippe ab. Ihr Anlass konnte allerdings nicht nur die vor­ sätzliche Tötung eines Sippenangehörigen sein, sondern auch eine irreale Ursache haben, z. B. einen bösen Zauber295 oder die leidenschaftliche Erregung über eine wirklich oder vermeintlich angetane Schmach (‚blutige Rache‘). Derart abgestraft wurden Verletzungen vor allem der sexuellen Ordnung (Ehebruch der Frau, Entfüh­ rung u. dgl.), der Ehre eines Höhergestellten und selbst des Eigentums: Noch nach dem römischen XII-Tafelgesetz,296 dem altdeutschen und dem altrussischen Recht297 durfte ein Dieb, der auf frischer Tat ertappt wurde, erschlagen werden. 294  L. Pospíšil (1958, p. 90) schildert ein solches Verfahren bei den Kapauku Papuas, einem Bergvolk im Herzen Neu Guineas. Es wurde auch angewandt, wenn sich jemand gegen die Grundlagen der Gemeinschaft verging, etwa Verrat übte oder die schützende Gottheit beleidigte: Er wurde entweder getötet oder aus der Gemeinschaft ausgestoßen und der Rache der beleidigten Gottheit überlassen. 295  Beispielsweise berichtet E. Zintgraff (1895, S. 113) aus Kamerun, dass bei ei­ ner Jagd einer seiner Wei-Leute von einem Elefanten aufgespießt und getötet wurde, worauf die Wei-Leute ernstlich behaupteten, ein ihnen feindlich gesinnter Eingebore­ ner habe sich in den Elefanten verwandelt, und um Munition baten, um ihrerseits gegen das Dorf zu Felde zu ziehen. 296  XII-Tafelgesetz 8 12. 297  L. K. Goetz (1912), S. 31.



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts219

Bei Verletzungen nach außerhalb, d. h. gegenüber dem Mitglied einer an­ deren sozialen Einheit, unterschied man: Wurde die Verletzung von der Ge­ genseite ausschließlich dem Täter zugerechnet, dann konnte man sie intern ignorieren; bei einer schweren oder vorsätzlich begangenen Verletzung verlor der Täter allerdings intern an Ansehen. Wurde die Verletzung aber (wie re­ gelmäßig) der Einheit des Täters (seiner Sippe, seinem Clan) zugerechnet, musste sie auch interne Folgen haben.298 Im Falle eines Mordes konnte dann entweder der Täter an die Sippe des Ermordeten ausgeliefert oder stattdessen (z. B. von nahen Angehörigen) Schadensersatz oder ein Blutgeld (etwa in Form von Vieh) geleistet werden. Eine derartige Leistung versuchte man anschließend vom Täter wieder einzutreiben. Wenn dies nicht gelang, ver­ sklavte oder tötete man ihn und verwüstete sein Haus.299 Einflüsse des internen auf das externe Strafrecht und umgekehrt hat es wahrscheinlich anfangs nicht gegeben. Doch mit der Vergrößerung der Ver­ bände und der Verstärkung des Austauschs zwischen ihnen ließen sich die strengen Grenzen zwischen Interna und Externa nicht mehr aufrechterhalten. So kam es, dass die innere Einstellung zu einer Übeltat, die für deren interne Aufarbeitung schon immer eine Rolle gespielt hatte, ihre Bedeutung auch auf die externen Beziehungen ausweitete. Denn im Raum der eigenen Gemein­ schaft war es frühzeitig klar, dass man einem Täter, der absichtslos ein Un­ heil angerichtet hatte, eher verzeihen könne als einem, der dies vorsätzlich oder gar aus Hass heraus getan hatte. In späterer Zeit finden wir aber auch extern fast überall Bestrebungen, dem Fortwirken der Rache dort eine Grenze zu setzen, wo kein böser Wille im Spiel war. Insbesondere erschien es bei einer unbeabsichtigten Tötung nicht nötig, dass ‚die Tat den Mann tötet‘. Ein Wergeld oder die Auslieferung einer (gebärfähigen) Tochter als Ersatz für die 298  W. Goldschmidt (1967), der in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts das Recht der Sebei (einer Gruppe von Stämmen in Ostuganda) untersuchte, bemerkt dazu (p. 233): „Matters internal to the clan are handled in maximizing clan strength. Thus, on the one hand, fratricide may go unpunished for fear of further weakening of the clan, whereas a recidivist thief will be killed by his clansmen to avoid retaliation by outsiders which might be taken against a clansman, without elimination of the source of trouble.“ 299  L. Pospíšil (1958) berichtet folgenden Fall von den Kapauka-Papuas, der zum einen die gemeinsame Verantwortlichkeit von Vettern für einen Mord aus der Außen­ perspektive, zum anderen die Hauptverantwortlichkeit des Täters aus der Binnenper­ spektive illustriert (case 2, p. 147): Ein Mitglied der eigenen Einheit hatte ein Mit­ glied einer anderen Einheit ermordet. Man hatte ihn daraufhin der anderen Einheit ausgeliefert, doch gelang ihm von dort die Flucht. Als man ihn nach Ablauf von zehn Monaten noch immer nicht fand, verlor der Bruder des Ermordeten die Geduld und tötete einen Vetter des flüchtigen Mörders. Damit war die reziproke Gleichheit zwi­ schen den Gruppen hergestellt. Nicht dagegen war die Angelegenheit auch intern abgetan. Vielmehr musste der Mörder, als seine Gruppe ihn später fassen konnte, dem Vater seines Vetters ein Blutgeld bezahlen.

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Schwächung des Geschlechts oder des Stammes, dem der Getötete angehörte, sowie das religiöse Opfer als Sühnung und Abbitte gegenüber dem Geist des Toten erschienen als materielle und ideelle Mittel ausreichend, um ein neues Band zwischen den Gemeinschaften zu knüpfen und Versöhnung an die Stelle von Krieg treten zu lassen.300 Wichtigste Verbrechen waren in der vorgeschichtlichen Zeit: (1) Totschlag: Wie erwähnt, wurde er unterschiedlich behandelt je nachdem, ob er innerhalb einer Familie, eines Clans oder eines Stammes und ob er vorsätzlich oder unvorsätzlich begangen wurde. Kam es innerhalb einer Familie zum Brudermord, dann war das i. d. R. eine Angelegenheit, die vom Familienoberhaupt nach freiem Ermessen abgeurteilt wurde.301 Innerhalb eines Clans musste die vorsätzliche Tötung eines Sippenfremden dagegen durch die beteiligten Sippen ausgehandelt werden, et­ wa derart, dass die Sippe des Mörders diesen an die Sippe des Ermordeten ausliefer­ te, die dann mit ihm nach Belieben verfahren durfte.302 Gehörten Täter und Opfer verschiedenen Clans an, war die Reaktion unterschiedlich, weil dann zwar das Ta­ lionsprinzip (Leben gegen Leben) galt, dieses jedoch oft aus Furcht nicht angewendet wurde, weil eine einmal angestoßene Folge von Rachetaten sich oft nicht mehr anhal­ ten ließ.303 Theoretisch konnte jedes Mitglied aus dem Clan des Mörders der Rache des anderen Clans zum Opfer fallen; praktisch wurde in den meisten Fällen allein die Sippe des Mörders und innerhalb seiner Sippe allein der Mörder zur Rechenschaft gezogen.304 Einige Stämme hatten ferner schon frühzeitig die Sitte entwickelt, dass 300  So etwa genügte bei den Sebei als Folge der zufälligen Tötung eines Clanfrem­ den der symbolische Ersatz durch ein Rind oder ein Schaf. Auch bei einer verschul­ deten Tötung konnte der Clan des Getöteten die Kompensation durch Rinder akzep­ tieren, die dann der Clan des Täters aufzubringen hatte. Um sie zu beschaffen und nicht aus der eigenen Herde liefern zu müssen, hatte der Clanchef keine anderen Druckmittel als „pressures of an informal kind, social pressures …, pressures of po­ tential sorcery“ (W. Goldschmidt, 1967, p. 243). 301  Vgl. dazu I. Schapera (1955). L. Pospíšil (1958) schildert allerdings auch einen Fall, wo ein Geisteskranker, der zwei seiner Brüder ermordet hatte, unmittelbar an­ schließend von Zeugen der Tat durch Schüsse in Brust und Unterleib getötet wurde, ohne dass dies weitere Folgen gehabt hätte (case 5). 302  Auch in diesem Fall blieb der Mörder allerdings oft von Strafe verschont, weil man befürchtete, durch seine Tötung den Clan noch weiter zu schwächen (W. Goldschmidt, 1967, p. 233 f.). 303  Bei den Suku (Kongo) töteten die Mitglieder der Gruppe des Opfers deshalb keinen Angehörigen aus der Gruppe des Täters, sondern aus einer dritten, unbeteilig­ ten Gruppe – was den Konflikt zwischen den beteiligten Gruppen zwar beendigte, jedoch auf Kosten seiner Ausweitung auf eine unbeteiligte Sukugruppe. (I. Kopytoff, 1961). 304  H. P. Gulliver (1963), p. 127 ff: Bei den Arusha, einem Masai-Stamm im Nor­ den Tansanias, verhandelte die Gruppe des Opfers ausschließlich mit der des Täters über die Höhe des Blutgelds, nicht mit dem Täter selbst; intern musste jedoch der Täter den größten Teil davon bezahlen. Nach W. Goldschmidt (1967) sah auch das Recht der Sebei (oben Fn. 298) primär eine Verantwortung des Clans vor, wenn eines seiner Mitglieder einen Mord beging. Goldschmidt stellte folgende Grundsätze für



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts221

statt der Auslieferung des Mörders oder einer anderen Person lediglich ein Blutgeld zu zahlen war. In diesem Fall nahm der zahlende Clan anschließend intern den Mör­ der in Anspruch.305 (2) Inzest war überall ein schweres Verbrechen. Biologisch beruht das Tabu höchst­ wahrscheinlich auf dem Selektionsdruck zur Inzuchtvermeidung; die vorwiegend re­ ligiöse Begründung ist dagegen lediglich dessen kulturelle Verstärkung und vor allem dort dringlich, wo kleinere Gemeinschaften eng beieinander lebten und sie daher auf die räumliche Verteilung bei der Fortpflanzung achten mussten.306 Inzest war infolge­ dessen bei Jägern und Sammlern mutmaßlich stärker tabuisiert als bei Ackerbauern und Viehzüchtern. Was Inzest war und welche Personen unter das Tabu fielen, wurde allerdings jeweils von der Sitte unterschiedlich bestimmt.307 Sexuelle Beziehungen zwischen Vettern und Basen waren überall häufig, gleichgültig ob als Inzest tabuisiert oder nicht; meist kam es lediglich darauf an, dass eine Beziehung nicht ruchbar wur­ de.308 (3) Ehebruch galt nur dann als Delikt, wenn eine verheiratete Frau daran beteiligt war. Als Täter wurde im Allgemeinen nur der Ehebrecher angesehen, als Verletzter der Ehemann. Geahndet wurde die Tat am Täter regelmäßig durch Bußleistungen, während die Frau der Willkür des Ehemannes anheimfiel. (4) Ungehorsam gegen Höherstehende wurde unterschiedlich bewertet: Noch in neuerer Zeit galt auf Samoa die Achtungsverletzung gegenüber Familien und rangho­ hen Personen als Verbrechen.309 Bei den afrikanischen Aschanti war jede Form der das dann einsetzende Verfahren fest (p. 98): „1) The clansmen of the injured party may take immediate revenge, which should be done in hot blood. 2) The clansmen of the murderer may seek to pay compensation for the killing. 3) The clansmen of the murderer may themselves kill the murderer to avoid further penalty. 4) The pororyet [begrenztes Gebiet, das mehrere Dörfer umfasst] may take action to punish the clan of the murderer. 5) In the absence of the first three of these (and presumable irrespec­ tive of the fourth), the clansmen of the murdered man may seek any opportunity to avenge the death by killing individuals or taking cattle. 6) Finally, if none of the above succeeds, the family of the murdered man may make a ceremonial curse against the clansmen of the murderer, which continues until it is removed.“ Bei den Tlingit, einem Indianerstamm an der Nordwestküste Nordamerikas, war weniger wichtig, dass der Mörder zur Kompensation an den Clan des Ermordeten ausgeliefert wird, als dass der zur Kompensation Ausgelieferte von gleichem Rang sein musste wie der Ermordete. Infolge dieser Zusatzbedingung konnte ein Mörder von hohem Rang und Reichtum frei ausgehen, während ein armer Schlucker als Sklave in das Haus dessen gehen musste, der statt seiner ausgeliefert wurde (K. Oberg, 1934). 305  Dazu etwa E. Colson (1953). 306  Vgl. dazu oben Fn. 130. 307  Nicht zu verwechseln sind die Inzestverbote mit den Heiratsverboten. Perso­ nen, denen die Heirat verboten war, durften oft durchaus sexuelle Beziehungen mitei­ nander unterhalten (J. R. Fox, 1980, p. 4). 308  Vgl. zu den Trobriandern B. Malinowski (1926/1947). 309  R. Thurnwald (1934), S. 95 (unter Bezug auf E. Schultz-Ewerth, Samoanisches Recht, 1924 [in deutschen Bibliotheken nicht verfügbar]).

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Tätlichkeit oder der Ehrverletzung gegen den Häuptling oder sein Gefolge sogar ein Kapitalverbrechen.310 Andere Völker dagegen kannten dafür keine Strafen. (5) Zauberei und Hexerei:311 Unfälle, Krankheiten und selbst Todesfälle wurden nicht selten auf unnatürliche Ursachen zurückgeführt. Vielmehr vermutete man, dass Zauberei oder Hexerei im Spiele sei. Aufgabe eines Schamanen312 war es dann, den Schuldigen ausfindig zu machen. War er gefunden, überfiel ihn der Geschädigte ent­ weder und tötete ihn, oder er schleppte ihn vor Gericht und klagte ihn an. Der Be­ schuldigte musste dann seine Unschuld zu beweisen, hatte dazu aber kaum eine Chance.313 (6) Diebstahl und Raub: Solange ein Empfinden für den wirtschaftlichen Wert von Sachen noch nicht ausgebildet war, wurde deren Wegnahme lediglich dann geahndet, wenn die Tat als persönliche Beleidigung empfunden wurde. Sobald man dagegen einer Sache wirtschaftlichen Wert zuschrieb, wurde die Wegnahme mehr oder weniger streng verfolgt, wobei freilich die Beweisführung oft schwierig war. Wenn es sich nicht um eine Tat innerhalb der engeren Gemeinschaft handelte, überließ man es i. d. R. dem Bestohlenen, die Aufklärung zu betreiben. Er konnte sich dann entweder auf die Suche nach dem gestohlenen Gut machen oder einen des Diebstahls Verdächtigten zwecks Eidabnahme vor Gericht zitieren.314 Wurde der Dieb ermittelt, drohten ihm Folgen, die kulturabhängig waren und von der Rückgabe der Sache bis zur Todesstrafe315 reichten. Sicher war ihm darüber hinaus die soziale Ächtung. – Im Gegensatz zum (heimlichen) Diebstahl brachte man dem (offenen) Raub mehr Verständnis entgegen. Vielfach galt er als erlaubt, wenn er sich gegen Gemeinschaftsfremde richtete. Sonst sah man es als Sache des Eigentümers an, sich zu wehren oder die geraubte Sache (notfalls mithilfe seiner Angehörigen und Freunde) wiederzubeschaffen.316 310  T. C. McCaskie

(1995), p. 82, 372 f. Zauberei und Hexerei gibt es keine klar definierten Unterschiede. Dass Zauberer männlich, Hexen aber weiblich sind, ist kein universell geltender Un­ terschied. Gewöhnlich bedeutet Zauberei die Übertragung eines Übels auf eine Per­ son durch die Verwendung von rituellen Handlungen oder gesprochenen Formeln (‚Zaubersprüchen‘), verbunden mit Manipulationen an Objekten, die entweder einer Person ähnlich aussehen oder mit ihr in Berührung stehen oder standen. Hexerei da­ gegen kommt ohne solche Manipulationen aus; ihr genügt die psychische Kraft, um auf andere ein Unheil herab zu beschwören. 312  Schamanen wurden teilweise als Zauberer angesehen, weil sie magischer Riten kundig waren, teilweise aber auch als Medizinmänner, weil sie Heilkräuter für ge­ wisse Verletzung und Krankheiten kannten. Der Schamanismus wird als ältester Reli­ gionstypus betrachtet. 313  Vgl. dazu M. Harris (1989), S. 205 ff., der allerdings betont, dass die Hexereibzw. Zaubereibeschuldigungen seitens eines Schamanen eher zur Erhaltung als zur Zerstörung der Gruppeneinheit beitrugen. 314  Vgl. oben F 2 c Zusatz (zu den Dschagga) und J. H. Weeks (1914, S. 137) zu den Boloki im mittleren Kongogebiet. Dass ein Dieb unter der Furcht vor den Folgen seines Eides oft zusammenbrach und gestand, schildern z. B. für Zentralpolynesien R. W. Williamson (1924), p. 2 ff.; für Samoa O. Stuebel (1976), p. 150; A. Krämer (1903), S.  99 f. 315  Diese vor allem für einen Diebstahl im Haus des Eigentümers. 316  Zum altgermanischen Recht vgl. J. Grimm (1899), S. 192 ff. 311  Zwischen



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(7) Nichtzahlung einer Schuld: Die unberechtigte Weigerung, eine Schuld zu be­ zahlen, galt als Straftat und wurde regelmäßig dem Diebstahl gleichgestellt. Wurde beispielsweise, wie es häufig vorkam, der Brautpreis nicht oder nicht vollständig ge­ zahlt, war das ein strafbarer Akt gegenüber dem Vater der Braut. Dieser konnte dann zur Selbsthilfe greifen und seinem Schwiegersohn ein oder mehrere Rinder aus des­ sen Stall wegführen. Hatte ein Schuldner kein Vermögen, traf ihn der Vorwurf, dass er in Kenntnis dessen zum Schuldner und damit zum Betrüger geworden sei.317

(η) Strukturen der Konfliktbeilegung. Die Regelung sozialer Konflikte ist Gegenstand besonders intensiver Forschung seitens der Rechtsethnologen gewesen. Mit Recht! Denn frei von Konflikten war das Zusammenleben der Menschen nie. Lebten sie auf engem Raum, entstanden die Konflikte eben hieraus. Lebten sie in der Weite der Savanne oder im Urwald, dann entstan­ den Konflikte, weil unter deren Schutz Abweichungen von überkommenen Gemeinschaftnormen sich leichter verheimlichen ließen, allerdings auch um so schärfer sanktioniert werden mussten, sobald sie entdeckt und als für das gemeinschaftliche Interesse gefährlich eingestuft wurden. Anfangs fanden Verhandlungen über strittige Probleme lediglich in Gegen­ wart von Autoritätspersonen318 oder der zusammengerufenen Gemeinschaft mit dem Ziel eines Interessenausgleichs statt. Allgemein anerkannte Normen spielten dann zwar im Hintergrund eine Rolle, traten aber niemals ins Zen­ trum der Meinungsbildung und gaben vor allem niemals den alleinigen Grund für eine Entscheidung ab.319 Später nahm man bei Verhandlungen auf Normen zwar gelegentlich ausdrücklich Bezug – aber wie sie genau lauteten, war meistens schwer festzustellen und wurde deshalb auch nicht erfragt. Verfahren, die unseren Gerichtsverfahren einigermaßen ähnelten, konnten dagegen erst stattfinden, als sich die frührechtlichen Normen aus den allge­ meinen Sittennormen einigermaßen klar ausdifferenziert hatten.320 Das gerichtliche Verfahren ging alsdann aus der Selbsthilfe hervor und legte Teile davon nur nach und nach ab: Manche Völker unterwarfen die Selbsthilfe lediglich gewissen Formen; bei ihnen beschränkte sich die Tätigkeit der Ge­ richte auf die Überprüfung, ob diese Formen eingehalten wurden.321 Andere 317  Auch heute noch besteht die Tendenz, solche Fälle als Betrug oder Bankrott zu bestrafen. 318  Das waren stets ältere Personen, denn die Autorität des Alters war im Bewusst­ sein aller indigenen Völker fest verankert. Sie beruhte darauf, dass die Ältesten den Ahnen am nächsten sind, und sie blieb daher selbst dort bestehen, wo neben sie die Autorität der Adelsklasse trat. 319  L. Pospíšil (1982), S. 146 ff. 320  Auf die Bedeutung von Rechtsnormen bei der Beilegung von Streitigkeiten gehen u. a. J. Comaroff/S. Roberts (1953, p. 79 ff.) ein. 321  Dieses Verfahren wurde lange Zeit geübt, wenn eine Frau beim Ehebruch oder ein Dieb auf handhafter Tat ertappt wurde.

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untersuchten auch die materielle Rechtslage. Dann musste grundsätzlich der Kläger das Verfahren nicht nur in Gang bringen und für die Gestellung des Beklagten sorgen, sondern auch dafür, dass der Beklagte am Verfahren aktiv teilnahm und sich am Ende dem Ausspruch des Gerichts unterwarf. Geschah dies nicht, musste er, notfalls unterstützt von Helfern, gegenüber dem Beklag­ ten Zwang anwenden. Erst Häuptlinge und Könige zogen die Prozessführung an sich und gewährten dem Kläger sowohl bei der Vorbereitung und Durch­ führung des Prozesses als auch bei der Vollstreckung einer im Prozess bestä­ tigten Forderung hoheitliche Hilfe.322 ‚Rechtsprechungsorgane‘ und ‚Instanzenzug‘ waren in allen indigenen Gemeinschaften im Wesentlichen einheitlich: Untere ‚Instanz‘ war überall das Familienoberhaupt, das alle nur die Familie betreffenden Streitigkeiten und (leichteren) Vergehen entschied. Oft tagte innerhalb einer Großfamilie ein Familienrat, der sich entweder nur aus den Männern (und oft nur aus den älteren unter ihnen) oder aus sämtlichen erwachsenen Mitgliedern zusam­ mensetzte. Oberhalb der Familie befasste sich entweder die Sippe oder bei sesshaften Völkern das Dorf (falls von mehreren Sippen bewohnt) mit den Streitfällen;323 auch gab es oft einen Sippen- oder einen Dorfrat, der sich aus den Oberhäuptern der Familien einer Sippe oder eines Dorfes zusammen­ setzte. Waren mehrere Sippen zu einem Clan, mehrere Dörfer zu einem Dis­ trikt vereinigt, dann waren i. d. R. auch insoweit ‚Rechtsprechungsorgane‘ vorhanden. Auf der obersten Stufe stand dann ein Stammesrat bzw. Königs­ rat, der vom Stammesältesten bzw. vom König präsidiert wurde. Seine allge­ meine Zuständigkeit gewährleistete, dass innerhalb des traditionellen Rechts­ systems kein Rechtsprechungsvakuum entstehen konnte und überdies eine gewisse Einheitlichkeit der Rechtsprechung gewährleistet war.324 Zur Teilnahme an der Rechtsprechung berufen waren grundsätzlich nur Personen, die aufgrund ihrer Unabhängigkeit genügend Autorität besaßen, um die Argumente und Beweise der streitenden Parteien abzuwägen und einen Spruch zu fällen, der der Meinung der (am Verfahren beteiligten) Gemeinschaft und/oder der eigenen Überzeu­ gung Ausdruck gab – wobei die eigene Überzeugung meistens auf anerkannten Nor­ men oder auf Präzedenzentscheidungen beruhte. Innerhalb zentral verwalteter König­ reiche urteilten bereits (Berufs-)Richter mit einem formellen Status und mit Rückhalt an der politischen Macht, sodass diese ihre Entscheidungen zwangsweise durchsetzen konnte.325 322  So übernahm bei den Bantuvölkern der Häuptling die Schuldbeitreibung (vgl. J. Kohler, 1914, S. 42). 323  Oft wurde dann eine im Dorf angesehene, mit beiden Parteien bekannte und mit ihren Verhältnissen vertraute Persönlichkeit (Nachbar, älterer Mann oder andere neutrale Person) mit der Streitschlichtung betraut. 324  Weiteres etwa bei R. Thurnwald (1934), S. 149 ff. 325  Ein gutes Beispiel dafür ist das Recht der Lozi in Zentralafrika, vgl. M. Gluckman (1955); A. Holtwick-Mainzer (1985), S. 58 ff.



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts225

Schon aufgrund der Entwicklung von einfachen zu komplexeren Gruppen war das schiedliche Verfahren das ältere. An ihm waren anfangs nur die Streitparteien – Kläger und Beklagter jeweils verstärkt durch Streithelfer – beteiligt. Konnte man sich nicht einigen, zog man möglicherweise einen ‚weisen Dritten‘, etwa einen Priester, hinzu. Bei dieser Form verblieb es auch später, wenn die Einmischung Dritter unerwünscht und bloß vernünfti­ ger Rat gefragt war, etwa beim Streit zwischen Verwandten oder Nachbarn. Ein schiedsrichterliches Verfahren wurde überall dort erforderlich, wo ein erhobener Anspruch auf Widerspruch stieß und der Streit sich nicht schied­ lich bereinigen ließ.326 Ob dann der am Ende stehende Schiedsspruch den Streit beendete, hing gleichwohl maßgeblich vom Ansehen und der Macht derjenigen ab, die ihn fällten.327 Grundlage für eine Vollstreckung unter ob­ rigkeitlicher Mithilfe bot er nicht. Ein streitiges Verfahren entwickelte sich erst dort, wo die Macht der zen­ tralen Autoritäten zunahm und diese sich imstande fühlten, die Verhandlung von Streitigkeiten an sich zu ziehen,328 den Streit zu entscheiden und ihre Entscheidung zu vollstrecken. Daher wurde das streitige Verfahren von An­ fang an als ein strikt förmliches etabliert.329 Feste Normen dafür dürfte es hauptsächlich für die Verpflichtung zum Erscheinen der Parteien und die Folgen ihres Ausbleibens bzw. ihre gegen eine Vorführung geleisteten Wider­ standes gegeben haben. Belege fehlen allerdings.330 Das Verfahren selbst dürfte meist nur in groben Zügen geregelt gewesen sein: Die Parteien hatten es durch eine möglichst bildkräftige Darstellung ihres Streites einzuleiten. Falls sie zur Einleitung eine Rechtsbehauptung aufstellten, mussten sie diese dazu 1. Mose 13 7 ff.; 21 22 ff.; 31. handelte sich nicht um ein Streitverfahren in unserem Sinne, denn die Par­ teien mussten die Entscheidung des Gerichts ausdrücklich akzeptieren, damit sie Geltung erhielt. Gleichwohl handelte es sich auch nicht um einen Kompromiss, der im Wege des gegenseitigen Nachgebens der Parteien erreicht wurde; denn der Inhalt der Entscheidung beruhte nicht auf einer freien Übereinkunft zwischen den Parteien, sondern auf der normativen Überzeugung der Gemeinschaft, die von den richtenden Personen repräsentiert wurde. Beispiele sind Verfahren vor dem Leopardenfell-Pries­ ter bei den Nuern (vgl. oben 2 b Zusatz) und das moot vor dem mbatarev bei den Tiv, über das P. Bohannan (1957) berichtet. 328  Den Antrieb dazu gab allerdings oft nicht der sich verstärkende Wille, dem Recht zum Siege zu verhelfen, sondern die Absicht, mit der Hilfe eines Justizapparats hohe Geldstrafen zu verhängen und dadurch die Staatsschatulle zur füllen (vgl. oben 2 c Zusatz a. E.). 329  Dass es nicht aus dem schiedsrichterlichen Verfahren hervorgegangen ist, son­ dern dieses lediglich zurückgedrängt hat, betont mit Recht W. Seagle (1967), S. 89 f. 330  Wahrscheinlich ist, dass die Ladung vom Kläger vor Zeugen ausgesprochen wurde. Über die Folgen der Säumnis ist kaum etwas bekannt; sie werden wahrschein­ lich von Volk zu Volk unterschiedlich gewesen sein. 326  Vgl. 327  Es

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durch Tatsachenbehauptungen unterlegen, wobei sich das Gericht auf unter­ schiedliche Weise an der Aufklärung beteiligen konnte. Stets galt – nicht anders als zuvor im schiedsrichterlichen Verfahren – der Grundsatz audiatur et altera pars: Das Gericht urteilte erst, nachdem beide Parteien ihre Auffas­ sung von der Sach- und Rechtslage darlegen konnten.331 Zwischen Zivil- und Strafverfahren wurde erst in fortgeschrittenen Kultu­ ren unterschieden – schon weil eine scharfe Unterscheidung zwischen Zivilund Strafrecht (bzw. zwischen torts und crimes) in das traditionelle Frührecht eher hineingetragen werden kann als in ihm angelegt war.332 (θ) Die Entwicklung eines gerichtlichen Beweisverfahrens begann in klei­ nen Gesellschaften am Nullpunkt. Wer als unparteiischer Dritter in ein Streit­ verfahren einbezogen wurde, achtete lediglich darauf, dass die Parteien fair miteinander umgingen. Die Gründe ihres Streits waren meist offenkundig, und was nicht offenkundig war, ließ sich auch durch Befragung meistens nicht ans Licht bringen. Auch gab es, wo die gesamte Gemeinschaft richtete, keine Zeugen, die man hätte befragen können. Deshalb nahm man die Tatsa­ chen so hin, wie man sie kannte. Und wenn man sie als strittig kannte, muss­ ten höhere Mächte entscheiden, auf welcher Seite die Wahrheit stand. Auch Straftaten konnten daher ohne förmliches Verfahren geahndet werden, sofern eine schwere Verfehlung allgemein als erwiesen angesehen wurde und die Gemein­ schaft entweder die Überzeugung hatte, dass der als Täter Verdächtigte getötet, aus­ gestoßen oder zur Buße gezwungen werden müsse, oder wenn eine Autoritätsperson sie hiervon überzeugte.333

Doch je größer die Populationen wurden und je weniger vertraut die All­ gemeinheit mit den internen Vorkommnissen war, desto förmlicher mussten die gerichtlichen Beweisaufnahmen werden. Freilich blieben auch jetzt noch die Angaben der Parteien das wichtigste Beweismittel. Hinzu traten aber die Einvernahme von Zeugen und der gerichtliche Augenschein. Ein reiches Aufgebot an Zeugen imponierte; denn man nahm an, dass die Meinung einer Vielzahl von Zeugen der Wahrheit am nächsten komme. Daher bekam am Ende derjenige Recht, der die meisten Zeugen aufbieten und somit ‚überzeu­ gen‘ konnte.334 Und da die Zeugen regelmäßig aus der Verwandtschaft 331  An der Entscheidungsfindung wirkten die streitenden Parteien nicht mit – im Gegensatz zum Schiedsverfahren, wo ihre Mitwirkung auch dann nötig war, wenn sich auf beiden Seiten Verstärkertruppen eingefunden hatten, im Gegensatz aber auch zum schiedsrichterlichen Verfahren, wo ihre Mitwirkung zwar nicht nötig, aber im­ merhin möglich und meistens sogar erwünscht war. 332  Siehe auch W. Fikentscher (2016), p. 424. 333  Vgl. E. A. Hoebel (1968), S. 114 f. (betr. Inuit); L. Pospíšil (1954), case 31 (betr. Kapauku Papuas). 334  Allerdings galt es bei einigen Völkern als unfein, jemand als Zeugen beizubrin­ gen. So etwa bei den Damara (H. Vedder, 1923, S. 148).



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts227

stammten, fühlte sich derjenige, der eine große Verwandtschaft besaß, von vornherein im Recht. Nur wenn am Ende Aussage gegen Aussage, Zeugnis gegen Zeugnis stand, mussten wie schon früher höhere Mächte die Wahrheit aufdecken. Um die höheren Mächte in die Rechtsfindung einzubeziehen, griff man schon frühzeitig zur Auferlegung eines Eids: Einer der Streitenden oder der Zeugen musste den Namen eines Gottes oder des Königs anrufen335 und Un­ heil auf sein Haupt beschwören (etwa dass er tot umfallen oder binnen Mo­ natsfrist durch das Schwert umkommen möge), sollte seine Aussage falsch sein. Traf ihn das Unheil nicht, dann war die Wahrheit seiner Behauptung (etwa die Beteuerung seiner Unschuld) oder seines Zeugnisses erwiesen.336 Besondere Bedeutung, insbesondere in Strafsachen, erlangte neben dem Eid das Ordal (Gottesgericht). Wahrscheinlich gab es auf der ältesten Ent­ wicklungsstufe nur das einseitige Ordal, dem sich der Angeklagte zu unter­ ziehen hatte, auf einer höheren Stufe dann das zweiseitige, bei dem dieselbe Pflicht auch dem Ankläger oblag.337 Auf welche Weise die Götter in die Entscheidung einbezogen wurden, war von Volk zu Volk verschieden und allein der Sitte unterworfen. Uralt war auch der gerichtliche Zweikampf.338 Er leitete sich vom Kriege her, wo die Völker gelegentlich übereinkamen, statt ganzer Heere eine ausgewählte Anzahl 335  Die Sage kennt auch andere Schwüre, etwa „bei Schwertes Spitze und Schiffes Bord, bei Schildes Rand und Rosses Bug“ (Edda, Das Lied von Wölundur). Erst nach der Ausbreitung des Christentums schwor man nur noch bei Gott oder aber bei allen bzw. einzelnen Heiligen (in reformatorischen Gegenden nur noch unter Anrufung Gottes). Dabei erhob man die drei Schwurfinger als Hinweis auf die Dreieinigkeit. 336  Wir finden die Eidauferlegung an die Parteien bei fast allen indigenen Völkern. Sie „setzt zwar gewisse Hypothesen über die Wirkung des gesprochenen Wortes vor­ aus. Diese finden sich allerdings früh, und so kann man sagen, dass die Wurzeln des Eides sehr tief hinunterreichen.“ (R. Thurnwald, 1934, S. 176). Da der Eid i. d. R. streitentscheidend war, wurde in späterer Zeit häufig darum gestritten, welcher der Parteien er auferlegt werden soll. Ein grundsätzliches Verbot findet sich u. a. im Neuen Testament bei Matthäus 5 34–37 und bei Jakobus 5 12. Das Verbot ging je­ doch nicht in die Rechtsordnungen ein und wird auch heute nur selten und nur von strenggläubigen Christen geltend gemacht. Viele Einzelheiten finden sich im von P. Prodi (1993) herausgegebenen Sammelband. Außer der Eidesleistung waren auch andere Methoden der Wahrheitsfindung ver­ breitet, so insbesondere das Fetischessen: Die beklagte Partei musste eine Speise zu sich nehmen, die durch ihre Nähe zu einem Fetisch ihr zum Fluch wurde, falls sie schuldig war. In Neu-Guinea beispielsweise musste der des Mordes Beschuldigte ein Stück des Leichnams essen; war er schuldig, schwoll er davon an und verstarb (J. Kohler, 1914, S.  44 f.). 337  Vgl. dazu R. Thurnwald (1934), S. 166 ff., 180 ff., sowie unten G 4 k. 338  Er ist außer bei den Germanen bei einigen Stämmen der Indianer und der Ma­ laien nachweisbar (J. Kohler, 1914, S. 44).

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

von Kriegern oder nur gewisse Anführer gegeneinander kämpfen zu lassen und den Ausgang des Kampfes als Urteil im Streit anzuerkennen.339 Weit verbreitet war ferner das Feuerordal, etwa das barfüßige Gehen über glühende Pflugscharen oder das inHänden-Tragen glühenden Eisens. Ihm verwandt war das Wasserordal. Es wurde un­ terschiedlich gedeutet: Bei einigen Völkern wurde der Beschuldigte mit einem Seil um den Leib ins Wasser geworfen: Ging er unter, dann war er unschuldig und wurde herausgezogen; nahm ihn das reine Wasser dagegen nicht auf, so war seine Schuld erwiesen. Andere Völker hingegen deuteten umgekehrt: Wurde der Beschuldigte vom Fluss, in den er springen musste, fortgerissen und ging er unter, dann war er schuldig; blieb er dagegen am Leben, war seine Unschuld erwiesen. Verschärft werden konnte das Ordal, wenn im Wasser sich Krokodile oder Haie tummelten. Man ermahnte die­ se zwar, nur den Schuldigen zu fressen, und bat die Götter, die Mahnung zu bekräfti­ gen – ob aber die Krokodile sich von ihrer Mahnung beeinflussen ließen?340 Das Giftordal fand seine hauptsächliche Verbreitung bei den Stämmen Afrikas. Es wurde jedoch auch nach mosaischem Recht angewandt, damit eine Frau sich gegenüber den Beschuldigungen ihres eifersüchtigen Ehemannes reinigen konnte.341 Bei den malaii­ schen und den afrikanischen Stämmen verbreitet war schließlich auch die Bahrprobe: Der Geist des Toten begann im Leichnam zu bluten, wenn sich der Mörder ihm nah­ te, oder die Träger erstarrten, sobald der Name des Täters genannt wurde. Die Probe 339  Ein Beispiel findet sich bei Herodot, Historien I 82: Zwischen den Argeiern (den Bewohnern von Argos) und den Spartanern war es zum Streit um einen Land­ strich gekommen. Die Spartaner hatten den Landstrich besetzt. Die Argeier rückten mit einem Heer an, und es kam zu Verhandlungen. „Schließlich einigte man sich, dass 300 Krieger aus beiden Heeren gegeneinander kämpfen sollten; der siegreichen Partei sollte der Landstrich gehören.“ Nach Abschluss des Kampfes blieben nur zwei Argeier und ein Spartaner übrig. Im Glauben an ihren Sieg eilten die beiden Argeier nach Argos, der überlebende Spartaner aber nahm den gefallenen Argeiern die Waffen ab und hielt sich auf seinem Posten. „Da schrieben sich dann beide Parteien den Sieg zu: die einen behaupteten, auf ihrer Seite seien mehr übriggeblieben; die andere Par­ tei wies darauf hin, dass die anderen geflohen, ihr Mann aber geblieben sei und den gefallenen Gegnern die Waffen geraubt habe. Schließlich gerieten sie aus Zank in Streit, und es kam zum Kampf. Nach großen Verlusten auf beiden Seiten siegten schließlich die Spartaner.“ Ein weiteres Beispiel berichtet T. Livius (1988), lib. I cap. 23 ff.: Albaner und Römer hatten zum Krieg gegeneinander gerüstet. Sie einigten sich aber darauf, dass nicht ihre Heere gegeneinander kämpfen sollten, sondern Dril­ lingsbrüder, die sich zufällig in beiden Heeren befanden und die an Jahren und Kräf­ ten ungefähr gleich waren. Der Kampf begann und der Sieg schien sich den albani­ schen Drillingen zuzuneigen, da es ihnen gelungen war, zwei der römischen Drillinge zu töten, während sie selbst nur blutende Wunden erlitten hatten. Nun war allerdings der letzte der römischen Drillinge unverletzt geblieben. Deshalb war er zwar dem Kampf mit den anderen zusammen nicht gewachsen, wohl aber kampfmutig jedem Einzelnen gegenüber. Er ergriff also die Flucht in der Erwartung, dass die drei ihn verfolgen würden, jedoch nur so, wie es ihnen ihr geschwächter Körper jeweils er­ laube. Und in der Tat sah er sie alsbald ihm in großen Abständen folgen, sodass er jedem, der bei ihm ankam, Mann gegen Mann gegenüberstand und ihn, da nur er unverletzt und im vollen Besitz seiner Kraft war, besiegen und töten konnte. 340  Vgl. Th. Waitz/G. Gerland (1872), S. 226. 341  4. Mose 5 12 ff.



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts229

wird noch im Nibelungenlied342 erwähnt: Siegfrieds Wunden fingen zu bluten an, als der grimme Hagen zur Bahre trat. Und in Shakespeares Drama „King Richard III.“ blutete die Leiche König Heinrichs, als Gloster sich ihr näherte: „O, gentlemen, see, see! dead Henry’s wounds Open their congeal’d mouths and bleed afresh!“343

Eine Verteilung der Beweislast wie im modernen Gerichtsverfahren war den Naturvölkern unbekannt. Allerdings gab es, wenn auch ohne strenge Begrenzung, den ‚Beweis des ersten Anscheins‘, etwa wenn jemand eine frische Narbe vorweisen konnte und belegt war, dass er seit Langem mit dem der Tat Verdächtigten in Streit lebte. 4. Leitlinien der (vor)geschichtlichen Entwicklung eines prästaatlichen Rechts Ökonomische, soziale und politische Entwicklungen der Menschheit stan­ den in vorgeschichtlicher Zeit in engem strukturellem Zusammenhang. Ins­ gesamt verliefen sie – zwar nicht nach strengen Gesetzen, wohl aber tenden­ ziell – zu stärkerer Komplexität: d. h. von geringerer zu höherer Differenzie­ rung und Zentralisierung. Man kann sie daher als evolutiv bezeichnen. •• Auf der Ebene der ökonomischen Versorgung nahmen die Menschen Grund und Boden immer eindeutiger und umfassender in Anspruch: zunächst (a) als vage abgegrenztes Revier, worin eine eng begrenzte Anzahl von Familien gleichen Zugang zum Jagen von Tieren und zum Sammeln von Wurzeln und Früchten hatte; später (b) als klar abgegrenzten Wohnbezirk für eine größere Anzahl von Familien, die den Boden durch Brandrodung oder Bewässerung fruchtbar machte, um ihn anschließend im Grab- und Hackbau, später im Pflugackerbau zu bearbeiten sowie domestizierte Tiere darauf weiden zu lassen und auf diese Weise ein Mehr an pflanzlicher und tierischer Nahrung – auch im Austausch gegen andere Güter – zu erhalten; schließlich (c) als vermessene Teile des Wohnbezirks, die dann als ökono­ mischer Reichtum in Form von individuellem Landbesitz bzw. -eigentum zu beliebiger Verwertung (z. B. Verpachtung) zur Verfügung standen. •• Auf der Ebene des ökonomischen Handels verlief die Entwicklung (1) von der Hauswirtschaft über die Tauschwirtschaft zur Geldwirtschaft: (a) Auf der Stufe der Hauswirtschaft wurden Güter von demjenigen Haushalt ver­ braucht, in dem sie zuvor erzeugt worden waren – Erzeugungs- und Ver­ brauchsgüter waren also identisch. (b) Auf der nächsten Stufe der haupt­ 342  Nibelungenlied 343  W.

v. 984 ff. Shakespeare, King Richard III, act I scene 2.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

sächlich in überschaubaren Gemeinden (Dörfern und kleineren Städten) geübten Tauschwirtschaft musste ein Teil der Güter von ihren Erzeugern erst ihren Weg zu den Verbrauchern finden – Erzeugungs- und Verbrauchs­ güter waren also nicht mehr identisch, sondern durch den realen oder vertraglichen Akt des Tausches miteinander verbunden. (c) Auf der dritten Stufe der überregional geübten Geldwirtschaft trat zwischen die Erzeuger und die Verbraucher dann noch der Handel – Erzeugungsgüter und Ver­ brauchsgüter waren Handelswaren und als solche nur noch mittelbar ver­ bunden; vermittelnd trat das Geld hinzu, das sie dem Erzeuger einbrachten und den Verbraucher kosteten. – (2) Als weiterer Wirtschaftsfaktor folgte die Arbeit der ökonomischen Entwicklung: (a) Auf der Stufe der Hauswirt­ schaft war sie Mittel für den häuslichen Unterhalt und trat daher als selbst­ ständiger Wert nur bei einem Mitgliederwechsel hervor. (b) Auf der Stufe der Tauschwirtschaft erlangte sie selbstständigen Wert, weil sie Gegenstän­ de erzeugte, die zum Tausch verwendet werden konnten: (c) Auf der Stufe der Geldwirtschaft wurde sie zum verfügbaren Kapital, das ebenso wie die Arbeitsprodukte gehandelt und nach Wert bezahlt werden konnte. •• Auf der Ebene der sozialen Organisation verlief (1) die durch verwandt­ schaftliche Nähe begründete Organisation von (a) der Einfachheit familiä­ rer Beziehungen über (b) die bereits komplexeren verwandtschaftlichen und verschwägerten Beziehungen innerhalb von Sippen zu den (c) noch­ mals vergrößerten und infolgedessen nochmals komplexeren Beziehungen zwischen den Sippen untereinander innerhalb von Clans. Auslösend für die Entwicklung waren zum einen die größere Anzahl von Kindern, die gesund aufgezogen werden konnten und durch Heirat Verbindungen auch zu an­ deren Sippen und Clans herstellten, und zum anderen eine allgemein längere Lebens­ dauer, welche die Verwandtschaft künftig vertikal auf drei gleichzeitig lebende Gene­ rationen, horizontal auf eine immer größere Anzahl von Nichten und Neffen, Onkeln und Tanten, Großneffen und -nichten sowie Großonkeln und -tanten erstreckte. Sippen umfassten künftig Verwandte und Verschwägerte aus drei bis vier Generationen und hatten bis zu fünfzig Mitglieder. Clans schlossen die noch lebenden Mitglieder aus sieben bis zehn Generationen ein und hatten u. U. mehrere Hundert Mitglieder. Gleichzeitig verkomplizierte sich die Autoritätsstruktur: Während sie sich früher auf den Familienvater konzentrierte und in ihm endete, erstreckte sie sich künftig von ihm aus bis zum Sippenältesten und von diesem aus weiter bis zum Clanchef.

Ebenfalls immer komplexer wurde (2) die durch räumliche Nähe begrün­ dete Organisation. Es entstanden (a) nicht nur Dörfer, sondern auch Städte als immer größere lokale Einheiten, worin die Bevölkerung auf immer enge­ rem Raum zusammenwohnte, ferner (b) nicht nur Clans, sondern auch Stämme als immer größere soziale Interaktionseinheiten. Untereinander hat­ ten die größeren Einheiten allerdings einen immer lockreren Zusammenhalt, sofern sie sich nicht überhaupt gegenseitig bekämpften. Daher bildeten sie letzthin nur Übergangserscheinungen zu den (c) politisch festeren, weil hie­



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts231

rarchisch organisierten Häuptlingsschaften und den überdies bürokratisch verwalteten Königreichen. •• Auf der Ebene der sozialen Herrschaft wurden (1) Personen in allmählich immer stärker hierarchisch organisierte Einheiten eingebunden: (a) Män­ ner, Frauen und Kinder in Hausgemeinschaften mit einem Ältesten als Leiter; (b) mehrere Familien in Horden mit einem Anführer (leader) als Leiter; (c) mehrere Sippen und Clans in Stämme mit einem Häuptling als Leiter. Weiterhin wurden (2) (bewegliche) Sachen auf immer stärker ge­ festigten Stufen einzelnen Personen zugeordnet: (a) aufgrund lediglich tatsächlicher Gewalt über eine Sache den Sachherren; (b) aufgrund (kon­ kret-)sozialer Anerkennung der Sachherrschaft den Sachbesitzern; (c) auf­ grund (abstrakt-)rechtlicher Anerkennung des Sachbesitzes den Sacheigen­ tümern. Darüber hinaus wurde auch (3) der Austausch von Sachbesitz bzw. -eigentum zwischen Personen auf immer höheren Stufen immer um­ fassender organisiert: (a) aufgrund des Austauschs mittels Gebens und Nehmens als Übertragung von lediglich realer Verfügungsgewalt: (b) auf­ grund wechselseitiger Anerkennung der Gewaltübertragung als Übertra­ gung von zusätzlich sozialer Verfügungsbefugnis; (c) aufgrund rechtlicher Anerkennung des (vollständigen) Übergangs der Verfügungsbefugnis als Übertragung von Eigentum. •• Auf der Ebene der politischen Organisation wurde eine Über- und Unter­ ordnung auf mehreren Ebenen festgeschrieben: (a) die Unterordnung von Bewohnern einer Siedlung bzw. Dorfes unter die politische Zuständigkeit eines Dorfschulzen, wodurch die politische Einheit eines Dorfes bzw. ei­ ner Siedlung allererst entstand; (b) die Unterordnung mehrerer Dörfer unter die hoheitliche Verwaltung eines deputierten Beamten oder Captains, woraus die politische Einheit eines Kantons oder Distrikts hervorging; (c) die Unterordnung der Kantone oder Distrikte unter die politische Ein­ heit eines fürstlichen Regimes, was zur Entstehung eines Fürstentums als staatspolitische Einheit führte. •• Auf der Ebene der politischen Herrschaft entwickelte sich von unten nach oben eine Stufung: (a) Die lokale Herrschaft innerhalb von Dörfern war noch einstufig: sie umfasste lediglich die Dorfschulzen und überregional allenfalls einen gemeinsamen Sprecher (meist den ältesten oder den an­ gesehensten Dorfbewohner). (b) Die Herrschaftsstruktur innerhalb von Häuptlingsschaften war zweistufig: Oberhalb der lokalen Herrschaft der Dorfschulzen bestand eine politische Führung seitens des Stammeshäupt­ lings. (c) Innerhalb der Königreiche erhöhte sich die Zahl der Herrschafts­ stufen um eine dritte: Der Fürst stand an der Spitze, eine Stufe unter ihm standen (als Captains der Distrikte oder Kantone) die Häuptlinge, und auf der unteren Stufe waren die Dorfschulzen gleichzeitig lokale Beamte.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Die Entwicklung des Rechts folgte im Wesentlichen der politischen Ent­ wicklung. Innerhalb einiger ausschließlich sozial vermittelter Beziehungen konnte es niemals Fuß fassen: Es galt nicht innerhalb der näheren Verwandt­ schaft, und innerhalb der entfernteren Verwandtschaft sowie innerhalb nichtverwandtschaftlicher Beziehungen blieben noch lange, nachdem das Recht erfunden war, Brauchtum und Sitte als Ordnungsparameter vorherrschend. Das innerhalb der Horden geübte Brauchtum war pränormativ, wurde von den Kindern gleichsam mit der Muttermilch eingesogen, erforderte später nur wenige Lernvorgänge, ließ dafür aber auch eine klare Unterscheidung zwischen Sein und Sollen vermissen. Die innerhalb der Stammesgesellschaf­ ten geltenden Sitten gehörten dagegen eindeutig dem Sollensbereich zu, be­ saßen also normativen Charakter und mussten überwiegend erlernt werden. Ihr Wert bestand in der Vertrauensbildung zwischen einer größeren Zahl nicht näher miteinander bekannter Personen und in Verfahrensregeln, falls Streitigkeiten nicht durch die unmittelbar Beteiligten befriedet werden konn­ ten. Sie enthielten aber keine Normen für Streitigkeiten außerhalb desselben Kulturkreises, ja sie versagten oft sogar schon, wenn mehrere Stämme oder auch nur Dörfer daran beteiligt waren. Dann mussten die Streitigkeiten kämpferisch ausgetragen werden und forderten oft einen hohen Blutzoll. Der Anwendungsbereich von Sittennormen war persönlich und örtlich desto weiter, je allgemeiner es war. Denn nur infolge häufiger Kommunikationen und Interaktionen konnten sich neben dem Brauchtum Normen herausbilden, die inhaltlich überein­ stimmten und als ‚richtig‘ so stark verinnerlicht wurden, dass ihre Übertretung Scham oder schlechtes Gewissen zur Folge hatte. Innerhalb größerer territorialer Einheiten, deren Bewohner eher selten aufeinandertrafen, konnten die Sitten dagegen allenfalls allgemeine Umgangsformen absichern. Abweichungen davon, insbesondere durch Fremde oder Ausländer, wurden zwar nicht geschätzt, aber bis zu einem gewissen Grade toleriert. Oft hatten sie allerdings zur Folge, dass man Ausländern mit Miss­ trauen begegnete oder gar jeden Kontakt mit ihnen mied.

In einigen Lebensbereichen hatte allerdings die Notwendigkeit, ein fried­ liches Miteinander zu gewährleisten, die Ausbildung von Normen zur Folge, die – trotz allem Verständnis für kulturelle Eigenheiten – keinesfalls verletzt werden durften. Solche (Proto-)Rechtsnormen entsprachen inhaltlich zu­ nächst überwiegend den Sittennormen und dienten deren bekräftigender Be­ stätigung. Manche dienten aber auch ihrer Veränderung, dort nämlich, wo die bestehenden Sitten als altmodisch und hinderlich empfunden wurden. Man­ che waren neu, weil neue Probleme aufgekommen waren, die von den Sitten­ normen nicht gelöst wurden. Dann achtete man darauf, dass die soziale Ordnung in sich harmonisch blieb und dass sie nach wie vor mit der kosmi­ schen Ordnung – d. h. mit den Gesetzen der irdischen Natur und der überir­ dischen Welt – im Einklang stand. Denn Widersprüche, sei es zwischen den Normen der Sitte und des Rechts oder zwischen der rechtlich-sittlichen und der kosmischen Ordnung, hätten zu schwer lösbaren Gewissenskonflikten



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts233

geführt und den angeborenen Glauben an eine ‚gerechte Welt‘ untergraben.344 Sitten und Recht mussten daher Ausdruck einer einheitlichen (‚kosmischen‘) Ordnung des Sachgemäßen sein. Die Sitten mussten im Gefühl eines jeden Mitmenschen lebendig (d. h. schöpferisch tätig) sein. Sie mussten aber auch von der Vernunft den wechselnden Umwelten angepasst werden können, da­ mit sie als Leitfaden auf dem Weg durch die Fährnisse und Unwägbarkeiten des Lebens taugten.345 Vielfach waren ihre Grundlagen deshalb Schöpfungsund Wandlungsmythen, die lediglich so weit säkularisiert wurden, dass sie ihren Bezug zu den Wandlungen der realen Umwelt behielten und diesen Wandel rechtfertigen konnten. Die Rechtsnormen als neue, zumeist vom rati­ onalen Nutzen geprägte, Vorschriften fügte man dagegen um des festen Halts willen ein, den sie boten. Sie wurden immer dann nötig, wenn das Volk dazu neigte, eilfertig sozialen oder ökonomischen Veränderungen zu folgen, statt der Moral der althergebrachten Sitten die Treue zu halten.

G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts Aus dem prästaatlichen entwickelte sich nahtlos das protostaatliche Recht. Meine folgende Darstellung knüpft daher ebenfalls nahtlos an meine vorste­ hende an. Sie wird sich nur insofern verändern, als sie sich dem stärkeren Eigencharakter der ‚großen‘ protostaatlichen Rechtsordnungen und ihrer Einbettung in stärker ausdifferenzierte Kulturen anpassen wird. Ich werde die uns hinterlassenen rechtsrelevanten Zeugnisse einiger besonders herausra­ gender Protostaaten benennen und untersuchen, inwieweit sich aus ihnen Hinweise auf eine Entwicklung von rechtlichen Strukturen und Inhalten er­ geben. Dabei kann ich zwar aufgrund der vielgestaltigen prästaatlichen Rechtsentwicklungen von keiner übereinstimmenden Basis für das proto­ staatliche Recht und seine Institutionen ausgehen. Doch bedeutet das nicht, dass dem Recht der antiken Protostaaten keinerlei zuvor entwickelte Ge­ meinsamkeiten zugrunde gelegen hätten, die sich unterschiedlich ausdiffe­ renzieren konnten und dies auch getan haben. (α) Städte als Keimzellen von Staaten. Vorausschicken muss ich einige kurze Bemerkungen über die Entstehung und Entwicklung von Staaten als den Urhebern von Rechtsordnungen. Was ein Staat ist bzw. welchen Begriff des Staates ich meiner Untersuchung zugrunde lege, habe ich an früherer 344  Zum Glauben an eine gerechte Welt vgl. M. J. Lerner (1980). Nach einer neu­ eren Untersuchung (M. Schmitt u. a., 1991) erwächst dieser Glaube nicht nur auf dem Bedürfnis nach ausgleichender Gerechtigkeit – dass gute Taten belohnt, böse bestraft werden – sondern auch auf dem Bedürfnis nach verteilender Gerechtigkeit, dass also ein Mangel an gleicher Güterverteilung letzthin einmal ausgeglichen und auch dem Pechvogel das Glück einmal hold sein wird. 345  Zum Ahnenkult, der hiermit meistens in Verbindung stand, vgl. oben Fn. 272.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Stelle (oben E 5) bereits dargelegt: Wesentliche Eigenschaft ist eine hierar­ chische Organisation, die sich von einem städtischen Zentrum aus mittels einer schriftkundigen Beamtenschaft entfaltete. Damit stellt sich jetzt freilich eine Frage, die bisher unbeantwortet geblieben ist: Was eigentlich ist eine Stadt? Genaue Auskunft, wann und wo erstmals eine Stadt entstanden ist und welche erstmals das Zentrum eines Staates gebildet hat, wissen wir nicht.346 Gemäß meiner Definition muss es eine Ansiedlung gewesen sein, worin die bürokratischen Institutionen zur Verwaltung einer größeren hierarchisch strukturierten Gesellschaft untergebracht waren. Als Hauptstadt eines Staates muss sie zusätzlich, wenn wir Gordon Childe folgen,347 sich über eine grö­ ßere Fläche erstreckt348 und Spezialisten für Religion, Wissenschaft und Handwerk sowie eine schriftkundige349 Beamtenschaft beherbergt haben, die alle vom Umland mit Nahrungsmitteln versorgt werden mussten. Die weitergehende Forderung von Childe, dass jede Stadt das Zentrum einer staat­ lichen Organisation gewesen sein muss, führt allerdings in einen definitorischen Zir­ kel hinein. Ich vermute, dass Childe sie aufgestellt hat, weil Archäologen lieber die Existenz eines Staates aus dem Vorhandensein einer Stadt folgerten als umgekehrt; denn der Nachweis einer städtischen Siedlung ist leichter zu führen als der eines 346  J.

Goody (1976), p. 19. Folgenden eingehend V. G. Childe (1950), p. 3 ff. u. ö. 348  Weder Çatal Höyük (ca. 7500 v. u. Z.) noch Jericho (ca. 6000 v. u. Z.) waren des­ halb aufgrund ihrer geringen Fläche (Çatal Höyük 13 ha, Jericho 3 ha) älteste Städte der Welt. Dieser Rang dürfte Uruk (4. Jt.) aufgrund seiner Fläche zufallen. Über Uruk heißt es im Gilgamesch-Epos (I 17–22): „Ein Sar die Stadt, ein Sar die Palmengärten, ein Sar die Flussniederung.“ Uruk umfasste also einen für die Bebauung, einen für die Landwirtschaft und einen für Obstgärten und als Weide für Tiere zur Verfügung stehen­ den Raum von 50 ha. Vgl. dazu aber auch A. Nunn (2012), S. 97, 99 f. Ganz neu ent­ deckt wurden im Norden des heutigen Jordaniens allerdings frühantike Ortschaften, deren Alter und Größe bisher noch nicht bemessen werden konnten und von denen wir derzeit lediglich aussagen können, dass sie befestigt waren, dass sie eine größere An­ zahl von Rundbauten mit künstlich bewässerten Gärten umfassten, und dass ein Stau­ damm – wahrscheinlich als ältester der Welt – sie mit Wasser versorgte. 349  Childes Forderung nach Schriftkundigkeit der Beamtenschaft scheint mir auf die vorderasiatischen Städte zugeschnitten und damit zu verengend zu sein, weil sie beispielsweise die altindischen Städte Harappa und Mohenjo-Daro trotz ihrer hohen Einwohnerzahl von etwa 40.000 und der hochwahrscheinlich dort vorhandenen Büro­ kratie mangels Schrift aus dem Kreis der Städte ausschließt. Aber auch abgesehen davon scheint es mir unangemessen, den Charakter von Ortschaften als ‚Städten‘ davon abhängig zu machen, ob sie einem Staat als Hauptstadt dienen (können). Aus­ reichen sollte m. E., dass Städte einen geschlossenen Siedlungskern von erheblicher Größe (mindestens 10 ha) haben, dass sie von einer relativ hohen Zahl von Menschen (mindestens tausend) bewohnt werden und dass ihre Einwohnerschaft eine soziale Differenzierung in Handwerker, Lohnarbeiter, Händler, Krieger usw. aufweist. Ledig­ lich für Hauptstädte von Staaten muss zusätzlich vorausgesetzt werden, dass sie eine schriftkundige Verwaltung beherbergen und Sitz einer Regierung sind, deren Chef wechseln kann, ohne dass der Staat jeweils neu gegründet werden muss. 347  Zum



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts235

Staates. Einen Hinweis, warum dies so ist, gibt die Unterscheidung von Stadtstaaten und Flächenstaaten: Ihr Unterschied liegt in der bürokratischen Durchdringung der Gesellschaft, die in den Stadtstaaten höher ist als in den Flächenstaaten.350 Daher kann offenbar nur von einer Stadt jene Befehlsstruktur ausgehen, die ein Gebiet zum Staate macht: die sich des Rechts bedient, um auch außerhalb Gehorsam zu finden.351 Aber nicht von jeder Stadt muss m. E. eine solche Befehlsstruktur ausgegangen sein; Staaten konnten vielmehr Städte von unterschiedlichlicher Größe beherbergen, von denen nur eine die Befehlszentrale für die Bürokratie, während andere z. B. religiöse oder wissenschaftliche Zentren waren.

Als Keimzellen von Staaten lag die Bedeutung der antiken Städte vor al­ lem darin, dass sie ihren Bürgern Mauern und Burgen sowie ein Heer zum Schutz vor Feinden boten. Als Geburtsstätten der Zivilisation (abgeleitet von cives bzw. civitas) lag gleichzeitig ihre kulturelle Bedeutung darin, dass (1) ihr Reichtum größer war als der ihres Umlands, denn in sie flossen von dort­ her die Steuern und Abgaben der Bauern, darüber hinaus aber auch die Tri­ butzahlungen der besiegten Feinde; dass (2) ihre Einwohner in der Regel gebildeter waren als die Bewohner des Umlands, denn in ihnen war die Ar­ beitsteilung zwischen theoretischer und praktischer, planender und ausfüh­ render Tätigkeit perfektionierter, insbesondere bestanden hier Tempel und Schulen, die Fachleute für bestimmte Gegenstände des Handwerks, der Kunst und der Wissenschaft ausbildeten; dass (3) hier eine Verwaltung residierte, die nicht nur den eigenen Bewohnern das Leben so angenehm wie möglich machte (oder zumindest machen sollte), sondern auch eine Infrastruktur auf­ baute, die sich bis weit hinaus ins Umland erstreckte und den wirtschaftli­ chen und kulturellen Austausch zwischen Stadt und Land förderte; dass (4) die hier erfundene Schrift es erlaubte, Regierung und Verwaltung auf archi­ vierte Daten zu stützen und sie so von der Gedächtnisleistung der leitenden Beamten unabhängig zu machen, ferner den über das Land verteilten unter­ geordneten Stellen exakte Anweisungen zu geben und deren Befolgung durch eine Berichtspflicht zu kontrollieren; und dass (5) die Datenverarbeitung hier so dicht organisiert war, dass man die Aktivitäten der big men im Umland überwachen und etwaige Umsturzpläne gegen die Staatsregierung bemerken und Vorbereitungen hierzu im Keim ersticken konnte. Hinzuzufügen ist noch, dass man in den Städten die für die staatliche Kontrolle der Wirtschaft standardisierten bzw. normierten Vorgaben von Maßen und Gewichten entwickelte. Dadurch erhielt u. a. der Warenhandel eine sichere Grundlage;352 denn feste Maße und Gewichte festigten gleichzeitig das allenthalben vorhandene Bedürf­ nis nach reziproker Gerechtigkeit im Vertrags- und Schadensersatzrecht. Nicht zuletzt aus diesem Grunde bestimmten viele staatliche Gesetze an prominenter Stelle, welche Mengen an Edelmetall (z. B. Silber in Mesopotamien und Griechenland, Bronze in 350  H. Wimmer

(2001), S. 114 f. m. Nachw. dazu auch oben F 2 d. 352  Siehe dazu etwa die Leges von Ešnunna. 351  Vgl.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

China) im Austausch für häufig gehandelte Waren und als Ausgleich für die Verlet­ zung von wichtigen Rechtsgütern zu leisten sind.

(β) Frühantike Protostaaten. Ausgewählt für die folgende Darstellung habe ich protostaatlich organisierte Völker, die uns schriftliche Zeugnisse einer Rechtskultur hinterlassen haben.353 Historiogenetisch ist das berechtigt, weil erst die Erfindung der Schrift354 die Möglichkeiten eröffnete, ein gelten­ des Recht auszudifferenzieren und es systematisch geordnet in Leges und Kodizes zusammenzufassen.355 Doch nicht nur das. Auch alle wichtigen po­ litischen Dekrete und administrativen Verfügungen konnte man erst von da an im Wortlaut festhalten und authentisch bekannt- und weitergeben, im Handelsverkehr alle wichtigen Geschäfte einschließlich der bei ihrem Ab­ schuss vereinbarten Klauseln auch ohne präsente Zeugen sicherstellen und im privaten Geschäftsbereich beispielsweise die Verfügungen über Grundstü­ cke und Erbschaften über den Tod hinaus nachweisbar machen. Soweit uns diese schriftlichen Zeugnisse erhalten geblieben sind, befinden wir uns also auf einigermaßen sicherem Boden. Eines allerdings verwundert: Obwohl die Erfindung der Schrift die Mög­ lichkeiten eröffnete, eine vollständige und in sich konsistente Normenord­ nung zu schaffen und aufzuzeichnen, kam es mit einer Ausnahme nicht dazu. Diese Ausnahme war China, wo die Legisten sich in der Schaffung von Normen gegenseitig überboten, aber nicht verhindern konnten, dass ihre Ge­ setze gerade wegen ihres Umfangs niemals ‚lebendiges Recht‘ wurden und dass ihre Aufzeichnungen deshalb bald verfielen.356 Soweit es in den anderen Staaten weniger umfassende Rechtsaufzeichnungen gab, ereilte sie dieses Schicksal freilich großenteils auch. Deshalb ist unser Wissen nicht nur um das antike chinesische, sondern um das Recht anderer Protostaaten löchrig geblieben; mancherorts nähert es sich sogar jener vollständigen Unkenntnis an, die wir vom antiken Recht der schriftlosen Völker haben. Sind insofern Kenntnislücken also unvermeidbar, sind sie in anderer Hin­ sicht lediglich unverantwortbar, weil Folgen unserer Blickverengung auf 353  Die Erzeugung von Schrift ist – nach der Erzeugung von Werkzeug, von Nah­ rung (Landwirtschaft) und von (hierarchischen) Institutionen – die vierte Stufe auf der Leiter, welche die Menschheit im Fortgang ihrer Anagenese erklommen hat. Nicht nur L. H. Morgan (1871) wählte sie aus für das Erreichen der höchsten Stufe seiner „ethnologischen Perioden“. Auch andere Autoren hielten sie für ein „brauchba­ res Kriterium“ für die Darstellung der kulturellen Evolution. Denn erst sie ist „ein geeigneter und leicht zu erkennender Index für eine völlig revolutionäre Veränderung im Größenverhältnis des Umfangs, der Wirtschaft und der sozialen Organisation eines Gemeinwesens“ (V. G. Childe, 1975, S. 35). 354  Erfunden wurde die Schrift am Ende des 4. Jt.s sowohl im Orient als auch in Ägypten und nochmals unabhängig davon in der Mitte des 2. Jt.s in China. 355  Zur Entstehung und Entwicklung der Schrift vgl. unten H 2 e. 356  Siehe dazu noch unten G 2 δ und ε.



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts237

Europa und die Anrainerstaaten des Mittelmeers. Bestens erforscht ist dank günstiger Quellenlage nämlich hauptsächlich das römische Recht, das wir (auch, aber nicht nur deshalb) als die Wiege der europäischen und der von Europa aus geprägten Rechtskultur betrachten. Seiner Blütezeit aber ging eine mehr als zweitausendjährige Entwicklung voraus, die auch außerhalb der Einflusssphäre Roms sich in Rechtsordnungen verdichtete, von denen manche durch das römische Recht nicht etwa verdrängt wurden, sondern bis in unsere Zeit hinein lebendig blieben – etwa die mosaische in Israel.357 In eine historische Untersuchung gehören diese Rechtsordnungen daher mit hi­ nein – beschränkt selbstverständlich auf die Belege, die wir von ihnen haben. Gut zu verantworten erscheint mir lediglich, dass man die Rechtsordnungen der traditionellen meso- und südamerikanischen Völker derzeit noch aus­ spart; denn zum einen haben sie sich erst ein Jahrtausend später entwickelt und zum anderen besitzen wir von ihnen zwar Belege, die aber bisher nur unvollständig ausgewertet werden konnten. Für uns Europäer erfordert die Erweiterung des Blickes auf das außereuropäische Recht des Altertums vor allem deshalb Überwindung, weil wir zur Weltgeschichte insgesamt ein imperiales Verhältnis haben. Für uns ging sie jahrhundertelang einzig von Europa aus oder war zumindest auf Europa konzentriert. Außereuropäische Kul­ turen galten teilweise als geschichtslos, weil sie keine schriftlichen Aufzeichnungen hinterlassen hatten358 oder weil ihre Entwicklung so langsam voranging, dass sie ei­ nem Stillstand gleichkam. Was die Rechtsgeschichte anbelangt, hat noch im Jahre 2000 Uwe Wesel seine „Geschichte des Rechts“ sich ausschließlich in Europa und im Orient abspielen lassen und damit u. a. Indien und China ihre Bedeutung sowohl für die Rechtstradition als auch für die Rechtszivilisation abgesprochen.359 Nichts ande­ res gilt für den 2003 von Ulrich Manthe herausgegebenen Sammelband „Die Rechts­ kulturen der Antike“, wo allerdings bereits der Untertitel eingesteht, dass er sich auf die Rechtsgeschichte „vom Alten Orient bis zum Römischen Reich“ beschränken 357  Das altjüdische Recht stellt eine Besonderheit dar, weil es zwar heilsgeschicht­ lich allein auf das Volk Israel zugeschnitten ist, aber kulturgeschichtlich enge Verbin­ dungen zur babylonischen (oder allgemein orientalischen) Rechtstradition aufweist. Als Beispiel sei § 53 der altbabylonischen Leges Ešnunna zitiert: „Wenn ein Rind ein anderes Rind stößt und dadurch tötet, teilen den Erlös des lebenden und das Fleisch des getöteten Rindes die Herren beider Rinder.“ Zum Vergleich 2. Mose 21 35: „Wenn jemandes Rind eines anderen Rind stößt, dass es stirbt, so sollen sie das le­ bendige Rind verkaufen und das Geld teilen und das tote Tier auch teilen.“ 358  Nach den meisten Definitionen beginnt sogar die ‚Geschichte‘ der Völker erst mit der Überlieferung schriftlicher Dokumente – weil sie erst dann wissenschaftlicher Erforschung offensteht und erst dann mehr als nur Vorgeschichte ist. 359  U. Wesel (2000), S. 71 ff. Im Hinblick auf Indien ist die fehlende Beachtung besonders schmerzlich, da offenbar viele der späteren griechischen Rechtseinrichtun­ gen als indoeuropäische Errungenschaften dort vergleichbar vorhanden waren (vgl. dazu B. W. Leist, 1884/1964). Die mittelalterliche Rechtsgeschichte wird bei Wesel auf Mitteleuropa (S. 261 ff.), die Rechtsgeschichte der Neuzeit sogar nur auf Deutsch­ land verengt (S. 349 ff.).

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

wird.360 Doch eine Geschichte der Rechtskulturen – welcher Zeit auch immer sie sich widmet – verlangt nach einem globalen Zugriff.361

Meine Untersuchung will für die bislang fehlende umfassende Geschichte der frühantiken Rechtskulturen kein Ersatz sein. Denn ihr geht es hauptsäch­ lich um die Genese von Rechtskultur. Die Darstellung rechtsgeschichtlicher Fakten ist ihr daher vor allem das Mittel, (a) um den Verlauf der Rechtsge­ nese an historischen Beispielen aufzuzeigen, (b) um die Frage nach den Ge­ setzmäßigkeiten, welche die genetischen Prozesse ausgelöst und vorangetrie­ ben haben, zu stellen und (c) um Ansätze zur Beantwortung dieser Frage zu finden. Das Mittel, dessen sie sich bedient, ist daher vor allem die Rechtsvergleichung. Denn sie will Fragen wie diese beantworten: (d) Inwieweit ist die antike Rechtsentwicklung gleichförmig verlaufen und (e) inwieweit hat sie dort, wo die ökologischen und ökonomischen Bedingungen gleichartig wa­ ren, zu konvergenten (d. h. gleichen oder zumindest ähnlichen) Ergebnissen geführt, die somit mutmaßlich in der allgemeinen menschlichen Natur ihre Grundlage hatten.362 (γ) Probleme der Rechtsvergleichung. Anlässlich von Kulturvergleichen neigte man früher dazu, alle Gemeinsamkeiten auf einen göttlichen Ursprung und alle Unterschiede auf menschliche Willkür zurückzuführen. Heute er­ scheint uns weder das eine noch das andere richtig. Heute führen wir sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede in den menschlichen Kultu­ ren auf die Notwendigkeit zurück, das menschliche Zusammenleben in eine vorgegebene Umwelt einzupassen und die Umwelt gleichzeitig so weit zu verändern, dass sie den menschlichen Bedürfnissen bestmöglich gerecht wird. Und wir begreifen das Recht als eines der Mittel, mit denen die Men­ schen dies geschafft haben: Sie haben einesteils die Gestalt des Rechts auf die vorgegebenen geologischen und klimatischen sowie anthropologischen und soziologischen Determinanten abgestimmt, und sie haben die Gestalt andernteils dem Willen und der Tatkraft einzelner Menschen und Völker zur Veränderung dieser Determinanten dienstbar gemacht. Deshalb können wir heute rückblickend erhoffen, dass wir zu gleichmäßigen Gesetzmäßigkeiten vorstoßen, denen die Menschen und Völker in gleichen natürlichen Umwel­ ten und unter gleichen sozialen und politischen Verhältnissen gefolgt sind, um gleiche oder zumindest ähnliche Probleme zu erkennen und zu lösen so­ wie die Lösungen in ihren Rechtsordnungen sichtbar zu machen. 360  U.

Manthe (Hg., 2003). hat, wenn ich recht sehe, bisher nur ein US-Amerikaner, nämlich W. Seagle (1941/1969), eine „Weltgeschichte des Rechts“ zu schreiben ge­ wagt. Ganz gelungen ist ihm das freilich auch nicht. 362  Allgemein zu konvergenten Entwicklungen in der Biosphäre vgl. E. Mayr (2005), S.  271 ff. 361  Bezeichnenderweise



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts239

Soweit jedenfalls die Hoffnung. Trotzdem müssen wir damit rechnen, dass wir allenthalben auch auf wissenschaftlich unerklärbare Unterschiede sto­ ßen, die wir dem weiten Begriff des Zufalls unterordnen müssen. Wir dürfen sie nicht außer Acht lassen, doch wir brauchen es auch nicht, weil das Mit­ einander von Notwendig- und Zufälligkeiten das Kennzeichen jeder Genese ist363 und sich gerade deshalb unser generalisierender („nomothetischer“) rechtsgenetischer Forschungsansatz mit dem individualisierenden („idiogra­ phischen“) der rechtshistorischen Forschung verbinden muss. Ohne Parallele ist allerdings, dass innerhalb der kulturellen Entwicklung noch ein dritter Faktor hinzukommt: die Diffusion364 kultureller Eigenschaften von einer Po­ pulation in andere Populationen. Sie lässt kaum eine kulturelle Entwicklung völlig unberührt und macht es nahezu unmöglich, eine eigenständige kultu­ relle Entwicklung von einer durch Diffusion beeinflussten zu unterscheiden. Doch selbst das ist kein Unglück, zumal auch für die biotische Evolution die zufälligen Genkombinationen wichtig und wertvoll waren. Deshalb kommt es innerhalb der Historiogenese der Menschheit nicht darauf an, welches Volk das Rad erfunden hat, sondern dass es vom Menschen erfunden wurde und dort, wo es seinen Dienst leisten konnte, seine Bedeutung bis heute bewahrt hat.365 Und es kommt, um zur Rechtsentwicklung zurückzukehren, nicht darauf an, welches Volk die Hypothek erfunden hat, sondern dass sie erfunden wurde und dass heute ein Immobilienrecht ohne Hypothekenrecht unvorstellbar ist. Im Folgenden werde ich dennoch vor allem die Entwicklung derjenigen protostaatlichen Rechtsordnungen miteinander vergleichen, die sich im We­ sentlichen unabhängig von Diffusionen entwickelt haben und wo die Rechts­ entwicklung daher vor allem von Ursachen bestimmt worden ist, für die die menschliche Natur und ihr Verhältnis zur natürlichen und sozialen Umwelt maßgeblich waren. Als solche Rechtsordnungen kommen diejenigen Meso­ potamiens und Ägyptens, Indiens und Chinas sowie Griechenlands und Roms in Betracht, weil wir von ihnen (vielleicht mit Ausnahme Indiens) genügend Zeugnisse besitzen. Rechtsordnungen, die von anderen Rechtsordnungen kraft Diffusion stark befruchtet worden sind wie etwa die jüdische366 seitens

363  Seine biotische Parallele ist die Neukombination von Erbanlagen infolge ge­ schlechtlicher Paarung. Vgl. dazu oben A 3, ferner B. Rensch (1991), S. 143. 364  Vgl. dazu oben B 1 a und C 2 c. 365  Vgl. dazu und zum Verhältnis zwischen Diffusion und Radiation noch unten J 5 c γ. 366  5. Mose 5 12–26. Die Entstehungszeit dieses größten zusammenhängenden juristischen Materials der Juden fällt in die Regierungszeit von König Josia (639–609) und steht somit der Entstehungszeit sowohl der Gesetzessammlung von Gortyn als auch dem XII-Tafelgesetz von Rom nahe.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

der Babylonier (Kodex des Hammurapi) und der Ägypter367 werde ich zu­ nächst ausscheiden, ihre Ergebnisse aber wegen deren hoher Bedeutung für die Rechtsentwicklung in abschließende Zusammenfassungen partiell einbe­ ziehen. Nicht zielführend erscheinen mir derzeit größer angelegte Versuche, anhand der Wanderungsbewegungen von Volksstämmen das Mitwandern von rechtlichen oder rechtsähnlichen Institutionen zu rekonstruieren. Auch einer Auflistung von später zu rechtlicher Bedeutung gelangten Begriffen aus einer indoarischen Ursprache ist zwar der Erkenntniswert nicht abzusprechen, weil sie für ein hohes Alter entsprechender Institutionen bürgt; sie garantiert aber keineswegs, dass die Institutionen spezifisch indoarisch sind, solange die nichtarischen Völker nicht in die Untersuchung einbezo­ gen werden und deshalb der Nachweis fehlt, dass diese Institutionen ausschließlicher Kulturbesitz indoarischer Stämme sind.

Der Aufbau der folgenden Untersuchung ist gleichförmig: Auf einen kur­ zen Abriss der politischen Geschichte eines Staates folgt eine knappe Dar­ stellung seiner wirtschaftlichen Situation, weil zwischen Wirtschaft und Recht überall ein enger Zusammenhang, wenngleich nirgends ein spiegel­ bildliches Verhältnis,368 bestanden hat. Als Nächstes folgen Ausführungen zur Bedeutung des Rechts innerhalb der sozialen Ordnung sowie zum Stand der Gesetzestechnik. Damit wird der Blick frei auf die Entwicklung eines individuellen protostaatlichen Rechts, die später durch eine vergleichende Betrachtung ergänzt wird. 1. Die Rechtsentwicklung in Ägypten und Mesopotamien (α) Politische Geschichte. Mesopotamien und Ägypten waren Protostaa­ ten, die sich zwischen 3500 und 3000 v. u. Z. um große Ströme herum gebil­ det hatten: Ägypten um den Nil, Mesopotamien um Euphrat und Tigris. Mehrere Volksstämme trafen an diesen Strömen aufeinander: in Ägypten Stämme, die von der Niederschlagsarmut aus der Sahara-Wüste vertrieben wurden, auf Stämme der Nubier, die am südlichen Nil siedelnden; in Meso­ potamien Stämme der Sumerer aus dem Südosten auf semitische Stämme aus dem Norden. In beiden Fällen fanden die Völker an den Flüssen Bedingun­ gen vor, die sowohl den Getreideanbau als auch die Viehzucht gestatteten. 367  Zum Einfluss der altorientalischen Rechte und des altägyptischen Rechts auch auf das griechisch-römische Recht vgl. R. Haase (1965), S. 116. 368  Dies hat besonders M. Weber (1922/2005, S. 233, 252) betont: „Ökonomische Situationen gebären neue Rechtsformen nicht einfach automatisch aus sich, sondern erhalten nur eine Chance dafür, dass die rechtstechnische Erfindung, wenn sie ge­ macht wird, auch Verbreitung findet.“ Deshalb kann „eine ‚Rechtsordnung‘ unter Umständen unverändert bleiben, obwohl die Wirtschaftsbeziehungen sich radikal än­ dern“, oder sie kann sich verändern, „ohne dass Wirtschaftsbeziehungen dadurch in irgend erheblichem Maß berührt werden“.



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts241

Die Trockenheit des Bodens mussten sie allerdings durch künstliche Kanäle ausgleichen, deren Bau nicht nur viel Arbeit kostete, sondern auch eine vo­ rausschauende Organisation erforderte. Deshalb scharten sich die Stämme jeweils um Führerpersönlichkeiten: in Ägypten um einen König als mensch­ lichen Gott, der kraft seiner von göttlichen Vorfahren ererbten Machtvoll­ kommenheit regierte; in Mesopotamien um mehrere Priesterfürsten, die die Herrschaft über das Land unter sich aufteilten. Zahl und Dignität der Herr­ scher waren somit unterschiedlich. Dennoch waren sowohl Ägypten als auch Mesopotamien Protostaaten im oben definierten Sinne: hierarchisch aufge­ baute politische Einheiten, regiert von religiös legitimierten Herrschern und zentral verwaltet mithilfe einer Bürokratie, die sich auf ein ausgebildetes Schriftsystem stützen konnte. Ägypten war aufgrund seiner Lage an sich Europa zugewandt: Während es im Westen und im Osten teils an Wüsten, teils an das Rote Meer grenzte, erstreckte es sich von Süd nach Nord längs dem Nil wie „eine grüne Schnitt­ wunde strotzenden Lebens“369 bis ans Mittelmeer. Doch erst in relativ später Zeit gingen von ihm über das Mittelmeer hinweg fruchtbare Anregungen an die europäische Kultur aus. In der Zeit, über die hier zu berichten ist, bestand dagegen fast kein Kontakt. Seine Bewohner begaben sich niemals aufs Meer, bauten keine Flotte, um Handel mit Europa zu treiben oder gar durch Siege über europäische Flotten die Meereshoheit zu erfechten. Der frühe ägypti­ sche Staat blieb nach innen gekehrt, versunken ins Bewusstsein seiner eige­ nen Machtfülle, deren Symbole seine Könige (Pharaonen) waren. Im ‚Alten Reich‘ (AR), genauer seit der IV. Dynastie (ab ca. 2613), erbten sie ihr Amt als Söhne des Sonnengottes Re und somit als mit dem Königsamt beliehene Götter.370 Überlebensgroße Statuen versinnbildlichten diese ihre göttliche Abstammung. Seit der V. Dynastie (ab ca. 2494) trat jedoch hervor, dass sie auch Menschen waren und somit eine Zwischenstellung zwischen Göttern und Menschen einnahmen. Man errichtete nunmehr einerseits Sonnenheilig­ tümer für den Sonnengott Re, für sie andererseits gewaltige Obelisken, auf denen man ihre militärischen Taten verherrlichte. Nochmals veränderte sich ihre Stellung seit der VI. Dynastie, während der mehr als neunzigjährigen Regierungszeit von Phiops II. (ca. 2254–2160). Nunmehr gewannen Orts­ kulte an Bedeutung und Gaufürsten an Macht, was beides sich auch in der Bautätigkeit ausdrückte. Kleine Fürstentümer lösten sich schließlich aus der Umklammerung der Zentralregierung. Der König wurde zu einem rein menschlichen Machthaber, und am Ende brach seine Macht plötzlich in sich 369  J. A.

Wilson (1946), p. 31. kam in ihrem Titel ‚Horus‘ zum Ausdruck: Sie waren die irdischen Ver­ körperungen des Himmels- und Sonnengottes Horus (in der symbolischen Gestalt eines Falken). 370  Dies

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

zusammen, ohne dass es der Einwirkung von außen bedurft hätte. Beduinen drangen in das Nildelta ein. Es begann eine fast zweihundert Jahre währende ‚Erste Zwischenzeit‘. Danach erstarkte die Macht der Könige allerdings wieder. Die Fürstentü­ mer wurden in den Gesamtstaat wieder stärker eingebunden, und um ca. 2025 entstand das ‚Mittlere Reich‘ (MR) als neue Ordnung. Das Land nahm wirtschaftlichen Aufschwung, die Bildung weitete sich aus. Im Süden wurde das Goldland Nubien kolonisiert und durch Festungen gesichert, im Nordos­ ten wurde Palästina erobert, im Westen hatten Feldzüge gegen Libyen Er­ folge. Grabinschriften deuten sogar auf eine ‚Demokratisierung‘ des öffent­ lichen Lebens hin. Doch am Ende stand wiederum der politische und kultu­ relle Verfall. Kleinkönige etablierten sich abermals. Im östlichen Nildelta siedelnde semitisch-kanaanäische Bevölkerungsteile gewannen an ­Gewicht und rissen um 1650 als ‚Hyksos‘ (Fremdherrscher) die politische Macht an sich. Es begann eine ‚Zweite Zwischenzeit‘. Sie endete erst, als plötzlich ein innerer Einheits- und Freiheitsdrang die Ägypter erfasste und zu den Waffen greifen ließ. Sie vertrieben die Fremden und zogen selber erobernd über die Grenzen: nach Süden bis an den dritten Nilkatarakt und nach Osten bis in die Ebene des Euphrat, also bis an die Grenze zu Mesopotamien. Mesopotamien, das Land zwischen Euphrat und Tigris im Nordosten des heutigen Irak, war weder so insulär abgeschlossen noch so religiös geprägt wie Ägypten. Das gab seiner Entwicklung eine gänzlich andere Richtung. Wirtschaft und Handel bestimmten den Alltag der dort wohnenden Sumerer – nicht nur im Binnenraum der beiden großen Ströme, sondern darüber hinaus im ständigen Austausch mit den angrenzenden Stämmen in der arabi­ schen Wüste, auf der Hochebene Armeniens und am Rande des Zagrosgebir­ ges. Überall, wo der Handel florierte, entstanden Ortschaften. Die größeren von ihnen hatten zwischen 5.000 und 8.000 Einwohner, Uruk, die Haupt­ stadt, sogar über 10.000. Obwohl die meisten Menschen sich von der Land­ wirtschaft ernährten, gab es doch auch spezialisierte Handwerker: Bäcker, Brauer, Töpfer, Steinmetze und Bildhauer. Vor allem gab es aber jede Menge Händler, die einesteils den Austausch handwerklicher Produkte gegen Über­ schüsse von Lebensmitteln aus den umliegenden Dörfern, andernteils den Austausch landwirtschaftlicher und handwerklicher Produkte gegen Bauholz und seltene Mineralien aus entfernter liegenden Gegenden vermittelten. Ebenfalls vom Handel inspiriert war die Erfindung einer Keilschrift (um 3400), die zur Aufzeichnung vor allem von wirtschaftlichen Fakten, Ansprü­ chen und Verpflichtungen benutzt wurde. Sie entwickelte sich von einer Bildzeichen- zu einer Silbenschrift und schließlich zur Buchstabenschrift. Der Unterschied zu Ägypten trat deutlich hervor: Auch die Ägypter besaßen eine Schrift, aber sie benutzten sie fast ausschließlich zur Verherrlichung ihrer Könige. Den Sumerern diente die Schrift dagegen für so alltägliche



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts243

Dinge wie etwa den Verkauf eines Sacks Mehl an einen ausländischen Händler. Allerdings benutzten die Sumerer die Schrift auch zur Aufzeich­ nung von Hymnen, Beschwörungen und Mythen (um 2600). Und dass sie diese Aufzeichnungen höher als ihre Handelsverträge schätzten, bewiesen sie, indem sie Bibliotheken anlegten und Archive errichteten, um sie für die Nachwelt zu sammeln (um 2400). Das sumerische Reich bestand aus relativ kleinen Segmenten; auch Stadt­ staaten waren darunter gleich den viel späteren griechischen. Einen einheitli­ chen Staat, der gleich dem ägyptischen bis zum Mittelmeer reichte, schufen sie nicht. Das taten erst die Akkader: ein semitisches Volk, das durch Zuwan­ derung allmählich das Übergewicht über die Sumerer erlangt hatte. Und ob­ wohl die sumerische Kultur erst unter ihrem König Sargon (etwa 2414–2358) voll erblühte, war Akkad, das Sargon unweit des heutigen Bagdad als Haupt­ stadt erbaute, allein ihr Werk. Sprache und Schrift der Sumerer dagegen wurden weiterhin in Kult und Liturgie verwendet. Und als das akkadische Reich um 2200 unter dem Ansturm der Gutäer ebenfalls zerfiel, erlebte die sumerische Kultur unter Urnamma (2123–2105; Reg. 2112–2095) sogar noch­ mals eine Blüte (Ur III). Danach freilich gewann einseitig die Politik die Oberhand. Urnammas Sohn Šulgi (Reg. 2094–2047) schuf eine einheitliche Verwaltungsstruktur mit Provinzen, die jeweils von einem stadtartigen Zent­ rum aus von einem Stadtfürsten (ensi) und einem Militärbefehlshaber (šagin) regiert wurden. Und wie in Ägypten sorgte von jetzt an ein zentral gesteuertes, effizientes Beamtentum für die Erhebung von Steuern und für die Leistung von Diensten an den Staat. Doch ebenso wie in Ägypten erstickte die Büro­ kratie allmählich auch die Leistungsfähigkeit des Staates. Umgebende Stämme nutzten seine Schwäche und brachen ins Land ein. Ur wurde 2004 vom Osten aus durch die Elamiten erstürmt, ihre Bewohner verließen die Stadt, sodass sie verfiel. Es begann eine lange Periode des kulturellen Niedergangs. Danach stiegen zunächst Isin (u. a. Lipit-Ištar), Larsa, Mari und Ešnunna zu führenden Stadtstaaten auf. Sie wurden jedoch alle von Hammurapi371 (Reg. 1793–1750) erobert, der an ihre Stelle ein einheitliches Königreich Babylon setzte und dieses so weit festigte, dass es Anspruch auf politische Größe erheben konnte. Dieser Anspruch blieb auch nach Hammurapis Tod noch eine Zeitlang erhalten. Ebenfalls eilte die babylonische Kultur einem Höhepunkt entgegen. Ja, sie war selbst dann noch dominant, als nach hun­ dertfünfzig Jahren des politischen Niedergangs die Hethiter 1595 Babylon eroberten und später die Assyrer in ganz Mesopotamien die Vormacht erlang­ ten. Babylon war und blieb geistige Metropole: Es gebar eine große, eigen­ 371  Die früher übliche Schreibung des Namens ist inzwischen aufgegeben worden: Der zweite Bestandteil des Namens ist nicht als -rabi, sondern -rapi zu interpretieren und bedeutet „ist Heiler“.

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ständige Literatur und eine Wissenschaft, die neben Mythologie und Wahr­ sagekunst auch Jurisprudenz, Mathematik, Grammatik und Medizin umfasste. Seine politische Bedeutung freilich verlor es ein- für allemal. (β) Wirtschaftliche Grundlagen. Während die Bedeutung der Religionen in Ägypten und in Mesopotamien kaum unterschiedlicher hätte sein können, bildete einheitlich hier wie dort die Wirtschaft die Grundlage des Staates.372 Ihre Kraft schöpfte sie aus dem Wasser der Flüsse, und man trachtete danach, seine fruchtbare Wirkung noch durch Trockenlegung einerseits, durch Kana­ lisation andererseits flächendeckend zu erweitern, um so dem ständigen Be­ völkerungswachstum Rechnung zu tragen. Dass Ägypten im Gegensatz zu Mesopotamien politisch ein Einheitsstaat mit zentralisierter Wirtschaft war und blieb, hängt mit dem fast völligen Fehlen größerer Ortschaften zusam­ men: Diese entstanden nur, wo Waren vom See- auf den Landtransport um­ geschlagen werden mussten, nämlich im Bereich des Nildeltas und an den alten Wanderstraßen zu den Westoasen und zum Roten Meer.373 In Meso­ potamien dagegen hatten sich stadtähnliche Zentren bereits im 4. Jt. etabliert, und diese Siedlungskultur hielt nicht nur während der sogen. Uruk-Periode (bis ca. 3100), sondern auch danach noch an, weil sie zwar die Rivalität zwischen den Zentren verschärfte, aber keine die Oberherrschaft über die anderen gewinnen ließ. Organisatorische Zentren der Wirtschaft waren in Mesopotamien die Tem­ pel, deren es so viele wie Götter gab. Götter aber gab es in Menge, nämlich insgesamt 3600 (60 x 60), weil jede Siedlung ihren eigenen Gott hatte. In die Tempel mussten die Bauern einen staatlich vorgeschriebenen374 Teil ihrer Ernte (hauptsächlich Hartgetreide) abliefern. In den größeren Siedlungen wurden darüber hinaus dort die Produktionsüberschüsse gesammelt und Vor­ ratslager für Notzeiten angelegt. An einer Handelsstraße gelegene Tempel enthielten gleichzeitig Stapellager für den Tauschhandel mit dem Ausland. Über den mesopotamischen Tauschhandel mit dem Ausland wissen wir, dass er frühzeitig zwischen Indien und dem Fernen Osten und Europa vermittelte375 und dass er die Urbanisierung außer in Mesopotamien auch im Industal stimulierte. Die Waren wurden per Schiff oder mit Karawanen sowohl ins Land als auch außer Landes ge­ dazu W. Helck (1975), S. 18 ff., 116 ff.; M. Gutgesell (1989). Verteidigung gegen Feinde waren die Stadtgründungen, anders als die ent­ sprechenden mesopotamischen, nicht erforderlich. Vgl. E. R. Service (1977), S. 285. 374  Die kleinen Stadtstaaten zogen eine jährliche Quote aus der landwirtschaft­ lichen und bergbaulichen Erzeugung ein, schrieben überdies den Umfang des Handels vor und brachten durch weitere Abgaben und Dienstleistungen große Teile des Volks­ einkommens an sich. 375  Es gab sowohl eine Landroute, die über Elam, den südlichen Teil des Iran und Beludschistan zum Industal führte, als auch eine Seeroute durch den Golf von Persien nach Indien. Weitere Routen führten nach Syrien und in den Kaukasus. 372  Vgl. 373  Zur



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bracht. Nach dem Niedergang Sumers erlangte Babylon den Rang als wichtigster Umschlagplatz. Einflussreiche Handelsherren bildeten dort mit ihren Familien regel­ rechte Dynastien. Und da ihnen vor allem Rechtssicherheit unverzichtbar erschien und der Staat dafür zu sorgen hatte, erlangte das Recht gerade in Babylon eine große Bedeutung – eine viel größere als in Ägypten.

In Ägypten waren die Ernten, die die Familien einfuhren, weniger reichlich als in Mesopotamien. Das lag nicht an der geringeren Fruchtbarkeit des Bo­ dens, vielmehr war das Land beiderseits des Nils enger als im Zweistromtal und darum dichter besiedelt, der Boden in kleine Parzellen katastermäßig je nach Qualität aufgeteilt. Auch am Handel gab es in Ägypten wenig zu ver­ dienen: Er beschränkte sich im AR fast ausschließlich auf den Binnenmarkt und nahm selbst insoweit keinen nennenswerten Umfang an; denn die Fami­ lien stellten die für die Feldbestellung benötigten Geräte meistens selbst her und verbrauchten die Ernten meist auch selber. Für einen Außenhandel war die isolierte Lage Ägyptens ebenfalls abträglich; allein nach Unterägypten sickerten gelegentlich ausländische Waren: meist Luxusgüter, die sich die breite Masse aber nicht leisten konnte. Dieser Zustand änderte sich erst nach der Ersten Zwischenzeit, als es den Pharaonen gelang, die Verwaltung des Reiches in Memphis zu zentralisieren. Von hier aus erließ der Pharao alljährlich eine Verordnung, worin er für jedes katastermäßig erfasste Stück Land die Anpflanzung von Getreide und ande­ ren Gewächsen sowie die Menge der an die staatlichen Speicher abzuliefern­ den Ernteanteile festlegte. Darüber hinaus gründete er Dependancen und er­ setzte diese später durch königliche Landdomänen, die zusätzliche Anbauflä­ chen längs dem Nil teils durch Trockenlegung von Sümpfen, teils durch Bewässerung trockenen Bodens gewannen und so u. a. die Versorgung der mit dem Pyramidenbau beschäftigten Zwangsarbeiter sicherstellen konnten. Schließlich gelang es dem Staat sogar, generell an die Stelle der Dorfwirt­ schaft eine Staatsdomänenwirtschaft treten zu lassen, die auch noch die ört­ liche Bürokratie mit dem Lebensnotwendigen versorgte: Die Beamten erhiel­ ten Dörfer oder Güter als Einnahmequelle zugewiesen oder wurden in beste­ hende Güter als Verwalter eingesetzt. Und als man sah, dass sie die Zentrale in der gewünschten Weise entlasteten, erlaubte man ihnen sogar eigene „Gründungen“ (grg.t) und damit eine Art privates, vererbliches Eigentum neben dem staatlich kontrollierten Grundbesitz. Allerdings war das des Gu­ ten wohl doch zu viel; denn von jetzt an schlugen die Staatsbeamten in der Provinz Wurzeln, häuften Macht und Reichtum und traten aus der Befehlsge­ walt des Staates allmählich heraus.

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(γ) Rechtsbegriff 376 und rechtliche Ordnung. Begriffe für ‚Recht‘, ‚Gesetz‘ oder ‚Norm‘ gab es weder in Mesopotamien noch in Ägypten. Was man in Mesopotamien an den Königen rühmte, waren die ‚Geradheit‘ (mīšarum) und ‚Beständigkeit‘ (kīnātum) ihres Wirkens, wenn sie maßgebliche Urteile ge­ fällt oder gar Gesetze erlassen hatten.377 Maßstab für die Geradheit war me: eine mit der Weltschöpfung zusammenhängende unpersönliche Kraft zur Ordnung der Natur. Selbst die Götter waren ihr untertan;378 wichen sie von ihr ab, indem sie sich beispielsweise als lokale Gottheiten nicht auf ihren Herrschaftsbereich beschränkten, dann wurden sie schuldig.379 Für die Men­ schen bedeutete me die ihnen von den Göttern geschenkte ‚gute Sitte‘. In ihr war die allgemeine Rechtsüberzeugung nicht nur verankert, sondern auch grundsätzlich jedem Menschen offenbart; alle Rechtssatzungen hatten einzig den Zweck, sie noch einmal zu verdeutlichen.380 In Ägypten war der entspre­ chende Zentralbegriff ma`at (mӡct)381, worin Wahrheit, Gerechtigkeit, Recht, Ordnung, Weisheit, Echtheit und Aufrichtigkeit eingeschlossen waren. Ob­ wohl wir deshalb weder für Mesopotamien noch für Ägypten von einer staatlichen Rechtsordnung außerhalb der allgemeinen Sittenordnung sprechen dürfen, beide Staaten also keine ‚Rechtsstaaten‘ in unserem Sinne waren, fielen Teile der geltenden Normen doch eindeutig unter unseren Begriff des Rechts, weil die Staatsmacht ihre Geltung garantierte und gegen Übeltäter notfalls erzwang. 376  Die Rechte aller altorientalischen Staaten fasst man gewöhnlich unter dem Be­ griff ‚Keilschriftrechte‘ zusammen, ohne dadurch mehr als die äußerliche Gemein­ samkeit der sie verkörpernden Schrift zu bezeichnen. In Altägypten benutzte man zunächst Hieroglyphen, sodann eine ‚hieratische‘ (= von Priesterhand herrührende) Schrift, die später (seit ca. 650 v. u. Z.) durch die ‚demotische‘ (= volkstümliche) Schrift ersetzt wurde. Der Ursprung beider Schriftarten war der Versuch, die Gegen­ stände der Sprache, nicht ihre Begriffe, zum Ausdruck zu bringen. Siehe dazu noch unten H 2 e aa. 377  Dazu J. Krecher (1980), S. 346 ff. 378  W. von Soden (1961), S. 561: „Sowohl auf die Menschen als auch auf die Göt­ ter wirkte es sich in Gestalt des auf Tafeln geschriebenen nam aus, für das wir nur die sehr unzureichende Übersetzung ‚Schicksal‘ haben.“ 379  Sie konnten also sogar auch gegenüber den Menschen schuldig werden, wenn sie ihnen mehr Leid widerfahren ließen, als sie verdienten (J. B. Pritchard, 1969, p. 596 ff.). Ein Priester des eroberten Lagaš erhob daher seine Klage wegen Mordes, Plünderung und Brandstiftung nicht etwa gegenüber dem Eroberer, sondern gegen­ über der Göttin Nidaba, die dies geschehen ließ (vgl. W. von Soden, 1961, S. 546 f.). 380  Hammurapi verstand deshalb seinen Kodex als Belehrung für den Recht­ suchenden: „Ein unterdrückter Bürger, der eine Rechtssache hat, möge vor meine Sta­ tue, die des ‚Königs der Gerechtigkeit‘, hintreten, meine beschriftete Stele sich vorle­ sen lassen und meine hochschätzbaren Worte anhören; meine Stele soll ihm seine Rechtssache aufhellen, sodass er seinen Rechtsspruch ersieht …“ (Epilog ­XLVII a. E.). 381  W. Helck (1980), S.  303 ff., 304.



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Zwar nicht für ‚Recht‘ im Allgemeinen, doch für den ‚Rechtsspruch‘ im Besonderen standen in Mesopotamien (sumerische bzw. akkadische) Fachter­ mini zur Verfügung (di, dīnum).382 Auch gab es eine große Anzahl von Be­ griffen, von denen anzunehmen ist, dass sie neben ihrer Bedeutung im Alltag eine juristische Bedeutung besaßen: etwa für Eheschließung, Ehescheidung, Kauf, Tausch, Darlehen, Bürgschaft und Pfand. Erhalten sind ferner Ge­ richtsurkunden (seit Ur III), die knappe Angaben u. a. über Richter, streitende Parteien, geltend gemachte Ansprüche, Zeugen für Tatsachen und Begrün­ dungen für richterliche Entscheidungen enthalten.383 Man kann deshalb da­ von ausgehen, dass bereits in frühester Zeit gerichtliche Entscheidungen aufgrund förmlicher Verfahren und allgemein anerkannter Normen der ‚Rechtschaffenheit‘ (akk. kittum = das Feststehende, Beständige)384 gefällt wurden. Dass die ‚Normen der Rechtschaffenheit‘ indes nicht die einzige Rechtsquelle waren, geht aus dem Vorhandensein von Leges (ebenfalls seit Ur III)385 hervor, die auf Stelen aufgezeichnet und in Tempeln ausgestellt waren und über die Zeiten hinweg erhalten geblieben sind. Wegen der Schrift­unkundigkeit des größten Teils der Bevölkerung lag darin zwar keine förmliche Publikation, wohl aber eine Festlegung ihres Inhalts: Niemand durfte künftig hiervon abweichen. Die meisten Zeugnisse aus dem mesopotamischen Rechtsleben sind allerdings Privatverträge, die von rechtskundigen ‚Schreibern‘ auf Tontafeln ausgefertigt wur­ den. Sie handeln meistens von kommerziellen Vorgängen, etwa von Verkäufen von 382  Die Termini wurden allerdings auch außerhalb des rechtlichen Bereichs ver­ wendet, z. B. bei der Entscheidung eines militärischen ‚Streits‘. 383  Sie beziehen sich hauptsächlich auf Vorgänge innerhalb der städtischen Mittelund Oberschicht; die in den ländlichen Gebieten geltenden Regeln lassen sich aus ihnen nicht erschließen. 384  Das Wort kittum wurde sowohl im juristischen als auch im nicht-juristischen Zusammenhang verwendet. In der Sphäre des religiösen Denkens beispielsweise be­ nannte es die Gesamtheit kosmischer, unwandelbarer Wahrheiten. Der König solle kittum durchsetzen, hieß es beim offiziellen Akt seiner Thronbesteigung und in regel­ mäßigen Abständen während seiner Regierungszeit. Die Durchsetzung selbst wurde als mīšarum (s. o.) bezeichnet. 385  Bisher sind sechs solcher ‚Leges‘/‚Kodizes‘ bekannt geworden: das Gesetz des Urnamma aus Sumer (= LU) im 21. Jh., das Gesetz des Bilalama von Ešnunna (= LE) aus Babylonien im 20. Jh., das Gesetz des Lipit-Ištar von Isin (= LL) aus Babylonien um die Mitte des 19. Jh., der Kodex des Hammurapi (= CH) aus Babylonien um 1700, ein Hethitisches Gesetzbuch aus Kleinasien um die Mitte des 16. Jh., ein Assyrisches Gesetzbuch aus Assyrien im 14. bis 12. Jh. Von diesen ist nur das Gesetz des Hammurapi ein Kodex in dem Sinne, dass die darin enthaltene Zusammenfassung von Rechtssätzen die ordnende Hand des Kodifi­ kators erkennen lässt. Die übrigen Gesetze dagegen sind lediglich ‚Rechtsbücher‘, d. h. Sammlungen von Rechtssätzen (wahrscheinlich Gerichtsentscheidungen) ohne eine durchgehend systematische Ordnung.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Ländereien, Häusern oder Sklaven, von der Ablieferung von Waren an einen Tempel, von der Ausgabe von Lebensmittelrationen an öffentlich angestellte Arbeiter u. a. m. Daneben wurden aber auch rein persönliche Vorgänge dokumentiert, etwa eine Hei­ rat.

Während in Mesopotamien das Bild der Wirtschaft auch das Bild des Rechts prägte, brachte das Recht Ägyptens den stark moralischen Charakter des Staates zum Ausdruck. Die ma`at hielt Ägypten in Atem: Sie wirkte so­ wohl in der göttlichen Gerechtigkeit des Totengerichts als auch in der menschlichen Gerechtigkeit des Miteinander-Umgehens und im Einklang zwischen der Menschen- und der Götterwelt. Sie stiftete eine soziale Ord­ nung, worin Macht zwar vorhanden und nötig war, das Recht aber den Ton angab.386 Und weil in der Welt sich alles bewegt, geschah das gemäß der ma`at und bedurfte nach ägyptischer Anschauung eines aktiven Wirkens in deren Sinn: „Tu ma`at, solange du auf Erden bist: Beruhige den Weinenden, unterdrücke keine Witwe, verdränge niemand vom Besitz seines Vaters und schädige nicht die Beam­ ten in ihrem Amt. Hüte dich vor ungerechter Bestrafung. Töte nicht, denn das ist für dich nicht nützlich.“387

Herr über die ma`at war der göttliche Pharao; sein Wille war Ausdruck der Macht, sein Wort Ausspruch des Rechts. Während der IV. Dynastie wurde er zum Sohn des Sonnengottes Re und damit Herrscher über die ma`at mit der Einschränkung, dass sein Mund den Willen des Sonnengottes lediglich kund­ tat. Seine Aussprüche – seit dem MR als ‚Gesetze‘ (hpw)388 bezeichnet – verdeutlichten die Ordnung, die die ma`at stiftet; denn diese war, wie die Lehre des Ptahhotep kündet, „beständig an der Spitze“389 – als das (gleicher­ maßen politische wie religiöse) Prinzip, von dem auch das ‚Recht‘ ausging und seinen Inhalt erhielt. In Erscheinung trat das ‚Recht‘ hauptsächlich in den Titularien, die im Wege königlicher Dekrete verliehen wurden. Sie bestimmten den gesell­ schaftlichen Rang einer Person – wobei der Nepotismus reiche Blüten trieb – und knüpften Berechtigungen daran: Am höchsten stand die königliche Titu­ 386  Bezeichnend dafür ist der Mythos vom Kampf zwischen den Brüdern Horus und Seth, worin Seth, der Gott der Gier und der Gewalt, dem schwachen Horuskna­ ben unterliegt, der das Recht auf seiner Seite hat. 387  Lehre [die König Achthoes gemacht hat] für seinen Sohn Merikaré (9./10. Dy­ nastie, 22. Jh. v. u. Z.). Dazu W. Helck (1977). 388  Dazu W. Helck (1980), S. 309: „Das Wort stammt wahrscheinlich von einem Verb, das ‚befreien‘ bedeutet; dies zeigt an, dass die entscheidenden Befehle des Kö­ nigs (wd nswt) die Befreiungsdekrete gewesen sind, die wir besonders aus dem AR kennen: Tempel und Kapellen, aber auch private Totenstiftungen werden von den Verwaltungsanordnungen ausgenommen.“ 389  Z. Žába (1956), 84 ff.



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts249

latur, gefolgt von der der Prinzen, der Wesire,390 der Richter usf., wobei die Rangfolge insbesondere der niederen Ränge im Lauf der Zeit wechselte (im MR gab es über 1.600 Titel)391. Was sonst noch wichtig war, bedurfte im Allgemeinen keiner rechtlichen Regelung; es unterstand entweder herkömm­ lichem Brauchtum oder den Normen der Sitte, genauer: den Normen jener uralten Sippen- und Stammesverbände, welche die Gründung des Staates überdauert hatten und von denen der Staat den moralischen Aspekt der ma`at übernommen hatte. Erst später wuchs der ma`at durch Reflexion auf den göttlichen Kosmos zusätzlich der religiöse Aspekt zu. Sie ‚galt‘ von da an im Staat als sittliche und religiöse Verpflichtung und konnte auch dort, wo das Recht das soziale Leben nicht in die Zange nahm, jederzeit vom Staat durch­ gesetzt werden. In der Lehre des Ptahhotep heißt es allerdings auch, dass man die Verletzer von „Normen“ (hp)392 bestrafen solle. Doch welche Normen sind gemeint? Es gab höchstwahrscheinlich weder in früher noch in späterer Zeit ein Strafgesetzbuch oder überhaupt allgemeine vom Königswillen unabhängige Gesetze.393 Es gab zwar einen sog. Kodex Hermopolis,394 der aber dem Richter lediglich die Kenntnis des Gewohn­ heitsrechts vermittelte und zur exemplarischen Entscheidung von Fällen diente.395 Daneben gab es Königsbefehle, Weisungen der Gaufürsten und eine ständige Recht­ sprechung der Gerichte, später auch örtliche Notariate, die sich mit der Rechtspre­ chung der heimischen Priestergelehrten abstimmten. Gesetze aber gab es nur in Ge­ stalt von Sondergesetzen, namentlich für Tempelgründungen. Und da diese zusätzlich mit Strafsanktionen bewehrt waren, können wir folgern, dass es sonst keine Straf­ rechtsnormen gab. Deshalb handelt es sich bei den sonstigen ‚Strafen‘ für die Über­ tretung von Normen wohl nicht um rechtliche, sondern staatlich durchsetzbare mora­ lische Sank­tionen.

390  Dem Wesir, der als eine Art Premierminister und Gerichtspräsident fungierte, oblag die Staatsverwaltung, die zwar bis zuletzt zentralisiert, aber auf mehrere Minis­ terien (z. B. das ‚Schatzhaus‘ als zentrale Sammelstelle für alle Importe und Abgaben) aufgeteilt, war. 391  Vgl. den Index von W. A. Ward (1982). Worin die Berechtigungen im Einzel­ nen bestanden, lässt sich heute nicht mehr ausmachen. Keinesfalls bestanden sie im Erwerb einer anerkannten Position im Staat; denn dazu bedurfte es entweder eines Befähigungsnachweises oder guter Beziehungen zu höheren Personen. 392  Die genaue Bedeutung von hp ist umstritten. W. Erichsen (1954, S. 274) über­ setzt das Wort mit „Gesetz, Gericht, Gerechtigkeit, Strafe“, aber auch mit „Bedin­ gung“ (für den Gewinn eines Prozesses). 393  J. A. Wilson (1961), S. 354: „Wir vermuten, dass sich Beamte und Richter nach den ihnen jeweils bekannten Bräuchen und Verfahren richteten, die sie als Ausdruck des königlichen Willens, nach königlichem Geheiß willkürlicher Abänderung unter­ worfen, begriffen.“ Erst seit der 18. Dynastie sind Gesetze belegt, die jedoch mit dem Willen des Pharaos identifiziert werden. 394  Siehe dazu St. Grunert (1982). 395  T. Q. Mrsich (2005), § 17.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Die Betonung des kommerziellen Einschlags im mesopotamischen, des moralischen Einschlags im ägyptischen Recht bedeutet nicht, dass dem me­ sopotamischen Recht der moralische, dem ägyptischen Recht der kommer­ zielle Bezug vollständig gefehlt hätte. Einerseits findet sich in der sume­ rischen Literatur, ausgenommen vielleicht die Heroenmythen, eine tiefe Sehnsucht auch nach einer umfassenden moralischen Ordnung, die zu wahren teils kosmische Aufgabe der Götter, teils irdische Aufgabe des Staates sei – gerichtet nach außen gegen die Feinde des Landes, nach innen gegen die Ungerechtigkeiten im Verhältnis zueinander. So heißt es etwa, ein guter Staat solle durch seine Gesetzgebung die Schuldhaft begrenzen und den Verkauf von Familienangehörigen und familien-eigenem Land zur Schuldentilgung rückgängig machen.396 Andererseits war das ägyptische Recht auch gegen­ über den wirtschaftlichen Bedürfnissen des Staates oder des täglichen Lebens nicht blind. Zum einen berechtigte es den Staat, von seinen Bürgern Steuern und Abgaben für seine Leistungen zu verlangen. Zum anderen gab es jedem seiner Bürger entsprechend der Reziprozitätsnorm Ansprüche auf Ausgleich seiner Leistungen durch staatliche Gegenleistungen. Formularverfahren und das Recht auf die Inanspruchnahme eines (rechtskundigen) Schreibers be­ wirkten überdies, dass darüber hinaus jeder Ausgleichsanspruch als verbind­ lich galt und dass er tatsächlich erfüllt wurde.397 (δ) Gesetzgebung und Rechtsprechung. Zur Gesetzgebung war in Mesopotamien der Lugal (= großer Mann) berufen,398 in Ägypten der Pharao. Ge­ setzlich geregelt werden konnten offenbar alle Lebensbereiche, in Mesopota­ mien mit Ausnahme der familien-internen. Dennoch war das meiste nicht gesetzlich geregelt, sondern dem Brauchtum und der Sitte überlassen. Was rechtlich gesichert werden sollte, musste daher zwischen den Beteiligten durch Vertrag geregelt werden. In vielen Fällen war dafür die Rechtsform der Beurkundung erforderlich (z. B. bei Ehescheidung, Adoption, Erbfall, z. T. auch bei Kauf, Verwahrung, Verpfändung).

396  Vgl. LE § 39, CH § 149. In den Leges von Ešnunna finden sich darüber hinaus Normen, die zum Schutze der Armen Höchstpreise für Dinge des täglichen Bedarfs sowie für Mieten und Dienstleistungen festlegen. 397  Fälle des Barkaufs sind urkundlich kaum belegt, da sie formlos von Hand zu Hand vollzogen wurden und ihr Rechtscharakter den Beteiligten kaum ins Bewusst­ sein drang (vielleicht auch gar nicht vorhanden war). Dagegen finden sich viele Ur­ kunden über den Kreditkauf: Hier verspricht der Käufer eidlich, den Preis für die erhaltene Ware binnen einer bestimmten Frist zu zahlen. Vgl. E. Seidl (1956, S. 16 ff.) für die Zeit nach dem Ende des NR. 398  In Assyrien konnten zur Zeit der Handelskolonien (ca. 1900–1700 v. u. Z.) auch die Stadtversammlung von Assur und das Handelsamt von Kanisch Anordnungen erlassen, denen höchstwahrscheinlich Rechtscharakter zukam.



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts251

Auch die Rechtsprechung war in Mesopotamien399 dem Lugal kraft seiner herausragenden Stellung vorbehalten (mit Sicherheit seit Ur III), wurde von ihm aber meistens an seine Statthalter (ensik) in den Provinzen oder an deren Vertreter delegiert, weil denen auch sonst die Aufrechterhaltung der öffentli­ chen Ordnung oblag. Lediglich wichtige Strafprozesse führte der Lugal sel­ ber durch, zumal wenn es seinem Ruhm dienlich war. Weise Sprüche, kluge Beurteilung widersprüchlicher Sachdarstellungen und die Aufdeckung fal­ schen Zeugnisses waren alsdann dazu angetan, sein Ansehen in der Bevölke­ rung zu heben. Die niedere Gerichtsbarkeit wurde oft noch nicht einmal von den Statthaltern, sondern von Personen ausgeübt, die keine Berufsrichter, sondern mit besonderer Autorität ausgestattete Laien waren. Tätig wurden sie entweder als Einzelrichter oder häufiger im Rahmen eines Spruchkörpers. Daneben gab es eine Tempelgerichtsbarkeit, deren Funktionen jedoch seit der Zeit Hammurapis von staatlichen Beamten ausgeübt wurden (mit Ausnahme des Gottesentscheids). In Ägypten unterschied man zwei Prozessarten: den Schiedsprozess und den streitigen Prozess. Der Schiedsprozess (wp snwj = „die beiden trennen“) war einfacher und daher verbreiteter. Er war nicht auf Streitfälle beschränkt, sondern konnte beispielsweise auch stattfinden, wenn zwei Parteien einen beiderseits befriedigenden Vertrag abschließen wollten, aber ohne Einschal­ tung eines Dritten sich über dessen Inhalt nicht einigen konnten, oder wenn sie einen Rechtsübergang gerichtsnotorisch machen wollten.400 Ein streitiger Prozess wurde nötig, wenn rechtserhebliche Behauptungen der Parteien ein­ ander widersprachen oder wenn jemand einen Straftatbestand behauptete. Dann musste „ein ‚Wortetrennen‘ mit ihm [dem Gegner bzw. Täter] stattfin­ den vor dem großen Gott“401, d. h. es mussten der Klagegrund und die dage­ gen erhobenen Einwendungen geprüft und in der Regel Beweise erhoben werden. Als Beispiel aus dem AR ist der Prozess gegen den Wüstengott Seth wegen Tötung und Zerstückelung seines Bruders Osiris berühmt geworden. Zuständig für die Ent­ scheidung des Falles war der höchste Götterrat. Als Kläger kam Horos, der Sohn des Osiris, in Betracht. Die Pyramidentexte, die über den Prozess berichten,402 nennen zum Folgenden A. Walther (1917/1968). römische Recht kannte als vergleichbare Institution die in iure cessio. Sie war dem alten Eigentumsprozess (legis actio sacramento in rem) nachgebildet, hatte aber keinen Streit zum Gegenstand: Der ‚Kläger‘ behauptete sein Eigentum, der ‚Be­ klagte‘ schwieg und ‚verschwieg‘ damit sein Recht. Der Magistrat sprach daraufhin die Sache dem Erwerber zu. Vgl. hierzu Gaius, Inst. IV 16; M. Kaser/R. Knütel (2014), § 14 (S. 89 ff.). 401  „Großer Gott“ wird vielleicht der Vorsitzende einer Spruchkammer gewesen sein. 402  Pyramidentexte Nr. 958, 959. 399  Vgl.

400  Das

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

die möglichen Verteidigungen, die Seth zur Verfügung standen: „Ich habe es nicht gegen ihn getan. Er war es, der mich angegriffen hat. Er war es, der mich herausfor­ derte.“ Als Zeuge trat der getötete Osiris auf, der inzwischen von seiner Gemahlin Isis mithilfe des Gottes Anubis wiederbelebt worden war. Seth wurde als überführt angesehen403 und vom Göttergericht verurteilt: „Geschlagen [mit dem Opferstab] wird Seth, wahr ist Osiris.“ Die Vollstreckung des Urteils war Sache des Klägers.404

Die Gerichtsverfassung des AR und des MR kennen wir nur aus Beamten­ titeln. Es scheint sechs Gerichtshöfe gegeben zu haben, denen Wesire vor­ standen, welche den Titel eines „Oberpriesters der Ma`at“ führten. Weitere Rechtsprechungsfunktionen übten die Gaugouverneure sowie lokale Obrig­ keiten aus. Die örtliche und sachliche Abgrenzung ihrer Zuständigkeit ist unklar. (ε) Rechtsentwicklung: Entwicklungen, denen das Recht im Laufe seiner ältesten Geschichte unterlag, können wir nur bruchstückhaft erfassen. Auch lassen sich eigenständige Veränderungen nicht immer scharf von äußeren Einflüssen durch einwandernde Völkerschaften (‚Diffusionen‘) abgrenzen. Für Mesopotamien ist überdies zu berücksichtigen, dass die überlieferten Dokumente aus unterschiedlichen Regionen mit teilweise unterschiedlichen Rechtstraditionen stammen, deren wechselseitige Beeinflussung wir nicht genau verfolgen können. Die mesopotamische Rechtsentwicklung lässt sich innerhalb der sumerischen Zeit nur anhand der in Ton geschriebenen notariellen und gerichtlichen Urkunden nach­ vollziehen.405 Bei den ersten Urkunden aus der 1. Hälfte des 3. Jt.s über Grund­ stücksveräußerungen ist deren Rechtscharakter noch unklar; denn es werden aus­ schließlich Personen und Sachen sowie deren Funktion beurkundet: „die Fläche x [ist] das [verkaufte] Feld“, „NN [ist] der Empfänger des [Kauf-]Preises“.406 Wahr­ scheinlich handelte es bei den Urkunden also lediglich um Beweismittel.407 Seit der Mitte des 3. Jt.s wird der Grundstückskauf jedoch als Rechtsgeschäft beurkundet: 403  Seth hatte ein Zweikampfordal gefordert, wie es im alten Recht bei Unaufklär­ barkeit durch Urkunden oder Zeugen als Beweismittel zugelassen war. Seine Forde­ rung wurde jedoch mit der Begründung abgewiesen, dass man auf diese Weise Recht von Unrecht nicht scheiden könne. 404  Allerdings „entging Seth seinem Todestag“; lediglich sein Gefolge wurde zer­ stückelt. Doch künftig stand er im Rang unter Osiris und musste ihn „tragen“. Horus dagegen wurde sein Nachfolger. 405  Vgl. dazu J. Krecher (1974), S.  145 ff. 406  Die Urkunden über Grundstücksveräußerungen sind relativ einheitlich und zeichnen sich durch knappe Stilisierung aus. Beim Feldkauf werden beispielsweise genannt: (1) Kaufpreis i. e. S., (2) Größe des Feldes, (3) Erstattungsleistung, (4) Zu­ weisungsleistung, (5) Naturalleistung, (6) Namen der Leistungsempfänger, (7) Namen der Zeugen, (8) Leistungen an den Vermesser und den Schreiber, (9) Name des Er­ werbers, (10) „übertragen“ (bal), (11) Name der Flur. ‒ Weitere Urkunden betreffen den Hauskauf. 407  H. Neumann (2003), S. 68.



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts253

„NN hat das Haus x von NN für den Preis y gekauft“.408 Ferner gibt es aus der 2. Hälfte des 3. Jt.s eine große Zahl von Urkunden auch über den Sklavenkauf, über Darlehen, Bürgschaften, abstrakte Schuldversprechen, Schuldzahlungen (Quittungen). Das heißt aber nicht, dass derartige Rechtsgeschäfte nicht schon früher getätigt wur­ den; offenbar wird die Urkunde jetzt zum sichernden Bestandteil des Rechtsgeschäfts. Ein noch weiteres Sicherheitsbedürfnis bezeugt sich im 24. Jh.: Von jetzt an finden sich in den Urkunden Vertragsstrafen für den Fall, dass nachträglich von dritter Seite Ansprüche auf das Kaufobjekt geltend gemacht werden.

Die gerichtlichen Urkunden aus der akkadischen Zeit (23. Jh.) lassen Ten­ denzen zur Hierarchisierung der Sozialstrukturen erkennen. In den notariellen Kaufverträgen wird ferner mehr als bisher die Haftung des Verkäufers für Rechtsmängel betont.409 Zur Erfüllung von Kaufpreisforderungen werden sowohl Darlehen von dritter Seite als auch Kreditierungen durch den Verkäu­ fer üblich. Schuldscheine dienen darüber hinaus zum Nachweis, Bürgschaf­ ten und Pfandbestellungen (sowohl Sach- als auch Personenpfand) zur Siche­ rung von Forderungen. Die Sammlungen der Leges beginnen mit Ur III.410 Der Dynastiebegründer Urnamma (Reg. 2111–2094) hinterließ ein etwa 50 Paragraphen starkes Ge­ setzeswerk, das (wohl erstmals) zumindest Teile des seinerzeit geltenden Rechts erfasste.411 Das Werk beginnt mit einem Prolog, der in einen theolo­ gischen, einen historischen und einen moralischen Teil gegliedert ist. U. a. preist Urnamma darin, dass er dem Lande die Gerechtigkeit durchgesetzt habe. Das Werk endet mit einem Epilog, worin derjenige verflucht wird, der den Text der Normen tilgen sollte. Die einzelnen Paragraphen sind in der von nun an üblichen konditionalen Form („wenn … dann“) abgefasst, also auf bestimmte Situationen bezogen (‚kasuistische Gesetzgebung‘).412 Inhaltlich 408  Die Urkunden sind weniger einheitlich als früher. Das Normalformular für den Landkauf enthält: (1) Größe des Feldes, (2) Flurbezeichnung, (3) „Kaufpreis dafür“, (4) „[den Preis] hat NN [= Verkäufer] erhalten“, (6) „NN [= Käufer] ist derjenige, der den Kaufpreis entrichtet hat“, (7) „NN sind die Zeugen dafür“. 409  Beim Feldkauf haftet der Verkäufer mit dem Doppelten des Kaufpreises bzw. mit Versklavung, falls von dritter Seite ein dem Eigentumserwerb widersprechender Anspruch geltend gemacht wird. 410  Gesetzesbruchstücke der Könige von Lagaš aus früherer Zeit (24.–21. Jh.) sind in einer Sammlung keilschriftlicher Rechtstexte (R. Haase, 1979, S. 1 ff.) enthalten. Das bekannteste davon ist das Edikt des Königs Urukagina von Lagaš aus der Mitte des 23. Jh.s, worin sich dieser, wie spätere Herrscher auch, als „Schützer der Witwen und Waisen“ bezeichnet und deren Ausbeutung verbietet sowie Arme aus der Schuld­ knechtschaft befreit. Zu diesem Leitthema des Vorderen Orients, Ägyptens und Indi­ ens vgl. J. Assmann (1995), S. 245 ff. 411  Vielleicht stammt das Gesetzeswerk auch erst von seinem Sohn Šulgi (Reg. 2094–2047), von dem bekannt ist, dass er ein rühriger Gesetzgeber war. 412  Der kasuistischen entgegensteht die ‚apodiktische Gesetzgebung‘ mittels direk­ ter Verbote und Gebote (vgl. dazu noch unten J 6 c β). Sie war hauptsächlich in der

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

handeln sie u. a. von Straftaten, Eherechten und -pflichten, Verantwortung für die Feldbestellung und Rechtsfragen der Sklavenhaltung. Etwa 200 Jahre jünger sind die Leges des Königs Lipit-Ištar von Isin (Reg. 1934–24). Sie werden ebenfalls von einem Prolog und einem Epilog eingerahmt und bezie­ hen sich inhaltlich hauptsächlich auf das Personen- und Vermögensrecht. Auffallend ist das Fehlen von Kapitalverbrechen innerhalb der Straftaten. Als etwa gleichzeitig, eher etwas später, sind die sogen. Leges von Ešnunna zu datieren. Im Unterschied zu den vorigen sind sie in akkadischer Sprache abgefasst. Auch fehlen diesmal Prolog und Epilog. Ein weiterer Unterschied ist, dass neben die konditionale Form der Normen gelegentlich die relativi­ sche („ein Bürger, welcher…“) oder die (nicht auf Situationen sondern auf Werte bezogene) apodiktische („darf nicht“) tritt. Gegenstände der Leges sind Preis- und Miettarife, ehe- und familienrechtliche Vorschriften, Verbote von Rechtsgeschäften, Bestimmungen über deren Inhalt, Strafdrohungen ge­ gen Kapitalverbrechen sowie andere unerlaubte Handlungen. Von den ehemals wahrscheinlich in weit größerer Zahl vorhandenen akka­ dischen Rechtsbüchern hat der Kodex Hammurapi (ca. 1755) eine besondere Berühmtheit erlangt, weil er das älteste vollständig erhaltene Gesetzbuch der Menschheit ist.413 In seinen 282 Paragraphen führt er die in den Leges von Ešnunna schon keimhaft angelegte Systematik weiter durch. Auch gibt er den in den Leges Lipit-Ištar (etwa in §§ 18, 25) und von Ešnunna (etwa in §§ 24, 50) deutlich werdenden Tendenzen zur differenzierteren Regelung von Sachverhalten sowie – damit verbunden – der Normierung komplexerer Tat­ bestände mehr Raum. Auffällig ist ferner, dass die Klärung von Beweisfragen nicht erst dem Prozess überlassen wird, sondern bereits die materiellen Tat­ bestände prägt.414 religiösen Gesetzgebung verbreitet, weil man die Reaktionen Gottes auf einen Geset­ zesbruch ja nicht vorherbestimmen konnte. Vgl. etwa 2. Mose 22 17: „Die Hexen sollst du nicht am Leben lassen.“ Gleich darauf aber 2. Mose 22 18: „Wer einem Vieh beiwohnt, der soll den Tod erleiden.“ 413  Ein ‚Kodex‘ im modernen Sinne, der das gesamte geltende Recht in erschöp­ fender Weise darstellt, ist Hammurapis Gesetzbuch freilich immer noch nicht. Es enthält Normen, die dem Willen seines Schöpfers Ausdruck geben, „vom Starken den Schwachen nicht entrechten zu lassen“ und die Reform des Rechts insgesamt voran­ zutreiben. Vgl. dazu W. Eilers (1932/2009), S. 12; W. Preiser (1969), S. 32 f. 414  Schon § 11 der Leges Lipit-Ištar bestimmte: „Wenn neben dem Hause eines Mannes das unbebaute Land eines [anderen] Man­ nes vernachlässigt worden ist und der Herr des Hauses dem Herrn des unbebauten Landes gesagt hat: ‚Weil das Land vernachlässigt worden ist, kann jemand in mein Haus einbrechen; verstärke das Haus!‘ und die Benachrichtigung von ihnen bestätigt worden ist, soll der Herr des unbebauten Landes dem Herrn des Hauses alles Eigen­ tum ersetzen, das [bei einem Einbruch] verloren gegangen ist.“ Der spätere Kodex des Hammurapi enthält viele solcher beweisgesicherten Tatbe­ stände (z. B. §§ 9, 49, 159 ff.).



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts255

Inhaltlich lässt sich der Kodex Hammurapi in zwei große Bereiche gliedern: Seine ersten 41 Normen beziehen sich auf den Schutz von öffentlichen Interessen (des Pa­ lastes, der Tempel, der sozialen Ordnung), seine späteren Normen enthalten Bestim­ mungen zum Vermögensrecht (§§ 42–126), zum Familien- und Erbrecht (§§ 128–193), zu Körperverletzung und Sachbeschädigung (§§ 196–240), zu Nutzungsverträgen (§§ 241–277) und zur Sklavenhaltung (§§ 178–282). Hierbei wird (erstmals?) klar zwischen vertraglichen und außervertraglichen Rechtsbeziehungen unterschieden.

Wieweit eine Rechtsentwicklung auch in der Erweiterung der möglichen Beweismittel zum Ausdruck kommt, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Zeugen waren von jeher üblich, Urkunden seit Einführung der Schrift. Darü­ ber hinaus nehmen die Leges Urnamma (soweit sie uns überkommen sind) Bezug auf das Flussordal (§ 10), die Leges von Ešnunna auf prozessuale Eidesformeln (z. B. in § 22: „Du hast keinen Anspruch gegen mich.“), der Kodex Hammurapi auf beide (etwa in §§ 2, 232). Bemerkenswert ist im Ko­ dex Hammurapi ferner die häufige Verwendung von Spiegelstrafen (etwa bei den Körperverletzungsdelikten, §§ 196–210)415 sowie die Androhung der Todesstrafe auch für Eigentums-, Freiheits- und Sittlichkeitsdelikte.416 Genauer noch als in den Gesetzen wird die allmähliche Ausdifferenzierung des Rechts aus der Sittenordnung in den überkommenen Vertragsurkunden deutlich. Bereits die verwendete Terminologie zeigt ein allmähliches An­ wachsen spezifisch juristischer Begriffe. Teilweise handelt es sich zwar le­ diglich um Präzisierungen von Alltagsbegriffen, teilweise aber auch um Er­ weiterungen hin zu einem spezifisch juristischen Begriffsapparat: Während man beispielsweise früher zwischen Tausch und Kauf nicht unterschied, tritt später als Besonderheit des Kaufes die Geldzahlung hervor. Der hohen Be­ deutung des Kreditwesens tragen Verträge und Sicherungsinstrumente Rech­ nung, die immer feiner auf die Interessen der Parteien abgestimmt werden. Durch soziale Maßnahmen abgemildert werden Härten der Rechtspraxis wie beispielsweise der Zugriff auf die Person des Schuldners und auf seine Fami­ lie, falls eine hoheitliche Pfändung von Sachen unmöglich ist. Allerdings bleibt das juristische Denken noch immer konkret-operational, eine sozialon­ tologische Basis fehlt ihm. Daher wird auch über das Recht-an-sich sowie über eine spezifisch rechtswissenschaftliche Methodik nicht nachgedacht. Stattdessen finden sich allenthalben magisches Denken, rituelle Handlungen mit magischer Kraft und feierlich gesprochene Worte mit magischer Bedeu­ tung.

415  Grund dafür könnten die Vorstellungen des Nomadenvolks der Amurriter sein, von denen Hammurapi abstammte. 416  Insgesamt wird die Todesstrafe im Kodex Hammurapi fünfundzwanzig Male angedroht.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Selbst in Tafel 7 der Serie ana ittišu417 und Clay 28 § 4 schließen Rechtsfolgen noch an die feierliche Aufkündigung des Verwandtschaftsverhältnisses an.418 Weitere Fälle finden sich in §§ 37 ff. der hethitischen Rechtssammlung.419

Während wir in Mesopotamien die Rechtsentwicklung anhand der über­ kommenen Dokumente einigermaßen gut verfolgen können, spielte sie sich in Ägypten hauptsächlich im Bewusstsein der Menschen ab und ist daher für uns weitaus schlechter erkennbar. Äußerlich waren über die Jahrhunderte hinweg die Dauer und die Abschottung gegen alles, was Wandel, Verände­ rung, Fortschritt usw. bedeutete, Kennzeichen der ägyptischen Kultur. Den­ noch konnte sich Ägypten als Staat nur deshalb so lange erhalten, weil es sich innerlich entwickelte und nur so tat, als bliebe alles beim Alten. Ein markantes Beispiel für diese Haltung sind die beliebten moralischen Bücher. Zwei Jahrtausende hindurch unterwiesen sie untere Beamte, wie sie sich in typi­ schen Situationen im Umgang mit Vorgesetzten, vor Gericht, bei der Gründung eines eigenen Hausstands u. ä. zu verhalten haben. Ihre Ratschläge blieben weitgehend dieselben, doch unter der Oberfläche zeigen sich Unterschiede. Das Buch des Ptah­ hotep war in der Aufstiegszuversicht des alten Reiches abgefasst: selbstbewusst, un­ religiös, am geschäftigen Treiben der Welt interessiert. Das Buch des Amenemope atmet dagegen den Geist der Spätperiode: zurückhaltend, fromm, weltabgewandt.420

Ebenfalls nur scheinbar unverändert blieben über die Jahrhunderte hinweg die Dogmen; doch unter der Oberfläche ihrer abstrakten Form wandelte sich auch ihr konkreter Inhalt. Für die ma`at beispielsweise standen im AR die absolutistischen Rechte des Herrschers im Zentrum; für die ma`at des MR waren unter dem allmählich erwachenden Drang nach individueller Selbstbe­ hauptung die Rechte der Untertanen zu weiteren wesentlichen Elementen geworden. Unter der Hand hatte sich also eine Idee von Menschenrechten durchgesetzt, die zwar immer noch weit entfernt war von ihrer heutigen Be­ deutung, jedoch Mitmenschlichkeit und soziale Gerechtigkeit erheblich stär­ ker betonte, als dies im AR denkbar gewesen wäre. Dass allgemeine Menschenrechte nicht anerkannt wurden, lag zum einen am Abso­ lutismus der Pharaonen des MR, welche die Interessen des Einzelnen zum eigenen Anliegen machten und sie daher der Eigeninitiative entzogen; zum anderen lag es an der ägyptischen Lebensart, die zu Leichtigkeit und Toleranz neigte und deshalb mit dem allgemeinen Gerechtigkeitsprinzip der ma`at besser fuhr als die Babylonier mit ihrer Neigung zu rationalen Gesetzesnormen.

Der Hyksos-Einfall, mit dem das MR endete, machte allen Ägyptern aller­ dings klar, dass Geschichte nicht, wie bisher, ewiges Sein bedeuten konnte, B. Landsberger (1937). „Wenn ein Sohn zu seinem Vater sagt ‚Du bist nicht mein Vater‘, dann darf dieser ihn rasieren, ihm die Sklavenmarke anlegen und ihn für Geld verkaufen.“ 419  Dazu R. Haase (2003), S. 133 ff. 420  J. A. Wilson (1961), S. 381. 417  Dazu 418  Z. B.



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sondern ständige Veränderung. Und die Befreiung von der Hyksos-Herrschaft bewies ihnen ferner, dass sie die Geschichte selber gestalten mussten, sofern sie in der immer enger zusammenrückenden Welt noch eine Rolle spielen wollten. Verlangt wurde von ihnen jener Tatendrang, der inzwischen die Göt­ ter erfasst hatte: denen es nicht mehr wie im AR genügte, die Menschen zu lenken, sondern die wetteifernd danach trachteten, konkret in die Geschicke der Menschen einzugreifen. Damit gelangten die Ägypter nunmehr zu jenem Weltverständnis, das die Babylonier infolge ihrer offenen Lage zwischen den Völkern schon sehr viel früher erreicht hatten: wonach Götter und Menschen miteinander rivalisieren und sich als irdische Herrscher nur diejenigen zu behaupten vermögen, die neben dem stärkeren göttlichen Beistand auch über die stärkere Armee verfügen. Diesem Weg folgte dann auch die ökonomische Vernunft der Ägypter. Im AR hatte sie um eine Zentralwirtschaft gekreist, die im König und seiner Residenz ihren Mittelpunkt hatte. In einem Zwischenstadium war dann die Zentralwirtschaft durch die Verselbstständigung von Tempelfeldern lokaler, aber über dem König stehender, Gottheiten erweitert worden. Jetzt stand, am Ende des langen Weges, das Privateigentum im Zentrum, vorgeführt von den lokalen Beamten, die sich als ‚Bauern‘ in die Tempelfelder einsetzen ließen und damit aus der Abhängigkeit vom Zentralstaat heraustraten. Verbunden mit dieser neuen Selbstständigkeit war „das Erlebnis der persönlichen Macht, der individuellen Freiheit“421. Allerdings war es nicht schon verbunden mit dem Erlebnis der sozialen Verantwortung für den Gebrauch der Freiheit. Vielmehr trat jetzt an die Stelle der staatlichen Ordnung die unkontrollierte Macht einiger weniger Familien. Und aus dieser Sackgasse konnte der Staat des MR die Wirtschaft nur wieder herausführen, indem er sie auf den Stand zu Beginn des AR zurückversetzte und das Privateigentum wieder beseitigte. Was er dagegen nicht zurückführen konnte, war das individuelle Freiheitsbe­ wusstsein.422 Dieses setzte an die Stelle einer sich ständig gleichbleibenden Welt eine durch den Willen veränderbare – wenngleich nur veränderbar durch einen Willen, der sich seiner Macht bewusst war.

421  W.

Helck (1975), S. 137; vgl. auch a. a. O. S. 64 ff. Helck bemerkt (1975, S. 196) dazu, dass das Erlebnis des Erwerbs aus eige­ ner Kraft weiter „in der Erinnerung“ gelebt habe. Es dürfte sich jedoch um einen ir­ reversiblen psychischen Entwicklungsvorgang gehandelt haben. Ebenfalls irreversibel dürfte gewesen sein, dass den Menschen die in der IV. Dynastie noch allgemein vorherrschende Überzeugung abhandenkam, dass die Gemeinschaftsarbeit an den Pyramiden letzthin ihnen selbst zugutekomme, weil der Schutz des toten Herrschers ihnen den Beschützer im Jenseits erhält. Deshalb musste „der Versuch der 12. Dynas­ tie scheitern, die Gleichheit der Menschen in ihrer Tätigkeit für den Staat zu begrün­ den“ (a. a. O. S.  196 f.). 422  W.

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Merkmale der Veränderung vom AR zum ausgehenden MR waren: • die allmähliche Ersetzung des Physischen, Handlungsmäßigen, durch das Psychi­ sche, Gewollte. Ursprünglich deutete das gesprochene Wort nur das Tun – es ver­ lieh ihm seine ‚Bedeutung‘. Allmählich aber wuchs ihm sozial auch eine das Tun vertretende rechtliche Bedeutung zu: Worte konnten befehlen, und wenn man sich nach dem Befehl zu richten hatte, dann bedeuteten die Worte ein Sollen – sie be­ haupteten ein ‚Recht‘. Damit traten sie aus ihrer Funktion als bloßer Begleiter des Faktischen heraus: Der mündlich erteilte Auftrag z. B. wurde zur Rechtsfigur, wenn der Untergebene ihm zu folgen hatte; und er übertrug Rechtsmacht, wenn er den Untergebenen zu einem rechtlich relevanten Tun bevollmächtigte. • die symbolische ‚Verkörperung‘ von Rechtsakten teils in der Feierlichkeit einer Rede, teils in der Symbolik einer rituellen Handlung. Nach Erfindung der Schrift (um 3200 v. u. Z.), die in Ägypten eine Hieroglyphenschrift war, drang diese sofort in das Rechtsleben ein und übernahm die Funktion der Symbolik, führte allerdings auch schnell zur Erstarrung nicht nur des in Bildzeichen festgehaltenen Wortschat­ zes, sondern auch der aufgezeichneten Rituale. Wertvoll blieb sie, weil sie den Urkundenbeweis und damit den Nachweis von Vertragsinhalten und daraus folgen­ den Ansprüchen (z. B. aus einem Kreditkauf) auch noch nach Jahr und Tag ermög­ lichte. • die Ausweitung von Begriffen auf funktional analoge Sachverhalte. So wurde z. B. im Familienrecht ursprünglich die gesamte Aszendenz mit ‚Vater‘ bzw. ‚Mutter‘, die Deszendenz mit ‚Sohn‘ bzw. ‚Tochter‘ bezeichnet, die seitliche Verwandtschaft mit ‚Bruder‘ bzw. ‚Schwester‘, dazu kamen noch ‚Gatte‘ bzw. ‚Gattin‘ sowie ein Begriff für ‚Schwägerschaft‘; später wurden diese Begriffe außer auf die verwandt­ schaftlich Verbundenen auch auf Personen angewandt, denen man eine ähnliche Funktion zuschrieb bzw. zu denen man ähnliche Gefühle entwickelte wie zu den Verwandten. Beispielsweise bezeichnete man als „Schwester“ (sn.t) nunmehr auch Seitenverwandte, etwa eine Kusine, sofern sie im sozialen Umfeld eine ähnliche Funktion wie eine Schwester bekleidete, oder die Geliebte, solange man zu ihr als künftiger Ehefrau (noch) keine sexuelle Beziehung hatte.423 In der Bezeichnung eines Höhergestellter als „Vater“ (jtj) hingegen schlug das patriarchalische Prinzip durch.424

Für das ökonomische Handeln folgte aus der Entwicklung des Freiheitsbe­ wusstseins eine stärkere Bedeutung des Willenselements beim Abschluss von Verträgen, sodass nunmehr auch Kreditverträge möglich wurden, bei denen der Vorleistung einer Sache (etwa eines Rindes) lediglich das Versprechen des Käufers zur Zahlung der vereinbarten Geldsumme gegenübertrat.425 Nachweisbar ist diese Entwicklung allerdings erst im NR, sodass darin ein Vorgriff auf die künftige ‚eigentliche‘ Geschichte des Rechts liegt, die für die T. Q. Mrsich (2005), § 68. Franke (1983), S. 34. 425  S. Allam (2003, S. 41) erwähnt, dass ein Oberpolizist zwei Kreditkäufe tätigte und jeweils die Sachen in Empfang nahm, dann aber jahrelang zahlungsunfähig oder -unwillig war, ohne dass seine Zahlungspflicht erlosch. 423  Vgl. 424  D.



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Ägypter trotz ihrer Vorbereitung im MR erst in der Zeit des NR begann (je­ denfalls ihnen erst dann voll bewusst wurde)426. Diese Zeit liegt außerhalb des Rahmens, den ich der vorliegenden Untersuchung gesetzt habe. 2. Die Rechtsentwicklung in Indien und China (α) Politische Geschichte. Die Kulturen Indiens und Chinas treten in etwa fünfhundertjährigem Abstand auf. Die indische ist die ältere, sofern man von einer sich ins mythische Dunkel verlierenden neolithischen Epoche agrari­ scher und städtischer Kleinstämme in China absieht. Deren Reste beschrän­ ken sich auf Funde von Keramik und geben uns über das soziale Leben keinerlei Auskunft. Auch die Sozialkultur in Indien wird uns erst etwa tausend Jahre nach denjenigen Mesopotamiens und Ägyptens zugänglich.427 Offenbar ging sie auf eine Besiedlung in den Bergen von Belutschistan zurück, breitete sich während des 4. Jt.s in das Industal aus und führte zur Gründung von Dörfern und kleineren Städten. Die Beziehungen zwischen den Tal- und den Bergbe­ wohnern waren lange Zeit eng, doch entwickelten sich die Talgründungen schneller, weil sie Handelskontakte mit dem Ausland knüpften und dorthin Metalle, Halbedelsteine und Nutzhölzer verkauften, die sie allerdings zuvor von den Bergbewohnern im Austausch gegen Getreide und andere Nahrungs­ mittel erhalten hatten. Mesopotamien war ihr wichtigster Handelspartner und trug wesentlich zur Gründung der beiden großen Städte des indischen Alter­ tums bei: Mohenjo-Daro und Harappa (je etwa 40.000 Einwohner). Ob diese Städte Mittelpunkte unterschiedlicher Reiche oder Residenzen desselben Reiches waren, ist unbekannt. Jedenfalls waren sie auffällig gleich angelegt und zudem unbefestigt – ein Zeichen dafür, dass man keine feindlichen An­ griffe befürchtete. Ihre Mauern schützten sie lediglich gegen Hochwasser. Das dort wohnende Volk besaß, anders als die Völker Mesopotamiens und Ägyp­ tens, trotz seiner Kulturhöhe höchstwahrscheinlich keine Schrift. Man fand auf Sie­ geln aus Speckstein sowie auf Ton- und Kupferobjekten zwar etwa 5.000 Piktogram­ me mit Tier- und Waffensymbolen. Doch handelt es sich offenbar um Siegel, die In­ dividuen, Familien, Clans oder Götter bezeichneten428 und mit denen vermutlich 426  T. Q. Mrsich (2005), § 133e: „Es ist schwierig, von einer ‚Entwicklung des Leistungsaustausches‘ zu sprechen, wenn man nur das AR und das MR einbezieht und nicht auch die demotische Zeit.“ 427  Vgl. zum Folgenden H. Mode (1959). 428  So das Ergebnis einer gründlichen Vergleichsstudie von St. Farmer/R. Sproat/ M. Witzel (2004), p. 19 ff. Die Hauptargumente der Studie sind, dass die extrem ge­ ringe Zeichenfrequenz keine genügende semantische und phonetische Breite ermög­ licht habe und dass die für Schriften erforderliche Wiederholung bestimmter Zeichen fehle. Der Beginn einer Schriftkultur fällt somit wohl erst in die Mitte des 1. Jt.s  v. u. Z.

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Handelsware gekennzeichnet wurde. Bemerkenswert ist auch, dass Tempel und Paläs­ te fehlten, obwohl die technischen Möglichkeiten zu ihrer Errichtung vorhanden wa­ ren. Götterdarstellungen gab es lediglich als Figurinen aus Terrakotta oder als Skulp­ turen aus Stein oder Bronze.

Mangels Schrift war Indien in der Zeit Mohenjo-Daros und Harappas ge­ mäß der hier gebrauchten Terminologie kein Staat, wohl aber ein Königreich (oder zwei Königreiche) ähnlich den afrikanischen; denn die Gesellschaft war hierarchisch strukturiert und wurde durch einen ausgedehnten Verwal­ tungsapparat zentralistisch verwaltet.429 Es gab ferner ein umfassendes Steu­ ersystem, das es u. a. erlaubte, Straßen und unterirdische Abwassersysteme zu bauen sowie Gemeinschaftseinrichtungen wie Kornspeicher u. ä. zu er­ richten und zu unterhalten. Für die Rechtsgeschichte ist diese Zeit mangels Quellen indes kaum von Belang. Auch später, nach dem Untergang von Mohenjo-Daro und Harappa (ca. 1500), bleibt die Zahl der Quellen zur indischen Geschichte ausgesprochen dürftig. Der indische Geist war – im Gegensatz zum chinesischen – zwar an religiösen und metaphysischen Spekulationen, nicht aber an der politischen Gestaltung des sozialen Lebens und somit auch nicht an dessen geschichtli­ cher Entwicklung interessiert. Es war ein Grundzug des indischen wie schon des ägyptischen Denkens, dass eigentlich nichts geschieht, was sich entwi­ ckelt, sondern dass alles beharrt. Erst zwischen 1300 und 1200 veränderte sich die Situation abrupt: Kriegerische Stämme (Ārya = ‚Edle‘) brachen aus dem Iran in Indien ein und eroberten weite Teile des Nordens. Nach früher herrschender Meinung töteten oder versklavten sie die eingesessene Bevölke­ rung und ersetzten ihre hoch entwickelte Stadtkultur durch eine rohe Vieh­ züchterkultur. Die neuere Auffassung sieht dagegen in der Kultur der Ārya eher die Antithese zur Zivilisation der Bevölkerung im Industal: Während diese eine Fülle von Resten hinterlassen hat, die auf ein blühendes kulturel­ les Leben hindeuten, aber keine schriftlichen Zeugnisse, hat jene zwar keine Reste hinterlassen, aber eine Fülle an Literatur, die uns von ihrem Leben und vor allem von ihren religiösen Vorstellungen einen Eindruck gibt – berühmt geworden sind vor allem die Veden mit der Ṛg Veda als ältestem Teil, der vor 429  Dass ich dennoch die Entwicklung Indiens hier zusammen mit der chinesi­ schen erörtere, rechtfertige ich zum einen mit Indiens vergleichbar hoher kultureller Bedeutung und zum anderen damit, dass – freilich von einem unterschiedlichen Staatsbegriff aus – viele Autoren sowohl Indien als auch China als die einzigen asia­ tischen Staaten nennen, von denen wir eine einigermaßen zuverlässige Kenntnis ha­ ben. R. Thapar (1981, p. 656) verlegt die Staatsentstehung Indiens zeitlich auf die Mitte des 1. Jt.s. v. u. Z. und geografisch auf das zentrale Gangestal. Anders H. Wimmer (2001), S. 111: „Aus bisher noch wenig geklärten Umständen gelingt in Indien der Durchbruch zur Staatlichkeit nicht. Im 3. Jh. v. Chr. sehen wir unter den Maurya zwar einen Versuch zu einer stärkeren politischen Zentralisierung, aber dieses Herr­ schaftsgebilde zerfällt wieder, ohne Spuren von Staatlichkeit zu hinterlassen.“



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1000  v. u. Z. konzipiert wurde, während die jüngeren Teile bis etwa 800  v. u. Z. reichen. Es ist daher wahrscheinlich, dass das ursprünglich vielleicht rohe, aber vitale Eroberervolk der Ārya die Kultur der dekadent gewordenen Er­ oberten übernahm und im eigenen Sinne weiterentwickelte.430 Die Ārya besiedelten allmählich die Ebene des Ganges  – eine Vielzahl kleiner Königshöfe, an denen Brāhmanen als Priester und Berater eine große Rolle spielten, gibt davon Zeugnis. Eine Vermischung mit den Einwohnern ist wahrscheinlich. Rund 700 Jahre nach ihrer Einwanderung bildeten die Ārya ein erstes zentralisiertes Großreich mit Magadha (im Osten der GangesEbene) als Zentrum. Dieses Reich können wir gemäß der hier gebrauchten Terminologie als ‚Staat‘ bezeichnen.431 ‚Geheimlehren‘ (Upanishaden) wur­ den verbreitet, Gautama Siddhārta (Buddha, d. i. ‚der Erwachte‘) stiftete um die Mitte des 1. Jt.s eine neue Religion. Zusammen mit der Schrift (brāhmī) entstand die Literatur des dharmasūtra.432 Nochmals ein halbes Jahrtausend später war Aśoka Piyadasi (ca. 272–236) die herausragende Persönlichkeit. Er gründete das Großreich der Maurya und regierte es mittels einer durchge­ gliederten Verwaltung.433 Obwohl er sich selbst zum Buddhismus bekannte, duldete er auch andere Religionen in seinem Reich. Bald darauf drangen al­ lerdings die Griechen unter Alexander dem Großen in Indien ein und nach ihnen andere Völker. Westliche Einflüsse wurden wirksam, und ein neuer Zeitabschnitt begann.

430  Die Ārya waren zwar keine Nomaden, besaßen aber auch keine feste Bindung an den Boden, auf dem sie lebten. Sie waren ein Volk von Viehzüchtern, das fortzog, wenn das Vieh nicht mehr genügend Nahrung fand, und sich neue Weidegründe suchte. Ihre Kultur war vermutlich einfach, technisch aber weiterentwickelt als die der Indus-Bewohner. Sie kannten keine Schrift, wohl aber eine reiche mündliche Überlieferung, hauptsächlich von historischen Ereignissen und vom Leben großer Helden, die von wandernden, sozial hoch angesehenen Barden in ein metrisches Maß gegossen und vorgetragen sowie von Generation zu Generation weitergegeben wurde, oft leicht verändert und den Wünschen der Zuhörer angepasst. Ihre Epen erweisen sie als eine in drei Klassen gegliederte Gesellschaft aus Edlen, Gemeinen und versklav­ ten Angehörigen besiegter Feinde. Jeder ihrer Stämme bestand aus einer Anzahl von Haushalten mit einem Mann als Oberhaupt sowie Frau und Kindern, ferner jüngeren Mannesbrüdern und deren Familien sowie weiteren Verwandten, die sich entschlossen hatten, dem Haushalt anzugehören. Die Haushaltsvorstände bildeten den Adel, die armen Verwandten die Gemeinen, die noch auf dem zugehörigen Grund lebenden Personen für gewöhnlich die Sklaven. Die Abstammung war patrilinear, aber es gab kein Patriarchat. Die Frau behielt vielmehr die soziale Position ihrer Verwandtschafts­ gruppe bei mit der Folge, dass sie nicht selten sozial höher stand als ihr Ehemann. 431  Im Einzelnen dazu R. Thapar (1981) und R. S. Sharma (1989). 432  Es handelt sich um eine Kompilation aus mehreren älteren Quellen, die uns teils im Original, teils in Zitaten späterer Autoren überliefert ist. 433  Näher zum Mauryanischen Staat vgl. B. D. Chattopadhyaya (1994), p. 15 f.

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China tritt etwa fünfhundert Jahre später als Indien aus dem Dunkel der Vorgeschichte, dann allerdings sogleich im Übergang zu einem staatlichen Gebilde.434 Seine Geschichte beginnt im 17. Jh. v.  u.  Z. mit der ShāngDynastie, deren Gebiet im Nordosten des heutigen Chinas lag: östlich be­ grenzt vom Gelben Meer, westlich vom Gebiet der heutigen Provinz Shănxī, nördlich von der inneren Mongolei und südlich vom Fluss Yángzĭ. Angel­ punkt der Geschichte war eine fortwährende innere Kolonisation mittels Zi­ vilisation, getragen von einer politischen Einigungsidee, die zwar am Ende der Zhōu-Dynastie, in der Zeit der ‚streitenden Reiche‘ (475–221), gefährdet war, jedoch niemals so weit verloren ging, dass sie eine Reichseinigung un­ möglich machte.435 Deshalb war die Gründung des chinesischen Kaiserreichs im Jahre 221 v. u. Z. nur ein Kulminationspunkt in der Entwicklung und die anschließende Zeit bis zum Ende des chinesischen Altertums (220 u. Z.), aufgeteilt in eine Q’ín-Dynastie (221–207) sowie eine frühe und eine späte Hàn-Dynastie (206 v. u. Z.–9 u. Z.; 23–220 u. Z.), eine Glanzzeit der altchine­ sischen Geschichte. In dieser Zeit verbreitete sich die chinesische Kultur von ihrem Zentrum am Gelben Fluss nach Norden und Westen bis zum Rand der Steppe und im Süden bis an den Rand des Kontinents. Die Shāng-Dynastie begann als aristokratisches Königreich, entwickelte sich aber gegen Ende zum Staat. Dynastischer Kern war die Domäne des Großkönigs (wáng), umgeben von den Gebieten der Fürsten, die sich in ei­ nem feudalen Abhängigkeitsverhältnis zu ihm befanden. Der Großkönig war, wie fast überall im frühen Altertum, zugleich oberster Heerführer und obers­ ter Priester. Er leitete sowohl die Feldzüge als auch die Opfer an die Götter, damit sie Regen und Schutz vor Naturkatastrophen spendeten. Dennoch er­ wies sich seine Macht auf Dauer nicht stark genug, um einer Allianz der Schwächeren standzuhalten. Als daher der letzte Shāng-Herrscher ein arger Wüstling war, verschworen sich die übrigen Herrscher gegen ihn und be­ zwangen ihn unter der Führung des Königs Wu aus dem westchinesischen Hügelland (etwa Mitte des 11. Jh.s). Größte Stadt während der Shāng-Zeit war Ao. Sie maß 3,5 Quadratkilometer und war mit einer 20 m dicken Lehmmauer umgeben. Zu vermuten ist, dass hauptsächlich der Adel und die Beamtenschaft darin wohnten und einige Handwerksbetriebe dort ihren Sitz hatten. Der weitaus größte Teil der Bevölkerung lebte dagegen als Acker­

434  Der Schriftgebrauch ist in China für das 14. Jh. v. u. Z. nachgewiesen, dürfte sich aber schon weitaus früher entwickelt haben. 435  Der Begriff ‚Reich‘ (chin. T’ien-hsia = ‚[das] unter dem Himmel [Befind­ liche]‘) ist im Folgenden nicht politisch, sondern kulturell als Ausbreitungsgebiet der chinesischen Kultur zu verstehen. Im politischen Sinne tritt an seine Stelle der Begriff Kuo, der aus den Schriftzeichen für ‚Hellebarde‘ (‚Schutz mit der Waffe‘) und ‚Mund‘ (‚Sprache‘) zusammengesetzt ist (vgl. W. Bauer, 1965, S. 148 f.).



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bauern und Viehzüchter verstreut auf dem Lande und war dem Adel zu Abgaben verpflichtet.

Die anschließende Zhōu-Zeit war durch eine feudalistische Gesellschafts­ ordnung gekennzeichnet, aufgeteilt – entsprechend der in Berge und Täler gefalteten Struktur des Landes – in Hunderte mehr oder weniger mächtiger Domänen, aus denen die königlichen Domänen herausragten. Typischerweise bildete darin eine ummauerte Stadt mit Priestern, Beamtenschaft und spezia­ lisierten Handwerkern den Mittelpunkt; die Dörfer im Umland waren für die Ernährung zuständig und zu entsprechenden Abgaben verpflichtet. Die Ge­ sellschaftsstruktur beruhte auf der Ahnenverehrung: Wer denselben Urahn verehrte, gehörte demselben Adelsclan an und galt als befähigt, ein Stück Land als Lehen oder ein Amt zu erhalten. Mit der Zeit vermehrte sich die Zahl der Adelsangehörigen allerdings so stark, dass nicht alle eine feudale Position erhalten konnten. Soweit sie dann nicht im Heer oder als Beamte Anstellung finden konnten, wurden sie Kaufleute oder beackerten die ihnen verbliebene Parzelle. Und da das Land gleichzeitig mehr und mehr ins Ei­ gentum der früher hörigen Bauern überging, verloren sich die gesellschaft­ lichen Gegensätze. Die Zhōu-Dynastie dauerte vier Jahrhunderte, zerbrach dann aber am Ego­ ismus der Fürsten. Von da an ging es mit der königlichen Macht nur noch abwärts: Es begann die „Zeit der streitenden Reiche“, in der es zwischen den Territorialfürsten zu offener Rivalität kam. In dieser Zeit wurde jedoch der Gedanke geboren, künftig mit Gesetzen zu regieren. Die Fürsten bildeten grundlegende Institutionen eines Staatswesens aus; einige legten sich den Königstitel zu und brachten dadurch zum Ausdruck, dass sie keine höhere Macht über sich anerkannten. Unabhängige Denker entwickelten daneben neue staatspolitische Schulen. Einem der Fürstenhäuser, das eine solche Schule praktizierte, nämlich dem Hause der Q’ín, gelang es, seine Rivalen zu besiegen und einen Einheitsstaat zu gründen. Nach ihrem militärischen Sieg im Jahre 221 v. u. Z. stellten sie die Einheit des Reiches wieder her. Und zum Unterschied zu den Territorialfürsten nannten sie sich huáng-dì, was wir mit ‚Kaiser‘ übersetzen. Den Q’ín-Kaisern gelang es dank effizienter Administration, die Systeme künstlicher Bewässerung zu verbessern, Kanäle für die Schifffahrt zu bauen und so erstaunliche Leistungen wie den Bau der Chinesischen Mauer (mit 2.450 km Länge nach wie vor das größte Bauwerk der Erde) zu vollbringen. Auch das Besteuerungssystem wurde effektiver ausgestaltet, indem die Ab­ gaben künftig nicht mehr von den örtlichen Feudalherren, sondern zentral eingezogen wurden. Daneben bauten die Q’ín eine große Armee auf, mit deren Hilfe ihnen die Reichseinigung gelang. Doch anschließend entglitt ih­ nen die Beherrschung der Truppen. Mangels anderweitiger militärischer Be­

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schäftigung kam es zu Revolten, aus denen schließlich die Hàn-Dynastie hervorging. Begründer der Hàn-Dynastie war Liu Pang, ein Bauernsohn, der es erst zum Landgendarm, dann zum Räuberhauptmann und zuletzt zum Herrn über seine Heimatpräfektur gebracht hatte. Im Streit um die Macht wusste er sich gegen alle Widersacher durchzusetzen, so dass ihm 202 v. u. Z. die Kaiser­ würde zuteil wurde und er am Ende seiner Regierungszeit sogar den Ehren­ namen Kao (‚der Erhabene‘) erhielt. Nach einer vorübergehenden Beruhi­ gung der Verhältnisse unter dem Kaiser Wu (141–87) entstanden allerdings wieder Wirrungen: Räuberbanden durchzogen das Land, Diadochen be­ kämpften sich gegenseitig. Und in diesen Wirren ging schließlich auch das Hàn-Reich 220 zugrunde. China wurde in die ‚Drei Reiche‘ geteilt, und eine neue Zeit, vergleichbar dem europäischen Mittelalter, begann. (β) Wirtschaftliche Grundlagen. Wie in den meisten antiken Staaten beruh­ ten sowohl die indische als auch die chinesische Wirtschaft auf der Boden­ kultur. In Indien benötigte sie, wie schon in Mesopotamien und Ägypten, eine künstliche Bewässerung; denn das Industal glich dem Zweistromtal in­ sofern, als die Niederschlagsmenge für eine Bodenkultur nicht ausreichte, und es unterschied sich vom Niltal nur insofern, als der Indus mit seinen Nebenflüssen die Ebenen unregelmäßig (zwischen Mai und August) über­ schwemmte. Chinas Landwirtschaft dagegen kam in den Tälern des Jangtse­ kiang, des Hwangho und seiner Nebenflüsse ohne künstliche Bewässerung aus. Allerdings gab es neben dem Ackerbau dort in ältester Zeit auch ein Hirtennomadentum, das von den mongolischen Steppen des Hochlandes aus Raub- und Beutezüge unternahm und die Gegend verunsicherte. Deshalb musste man in den Tälern defensive Maßnahmen ergreifen und u. a. befes­ tigte Städte gründen. Indien beherbergte zwar in ältester Zeit ebenfalls Hir­ tennomaden; doch endete deren Kultur mit dem Einfall der Ārya, die aus Mesopotamien den Gersteanbau mit Pflug und Ochsen, die Bronzebearbei­ tung sowie den Wagenbau mitbrachten. Aufgrund dieser Veränderung in den Arbeitsbedingungen ging der bisher nomadisierende Teil der Bevölkerung zur Sesshaftigkeit über. Der Handel war vor allem für die Inder wichtig; sie förderten ihn, wo immer sie konnten – sowohl im Inland als auch in den Beziehungen zum Ausland. Dass sie mit ihren Bemühungen Erfolg hatten, darauf deuten Stan­ dardisierungen von Maßen und Gewichten sowie andere Indikatoren (insbe­ sondere die Karrenwagen) hin. Der Reichtum von Morenjo-Daro und Har­ appa dürfte ebenfalls hierauf zurückzuführen sein. Für die Chinesen spielte der Handel dagegen während des gesamten hier untersuchten Zeitraums keine große Rolle. Er beschränkte sich auf Güter, die ausschließlich in ein­ zelnen Gebieten des Reiches vorkamen wie etwa Salz, Eisen, Tee und Seide.



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Immerhin besaß die chinesische Sprache seit der Mitte des 2. Jt.s ein eigenes Wort (und ein eigenes Schriftzeichen) für ‚Handelsware‘ (huo), was auf de­ ren Heraushebung gegenüber der Eigenproduktion hindeutet. Doch in der Q’in-Zeit wurde der Vorrang des Ackerbaus zur offiziellen Staatsdoktrin, und der Handelsstand verfiel der Geringschätzung. Wohl gab es noch Händler und Kaufleute, die in Gilden zusammengeschlossen waren und denen es materiell sogar besser ging als den meisten Bauern. Aber sie rangierten in der Sozialhierarchie ganz unten und besaßen daher weder eine Machtstellung noch konnten sie politischen Druck ausüben. (γ) Rechtsbegriff und rechtliche Ordnung. Ebenso wie die anderen frühan­ tiken Staaten kannten die Inder und zunächst auch die Chinesen keinen Ter­ minus für ‚Recht‘. Gleichwohl kommt einem Teil ihrer Normen gemäß der hier gebrauchten Terminologie Rechtscharakter zu. Von den Hindus wurden die als Recht zu qualifizierenden Normen aus ei­ nem Grundbegriff entwickelt, der einerseits über das Recht hinausgeht, in­ dem er Religion und Moral einbezieht, andererseits das Recht nicht vollstän­ dig umfasst: aus der ‚Pflicht‘436 – so jedenfalls wird das indische Wort dharma (oder dharman) regelmäßig übersetzt.437 Seine Quellen waren ācāra, was ‚(gutes) Verhalten des Einzelnen‘ bedeutet, und caritra, was als ‚Verhal­ tensweise, Betragen‘, aber auch als ‚fortlaufende Übung, Brauch‘ verstanden werden kann. Doch während ācāra lediglich ein Ideal bezeichnete, gab cari436  R. Lingat (1973), S. XII. Vgl. auch J. D. M. Derrett (1956), S. 202; (1980), S.  499 f. 437  Einige Wissenschaftler übersetzen es auch mit ‚Rechtschaffenheit‘, wodurch es einen stärkeren Bezug zum allgemeinen sozialen Leben erhält. Seine etymologische Wurzel ist das Sanskritwort dhr, das sowohl ‚tragen‘ als auch ‚halten, stützen‘ bedeu­ tet. Dharma ist also, was allem Seienden zur Basis dient, was es erhält und stützt: Es ist sowohl die Wahrheit als auch die Richtigkeit. Vgl. Bṛhadāraṇyaka-Upaniṣad 1.4.14: „Was das Wahre ist, ist auch das Richtige. Deshalb sagt man von dem, der etwas Wahres ausspricht, ‚er spricht recht‘, und von dem, der etwas Richtiges aus­ spricht, ‚er spricht wahr‘.“ Die Wissenschaft vom dharma ist der dharmaśāstra (2300 Autoren und mehr als 4500 Abhandlungen; vgl. K. V. Kane, 1930, Anhang). Seine Bedeutung ist umstritten. Für die einen befasst er sich „zweifellos“ mit dem geltenden Recht, für die anderen beinhaltet er lediglich fromme Wünsche ohne öffentlich-rechtliche Sanktionen, und für die dritten besteht er aus panditischen (paṇḍit = indischer Gelehrter) Kommenta­ ren ohne Bezug auf die tatsächlich geübten Sitten. Vgl. einerseits J. D. Mayne (1986), no. 2; andererseits G. Das (1914), p. 8, 16; vermittelnd R. W. Lariviere (1997), S. 97 ff., S. 109: „The dharmaśāstras were not composed as literary templates to be applied in toto to every situation and every dispute without differentiation. They were collections of aphorism, guidelines, and advices which could be drawn upon when required to inform and validate a judge’s, or guru’s, or king’s opinion. In this way they are indeed concerned with the practical administration of law, but they are not in a modern, western sense ‚codes‘.“

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tra die Regel an, die auch vor Gericht durchgesetzt werden kann.438 Wir dürfen caritra also als indische Form eines Gewohnheitsrechts verstehen, das hier zum ersten Mal aufgeblüht ist. Die ersten Mitteilungen über das altindische Recht stammen aus dem vedi­ schen Zeitalter, also aus der Zeit nach dem Eindringen der Ārya in Indien (zwischen 1300 und 1200). Sie sind altindoarisch abgefasst und in Texten ent­ halten, die zumindest unmittelbar keinen Rechtscharakter haben. Ihre älteste und für uns wichtigste Abteilung, der Ṛg-Veda,439 enthält vor allem Hymnen an Götter, Dämonen, Ahnen und Könige. Allerdings wird dort auch festgelegt, dass die Verletzung der kosmischen Ordnung Sünde ist, die der Sühne bedarf, wo immer sie geschieht.440 Diese Sühne festzusetzen und vollstrecken zu las­ sen, sei Pflicht (dharma) des Königs; denn ihn habe der Gott Varuna, der Wächter über die kosmische Ordnung, zum Hüter des irdischen Rechts (vyavahāra) bestellt. Ferner heißt es dort, dass der Mensch noch über seinen Tod hinaus fortbestehe, woraus sich dann die Vorstellung entwickelte, dass die bösen Menschen auch nach ihrem Tod noch Strafe erleiden können. Richter über die Toten (dharmarāja) sei der unfehlbare Todesgott Yama. Allerdings trat, nachdem man sich den zyklischen Ablauf allen kosmischen Geschehens bewusst gemacht und diese Erkenntnis auf den Zyklus von Leben, Tod und Wiedergeburt übertragen hatte, an die Stelle der Lehre von den Höllenstrafen zunehmend die Lehre von der Selbstbestrafung: von der Verbrechenssühne in künftigen Existenzen (Gesetz des karma). Ob jemand ein sündiges oder von Sünden freies Leben geführt habe, lasse sich ‚objektiv‘ aus der Wiedergeburt in eine sozial höhere oder niedere Kaste441 sowie in gute oder widrige Lebens­ umstände ablesen. Für das Recht folgte daraus, dass die Menschen in ihrem abstrakten Wesen zwar gleich, in ihrer konkreten Daseinsform aber (aufgrund ihres unterschiedlichen karma) ungleich sind. Sozial müsse man folglich den Höhergestellten Respekt erweisen und ihnen gegenüber nicht auf seinem indi­ viduellen Vorteil bestehen. Rechtlich müsse beispielsweise nicht nur das Straf­ maß für Vergehen je nach Rang unterschiedlich ausfallen, sondern der Unter­ 438  J. D. M. Derrett (1979), S. 22: „Ācāra … impliziert die Bewertung eines in Frage stehenden Verhaltens, während caritra das, was das übliche Verhalten ist, wie­ dergibt.“ 439  Sein Alter ist umstritten, wird heute aber meistens auf die zweite Hälfte des 2. Jt.s geschätzt. Erste Aufzeichnungen stammen erst aus dem 1. Jh. v. u. Z., doch nimmt man an, dass die Texte bis dahin getreu überliefert worden sind. 440  Hierzu und zum Folgenden H. von Stietencron (1980), S. 547 ff. 441  Eine ‚Kaste‘ (siehe dazu noch unten G 4 b γ) bilden Personen, die bestimmten Berufen oder Berufsgruppen angehören und für die bestimmte Verhaltensregeln unter­ einander sowie gegenüber den Mitgliedern anderer Kasten gelten. Innerhalb der Hindu-Bevölkerung gab es Hunderte solcher Kasten, die in vier Gruppen eingeteilt wurden: die Brāhmanen (Priester), die Kshatriyas (Krieger), die Vaushyas (Kaufleute) und die Śūdras (Dienstboten und Handwerker).



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts267

schied im Rang auch bei der Entscheidung über einen zivilrechtlichen An­ spruch berücksichtigt werden. Auch sei aufgrund der Ungleichheit eine Ehe­ schließung zwischen Angehörigen verschiedener Kasten unerlaubt. Näher dem Charakter eines von den Sitten abgehobenen Rechts kamen die den Veden nachfolgenden Schriften: die Śrauta und Grihya Sūtras (‚Leitfäden‘). Sie stell­ ten Kompilationen von Regeln dar, die die Verse des Veda in strenge rituelle Formen einbanden und ihnen dadurch eine magische Wirkung verliehen.

Einen eindeutigen Bezug zum werdenden Recht hatten jedoch erst die Dharmasūtras. Sie enthielten Regeln nicht (nur) für die Vornahme ritueller Handlungen im täglichen Leben, sondern (auch) für das tägliche Leben über­ haupt. Die Regeln waren pedantisch genau, variierten aber je nach der Kas­ tenzugehörigkeit.442 Selbst der König wurde, obzwar Wächter über die Ein­ haltung der Regeln, in den Regelkanon eingeschlossen.443 In China muss es bereits in der Shāng-Zeit eine staatliche Rechtsordnung gegeben haben. Denn die Verwaltung des Reiches war schon damals so kom­ pliziert, dass man eine größere Beamtenschaft dafür benötigte. Aber wie in Indien ging das Recht in den traditionellen religiösen und moralischen Pflichten sowie in den Sitten und Gebräuchen auf, die man als lĭ zusammen­ fasste.444 Erst am Ende der Zhōu-Zeit bildete sich – in den Wirren der „kämpfenden Reiche“ – ein spezieller Rechtsbegriff aus: fă.445 Fă bedeutete ursprünglich lediglich ‚Modell‘, ‚(Verfahrens-)Norm‘, ‚Vor­ bild‘, später bedeutete es dann ‚Strafe‘, und noch später wurde es allgemein als das ‚geschriebene Gesetz‘ verstanden. Es löste yì ab, das zuvor als Leit­ linie für das menschliche Leben galt und mit Gerechtigkeit (im Sinne des suum cuique tribuere) übersetzt werden kann. Doch während yì noch gebot, 442  B. S. Cohn

(1967), p. 149 ff. Mulla (1966), p. 3: The king „did not claim to be the lawmaker; he only enforces the law“. N. C. Sen-Gupta (1953), p. 6: „Thus the dharmasūtras are the first works to lay down the lawyer’s law, the law to be administered by the king in his administration of justice.“ Bei den dharmasūtras handelt es sich um die fünf Gesetz­ bücher von Harita, Āpastamba (am besten erhalten), Gautama (alle spätestens An­ fang des 3 Jh. v. u. Z.), Baudhāyana und Vasiṣṭha (3.  Jh.  v. u. Z.). Ausführlicher gehal­ ten sind die späteren Rechtsbücher von Manu, Yājñavalkya, Nārada, Bṛhaspati und Kātyāyana. Zur Chronologie der dharmaśāstra vgl. D. F. Mulla (1966, p. 17 f.) und R. Lingat (1967, p. 143 pp., Vorbemerkung p.143: „La chronologie des dharmaśāstra, comme de tout ce qui touche à l’Inde ancienne, est des plus incertaines.“). Zitiert eine dharmaśāstra eine andere, ist man geneigt anzunehmen, dass die zitierte die ältere sei. Gleichwohl wird die in Yājñavalkya als Vorläuferin benannte Kātyāyana von P. V. Kane (1930), p. 175, als „much later“ eingestuft (weil die Benennung mögli­ cherweise von einem späteren Herausgeber stammt). Lingat selbst hält die oben ge­ nannte Reihenfolge für die wahrscheinlichste (p. 148). 444  S. K. Liau (1923), S. 137. 445  Zum Rechtswesen der Zhōu-Dynastie vgl. H. G. Creel (1970), p. 161 ff. 443  D. F.

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den Höherstehenden die ihnen gebührenden Rechte einzuräumen, sah fă eine Privilegierung besonderer Gruppen nicht mehr vor. Darin lag nicht etwa ein Wandel zu demokratischer Denkweise; vielmehr sollte vor allem die Macht des Herrschers gegenüber dem Adel gestärkt werden. In der Praxis bedeutete fă daher hauptsächlich das ius puniendi des Herrschers gegenüber seinen Untertanen und das Recht zum Erlass strafrechtlicher Normen für Ungehor­ sam gegenüber den hoheitlichen Befehlen. Das Familien-, Vermögens- und Handelsrecht dagegen blieb nach wie vor dem lĭ vorbehalten. (δ) Gesetzgebung und Rechtsprechung: In Indien gab es keine eigentliche Gesetzgebung. Was als Recht galt, war meistens theologisch fundiert. Nach Kautilīya (vor 150 v. u. Z.), der das Recht des Mauryastaates im III. Buch (Dharmastīyam) seiner Staatslehre behandelt, hatte der König die in den Veden enthaltenen Moralvorstellungen durchzusetzen, mithilfe seines staatli­ chen Machtapparats446 und seiner Entscheidungen in gerichtlichen Prozessen für die im Staat unentbehrliche Ruhe und Ordnung zu sorgen und das Ge­ wonnene an „Würdige“ zu verteilen. Nach dem Zerfall des Mauryareiches wurde das sogen. „Rechtsbuch (Dharmaśāstra) des Manu“, des sagenhaften Ahnherrn der Ārya, für die Rechtsentwicklung leitend.447 Doch handelt es sich auch hierbei nicht um eine Sammlung von Rechtsgesetzen, sondern um eine – teilweise in sich widersprüchliche – Kompilation von rechtlichen, re­ ligiösen und moralischen Vorschriften, die aus älteren brāhmanischen Rechts­ büchern hergestellt, aber als göttlicher Auftrag an Manu Svāyambhuva aus­ gegeben wurde.448 Für China nimmt man dagegen an, dass es schon in der Zhōu-Zeit ein Gesetzbuch gegeben habe, weil es neben fă auch das Wort diăn für Gesetze gab und dieses in der Schrift durch ein auf einem Tisch liegendes Buch sym­ bolisiert wurde.449 Sein Inhalt dürfte dem konfuzianischen Ideal der Gesell­ schaft entsprochen haben, wonach lĭ, die Gesamtheit der alten Riten und 446  Kauṭilīya I 4. 3; vgl. auch XV 1.1 f. Das indische Königtum war wahrschein­ lich erblich, die Macht des Königs aber durch die Brāhmanen begrenzt. Der Verwal­ tung des Reiches diente ein weitverzweigter Apparat, welcher von Ministern geleitet wurde, deren Macht bis in die untersten Schichten und in die entferntesten Teile des Reiches hineinreichte. 447  Die Entstehungszeit der Manusmrti ist ungewiss, liegt aber nicht vor dem 2.  Jh.  v. u. Z. (vgl. D. F. Mulla, 1966, p. 20). Die smrti von Yājñavalkya beruhen wei­ testgehend auf den Manusmrti, sind aber logisch klarer aufgebaut und inhaltlich libe­ raler. Auch geben sie den Verfahrensnormen ein größeres Gewicht – ein Zeichen da­ für, dass die Entwicklung seinerzeit im Fluss war: Sie stand am „Beginn des Kampfes gegen den/das Glauben“ und für ein objektives Prinzip, das der materiellen Welt übergeordnet ist (W. Ruben, 1979, S. 120 ff.). 448  Manusmrti (Hg. Vitthalaśarman), Bombay 1887, I 102. Gut greifbare deutsche Übersetzung des VIII. und IX. Buchs bei J. Jolly (1880). 449  H. G. Creel (1970), p. 105 f.



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts269

Bräuche, das menschliche Miteinander bestimmen sollte – jetzt aber nicht wie bisher als Summe von Formvorschriften, die man wahren muss, um die Harmonie von Mensch und Kosmos zu erhalten, sondern als Richtschnur für tugendhaftes Handeln. Nicht nur Gesetzgeber, sondern auch Vorbild sollte der Herrscher sein. Auch die weitere Rechtsentwicklung wurde durch das Zusammenspiel von fă und lĭ bestimmt, wobei während der Q’in-Zeit fă das Übergewicht erhielt, danach aber der Staat wieder zu lĭ, dem u. a. konfuzia­ nischen Wertesystem, zurückkehrte und alle Gesetze daran gemessen wurden, ob sie diesem System entsprachen.450 (ε) Rechtsentwicklung: So wenig wie für die politische Geschichte ihres Landes haben die Inder ein Interesse für die Geschichte ihres Rechts entwi­ ckelt. Heute ist es daher schwer, Entwicklungstendenzen aus den hinduisti­ schen Rechtsvorstellungen herauszulesen. Man ist gezwungen, sie aus jenem zufälligen Hintergrundmaterial zu rekonstruieren, das uns archäologische Monumente, eine in philosophischer und religiöser Absicht geschaffene Lite­ ratur und Berichte fremder Besucher zur Verfügung stellen.451 Erst außerhalb des hier untersuchten Zeitraums, nämlich mit dem Eindringen der Muslime, lichtet sich das Dunkel. Immerhin dürfte feststehen, dass bereits innerhalb des hier untersuchten Zeitraums sich eine eigenständige Rechtsordnung aus der Sittenordnung herausgebildet hatte, und zwar spätestens, seit die Rechts­ pflege den Königen anvertraut war. Diese Rechtsordnung hielt allerdings stets den Rückbezug zur Sittenordnung offen. Und weil die Sitten von Ort zu Ort wechselten, entstand niemals die Ansicht, dem Recht könne eine überört­ liche, gar universelle Richtigkeit zukommen. Recht war überall nur ein spe­ zieller Teil der ‚guten Sitten‘, und Rechtsverfahren waren darauf begrenzt festzustellen, was an Ort und Stelle als Sitte unverbrüchliche Geltung bean­ spruchen durfte (und daher Recht war) und ob ein konkretes Verhalten dem entsprach. Grundlage dafür war (mehr oder weniger fiktiv) der Veda, d. i. das ‚Wissen‘. Daneben standen als Rechtsquellen die Rechtslehren der Brāhmanen (die Dharmasūtras), die Hilfslehren des Veda (Grammatik, Phonetik usw.) und die Purāņas (Legenden und Sprüche) zur Verfügung.452 450  Vgl. zu dieser Entwicklung R. Heuser (1999), S. 94 ff.; H. Wimmer (2001), S.  117 ff. 451  Erste Berichte stammen von einem Griechen namens Skylax, den der Perserkö­ nig Dareios (lat. Darius) das Indusgebiet erforschen ließ (um 510 v. u. Z.). Wertvoller als diese (uns nur in Auszügen überlieferten) Berichte sind die eines Abgesandten des Königs Seleukos I. von Babylon namens Megasthenes, der in seinem Buch „Indika“ außer den geographischen auch die ethnographischen und sozialen Verhältnisse In­ diens beschreibt (um 300 v. u. Z.). 452  Teilweise abweichend die Aufzählung in Nārada 1.10–11: Dharma, Sitten, Ge­ rechtigkeitssinn und königliche Dekrete seien die vier Grundlagen von gerichtlichen Erkenntnissen.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Das frühvedische Denken kreiste noch um die Mythologie. Unter den Hauptgöttern ragte Varuna hervor. Er schützte rita, die Ordnung des gesamten Universums und somit auch die des menschlichen Lebens und der anzuwendenden Rituale, und er bestrafte alle, die sich anrita verhielten. Deshalb beteten die Menschen zu ihm und baten ihn um Vergebung ihrer Missetaten. Der irdische Schutz des rita und die Be­ strafung derer, die sich dagegen vergingen, blieb freilich nicht allein dem Gott vorbe­ halten, sondern war auch Aufgabe der Gemeinde, in der der Übeltäter lebte. Welche Strafe sie zu verhängen habe und welches Reinigungsritual angemessen sei, darüber gaben ihr die Brāhmanen Auskunft. Als die Macht der Könige zur Zeit der Dharmasūtras wuchs, wurden sie auch zu Gerichtsherren.453 Ihre Kompetenz umfasste im Strafrecht schwere sozioreligiöse Vergehen, aber auch die Nichtbezahlung einer Schuld (ein Delikt, das schlimmer war als der Diebstahl); im Zivilrecht betrafen die Streitigkeiten, die vor die Könige ka­ men, hauptsächlich die Hingabe von Darlehen oder von Pfandstücken. Ratgeber für die Entscheidungen waren wiederum die Brāhmanen, ja es war sogar die Pflicht des Königs, einen studierten Brāhmanen, später sogar einen ganzen Rat (sabhā) gelehrter Männer um sich zu versammeln und sich sagen zu lassen, wie er gerecht gemäß dem dharma zu urteilen habe.454

Nur theoretisch war das gesamte Recht in den Veden aufgezeichnet und damit religiös begründet, praktisch war es als Gewohnheitsrecht (caritra) überkommen.455 Auch wenn der König in die Rechtsprechung eingriff, tat er es nicht in seiner Eigenschaft als Gesetzgeber, sondern als höchster Richter, weshalb seinen Urteilen lediglich eine das vedische (bzw. Gewohnheits-) Recht konkretisierende oder seine Lücken füllende Bedeutung zukam. Voran­ getrieben wurde die Rechtsentwicklung dagegen durch die Entwicklung der Sitten. Und wenn irgendwo Savignys Wort anwendbar ist vom „organischen Zusammenhang des Rechts mit dem Wesen und Charakter des Volkes“, wes­ halb das Recht „mit dem Volke fortwächst, sich mit diesem ausbildet“456, dann am ehesten in Bezug auf die indische Gesellschaft. Sie entwickelte sich von einer reinen Agrargesellschaft zu einer vor allem Handel (zu Land und See) treibenden Gesellschaft und spiegelte diese Entwicklung auch in ihren smrtis wider. Und sie war sich dieser Entwicklung auch bewusst, denn sie ehrte den Stand der Kaufleute, indem sie seine Vertreter neben die

dazu W. Ruben (1968), S. 93. Sen-Gupta (1953), p. 41 ff., 327. 455  R. W. Lariviere (1997), S. 98, 109: „I believe that the dharmaśāstra literature represents a peculiarly Indian record of local social norms and traditional standards of behavior. It represents in very definite terms the law of the land.“ Ähnlich auch D. F. Mulla (1966), p. 10 f.: „It was law by acceptance – ius receptum – and constituted in part of collections of precepts claimed as of divine origin and in part of conventional and customary law. … The Smritikars … only claimed to be the exponents of the ­divine precepts of law and compilers of traditions.“ Siehe ferner oben Fn. 443. 456  F. C. von Savigny (1814), S. 11. 453  Näher 454  N. C.



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts271

brāhmanischen Priester in den Rat des Königs berief, damit sie dort das Recht mit beschließen konnten. Insgesamt sind somit für die indische Rechtsentwicklung hauptsächlich jene Gesetzmäßigkeiten wirksam geworden, die bereits in den prästaatlichen Gesellschaften vorantreibend waren: (1) die im Gleichschritt mit den sozia­ len Strukturen der Bevölkerung anwachsende Differenziertheit der verpflich­ tenden Regelungen, (2) die Ausweitung der königlichen Gesetzgebung bzw. Rechtsprechung auf Felder, die ursprünglich von örtlichen Autoritäten oder Verbänden besetzt waren, (3) die Zunahme der kulturellen Kontakte zwi­ schen den eingeborenen Völkern Indiens und den neu eingewanderten Ārya, die einerseits zur Vereinheitlichung des Rechts, andererseits kraft Diffusion zu seiner Bereicherung mit zuvor unbekannten Institutionen führten.457 • Als Beispiel für die zunehmende Differenziertheit der rechtlichen Regelungen mag das Depositum dienen. Von Kautilīya wurde es noch als Sammelbegriff für unter­ schiedliche Formen des Anvertrauens eigener Sachen an fremde Personen verstan­ den: als Pfand, Mietsache, Kommissionsware, Arbeitsmaterial u. dgl. Yājñavalkya und seine Nachfolger schufen dagegen differenzierte Regeln nicht nur im Hinblick auf die Art der hingegebenen Sache und den Zweck der Hingabe, sondern auch für die Haftung, falls die Sache nicht zurückgegeben werden konnte.458 • Ein Beispiel für die Erweiterung der königlichen Zuständigkeit für Gesetzgebung bzw. Rechtsprechung ist die Verfolgung von Sittlichkeitsdelikten. Soweit die De­ linquenz sich im häuslichen Rahmen abspielte, wurde sie anfangs nur religiös und sozial sanktioniert.459 Im Laufe der Zeit aber wurde sie auch zum Gegenstand königlicher Rechtssetzung, die immer genauer zwischen Formen sowohl des Ehe­ bruchs als auch des Inzestes unterschied.460 • Die Bedeutung kultureller Kontakte innerhalb der Völker Indiens kann am Beispiel der Verschmelzung arisch-matrilinearer mit frühindisch-patrilinearer Verwandt­ schaftsvorstellungen verdeutlicht werden. Da bei Matrilinearität die von der Mutter geborenen Söhne unabhängig davon, welche Väter sie gezeugt haben, zur Familie gehören, in der frühen vedischen Gesellschaft aber gerade die Zeugung die Kind­ schaft begründete, mussten bei einem Zusammenwachsen beider Kulturen die Söhne der Frau als Söhne auch des Mannes anerkannt werden, sobald es zur Ehe­ schließung kam. Dies geschah, indem man das Konzept der Zweitsöhne (purāṇadristāh) entwickelte.

Im chinesischen Recht lässt sich die Rechtsentwicklung am deutlichsten während der späten Zhōu- und sich anschließenden Q’ín-Periode erkennen. Wie erwähnt, war die Endzeit der Zhōu-Periode, die Zeit der ‚streitenden 457  N. C.

Sen-Gupta (1953), p. 333 ff. dazu N. C. Sen-Gupta (1953), p. 241 f. 459  Der Ehebruch der Frau etwa dadurch, dass sie künftig „ihrer Würde beraubt, schmutzig, nur zur Notdurft essend, hart behandelt, auf den Fußboden schlafend“ gehalten wurde (Yājñavalkya I 70). 460  Vgl. Vasiṣṭha, 20.13–16, 21.1–17. 458  Vgl.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Reiche‘, nicht nur mit militärischen, sondern auch mit geistigen Auseinan­ dersetzungen ausgefüllt. Konfuzianer, Legalisten, Mohisten und Daoisten stritten um Grundsatzfragen des sozialen Lebens und die Aufgabe des Rechts. • Die Konfuzianer argumentierten rückwärtsgewandt: Sie wollten die gute alte West­ liche Zhōu-Zeit wiederherstellen, in der die soziale Ordnung der Sitten (lĭ) auf­ rechterhalten wurde, als jeder sich seinem sozialen Rang gemäß benahm und sich dadurch Anerkennung unter seinen Mitmenschen erwarb.461 Wer davon abwich, wer aus der Rolle fiel, die ihm der Himmel (tién dào) zudiktiert hatte, dessen Be­ zeichnung war ‚richtigzustellen‘ (zhèng-míng), d. h. sein sozialer Rang war neu zu bestimmen. Das Recht (fă) habe nur einzugreifen, wenn er sich nicht von selber füge.462 • Entgegengesetzt argumentierten die Legalisten.463 Ihr Blick war nach vorne ge­ richtet: Der soziale Rang des Einzelnen sei nicht vom Himmel bestimmt und ver­ erbe sich auch nicht vom Vater auf den Sohn; vielmehr werde er durch persönliche Leistung (insbesondere in der Landwirtschaft oder im Kriegsdienst) erworben. Leitend für richtiges Verhalten sollten nicht metaphysisch begründete Klischees und magische Rollenbezeichnungen sein, sondern allein die staatlichen Gesetze, die für jedermann in gleicher Weise gälten. Nach Han Fe464 „gibt es für einen klugen Herrscher nur einen rechten Weg des Regierens: Er vereinheitlicht die Ge­ 461  Konfuzius war der Meinung: „Wenn man durch Erlasse leitet und durch Strafen ordnet, so weicht das Volk aus und kennt keine Scham. Wenn man es durch die Tu­ gend (dé) leitet und durch die Riten (lĭ) ordnet, kennt es Scham (Gewissen) und wird Haltung zeigen“ (Lùnyü II,3). Der Kernsatz seiner Lehre lautete: jūn jūn chén chén fù fù zĭ zĭ (‚Der Fürst sei [= verhalte sich] wie ein Fürst, der Untertan wie ein Untertan, der Vater wie ein Vater, der Sohn wie ein Sohn.‘). Dazu auch E.-J. Lampe (1988), S. 80. Die Kritik warf der konfuzianischen Lehre Neigung zu einem idealisierten Bild des Menschen vor; eine Schichtung der Bevölkerung in einerseits edle, andererseits gewöhnliche Menschen leiste der Gefahr Vorschub, dass nur die gewöhnlichen Men­ schen bestraft würden, die edlen Menschen aber straffrei ausgingen. 462  Vgl. dazu auch O. Weggel (1980), S. 13 f.: „Mit der Geltung des li verhält es sich ähnlich wie mit dem automatischen Funktionieren gewisser präjuristischer Rege­ lungen innerhalb einer ‚normalen‘ Ehe- und Familiengemeinschaft. Wo eine Ehe ‚stimmt‘, sind rechtliche Regelungen überflüssig. Nur dort, wo die Harmonie aufhört, beginnt das Recht mit seinen hölzernen Fingern einzugreifen.“ Den Begriff fă, wel­ cher ‚Muster‘ bedeutet, haben allerdings erst die Mohisten (s. u.) in ihre Studien zur Dialektik eingeführt. 463  Die Legalisten (auch ‚Legisten‘ genannt) waren nicht etwa Juristen, sondern teils Politiker, teils Staatsphilosophen, ausgestattet einzig mit einer gewissen Kenntnis der Gesetzgebungstechnik. Zu ihnen T. Tai (1969). 464  Han Fe (um 280–233 v. u. Z.) war ein Hauptvertreter der legalistischen Schule. In seinem Hauptwerk Han-Fe-Tse trat er u. a. dafür ein, dass es im Staat keine ande­ ren als die Rechtsbücher geben soll. Als seine Lehre während der Q’ín-Dynastie systematisch durchgeführt wurde, verbrannte man in vierjähriger Arbeit die gesamte klassische Literatur und bestrafte diejenigen Personen, die sich über einen Klassiker unterhielten, mit dem Tode. „Es war dies zwar durchaus nicht das einzige Mal, dass China unter einem despotischen System stand, aber das einzige Mal, das man das offen zugab“ (W. Bauer, 1965, S. 161).



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts273 setze und verliert sich nicht in der Suche nach Weisheit. … Er sorgt sich nicht um die Tugend, sondern befasst sich mit dem Gesetz.“465

• Doch was sollten die staatlichen Gesetze lehren? Die Schule der Mohisten466 stütz­ te sich auf utilitaristische Erwägungen: Richtig sei ein Verhalten, das nicht nur ei­ nem selber nützt, sondern auch anderen – allen anderen! Denn so wie der große Gott Tian alle Menschen liebt und daher allen Nutzen bringt, sollten es die weisen Könige und ihre Verwaltungsbeamten ebenfalls halten.467 Gute Gesetzgebung be­ deute, diejenigen mit Strafen einzuschüchtern, die anderen schaden, und diejenigen mit Belohnungen zu ermuntern, die anderen einen Vorteil bringen. Alsdann würden die Menschen der Liebe zur ganzen Menschheit und dem Austausch von Vorteilen ebenso zuneigen, „wie das Feuer hochschießt und das Wasser bergab fließt“468. • Die Liebe zur ganzen Menschheit hätte allerdings verlangt, dass jeder die ganze Menschheit kennt. Das ist jedoch unmöglich. Die Daoisten verlangten infolgedes­ sen nur die Kenntnis der natürlichen Gesetzmäßigkeiten, denen die ganze Mensch­ heit unterliegt. Das Dao sei die Gesamtheit der potentiellen Handlungsmuster, welche die Natur den Menschen in die Wiege gelegt hat. Aber verwirklichen sich diese Muster nicht in jedem Einzelnen auf eine besondere Weise? Am Ende ihrer Lehre steht daher ein großes Fragezeichen: Gibt es eine einzig richtige Gesetzge­ bung?

Die Legalisten setzten sich durch – zunächst jedenfalls. Ihre politische Leistung bestand darin, dass sie das Lehnswesen abschafften und an die Stelle des traditionellen Polyzentrismus den kaiserlichen Zentralismus setz­ ten. Auf der Grundlage ihrer Lehre schuf das Fürstenhaus der Q’ín in kürzes­ ter Zeit ein chinesisches Großreich mit einem einheitlichen Machtzentrum, das militärisch hochgerüstet und mit den modernsten Waffen (Armbrüsten, Hellebarden) ausgestattet war. Seine geistige Leistung bestand darin, dass es ein wirkungsvolles Rechtssystem schuf, mit dessen Hilfe das immer größer und immer volkreicher werdende chinesische Riesenreich fast zweitausend Jahre lang regiert werden konnte.469 Zwar setzte sich in der nachfolgenden Hàn-Zeit die Schule der Konfuzianer wieder durch. Kaiser Wu erhob sie so­ gar zur Staatsdoktrin und stellte damit die moralische Erziehung des Men­ schen wieder in den Mittelpunkt staatlichen Handelns. Doch schaffte er we­ der das Rechtssystem der Q’ín ab noch die hierauf beruhende unnachsichtige W. Mögling (1994), S. 557, 572. Di lebte in der zweiten Hälfte des 5. Jh. v. d. Z. Zu ihm Y. P. Mei (1929). 467  Y. P. Mei (1929), p. 14 f. 468  Y. P. Mei (1929), p. 32 f. Dass Belohnungen und Strafen der menschlichen Na­ tur angemessen sind und sie zum Guten lenken, betonten auch die Legalisten. E. Kroker (1970, S. 41) zitiert dafür den Legalisten Han Fe: „Die Natur [des Menschen] hat Neigungen und Abneigungen. Aus diesem Grund gibt es Belohnungen und Strafen. [Nur] weil man Belohnungen und Strafen einsetzen kann, ist es auch möglich, Anord­ nungen und Verbote zu erlassen.“ 469  Vgl. dazu K. Bünger (1980), S. 451 ff. 465  Dazu 466  Mo

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Ahndung schwerer Verbrechen an Personen, auf die die Erziehung ihre Wir­ kung verfehlt hatte. Im Gegenteil wurden wesentliche Elemente der konfuzi­ anischen Moral nunmehr zu Bestandteilen der Gesetze, und ein allgemeiner ‚Auffangtatbestand‘ stellte sogar Deckungsgleichheit zwischen Moral und Recht her. Die Vorschriften der Moral sollten demnach das soziale Zusam­ menleben bestimmen, während die Rechtsgesetze das notwendige Übel seien, das der Staat aber brauche, um moralwidriges Verhalten zu bestrafen. Man hatte unter dem Mantel des Konfuzianismus also den Kern der legalistischen Lehre und der Methode ihrer Durchsetzung erhalten!470 Das von den Legalisten geschaffene Rechtssystem471 wies nur ein geringes Abs­ traktionsniveau auf. Beispielsweise enthielt der Strafrechtskodex (lü) eine Unzahl von Tatbeständen (angeblich 3000, nach anderen Quellen sogar 26.272), die sich nur we­ nig voneinander unterschieden und einer Fallsammlung ähnlicher sahen als einem Gesetzbuch. Auch das Eherecht erging sich in der Aufzählung einer Unzahl von Ehehindernissen.472 Offenbar war der chinesische Geist, nicht zuletzt infolge seiner Schulung durch die ideographische (d. i. auf das Gegenständliche bezogenen) Schrift, nicht bereit, aus der Vielzahl sozialer Erscheinungen die wesentlichen Merkmale begrifflich herauszuschälen und sie zur Grundlage von Normen zu machen. Dass er aber immerhin auf dem Wege dahin war, bezeugen die klarere Gliederung der Gesetze, die wachsende Allgemeinheit wenigstens eines Teils der Straftatbestände sowie einige Legaldefinitionen473 im T’ang-Kodex (Mitte des 7. Jh.s u. Z.) und in den Gesetzen der nachfolgenden Dynastien.474

Von dem Schulstreit unberührt war ein weiterer Charakterzug des chinesi­ schen Staates geblieben, der sich auch auf das Recht übertrug: Seine Herr­ scher bedurften umfassender Befugnisse gegenüber ihrem Volk, damit sie ihren umfassenden Pflichten zur Sorge für ihr Volk nachkommen konnten. Dieser Charakterzug ließ weder eine Trennung zwischen öffentlichem und privatem Recht noch zwischen Verwaltung und Rechtsprechung zu. Bei­ spielsweise sollten alle Richter gleichzeitig Detektive, Ankläger und Verwal­ 470  H. von Senger (1991, S. 375 f.) gibt dies als Meinung chinesischer Rechtsge­ lehrter aus dem Institut der chinesischen Akademie für Gesellschaftswissenschaften in einem ihm gewährten Interview wieder: „Nach außen hin gaben sich die chinesi­ schen Kaiser konfuzianisch, insgeheim aber waren sie Legisten. Diesen Sachverhalt kann man umschreiben mit Redewendungen wie ‚yang ru yin fa‘ = ‚Im Lichte kon­ fuzianisch, im Dunkel legistisch‘ und ‚ru biao fa li‘ = ‚konfuzianisch die Hülle, legis­ tisch der Kern‘.“ 471  Der erste von den Legalisten geschaffene Rechtskodex wird auf das Jahr 535  v. u. Z. datiert. 472  Vgl. dazu H. Engelmann (1928), S. 207 ff. 473  Etwa die Definitionen des „Schuldners“ (fu zai zhe) in § 398, des „Ausländers“ (hua wai ren) in § 48 und der „zweifelhaften Straftat“ (yi zui) in § 502. 474  Das T’ang-Recht wurde in der Folgezeit fast unverändert angewandt und ledig­ lich durch einige Verordnungen ergänzt. Kommentare und Fallsammlungen zum T’ang-Kodex waren sogar noch bis 1912 von Bedeutung.



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts275

tungsbeamte sein, um an der umfassenden Staatsaufgabe, im Innern für die Einhaltung der Sittenordnung zu sorgen, teilnehmen zu können. Doch oblag diese Aufgabe den Richtern selbstverständlich nicht allein. Das ganze Volk war vielmehr aufgerufen, sich an der Erfüllung der Staatsaufgabe zu betei­ ligen. Ein Heer von Soldaten sollte die Widersacher des Königs, die aufmüp­ figen Fürsten der Einzelstaaten, die nach Herrschaft strebenden ­Adligen des eigenen Staates, bekämpfen. Die Bauern sollten genügend Ernteüberschüsse abliefern, um das Heer, aber auch die Unzahl staatlicher Beamter mit Nah­ rung zu versorgen. Und vor allem sollte jedermann seine Nächsten bespit­ zeln, ob sie genügend staatstreue Gesinnung besaßen und ob sie bereit waren, den Interessen des Kaiserhofs zu dienen, ferner beim Aufspüren seiner Feinde mitzuwirken und alle Feinde, die sie aufgespürt hatten, einer strengen Bestrafung zuzuführen. Geschah dennoch ein Verbrechen, dann drohte nicht nur dem Verbrecher eine strenge Strafe, sondern auch denjenigen, in deren Umfeld es geschehen war und denen die Vorbereitungen dazu entgangen waren: den Familienmitgliedern sowie den Nachbarn und Bekannten, sofern sie sich nicht von jedem Verdacht der Mitwisserschaft oder gar der Beihilfe befreien konnten. Wie streng die Strafen waren, möge ein Auszug aus einem frühen Hàn-zeitlichen Gesetzbuch verdeutlichen: „Wenn die Strafe für ein Vergehen das Tätowieren ist, soll demjenigen, der bereits tätowiert ist, die Nase abgeschnitten werden. Demjenigen, dem die Nase bereits abgeschnitten wurde, soll der linke Fuß, demjenigen, dem der linke Fuß bereits fehlt, auch noch der rechte Fuß amputiert werden. Derjenige, dem auch schon der rechte Fuß amputiert wurde, soll kastriert werden.“475

3. Die Rechtsentwicklung in Griechenland und Rom Mit Griechenland und Rom beginnt die europäische Geschichte des Rechts. Und entsprechend der großen Bedeutung, die dem Recht in beiden Staaten beigemessen wurde, sowie der Fülle von überkommenen Dokumenten, die seine Bedeutung belegen, ist seine Geschichte weitaus besser erforscht als die Rechtsgeschichte aller anderen antiken Staaten. (α) Politische Geschichte: Die Wissenschaft teilt die altgriechische Ge­ schichte in mehrere Abschnitte ein, zwischen denen teilweise scharfe Ein­ schnitte liegen. An ihrem Beginn steht die kretische Geschichte, die eigent­ lich eine Vorgeschichte ist, etwa von der Mitte des 3. Jt. bis zum Jahr 1200 v. u. Z. währte und eine Zeit reicher städtischer Kultur war. Die seit dem 20. Jh. entstandenen kretischen Paläste (Phaistos, Knossos, Mallia, Cha­ nia, Zakros) waren Brennpunkte eines hoch entwickelten politischen, wirt­ schaftlichen und kulturellen Lebens. Von dort aus verwaltete man die umge­ 475  Beispiele

für den Vollzug dieser Strafen bei A. F. Hulsewé (1955), S. 124 ff.

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benden städtischen (oft mit Häfen versehenen) Siedlungen sowie die Dörfer der Ackerbauern und Viehzüchter. Tätig war ein Beamtenapparat, der sich einer auf Tontafeln eingeritzten Schrift (Linear-A) bediente. Ein halbes Jahrtausend später entwickelte sich auf dem Festland und der Peloponnes die mykenische Kultur. Ihre Zentren waren wiederum Paläste inmitten befestigter Städte, von denen außer Mykene noch Tiryns, Pylos, Athen und Theben herausragten. Machtgrundlage war abermals ein stark zentralisierter Verwaltungsapparat, der sich einer Schrift (Linear-B)476 be­ diente. Anders als die Kreter allerdings expandierten die Mykener, und zwar so stark, dass sowohl in der Ägäis als auch im östlichen und mittleren Mit­ telmeergebiet ab dem 15. Jh. an Stelle der kretischen die mykenische Kultur die Oberhand gewann. Im 12. Jh. welkte indessen auch die mykenische Kultur; ihr Untergang wird vor allem auf Naturkatastrophen und dadurch ausgelöste ökologische Veränderungen zurückgeführt. Ein ‚dunkles‘ Zeitalter brach an (bis etwa 750), das nur durch die beiden Epen „Ilias“ (um 730) und „Odyssee“ (um 700) des sagenhaften Dichters Homer etwas erhellt wird und das aufgrund großer Wanderungsbewegungen aus dem Norden neue Stämme nach Griechenland brachte. Das anschließende Zeitalter der Kolonisation (bis etwa 540) begann mit einer Welle von Städtegründungen durch griechische Händler. Ihre wirt­ schaftliche Grundlage besaßen diese Stadtgemeinden in den umliegenden Dörfern, deren Bevölkerung sie sich untertan machten. Die weitere Vermeh­ rung der Bevölkerung erforderte dann nicht nur wirtschafts- und handels­ politische Maßnahmen zur Sicherung der Lebensgrundlagen, so u. a. die Si­ cherung von Bodenschätzen und Handelsrouten. Sie führte auch zur Expan­ sion in den gesamten Mittelmeerraum. Besonders in Sizilien und an den Küsten des Bosporus und des Schwarzen Meeres entstanden als griechische Gründungen rasch wachsende Gemeinden.477 476  Sie ist die einzige bisher entzifferte Silbenschrift aus der bronzezeitlichen Ägäis. Sie gibt nur offene Silben (d.s. Silben mit einem Konsonanten und einem nachfolgenden Vokal) wieder, während sie andere Silbentypen entweder durch Einfü­ gung eines Vokals oder durch Unterdrückung eines Konsonanten darstellt. Wir besit­ zen von ihr fast 6.000 Texte mit einem umfangreichen Vokabular und zahlreichen Elementen grammatischer Strukturen. Die ältesten Texte (um 1400 v. u. Z.) stammen aus Knossos. 477  Einen Abriss der Siedlungsgeschichte, an dessen Ende die Griechen rund um das Mittelmeer saßen wie „Frösche um einen Sumpf“ (Platon, Phaidon 109b), gibt Thukydides, Peleponnesischer Krieg, Buch VI. Innerhalb des Stammlandes wird die Gründung von Athen als wichtigster Stadt dem Heroen Theseus zugeschrieben. Plutarch beschreibt sie so: Theseus „schloss die Bewohner Attikas zu einem Staat zusammen und machte Menschen, die bis dahin verstreut lebten, zu einer Bürgerschaft… Er hob also die in den einzelnen Siedlungen bestehenden Prytaneien, Rathäuser und Obrigkeiten auf und schuf ein neues Pry­



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Um 500 begann dann die klassische Zeit des Hellenismus. Trotz kriegeri­ scher Auseinandersetzungen mit den Persern und ständiger Zwietracht der griechischen Städte untereinander entstanden wesentliche Grundlagen der europäischen Kultur; in den Schriften der großen griechischen Philosophen, Dichter und Geschichtsschreiber sind sie uns bis heute lebendig geblieben. Das Schwergewicht der Rechtsentwicklung allerdings verlagerte sich nach Rom. Rom entstand um die Mitte des 8. Jh.s v. u. Z. am Südrand von Etrurien als Folge der Kolonisierung der Küsten Süditaliens durch den griechischen Stamm der Euböer. Beherrscht wurde es seit Ende des 7. Jh.s allerdings von etruskischen Königen und erst nach deren Sturz (ca. 510) von einer spezi­ fisch römischen Aristokratie: einem patrizischen Senat, der die Regierungs­ geschäfte führte, einem Prätor als oberstem Feldherrn und Richter sowie zwei jährlich neu zu ernennenden (später: zu wählenden) Konsuln. Obgleich fast ständig in irgendeinen Krieg verwickelt, wurde es schnell zur stärksten Macht des Altertums. Selbst innere Spannungen konnten seine Expansion nicht bremsen. Dennoch ist historisch am wichtigsten der interne Kampf in Rom um die politische Gleichberechtigung aller sozialen Schichten. Grund dieses Kampfes war eine Militärverfassung, der zufolge sämtliche männ­ lichen Bürger zwischen 17 und 60 Jahren zum Kriegsdienst verpflichtet waren.478 Da hiervon auch die soziale Unterschicht, die Plebejer, betroffen waren, meinten diese, dass, wenn sie schon für ihren Staat kämpfen sollten, sie auch an seiner politischen Macht teilhaben müssten. Als ihnen die römischen Aristokraten das aber verwehrten, probten sie schließlich den Aufstand. Dieser nahm zusätzlich schärfere Formen an, weil es dabei nicht allein um die Erlangung der politischen Gleichberechtigung ging, sondern auch um die Folgen eines wirtschaftlichen Niedergangs, der Rom infolge von Seuchen und misslungenen Feldzügen betroffen hatte und den die Plebejer stärker als die oberen Schichten zu spüren bekamen. Not und Verzweiflung der Plebejer waren schließlich derart, dass es ihnen – kaum ein Menschenalter nach dem Sturz der Kö­ nigsherrschaft und der Gründung der Republik – in schweren Kämpfen gelang, vom Adel das Recht zur Kontrolle der Verwaltung und des Einspruchs gegenüber allen Verwaltungsakten zu erzwingen. Recht sollte künftig von erwählten Volkstribunen ausgeübt werden.

Auch nach der Erlangung politischer Rechte und sozialer Erleichterungen war der Kampf der Plebejer gegen die Patrizier nicht zu Ende. Sie zwangen den römischen Senat, ihrem stark ausgeprägten Bedürfnis auch nach Rechts­ taneion und Rathaus dort, wo jetzt die Altstadt steht, nannte den ganzen Staat ‚Athen‘ und stiftete ein Fest für alle Panathenäen“ (Lebensbeschreibung des Theseus, 24). Die Herkunft der Athener aus unterschiedlichen Stämmen hat später im Inneren das Frei­ heitsbedürfnis des Einzelnen und die demokratische Tendenz der Gemeinschaft be­ günstigt, nach außen hin die Offenheit der Stadt für Handel und Verkehr. 478  Im Gegensatz dazu stützten sich Karthago und die hellenistischen Reiche auf Söldner.

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sicherheit zu entsprechen und zehn Männer mit der schriftlichen Aufzeich­ nung des bestehenden Rechtszustands zu beauftragen. Nach Erkundungen in den griechischen Stadtstaaten legten diese schließlich ein Gesetz vor, das auf zehn hölzerne Tafeln geschrieben war und allen sichtbar auf dem römischen Forum aufgestellt wurde. Vervollständigt durch zwei weitere Tafeln, blieb es als XII-Tafelgesetz seit 451 v. u. Z. ein Jahrtausend lang das ‚Grundgesetz‘ (fons omnis publici privatique iuris) des römischen Staates. Es garantierte allen römischen Bürgern und damit auch den Plebejern, was diese sich sehn­ lichst gewünscht hatten: die rechtliche Gleichheit. Was es den Plebejern da­ gegen nicht garantierte, war die soziale Gleichheit. Deshalb zwangen sie den Senat, in Nachtragsgesetzen nicht nur ihren Volkstribunen und ihren für die Gerichtsbarkeit zuständigen Ädilen Unverletzlichkeit zu garantieren, sondern darüber hinaus ihnen allen das Recht zuzugestehen, Angehörige des Patri­ ziats zu heiraten (449 bzw. 445). Danach blieben ihnen nur noch das Konsu­ lat und das Priesteramt des pontifex verschlossen – doch auch das lediglich vorerst, denn 367 bzw. 300 fielen selbst diese Bastionen des Adels und damit jegliche Ungleichheit. Währenddessen war trotz allen sozialen Spannungen im Innern die Ex­ pansion Roms in das italische Territorium weitergegangen. Durch den Bau von Straßen, aber auch durch eine ethnisch differenzierte Politik gelang es den Römern, das gesamte italische Territorium zu einem einheitlichen Reich zu einigen. Der Einfall Hannibals (218: Überquerung der Alpen; 216: Sieg in der Schlacht von Cannae; 211: Erscheinen vor den Toren Roms) bedeu­ tete danach nur eine Störung, aber kein Ende der Expansion. Und als es 146 v. u. Z. im Gefolge des 3. Punischen Krieges sogar gelang, Karthago zu zerstören und die hellenischen Königreiche zu unterwerfen, war klar, dass Rom künftig die herrschende Macht im gesamten Mittelmeerraum sein werde. (β) Wirtschaftliche Grundlagen. Wie überall, schuf auch im Bereich der Ägäis ursprünglich die Landwirtschaft die Lebensgrundlage für die Men­ schen. Charakteristische Nutzpflanze war die Olive, gezüchtet wurden haupt­ sächlich Ziegen. Daneben stellte man Textilien und keramische Erzeugnisse her – teils zum Eigengebrauch, teils als Handelsware sowie zum Transport des Olivenöls. Siedlungen befanden sich vor allem auf den sicheren Höhen der Berge, meist nicht weit vom Meer, damit Handelsbeziehungen mit den übrigen Anrainerstaaten (Ägypten, Syrien, Anatolien) gepflegt werden konn­ ten. Der wirtschaftliche Reichtum der Bewohner scheint größer gewesen zu sein als in den ägyptischen und mesopotamischen Städten. Im 12. Jh. kam es jedoch aus weitgehend ungeklärten Ursachen zum schnellen Niedergang: Die Paläste wurden zerstört, das Volk versank in Armut. Die ‚dunklen Jahrhun­ derte‘ begannen und reduzierten die Wirtschaft wieder auf Ackerbau und Viehzucht.



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Seit dem 8. Jh. breitete sich dann von Griechenland abermals ein reger Handel über das Mittelmeer aus. Kaufleute drangen bis in entlegene Gebiete vor, gründeten Niederlassungen, die sich manchmal zu Städten ausweiteten. Aber auch Architekten, Handwerker und Abenteuerlustige verließen die Hei­ mat, um sich bei fremden Herrschern als Dienstleistende oder Söldner zu verdingen oder um ein freies Leben, etwa als Seeräuber, zu führen.479 Auf dem italischen Festland und auf Sizilien kreierten die Griechen in der Land­ wirtschaft neue Anbaumethoden: Fruchtwechsel und Brache verbesserten die Bodennutzung, neue Getreidesorten erhöhten den Ertrag, Ölbäume und Weinstöcke gediehen in reicher Zahl. Ebenfalls nahm das Handwerk überall einen raschen Aufschwung. Arbeitsteilung kam in allgemeinen Gebrauch, neue Gerätschaften erhöhten die Produktivität. Die Bevölkerung wuchs ra­ pide, ihr soziales Gefüge veränderte sich, Schichten von Reichen und von Armen bildeten sich heraus. Wie in der Ägäis diente auch auf der italischen Halbinsel die Landwirt­ schaft der Bevölkerung zur Lebensgrundlage. Deshalb waren auch Römer ursprünglich ein in enger Siedlungsgemeinschaft lebendes Bauernvolk; seine soziale Grundlage war die bäuerliche Kleinfamilie, der Hausvater (paterfamilias) deren Vorstand, dem Frau und Kinder bedingungslos unterworfen waren. Wirtschaftliche Grundlage jeder Familie war eine relativ kleine Ackerfläche, deren Früchte kaum mehr als den Eigenbedarf deckten. Die Ausweitung des römischen Herrschaftsgebietes im 4. Jh. v. u. Z. brachte je­ doch einen Wandel und gleichzeitig eine Spaltung der römischen Gesell­ schaft: Ein Teil davon wurde Eigentümer großer eroberter Landflächen, die von Kriegsgefangenen als Sklaven bewirtschaftet wurden, der andere Teil führte nach wie vor ein kärgliches, wenn auch zunächst freies Dasein. Im weiteren Verlauf wurde der wirtschaftliche Druck auf die Kleinbauern allerdings immer stärker, sodass viele Familien ihm nicht mehr standhalten konnten und entweder nach Rom zogen und dort das städtische Proletariat bildeten oder sich als Landarbeiter bei den Großgrundbesitzern verdingten. Die weitere Folge wurde schon erwähnt: In Rom kam es zum offenen Kampf der Plebejer gegen das römische Patriziat. Nutznießer der römischen Expansion waren neben der römischen Ober­ schicht auch die Handwerker und Händler. Während aber die Handwerker 479  Thukydides, Peleponnesischer Krieg, Buch I 5: „Denn die ältesten Hellenen und auch die Barbaren an den Küsten des Festlands und die, die Inseln bewohnten, hatten kaum begonnen, mit Schiffen häufiger zueinander hinüberzufahren, als sie sich auch schon auf den Seeraub verlegten, wobei gerade die tüchtigsten Männer sie an­ führten, zu eignem Gewinn und um Nahrung für die Schwachen; sie überfielen unbe­ festigte Städte und offne Siedlungen und lebten so fast ganz vom Raub. Dies Werk brachte noch keine Schande, sondern eher sogar Ruhm… Gegenseitige Raubzüge gab es ja auch auf dem Festland.“

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meistens kleine städtische Familienbetriebe mit wenigen Angestellten unter­ hielten und in relativ bescheidenen Verhältnissen verblieben, organisierten sich die meist dem Ritterstand entstammenden Händler weiträumig über den gesamten Mittelmeerraum und erpressten von den unterworfenen Völkern Abgaben, die ihnen zu Reichtum verhalfen. Zusätzlich trug zum Reichtum aber auch der Bergbau bei, den sie in Spanien, Thrakien und Ägypten mit­ hilfe von Sklaven betrieben. Und da mit dem Reichtum die Zahl ihrer Skla­ ven ebenfalls wuchs, machten diese schließlich fast ein Drittel der Gesamt­ bevölkerung Roms aus. Wie alsdann nicht anders zu erwarten war, kam es zu Zusammenrottungen und zu Aufständen, die nur mit äußerster Brutalität niedergeschlagen werden konnten. Wenigen Sklaven gelang es allerdings, ein höheres Bildungsniveau zu erreichen; sie wurden dann meistens freigelassen und konnten als liberti selbstständig am Wirtschaftsleben teilnehmen. (γ) Rechtsbegriff und rechtliche Ordnung: Von einer kretischen Rechts­ pflege ist uns nichts überliefert. Es muss sie aber gegeben haben; denn die Griechen versetzten später Minos, den König von Knossos, als allwissenden und unbestechlichen Richter in den Hades. Auch spricht für die Existenz von Rechtsnormen, dass sich eine auf den Außenhandel spezialisierte Kultur wie die kretische kaum ohne verbindliche Normen hätte behaupten können. Ob allerdings die Sprache der Kreter überhaupt einen Begriff für ‚Recht‘ kannte, ist unbekannt. Auch vieles andere, was rechtlich bedeutsam ist, ist nicht überliefert worden, z. B. wem die für den Handel verwendeten Schiffe gehör­ ten und ob an ihnen Privat- oder Staatseigentum bestand. Auf dem Festland wurde die Lebensordnung der Griechen zunächst durch keine eigenständige Rechtsordnung,480 sondern ausschließlich durch die Sit­ ten, die Themistes (θέμιστες) bestimmt.481 Was wir ‚Recht‘ nennen, war ein 480  Ob es überhaupt jemals eine ‚griechische‘ Rechtsordnung je gab, ist umstritten. M. J. Finley (1951, S. 72 ff.) hat dies verneint, da wir lediglich die Rechtsordnungen von Athen und Gortyn (Mitte des 5. Jh. v. d. Z.) genauer kennen würden und es unzu­ lässig sei, hieraus ein Gesamtbild ‚des‘ griechischen Rechts zu formen. H. J. Wolff (1965, S. 2516 ff.) stellt dagegen auf die gemeinsamen Grundgedanken des „griechi­ schen Rechtskreises“ ab, die in den griechischen Stadtstaaten lediglich eine unter­ schiedliche Ausprägung erfahren hätten. Vgl. dazu auch L. Gernet (1968), S. 21 ff. Mit ziemlicher Sicherheit hat der kulturelle Austausch zwischen den griechischen Poleis befruchtend auf die einheitliche Entwicklung von Recht gewirkt und letzthin auch in Verbindung mit der neuen olympischen Religion die Einheit eines ‚nomologi­ schen Wissens‘ (als ἄγραφος νόμος) hervorgebracht. Teil dieses nomologischen Wis­ sens war der ab dem 7. Jh. vorhandene autoritative Thesmos (als bereits schriftliche Rechtssatzung). Maßgeblichen Einfluss auf die spätere Rechtsentwicklung hatte Athen, dessen wichtigste Denker, Platon und Aristoteles, allerdings vor allem die Rechtsphilosophie anführten (siehe dazu unten ε). 481  Die exakte Deutung des (stets im Plural gebrauchten) Begriffs θέμιστες ist umstritten. Vgl. dazu etwa K. Latte (1946/1968), S. 77 ff.; H. J. Wolff (1980), S. 569 ff.



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Teil dieser Sittenordnung, personifiziert in einer Göttin, Themis, die entwe­ der (so Homer) die Schwester des Göttervaters Zeus oder (so Hesiod) seine zweite Frau war. Zeus selbst war der Schöpfergott schlechthin; die Weltord­ nung hatte in ihm ihren Ursprung. Stellvertreter auf Erden waren die in den Städten regierenden Könige.482 Brach jemand eine seiner Normen, dann war das ‚Hybris‘: Frevel und Gewalttätigkeit, Hochmut und Zügellosigkeit – kurzum das Gegenteil von ‚Themis‘. Als Beispiele nennt Homer den Spott der Epeier und Agamemnons Raub der Brisëis.483 Objektive Merkmale stan­ den anfangs im Vordergrund: der Widerspruch zu den ‚guten Sitten‘ oder der Schaden für den ‚guten Ruf‘ eines Bürgers.484 Das subjektive Element, das Sich-Überheben über die geltenden Sitten, trat später hinzu. Ausgenommen war der Fall, dass göttergleiche Kraft den Sich-Überhebenden stützte;485 dann war sein Handeln ‚Themis‘: das subjektive Recht, ihm Zukommendes gewaltsam durchzusetzen. Entstand hierüber Streit, bedurfte es einer Instanz, die Recht gab, wem Recht gebührte. Diese Instanz war der König.486 Sein Amtssymbol war das von Zeus verliehene Zepter,487 sein Richterspruch die Übersetzung der göttlichen Ordnung in menschliche Weisung (δίκη).488 Eine moralische Bewertung war mit seinem Ausspruch nicht verbunden; denn Dike entwirrte lediglich, was der Streit verwirrt hatte.489 Im 7. Jh. v. u. Z. beginnt allmählich, sich ein Frührecht vom göttlichen Ursprung zu lösen und in die Hand der Menschen überzugehen – anfangs in die des Adels, später in die des Volkes. Doch zunächst wird die Einheit von Weltordnung und rechtlicher Ordnung noch anerkannt und die Aufgabe des Menschen darin erblickt, die irdische Ordnung der überirdischen bestmöglich

482  Homer,

Il. II 206. Il. XI 694 f.; I 203, 214. 484  Homer, Il. IX 459 ff. Dazu K. Latte (1946/1968), S. 79: Selbst im äußersten Fall des Vatermordes „hemmt kein inneres Rechtsbewusstsein, sondern der Druck der öffentlichen Meinung, also ein sehr realer äußerer Machtfaktor, die schon zum Schlag erhobene Hand“. 485  Vgl. Hesiod, WuT 213 ff. 486  Homer, Od. XVII 485 ff. Frühzeitig konnte allerdings auch ein Richter an seine Stelle treten. 487  Vgl. Homer, Il. IX 96 ff 488  Etymologisch gehört δίκη zum Verb δείκvυμι (lat. dicere), was ‚zeigen, wei­ sen‘ bedeutet. ‚Recht‘ wurde danach in vorhistorischer Zeit wie in Ägypten durch Weisung und Spruch realisiert. Das Wort iudex macht allerdings auch deutlich, dass δείκvυμι bzw. dicere von alters her eine Beziehung zum Rechtswesen hatte: iudex war derjenige, der den Weg zum Recht zeigt bzw. Recht spricht. Eine entsprechende Entwicklung findet sich in der slawischen Sprache, wo der Begriff für Recht (правда, pravica etc.) sich von praviti = ‚sagen, sprechen‘ ableitet. 489  K. Latte (1946/1968), S.  80 f. 483  Homer,

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anzugleichen.490 Erst danach, ab dem 6. Jh., wird der Mensch für die Ge­ rechtigkeit des Rechts in den Poleis selbst verantwortlich gemacht; denn das göttliche Naturgesetz und das menschliche Rechtsgesetz treten nunmehr auseinander.491 In den beiden wichtigsten Städten auf dem Kontinent, Sparta und Athen, war die Rechtsentwicklung allerdings durchaus unterschiedlich. Sparta als Prototyp einer der vielen dorischen Stadtstaaten konnte auf altes Stammesrecht zurückgreifen, das sich zwar vom alten Sakralrecht (dem indoarischen caritra) emanzipiert, umso enger da­ gegen mit einer gentilizischen Kriegsverfassung und einem aus mythischer Zeit über­ kommenen Königtum verbunden hatte. Recht war hier die von den Vorfahren über­ kommene, durch strenge Erziehung von Generation zu Generation weitergegebene Sittenordnung, die nicht in geschriebene Gesetze eingeklemmt war, sondern als Ge­ wohnheitsrecht im Bewusstsein der Spartaner weiterlebte. In Athen dagegen, wo ein Stammesgemisch das Volk bildete, legte man frühzeitig das von mythischer Zeit her bestehende Königtum ab und bildete, da man auf keine gefestigte Sitte mehr zurück­ greifen konnte, eine demokratische Tendenz aus, deren Ergebnisse man in rechtlichen νόμοι auf Dauer befestigte.

Das frührömische Gesellschaftsleben glich dem frühgriechischen insofern, als es auf den mores gründete, die sowohl Herkommen als auch Sitte umfass­ ten.492 Gleichwohl kannte man wohl schon sehr früh spezifische Rechtsre­ geln. Denn die Begriffe ius für ‚Recht‘ und leges für ‚Gesetze‘ waren zwar religiösen Ursprungs,493 wurden aber schon auf die sagenumwobene königli­ che Rechtssetzung angewandt. Somit waren die Römer trotz einem wesent­ lich späteren Beginn ihrer Geschichte wahrscheinlich das erste Volk, das die Eigenständigkeit des Rechts innerhalb der Sittenordnung nicht nur erkannte, sondern auch anerkannte und das Recht zu einem eigenständigen System entwickelte.494 Vor allem aber waren sie das erste Volk, das seine Rechtsord­ nung weder einseitig (wie die Spartaner) auf das Gewohnheitsrecht noch 490  Herakleitos, fr. 1. Das Wort hatte für die Griechen, aber nicht nur für sie, schöp­ ferische Kraft. Auch im Hebräischen war das gesprochene Wort (dābār) gleichzeitig der damit benannte Gegenstand: Er erschien, ob historisch oder nicht, und wurde im gesprochenen Wort auch als historischer Gegenstand für den Menschen wirklich. 491  Siehe dazu unten ε. 492  Genauer hierzu unten J 5 d γ. 493  Ius wird von M. Kaser (1971, § 4 I 2, S. 25) auf eine Wurzel *ieu- zurückge­ führt, die ‚Reinheit‘ bedeutet. „Danach bedeutet das Wort auf einer Stufe, in der das religiöse Leben noch von magisch-animistischen Vorstellungen beherrscht wird, einen Friedenszustand mit den Dämonen; einen Zustand, in dem diese Mächte nicht verletzt sind und ihre Eingriffe darum ferngehalten werden … Mit der fortschreitenden Ver­ weltlichung tritt das sakrale Element zurück und bleibt im ius – wenigstens im profa­ nen Bereich – nur die formelle und materielle ‚Rechtmäßigkeit‘ erhalten.“ 494  Als die Griechen mit dem römischen ius in Berührung kamen, übersetzten sie es mit δίκαιον, was jedoch ‚Gerechtigkeit‘ bzw. ‚das Gerechte‘ (iustum) bedeutet. Weder die Römer noch die Griechen hatten dagegen einen Begriff für subjektive Rechte. Die einen verwandten stattdessen das Wort actio, die anderen das Wort δίκη.



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einseitig (wie die Athener) auf das Gesetzesrecht gründete, sondern auf das eine wie das andere – nur dass die römischen Juristen das Gewohnheitsrecht lange Zeit als rationale Interpretation des Gesetzesrechts der XII-Tafeln aus­ gaben. (δ) Gesetzgebung und Rechtsprechung: In Griechenland war Dike die göttliche Tochter der Themis. Sie wies den Richtern das Recht, und die Grie­ chen priesen diejenigen, die das Recht am gradesten verkündeten,495 d. h. ohne die Gestalt der Dike zu entstellen.496 Hilfe dafür boten die Gesetze, die zwar höchstwahrscheinlich schon vor der homerischen Zeit vorhanden wa­ ren, aber nur mündlich überliefert wurden. Erst ab dem 7. Jh. zeichnete man sie in den meisten Poleis (es gab deren fast 800) auf497 und gab ihnen da­ durch einen höheren Stellenwert für die Ordnung; denn die Schrift machte vor aller Augen offenbar, dass es Recht auch unabhängig vom konkreten Streitfall gab.498 Freilich waren die Gesetze deshalb nicht schon ‚das‘ Recht, sondern lediglich οἱ νόμοι,499 d. h. die Regeln, die in jeder Polis anders lau­ teten – so eben, wie es den Themistes entsprach. Doch waren manche von Gesetzgebern erlassen worden, von denen man annahm, dass sie mit beson­ derer Einsicht in das Gerechte (τὸ δίκαιον) begnadet waren: in Sparta etwa vom sagenhaften Lykurg (zwischen 9. und frühem 7. Jh. v. u. Z.), in Athen von Solon (ca. 640–560)500. Und von daher hatten sie zumindest die Vermu­ tung höherer Richtigkeit für sich. Ersten Anlass für eine Gesetzgebung gaben offenbar hier wie schon in Mesopota­ mien konkrete Probleme, mit deren Wiederkehr man rechnete und für die das münd­ lich tradierte nomologische Wissen keine Lösungen parat hatte. Später führte ihre steigende Zahl zu einer Verstetigung der Gesetzgebung, und die Bürgerschaft, der die Gesetzgebung oblag, wurde sich immer stärker ihrer Identität auch als Rechtsgemein­ 495  Homer,

Il. XVIII 508. WuT 218 ff. u. ö.; Homer, Il. XVI 384 ff. 497  Vgl. dazu mit ausführlichen Nachweisen K.-J. Hölkeskamp (1999). 498  Das homerische Griechisch besaß für Satzungen wie für Urteilssprüche aller­ dings nur einheitlich das Wort θέμιστες. Überhaupt kein Wort gab es für ‚Unrecht‘; es hieß „krummes Recht“ (σκόλιαι θέμιστες). 499  Das Wort νόμος bezeichnete sowohl die Sitte als auch das Rechtsgesetz. Es wurzelt etymologisch im Verbum νέμειν, das nicht nur ‚austeilen, zuteilen‘ bedeutet, sondern auch ‚weiden‘ und ‚als Weide in Besitz nehmen‘ (νομή = [von der Gemeinde zugeteilter] ‚Weideplatz‘; in diesem Sinne noch ausschließlich bei Homer). Mit νέμειν verwandt ist das deutsche Wort ‚nehmen‘. 500  Die Gesetzgebung Solons ist die wohl einzige in der gesamten Antike, der ein geradezu revolutionärer Charakter zukommt: Infolge der schnellen Entwicklung aller Wirtschaftszweige zu seiner Zeit war in Athen eine neue Plutokratie entstanden, wel­ che die kleinen Bauern schwer bedrängte. Solon senkte deren Steuerlast und erleich­ terte die Schuldenlast. Ferner schaffte er auf der einen Seite die Schuldsklaverei ab und begrenzte auf der anderen Seite den Landbesitz. Dadurch gebot er der Macht der Reichen Einhalt, wehrte aber auch noch weitergehende Forderungen der Armen ab. 496  Hesiod,

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schaft bewusst. Lag allerdings die Gesetzgebung in der Hand eines Einzelnen, sei er gewählter König, Usurpator oder Tyrann, war die Achtung vor seinen νόμοι unter­ schiedlich. Einerseits beseitigten νόμοι zwar eine zuvor herrschende Willkür, anderer­ seits aber auch die Flexibilität eines ungeschriebenen Gewohnheitsrechts, das auf der lebendigen Volksanschauung beruhte und die Gerichte berechtigte, nach ihrer Rechts­ überzeugung zu entscheiden. Sparta war, obwohl Königtum, der Repräsentant eines derart auf lebendiger (wenngleich wankelmütiger) Überzeugung beruhenden Rechts, Athen dagegen der Ursprung des Gedankens, dass das ganze Recht des Staates in geschriebenen (und nur schwer abänderbaren) Gesetzen bestehen soll. (Aus der ver­ mutlich großen Zahl der übrigen Stadtrechte ist uns nur das Recht der kretischen Stadt Gortyn überliefert [ca. 450], das der athenischen Rechtsauffassung nahesteht.501)

In Rom entstand als erstes Gesetzgebungswerk – noch während der etrus­ kischen Vorherrschaft Mitte des 5. Jh.s und in etwa gleichzeitig mit dem Stadtgesetz von Gortyn  – das XII-Tafelgesetz.502 Es galt als ‚Grundgesetz‘ der Stadt und wurde deshalb auf dem Forum ausgestellt. Aufgezeichnet wa­ ren darin die zeitgenössischen Rechtszustände, aber auch einige ältere Rechtsinstitute, deren Wurzeln bis hinab in die archaische Zeit reichten. So stammten die meisten familien- und erbrechtlichen aus dem altrömische ­Leben, die meisten sachen- und schuldrechtlichen Regelungen waren dage­ gen neueren Datums.503 Die Sprache war selbst für die damalige Zeit alter­ tümlich, die Sätze knapp, einfach strukturiert und, wie üblich, überwiegend in Form des Konditionalsatzes abgefasst: „Si iniuriam faxsit, XXV poenae sunto“ (8 4). „Si membrum rup(s)it, ni cum eo pacit, talio esto“ (8 2)504. Dass teilweise auch das Strafrecht geregelt war, hatte seinen Grund darin, dass es damals ebenfalls weitgehend in den Händen der Bürger lag. Der kulturelle Fortschritt, den die Gesetze sowohl Griechenland als auch Rom brachten, wurde in den folgenden Jahrhunderten hoch bewertet, ja es 501  Es handelt sich um eine Sammlung von Vorschriften zu eigentums-, erb- und eherechtlichen Fragen sowie von Verfahrensregeln. Ergänzungen und Zusätze ver­ schiedener Art, Differenziertheit, Genauigkeit und ‚Reife‘ erweisen die Herkunft der Normen aus unterschiedlichen Zeitabschnitten. Materialsammlung und Analyse der in den übrigen griechischen Poleis geltenden Gesetze bei K.-H. Hölkeskamp (1999), S. 60 ff. Dass die meisten von ihnen nicht überliefert sind, deutet auf ihre entweder geringe Qualität oder soziale Bedeutungslosigkeit hin. 502  Seine Authentizität war zeitweise in Streit, gilt heute aber als gesichert (vgl. M. Th. Fögen, 2003, S. 65 ff. m. Nachw.). 503  Manches scheint aus Griechenland übernommen zu sein, wohin sich drei der Dezemvirn, die die Gesetze aufzeichneten, zum Studium des dortigen Rechts begeben hatten (vgl. dazu F. Wieacker, 1988, S. 299 ff. m. Nachw.). Die Überlieferung des XIITafelgesetzes ist bruchstückhaft, weshalb wir u. a. bis auf wenige Ausnahmen nicht wissen, in welchen Zusammenhang die einzelnen Bestimmungen zu stellen sind. 504  „Wenn jemand eine leichte Körperverletzung zugefügt hat, soll er 25 (As) Buße zahlen.“ „Wenn jemand ein Glied verstümmelt hat, soll er, sofern er sich nicht [mit dem Verletzten] gütlich einigt, das Gleiche erleiden.“



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kam sogar zu einem regelrechten Gesetzespositivismus, der im Verbot an die Behörden (nicht allerdings an die Gerichte) kulminierte, jemals noch unge­ schriebenes Recht (ius non scriptum) anzuwenden.505 Soweit ein Bedarf an neuen Gesetzesnormen bestand, lag die Zuständigkeit in Griechenland regel­ mäßig bei der Volksversammlung, in der je nach der Staatsverfassung entwe­ der alle waffenfähigen Bürger (Demokratie) oder eine ausgewählte Gruppe (Oligarchie) das Stimmrecht hatten,506 in Rom bei den Prätoren und Ädilen, deren Edikte allerdings nur eine gesetzesvertretende Funktion ausübten. Außer den Volksbeschlüssen kannte Athen seit 403/02 noch ein besonderes Verfah­ ren für grundlegende Gesetze,507 denen künftig kein Volksbeschluss widersprechen durfte. Wer dennoch einen gesetzwidrigen Volksbeschluss beantragte, konnte von je­ dermann verklagt werden.508

Die Rechtsprechung war sowohl in Griechenland als auch in Rom letzt­ instanzlich Richtern anvertraut, die aus dem Volk stammten und auch das Volk repräsentierten. Man sah hierin das demokratische Element, das dem Volk Macht verleiht.509 In Bezug auf Griechenland sind wir am besten über die Gerichtsorganisation in Athen unterrichtet. Sie lag im 5. und im 4. Jh. zunächst bei den durch Los bestellten Archonten, für Blutprozesse und sa­ krale Angelegenheiten beim Basileus; das Volksgericht (ἡλιαία, δικαστήριον) war lediglich Berufungsinstanz gegen die Urteile der Archonten. Als das Volksgericht später zum erstinstanzlich entscheidenden Gericht wurde, ging dem Hauptverfahren ein Vorverfahren bei den Archonten voraus. Darin hat­ ten die Streitparteien ihre Standpunkte darzulegen und durch wechselseitige Befragung zu klären. Anschließend versuchte der das Verfahren leitende Ar­ chont, einen Kompromiss zwischen ihnen herbeizuführen. Gelang ihm das nicht, urteilte im Hauptprozess das Volksgericht, vertreten durch Hunderte von ausgelosten Geschworenen, aber unter Anleitung eines Beamten (ἡγεμονία δικαστηρίου). Die Parteien trugen vor ihnen nochmals ihre Stand­ punkte vor und erläuterten die berechtigenden Gründe – gestützt i. d. R. auf das Manuskript eines weniger im Recht denn in der Massenpsychologie ge­ schulten Rhetors. Die Entscheidung der Geschworenen fiel danach ohne Beratung durch das Los. 505  Für Griechenland vgl. Andodikes, orat. 1 (Mysterienrede, hier zitiert nach H. J. Wolff, 1980, S. 563), § 85: ἀγράφῳ δὲ νόμῳ τὰς ἀρχὰς μὴ χρῆσθαι μηδὲ περὶ ἑνός. Für Rom vgl. F. Jaques/J. Scheid (2008), S. 76 ff. 506  Neben dem schwerfälligen Gesetzgebungsverfahren gab es ein leichteres Be­ schlussverfahren (ψήφισμα), welches das Gesetzgebungsverfahren zeitweise fast völ­ lig verdrängte, aber auch zum Missbrauch verführte. 507  Demonsthenes, 4, 20 – 23.33. 508  Vgl. dazu H. J. Wolff (1970). 509  Aristoteles, Staat der Athener 9 1.2: „Denn ist das Volk Herr über den Stimm­ stein, dann ist es Herr über die staatliche Ordnung.“

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Schwerer zu rekonstruieren ist das Gerichtsverfahren in der kretischen Stadt Gortyn. Eine demokratische Rechtsfindung wie in Athen gab es dort nicht. Die Richter waren angesehene Personen aus dem Volke oder Mitglieder des Magistrats der Stadt und sprachen Recht als Einzelrichter, unterstützt lediglich durch den rechtskundigen Mnamon – eine Art Gerichtsschreiber mit der Aufgabe, die mündlich gefällten Urtei­ le zu protokollieren und sie zu archivieren, damit später nachgeprüft werden konnte, ob der obsiegende Kläger sich bei der Vollstreckung des Urteils an die Grenzen des ihm zuerkannten Anspruchs gehalten hat.

Über das Verfahren in Rom können wir aus dem XII-Tafelgesetz vor allem entnehmen, dass es stärker formalisiert war als in Griechenland. Die Ge­ richtsbarkeit lag in den Händen des Höchstmagistrats, vor dem die Parteien ihre Rechtsbehauptungen vorbrachten. Gericht hierüber hielt ein iudex oder arbiter,510 dem der Magistrat den Prozess zum Zwecke der Beweiserhebung anschließend zuwies. Ladungen zum Prozess, Art sowie Ort und Dauer des Prozesses u. a. m. waren geregelt. Die Klagen selbst nannte man (legis) actiones, das Urteil sententia, später iudicium. Neben dem Rechtsverfahren gab es noch ein Sittengerichtsverfahren, das in den Händen der Zensoren lag und mit einem Sittenurteil (iudicium de moribus) abschloss. (ε) Rechtsphilosophie:511 Die Griechen waren vermutlich die ersten, die über das Recht philosophische Betrachtungen anstellten.512 Zugrunde legten sie ein Weltbild, worin die Menschen als allen anderen Lebewesen überlegen angenommen werden, weil ihr Leben innerhalb von Gesetzen abläuft, die sie sich selber geben, während die übrigen Lebewesen von den Gesetzen der Natur regiert werden. Selbst wenn sie sich ihre Gesetze selber geben, müsse man allerdings zwischen den Gesetzen der Barbaren und denen der Griechen 2 1b; Gaius, Inst. IV 17a. griechische Rechtsphilosophie war nicht das, was wir heute mehrheitlich darunter verstehen, sondern umfasste auch Rechtstheorie, Sozialethik und Politologie. 512  Begründet wurde das Nachdenken der Griechen über das Problem einer für alle Völker richtigen Ordnung zum einen durch ihre Kolonisationstätigkeit; denn an den Ufern des Mittelmeers und des Schwarzen Meers mussten sie ohne die Berichte der Alten über das überkommene Recht auskommen und überdies Normen kreieren, nach denen Menschen aus unterschiedlichen Gegenden zusammenleben können. Begründet wurde das Nachdenken zum anderen aufgrund der städtischen Krisen im 7. und 6. Jh. Damals beauftragte man ‚Weise‘, unter ihnen Solon, das bis dahin nur gewusste Recht festzustellen sowie durch neue Gesetze aktuelle Krisen zu beheben. Als geeig­ neter Maßstab erschien dafür die Eunomie, worin alles seinen gebührenden Platz, seine Aufgabe und sein Recht hat. Die Gesetze mussten folglich in ihrer Gesamtheit das Rüstzeug bilden, mit dessen Hilfe die Bürger zusammenleben und mit ihren Pro­ blemen fertig werden konnten. Das erforderte Abstraktionen, die hinter den Einzelin­ teressen das soziale Ganze erkennen ließen. Anaximandros 1 (610–547) sah diese Voraussetzung als gegeben an, weil ein einziges Weltgesetz alles Geschehen beherr­ sche und alle Sonderexistenzen darin Unrecht seien, für das sie „Sühne und Buße leisten müssen gemäß der Ordnung der Zeit“. Für dieses Weltgesetz nahm er die ge­ meinverbindliche Rechtsidee der Polis zum Vorbild (W. Jaeger, 1934, S. 217). 510  XII-Tafelgesetz 511  Die



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unterscheiden: Die barbarischen Gesetze entsprängen den Launen ihrer Herr­ scher, die griechischen dagegen der Vernunft. Nur die griechischen ermög­ lichten daher, dass die Menschen sowohl ihr eigenes Dasein nach ihrem persönlichen Willen gestalten als auch das Weltgeschehen lenken. Geschichtlich lassen sich innerhalb der griechischen Rechtsphilosophie sechs Phasen unterscheiden: •• In der 1. Phase war die Rechtsphilosophie noch eine Mischung aus mytho­ logischen und moralisch-praktischen Vorstellungsgehalten: Bei Homer war sie personifiziert in Themis, die Zeus zur Seite stand, wenn er Weisungen (θέμιστες) erteilte, bei Hesiod in Dike, die Zeus auf die Untaten der Men­ schen hinwies, ferner Eris (Streit), Bia (Gewalt) und Hybris (Maßlosigkeit) bekämpfte und überdies den Gerichtsverhandlungen beiwohnte, um dem Nomos, der göttlichen Weltordnung, zum Siege zu verhelfen. Recht und Gerechtigkeit wurden also anfangs noch nicht unterschieden. •• In der 2. Phase verlor die Rechtsphilosophie ihre Bindung an Zeus; denn in der griechischen Aufklärungszeit strich man die Existenz einer transzen­ denten Götterwelt und einer daraus fließenden Weltordnung aus dem Re­ pertoire des Denkens. Solon sah im Recht die zeitlose, gleichwohl sich in der Zeit verwirklichende Idee einer ‚richtigen‘ sozialen Ordnung (‚Euno­ mia‘). Herakleitos folgte ihm insoweit, sah die Idee der ‚richtigen‘ Ord­ nung aber gleichzeitig eingebunden in den Antagonismus der gesellschaft­ lichen Kräfte beim Kampf um die Gerechtigkeit. •• In der 3. Phase suchte man sowohl nach einem festen Halt für die Idee der Gerechtigkeit als auch einem Ersatz für die Götterwelt. Man fand diesen Halt empiristisch in der Schöpfung und den Ersatz für die Götterwelt im Menschen als deren Krönung. Als Maß nahm Protagoras die empirischen Menschen.513 Aber deren gab es viele und vor allem verschiedenartige – außer den Griechen auch die Barbaren, und innerhalb der Barbaren solche, mit denen man Handel trieb, und andere, mit denen man Krieg führte. Daraus zog man den Schluss, dass zwar alle Menschen unterschiedslos am Recht teilhätten, das Recht aber entsprechend Natur und Meinung ver­ schieden sei.514 •• In einer 4. Phase hielt man diese äußerliche Betrachtung der Menschen indes für zu einfältig. Die spezifisch menschliche Natur offenbare sich 513  Protagoras

bei Platon, Theaitetos 151 E: πάντων χρημάτων μέτρον ἄνθρωποϛ. Theaitetos 172a: „Das Schöne und Schlechte, das Gerechte und Unge­ rechte, das Fromme und Unfromme, was in diesen Dingen ein Staat für Meinung fasst und dann feststellt als gesetzmäßig, das ist es auch für jeden in Wahrheit. … Nichts davon hat schon von Natur eine bestimmte Beschaffenheit, sondern was gemeinsam vorgestellt wird, das wird wahr zu der Zeit, wann und solange es dafür gehalten wird.“ 514  Platon,

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nicht in äußerer Erscheinung und in geäußerter Meinung, sondern vor al­ lem im Denken. So sei etwa das, was die Menschen in einer Volksver­ sammlung als Recht beschließen, nicht das Ergebnis ihres Aussehens und zufällig geäußerter Meinung, sondern verantwortungsvollen Denkens und innerer Überzeugung. Aber woher haben die Menschen ihre Überzeugung? Angeboren, hieß es, sei sie jedenfalls nicht. Also hätten geschickte Redner sie ihnen beigebracht (so Gorgias) oder Mächtige sie ihnen aufgezwungen (so Trasymachos). Schwankt dann aber nicht der Maßstab für das Recht unter diesen Einflüssen? Ist nicht überhaupt die Ansicht vom richtigen Recht etwas anderes als die Idee vom richtigen Recht, nach der doch alle suchen? •• In einer 5. Phase wandte man sich daher vom Empirismus wieder ab. Stattdessen argumentierte man: Von Natur aus seien die Menschen unter­ schiedlich weise; und die weisesten Menschen stimmten darin überein, dass man darum das richtige Recht nicht an den vom gemeinen Volk be­ schlossenen Gesetzen erkennen könne. Woran sonst – darüber gingen die Meinungen freilich abermals auseinander. Die einen rekurrierten wiederum auf die Götter und erkannten in ihren ‒ aus der Natur ablesbaren ‒ Geset­ zen den Maßstab auch für das richtige menschliche Recht (so Hippias).515 Die anderen hielten dagegen stärker den Kontakt mit der irdischen Realität und erklärten, dass alle Menschen, ob Hellenen oder Barbaren, ihrer Natur nach gleich seien, weil sie dieselben natürlichen Bedürfnisse haben. Wenn ihre staatlichen Gesetze dennoch ungleich seien, so deshalb, weil sie nicht der gleichen menschlichen Natur folgten, sondern offenbar willkürlicher Setzung (so Antiphon).516 •• Herausragende Persönlichkeit der 6. Phase war schließlich Sokrates. Er knüpfte einerseits an die aufklärerische Philosophie an, wich andererseits vom einseitigen Empirismus ab und stellte stattdessen die menschliche Vernunft in den Mittelpunkt seines Denkens. Vernunft sei Weisheit, d. h. Einsicht in das Wesen der Dinge und damit in das Wesen des Rechts; die­ se Einsicht dürfe nicht den Einflüsterungen geschickter Redner ge­opfert werden. Wahre Einsicht verlange vielmehr, dass jeder sich den Normen seiner Polis unterwerfe, gleichgültig ob er sie für gerecht oder ungerecht hält; denn jeder Gesetzgeber, der etwas taugt, werde, wenn er Normen er­ lässt, sein Augenmerk auf die Gerechtigkeit als die höchste Tugend rich­ ten.517 In dieser Einsicht trank er den Schierlingsbecher, den man ihm ge­ Platon, Protagoras 337c/d. fr. A. 517  Platon, Gesetze I, 630c: „Παντὸς μᾶλλον καὶ ὁ τῇδε παρὰ Διὸς νομοθέτης, πᾶς τε οὗ καὶ σμικρὸν ὄφελος, οὐκ ἄλλο ἢ πρὸς τὴν μεγίστην ἀρετὴν μάλιστα βλέπων ἀεὶ θήσει τοὺς νόμους.“ 515  Vgl.

516  Antiphon,



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reicht hatte, weil seine Ansichten nach dem Ratschluss seiner Richter die Jugend verdärben. Damit hatte die griechische Philosophie die meisten Themen benannt, die auch in der Folgezeit noch bis hin zur Gegenwart das rechtsphilosophische Denken beschäftigen sollten. Das Denken der beiden großen griechischen Philosophen, die nach Sokrates das Bild nicht nur der griechischen Philoso­ phie prägten, Platon und Aristoteles, entzieht sich einer Kurzcharakteristik. Deshalb werde ich auf viele ihrer Ansichten erst im Folgenden eingehen ‒ zumeist um festzustellen, dass bis heute keine besseren Erkenntnisse gefun­ den worden sind. (ζ) Rechtsentwicklung. Überraschenderweise findet in Griechenland die Entwicklung der Rechtsphilosophie in der Entwicklung des positiven Rechts keine Entsprechung. Der Grund liegt darin, dass das griechische Volk keine Rechtswissenschaft kannte und sich kein Rechtssystem schuf. Sein stark ausgeprägtes Rechtsbewusstsein drückte sich lediglich in den Gerichtspro­ zessen und in den dramatischen Werken etwa eines Sophokles, Aischylos und Euripides aus. Gerade hier aber trat das positive Recht der νόμοι zumeist in den Hintergrund gegenüber der auch Billigkeitsgesichtspunkte berücksich­ tigenden δίκη  – ein Umstand, der von den attischen Rednern (Demosthenes u. a.) benutzt wurde, um durch weitherzige Gesetzesauslegung und -ergän­ zung den Interessen ihrer Mandanten zu dienen, ja notfalls die offenkundige Unbilligkeit eines Gesetzes zu behaupten und auf Nichtbeachtung zu plädie­ ren.518 Als literarische Quellen für die altgriechische Rechtsentwicklung stehen für die ‚dunklen Jahrhunderte‘ (ca. 1200 bis 2. Hälfte 8. Jh.) nur die Epen Homers (‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘) und Hesiods (‚Thegonie‘ und ‚Erga‘) zur Verfügung,519 für die archa­ ische Epoche (2. Hälfte 8. Jh. bis 480) nur einige Gesetzesbruchstücke, für die klas­ sische Zeit außer den philosophischen und dramatischen Texten hauptsächlich die Gerichtsreden attischer Advokaten. Daher lässt sich aus diesen unterschiedlichen Quellen die Entwicklung des griechischen Rechts nicht im Sinne einer fortlaufenden Kodifizierung ungeschriebener Rechtsnormen ablesen.520 Selbst in den (als authen­ tisch anerkannten) Gesetzen Solons sind die normierten Tatbestände so spezifisch

518  Die Billigkeit (ἐπιείκεια) wurde zur Korrektur lediglich von Gesetzen, niemals von Einzelentscheidungen angewandt. 519  Für die Dichtungen Homers ist anzunehmen, dass er die rechtlichen Verhältnisse nicht zur Zeit der geschilderten Ereignisse (14. bis 12. Jh.), sondern zur Zeit ihrer Dar­ stellung (9. bis 7. Jh.) zugrunde gelegt hat. Da die Entstehung der Homerischen Epen mit der Wende von der kretisch-mykenischen zur griechisch-mittelalter­lichen Kultur zeitlich zusammenfällt, spiegelt sich in ihnen daher ein Entwicklungstand wider, worin „die Zustände der Urzeit bereits überwunden sind, aber die ältere Schicht wie bei ei­ nem Palimpsest noch durchleuchtet“ (E. F. Bruck, 1926, S. 74). 520  K.-J. Hölkeskamp (1999), S.  262 ff.

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gefasst, dass wir annehmen müssen, Solon habe eine logisch-abstrakte Systematisie­ rung des gesamten materiellen und prozessualen Rechts fern gelegen.521

Bleiben wir bei den Nomoi (νόμοι). Sie bauten, wie erwähnt, auf den θέμιστες, den Sitten der Poleis, auf. Allerdings erschien es den Gesetzgebern unnötig, diese Sitten den Bürgern en detail in Erinnerung zu rufen, zumal sie sich der genauen Festschreibung entzogen. Sie behandelten nur, was sie als Verstöße gegen die Sitten ansahen – das allerdings mit pedantischer Genau­ igkeit, weil jeweils bezogen auf einen konkreten Vorfall, der sich kürzlich ereignet und die Frage nach einem Sittenverstoß aufgeworfen hatte. Nur bisweilen statteten sie gerichtliche (oder schiedsrichterliche) Entscheidungen, die ihnen um der ‚Gleichgerechtigkeit‘ willen wichtig erschienen, mit über­ individueller Verbindlichkeit aus, damit sie auf ‚ähnliche‘ Vorkommnisse angewandt werden konnten.522 Doch lag darin kein Bemühen um eine syste­ matische Erfassung des Rechtsstoffs. Ein Beispiel ist Drakons fragmentarisch erhaltene Satzung über die unvorsätzliche Tötung.523 Das Gesetz hatte nur die Einengung der Blutrache zum Ziel, und diese auch nur als Reaktion speziell auf die Tötung der Anhänger des Tyrannis-Aspiranten Kylon und die darauffolgende Spirale von rächender Gewalt der Verwandten.524 Ein­ zig in dieser Absicht bestimmte es, welche Institutionen im Falle von Tötungsdelikten tätig werden und welches Verfahren sie einhalten sollten, ferner dass zwischen vor­ sätzlicher und unvorsätzlicher Tötung zu differenzieren und die unvorsätzliche Tötung statt mit dem Tode nur mit der Verbannung des Täters zu bestrafen sei.

Eine durch aktuelle Ereignisse veranlasste Gesetzgebung trug dennoch zur Festigung auch der Grundlage bei, die sie ermöglichte: zur rechtlichen Souve­ ränität der Polis. Sie verstärkte die Einbindung der Individuen in die Sozial­ strukturen der Polis und den Bekanntheitsgrad ihrer Institutionen sowie der Verfahren, die über Recht oder Unrecht entscheiden. Und dass die Gesetzge­ bung überdies der versammelten Bürgerschaft oblag, verstärkte das Gefühl für die Einheitlichkeit und Einzigartigkeit der Polis – selbst wenn in anderen Po­ leis die Entwicklung ganz ähnlich verlief. Denn trotz allen Verschiedenheiten im Detail beherrschte ein Entwicklungstrend alle Poleis: „vom Geschlechter­ tum zum Staatentum, vom patriarchalischen Familienverhältnis zur freieren Gestaltung des Individuums, von der Familienrache zum Strafrecht und von 521  K.-W.

Welwei (1992), S. 164. Hölkeskamp (1999), S. 267 f. Dahinter stand dann ‒ ähnlich wie später in Rom ‒ das Verlangen des Volkes nach einer Aufzeichnung des bisher nur mündlich von den adligen Richtern tradierten Rechts. Denn der einfache Mann stand bei Aus­ einandersetzungen mit Aristokraten häufig auf verlorenem Posten, wenn ein Richter sich bei einem ihm nachteiligen Urteil auf ein nicht nachprüfbares Gewohnheitsrecht berief. 523  Vgl. R. Koerner (1993), Nr. 11, und dazu M. Gagarin (1981). 524  Dazu insbes. K.-W. Welwei (1992), S. 138 ff.; U. Walter (1993), S.  190 ff. 522  K.-J.



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts291

den ersten Elementen der Schuldgesetzgebung zu einem System des Verkehrs­ rechts, welches dem babylonischen Recht an die Seite zu stellen ist“525. Einen entsprechenden Entwicklungstrend finden wir auch in Rom, dort allerdings vor einem ganz anderen Hintergrund. Denn während für das grie­ chische Recht allen philosophischen Windungen und Wendungen zu Trotz entweder der Wille der Götter oder die überkommene Sittenordnung des Volkes als Hintergrund diente, übernahm in Rom die menschliche Ratio diese Funktion. Allerdings entwickelte sich die rationale Rechtsbegründung nicht etwa voraussetzungslos, sondern auf der Grundlage der im 7. und 6. Jh. in Etrurien und Latium vorherrschenden, gewohnheitsrechtlich verankerten Selbst­ hilfe, die vor der Blutrache nicht zurückschreckte.526 Eine solche Rechtsdurchsetzung hatte immer wieder Menschenleben gefordert. Und als die Gebiete zunehmend dichter besiedelt wurden, verbreitete sie allgemeine Angst und Unruhe. Deshalb bemühte man sich, Brüche der gemeinschaftli­ chen Ordnung künftig so weit wie möglich in geordneten Schieds- und Frie­ densverfahren zu heilen, und schuf zu diesem Zweck jenes Gemeinschafts­ recht, das später auf den XII-Tafeln niedergeschrieben wurde.527 Für privile­ gierte Familien richtete man darüber hinaus Ämter und Laufbahnen ein, um sie in das Gemeinschaftsrecht einzubinden. Die Erinnerung an das ursprüng­ liche Recht bewahrte man vor allem in zwei Symbolen: im Beil als Symbol für die öffentlich-rechtliche Gewalt über Leben und Tod sowie im Rutenbün­ del (fasces) als Symbol für die amtliche Befugnis, die öffentliche Ordnung notfalls durch das Auspeitschen Unbotmäßiger wiederherzustellen. Nach dem Sturz der etruskischen Königsherrschaft (510 v. u. Z.) und der Auseinan­ dersetzung zwischen den Patriziern und den Plebejern fand Rom daher den Weg zu einer allgemeinen, freiheitlichen und von der Ratio gestützten Ver­ fassung, sodass sein Beitrag zur Rechtsentwicklung die Botschaft war, dass sich das Recht nicht aus der Gewalt, sondern nur aus klaren, genau definier­ ten Sätzen der menschlichen Vernunft herleiten lässt. Und mit dieser Bot­ schaft ebnete Rom dann der ganzen Welt den Übergang von einer philoso­ phisch geprägten zu einer pragmatischen Rechtskultur, die künftig vor allem von Politikern und international tätigen Händlern gestaltet werden sollte. Rom selbst aber entwickelte sich nie zu einem Staat mit einer einheitlichen Rechtskultur. Das XII-Tafelgesetz galt nur in der Stadt Rom, nicht darüber 525  J.

Kohler/E. Ziebarth (1912), S. 135. dennoch sich Relikte erhielten, als es in Rom bereits eine staatliche oder quasi-staatliche Jurisdiktion gab, belegen sowohl T. Livius (ca. 59 v. u. Z. bis 17 u. Z.) in Bd. I seines Werkes „Ab urbe condita“ als auch Dionysios von Halicarnassos (ca. 54 v. u. Z. bis 8 u. Z.) in seinen „Antiquitates Romanae“. 527  T. Livius III, 34 (:„fons omnis publici privatique iuris, velut corpus omnis Ro­ mani iuris.“) 526  Dass

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hinaus im immer größer werdenden römischen Reich, das überdies durch neue Eroberungen noch ständig wuchs und schließlich viel zu groß war, als dass es mit damaligen Mitteln noch einheitlich hätte regiert werden können. Stattdessen entwickelten sich an seinen Peripherien Entfremdungstendenzen, weshalb jede innere oder äußere Schwäche des Zentrums zu inneren Umstür­ zen oder zu Invasionen fremder Völker ausgenutzt wurde. Man versuchte zwar, den immer sichtbarer werdenden Zerfall durch Gewaltenteilungen und Reformen noch aufzuhalten; doch letzthin schlugen alle Bemühungen fehl und der römische Staat zerbrach. 4. Inhaltliche Entwicklungen des protostaatlichen Rechts im Überblick Im Anschluss an meinen Überblick über die Entwicklung von prärecht­ lichen und frührechtlichen Normen innerhalb prästaatlicher Bereiche gebe ich im Folgenden einen Überblick über die Entwicklung von Rechtsnormen innerhalb der soeben dargestellten protostaatlichen Reiche. Dieser Überblick wird die – teils nachweisbaren, teils lediglich zu vermutenden – Gleichheiten protostaatlicher Rechtsordnungen in den Vordergrund stellen, die Ungleich­ heiten dagegen, falls sie dennoch zur Sprache kommen, mit Unterschieden im sozialen, ökonomischen oder politischen Umfeld528 begründen.529 Da­ durch soll gleichzeitig versucht werden, ein Stück von jenem Allgemein­ menschlichen freizulegen, das unter der damals noch relativ dünnen norma­ tiven Oberfläche vorhanden war, während es heute zumeist von einer dicken Normenschicht verdeckt wird, aus der es nur gelegentlich noch hervortritt, wenn Staaten zusammenzuwachsen wollen und dann wie Eisschollen anein­ anderstoßen und zerbrechen, sodass das gemeinsame Wasser erkennbar wird, von dem sie zusammengeführt wurden. Wichtig wird im Folgenden ferner eine Unterscheidung werden, die für das Frührecht noch kaum Bedeutung besaß, sondern erst für das protostaatli­ 528  Generell J. Kocka (1986); zu Griechenland: F. Gschnitzer (2013); zu Rom: G. Alföldy (2011). 529  Zusätzlich wichtig ist, dass die hier untersuchten protostaatlichen Rechtsord­ nungen sich nicht synchron entwickelt haben. Einigermaßen synchron verlief nur die Entwicklung des Rechts in Ägypten und Mesopotamien. Die chinesische Rechtsent­ wicklung beginnt erst später. Und die griechische und römische beginnen überhaupt erst, nachdem die hier untersuchte Epoche der ägyptischen und mesopotamischen Rechtsentwicklung bereits abgeschlossen war. Soweit Entwicklungen verglichen wer­ den, müssen folglich Zeitverschiebungen als weitestgehend irrelevant angesehen wer­ den. Dass dies geschehen darf, hat R. McC. Adams für die Entwicklungen einerseits der mesopotamischen und andererseits der zentralmexikanischen Kultur nachgewie­ sen: trotz einer sogar mehr als tausendjährigen Zeitdifferenz weisen diese so funda­ mentale Ähnlichkeiten auf, dass es ausgeschlossen erscheint, sie als zufällige Neben­ sächlichkeiten abzutun (vgl. oben C 3 α).



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che Recht Bedeutung gewann, hier allerdings immer noch schemenhaft blieb und erst für das gegenwärtige Recht wahrhaft strukturbildend geworden ist:530 die Unterscheidung zwischen privatem und hoheitlichem (öffentlichem) Recht. Sie wird im Recht der Protostaaten erstmals sinnvoll, weil hier der Staat neben dem Volk eine rechtliche Eigenexistenz gewann. Selbst wenn dies den Menschen damals noch nicht viel bedeutete, ändert das am Stellen­ wert des Ereignisses nichts; denn es ist ja ein häufiges Phänomen, dass erst für eine rückschauende Betrachtung die Ansätze Bedeutung erlangen, aus denen sich später wichtige Strukturelemente entwickelt haben. Ohnehin kann der Schnitt zwischen privatem und hoheitlichem Recht, als er sich bildete, nicht so scharf gewesen sein, dass er als historisches Datum hervortrat. Er lag vielmehr irgendwo innerhalb des allmählichen Übergangs von einer hauptsächlich durch verwandtschaftliche Beziehungen gestalteten Sphäre, deren Organisation (soweit sie überhaupt vom Recht gestaltet wurde) dem Privatrecht zuzurechnen war, zu einer durch Machtbeziehungen gestalteten politischen Sphäre, deren Organisation wir heute als öffentlich-rechtlich wahrnehmen. Dazwischen gab es zum einen den großen Bereich sozialer Beziehungen, der teils noch verwandtschaftlich-privat, teils schon hoheitlich geordnet war, und zum anderen den weitaus kleineren Bereich politischer Herrschaftsverteilung, der über Jahrhunderte hinweg bis in die Spitze hinein rein personalistisch (nämlich vom Adel) besetzt und so auch geordnet war.531 Erst die Trennung zwischen Staat und Volk im demokratischen Territorial­ staat der Neuzeit hat dann den Dualismus von privatem und hoheitlichem Recht klar verwirklicht  ‒ allerdings um ihn anschließend sofort wieder an Bedeutung verlieren und ‚hybriden‘ Rechtsbildungen Platz machen zu las­ sen.532 Für den folgenden Text wird daher zu beachten sein, dass die römi­ schen Juristen zwischen ius privatum und ius publicum zunächst nur unter­ schieden, indem sie das Verhältnis der Bürger untereinander mittels recht­ licher (Willens-)Erklärungen (leges dictae) auf deren Verhältnis zum Staat (als die res publica) übertrugen533, und dass sie erst später – im Anschluss an R. David/C. Jauffret-Spinosi (1992), p. 442. Aristoteles waren die Königreiche riesenhafte Privathaushalte (Diogenes Laertios, V 22), wobei er wahrscheinlich vor allem an die spätminoische Palastwirt­ schaft mit ihrer genauen Buchführung dachte. ‚Hoheitlich‘ war dagegen die der Öf­ fentlichkeit weitgehend entzogene Rechtssphäre des dynastisch und charismatisch legitimierten Königs sowie seines Hofes. Hingegen gab es weder im Altertum noch im Mittelalter einen Staat als öffentlich-rechtliche Institution (‚juristische Person‘) und daher beispielsweise auch keine Staatsschuld, für die einzig der Staat haftete. 532  Die Bedeutung scheint allerdings allmählich wieder zu schwinden, vgl. dazu unten K 4. 533  Ulpian in Dig. 1, 1, 1, 2: „Publicum jus est, quod ad statum rei Romanae spectat. Privatum, quod ad singulorum utilitatem.“ Der Grundsatz des öffentlichen Rechts war die Erhaltung der Macht des Staates in seinem Kampf ums Dasein. Er 530  Vgl.

531  Nach

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griechische Vorstellungen von der eigenständigen Bedeutung eines Staates (bzw. der Polis) gegenüber seinen Bürgern – das öffentliche Recht als Ord­ nung der staatlichen Interessen sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich verstanden.534 Auf dieser Grundlage lässt es sich heute vertreten, für die Organisation der Protostaaten die Begriffe ‚Verfassung‘ und ‚Verfassungs­ recht‘ ausschließlich dann zu verwenden, wenn nicht die verwandtschaft­ lichen Verhältnisse der an der Herrschaft beteiligten Personen, sondern die politisch-institutionellen Organisationsstrukturen des Staates gemeint sind. Ebenso wie die Grenze zwischen ius privatum und ius publicum hat sich auch erst in den Protostaaten eine Bedeutungsgrenze zwischen Schadensersatz und Strafe herausgebildet. Dass Strafe in ältester Zeit Strafe zugleich Schadensersatz bedeutete, geht aus den uns überlieferten sumerisch-akka­ dischen Gesetzen zweifelsfrei hervor: sowohl aus den Leges Urnamma (21. Jh. v. u. Z.), welche die Zahlung abgestufter Bußgelder für bestimmte Arten von (vorsätzlichen?) Körperverletzungen vorsahen, als auch aus den noch etwa hundert Jahre jüngeren Leges von Ešnunna, die in §§ 42 ff. ein Bußgeldverzeichnis enthalten, welches Strafe und Schadensersatz vereint. Es gilt aber auch für die Bußgeldvorschriften des altertümlichen XII-Tafelgeset­ zes Roms: auch sie heben für die Rechtsfolgen von Delikten mal den Scha­ densersatz-, mal den Strafgedanken stärker hervor.535 Geschärft wurde die Grenze zwischen Strafe und Schadensersatz erst aufgrund der Monopolisie­ rung der Strafgewalt beim Staat, vollständig durchsetzen konnte sie sich niemals. Selbst heute noch lebt ihre Verbindung ungeschminkt in den punitive damages des US-amerikanischen Rechts fort, während Deutschland und andere Nationalstaaten bei der Verhängung von staatlichen Geldstrafen zu­ mindest Rücksicht darauf nehmen, dass deren Vollstreckung die Chance des Geschädigten auf privaten Schadens­ausgleich nicht schmälert.536

teilte dem Einzelnen zu, was ihm als Glied des Volkes und um des Volkes willen zukommt. Der Grundsatz des Privatrechts war dagegen der Nutzen des Einzelnen um seiner selbst willen. Das öffentliche Recht war daher in erster Linie verpflichtend, das private Recht in erster Linie berechtigend. Gleichwohl war der Gegensatz niemals vollkommen, seine Bedeutung schwankend. Zur Entwicklung vgl. auch unten H 2 b aa (a. E.). 534  Aristoteles (Rhetorik I, 1373b) teilte die ge- oder verbotenen Handlungen ein in solche, die sich auf die Gemeinschaft als Ganze (πρὸς τὸ κοινόν) oder nur auf ei­ nes ihrer Mitglieder (πρὸς ἕνα τῶν κοινωνούντων) beziehen. Er selbst zog daraus für das Recht allerdings keine Schlussfolgerungen. 535  Näher dazu unten J 5 b γ αα. 536  Zum Ganzen auch G. Ries (1998).



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a) Verfassungs- und Verwaltungsrecht Das antike Verfassungsrecht entstand auf der Grundlage von Jahrtausende alten Erfahrungen in der Organisation von Sippen, Clans und Stämmen.537 Denn deren hierarchisches Verwandtschaftsmodell ließ sich präter propter auch auf das politische Modell zunächst von Häuptlingsschaften und König­ reichen, später auch von Protostaaten übertragen: Wie an der Spitze eines Verwandtenverbandes der Älteste als Chef stand, so stand an der Spitze eines politischen Verbandes der Mächtigste als Herrscher (Häuptling, König, Kai­ ser, lugal, Pharao, Prätor). Seine Legitimation zum Herrschen leitete er an­ fangs gleichsam patrilinear aus seiner göttlichen Abstammung, später gleich­ sam rechtsgeschäftlich aus einem göttlichen Auftrag ab;538 noch später wurde 537  Dagegen ist die Fähigkeit zur kollektiven Identitätsbildung, worin das eigene Kollektiv durch die Differenz zu anderen Kollektiven definiert wird, offenbar ange­ boren (vgl. J. Rüsen, 1998, S. 15: „kollektive Grundtatsache menschlicher Vergesell­ schaftung“). Universell und daher wahrscheinlich ebenfalls angeboren ist auch die Unterscheidung dreier konzentrischer Kreise: Verwandtschaft, Zugehörigenkreis und Fremdkreis (H. Markl, 1986, S. 179 ff.). 538  Als Beispiel für Mesopotamien sei aus E’annatum 1 Rs. v 42 – vi 9 zitiert (vgl. H. Steible, 2001, S. 72): „E’annatum, der König von Lagaš, dem Macht verliehen wurde von Enlil, der mit rechtmäßiger Milch ernährt wurde von Ninhursag, dem ein guter Name genannt wurde von Inanna, dem Weisheit verliehen wurde von Enki, der im Herzen erwählt wurde von Nanše, der gewaltigen Herrin, der Fremdlandunterwerfer des Ningirsu, der Liebling von Dumuziabzu, der mit Namen bestimmt wurde von Hendursag, der ge­ liebte ‚Freund‘ des Lugaluru, des geliebten Gemahls der Inanna.“ Dazu H. Steible, a. a. O. S. 73: „Wir haben [hier] einen klar strukturierten theologi­ schen Aufbau der Legitimation vor uns, der einerseits die zentralen Gottheiten des sumerischen Pantheons (Enlil, Ninhursag, Inanna und Enki) einbindet, andererseits lokal wichtige Gottheiten (an der Spitze Nanše und Ningirsu) berücksichtigt.“ In Indien wurde der König teils als von Gott Erwählter, teils selber als Gott, teils (unter buddhistischem Einfluss) nur als Rāja (oder Mahārāja) vorgestellt, der die Ordnung im Lande zu erhalten hatte und dafür Produkte von Feld und Vieh bekam. Sein Schutzauftrag bezog sich nicht nur auf die Abwehr äußerer Feinde, sondern auch auf die Sicherung der Infrastruktur (u. a. Bewässerungsanlagen), der Wirtschaft, der Bürger vor Hungersnot, Seuchen und Angriffen Krimineller sowie auf die Einhaltung der Sittenordnung. In China wurde der ‚Himmel‘ als höchster Gesetzgeber angesehen. Aufgabe der Herrscher als Vermittler zwischen Himmel und Erde war es, den ihnen offenbarten Willen des Himmels umzusetzen. Dem Himmel gegenüber haftete er für alle Ereig­ nisse im Reich, die dem regelmäßigen Verlauf der Natur widersprachen. Erwies er sich als unfähig, bestand ein Recht zum Widerstand (vgl. W. Bauer, 1965, S. 162 f.). Eine Sonderstellung nahmen Rom aufgrund seiner demokratisch/republikanischen Verfassung und Israel aufgrund seiner Religion ein. In Israel gab es neben Jahwe ursprünglich keinen irdischen König. Erst die Bedrängung durch die Philister er­ zwang die Straffung der Kräfte durch eine monarchische Spitze, weshalb man entge­ gen religiösen Bedenken schließlich Saul zum König Israels salbte.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

sie durch die Wahl des Volkes ersetzt. Folge seiner Legitimation war aller­ dings die Belastung mit Verantwortung vor denjenigen, die ihm die Legiti­ mation erteilt hatten: zunächst vor den Göttern, später vor den Untertanen. Je nachdem veränderte sich auch ihr Gewicht: Die Götter wogen die Verantwor­ tung gegen ihren metaphysischen Willen ab, die Untertanen gegen ihre Be­ dürfnisse. Das Letztere war gefährlicher; denn die Untertanen sahen vor al­ lem darauf, ob das Handeln des Herrschers sich in ihrem Alltag bewährte und da ihren indivi­duellen und sozialen Bedürfnissen ‚gerecht‘ wurde. Von daher konnte sich dann leicht Zorn aufstauen. Da die Herrscher nie gleichzeitig und kaum jemals gleichmäßig alle ihnen zukom­ menden Funktionen ausüben und alle Bedürfnisse ihrer Untertanen befriedigen konn­ ten, verlagerten sie einen Teil der Funktionen regelmäßig auf Stellvertreter, die ihnen dafür einen Teil ihrer Verantwortung abnahmen: so etwa auf die obersten Priester für die ‚Wahrheit‘ religiöser Weissagungen und auf die obersten Kriegsherren für ‚Rich­ tigkeit‘ feldherrlicher Befehle. Der Vorteil war, dass vor allem die Stellvertreter bei Misserfolgen in Ungnade fielen und vom Herrscher ausgewechselt werden konnten, der Nachteil, dass aus erfolgreichen Stellvertretern oft Konkurrenten wurden. Aller­ dings konnten die Herrscher ihre Verantwortung für Misserfolge selten vollständig abwälzen: Manch einer wurde wegen einer falschen Weissagung und eines daraufhin verlorenen Krieges trotz Stellvertreter abgesetzt, zum Tode verurteilt und (samt An­ hang) hingerichtet; denn es war zumindest offensichtlich, dass ihm die göttliche Un­ terstützung jetzt fehlte, seine Legitimation zur Herrschaft also geschwunden und es daher am besten war, wenn er selber ebenfalls verschwand.

Je stärker die Bevölkerungen sich vermehrten, desto wichtiger wurde die Ordnung ihres Zusammenhalts. Von der allgemeinen Überzeugung ihrer Richtigkeit getragene Normen, die den Grundstock der staatlichen Ordnung hätten bilden können, gab es bald nicht mehr − schon weil es keine allge­ meine Volksmeinung mehr gab, die sie erzeugen konnte, sondern sich Inte­ ressengruppen herausbildeten, die eigene Ziele verfolgten und eigene Regeln des Umgangs miteinander pflogen. Dies schwächte nicht zuletzt die Außen­ verteidigung der Staaten, die immer wichtiger wurde, weil der Siedlungsraum sich verengte und jeder irgendwo aufkeimende Wohlstand sofort Gelüste der Nachbarn zu ungebetener Teilnahme weckte. Daher musste die Menge des von der Regierung gesetzten Rechts überall ansteigen, sodass zur Gesetz­ gebung alsbald kein Einzelner mehr fähig war, sondern an seiner Stelle oder neben ihm eine Klasse herausragender Persönlichkeiten tätig werden muss­te – der Hofstaat, ein Adelsrat (‚Aristokratie‘), ein Magistrat, die Pries­ terschaft (‚Theokratie‘), die Gebildeten im Volke539 oder die Bürgerschaft wehrfähiger Männer, in Griechenland der δῆμος (‚Demokratie‘)540. 539  „Wer geistig arbeitet, regiert, wer körperlich arbeitet, wird regiert“, lautete die Lehre des Philosophen Mengs-Tse (Menzius, 371–289 v. u. Z.). Und eine weitere Lehre lautete: „Gäbe es keine Gebildeten, so wäre niemand da, die Bauern zu regie­



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts297

Sicher war überall nur, dass die staatlichen Gesetzesbefehle sich unmittelbar nur an die staatlichen Richter und Beamten, an das Volk dagegen nur mittelbar richteten: entweder positiv, indem sie die Macht des Einzelnen stärkten oder begrenzten (so in Rom), oder negativ, indem die Bürger in ihnen nur als Verwaltungsmasse vorkamen (so in China). Inhaltlich stand im ersten Fall das freie Individuum im Zentrum, im zweiten die staatliche Ordnung der Gesellschaft.

Die herrschaftliche Verwaltung (i. S. von government) oblag in den antiken Flächenstaaten541 einer regional gegliederten und dreistufig aufgebauten Bü­ rokratie: Die Zentrale bestand am Hofe des Herrschers und wurde dort ent­ weder vom Herrscher selbst, öfter dagegen von einem Hofrat o. ä. angeführt; die mittlere Stufe besetzte gewöhnlich eine Provinzialverwaltung, die von Statthaltern geleitet wurde und dem Herrscher gegenüber verantwortlich war;542 und auf der unteren Ebene walteten entweder Dorfschulzen oder staatliche Beamte, die am Beginn ihrer Karriere standen. Die Verteilung der sachlichen Zuständigkeit innerhalb der drei Verwaltungsstufen wies ebenfalls eine gewisse Typizität auf, die offenbar der ‚Natur der Sache‘ entsprang: •• Der Zentralgewalt oblag hauptsächlich die Erhebung von Steuern und die Verwaltung des staatlichen Grundbesitzes. Die Aufgaben der dafür zustän­ digen Hofbeamten waren meist gesetzlich geregelt;543 Gesetzesuntreue und Korruption wurden streng geahndet. •• Die Provinzialgewalt war von der Zentralgewalt nur in größeren Gemein­ wesen vollständig getrennt. Meistens wurde sie von staatlichen Beamten ausgeübt, deren Aufgabe darin bestand, einerseits mit den lokalen Autori­ täten zusammenzuarbeiten und sie zu überwachen, andererseits den Kon­ takt zum Herrscherhaus herzustellen. •• Die lokalen Autoritäten waren zuständig sowohl für Gegenstände der Auf­ tragsverwaltung, für deren Erledigung sie von der mittleren Ebene aus ren; gäbe es keine Bauern, so wäre niemand da, die Gebildeten zu ernähren“, vgl. R. Wilhelm (1916), S. 56, 53. 540  Eine an der Rechtssetzung beteiligte Bürgerschaft gab es möglicherweise schon in Babylon (vgl. Gilgamesch-Epos Tafel XI, Vers 35). Ferner berichtet Herodot (His­ torien III 142), dass im 6 Jh. v. u. Z. Maiandrios nach dem Tode des Polykrates den Bürgern von Samos die Herrschaft übergab und deren „Gleichheit vor dem Gesetz“ verkündete. 541  In den Stadtstaaten war sie anders geregelt. Die Besonderheiten der römischen Verwaltung und ihrer Entwicklung können hier nicht dargestellt werden. 542  Um sich seiner Loyalität zu versichern, ernannte der Herrscher den Gouverneur entweder aus dem Kreis der eigenen Familie oder aus der Zahl derjenigen Personen, die von ihm sozial abhängig waren, weil sie ihm ihren Aufstieg verdankten, und die er jederzeit wieder fallen lassen konnte (R. Herzog, 1988, S. 274 f.). 543  Beispielsweise in Mesopotamien durch die Edikte von Irikagina, Telepinu und Horenheb.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Weisungen erhielten, als auch für lokale Angelegenheiten, für deren Erle­ digung sie lediglich einer staatlichen Rechtsaufsicht unterstanden, jedoch für etwaigen Machtmissbrauch hart bestraft wurden. Weitere unabhängige Verwaltungseinheiten mit interner Jurisdiktionsgewalt waren die Tempel, manchmal auch die Paläste oder Stiftungen, in Mesopotamien zusätzlich die Handelskammern (kārū). Ferner gab es in verschiedenen Staaten Standesorganisa­ tionen als semiautonome Einheiten mit einer bescheidenen Jurisdiktionsgewalt (die sich – offenbar als ebenfalls in der ‚Natur der Sache‘ liegend – bis heute erhalten hat).

Eine strenge Trennung der gesetzgebenden von der administrativen Gewalt gab es nirgends. Sie ergab sich lediglich teilweise dort, wo untergeordnete Beamte zwar den gesetzlichen Anweisungen oder Befehlen höherer Beamter oder des Herrschers Folge zu leisten hatten, im Übrigen aber Ermessensent­ scheidungen treffen durften. Großen Einfluss auf die bürokratische Macht der Staaten hatte überall die Verbreitung der Schrift. Je mehr Schriftkundige es gab, desto mehr erblühten ein zuvor unbekanntes Berichtswesen und in seinem Gefolge eine Stärkung der zentralen Macht. Demgemäß trat regelmäßig der Herrscher selber als Urheber aller verschrifteten Normen in Erscheinung. Und die Gesamtheit seiner Normen ergab überall diejenige Gesetzesordnung, durch die sich ein Staat von anderen abgrenzte. Noch in der Spätantike besaß lediglich die schriftliche Norm den Charakter eines Gesetzes (lex), während die mündliche Norm ein Teil des Gewohnheitsrechts (ius) war. Dennoch strebte auch damals schon jeder gewohnheitsrechtliche Satz nach einer schriftlich fixierten Gesetzesfassung, während jede Gesetzesnorm danach strebte, zur allgemeinen Rechtsgewohnheit zu werden.

b)–g) Zivilrecht Alle protostaatlichen Zivilrechtskulturen wiesen – mehr oder weniger deutlich – folgende Komponenten auf: •• die Regelung des Status von Individuen (unten b), •• die Regelung der Beziehungen innerhalb von Ehe und Verwandtschaft (unten c), •• die Regelung des Zugehörigkeit von Sachen (unten d), •• die Regelung der Erbfolge (unten e), •• die Regelung von Schuldverträgen und der Schuld(en)haftung einschließ­ lich der Gewährung von Sicherheiten (unten f), •• die Regelung des Verfahrens zur Beilegung von Konflikten (unter g).



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b) Statusrecht Das alte Recht behandelte die Menschen überall nach ihrem Status und somit ungleich. Ihren Status bestimmte es (α) persönlich nach der Zugehö­ rigkeit zu einer menschlichen Kategorie, (β) politisch nach der Zugehörigkeit zu einer staatlichen Einheit, (γ) sozial nach der Zugehörigkeit zu einer ge­ sellschaftlichen Klasse bzw. Kaste. (α) Persönliche Differenzierung. Persönlich wurden alle Menschen vierfach kategorisiert: gemäß ihrem Alter in Kinder, Jugendliche und Erwach­ sene, gemäß ihrem Geschlecht in Männliche und Weibliche, gemäß der Nähe ihrer blutmäßigen Abstammung in Familienmitglieder und sonstige Ver­ wandte (ergänzend: durch Heirat, Adoption u. ä. rechtlich Zugehörige), ge­ mäß der Art ihrer Zugehörigkeit zu einem Verband in notwendige und frei­ willige Mitglieder. Altersunterschiede spielten in allen protostaatlichen Rechtsordnungen eine erhebliche Rolle. Während Kinder zunächst als schlechthin beliebig verfüg­ bares Eigentum desjenigen betrachtet wurden, der die Gewalt über ihre Mut­ ter ausübte, in der Regel also als Eigentum des Vaters,544 erlangten sie später mehr und mehr Personcharakter. Auch wurde ihre Erziehung zwar noch nicht als eine rechtliche, wohl aber als eine sittliche Pflicht betrachtet.545 Im Übri­ gen bestimmte sich ihre Rechtsstellung bis zur Volljährigkeit nach ihrer Zu­ gehörigkeit zum Haushalt des Vaters. Lediglich wenn der Vater starb, rückten seine Söhne (oder nur der älteste Sohn) in seine Rechtsstellung ein.546 Die Töchter blieben dagegen vom Wechsel im Haushaltungsvorstand unberührt: Sie standen unter der Aufsicht ihres Vaters oder seines Nachfolgers, bis sie heirateten und dann regelmäßig unter die Aufsicht ihres Ehemannes gerieten. Im Gegensatz zum heutigen Recht kannten die frühesten Rechtsordnungen kein festes Volljährigkeitsalter. Einige der späteren Rechtsordnungen erklär­ ten Kinder dagegen ab einem bestimmten Alter für volljährig, so etwa in China die Söhne ab 20 Jahren,547 in Indien die Söhne ab 16 Jahren und die

544  So ausdrücklich Manu VIII 149 für das indische Recht. Die Folge war, dass der Vater das Recht hatte, seine Kinder zu verkaufen oder zu verstoßen (vgl. für Mesopotamien CH § 117; für Griechenland Homer, Od. I 430; für Rom M. Kaser (1972), § 13 I; für Germanien [Friesland] C. Tacitus, Annalen IV 72 ). Weitere Nach­ weise bei A. H. Post (1894), S. 169, 175. 545  Inwieweit die sittlichen Pflichten der Kinder gegenüber ihren Eltern durch de­ ren Liebe aufgewogen wurden, wissen wir nicht. 546  Waren die Söhne noch zu jung, um die Rechtsstellung auszufüllen, erhielten sie einen Vormund (zumeist den Bruder des Vaters, selten dagegen die Mutter). Vgl. genauer unten f γ. 547  Dasselbe Alter galt später durch Kaiser Konstantin auch in Rom.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Töchter ab 12 Jahren,548 in Griechenland die Söhne teils mit 16, teils mit 20 Jahren.549 Die Wirkung der Volljährigkeit oder des Einrückens in die Rechtsstellung des Vaters bedeutete überall die Fähigkeit, Rechtsgeschäfte wirksam zu tätigen. Auch Geschlechtsunterschiede waren in fast allen protostaatlichen Rechts­ ordnungen Grundlage unterschiedlicher Rechte und Pflichten, wobei die Rechte der Männer die der Frauen fast immer überwogen, regelmäßig aber auch mit mehr Pflichten verbunden waren.550 Sozial war der (verheiratete) Mann ‚Herr des Hauses‘ und in dieser Stellung innerhalb des Hauses nahezu omnipotent; außerhalb stand er anderen Hausherren gleich. Der soziale Rechte- und Pflichtenkreis der Frau war im Wesentlichen auf Haus und Hof sowie auf die Kinder beschränkt. Selbst wenn der Hausherr starb, nahm nicht immer die Witwe seine Stellung ein, vielmehr geriet sie meistens unter die Herrschaft entweder ihres Schwagers oder ihres ältesten Sohnes.551 Und selbst wo die Gesetze ihr Eigentum, Geschäftsfähigkeit und Prozessfähigkeit zusprachen, konnte sie diese Rechte in der Praxis selten eigenverantwortlich ausüben;552 häufig wirkte die soziale Macht des Mannes über seine Rechts­ stellung hinaus, sodass seine Mitwirkung in geschäftlichen Angelegenheiten erforderlich blieb. Offen standen den Frauen lediglich gewisse Berufstätig­ keiten, innerhalb deren sie dann auch freier agieren konnten: etwa als Pries­ terinnen, Ammen, Schankwirtinnen oder Prostituierte. Von politischen Äm­ tern blieben sie fast immer ausgeschlossen. Selbstverständlich war überall, dass die blutmäßige Abstammung die recht­ liche Zugehörigkeit zu einem Sippenverband553 sowie das Erbrecht im Falle 548  J. D. M.

Derrett (1956), S. 216. Griechenland konnten sie alsdann bei Abwesenheit des Vaters dessen Stel­ lung einnehmen, z. B. Telemachos in Abwesenheit seines Vaters Odysseus (Homer, Od. I 397 f.). 550  Vgl. etwa für Indien Yājñavalkya II 49 f., dort freilich beschränkt, falls Berufs­ gruppen ihren Lebensunterhalt mit der Hilfe der Frauen verdienen. Bis in die neueste Zeit hat sich erhalten, dass der Mann für die finanziellen Verpflichtungen haftete, die seine Frau (für den Haushalt) einging. 551  So beispielsweise in Indien (Manu IX 2, 3; Vasisṭha V 3: „Her father takes care for her in her childhood; her husband takes care for her in her youth; and her son takes care for her in her old age. A woman is not fit to act independently.“) und in Rom (M. Kaser/R. Knütel, 2014, § 63 Rn. 3). 552  Zu Rom vgl. Gaius I 190: „Volljährige Frauen führen ihre Geschäfte selbst, und in einigen Fällen gibt ein Vormund nur der Form halber die Zustimmung.“ Von Beschränkungen relativ frei war die Stellung der Frauen dagegen im Orient, wo sie weitgehend eigenständig wirtschaften, Sklaven halten und Prozesse führen konnten (vgl. R. v. Haase, 1965, S. 69 f.). 553  Innerhalb der hier behandelten Staaten also regelmäßig zum väterlichen Sip­ penverband. Zu Griechenland in Homerischer Zeit vgl. R. Köstler (1950), S. 195. 549  In



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des Todes eines Angehörigen derselben Sippe bestimmte. Der blutmäßigen Abstammung waren überall aber auch gewisse willkürlich begründete Ver­ bindungen rechtlich gleichgestellt, so insbesondere die Verbindung von Mann und Frau durch die Ehe, die Verbindung von Eltern mit Kindern durch deren Adoption. Die Zugehörigkeit zu einem sonstigen Sozialverband war dagegen unter­ schiedlich bedeutsam. War sie zwingend, dann wurde sie regelmäßig mit Rechten und Pflichten verbunden. Gewöhnlich bestimmte sie dann das sozi­ ale Ansehen, das den Mitgliedern des Sozialverbandes generell entgegenge­ bracht wurde (sodass es durch das Verhalten einzelner Mitglieder bestätigt, gehoben oder beeinträchtigt werden konnte). Männer waren häufiger in Sozi­ alverbänden zusammengefasst als Frauen: wehrfähige Männer in einem Kriegsheer mit der Verpflichtung zur Teilnahme an Kriegszügen,554 arbeitsfä­ hige Männer in Zweckverbänden mit der Verpflichtung zur Teilnahme u. a. an Bauarbeiten im gemeindlichen oder herrschaftlichen Interesse.555 War die Mitgliedschaft fakultativ, spielte sie sozial gewöhnlich keine das Ansehen Allerdings war die Sippenrechtsordnung zu Homers Zeiten bereits teilweise überwun­ den; die Griechen waren in Städten sesshaft geworden und wurden dort zumeist von Königen regiert. Aber die Quellen sprechen, wenn sie den Staat meinen, auch später noch von der Bürgergemeinschaft, z. B. von „den Athenern“, die Römer vom populus Romanus, wodurch sie die Erinnerung an die Hausgenossenschaft als Zwischensta­ dium zwischen Nomadentum und Stadtstaat bewahrten. 554  Anfangs bildeten die wehrfähigen Männer wohl nur eine Art Bürgerwehr, die sich hinter den Verteidigungsmauern einer Stadt oder um ein Heiligtum herum mit selbst hergestellter Bewaffnung versammelte, wenn ein Feind anrückte. Die Teil­ nahme an solchen Verteidigungsmaßnahmen war dann ‚Ehrensache‘, was bedeutet, dass, wer nicht teilnahm, der sozialen Verachtung ausgesetzt war. Mit den Staatsgrün­ dungen war jedoch regelmäßig der Aufbau eines stehenden Heeres verbunden, das je nach der Größe des Staates und nach den Angriffs- oder Verteidigungsplänen seines Herrschers mehrheitlich aus Landeskindern oder aus Söldnern bestand. Gewöhnlich waren auch die Vasallen des Herrschers verpflichtet, für ein genügend großes Aufge­ bot an Kämpfern zu sorgen, wenn dieser einen Kriegszug plante und die Zeit für die Vorbereitung ausreichte. Musste dagegen schnell gehandelt werden, weil es um die Verteidigung gegen einen plötzlich anrückenden Feind ging, war es wichtig, dass der Herrscher selber einen festen Stamm von Soldaten zur Hand hatte, um zumindest erste Gegenwehr zu leisten. Ein solches Stammheer empfahl sich auch für innere Machtkämpfe, falls einer der Vasallen sich stark genug fühlte, gegen den Herrscher aufzubegehren und mit eigenen Truppen aufzumarschieren. Vgl. dazu R. Herzog (1988), S.  152 ff., 240 ff. 555  Für kleinere Bauarbeiten (etwa Vorratsspeicher) oder zur Herstellung von Tei­ len größerer Bauten (etwa von Teilen der Verbindungsstraßen zwischen Ortschaften) wurden wahrscheinlich die Bauern aus den umliegenden Ortschaften herangezogen. Für größere Arbeiten (etwa zum Bau von Tempeln oder Palästen sowie zu Ringmau­ ern um eine Stadt) mussten dagegen Arbeiter auch aus entfernteren Gegenden aufge­ boten werden. Sie wurden dann an Ort und Stelle untergebracht und beköstigt und von den Architekten und Aufsehern jeweils für einzelne Arbeitsabschnitte eingeteilt.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

beeinflussende Rolle. Auch hatten die mit der Mitgliedschaft verbundenen Aufgaben und Vergünstigungen gewöhnlich keinen Rechtscharakter. (β) Politische Differenzierung. Die Zugehörigkeit zu einem politischen Verband wurde grundsätzlich genetisch erworben: Der Neugeborene teilte den Status seiner Eltern (seines Vaters) – er war Ägypter, Akkader, Spartaner, Römer usf. Fremde konnten den Status aufgrund von Heirat, Adoption oder königlicher Ermessensentscheidung erwerben.556 Im Übrigen waren sie recht- und schutzlos, solange sie sich nicht des Schutzes eines Verbandsge­ nossen versichern konnten. In fortgeschrittenen Gesellschaften übernahmen Häuptlinge oder Könige den Fremdenschutz im Interesse eines gefahrlosen Handels.557 (γ) Soziale Differenzierung. Die Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse, einem sozialen Stand oder einer sozialen Kaste558 konnte entweder genetisch oder durch Leistung erworben werden. Soweit sich die protostaatlichen Rechtsordnungen hierzu verhielten, waren ihre Regelungen unterschiedlich. •• Soziale Klassen559 unterschieden sich aufgrund der sozialen Wertschät­ zung ihrer Mitglieder, insbesondere aufgrund der unterschiedlichen Vertei­ lung von wirtschaftlicher, politischer, religiöser oder kultureller Macht oder von körperlichen Eigenschaften. Erworben werden konnte die Zuge­ hörigkeit folglich durch wirtschaftlichen Erfolg, politischen Einfluss (etwa in einer institutionalisierten Führungsposition, die mit der Entscheidung Sonderfälle infolge ihres gewaltigen Ausmaßes waren der Bau der Pyramiden in Ägypten und der Bau der Großen Mauer in China. 556  Zu Mesopotamien vgl. R. Westbrook (2003), p. 36  f., B. Lafont/R. Westbrook (2003), p. 197; zu Ägypten vgl. R. Jasnow (2003), p. 112; zu Griechenland vgl. die folgende Fn. 557; zu Rom vgl. G. Dulckeit/F. Schwarz/W. Waldstein (1995), § 4 V 1. 557  In Griechenland blieben Fremde zwar selbst dann rechtlos, wenn sie schon seit Generationen in einer der Städte wohnten. Doch gestand man ihnen Rechtsschutz zu, wenn man mit ihnen Handel trieb und man sie deshalb vor kriminellen Übergriffen schützen musste (vgl. etwa Homer, Il. VII 467 ff.). In Athen allerdings waren Fremde, die sich als Metöken (Mitbewohner) in der Stadt niedergelassen hatten und dort meist ein Handwerk oder einen Handel betrieben, durch einen eigens für sie zuständigen Amtsträger (Polemarchos) in das Rechtsleben voll integriert. Lediglich Grundstücke und Häuser konnten sie nicht erwerben. Diese Beschränkung findet sich auch in an­ deren Staaten, weil mit dem Grundeigentum sich regelmäßig politische Rechte ver­ banden. 558  Die moderne Soziologie hat der Einteilung nach Klassen noch die nach Schichten (z. B. Unter-, Mittel- und Oberschicht) hinzugefügt. Diese Konzeption lässt es zu, die Gesellschaft als hierarchisch gegliedert nach Beruf, Bildung, Erziehung, Lebens­ standard, Macht, Art der Kleidung, Religion, politischer Meinung und Organisation zu definieren. Dagegen werden ur- und frühgeschichtliche Schichtungsmerkmale wie Schönheit, Fertilität, Körpergröße, Kraft, Ausdauer oder Mut als Mittel zur Differen­ zierung der Sozialstruktur nicht mehr anerkannt. 559  Vgl. dazu auch noch unten J 3 c α.



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über öffentliche Angelegenheiten oder mit der Verteilung allgemein be­ gehrter Güter verbunden war), religiöses oder quasi-religiöses Charisma (etwa als Priester oder als Schamane), bestimmte kulturelle Befähigungen (etwa als Handwerker, als Schriftkundiger oder als Arzt) oder körperliche Anlagen (einerseits Kraft, andererseits Behinderung). Inwieweit die Rechtsordnungen hierauf reagierten, lässt sich heute nur schwer feststel­ len. •• Ständen,560 d. h. sozialen Gruppierungen, für die soziale Geschlossenheit und rechtliches Handeln nach außen durch Vertreter typisch waren, konnte man entweder durch Geburt oder durch Heirat angehören („Geburtsstand“, „Ehestand“). Insoweit unterschied sich das protostaatliche Recht nicht vom heutigen. Daneben gab es aber soziale Differenzierungen auch nach dem Grad der persönlichen Freiheit, die heute unbekannt sind: etwa die Stände der Freien, der Hörigen (Halbfreien) und der Sklaven561 (awīlum, muškēnum und wardum in Mesopotamien). Die Zugehörigkeit zu diesen Ständen wurde zwar i. d. R. ebenfalls durch Geburt oder Heirat erworben, doch waren insoweit sowohl Aufstieg als auch Abstieg begrenzt möglich. Besondere Regeln galten überall für den Stand der Sklaven.562 Sie standen auf der untersten sozialen Stufe, in vielen Rechtsordnungen sogar zusammen mit den Sa­ chen: Sie konnten gekauft, verkauft,563 verliehen oder verpfändet werden; ihre Tötung oder Verletzung war Sachvernichtung oder -beschädigung. Gleichwohl ge­ riet nie in Vergessenheit, dass sie zumindest Sachen besonderer Art waren – Sachen mit menschlichem Antlitz und menschlicher Sprache.564 Daher durften sie zwar für 560  Dieser Begriff erlangte eine spezielle Bedeutung im Mittelalter, wo man einen Adels-, einen Bürger- und einen Bauernstand unterschied. Der Begriff wird hier je­ doch in einem allgemeineren Sinne gebraucht, welcher auch die von M. Weber (2005, S. 179 ff.) so genannte „ständische Lage“ einschließt, nämlich „eine typisch wirksam in Anspruch genommene positive oder negative Privilegierung in der sozialen Schät­ zung, begründet auf: a) Lebensführungsart, b) formale Erziehungsweise …, c) Ab­ stammungsprestige oder Berufsprestige“. 561  Auch die umgekehrte Stufung in Gemeinfreie, Halbadel und Adel kommt vor. Ihr lag jedes Mal eine ungleiche Verteilung des Reichtums zugrunde: Adlig war, wer bedeutenden Landbesitz oder andere Formen des Reichtums sein Eigen nannte. Ur­ adel gab es zeitweise in Griechenland (Eupatriden) und in Rom (Patrizier). 562  Gründe für die Sklaverei waren hauptsächlich Geburt durch eine unfreie Mut­ ter, Armut (z. B. Verkauf von Kindern durch ihre Eltern), Schulden und Gefangen­ nahme im Krieg. Die Schuldsklaverei endete automatisch mit der Erfüllung oder dem Erlass der Schuld. Gesetzliche Regelungen zur Sklaverei finden sich u. a. in Mesopotamien (CH §§ 7, 15 ff., 278 ff.), Israel (5. Mose 15 12 ff.), Griechenland (Solonische Gesetze), Rom (XII-Tafelgesetz 3 5, 7 12, 8 3). Ausführlich zur Sklaverei in Grie­ chenland und in der römischen Welt N. Brockmeyer (1979), S. 77 ff. und 148 ff. 563  Dies belegen u. a. Täfelchen aus Knossos sowie in der Odyssee Homers etwa die Geschichte des Eumaios, eines Sklaven (Schweinehirten) des Odysseus. 564  Allgemeine Menschenrechte waren allerdings unbekannt. Sie wurden selbst dort nicht entwickelt, wo, wie in Griechenland, allen „Menschenfüßigen“ (ἀνδράποδα)

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Vergehen oder Faulheit hart gezüchtigt, jedoch nicht beliebig misshandelt,565 Skla­ vinnen überdies nicht sexuell missbraucht werden.566 Auch bestanden zwischen Herren und Sklaven bisweilen enge persönliche Beziehungen (sog. patriarchalische Sklaverei), und bisweilen konnte ihr Herr sie sogar mit Teilrechtsfähigkeit ausstat­ ten oder freilassen.567

•• Kasten bildeten sozial streng abgeschlossene Personengruppen. Die Ab­ schließung erfolgte teils durch Endogamie innerhalb der Kaste, teils durch Diskriminierung Außenstehender. Wer dazugehörte, musste bestimmte Wertüberzeugungen teilen und bestimmte Normen sowohl für sein Verhal­ ten gegenüber anderen Mitgliedern als auch gegenüber den Mitgliedern anderer Kasten beachten.568 Ausgeprägt war solches Kastenwesen von je­ her in Indien, wo es selbst heute noch Bedeutung besitzt. In abgeschwäch­ ter Form kehrte es in einigen seiner Nachbarstaaten wieder, nicht aller­ dings in China. In Indien ersetzten die Kasten geradezu die soziale Hierarchie. Man bewertete ei­ nen Menschen danach, ob er einer sozial höher oder niedriger geachteten Kaste angehörte. Konkret bestimmte die Kastenzugehörigkeit insbesondere die Partnerund die Berufswahl.

c) Familienrecht (Ehe- und Kindschaftsrecht) Alle protostaatlichen Rechtsordnungen kannten familienrechtliche Regelungen; denn die Familie, bestehend aus Eltern und Kindern, galt in allen frühen Staaten als eine biologische Vorgegebenheit, die kein Recht missach­ ten darf. Familienrechtliche Normen hatten daher übereinstimmend die eine weit über das Tier hinausreichende Sonderstellung zuerkannt wurde. Alle Men­ schen, hieß es, ständen unter dem Schutze von Zeus und dürften deshalb (auch als Sklaven) nicht beliebig verletzt oder beraubt werden. In Athen kann als Menschen­ recht allenfalls die Gleichheit vor dem Gesetz, die ἰσονομία, begriffen werden. Aber selbst sie galt nur für Griechen, nicht auch für Barbaren, war also streng genommen ein Bürger-, kein Menschenrecht. 565  In Athen konnte ein Sklave in das Heiligtum des Theseus fliehen, sich dort über die üble Behandlung durch seinen Herrn beschweren und den Verkauf an einen anderen Herrn beanspruchen. 566  Allerdings konnte der Herr eine Sklavin zur Konkubine machen. Sie genoss dann besondere Rechte und erlangte nach dem Tode des Herrn samt ihren Nachkom­ men die Freiheit (für Mesopotamien vgl. CH § 171). 567  So etwa in Griechenland. Dort durften sie alsdann selbstständig handeln, etwa ein Landgut bewirtschaften, Handel treiben oder heiraten (Homer, Od. XIV 5 ff. und 379; 449 ff.; XXIV 346 ff.; Gortyn, col. VII 1 ff.). 568  R. S. Khare (1970), p. 4: „[They are] complexes of status-rank organization, occupational patterns, marriage requirements, and prescribed rites and rules of ortho­ doxy and orthopraxy (i. e., an emphasis on ritualized religion) which they hold as peculiar to themselves.“



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Funktion, den (bioevolutionär wirksamen) Verwandtenaltruismus zu stabili­ sieren. Sie knüpften grundsätzlich an die Abstammung und an die Heirat an.569 Rechte und Pflichten gestalteten sie jedoch entsprechend dem sozialen und dem kulturellen Status der beteiligten Personen unterschiedlich aus. (α) Im Verhältnis von Mann und Frau bildeten sich zum Schutz ihrer Ge­ meinschaft sowie der gemeinsamen Kinder Verpflichtungen heraus, die der heute noch üblichen Rechtsform von Ehe und Familie nahekommen.570 Begründet wurde die eheliche Gemeinschaft kaum noch durch den Raub, mancherorts durch den Kauf einer Frau, meistens aber bereits durch den Konsens zwischen Bräutigam und Braut.571 Die Raubehe war allenfalls noch Sitte bei einigen besonders wilden Völkern,572 bei denen die Ehe (ebenso wie heute der Besitz) kein rechtliches, sondern ein soziales Verhältnis war, an das sich Rechtsfolgen anknüpften. Innerhalb der Protostaaten be­ stand sie nur noch als Übung besonders gewaltbereiter sozialer Klassen.573 Die Kauf­ ehe war dagegen gang und gäbe, wo der räuberische Erwerb durch den friedlichen Austausch von Gütern abgelöst war,574 sodass der Mann die Frau nunmehr quasi als 569  Das war wohl nicht immer so. Die sprachliche Verwandtschaft zwischen οἶκος und vicus deutet darauf hin, dass ursprünglich Familien- und Geschlechtsgemein­ schaft eins waren, verbunden durch sämtliche Mitglieder eines Haushalts (vgl. auch φράτηρ = Geschlechtsgenosse vs. frater = Familiengenosse). Im Sanskrit bezeichnet viç ebenfalls sowohl das Haus als auch die Gemeinde, viçpati sowohl das Familienals auch das Gemeindeoberhaupt. Vgl. dazu F. Bernhöft (1891), S. 2  ff.; ferner A. H. Post (1894a), S. 124 ff. 570  N. C. Sen-Gupta (1962), p. 34: „Marital relations are regulated or placed under a system even among backward races, although there are races which permit polyan­ dry and polygyny and even group marriages approaching promiscuity. It is out of these regulations of marital relationships in primitive society that the institution of marriage has arisen.“ Gleichgeschlechtliche Ehen, wie sie jetzt in einigen Staaten geschlossen werden dürfen, sind allerdings eine Neuerung, für die es m. W. kein his­ torisches Vorbild gibt. 571  Vgl. dazu oben F 2 d β. Bisweilen bestanden sämtliche Formen der Ehebe­ gründung noch nebeneinander: so etwa innerhalb der niederen Kasten in Indien (Rākshasa-, Asura- und Gāndharva-Ehe). Vgl. auch die Aufzählung bei Āpastamba II 11, 17–20 und 12, 1–3. 572  C. W. Westrup (1927), p. 119 ff. Zu weitgehend L. Dargun (1883), S. 78 ff. 573  So etwa bei den indischen und den spartanischen Kriegern (zu Indien vgl. J. Kohler, 1880b, S.  344 ff.). 574  Fast immer war es der Staat, der durch strenge Strafen für den Raub zur Ver­ ständigung mit dem Gewalthaber des Mädchens zwang und dadurch den schon früher üblichen Kauf zur alleinigen Form der Eheschließung erhob. Blieb die Raubehe ne­ ben der Kaufehe noch bestehen, dann zumeist als fable convenue: Damit der eine den Brautpreis und der andere die Kosten der Hochzeit sparte, bemächtigte sich der Mann seiner Braut mit dem stillschweigenden Einverständnis ihres Gewalthabers. Reste haben sich bis in die spätere Zeit hinein noch als Brauch bei einer zuvor arrangierten Heirat erhalten.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Eigentum gegen Entgelt (in Form von Vieh, Wertgegenständen oder Geld, aber auch von Dienstleistungen575) erwerben und sie unter bestimmten Voraussetzungen auch verkaufen oder verstoßen konnte. Die Konsensehe war dagegen überall dort im Vor­ dringen, wo die Brautleute erst als Erwachsene zueinander fanden.576 Dort konnte sich daher eine wechselseitige Zuneigung zwischen ihnen herausbilden, sodass der Gewalthaber den Willen der Braut achten musste.577

Beschränkungen der ehelichen Verbindung gab es fast überall für eng mit­ einander Verwandte. Grundlage dafür war das in den Sitten verankerte, of­ fenbar auf biologischer Grundlage stehende Inzestverbot.578 Auf die Ge­ schlechterordnung bezogene Heiratsgebote und -verbote verloren dagegen innerhalb von Staaten an Bedeutung. Die Form der Heirat579 war unterschiedlich. Wo Polygynie (Vielweiberei) praktiziert wurde – außer in Indien580 auch in China und in Israel581, be­ 575  Beispiel in 1. Mose 29 17–29: Jakob verspricht Laban, ihm sieben Jahre lang um dessen jüngere Tochter Rahel zu dienen. Als die Zeit um ist, gibt Laban ihm je­ doch seine ältere Tochter Lea; denn es sei Sitte, die jüngere nicht vor der älteren Tochter wegzugeben. Doch Jakob protestiert. Da erklärt Laban sich bereit, ihm zu­ sätzlich auch Rahel zu geben, allerdings unter der Bedingung, dass Jakob ihm weitere sieben Jahre diene. Jakob verspricht es und lebt von nun an mit beiden Frauen, Lea und Rahel, in ehelicher Gemeinschaft. Ein sogen. Brautdienst kommt ferner in altrus­ sischen, finnischen sowie in griechischen Sagen vor. 576  Dies war nicht eben häufig der Fall, da Verlöbnisse und selbst Ehen so früh (teilweise, wie etwa in einigen Gegenden Südindiens und Afrikas, noch vor der Ge­ burt!) geschlossen oder verabredet wurden, dass von einer wirklichen Lebens- bzw. Liebeswahl der Brautleute nicht die Rede sein kann. Vielmehr lernten sich die Paare in diesen Fällen oft erst als Braut und Bräutigam kennen. 577  Dies ist in Rom bereits für die älteste Zeit nachweisbar: Sowohl die confarreatio als auch die coemtio verlangten die Mitwirkung der Braut („Mulier facit coemtionem“). 578  Das Verbot galt (und gilt immer noch) universell zwischen Eltern und ihren Kindern sowie zwischen Geschwistern und wurde (bzw. wird) darüber hinaus unter­ schiedlich auf weitere Verwandte ausgedehnt (St. R. Witkowski, 1996, p.  480; B. Pasternak/C. & M. Ember, 1997, p. 127). Ausnahmen vom Inzest-Verbot gab es vor allem bei den Ägyptern und Persern. Dagegen ergab sich manchmal aus der un­ terschiedlichen Klassen- oder Kastenzugehörigkeit ein dem Inzest- vergleichbares Heiratsverbot. Zu Indien vgl. etwa J. Kohler (1880), S.  368 ff. 579  Zum Verlöbnis vgl. oben F 2 c Zusatz bei und in Fn. 210 sowie oben Fn. 576. 580  In Indien (bisweilen auch in anderen südasiatischen Staaten) scheint es in eini­ gen höheren Kasten daneben auch Polyandrie (Vielmännerei) gegeben zu haben. Ein Beispiel erwähnt K. Friedrichs (1886), S. 462: Bei den Toda „wählt der ältere Bruder die Braut. Sie wird aber von selbst mit allen seinen Brüdern verheiratet, sobald sie das Mannesalter erreichen, und ebenso werden alle jüngeren Schwestern der Braut kraft Rechtens Frauen dieser Männer, sobald sie ihrerseits erwachsen werden.“ 581  In China durfte der Mann sich außer einer Hauptfrau eine oder mehreren Ne­ benfrauen nehmen; er tat es vor allem, wenn die Ehe mit der Hauptfrau kinderlos blieb. Doch im Gegensatz zur Hauptfrau teilten die Nebenfrauen nicht seinen Rang



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts307

schränkt in Mesopotamien582 –, bedurfte sie (zumindest ab der zweiten Frau) keiner festen Form.583 War dagegen Monogamie die allein zulässige Form des Zusammenlebens, wurden sowohl die Heirat als auch die Scheidung re­ gelmäßig durch rituelle Vorgänge sozial herausgehoben.584 Auch war der Bestand der Ehe dann regelmäßig durch stärkere Rechtsnormen geschützt als die Mehrehe. Eine Scheidung der Ehe war trotzdem fast überall möglich;585 die Frau durfte sie allerdings oft nur eingeschränkt betreiben. Innerhalb der Ehe war die Stellung des Mannes fast überall die beherr­ schende.586 Er war im wörtlichen Sinne der ‚Gewalthaber‘587: In Rom insbe­ und Stand, auch galten ihre Kinder nicht als eigene, sondern als diejenigen der Hauptfrau, und sie selbst konnten zudem jederzeit wieder weggeschickt werden. Der Idee nach blieb die Ehe also monogam. – In Israel war dem Mann die Heirat weiterer Frauen erlaubt, jedoch nicht die der Schwester seiner Frau, solange die Frau noch lebt (3. Mose 18 18). 582  Dem Mann war (nachweisbar seit altbabylonischer Zeit) die Heirat einer zwei­ ten Frau kraft Gesetzes bei schwerer Krankheit der ersten Frau gestattet (LL § 28, CH § 148), ferner wenn die erste Frau einen Scheidungsgrund lieferte oder einverstanden war. Aus Nuzi sind dagegen Eheverträge überliefert, worin eine Nebenehe kategorisch ausgeschlossen wurde. 583  So schreibt etwa das chinesische Recht für weitere Eheschließungen keine be­ sondere Zeremonie vor. 584  Vgl. zur Vielzahl der Hochzeitsbräuche unten H 3 c. R. Westbrook (2003), p. 46: „Perhaps this wide variety of possibilities reflects not so much modes of com­ pletion as modes of proof, ex post facto, that the bride had passed into the groom’s authority.“ 585  Sie konnte meist durch den verbalen Akt eines der Ehegatten vollzogen wer­ den, hatte allerdings unterschiedliche rechtliche Folgen: für den Mann insbesondere den Verlust des Brautpreises oder eine gesetzliche oder vertraglich vereinbarte Geld­ strafe, deren Höhe je nach dem Scheidungsgrund schwankte; für die Frau je nach dem Scheidungsgrund ebenfalls eine Geldstrafe oder aber den Verkauf in die Sklave­ rei oder gar den Tod. Nicht möglich war die Scheidung in Indien (J. D. M. Derrett, 1956, p. 217 f.), wo stattdessen der Mann eine zweite Frau nehmen und die erste zu­ rücksetzen konnte (vgl. auch J. Kohler, 1892, S. 118). Als Ausnahme nennt Baud­ hāyana (V 6) die scharfzüngige Frau – diese solle der Mann sofort verstoßen. Weitere Ausnahmen gab es örtlich auch zugunsten der Frau (z. B. bei Impotenz oder Verlust der Kastenzugehörigkeit ihres Mannes). 586  Eine wichtige Ausnahme bildet Ägypten. Hier gibt es nichts, was auf die be­ sondere Rolle des Hausvaters hindeutet. Stattdessen drang der Staat in die intimsten Bereiche der Familie ein und bemächtigte sich insbesondere des dem Sohn sonst vorbehaltenen Totenkults. 587  Das altgriechische Wort für den Ehegemahl (πόσις) bedeutete ursprünglich ‚Herr‘ (δεσ-πότης = Hausherr, Besitzer). Und da es auch in anderen indoarischen Sprachen so war (altindisch páti-; avestisch paiti- = Herr, Gebieter; indogermanisch páti- = Herr, Gebieter, Gatte; gotisch brūþ-faþs = Bräutigam; lateinisch potis = ver­ mögend, mächtig; litauisch pàts = Ehemann, viẽšpats = Herr) und sich überdies in der indoarischen Ursprache (vgl. dazu B. Delbrück, 1880, S. 47 ff.) Bezeichnungen für das Verhältnis der Frau zu den Verwandten des Mannes, nicht dagegen für das

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sondere, aber nicht nur hier,588 hatte er die volle Gewalt über alles, was dem ‚Hause‘ angehörte, und über Frau und Kinder bisweilen sogar das Recht über Leben und Tod (ius vitae necisque)589. Die Stellung der Frau war dementsprechend fast überall dem Manne un­ tergeordnet. Sie war sowohl zu unbedingtem Gehorsam als auch zu ge­ schlechtlicher Treue verpflichtet.590 Verletzte sie ihre Pflichten, durfte der Mann sie hart bestrafen.591 Starb der Mann, ging seine häusliche Entschei­ dungskompetenz nicht etwa immer auf sie über, sondern meistens auf den ältesten Sohn. Allerdings besserte sich die rechtliche Stellung der Frau im Laufe der Zeit: Sie durfte selbst eine Familie gründen, und man sicherte ihr einen bescheidenen Vermögenserwerb zu, der ihr u. U. auch nach einer Scheidung verblieb.592 Verhältnis des Mannes zu den Verwandten der Frau finden, scheinen im gesamten indoarischen Sprachbereich ein nahezu unumschränktes Patriarchat und eine unum­ schränkte Patrilinearität gegolten zu haben. 588  Im Li Gi, dem chinesischen Buch der Riten, Sitten und Gebräuche, einer aus dem 1. Jh. u. Z. stammenden Zusammenstellung älterer Texte, heißt es: „Die Ehefrau ist die dem Manne Unterworfene. Darum hat sie nicht das Recht auf selbstständige Entscheidung, sondern die Pflicht zum Gehorsam. Zu Hause ist sie dem Vater unter­ worfen, in der Ehe dem Gatten und nach dem Tod des Gatten dem ältesten Sohn. Sie wagt in nichts ihrem eigenen Kopf zu folgen. Ihre Befehle dringen nicht über die inneren Gemächer hinaus …“ (R. Wilhelm, 1930, S. 272). Über die unterschiedliche Stellung der Frau in den griechischen Poleis vgl. H. J. Wolff (1952/1968), S. 632 ff. Für Indien vgl. Vasisṭḥa V 1; für Germanien vgl. J. Grimm (1899), S. 621. 589  Für Rom führte die Sage das Recht auf Romulus zurück, erwähnt wird es z. B. in der alten Adrogationsformel (Gell. 5, 19, 9): „utique ei vitae necisque in eum potestas siet“ (weitere Belege bei P. Bonfante, 1925/1963, p. 721). In Indien scheint dies nur in sehr alter Zeit für den Ehebruch mit einem Mann niederer Kaste gegolten zu haben (J. Kohler, 1882b, S. 389, unter Berufung auf Bṛhaspati bei Ja­ gannâtha  II 4 nr. 83, p. 539; anders aber Manu bei Jagannâtha II p. 324 nr. 2: „Du darfst eine Frau nicht einmal mit einer Blüte schlagen, selbst wenn sie hundert Feh­ ler begangen hätte.“). In China konnte die ehebrecherische Frau verstoßen oder an einen Dritten (allerdings nicht an den Ehebrecher) verkauft werden (J. Kohler, 1886, S. 375). 590  Für China vgl. das Zitat aus dem Li Gi oben Fn. 588. Der Mann war im ge­ schlechtlichen Verkehr keinen Beschränkungen unterworfen. Als Herrscher über die Frau konnte er sie auch anderen Männern preisgeben. Dies tat er beispielsweise in Indien zur Sicherung des Nachwuchses (Mahābhārata I sec. 35: „O Kuntī, being destitute of the power of procreation, I command thee to raise offspring by some person that is either equal or superior to me.“ Siehe ferner J. D. M. Derrett, 1956, S. 218). Generell zur Stellung der Frau im vedischen Indien vgl. A. S. Altekar (1983). 591  Für Indien vgl. Baudhāyana II 3.47 ff.; für China vgl. H. Engelmann (1928), S. 231. 592  So etwa nach gortynischem Recht (col. II 45 ff.): „Wenn Mann und Frau ge­ schieden werden, soll sie das Ihre haben, womit sie zum Mann gekommen ist, und die Hälfte der Früchte, die aus ihrem Vermögen vorhanden sind, sowie die Hälfte dessen, was sie gewoben hat; dazu 5 Stater [eine Großmünze aus Elektron im Wert



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts309

In Rom setzte sich der Brauch durch, formell die manus-Gewalt zwar unbeschränkt bestehen zu lassen,593 sie aber praktisch als beschränkt anzusehen. In Indien vergrö­ ßerte man die Eigentumsrechte der Frau, indem man alles, was sie durch eigene Tä­ tigkeit erwarb, als ihr Eigentum anerkannte.594

(β) Die Stellung der Kinder war einerseits dem jeweiligen Verhältnis zwi­ schen Mann und Frau angepasst. Die Stellung zum Kinde war andererseits für die Eheverfassung von solcher Bedeutung, dass man von ‚Vater-‘ vs. ‚Mutter­ recht‘ sprechen kann. Stand die Frau unter der Vorherrschaft des Mannes, galt für die Kinder nichts an­ deres – die Herrschaft über die Frau war Grundlage auch für die Herrschaft über die Kinder.595 Dagegen gehörten in einer matrilinearen Gesellschaftsordnung die Kinder zur Familie der Mutter – mit dem Vater verband sie kein Rechtsverhältnis.

Ob Neugeborene als Familienmitglieder anerkannt wurden, entschied in prästaatlichen Gesellschaften das Oberhaupt der Familie.596 Doch auch noch in protostaatlichen Gesellschaften wurden aus religiösen Gründen Missge­ burten, anomale Geburten und Zwillingsgeburten umgebracht, weil schon der Beginn ihres Lebens Unheil verhieß. Manchmal ereilte dasselbe Schicksal sogar auch die Mutter. In der patriarchalischen Gesellschaftsordnung war besiegelt, dass für die Töchter die männliche Vorherrschaft niemals endete: Waren sie unverheira­ tet, war der Vater ihr Gebieter; heirateten sie, traten sie unter die Herrschaft ihres Ehemannes; starb der Ehemann, war der älteste Sohn ihr Gebieter.597 Dagegen konnten sich die Söhne von der Vorherrschaft des Vaters regelmä­ ßig befreien, und um selbst Herrschaft auszuüben, mussten sie es sogar. In Rom erkannte man das Recht des emanzipierten Sohnes auf Eigentum an.598 In Indien wurde es üblich, Teile des Familienvermögens auf die Söhne zu übertragen,

von 4 Drachmen], wenn der Mann der Grund für die Scheidung ist …“. Grundsätz­ lich war die Frau freier als nach attischem Recht: Sie war u. a. voll geschäftsfähig (col. III 16–30), konnte also vor Gericht klagen und verklagt werden (col. VI 27). Das Güterrecht baute sich auf der Trennung ihres Vermögens von dem des Mannes auf (vgl. col. II 46, 49; III 25, 32, 36, 42); der Mann hatte lediglich die Verwaltung und Nutznießung an ihrem Vermögen (vgl. col. VI 9 ff., 32 ff.). 593  Ein Grund dafür war, dass sie erbrechtliche Vorteile brachte. 594  Zum Hindu Woman’s Estate vgl. genauer P. V. Kane (1930), p. 708 ff. 595  Für Indien vgl. Manu VIII 149; ferner J. D. Mayne (1986), no. 76 ff. In Mesopotamien setzte CH § 117 voraus, dass der Schuldner nicht nur die Frau, sondern auch die Kinder zur Schuldentilgung verkaufen konnte. Bzgl. Griechenland vgl. Plutarch, Solon XIII 3. 596  A. H. Post (1894a), § 46 I 1. 597  Siehe schon oben 4 b α. 598  Vgl. M. Kaser/R. Knütel (2014), § 60 Rn. 16.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

sobald sie eine eigene Familie gründeten;599 überdies wurde ihnen nach und nach das Recht zugestanden, das im Krieg Erbeutete und das durch eigene Kraft Erworbene sowie Geschenke als exklusives Eigentum zu besitzen, bis schließlich daraus der all­ gemeine Rechtssatz wurde, dass einem dasjenige, was man durch Anstrengung er­ wirbt, anschließend auch gehört.600 Darüber hinaus erlaubte man dem indischen Vater immer weniger, zum Schaden seiner Söhne über den Grundbesitz zu verfügen, bis er schließlich über das Grundvermögen überhaupt nur gemeinsam mit seinen Söhnen verfügen durfte.601 Eine ähnliche Entwicklung können wir im altgermanischen Recht feststellen.602

(γ) Kinderlosigkeit galt im frühen Altertum als Makel. Daher gab es bei den meisten Völkern die Möglichkeit der Adoption insbesondere von Söh­ nen.603 Die Vorteile lagen auf beiden Seiten: Dem Adoptierenden verbürgte sie, dass er im Alter versorgt wurde, dass nach seinem Tode der Totenkult gesichert war und dass sein Stamm nicht ausstarb. Dem Adoptierten sicherte sie zu Lebzeiten des Adoptierenden die Versorgung und nach dessen Tod das Familienvermögen. Adoptieren konnte i. d. R. nur der mündige Mann.604 Im Übrigen gab es unter­ schiedliche Beschränkungen, sowohl was die Person des Adoptierenden als auch was die Person und die Stellung des Adoptierten anbelangt. Unterschiede gab es auch für die Auflösung der Adoption: In Athen erforderte sie entweder einen beiderseitigen Vertrag oder richterlich überprüfbare Gründe; in Gortyn genügte dagegen die Erklä­ rung des Adoptivvaters vor der Volksversammlung.605 Teilweise gleichen Zwecken wie die Adoption, nämlich dem Manne einen männli­ chen Nachkommen zu sichern, diente die Leviratsehe, d. i. die Ehe des Bruders des Verstorbenen mit dessen Witwe: Der erste Sohn aus dieser Verbindung galt rechtlich als Sohn des Verstorbenen. Berühmtes Beispiel ist die Ehe von Ruth, der Witwe Machlons, mit Boas. Boas heiratete sie, damit er „den Namen des Verstorbenen erhal­ 599  Ursprünglich geschah das aus freien Stücken. Doch bei Gautama XV 19 ist auch davon die Rede, dass pietätlose Söhne den Vater zwangen, das Familienvermögen zu teilen. 600  Vgl. Manu IX 208; Yājñavalkya II 120 f., 126; Kautilīya II 1 (: das Land gehört demjenigen, der es urbar gemacht hat). 601  Vgl. J. Kohler (1887), S. 195 f. 602  Hier gab es das aus der Hausgemeinschaft stammende ‚Wartrecht‘ der Hauser­ ben: Der Hausvater galt nur als Treuhänder am Hausvermögen; außer im Falle echter Not war jede Veräußerung den beeinträchtigten Erben gegenüber unwirksam. 603  Für Mesopotamien vgl. CH §§ 185  ff.; für Ägypten vgl. R. Tanner (1975), S. 66; für Indien vgl. J. Kohler (1880b), S. 408 ff., und J. D. M. Derrett (1958), S.  34 ff.; für China vgl. J. Kohler (1886d), S. 378; in Griechenland nachgewiesen für die Solonische Gesetzgebung in Athen, vgl. Demosthenes, vs. Steph. II 14 (1133); in Theben soll Philolaos ein entsprechendes Gesetz erlassen haben, vgl. Aristoteles, Po­ litik II 9: 1274b; für Rom vgl. Gaius, Inst. I 97 ff. 604  Vgl. etwa Gortyn, col. XI 19. 605  Zu Athen vgl. H. F. Hitzig (1897), S. 161; J. Kohler/E. Ziebarth (1912), S. 119 (§ 79); zu Gortyn vgl. col. XI 10 ff.



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te auf seinem Erbteil und sein Name nicht ausgerottet werde unter seinen Brüdern und aus dem Tor seiner Stadt“606. Sitte war die Leviratsehe nicht nur bei den Hebrä­ ern, sondern auch bei den Spartanern607 und den Indern (als Niyoga)608.

d) Sachenrecht Umfassendes Herrschaftsrecht an einer Sache war das Eigentum. Seine Trennung vom Besitz als bloß tatsächlicher Sachherrschaft wurde desto mehr erforderlich, je stärker es an Rechtscharakter gewann. Ebenfalls wichtig wurde der Unterschied zwischen Grundeigentum und Fahrniseigentum. (α) Grundeigentum. Sobald es zur sesshaften Lebensweise kam, erkannten Sitte und Recht jedem entweder die Nutzung an einem Stück Land oder das Anrecht auf einen Teil der Feldfrüchte zu. Das Eigentum am Land wurde meistens an größere Einheiten vergeben: an verwandtschaftlich verbundene Gruppen (Familien oder Sippen), an Haus- oder Dorfgemeinschaften oder an Clans; diese gaben es dann an ihre Mitglieder zwecks Nutzung weiter. Manchmal wurden aber auch metaphysische Wesen (Götter oder Ahnen) als ‚Eigentümer‘ des Landes angesehen, das die Menschen stellvertretend für sie nutzten.609 Nach der Gründung von Staaten traten i. d. R. die Herrscher als (Ober-)Eigentümer am Land auf und vergaben dieses an ihre Bürger als Un­ tereigentümer oder als Lehensträger. In Ägypten gehörte das Land gemäß der sozialen Hierarchie entweder einem Tem­ pel- oder Friedhofsgott oder einem Pharao und seinen Titularen, die es dann von einzelnen Familien (mrt-Leuten) bewirtschaften ließen.610 In Mesopotamien konnte das Land ebenfalls entweder Tempel- oder Königseigentum sein oder aber einer Ver­ 606  Ruth 4 10. Vgl. auch 5. Mose 15 5 f.: „Wenn Brüder beieinander wohnen und einer stirbt ohne Söhne, so soll seine Witwe nicht die Frau eines Mannes aus einer anderen Sippe werden, sondern ihr Schwager soll zu ihr gehen und sie zur Frau neh­ men und mit ihr die Schwagerehe schließen. Und der erste Sohn, den sie gebiert, soll gelten als der Sohn seines verstorbenen Bruders, damit dessen Name nicht ausgetilgt werde aus Israel.“ 607  Vgl. Plutarch, Lykurgos, c. 3. 608  Niyoga bedeutet Auftrag (zur Zeugung eines Nachkommens). Gautama XVIII 4; Baudhāyana II 4, 9. Bei Mahābhārata (Ad. parva, sect. 95), fordert die Witwe den Schwager auf: „Dein Bruder ist kinderlos zum Himmel gegangen; zeuge tugendhaft Kinder für ihn!“ Vgl. ferner Ṛg-Veda 866 (2), sowie Manu IX 69 f.: „Wenn ein Mäd­ chen gegen Empfang eines Brautpreises zur Ehe gegeben worden ist und der Geber des Preises stirbt [vor der Hochzeit], so soll man die Braut ihrem Schwager überge­ ben, falls sie ihre Einwilligung hierzu gibt.“ Ausführlich zu Levirat und Niyoga auch P. Wilutzky (1903b), S. 40 ff. m. Nachw. (S. 52: „… eine universale Einrichtung der Menschheit, die sich überall findet, wo … die dringende Sorge um einen Sohn und Erben vorhanden ist“). 609  Vgl. dazu oben F 3 γ. 610  T. Q. Mrsich (2005), § 75 f.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

wandtschaftsgruppe bzw. einzelnen Familien gehören.611 Juristisch ähnlich war die Situation in China, wo das Land allerdings in erster Linie dem König und seinen adligen Verwandten, in zweiter Linie den Lehnsleuten, Beamten und Offizieren ge­ hörte und von diesen dann (einschließlich der zur Bearbeitung erforderlichen Geräte) an bäuerliche Familien verpachtet wurde.612 Von stärkerer Aufteilung des Landeigen­ tums wissen wir aus Indien, das sich offenbar in der Zeit, von der uns die ersten Nachrichten überkommen sind, bereits auf einer Übergangsstufe zum Familien- bzw. Individualeigentum befand.613 In Israel finden wir Anklänge an die Gemeinschaftsge­ bundenheit des privaten Landeigentums nur noch insoweit, als jeder Fremde das Recht hatte, von den Trauben eines Weinbergs zu essen und sich Ähren von einem Kornfeld zu pflücken.614 Bei den Griechen war dagegen bereits zur Zeit Homers das Privateigentum am Ackerland die Regel.615 Lediglich aus sagenhafter Zeit wusste Herodot noch von den Spartanern zu berichten, dass ihr Boden dem Stamm gehörte, weshalb dieser es teilweise den umherirrenden Argonauten zur Nutzung zuweisen konnte.616 Die Römer schließlich kannten noch in historischer Zeit neben dem Privat­ eigentum am Ackerland den ager compascuus, die Gemeindeweide, sowie den ager publicus, dessen Eigentümer der Staat und dessen Nutznießer vorzugsweise die Patri­ zier waren, sodass wir es insoweit mit einem dem indischen vergleichbaren System zu tun haben.617

Ein Zwischenglied zwischen dem Gemeinschafts- und dem Individualei­ gentum bildete das Eigentum der Hausgenossenschaften. Erste Hausgenossenschaften entstanden bereits mit der Sesshaftigkeit, indem die soziale Struktur der umherstreifenden Horde auf die unter einem gemeinsamen Dach lebenden Ansiedler übertragen wurde. Gemeinsame Arbeit bei der Rodung des Wal­ des oder bei der Trockenlegung eines Ackers führte damals Familienangehörige und Fremde zusammen und bildete zwischen ihnen ein festes Band. Als schließlich die 611  Genauer dazu C. Wilcke (2003), p.  163; B. Lafond/R. Westbrook (2003), p.  205 f.; R. Westbrook (2003), p. 393 f., jeweils m. Nachw. 612  Vgl. dazu die ausführliche Darstellung von W. Bauer (1961). Interessant ist, dass das Zhōu-zeitliche Eigentum am Land als sog. „Brunnenfeldsystem“ seine Ideal­ form hatte. Der Name rührt daher, dass ein durch die Umrahmung des Schriftzeichens für „Brunnen“ (jing) gebildetes Quadrat in neun gleichgroße Quadrate geteilt war, die die einzelnen Felder (tian) bedeuteten. Das in der Mitte liegende war das Gemeinde­ feld (gongtian), die acht herumliegenden Felder bildeten das Privateigentum (sitian) von acht Familien. Das Gemeindefeld wurde von den Familien gemeinsam bearbeitet und der Ertrag als Steuer an den Staat abgeführt. 613  Vgl. dazu N. C. Sen-Gupta (1962), p. 87. Zu ancestral und coparcenary prop­ erty vgl. D. F. Mulla (1966), p. 240 ff., 248. 614  5. Mose 23 25 f.; ferner 24 19‒22. Ob diese Regel auch praktisch gültig war, wissen wir allerdings nicht. 615  Vgl. dazu G. Thür (2003), S. 232 f.: Ohne dass die Griechen den aus dem rö­ mischen Recht entwickelten Eigentumsbegriff kannten, haben sie „gehören“ oder „mein sein“ als Berechtigungen gleich denen der heutigen Eigentümer verstanden und auch auf Grundstücke angewandt. 616  Herodot, Historien IV 145. 617  Vgl. dazu M. Kaser/R. Knütel (2014), § 22 Rn. 5 und § 19 Rn. 6 f.



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wachsende Zahl der Hausgenossen zur Aufteilung nötigte und aus der Hausgemein­ schaft die Dorfgemeinde wurde,618 weitete sich einerseits das familiäre oder quasifamiliäre Band, das die Genossen umschlungen hatte, schwächte sich andererseits ab und blieb nur noch als Näherecht erhalten – ebenso wie die ehemalige Haussatzung, die zum Ortsrecht, und der Hausgott, der zum Dorf- bzw. (später) zum Stadtgott wurde.619 Belege für diese Entwicklung finden wir, soweit wir blicken können: so­ wohl im mesopotamischen620 und im ägyptischen621 als auch im israelischen622, in­ dischen623, chinesischen624, vorderasiatischen625, griechischen626 und römischen627 Recht.628

Später verbot die Einheit der Sippen meistens das unbeschränkte Eigen­ tumsrecht Einzelner am Boden.629 Der Boden stand im Eigentum der Ver­ wandten und durfte grundsätzlich nur mit Zustimmung aller Söhne und Enkel veräußert oder verpfändet werden.630 Indessen führte die erschwerte Fungi­ bilität des Bodens zu Problemen. Deshalb wurde das Verbot allmählich gelo­ ckert – in der Art unterschiedlich, in der Funktion jedoch gleich. Meist durfte dann der Mann als Familienoberhaupt allein über das Land verfügen, und 618  Im Sanskrit bedeutet viç sowohl ‚Haus‘ als auch ‚Gemeinde‘. Die vielen (deutsch-)slawischen Dorfnamen auf -itz oder -itsch (bzw. -ice) waren ebenfalls alte Familiennamen, die zu Gemeindenamen wurden (vgl. M. R. Wesnitsch, 1889, S. 438 Fn. 12; für die tschechischen Dorfnamen vgl. H. Jirecek, 1866, S. 25 ff.). 619  Die späteren gewillkürten Genossenschaften, die Gilden, hatten ebenfalls ihren gemeinsamen Heiligen als Schutzpatron, nannten sich nach ihm, schworen bei ihm und weihten ihm einen besonderen Altar. Der Adel benannte sich sogar bis in die Jetztzeit hinein nach dem ‚Haus‘, unter dessen Dach er einst residierte. 620  Vgl. R. Haase (1965), S. 80 ff. 621  Vgl. D. Franke (1983), S.  344 ff. 622  1. Mose 13; Ruth 4 2 ff.; Jeremias 32 7 ff. 623  Manu IX 105; vgl. auch VIII 166. 624  Vgl. J. Kohler (1886e), S. 379 ff. 625  Vgl. die Schilderung Homers vom Palast des Priamos, der den König mit sei­ nen hundert Kindern, Schwiegersöhnen und Enkelkindern beherbergte (Il. VI 242 ff.). 626  Vgl. Platon, Nomoi III 681, wo als wahrscheinlich hingestellt wird, dass einst die größeren Wohngemeinschaften aus den kleineren hervorgegangen sind und dass „jede der kleineren bei ihrem Beitritt, Familie für Familie, nicht nur den Ältesten als Oberhaupt, sondern auch wegen der getrennten Wohnsitze gewisse ihr eigentümliche Gewohnheiten …, an die sie sich in ihrem Verhalten zu den Göttern und untereinan­ der gewöhnt haben, mitbringen“. Bestätigend Demosthenes, v. Leochares, in: Private Orationes (1964), sowie Aristoteles, Politik I 2: 1252b, nach dem jedes Haus vom Ältesten wie von einem König geleitet wurde. 627  Vgl. P. Bonfante (1934/1958), p. 60 ff. 628  Weitere Nachweise weltweit bei P. Wilutzky (1903b), S. 99 ff. 629  Beispielsweise wurden in Griechenland Grund und Boden den Familien man­ cherorts nur zur Kultivierung und Nutzung überlassen, sodass sie unveräußerlich waren (A. Burfold, 1993, p. 33 ff.). 630  Zu Indien vgl. D. F. Mulla (1966), p. 248  f.; zusammenfassend A. H. Post (1895), S.  602 ff.

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wenn er es verantwortungsvoll tat, war das auch die beste Lösung. Doch mit dem Erstarken seiner Macht verlor sich allzu oft die Rücksicht auf die Be­ dürfnisse seiner Verwandten, sodass schließlich Sitte und Recht gegen den Machtmissbrauch einschreiten mussten.631 Vereinzelt, nämlich dort, wo reichlich Handel getrieben wurde, finden wir auch das Bedürfnis, den Boden als frei verfügbare Ware anzusehen. Obgleich die Fortschritte in der Bewirtschaftung des Bodens eigentlich zur stärkeren Bindung des Bodens an die bewirtschaftenden Haushalte hätte führen sollen, erzeugte offenbar die fortschreitende Individualisierung nunmehr das Bedürf­ nis nach Individualeigentum am Boden. In Mesopotamien finden wir bereits in den ersten quellenmäßig belegten Zeiten Privateigentum, das lediglich teilweise in die hierarchische Schichtung der Familie eingebunden, im Übrigen aber frei veräußerlich war.632 In Indien waren es daneben religiöse Gründe, die zur Lockerung der Veräußerungsverbote von Landeigentum führten: Die Brāhmanen lehrten nämlich, dass man an sie nicht nur Vieh und Gold, sondern auch Land verschenken dürfe.633 In Ägypten übereignete der König an ver­ diente Beamte zunehmend Felder und andere Güter, die dann im Zuge der angestreb­ ten Erblichkeit der Ämter auf die Nachkommen übergingen.634 Und in China wurde das Land zwar ursprünglich vom König als Lehen vergeben,635 doch mit dem Verfall des Königtums (in der Zeit der ‚Streitenden Reiche‘) verfiel auch dessen feudalisti­ sche Grundlage, das Land wurde von nun an als individuelles Privateigentum be­ trachtet. Überhaupt hat die Vorstellung, dass der König Eigentümer des Landes sei, eine Vorreiterrolle in der Entwicklung des Privateigentums gespielt. Der König trat an die Stelle des Himmels oder der Götter, denen in Urzeiten alles Land ‚gehörte‘, und hat­ te daher das Recht, das Land nach Belieben als Lehen an seine Untertanen zu verge­ ben. Und da das Lehen meistens vererblich war, stand es dem Eigentum jedenfalls wirtschaftlich gleich. Darüber hinaus sagt das Gesetzbuch des Manu, dass das Feld demjenigen gehört, der die Baumstümpfe abhaut.636 Damit gab es dem universell geltenden – auch heute noch allgemein anerkannten637 – Rechtsgrundsatz Ausdruck, dass Arbeit Eigentum begründet.638 Dieser Grundsatz galt alsdann insbesondere bei der Neulandgewinnung (selbst wenn anschließend das Obereigentum des Königs an­ erkannt werden musste). Er wurde noch verstärkt von der Entwicklung, die gleichzei­ 631  A. H. Post (1894a), S. 202; (1895), S. 702. Für Rom fehlt es an Anhaltspunkten (M. Kaser, 1943, S. 168, 234 f.). 632  Vgl. C. Wilcke (2003), p. 166 f.; A. Falkenstein (1956), Nr. 122. 633  Āpastamba II 26,1. 634  Vgl. oben G 1 β. 635  Zu den früheren Anfängen in der Zeit der Westlichen Zhōu vgl. U. Lau (1999), S.  297 ff. 636  Manu IX 44. 637  Vgl. § 950 BGB: Eigentumserwerb durch Verarbeitung eines Stoffes. 638  Allerdings nicht notwendig Individualeigentum! Dieses entstand vielmehr erst, als die Individualpersönlichkeit ihre Selbstständigkeit entwickelt hatte.



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tig das Fahrniseigentum durchmachte und die darin gipfelte, dass das Selbstbewusst­ sein des Einzelnen ihn zum König seiner Habe machte. Übertragen auf das durch Arbeit urbar gemachte Stück Land, war dieses folglich Teil seiner Habe und damit Eigentum.

(β) Fahrniseigentum. Eigentum an der Fahrnis war umherziehenden Hor­ den noch fremd; sie kannten nur ein faktisch zuordnendes ‚Haben‘ oder ‚Gehören‘, das zudem beschränkt war auf Lagerstätten, Kleidung, Waffen des Mannes und Schmuck der Frau. Doch schon um die Mitte des 3. Jt.s differenzierte das altchinesische Recht zwischen mehreren Arten sachen­ rechtlicher Vollgewalt (cai).639 Auch in Mesopotamien640, auf Kreta641 und später vor allem in Rom642 hob man das Fahrniseigentum aus der allgemei­ nen Hausgewalt heraus und erkannte es als selbstständiges Rechtsgut an. Was die Entwicklung des Fahrniseigentums antrieb, lässt sich aus den uns überkommenen Urkunden nicht ablesen. Wir müssen sie aus den Quellen rekonstruieren, die uns die Ethnologen erschlossen haben. Gewiss ist danach, dass das ältere Eigentumsrecht ein faktisches (und regelmäßig darüber hinaus ein persönliches) Verhältnis zur Fahrnis voraussetzte und dass das Behaup­ tenkönnen dieses Verhältnisses für die Aufrechterhaltung des Rechts an der Fahrnis wesentlich war. Daraus zog man den Schluss, dass nicht nur die Besiegung im Kampf, sondern auch der Raub die Eigentumsverhältnisse verschob. Dieser uns heute schwer verständliche Rechtsgrundsatz wurde noch von Homer durchaus gefeiert.643 Von den Thrakern644 berichtet Herodot sogar, dass ihnen Krieg und Raub über alles gingen.645 Und von den Germanen überliefert Tacitus, dass die dortigen Herren ihre Gefolgschaft vor allem mit den Mitteln belohnten, die sie auf ihren Raubzügen erbeutet hatten, ja dass als faul und träge galt, wer mit Schweiß erwarb, was er stattdessen mit Blut hätte gewinnen können.646 Auch die 639  Nämlich: ‚Habe‘ schlechthin (you), für den direkten Lebensunterhalt oder als Rücklage gedachtes Eigentum (zi), Handelsware (huo), gehorteter Schatz (bao). Vgl. W. Bauer (1961), S. 123. 640  Vgl. LU §§ c 1 f. 641  Gortyn, col. VI 3 ff. 642  Zum peculium des Haussohnes vgl. M. Kaser/R. Knütel (2014), § 60 Rn. 16. Zum Vieh, das in Rom zwar auf die gemeinsame Weide getrieben wurde, aber bereits mit einer den Eigentümer bezeichnenden Zuchtmarke versehen war, vgl. P. Vergil, Georgica III 157 ff. (1957, S. 52; vgl. auch S. 282). Zur Zuchtmarke auch E. Erben (2003), S.  631 f. 643  Homer, Od. I 398, XIV 229 ff., XV 455 ff. 644  Die Thraker, die zwischen Mazedonien und dem Schwarzen Meer siedelten, waren das (nach den Indern) zweitgrößte Volk des Altertums. 645  Herodot, Historien V 6. 646  C. Tacitus, Germania, cap. 14: „Pigrum quin immo et iners videtur sudore acquirere, quod possis sanguine parare.“

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altindische Kriegsaristokratie befand sich alljährlich auf Raubzügen. Und selbst die Römer erkannten den Grundsatz, dass Raub Eigentum begründet, ursprünglich an.647 Der gewaltlose Mensch konnte sich daher seinerzeit das Eigentum nur mithilfe einer höheren Macht erhalten. Dies erklärt die babylonische Sitte, in den Tempeln Urkun­ den aus Basalt aufzustellen, die über die Eigentumsverhältnisse am Land Auskunft gaben, sowie an ihrem oberen Teil Götterbilder anzubringen und sie anzurufen, damit sie Fluch über jeden brächten, der die Grenze verrückte oder die Früchte sich aneig­ nete.648

Erst die erstarkende Staatsgewalt bekämpfte die Gewaltanwendung im In­ nern und ächtete infolgedessen auch die Gewalt als Mittel zum Eigentumser­ werb.649 Das germanische Recht, das den offenen Raub – anders als den heimlichen Dieb­ stahl – ursprünglich weder als unehrenhaft angesehen noch gar als Verbrechen bestraft hatte, sah beispielsweise nunmehr die angewandte Gewalt als qualifizierend für das Unrecht des Diebstahls an und bedrohte den Räuber mit besonders schwerer Stra­ fe.650 Außer Landes blieb allerdings auch künftig die legitimierende Wirkung des Raubes erhalten: Siegreiche Truppen etwa behielten das Recht, die von ihnen erober­ ten Städte und Ortschaften zu plündern und zu brandschatzen.651

Sobald der Raub als legitimierender Erwerbsgrund ausschied, erhielt das private Eigentum an der Fahrnis einen neuen Rechtscharakter: Es durfte künftig nur noch im Einverständnis mit dem Eigentümer erworben werden. Der Vertragsgedanke trat daher jetzt seinen Siegeszug im Rechtsverkehr an. Eine Sonderstellung nahm lange Zeit das Eigentum an Rinder- und Schafherden ein. Die Herden dienten den sesshaft gewordenen Familien als Lebensgrundlage und hatten daher meistens eine Rechtsstellung, die dem Grundeigentum nahestand: Sie gehörten denjenigen, die sie hüteten, die sie regelmäßig molken, die für sie sorgten und sie schließlich auch schlachteten. Dennoch war die rechtsgeschäftliche Verfügung über sie nicht gestattet – insoweit wiederum entsprechend dem Verfügungsverbot über das Grundeigentum.

647  Mancipium, das mit der Hand Ergriffene, wurde Rechtens zum Eigentum, und heres, der Ergreifende, war – wie der deutsche ‚Erbe‘ – derjenige, dem es zufiel. 648  F. E. Peiser (1889), S. 9; R. von Jhering (1894a), S. 262 f. 649  Eine Ausnahme bildet das altisraelitische Recht: Die zehn Gebote verboten nur den Diebstahl, nicht den Raub (vgl. 2. Mose 20 15), und auch im Übrigen wurde nur der Diebstahl als Vergehen behandelt (vgl. 2. Mose 22 1 f.). Doch konnte der Raub unter die Generalklausel des 10. Gebotes (2. Mose 20 17) subsumiert und somit als Sünde wider Gott begriffen werden. 650  Vgl. dazu R. His (1928), S. 157 ff. 651  Erst in neuester Zeit ist ihnen das Recht genommen worden. Doch hat der letzte Weltkrieg nochmals gezeigt, wie wenig ziviles Eigentum vor der (militärisch nicht zu rechtfertigenden) Vernichtung sicher und dass selbst der Raub von zivilem Eigentum nicht vollständig tabu ist, sondern in Form von Ausgleichsleistungen für erlittene Schäden weiterlebt.



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e) Erbrecht (α) Gesetzliches Erbrecht. Eng sowohl mit dem Individualeigentum als auch mit seiner familiären Bindung hängt die Vorstellung zusammen, dass das Eigentum mit dem Tode nicht einfach erlöschen dürfe, sondern der Si­ cherung der Nachkommenschaft zu dienen habe. Die Alten lösten das Nach­ lassproblem manchmal schon zu Lebzeiten, indem sie ihr Vermögen unter die Nachkommen aufteilten, sodann der Welt entsagten, sich in die Einsam­ keit zurückzogen, um dort den Tod zu erwarten.652 Überraschte sie der Tod indessen bereits in jüngeren Jahren, dann mussten Sitte oder Recht das Pro­ blem lösen.653 Allgemein erschien es als gerecht, wenn der frühe Tod der ohnehin geschwächten Familie nicht auch noch vermögensrechtlich zum Nachteil gereicht. Diejenigen, die nächst dem Vater dazu berufen waren, die Mundschaft in der Familie und damit auch die Verpflichtung zur Sorge für die Angehörigen zu übernehmen, sollten beim unerwarteten Ableben des Vaters das Recht erhalten, künftig über das Familienvermögen zu verfügen. Konsequent wurden daher innerhalb der patriarchalischen Familien die Söhne – und da insbesondere der Erstgeborene – bei der Erbfolge begünstigt, so etwa in Mesopotamien654, Israel655, China656, Kreta657 und in Vorderindien.658 Im Übrigen wurde das Familienvermögen so aufgeteilt, wie es der Erblasser mutmaßlich getan hätte: Er hätte allen Familienmitgliedern – Kin­ dern, Ehefrau – genau das gegeben, was ihnen gemäß der Sitte zustand. Da­ her wurde das der Sitte Gemäße von den Gesetzen (soweit diese sich der Erbfolge annahmen) zum Rechtmäßigen erklärt und in diesem Sinne gere­ gelt.659 652  So etwa in Indien, wo von den Alten erwartet wurde, dass sie sich in die Wälder zurückzogen und den Rest ihres Lebens in religiöser Kontemplation ver­ brachten. Gleiches wird von einigen indigenen Völkern berichtet. Von Rom geht da­ gegen die Sage, dass man alte Leute von einer Brücke in den Tiber warf, um ihren Lebenswillen und ihre Lebensfähigkeit zu testen. 653  Das geschah beispielsweise in Indien durch eine Vererbung zu Lebzeiten. Vgl. Nārada XIII 3: „[The distribution of the property shall take place] when the mother has ceased to menstruate and the sisters are married, or when the father’s sexual desire is extinguished and he has ceased to care for worldly interests.“ 654  Vgl. R. Westbrook (2003), p. 396. 655  5. Mose 21 17; anders wegen Fehlverhaltens 1. Mose 49 3 f. 656  Vgl. E. St. Kirkby (1955), S. 63 ff. 657  Hier erbten die Söhne Haus und Hof, sofern sonstiges Vermögen vorhanden war. Vom sonstigen Vermögen erbten die Töchter je einen halben Sohnesanteil; das­ selbe gilt vom Hausvermögen, wenn sonstiges Vermögen nicht vorhanden war (vgl. Gortyn, col. V 1–9). 658  Nārada XIII 13; Bṛhaspati XXV 9. 659  Das galt auch für den Fall, dass der Erblasser nur Töchter hinterlassen hatte: Grundsätzlich galt dann das (indoarische) Erbtochtersystem, vielfach allerdings mit

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Mangels einer globalen Sitte wurde das Erbrecht der Ehefrau von den Gesetzen unterschiedlich geregelt. Der Idee nach musste sie in patriarchalischen Familien von der Erbfolge völlig ausgeschlossen sein – und in ältesten Zeiten war sie es auch.660 Doch mit der Zeit festigte sich ihre Stellung so weit, dass sie, statt zur Erbmasse zu gehören, selbst erbberechtigt sein konnte661 – wenngleich sie es nicht überall auch wurde. Die langsame und späte Entwicklung lässt sich in Rom gut verfolgen: Ur­ sprünglich wurde der Ehefrau das Erbrecht abgesprochen, stattdessen wurde sie wahrscheinlich mit dem Vermögen vererbt. Später wurde ihr als Ersatz für ihre stren­ ge vermögensrechtliche Abhängigkeit vom Manne wenigstens ein den Kindern glei­ ches Erbrecht gesetzlich zuerkannt: Sie zählte neben ihren Kindern zu den sui heredes ihres Mannes.662 Zu den Erbtöchtern enthält das gortynische Recht weitschweifige Regelungen, die in dieser Form außerhalb des griechischen Raums, soweit ersichtlich, keine Entspre­ chung haben.663

(β) Das Testamentsrecht ist gegenüber dem gesetzlichen Erbrecht neueren Datums, nicht nur weil es die Verbreitung der Schrift voraussetzt, sondern auch weil einseitige Austeilungen von Todes wegen ursprünglich keine recht­ liche Anerkennung genossen. Diese Rechtsansicht änderte sich jedoch. Die ersten überlieferten Schriftdokumente beziehen sich daher bereits auf münd­ liche Verfügungen von Todes wegen (i. d. R. Schenkungen) und bezwecken, die Rechte der Begünstigten zu schützen. Sobald später das Testament in den Rechtsordnungen der Völker erscheint,664 beeilten sich die Gesetze aller­ der Besonderheit, dass ein naher männlicher Verwandter die Töchter zu sich nehmen und die Familie fortsetzen solle (‚Epiklerat‘). Aus diesem Grunde bestimmte bei­ spielsweise das Solonische Gesetz in Athen, dass der Verwandte (i. d. R. der Bruder oder Bruderssohn des Erblassers) dreimal im Monat der Erbtochter beizuwohnen habe (Plutarch, Solon 20). Er erhielt dann solange die Kontrolle über das Vermögen des Erblassers, bis ein mit der Tochter erzeugter Sohn es erben konnte. 660  Selbst in 4. Mose 28 8 ff. wird die Witwe noch nicht unter den möglichen Er­ ben erwähnt. 661  Für China vgl. H. von Senger (1994), S. 22. Für Indien vgl. Bṛshaspati bei D. F. Mulla (1966), p. 12, und in J. Jolly (1889/1965), XXV 49 (mit dem Zusatz: „if she has been faithful to the husband“). Allerdings ließ sich in Indien die treue Ehefrau oft auf demselben Holzstoß verbrennen, auf dem auch der Leichnam ihres Mannes verbrannt wurde – eine Sitte, die sich ebenfalls bei manchen archaischen Völkern (Thrakern, Herulern, Polynesiern sowie Azteken und einigen Indianervölkern im Nor­ den Amerikas) findet. 662  Gaius, Inst. III 3. Zur Übertragbarkeit auf heutige Lebensanschauungen vgl. (zeitgebunden) F. Wieacker (1941), S. 22. 663  Gortyn col. VII 15–VIII 53, VIII 53–IX 24. Vergleichbar ist 4. Mose 27 8. 664  In Ägypten seit dem MR (E. Seidl, 1957, S. 58 unter Hinweis auf Urk. 1, 16); in Mesopotamien wahrscheinlich erst seit Ur III (vgl. B. Lafont/R. Westbrook, 2003, p. 207); in China nur für das (seltene) Privatvermögen (nicht das Familienvermögen) und wahrscheinlich erst seit der Hàn-Zeit (vgl. K. Mäding, 1966, S. 98, 101 f.); in Griechenland nur als Adoptionstestament (vgl. G. Thür, 2003, S. 231); in Rom in etwa seit dem XII-Tafelgesetz (vgl. dort 5 3, ferner Gaius, Inst. II 101 ff.); nicht da­



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dings, seine Wirkung im Sinne der Sitte zu beschränken, und zwar insbeson­ dere, was die Erbeinsetzung Außenstehender anbelangt. Wollte sich der Erblasser gleichwohl über die Beschränkungen hinwegsetzen, musste er u. U. den Begünstigten adoptieren.665 Die weitere Entwicklung war dann vom Kampf zwischen dem freien Ver­ fügungsrecht des Erblassers über sein Vermögen und den Ansprüchen der Angehörigen auf ihren Erbteil geprägt. In Rom entschied man sich für die Freiheit des Erblassers; das war nötig, weil das gesetzliche Erbrecht wenig elastisch war und auch sehr entfernte Verwandte berücksichtigte. In Indien dagegen enthielt das gesetzliche Recht genügend flexible Regelungen, um für ein weit reichendes Verfügungsrecht durch Testament keinen Bedarf auf­ kommen zu lassen; die Verfügungsmacht des Erblassers war deshalb auf Teilungsanordnungen zwischen den gesetzlichen Erben beschränkt.666 f) Vertrags- und Haftungsrecht (α) Ebenfalls eng mit der Entwicklung des Individualeigentums zusammen hängt die der Verbindlichkeit von Verträgen. Am Anfang der prästaatlichen Entwicklung stand überall der Realvertrag, d. i. die gleichzeitig vereinbarte und vollzogene Veränderung der Machtverhältnisse. Ihm folgten Verträge, die nicht die Erfüllung zur unmittelbaren Folge hatten, wohl aber in feierlicher Form unter Anrufung der Götter oder unter Selbstverdammung abgeschlos­ sen wurden, bei denen man also durch religiöse Bekräftigungsmittel ersetzte, was an Bemächtigung des Vertragsgegenstandes fehlte. Die Folgen der Nichterfüllung eines derart bekräftigten Geschäfts waren dann durch freiwillige Erfüllung i. d. R. noch nachträglich abwendbar.667 gegen bei den germanischen Stämmen (C. Tacitus, Germania, cap. 20: „heredes tamen successoresque liberi, et nullum testamentum“). 665  Einschränkungen der Testierfreiheit finden wir in Mesopotamien (vgl. R. Westbrook, 2003, p. 397), in Griechenland (nur als Adoptionstestament, wenn der Erblas­ ser keinen leiblichen Sohn hat; siehe ferner Gortyn, col. IV 23–VI) und in Rom (ur­ sprünglich ebenfalls nur als Adoptionstestament vor der Volksversammlung, später als Mancipationstestament per aes et libram, vgl. Gaius, Inst. §§ 101–103). 666  Im Übrigen war es in Indien üblich, dass alte Leute ihr Erbe schon zu Lebzei­ ten aufteilten (vgl. oben Fn. 653), sodass auch deshalb kein Bedarf für letztwillige Verfügungen bestand. Siehe dazu N. C. Sen-Gupta (1962), p. 139 ff. 667  Vgl. dazu E.-J. Lampe (1997b), S. 196 ff. Gut nachverfolgen lässt sich die Entwicklung im altindischen Recht. Im Gesetzbuch des Manu (VIII 222 f.) heißt es noch: „Wer einen Kauf oder Verkauf abgeschlossen hat, der ihn in dieser Welt gereut, der kann die Sache binnen zehn Tagen zurückgeben oder zurücknehmen. Aber nach Ablauf von zehn Tagen kann er die Sache weder zurückgeben noch zurückfordern; wenn er sie zurücknehmen oder -geben will, so soll ihn der König zu einer Buße von 600 Pana verurteilen.“ Allmählich wurde die Rücktrittsmöglichkeit jedoch begrenzt. Nach Nârada (IX 2) konnte nur noch der Käufer und dieser lediglich am Tage des

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Sowohl in Mesopotamien, Ägypten, Indien als auch noch in Rom er­ zeugte – gleichsam als Relikt aus der prästaatlichen Entwicklung – ein Eid die Verbindlichkeit eines Vertrages.668 Entweder zusätzlich oder stattdessen begründete man die Verbindlichkeit eines Vertrages dadurch, dass man entweder ein gemeinsames Mahl abhielt,669 einen sym­ bolischen Gegenstand, etwa einen Strohhalm, überreichte oder einen Gegenstand zwischen Verkäufer und Käufer teilte.670 Zur Sicherung des Vertragsinhalts zog man ferner Zeugen hinzu671 und bediente sich psychologischer Mittel, um den Akt ihrem Gedächtnis einzuprägen.672 Anderswo kam der Schriftform bekräftigende Bedeutung Vertragsschlusses ungestraft zurücktreten, und für Kaufleute galten weitere Beschrän­ kungen. Bei Dienstverträgen galten umgekehrt weitergehende Rücktrittsrechte, doch musste dem Arbeiter u. U. ein Abschlagsgeld gezahlt werden. 668  Zu Mesopotamien vgl. P. Steinkeller (1989), S. 44 ff.; zu Ägypten vgl. R. Jasnow (2003), p. 112; zu Indien vgl. Ṛg-Veda VII 104, 15; X 89, 9; Nārada, in: J. Jolly (1889/1965), I 18; P. V. Kane (1953), p. 357 ff.; in Rom deutet der unerlässliche Ge­ brauch des Wortes ‚spondere‘ (σπένδω, σπονδή) bei Abschluss eines bindenden Schuldversprechens auf einen früheren Eid hin (vgl. G. Dulckeit/F. Schwarz/W. Waldstein, 1995, § 13 IV 3). Zum griechischen Vertrag vgl. H. J. Wolff (1957/1968), S.  522 f.; G. Thür (2003), S. 237 f., Weiteres bei K. Friedrichs (1896), S. 35 Anm. 1. Zu China, wo die Gewohnheitsrechte der einzelnen Provinzen die vertraglichen Be­ ziehungen regelten, vgl. P.-T. Lin (1976), S. 14 ff. 669  K. Friedrichs (1896), S. 16 m. Nachw. Das gemeinsame Essen (ursprünglich eine Form der Verbrüderung) aus Anlass eines Vertragsschlusses, hat sich bis heute nahezu universell erhalten. 670  So etwa im germanischen Recht (vgl. J. Grimm, 1899/1955, S. 168 ff., 176 ff.) Für Rom vermuten manche, dass der ‚stipulatio‘ das Wort stipula (‚Halm‘) zugrunde liegt und symbolisch die ‚Fesselung‘ des Schuldners zum Ausdruck bringen soll. In China war es Übung, dass man Vertragsurkunden doppelt auf einem Holz- oder Bam­ bustäfelchen ausfertigte und dieses dann entzweischnitt (vgl. H. G. Creel, 1980, p. 34; P.-T. Lin, 1976, S. 67). Diese Verdoppelung der Vertragsdokumente kommt auch im Altgriechischen als συγγραφή oder χειρόγραφον zum Ausdruck. 671  So etwa im attischen Recht bei der Abfassung der συγγραφή, im römischen Recht für die mancipatio und für das nexum. Zum altgermanischen Recht vgl. Grimm (1899), S. 121 ff., 127 ff., 604. Eine ähnliche Funktion hatte in vielen indogermani­ schen Rechten (und hat heute noch) der Handschlag. Weitere Nachweise bei Friedrichs (1896), S. 11 ff. 672  So gab man zur Beweissicherung bei der Übergabe eines Grundstücks einem kleinen Jungen eine Ohrfeige und zupfte ihn am Ohr (so nach dem Recht der ripua­ rischen Franken: Lex Ribuaria [Hg. K. A. Eckhardt, Hannover 1966], tit. 60 § 1: „unicuique de parvolis alapes donet et torquat auriculas, ut ei in postmodum testimonium präbeant.“). Ähnlich die römische Sitte, vor Gericht die Zeugen am Ohr zu zwicken, was C. Plinius (1968, XXXV 4; XI 45) damit erklärt, dass im Ohrläppchen der Sitz des Gedächtnisses sei (103: „est in aure ima memoriae locus“), was die moderne Psychologie aber unter das Assoziationsgesetz subsumiert, wonach zwischen mehreren unzusammenhängenden Eindrücken sich willkürlich ‚assoziative‘ Bezie­ hungen herstellen und für das Erinnern ausnutzen lassen (vgl. dazu bereits ­E.-J. Lampe, 1988, S. 125).



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zu, so etwa bei den Babyloniern673 sowie bei den Griechen.674 Oft wurde die Ware zur Bestimmung ihres Preises auch feierlich auf einer Waage gewogen.675 Vielerorts hatte ein Handgeld dieselbe Funktion.676

Willensfehler konnten die Gültigkeit eines Vertrages erst in neueren Rech­ ten beeinflussen und waren auf Zwang, Täuschung und Irrtum beschränkt. Eine Ausnahme bildete das altindische Recht, das die Anfechtung wegen Gewalt und Betrugs schon sehr frühzeitig gewährte.677 Am Ende der Entwicklung stand dann allerdings nicht etwa ein einheitli­ ches Konzept des Vertrages, worunter Schuldverträge, Gesellschaftsverträge, Veräußerungsverträge, Eheverträge u.  a.  m. subordiniert und einheitlichen Standards unterstellt werden konnten, sondern es blieb bei der Formulierung einzelner Vertragstypen, und zwar selbst noch in den hoch entwickelten Wirt­ schaftsrechten Mesopotamiens, Griechenlands678 und Roms. Erst späteren Juristen – in Italien den Glossatoren – war es vorbehalten, hieraus allgemeine Grundsätze für das Zustandekommen oder Nichtzustandekommen von Ver­ trägen zu entwickeln. Wichtigste Vertragsart war zweifellos überall der Kauf. Urkundlich belegt sind vor allem Verträge über Grundstücke, Sklaven und Vieh. Wichtigste Form des Kaufes war der Barkauf, neben den frühzeitig auch der Kreditkauf trat, aufgefasst vielfach noch als Barkauf in Verbindung mit der Gewährung eines Darlehens seitens des Verkäu­ fers. Nächst dem Kauf spielte die Miete im alten Recht eine bedeutende Rolle, wozu man auch die Pacht und die Dienstleistung rechnete. Gegenstände der Pacht waren häufig Grundstücke, Gegenstände der Miete i. d. R. Gebäudeflächen, Inhalte der Dienstleistungen sowohl Arbeiten auf den Feldern als auch Kampfeinsätze in Kriegs­ zeiten.

(β) Haftung für Vertragsverletzungen. Folge der Verbindlichkeit eines Ver­ trages war, dass der Schuldner ‚leibhaftig‘ haftete, wenn sein Wille oder gar sein Eid ihn banden, weshalb seine Gläubiger ihn in die Schlingen legen konnten, in die er sich ‚verstrickt‘ hatte. Das Schuldig-bleiben bedeutete fast überall kriminelle Schuld, vergleichbar mit der des Diebstahls (denn das R. Westbrook (2003), p. 374. kannten die einfache und die feierliche Urkunde (χειρόγραφον und συγγραφή). Die feierliche Urkunde wurde vor Zeugen aufgesetzt und von einem Drit­ ten aufbewahrt. 675  So etwa in Israel (vgl. Jeremia 32, 9 ff.) und in Rom (Gaius, Inst. I 119: der Waagehalter [libripens] wog vor fünf Zeugen dem Verkäufer oder Darlehensnehmer eine vorbestimmte Menge Barrenmetall zu). 676  Bisweilen diente es allerdings auch als Reugeld, so etwa im indischen Recht (vgl. J. Kohler, 1882, S. 164). 677  Manu VIII 168. 678  L. Beauchet (1897/1969); ferner F. Pringsheim (1950), ch. II. 673  Siehe 674  Sie

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Geschuldete gehörte dem Schuldner ebenso wenig wie die gestohlene Sache dem Dieb). Fast überall wurden deshalb für Personen, die ihrer Leistungs­ pflicht nicht nachkamen, Strafen angedroht – teils sogar drastischer Art.  Schuldknechtschaft kannte man in Mesopotamien,679 in Indien,680 in China681 und in Israel682. In Athen bestand sie als Pfandrecht an der Person – bis die Gesetzgebung Solons sie löste. Besonders übel erging es den Schuldnern in Rom, wo die Gläubiger sie nicht nur knechten oder trans Tiberim in die Sklaverei verkaufen, sondern sogar totschlagen konnten.683 Das indische Recht verstieg sich nicht ganz so weit, gab aber dem Gläubiger immerhin jedes Recht der Gewalt684 oder List, um seinen Schuldner zur Zahlung zu zwingen.685 Auch von den Germanen wird uns berichtet, dass sie im Spiel sich selbst zum Pfande setzten und, wenn sie verloren, verknechtet wurden.686 Noch die germanischen Volksrechte (leges barbarorum) bestätigen die Schuld­ knechtschaft,687 selbst der Sachsenspiegel verankert sie.688 Unbekannt war sie dage­ gen in Ägypten.689 Doch wie auch immer – schließlich nahm fast überall der Staat die Ausübung des Gläubigerrechts in seine Hände und beseitigte die gröbsten Auswüch­ se.690

679  CH

§§  115 f. Kohler (1889a), S. 125 f. 681  P.-T. Lin (1976), S. 63 ff. 682  3. Mose 25 39; 5. Mose 15 12; Jeremias 34 14. Dazu, dass dort auch die Fa­ milie des Schuldners haftete, vgl. 2. Könige 4 1; Jesaias 50 1. 683  Vgl. XII-Tafelgesetz 3 5 (siehe auch unten Fn. 767). Waren mehrere Gläubiger vorhanden, konnten sie den Schuldner zerschneiden, und das Gesetz hielt es nicht einmal für schädlich, wenn ein Gläubiger sich zuviel abschnitt (3 6: „si plus minusve secuerunt, s[in]e fraude esto.“). 684  J. Jolly (1880), S. 243: „Der Gläubiger führt den Schuldner gebunden in sein Haus und zwingt ihn unter Schlägen und Drohungen, seinen Verpflichtungen nachzu­ kommen.“ 685  Manu VIII 49, wo zusätzlich das Fasten (sog. dharma-Sitzen) des Gläubigers vor der Tür des Schuldners als Druckmittel erwähnt wird. 686  C. Tacitus, Germania, cap. 24. 687  J. Grimm (1899/1955), S. 614. 688  Dort heißt es (3. Buch, Art. 39, §§ 1, 2): „Wer schult vor gerichte vorderet uf einen man, der ir nicht en hat noch gegelden mag noch burgen setzen mag, der richter sal im den man entwerten vor daz gelt, den sal her halden geliche sime ingesinde mit spise unde mit arebeit. Will her in spannen [= festbinden] mit einer helden [= Fessel], daz mag her tun, anders en sal her in nicht pinigen.“ 689  Die Schuldhaft diente hier hauptsächlich der Erzwingung von Staatsforderun­ gen. Zu deren Sicherung konnte der Schuldner u. a. die Mumien seiner Eltern ver­ pfänden (Diodor, I, 92, 93). 690  Zur diesbezüglichen Gesetzgebung Solons in Athen vgl. oben Fn. 498; zu deren Übernahme nach Israel vgl. H. Graetz (1908), S. 309 f. Die Schuldhaft wurde von Solon allerdings nicht völlig aufgehoben; sie bestand weiterhin für Handelsschulden und für gewisse öffentliche Schulden. 680  J.



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts323

Der Umfang der schuldnerischen Haftung war in den protostaatlichen Rechten durchweg streng. Selbst die Unmöglichkeit einer Leistung konnte den Schuldner nicht befreien; denn Vorsatz, Fahrlässigkeit und Zufall wurden im Vertragsrecht noch weniger geschieden als im Strafrecht.691 Das Ausmaß der Haftung wurde in einigen Rechten lediglich vom Talionsgedanken bestimmt,692 in anderen Fällen aber bereits gesetzlich693 oder vertraglich be­ grenzt. Üblich war vielerorts auch ein Schuldenerlass, der sich in gewissen Abständen wiederholte.694 Als Sicherungen der Schuld kannten die alten Rechte sowohl die Bürgschaft als auch das Pfandrecht. Die Bürgschaft war unterschiedlich ausgestaltet: teils als unmittelbare Haftung, teils als Gestellungs- und teils als Zahlungsbürg­ schaft.695 Ein besitzloses Grundpfandrecht als Realsicherung haben nur we­ nige der alten Rechtsordnungen ausgebildet.696 Das indische und wohl auch das germanische Recht bedienten sich stattdessen des Verkaufs unter der (auf­ schiebenden) Bedingung, dass die Schuldsumme bezahlt wird,697 das chinesische Recht durch den Verkauf unter der (auflösenden) Bedingung, dass der Schuldner nicht zahlt.698 Ein Faustpfandrecht an beweglichen Sachen kannten u. a. das indische und das chinesische Recht,699 doch scheint es weder hier noch anderwärts erhebliche Bedeutung gehabt zu haben. 691  K. Friedrichs (1896), S. 54. Für Mesopotamien vgl. LE § 5 (Nachlässigkeit verlangt dagegen CH §§ 232, 236 f., 267 u. ö.); für Ägypten fehlen Angaben. Für China wird die Auffassung vertreten, dass durch die Entdeckung der Gesinnung zwar wesentliche Grundlagen für die achsenzeitliche Entwicklung des Rechts bzw. der Rechtstheorie gelegt wurden (H. Roetz, 1992, S. 62), doch sind Auswirkungen auf das Zivilrecht nicht bekannt. 692  Die Talion führte daher i. d. R. zur Wiederherstellung des vorigen Zustands oder, sofern dies nicht möglich war, zur Leistung von Schadensersatz in Geld. 693  So etwa in Mesopotamien CH §§ 101, 120, 124, 126, 160 f. (doppelter), § 106 (dreifacher), §§ 12,112 (fünffacher), § 107 (sechsfacher), §§ 8, 265 (zehnfacher), § 5 (zwölffacher), § 8 (dreißigfacher Schadensersatz), §§ 57 f., 255 (feste Summe), §§ 199, 209, 213 f., 247 (fester Berechnungsmodus); zu Rom vgl. M. Kaser (1949), S. 219 ff. 694  Bekannt geworden ist insbesondere der Schuldenerlass des israelischen Rechts (5. Mose 15 1 ff.). 695  Näheres und Nachweise bei A. H. Post (1895), S. 664 ff. Speziell zum Bürg­ schaftsrecht des griechischen Gemeindestaates siehe J. Partsch (1909). 696  So etwa das mesopotamische Recht, vgl. oben G 1 ε; ferner J. Krecher (1980), S. 338 für die Zeit nach Ur-III. 697  Für das indische Recht vgl. Bṛhaspati (bei Jagannātha I). Für das germanische Recht lässt sich diese Vorstufe des Grundpfandrechts allerdings nicht belegen. Das englische mortgage (Bedeutung: das Pfand ist für den Schuldner tot) war eine Über­ eignung mit Rückfallbedingung; im common law verfiel das Pfand dem Gläubiger, wenn die Schuld nicht bei Fälligkeit bezahlt wurde. 698  Vgl. H. G. Creel (1980), p. 34. 699  Für Indien vgl. J. Kohler (1895), S.  187 f.; für China vgl. P.-T. Lin (1976), S. 109.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

g) Gesellschaftsrecht Wahrscheinlich gab es in allen archaischen Staaten gesellschaftsrechtliche Normen; doch sind uns nur wenige überliefert. In Mesopotamien enthält der Kodex Hammurapi lediglich in § 98700 einen Hinweis auf eine Gewinn- und Verlustgemeinschaft. Aus Babylon sind jedoch Gesellschafts­ verträge überliefert, wonach Zweien, die ihr Kapital zusammengelegt hatten, um da­ mit Geschäfte zu machen, der Gewinn gemeinsam zustehen sollte.701 Aus Indien wissen wir, dass dort nicht nur die Kasten überörtlich gültige Normen für das soziale, wirtschaftliche und sogar für das familiäre Leben ihrer Mitglieder erlassen durften, sondern dass diese Befugnis auch den Gilden als rechtsfähigen Zusammenschlüssen von Handwerkern und Künstlern zustand. Daneben gab es in Indien sowohl rechtlich selbstständige Handelsgesellschaften als auch militärische Gesellschaften zum Zwe­ cke gemeinsamer Beutezüge.702 In China dokumentiert lediglich eine in die Mitte des 2. Jh.s v. u. Z. zu datierende Holztafel eine Partnerschaftsvereinbarung zum Zwecke einer gemeinsamen geschäftlichen Unternehmung.703 Das altrömische Recht kannte die Hausgemeinschaft (d. i. „die Blut-, Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft des Hau­ ses“) zwar nur als Erbengemeinschaft (ercto con cito) nach dem Tode des Hausvaters (paterfamilias), daneben aber auch ein gleichartiges Vertragsverhältnis.704

h) Strafrecht Strafrecht und Strafprozessrecht wurden in den alten Kulturen selten klar voneinander geschieden. Soweit sich materielle Strafnormen auf konkret umrissene Tatbestände bezogen, nahmen sie meistens auch auf deren prozes­ suale Beweisbarkeit Bedacht. Einen Allgemeinen Teil des Strafrechts hat keine der frühantiken Rechtsordnungen entwickelt. Daraus folgt u. a., dass der Versuch eines Delikts nirgends generell für strafbar erklärt wurde.705 Stattdessen finden wir einerseits die Gleichstellung bereits 700  Hier zitiert nach W. Eilers (2009). Die Vorschrift ist lediglich in einer Ab­ schrift enthalten. 701  J. Kohler/F. E. Peiser (1891), S. 56 ff. 702  Nachweise bei J. D. M. Derrett (1956), S. 212 Fn. 67, 223. Ferner hatten in Indien kleinere Gemeinden das Recht zur Erhebung von Steuern und besonderen Ab­ gaben, etwa wenn ihnen das Marktrecht vom König verbrieft war. Allerdings ging die rechtliche Verselbstständigung nirgends so weit, dass der Staat (Fiskus) oder einzelne Gemeinden etwa auf Schadensersatz verklagt werden konnten. 703  A. F. P. Hulsewé (1978), p. 31 f. Danach hatte jeder der Beteiligten einen be­ stimmten Geldbetrag einzuzahlen, Verluste waren gemeinsam zu tragen, eigenmächti­ ges Wegschaffen von Waren wurde durch Geldbuße geahndet, ebenso das Fernbleiben von Gesellschafterversammlungen. 704  Eingehend zur römisch-rechtlichen societas F. Wieacker (1936), Zitat S. 161. 705  Ansätze finden wir in Indien innerhalb der buddhistischen Ordensverfassung (Vinaya), vgl. dazu H. Hecker (1977), S. 99 f. Die für das römische Recht vertretene



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts325

des bösen Willens mit der Tat,706 andererseits Gefährdungstatbestände im Vorfeld von Verletzungsdelikten.707 Von Teilnahmehandlungen wissen wir nur, dass sie entweder als Mittäterschaft geahndet oder aber straflos gelassen wurden.708

Im Vordergrund der Strafbarkeit stand überall der Erfolg der Tat. Bei Ver­ mögensdelikten bemaß er sich regelmäßig nach dem materiellen Wert,709 bei Persondelikten teils nach dem Wert der Arbeitskraft,710 teils nach dem Status des Verletzten.711 Bei Tötungen und anderen Delikten, die die Todesstrafe zur Folge hatten, schieden Differenzierungen naturgemäß aus. Auffassung von Th. Mommsen, dass zur Tat auch ihr Versuch zu rechnen sei (1899, S. 96 ff.), ist weder belegt noch generell belegbar. Vielmehr finden wir erst in der Literatur der Glossatoren – vor allem des Azo Portina und des Hugolinno de Presbyteris – Anfänge einer allgemeinen Versuchslehre (vgl. H. P. Glöckner, 1989, S.  82 ff., 100 ff.). Für das altgermanische Recht vgl. dagegen E. Schmidt (1965), § 21: „Man bleibt weit davon entfernt, das Handeln eines Menschen im Hinblick darauf, dass in ihm ein auf den schädlichen Erfolg gerichteter böser Wille zur Verwirklichung ge­ bracht wird, allgemein als ‚versuchte‘ Tat zu erfassen und in seiner Rechtswidrigkeit zu begreifen. Zu derartigen Abstraktionen ist das germanische Recht von Hause aus nicht fähig gewesen.“ 706  So etwa für den Mord in der Lex Cornelia de sicariis et veneficiis (Dig. 48, 8, 7: dolus pro facto accipitur; Hadrian, Coll. 1, 6, 1: qui non occidit, sed voluit occidere, pro homicida damnatur). 707  Typische Gefährdungsdelikte bildete das altgermanische Recht aus, z. B. für die versuchte Tötung und die versuchte Körperverletzung. Aus der isländischen Graugans (als ältester Quelle des nordischen Rechts) sei beispielhaft zitiert: „Wo immer Leute ausziehn mit der Absicht, auf andere loszuschlagen, darauf steht Waldgang (skóggangr), wenn etwas daraus wird, Lebensringzaun (fjarbangsgarđr = dreijährige Ver­ bannung), wenn nichts.“ Nr. 86: „Wo sich Leute auf dem Wege treffen und der eine springt auf den andern los mit strafbarem Überfall: darauf steht Lebensringzaun. … Überfall ist es, wenn einer die Waffe schwingt und der Geschworenenausspruch sagt aus, dass er einen treffen wollte, und wenn er zudem so nah ist, dass er dieserhalb treffen könnte.“ Nach dem Kodex Hammurapi wird der versuchte Diebstahl aus einem Haus schon dann mit Erhängen bestraft, wenn lediglich der Einbruch vollendet ist (§ 21). Auch das chinesische Recht bestrafte Versuchshandlungen als eigenständige Delikte, so etwa die Verschwörung gegen den Fürsten (W. Vogel, 1923, S. 85). 708  Das altgermanische Recht unterschied (hauptsächlich bei der Tötung) zwischen Urheberschaft, Gehilfenschaft und Erteilung von „Rat“, worunter sowohl die heutige Anstiftung als auch die psychische Beihilfe gefasst wurden. Vgl. dazu W. E. Wilda (1842), S.  609 ff. 709  In Indien verlangte Manu (VIII 288) bei wissentlicher oder unwissentlicher Sachbeschädigung zumindest Schadensersatz, darüber hinaus eine Buße in derselben Höhe, zahlbar an den König. Nach Gautama XII 15 hatte ein diebischer Śūdra den Schaden achtfach zu ersetzen. 710  Vgl. etwa CH § 199. 711  So wurden in Mesopotamien Delikte gegen Palastangehörige und Bürger mit unterschiedlichen Strafen bedroht (CH §§ 195 ff.), in Indien standen die Brāhmanen unter stärkerem Strafschutz als die übrigen Bürger, das Recht von Gortyn unterschied zwischen Vergehen gegen Vollfreie, ἀφέταιροι (= freundlose, d. h. aus keiner Jüng­

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Ob die individuelle Verantwortlichkeit für Unrecht ursprünglich der Kau­ salität für den Erfolg gleichgesetzt, der psychische Vorgang durch den physi­ schen also vollständig vertreten wurde, lässt sich aus den Quellen nicht hin­ reichend erschließen.712 Viele Quellen zeigen aber bereits in ältester Zeit Ansätze zur Differenzierung zwischen vorsätzlicher und unvorsätzlicher Tat, eindeutig in Mesopotamien,713 Assyrien,714 Indien,715 China,716 Israel (wo allerdings der Staat dem unvorsätzlich Handelnden lediglich Schutz vor Blut­ rache bot),717 Griechenland,718 Rom719 und in den germanischen Volks­ rechten.720 Das Prinzip der Erfolgshaftung wurde dann zwar beibehalten, der Erfolg unvorsätzlichen Handelns jedoch kraft einer Fiktion auf eine außer­ halb des Täters liegende Ursache zurückgeführt.721 lingsgenossenschaft hervorgegangene Bevölkerungsschicht – vgl. auch Homer, Il. IX 63: ἀφρήτωρ = ungesellig, keiner Zunft angehörig) und Sklaven (vgl. col. II 2 ff.). 712  Vgl. dazu A. Löffler (1895), S. 19 (m. w. Nachw. speziell zum altgermanischen Recht S.  32 ff.). 713  Vgl. CH §§ 206 f.: „Wenn jemand einen anderen bei einer Rauferei schlägt und ihm eine Wunde beibringt, so soll er schwören: ‚Ich habe nicht mit Absicht geschla­ gen‘ … Wenn er infolge seines Schlages stirbt, soll er ebenfalls [so] schwören …“. 714  Gesetzessammlung § V: „Wenn jemand einen freien Mann infolge eines Streits blendet, gibt er 20 Shekel Silber. Wenn die Hand sündigt, gibt er 10 Shekel Silber.“ 715  Siehe schon Ṛg-Veda 828: „Wenn wir, o Götter, eur Gesetz verletzen,/o ihr verständ’gen, wir die unverständ’gen,/dann gleicht dies alles [Gott] Agni aus, wohl wissend,/wie rechter Zeit die Götter er verteile.“ Später unterschied das buddhistische Ordensrecht (Vinayapiṭaka) klar zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit. Manu (VIII 126) sah die sträfliche Absicht des Täters und das Können als die Strafe mitbestim­ mende Faktoren an und setzte (VIII 120 f.) beim aus Irrtum, Unwissenheit oder Ein­ falt geleisteten Falscheid besonders niedrige Bußen an (vgl. auch VIII 291 f.). 716  W. Vogel (1923), S. 37 ff.; dort findet sich (S. 98 ff.) auch eine Übersetzung der „Geschichte des Strafrechts“ (hing-fa-tschi) aus den „Büchern der früheren Hàn-Dy­ nastie“. Das Zhōu-lĭ unterschied neben der Absicht den Irrtum (etwa über die Person des Getöteten), den Zufall und die Fahrlässigkeit (Nachlässigkeit), vgl. W. Vogel (a. a. O.), S.  82 f. 717  4. Mose 35 22 ff.; 5. Mose 19 4 ff., mit der Einschränkung, dass der Totschläger den Erschlagenen nicht gehasst hat. 718  Gesichert durch Drakon (oben bei Fn. 523). Da dieser nach h. A. kein neues Recht schuf, kann die Trennung zwischen vorsätzlicher und fahrlässiger Tötung schon früher vorbereitet worden sein. Das griechische Recht zur Zeit Homers kannte die Trennung jedoch noch nicht. 719  Leges Numae (7. Jh. v. u. Z.) 16 f. (ungesichert!); XII-Tafelgesetz 8 24a. 720  Die altgermanischen Volksrechte unterschieden zwischen (besonders verwerfli­ chen) mit Vorbedacht, mit bösem Willen und absichtslosen, von ungefähr (d. h. ohne Nachstellung) begangenen Verletzungen. Einzelheiten dazu bei W. E. Wilda (1842), S.  544 ff. 721  Einer späteren Zeit zuzurechnen ist innerhalb der unvorsätzlichen Taten dage­ gen die Unterscheidung zwischen solchen, bei denen dem Täter eine Nachlässigkeit zur Last gelegt wird, und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist.



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts327

Einen Entwicklungsschub brachte überall das staatliche Bestreben, die private Selbsthilfe zurückzudrängen. Man überließ künftig beispielsweise nur noch die aus lange gehegtem Hass begangene Mordtat der Rache, unterstellte die Tötung anlässlich eines plötzlich ausgebrochenen Streites dagegen dem Urteil eines staatlichen Gerichts.722 Von nun an lag es nahe, diese subjektive (d. h. auf die Art des verbrecherischen Willens abstellende) Grenzziehung auch auf andere Straftaten zu übertragen und die Empörung über den verbre­ cherischen Willen des Täters überhaupt zum Grund zu nehmen, weshalb eine Tat strafrechtlich verfolgt wurde. Man überließ also nur noch diejenigen Fälle der Selbsthilfe, in denen die Empörung des Verletzten es verständlich machte, dass er das Eingreifen des Staates nicht abwarten wollte, sondern die Verwirklichung des Rechts in die eigene Hand nahm. Dazu rechneten vor allem die Fälle der Notwehr; sie durfte über das zur Abwehr des Angriffs notwendige Maß hinausgehen.723 In allen übrigen Fällen aber bedurfte die Bestrafung des Täters einer gerichtlichen Schuldfeststellung. Eine kollektive Verantwortlichkeit kannten nur wenige der alten Rech­ te.724 Differenzierte Überlegungen zur Schuldfähigkeit Einzelner lassen sich ebenfalls fast nirgends finden.725 Im Gegenteil erfahren wir von den Grie­ chen, dass ursprünglich auch Unmündige sich dort vor der Blutrache fürchten mussten, wenn sie aus Torheit unwissentlich einen anderen töteten.726 Erst bei Aischylos und Sophokles brach sich die Idee vom autonomen Menschen Bahn, den kein von Gott gesandtes Schicksal heimsucht, sondern der selber für Indien A. F. Hulsewé (1955), p. 71. unser heutiges Recht erklärt ja die Überschreitung der Notwehr in ge­ wissen Fällen für straflos (vgl. § 33 StGB). 724  Von den Ägyptern berichtet Diodorus (III, 11), dass sie Schwerverbrecher mit ihrer ganzen Verwandtschaft zu harter Arbeit in den Goldbergwerken verurteilten. In Israel war die Mitbestrafung von Angehörigen ebenfalls gang und gäbe; selbst Je­ hovah ließ die Rotte Korah samt Weibern und Kindern in die Erde versinken. In China wurden bei politischen Verbrechen sowohl während der Q’in- als auch wäh­ rend der Hàn-Dynastie Verwandte (Eltern, Ehefrau, Kinder und Geschwister) in die Bestrafung einbezogen. Solche Kollektivbestrafungen erreichten während der Q’inZeit ein solches Ausmaß, dass auch noch die gesamte Nachbarschaft mitbestraft wurde (vgl. H. von Senger, 1991, p. 376 ff.). Ebenfalls nahmen die Athener an der Bestrafung der Verwandten von Schwerverbrechern, namentlich von Tyrannen, kei­ nen Anstoß. 725  In China stellte das Zhōu-lĭ außer den unter 7- und über 80-Jährigen auch die Unzurechnungsfähigen straffrei, vgl. O. Weggel (1980), S. 7. In Rom stellte man die furiosi, mente capti und dementes straffrei („furiosum fati infelicitas excusat“, „satis furore ipso punitur“ vgl. Dig. 48, 8, 12. 1, 18, 14), sofern ihre Tat nicht in einem „intervallum sensu saniore“ begangen wurde. 726  Homer, Il. XXIII 84 ff.; dazu K. F. Hermann/Th. Thalheim (1895), S. 49 f. Ent­ sprechendes berichtet Xenophon (Anabasis IV viii 26) aus Sparta in viel späterer Zeit. Zum altgermanischen Recht vgl. E. Schmidt (1965), § 25. 722  Beispielhaft 723  Auch

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Herr über seine Taten ist und deshalb in unserem heutigen Sinne schuldig werden kann.727 Bei den Römern wandten sich dagegen noch in den Sulla­ nischen Gesetzen und kaiserlichen Verordnungen einzelne Strafbestimmun­ gen gegen die Kinder politischer Verbrecher.728 Bußen und Strafen729 wurden im protostaatlichen Recht grundsätzlich (aber nicht ausnahmslos730) nach dem grobsinnlichen Prinzip der Spiegelstra­ fen verhängt. Das trifft nicht nur auf das mosaische Recht zu, von wo es uns in der bekanntesten Fassung überliefert ist,731 sondern auch auf das mesopotamische,732 das indische,733 das chinesische,734 das griechische735 und das römische,736 ja selbst noch auf das mittelalterliche germanische 727  Dazu B. Snell (1980), S. 36: „Bei Homer fühlt sich der Mensch noch nicht als Urheber seiner eigenen Entscheidung: das gibt es erst in der Tragödie.“ Zur weiteren Entwicklung bei Aischylos und Sophokles vgl. M. Rosenberger (2006), S. 16 ff. 728  Vgl. Dionysius, Halicarnassensis, VIII 80. 729  Als ‚Buße‘ wird im Folgenden die sühnende Abgeltung eines Unrechts an die Betroffenen, als ‚Strafe‘ an die Obrigkeit bezeichnet. Die Buße kann dem Täter ent­ weder von den Betroffenen oder von der Gemeinschaft auferlegt werden, sie kann aber auch spontan vom Täter erbracht werden, indem er sich demütigt oder eine be­ schwerliche Leistung erbringt. Die Strafe muss dagegen von einer Autorität, insbe­ sondere von einem staatlichen Gericht, festgesetzt und entweder auch vollstreckt oder zur Vollstreckung freigegeben werden. 730  Nicht beispielsweise in China, welches lediglich fünf harte Leibesstrafen kannte, von denen sich der (hinreichend vermögende) Verurteilte freilich i. d. R. durch Geld freikaufen konnte. Es handelt sich um: Zerschneiden und Bemalen der Stirn mit schwarzer Tusche (mo); Abschneiden der Nase (pi); Abschneiden der Füße (fei); Kas­ tration (kung); Hinrichtung (ta-pi). Dazu auch oben bei Fn. 473. Erst in der späten Hàn-Zeit wurden diese Strafen abgeschafft. 731  2. Mose 21 23 ff.; 3. Mose 24 17 ff.; 5. Mose 19 21; s. auch 1. Könige 20 39 ff. 732  Dort allerdings erst in CH §§ 125, 194–197, 200 ff. (Auge um Auge, Knochen um Knochen, Zahn um Zahn), ferner § 210 (Tod einer Schwangeren), §§ 229 ff. (Tod durch Einsturz eines Hauses; eigentümlich § 230, wonach der Sohn des Täters als Ausgleich für den Sohn des Opfers getötet werden soll). 733  Manu VIII 270 ff. (sogar der Versuch, sich neben einen Hochgeborenen zu setzen, wurde mit dem Brandmarken der Hüfte oder Abschneiden des Popos bestraft: VIII 281), 334; vgl. ferner Strabon XV 6, 54 p. 710. 734  H. von Senger (1991, S. 372) zitiert dazu den Staatsphilosophen Xun Chi (um 313–238 v. u. Z.): „Wer einen anderen tötet, den richtet man hin. Wer einen anderen verwundet, den verstümmelt man. Alle Herrscher der Vergangenheit verfuhren so seit unvordenklichen Zeiten. Man weiß nicht, von wem das auf uns gekommen ist.“ 735  Allerdings nur vereinzelt und nur in älterer Zeit, vgl. dazu Löffler (1895), S. 53 bei und in Anm. 17. 736  XII-Tafelgesetz 1 10, 8 2 (freilich mit der Einschränkung, dass die Kontrahen­ ten zunächst versuchen sollten, sich auf dem Verhandlungsweg zu einigen); ferner Dig. 47, 9, 9, 3 (Gaius): „Qui aedes acervumve frumenti iuxta domum positum combusserit, vinctus, verberatus, igni necari iubetur: si modo sciens prudensque id commiserit.“ („Wer ein Gebäude oder einen in der Nähe eines Wohnhauses befindlichen



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Recht.737 Reichlichen Gebrauch machte man allgemein von der Todesstrafe, die in den differenzierteren Rechtsordnungen in abgestufter Form, oft beein­ flusst durch magische Bräuche, zur Vollstreckung angeordnet wurde.738 Leichtere Vergehen hatten Verstümmelungsstrafen zur Folge.739 (Blut-)Rache, ursprünglich wohl überall gebräuchlich,740 wurde mehr und mehr durch staatlich festgelegte Bußtaxen abgelöst,741 wenngleich als Übergangserschei­ nung der Verletzte oft das Recht behielt, die staatlich verhängte Strafe selbst zu vollstrecken oder bei der Vollstreckung zumindest anwesend zu sein.742 Im Übrigen wurden Arbeitsstrafen,743 Prügelstrafen744 und Geldstrafen745 (vereinzelt auch Freiheitsstrafen746) verhängt und der Verurteilte gewissen Getreidehaufen in Brand gesetzt hat, soll gefesselt, körperlich gezüchtigt und, wenn er die Tat wissentlich und überlegt begangen hat, mit dem Feuertod bestraft wer­ den.“). 737  Constitutio Criminalis Carolina (1532): §§ 107 (dem Meineidigen sind die Schwurfinger abzuhauen), 108 (dem Verräter ist die Zunge auszureißen), 125 (der Brandstifter soll den Feuertod erleiden). 738  Wir wissen von Enthauptung, Hängen, Ertränken, Steinigen, Versenken im Moor, Verbrennen, Rädern, Pfählen, Zerreißen durch Pferde oder Stiere, Erschießen mit Pfeilen. 739  Nach dem Prinzip der Spiegelstrafen, das an das Organ, mit dem eine Straftat begangen wurde, anknüpft, konnte beispielsweise dem Beleidiger die Zunge heraus­ geschnitten, dem Dieb die Finger oder die ganze Hand abgeschnitten werden. Das Auspeitschen (die Bastonade) kommt sowohl als selbstständige Strafe als auch als Zwangsmittel zur Durchsetzung einer Geldstrafe in Betracht. Als selbstständige Strafe war sie wahrscheinlich gebräuchlicher, als es den Gesetzen (z. B. Israel 5. Mose 22 18; Rom XII-Tafelgesetz 8 10 und 14) zu entnehmen ist (vgl. dazu L. Burckhardt, 2007, S.  50 f.). 740  Reiche Nachweise bei J. Kohler (1919), 130 ff. Genannt seien hier China (vgl. W. Vogel, 1923, S. 85 ff.; H. von Senger, 1991, S. 382 f.), Israel (1. Mose 9 6), Griechenland (Homer, Il. XXIII 85 ff.; Od. XIII 256; XV 272 ff.; XXIV 432 ff.; Aischylos, Choëphoren v. 272 ff., 322 ff.); Rom (vgl. A. Löffler, 1895, S. 59 ff.). Nicht mehr zu finden ist dagegen die Blutrache in Indien (H. F. Hulsewé, 1955, p. 71). 741  Siehe etwa für Rom XII-Tafelgesetz 8 2; zur Entwicklung: P. Wilutzky (1903c), S. 87 ff. m. Nachw. 742  In Griechenland durfte der Kläger bei der Hinrichtung eines Mörders anwe­ send sein und „zusehen“, vgl. Demosthenes, XXIII (gg. die Aristokraten) 69. Zu ihm siehe E. Wolf (1956), S. 325 ff. Vgl. ferner unten i. 743  In Ägypten beispielsweise Männerarbeit an Pyramiden oder Tempeln, in Indien Männerarbeit in den Bergwerken, Frauenarbeit in den Spinnhäusern. 744  Vgl. oben Fn. 739. 745  Geldstrafen wurden aufgrund der Ausbildung einer Geldwirtschaft gebräuch­ lich. Sie wurden sowohl als Bußen etwa für Säumnis als auch als Strafen für leichtere Delikte verhängt. Ihr Vorteil bestand in der leichteren Handhabbarkeit gegenüber an­ deren Strafarten. Vgl. dazu L. Burckhardt (2007), S. 52 f. 746  So u. a. in Mesopotamien, Ägypten und China gegen zahlungsunfähige Delin­ quenten und Schuldner.

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Demütigungen ausgesetzt.747 Bemerkenswert ist, dass manchmal der Staat zu Entschädigungsleistungen verpflichtet war, falls er den schuldigen Täter nicht ergriff.748 Aus der Zahl der einzelnen Delikte sind Hexerei und Zauberei, Mord, Frauenraub, falsche Anschuldigung, Verleumdung, Ungehorsam gegen Hö­ herstehende sowie als Eigentumsdelikte Diebstahl, Raub und Hehlerei749 hervorzuheben. Zur Erweiterung ihrer Zahl war in den meisten Staaten die Analogie erlaubt, wenn nicht gar erwünscht. So forderte beispielsweise der Konfuzianer Hsün-tsu (313–238 v. u. Z.) für China, das seinerzeit die Analo­ gie nicht zuließ: „Wenn ein Strafgesetz vorhanden ist, muss man nach dem Gesetz verurteilen; wenn aber kein Strafgesetz vorhanden ist, muss man nach ähnlichen Bestimmungen ein Urteil fällen.“750 i) Rechtsverwirklichung (Prozess- und Vollstreckungsrecht) Es ist konsequent, dass dort, wo die Rechtsordnung hauptsächlich von ih­ rer Pflichtenseite her begriffen wurde, der Staat die Führung von Prozessen um das subjektive ‚Recht‘ systematisch unterband (Beispiel: China). Gewährt und ausgebildet wurde ein subjektives Prozessführungsrecht (‚Aktivlegitima­ tion‘) dagegen dort, wo die Rechtsordnung hauptsächlich Ansprüche und hierfür Klagerechte gewährte (Beispiel: Rom). (α) Verfahrensarten. Sich gegen den Bruch eines subjektiven Rechts, ins­ besondere durch die Begehung einer Straftat, zu wehren, war ursprünglich in erster Linie Sache desjenigen, dessen Rechtsgüter betroffen waren. Der Staat griff nicht ein, ja er sah etwa in der Beraubung eines Schwächeren noch nicht einmal ein verbotenes Tun. Erst wenn der Einzelne nicht imstande war sich zu verteidigen oder wenn er umgekehrt die Grenzen der Selbsthilfe er­ heblich überschritt, wurde der Fall zur Angelegenheit des Staates – deren er sich jedoch zunächst nur mit großer Zurückhaltung annahm. In erster Linie vertraute er darauf, dass den Angegriffenen seine Angehörigen unterstützen würden751 und dass, wenn ihre Unterstützung sich als zu schwach erweisen 747  Etwa Verlust des sozialen Status (in Ägypten sowohl im Leben als auch nach dem Tod). 748  So etwa in Mesopotamien gemäß CH §§ 22 ff. 749  Dass der Hehler so schlimm ist wie der Stehler, war schon dem chinesischen Recht der West-Zhōu-Zeit geläufig. „König Wen erließ ein Puqu-Gesetz, in dem es heißt: ‚Wer Diebesbeute versteckt, ist genauso schuldig wie der Dieb selbst‘ “, heißt es im Zhōu-zhuan (J. Legge, 1983c, p. 611, 616 linke Spalte). 750  Zitiert nach P.-T. Lin (1976), S. 37. 751  Dies galt sowohl für die Abwehr als auch für die Verfolgung von Delikten. Die moralische Verpflichtung traf ursprünglich in erster Linie die Verwandten, mit denen der Angegriffene bzw. Verletzte in einem Hause wohnte (das Blutrecht Dra-



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oder der Streit aufgrund der Beteiligung von Angehörigen beider Seiten au­ ßer Kontrolle geraten sollte, weitere unbeteiligte Personen, etwa die Nach­ barn, sich schiedlich, d. h. begütigend oder zurechtweisend, einmischen und auf Ausgleich drängen würden. Allerdings wurde alsbald klar, dass das Ziel solcher Einmischungen unbeteiligter Dritter primär nicht dahinging, dem Recht zum Siege zu verhelfen, sondern den sozialen Unfrieden zu beseitigen. Deshalb lag höchstwahrscheinlich hierin eine der Keimzellen zur Installation von geordneten Gerichtsverfahren. Die Entwicklung verlief schrittweise. In einem ersten Schritt wandelte der Staat die (weltweit verbreitete)752 solidarische Unterstützung bei der Selbst­ hilfe gegen einen Rechtsbrecher in eine Genossenschaft bei der Klage gegen ihn um. In einem zweiten Schritt konnte er es wagen, die Befugnis zur Pro­ zessführung gegen einen Verbrecher jedem Bürger zu gewähren und gleich­ zeitig dem Solidaritätsgefühl der Genossen das Gerechtigkeitsgefühl der Staatsbürger überzuordnen, sodass das Maß einer Bestrafung nicht mehr vom Zorn des Verletzten und der Solidarität seiner Helfer bestimmt wurde, son­ dern vom Gerechtigkeitsgefühl der Allgemeinheit. Allein die Ahndung schwerster Delikte blieb fortan der Sippe vorbehalten; denn besonders dort, wo die Tradition der Blutrache noch lebendig war, hätte kaum eine staatliche Gesetzgebung daran etwas ändern können.753 Dem Mörder blieb hier nur die Wahl, entweder ins Ausland zu fliehen754 oder die Sippe durch Zahlung eines Wergeldes auszusöhnen.755 Bei gegen den Staat selbst gerichteten Delikten wie Hochverrat, Militär- und Finanzvergehen, darüber hinaus bei Religions­ frevel und Tempelraub schaltete dieser sich dagegen als Strafverfolgungsbe­ hörde ein. Ein konkretes Beispiel für den Übergang der Strafgewalt auf den Staat liefert die Verfolgung des Diebstahls. Ursprünglich wurde er privat geahndet: Man durfte den nachts ertappten Dieb töten,756 den entkommenen Dieb verfolgen und (nachdem man sich zum Beweis der Waffenlosigkeit bis auf das Untergewand ausgekleidet kons zählt sie eigens auf; vgl. K. Latte, 1931/1968, S. 265). Als sich die enge häusli­ che Bindung der Verwandtschaft lockerte, trat die Bedeutung der Nachbarn, in krie­ gerischen Zeit der Kameraden im Felde (dazu etwa Homer, Od. VIII 581 ff.), stärker hervor. 752  F. Bernhöft (1878), S. 315: „Da selbst Tiere auf den Schrei anderer herzueilen, so kommt der Gewohnheit, sich gegenseitig zu unterstützen, den Menschen nicht einmal als ausschließlicher Vorzug zu, und jedenfalls ist kein Volk so roh, dass es sie nicht kennen sollte.“ 753  Vgl. dazu etwa Homer, Il. II 665 f.; IX 631 ff. 754  Homer, Il. XIII 695 ff.; XV 431 f. 755  Homer, Il. IX 634. 756  Israel: 2. Mose 22 1; Griechenland: Demosthenes XXIV 113; Rom: XII-Tafel­ gesetz 8 12; Germanien: W. E. Wilda (1842/1960), S. 889 ff.

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hatte) sein Haus durchsuchen, wenn dorthin die Spur führte.757 Später nahm der Staat (zwar nicht die Verfolgung, wohl aber) die Aburteilung der Tat in die Hand: Der be­ hauptete Diebstahl musste vor Gericht gebracht und entweder durch Augenschein (etwa Vorführen des bei der Tat ertappten und gefesselten Diebes) oder durch Zeugen, die bei der Spurensuche dabei waren, nachgewiesen werden.

Das schiedsrichterliche Verfahren war überall das ältere.758 Viele alte Quellen berichten, dass die Haupttätigkeit der Herrscher und ihrer Beamten darin bestand, bei Streitigkeiten zu vermitteln.759 Von ihrem Ansehen bzw. ihrer Macht hing es dann ab, inwieweit ihr Schiedsspruch Geltung beanspru­ chen konnte und den Rechtsfrieden wiederkehren ließ. Das Bestreben beider Parteien ging daher dahin, ihre Streitigkeit einem möglichst Hochstehenden, am liebsten dem Herrscher selbst, vorzutragen. Das streitige Verfahren entwickelte sich später.760 Es war von vornherein formstrenger. Man übernahm (außer in Rom) die feierlichen religiösen For­ men, um das Ergebnis der richterlichen Wahrheitsfindung möglichst eng an den Willen der um die Wahrheit wissenden Götter anzubinden. Obwohl (au­ ßer für Rom) Belege fehlen, dürften in allen Völkern Normen über die La­ dung zum Erscheinen761 und über die Folgen eines hiergegen geleisteten Widerstandes762 gegolten haben. Die anschließende Vorbereitung des Prozes­ ses durch die Richter ergab sich zumeist aus der Natur der Sache und be­ durfte deshalb keiner Normierung. Der Ablauf des Verfahrens jedoch war in groben Zügen normiert: Die Parteien leiteten ihn entweder durch einander widersprechende Rechtsbehauptungen oder sogleich durch eine bildkräftige Darstellung und der beanspruchten Rechtsfolge ein, beispielsweise indem der Kläger dem Beklagten Gewalt androhend entgegentrat oder einen symboli­ 757  Griechenland: Platon, Gesetze XII 954a; Rom: Gaius, Inst. III 192; Germanien: W. E. Wilda (1842/1960), S. 902 ff. 758  Zur Entwicklung des schiedsrichterlichen aus dem noch älteren schiedlichen Verfahren vgl. oben F 3 η. 759  Vgl. etwa Hesiod, Th 89 f.; G. J. Caesar, Bellum Gallicum VI 23. 760  Dass es aus dem Schiedsverfahren nicht hervorgegangen ist, sondern das Schiedsverfahren zurückgedrängt hat, betont mit Recht W. Seagle (1967), S. 89 f. Zu Einzelheiten seiner Entwicklung vgl. unten H 2 c bb β ββ. 761  Rom: XII-Tafelgesetz 1 1–4; Gaius, Inst. IV46; öffentliche Ladung in Strafver­ fahren Dig. 48, 17, 1, 2, 5. Für Mesopotamien vgl. ARN 163. Für Griechenland vgl. M. H. E. Meier/G. F. Schömann (1883/87, S. 769  ff.) sowie J. H. Lepsius (1908, S. 317 ff.) zum attischen Recht, während Gortyn col. II 37 lediglich erwähnt, dass der ertappte und gefesselte Ehebrecher vom Ehemann gewaltsam vor Gericht gebracht werden könne. Für Indien (Dekkan) vgl. J. Kohler (1889b), S. 141. Für Israel ist in Privatklageverfahren Vorführung durch den Kläger anzunehmen (5. Mose 21 18 ff.; siehe aber auch 25 8; 1. Samuel 22 11). 762  In ius vocatio und manus iniectio (XII-Tafeln 3 2) im altrömischen Recht. Für Mesopotamien vgl. R. Haase (1965) S. 125; für Indien vgl. N. C. Sen-Gupta (1962), p. 81; für das altgermanische Recht vgl. E. Schmidt (1965), § 29.



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schen Gewaltakt vornahm und man sodann darum stritt, ob dies zu Recht geschah.763 Rechtsbehauptungen mussten überall durch Tatsachenbehaup­ tungen unterlegt werden, wobei das Gericht sich in unterschiedlicher Weise an der Aufklärung beteiligen konnte. Stets galt der Grundsatz audiatur et altera pars;764 das Gericht entschied lediglich über den Sieger im Disput.765 Betrieben Staaten das Verfahren selber, legten sie sich ein gewisses (freilich sehr unterschiedliches) Maß an Selbstkontrolle auf. Beispielsweise ging man in China bereits während der Q’ín-Zeit bei der Verurteilung von Straftätern erstaunlich sorgfäl­ tig vor:766 Der Denunzierte oder durch Beamte Angeschuldigte wurde in Haft ge­ nommen und im Gefängnis verhört. Seine Äußerungen wurden niedergeschrieben, die Niederschrift ihm anschließend vorgelesen. Beweismittel gegen ihn waren neben ei­ nem Geständnis Augenschein, Zeugenaussagen und Sachbeweise. Sie wurden gesam­ melt und im Prozess dem leitenden Richter präsentiert. Die Strafe durfte nur secundum legem verhängt werden, nämlich gemäß einer für die Tat passenden Norm, die einem Kodex enthalten war.

(β) Die Vollstreckung richterlicher Entscheidungen oblag fast immer der obsiegenden Partei, die jedoch notfalls staatliche Hilfe in Anspruch nehmen konnte. Regelungen finden sich in den antiken Gesetzen so gut wie nicht. Daraus lässt sich schließen, dass erstrittene Urteile lediglich den Umfang des geltend gemachten Anspruchs, nicht aber seine Vollstreckung sichern sollten. Hielt sich der obsiegende Kläger in diesem Rahmen, war ihm offenbar jedes der geltenden Sitte entsprechende Mittel erlaubt, um seinen Anspruch durch­ setzen.767 In Israel hatte allerdings der Richter die Vollstreckung der Prügel­ strafe zu überwachen.768 763  So offenbar im Eigentumsstreit des altrömischen Rechts, vgl. Gaius, Inst. IV 16 f. Dazu F. Wieacker (1988), S. 243: „In diesem Verhältnis spiegelt sich eine gene­ tische Abfolge von vorstaatlicher und staatlicher Jurisdiktion.“ Noch bis ins 19. Jh. u. Z. hinein wurde derart in Togo im Eigentumsstreit um ein Grundstück gestritten: Es wurde eine auf dem Grundstück wachsende Palme gefällt und sodann darum gestrit­ ten, ob der Akt rechtmäßig war. 764  D. h., dass der Beklagte sich zur Klage entweder äußern durfte oder musste. 765  Vgl. für Indien etwa Vasiṣṭha XVI 3; für China J. Legge (1960b), p. 609 f. 766  A. F. P. Hulsewé (1985), p. 6: „One is struck by the care bestowed on the in­ vestigation of criminal suits.“ 767  In Rom bestimmte das XII-Tafelgesetz 3 1–6 allerdings zugunsten des Haf­ tungsschuldners, dass die manus iniectio erst 30 Tage nach dem Urteil zulässig ist. Sie musste vor dem Magistrat feierlich als Recht reklamiert werden: „Quod tu mihi iudicatus es sestertium x milia, quando non solvisti, ob eam rem ego tibi sestertium x milium iudicati manum inicio.“ Daraufhin wurde der Schuldner dem Gläubiger zuge­ sprochen. Dieser konnte ihn bis zu 60 Tage mit einer höchstens 15-pfündigen Kette fesseln und so in Gewahrsam halten, musste ihn aber mit mindestens 1 Pfund Brot pro Tag ernähren und mindestens dreimal am Markt zur Auslösung feilbieten. An­ schließend konnte er ihn entweder trans Tiberim verkaufen oder töten. Siehe auch oben bei Fn. 683. 768  5. Mose 25 2.

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(γ) Der Gerichtsaufbau glich meistens dem der protostaatlichen Verwal­ tung (die vielerorts ja auch richterliche Funktionen wahrnahm)769: Es gab ein zentrales, mehrere provinziale und viele lokale Gerichte. Höchste Instanz war in den Monarchien der Herrscher, der meistens als Beauftragter der Göt­ ter tätig wurde. Inwieweit er von seinem Jurisdiktionsrecht Gebrauch machte, blieb ihm allerdings i. d. R. überlassen und schwankte daher im Laufe der Zeit. Lediglich soweit ihm einige Rechte die Verhängung der Todesstrafe vorbehielten,770 musste er tätig werden. Die Provinzgerichte urteilten in sei­ nem Auftrag und unterstanden seiner Aufsicht, während die lokalen Gerichte offenbar eine weitgehend eigenständige Jurisdiktionsbefugnis ausübten. Ne­ ben den Profangerichten urteilten auch Tempelgerichte. Soweit ihre Zustän­ digkeit reichte, hatten die Parteien offenbar die Wahl zwischen den Gerichts­ barkeiten. Mancherorts gab es ferner eine Standesgerichtsbarkeit.771 Besetzt waren die Profangerichte unterschiedlich: Tagten sie vor dem Stadttor unter freiem Himmel, waren sie zumeist mit den Stadtältesten oder angesehen Bürgern besetzt, und die Bevölkerung hatte Gelegenheit, dem Verfahren beizuwohnen (so in Mesopotamien,772 Israel,773 Griechenland774 und Germanien775). Aber auch sonst waren die lokalen Gerichte oft mit ei­ ner großen Zahl angesehener Personen als Laien besetzt776 und nur die 769  So z. B. in Ägypten „die Dreißig“ (mcb y.t), in Indien die Präfekten (A. F. Hulӡ sewé, 1955, p. 81 ff.). 770  So etwa in Mesopotamien LE § 48 (vgl. auch CH § 129). In Israel gab es of­ fenbar ein Obergericht in Jerusalem, das mit levitischen Priestern besetzt und für Bluttaten zuständig war (5. Mose 17 8 f.). Der Bericht von K. Rosa („Todesstrafen: Ihre Wirklichkeit in drei Jahrtausenden“, Oldenburg/Hamburg 1966) gibt entgegen seinem Untertitel nur über die Todesstrafe seit dem Mittelalter Auskunft und behan­ delt vor allem ihre Vollstreckung in der Neuzeit. 771  Bekannt geworden insbesondere für Indien, vgl. Gautama XI 21: „Farmers, merchants, herdsmen, moneylenders, and artisans exercise authority over their respec­ tive groups.“ 772  Vgl. C. Wilcke (2003), p. 153; B. Lafont/R. Westbrook (2003), p. 194. 773  Vgl. z. B. 5. Mose 16 18 ff.; 22 15; 25 7; Ruth 4 2; 1. Könige 21 8 ff. Bemer­ kenswert ist die intensive Mahnung in 5. Mose 16 19 f. an die Richter, das Recht nicht zu beugen und ohne Ansehen der Person zu urteilen – dies wohl deshalb, weil die Position der Richter allein auf ihrer persönlichen Autorität beruhte und weder ökonomisch noch politisch abgesichert war. Ob und wie Verstöße gegen die Mahnung sanktioniert wurden, ist nicht bekannt. Da die Gesetzesnormen in Israel göttlichen Ursprungs waren, überließ man möglicherweise Jahwe die Ahndung. 774  Vgl. Homer, Il. XVIII 497 ff. 775  J. Grimm (1899/1956), S. 352, 411 ff. 776  Mesopotamien: „Versammlung“ (puhrum); Ägypten: d3d3.t (djadjat) offenbar mit sowohl administrativen als auch richterlichen Aufgaben betraute Personen; Indien: J. D. M. Derrett (1956), p. 224; China: vgl. E. J. M. Kroker (1965), S. 31 (al­ lerdings bemerkt T. Ch’ien, 1950, p. 253, dass der Richterstand sich nicht der Wert­



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provinzialen und die königlichen mit mehr oder weniger gelehrten (aber nicht im modernen Sinne ausgebildeten) Richtern.777 Aufgrund ihrer hohen kulturellen Bildung fungierten vielfach auch Priester als Richter. In den Tem­ pelgerichten besaßen sie entweder das ausschließliche Recht zur Entschei­ dung oder doch ein starkes Mitspracherecht. Ihre Mitwirkung war ferner bei der Ableistung von Eiden und bei der Einholung eines Gottesurteils unab­ dingbar; zu diesem Zweck ging man sogar eigens in ihren Tempel. Das höchste Gericht tagte am Hofe des Königs, wo dieser, sofern er die Leitung und Entscheidung des Verfahrens nicht selbst übernahm, einen Minister oder hohen Beamten mit der Rechtsprechung betraut hatte.778 Es ist selbstverständlich, dass vor der Verbreitung der Schrift das gericht­ liche Verfahren ausschließlich mündlich war. Danach erhielten sowohl die gerichtlichen Akten als auch die Urkunden, die den Gerichten zum Beweis von tatsächlichen oder rechtlichen Vorgängen vorgelegt wurden, eine feste, unabänderliche (und infolgedessen mit magischer Bedeutung behaftete) Form.779 j) Beweisrecht Ein Beweisverfahren als eigenen Verfahrensabschnitt gab es ursprünglich nicht. Das als Gericht tätige Gremium achtete lediglich darauf, dass die Par­ teien ihren Streit fair austrugen. Wo allerdings die sozialen Verhältnisse ano­ schätzung erfreut habe, die den Richtern im Abendland zuteil wird); Griechenland: Geschworenengericht (in Zivilsachen 201 bis 401, in Strafsachen bis zu 1501 Bürger: der δῆμος von Athen); Rom: M. Kaser/K. Hackl (1996), § 6 II; Th. Mommsen (1899), S.  209 ff. 777  Mesopotamien: Provinzgouverneure und/oder Richter; Ägypten: ḥwt-wrt-6 („sechs große Häuser“), eine offenbar mit richterlichen Aufgaben betraute Institution mit sechs Kammern, deren Existenz sich allerdings nur aus den Titeln der dort mitwir­ kenden Beamten erschließen lässt; Israel: 5. Mose 17 9 u. ö.; Indien: Āpastamba II 29, 5; China: „der große Wächter über die Räuberbanden“ (dà sī koù), ihm nachgeordnet „der kleine Wächter“ (xiao sī koù); Rom: zur Zivilgerichtsbarkeit vgl. M. Kaser/K. Hackl (1996), §§ 24 III, 82 I; 67, 69; zur Strafgerichtsbarkeit vgl. Th Mommsen (1899), S.  187 ff.; Griechenland kannte lediglich eine Volksgerichtsbarkeit. 778  Israel: Jeremias 22 15 f.; 1. Könige 3 9; 7 7; 2. Könige 8 3 ff.; 15 5; 1. Samuel 8 5; 2. Samuel 8 15; 15 2 ff. u. ö. Für Indien ordnete das Rechtsbuch des Manu außer­ dem die Feierlichkeit des Verfahrens an (V. 1 und 2): „Wenn der König die Rechts­ händel untersuchen will, begebe er sich in Begleitung von Brāhmanen und erfahrenen Räten in würdiger Haltung in die Gerichtsverhandlung. Dort soll er sitzend oder ste­ hend, die rechte Hand [als Zeichen der Ehrerbietung] ausstreckend, bescheiden in Anzug und Schmuck, die Anliegen der Kläger prüfen.“ 779  Vgl. für Ägypten E. Dombradi (1996); für Mesopotamien D. O. Edzard (1968); für Griechenland Aristoteles, Rhetorik I 15: 1375a; für Rom Th. Mommsen (1899), S.  432 f.

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nymer wurden, erkannte man die Notwendigkeit, förmliche Grundregeln für die Wahrheitssuche aufzustellen. Da falsche Bekundungen der Parteien und Zeugen sowie die Bestechung von Richtern zu den wichtigsten Gefahren für die verfahrensmäßige Rechtsfindung zählten, gewahren wir zum einen über­ all Ermahnungen an die Richter zur umfassenden Beweisaufnahme und un­ parteiischen Urteilsbildung,780 zum anderen vielerorts den Trend, die Götter in die Wahrheitsfindung einzubeziehen und sie als Richter im Streit über Wahrheit oder Unwahrheit von Tatsachenbehauptungen anzurufen. Wog ein Anklagevorwurf besonders schwer, veranstaltete man ein förmliches Gottes­ gericht (‚Ordal‘), dessen Ausgang den Prozess unwiderruflich entschied.781 In anderen Fällen ließ man sowohl die Parteien782 als auch die Zeugen einen 780  In Ägypten etwa in der Lehre der Amenemope (20,20–21,8); in Isreal etwa in den Sprüchen Salomos (17, 23) und in 2. Mose 23 8. In Rom drohte dem bestechli­ chen Richter sogar die Todesstrafe (XII-Tafelgesetz 9 3). 781  Über seine Bedeutung und einzelne Formen vgl. bereits oben F 3 θ. In Indien war das Ordal Beweismittel bei schwereren Delikten, der Eid bei leichteren (vgl. Nārada I 249; Yājñavalkya II 102–123). Zu Israel vgl. 2. Mose 22 8; 5. Mose 17 8 ff. Nicht angewandt wurde das Ordalverfahren offenbar in China, Griechenland (s. aber R. Hirzel, 1902, S. 204) und Rom. Belegt sind für Mesopotamien das Wasserordal (vgl. LU §§ 13 f. und CH §§ 2, 132); für Indien sieben Arten des Ordals: Wage-, Feuer-, Wasser-, Gift- und Trankopferordal, ferner Reis- und Goldstückordal (vgl. u. a. Nārada, I 247 ff., 252; 337 ff., 343 ff. und Bṛhaspati, X 4). Für Griechenland findet sich eine Andeutung für den Zweikampf als Gottesgericht in Homer, Il. XXIII 553 f. Für Ägypten vgl. dagegen R. Jasnow (2003), p. 110: „There is no evidence for recourse of oracles in the Old Kingdom proper; divine judgments are a phenomenon most popular in the New Kingdom and Third Intermediate period.“ Zu den Germanen vgl. H. Mitteis/H. Lieberich (1992), § 10 II (S. 47 f.). 782  Der Parteieid spielte als Reinigungseid unter Anrufung eines Gottes oder des Königs insbesondere in Strafverfahren eine bedeutsame Rolle. Vgl. für Mesopotamien CH §§ 20, 103, 249; für Israel 2. Mose 22 7. 10; für Rom einschränkend Th. Mommsen (1899/1961), S. 436 f.; für Germanien H. Brunner/C. von Schwerin (1928/1958), S.  505 f.; R. Schröder/E. Frh. von Künßberg (1932), S. 395 f. Ursprünglich schwor den Eid wahrscheinlich die gesamte Sippe des Verklagten, da nicht er allein, sondern seine Sippe für die Freveltat in Anspruch genommen wurde. In Griechenland (R. J. Bonner/X. Smith, 1938, p. 175 ff.) und Germanien (E. Schmidt, 1965, § 29; R. Schröder/E. von Künßberg, 1932, S. 395 f.) waren zur Verstärkung des Eids Helfer (compurgatores) zugelassen, welche schworen, dass der Eid des Beschuldigten rein sei (ergänzende Nachweise bei A. H. Post, 1895, S. 495 ff.). In Indien legte der Schwörende die Hand auf den Kopf seiner Frau oder seiner Kinder; geschah ihnen innerhalb von sechs Monaten kein Unheil, war der Schwur als wahr erwiesen (Manu VIII 114 f.). In Griechenland glaubte man daran, dass der Meineid nicht nur an dem­ jenigen, der ihn schwor, gestraft wird, sondern dass auch „dessen Geschlecht für alle Zeiten ins Dunkel versinkt“ (Hesiod, WuT 283). In Rom kannte man ebenfalls Verflu­ chungsformeln bei der Eidesleistung („Wenn meine Behauptung unwahr ist, soll ich der Rache der Schwurgottheit verfallen sein.“), die sich u. U. auf das ganze Geschlecht des Schwörenden bezogen. Zu entsprechenden Rechtsvorstellungen der germanischen Völker vgl. J. Grimm (1899), S. 50, 859 ff. Reste dieser Vorstellungen sind noch heute



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Eid unter Anrufung eines Gottes schwören783 und verließ sich darauf, dass jeder Meineid unweigerlich die Strafe des Himmels nach sich ziehen wer­ de.784 Stand am Ende allerdings, wie es manchmal geschah, Eid gegen Eid, war es Aufgabe des Gerichts, die Eide gegeneinander abzuwägen. Es konnte sie dann in für und in gegen eine Behauptung geleistete einteilen und fest­ stellen, welche Eide ‚überzeugten‘.785 Es konnte aber auch die Glaubwürdig­ keit der Zeugen und die Glaubhaftigkeit ihrer unter Eid gemachten Aussagen gegeneinander abwägen.786 Die Entwicklung führte per saldo von der zah­ lenmäßigen Quantität zur Qualität, indem die Qualität teils durch Normen festgelegt,787 teils dem pflichtgemäßen Ermessen der Richter (ihrer Beweis­ mittel- und Beweisaussagenwürdigung) überlassen wurde.788 Eine Verteilung der Beweislast wie im modernen Gerichtsverfahren war dagegen unbekannt.

erhalten, wenn etwa ein Angeklagter sich anheischig macht, „beim Leben meiner Mutter“ seine Unschuld zu beschwören. 783  Dazu R. Hirzel (1902), S. 177  f.: „Niemals hätte [der assertorische Eid] zu rechtlicher Geltung gelangen können, wenn er nicht in seinen Anfängen wenigstens verbunden gewesen wäre mit einer unmittelbaren und in Jedermanns Sinnen fallen­ den Äußerung der Gottheit, und er büßte deshalb in dem Maße an seiner Geltung ein, als der Glaube schwand, dass man durch herzhaftes Beten und eindringliche Worte in streitigen Fällen ein augenblickliches Urteil Gottes erwirken könne.“ Exemplarisch daher die Entwicklung von 2. Mose 20 16 und 23 1 sowie 5. Mose 5 20 zu Matthäus 5 33 ff. 784  Deshalb konnte der Eid auch promissorisch geleistet werde – was selbst heute bei feierlichen Anlässen noch üblich ist. Welche Strafe der Himmel verhängen werde, wird in den alten Rechtsbüchern oft recht drastisch geschildert. So heißt es im Ge­ setzbuch des Manu (VIII 75): „Ein Zeuge, der in der Versammlung ehrenwerter Män­ ner [d. h. vor Gericht] fälschlich etwa anderes angibt, als er gesehen oder gehört hat, stürzt nach seinem Tode kopfüber in die Hölle hinab und geht des Paradieses verlus­ tig.“ 785  Manche Urteile verlangten eine Mindestanzahl von Zeugen, so insbesondere das Todesurteil (5. Mose 19 6 f.), das außerdem vielerorts der obersten Gerichts­ instanz vorbehalten war. 786  Zu Griechenland (Gortyn, col. I 14 ff.) vgl. G. Thür (1996), p. 70. Das attische Recht überließ es den Parteien, ob sie selbst einen Eid leisten oder (auch) die Gegen­ partei zum Eid auffordern wollten. Schworen beide Parteien, oblag es einem Gre­ mium von 51 Bürgern (Epheten) darüber zu befinden, wessen Eid der bessere sei (Antiphon, orat. VI 16). 787  So beispielsweise in Mesopotamien, wo dem Eid eines muškim besondere Bedeutung zukam (vgl. R. Haase, 1965, S. 122 f.), und in Indien, wo ebenfalls die Aussagen von Personen aus den höheren Kasten stärker gewichtet wurden als die von Personen aus den niederen Kasten (vgl. N. C. Sen-Gupta, 1953, p. 66 ff.). 788  Es kündigte sich also ein rationaleres Verfahren zur Urteilsfindung an, das die Richter zu kritischen Erwägungen über die ihnen vorgelegten Beweise und zur ratio­ nalen Argumentation hinsichtlich der von ihnen daraus abzuleitenden Beweisergeb­ nisse anhielt.

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Manche Gesetze stellten stattdessen Vermutungen auf, die den Beweis erüb­ rigten, so etwa für Diebstahl789 und Notzucht790. Der Grundsatz in dubio pro reo galt zwar nirgends als Rechtssatz, doch wurden die Richter oft ermahnt, schwere Strafen nur auszusprechen, wenn sie der Schuld des Angeklagten sicher waren, etwa weil dieser sie eingestand. In einer Sammlung von mythologisch-geschichtlichen Dokumenten aus dem China der Zhōu-Zeit heißt es ausdrücklich: „Bestrafe lieber eine Straftat nicht oder zu milde, als einen Unschuldigen zu töten.“791 k) Kriegseröffnungs-, Beute- und Friedensvertragsrecht Kriege durften im Altertum nur mit göttlicher Zustimmung geführt wer­ den. Dazu bedurfte es eines triftigen Grundes, der meistens aber leicht zu finden war. So konnte z. B. ein Frauenraub der Auslöser für einen Krieg sein (etwa der Raub der Helena für den Trojanischen Krieg), aber auch die unge­ rechtfertigte Tötung eines Staatsbürgers oder das Abtreiben einer Rinderherde vom Grunde des einen in den eines anderen Staates. Allerdings musste man zuvor den Versuch gemacht haben, sich auf friedlichem Wege mit dem Geg­ ner auseinanderzusetzen.792 Und nur, wenn der Versuch gescheitert war, durfte man der anderen Seite förmlich den Krieg erklären. Der Sieg im Krieg galt dann als Gabe der Götter. Er ermächtigte die Sie­ ger, das Errungene als göttlichen Lohn für ihre Tapferkeit unter sich aufzu­ teilen.793 Personen fielen ebenso unter die Beute wie leicht zu transportie­ rende Gegenstände aus Edelmetallen und Edelsteinen. Nach erfolgreichen Belagerungen war es außerdem üblich, die gesamte Stadt den Soldaten zur Plünderung freizugeben.794 Und für die Römer war das Kriegsrecht auch rechtfertigend, um dem besiegten Feind Grund und Boden sowie seine Kunstwerke wegzunehmen.795

CE 40; Rom: vgl. XII-Tafeln 8 14. LE § 26, CH 130; Israel: 5. Mose 22 23 ff. 791  J. Legge (1960b), p. 58. Zur Erlangung eines Schuldgeständnisses war die Folter (z. B. Bastonade) ein weit verbreitetes, nichtsdestoweniger fragwürdiges Mittel. 792  5. Mose 20 10; T. Livius I 24, 7: „si prior defexit“, I 32. 793  Homer Il. IX 138: Als die Achäer nach der von den Göttern freigegebenen Eroberung Trojas die Kriegsbeute unter sich aufteilten, war der Sieg gleichzeitig die göttliche Rechtfertigung. 794  Oft waren die Plünderungen das zentrale Motiv für einen Krieg (Homer Il. I 154, 366 ff., II 226 ff., IX 135 ff., 328 ff., XI 670 ff.; Od. IX 40 ff., XIV 229 ff.; Herodot, VI 132; Gaius II 69; Polybius X 16 f.). 795  T. Livius, III 71; Gaius IV 16. 789  Mesopotamien: 790  Mesopotamien:



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Das Beuterecht war gleichzeitig auch Grund für Privatleute, sich als Söldner an Kriegszügen zu beteiligen. Auf dem Mittelmeer operierten sie daneben aber auch selbstständig als Piraten, wobei das, was ihnen in die Hände fiel, als ihr Eigentum anerkannt wurde, aber ihnen selbstverständlich von den wahren Eigentümern mit Gewalt auch wieder abgenommen werden durfte.

Beendet wurden Kriege entweder mit der vollständigen Vernichtung des Gegners oder mit dem Abschluss eines Friedensvertrags.796 Friedensverträge konnten unter bestimmten Bedingungen auch vor der Beendigung des Kamp­ fes abgeschlossen werden. Ein Beispiel ist der zwischen den Griechen und Troern geschlossene Vertrag, wo­ nach Paris und Menelaos den Krieg im Einzelkampf beendigen sollten. Wer von beiden siegte, dem sollten Helena und ihre Schätze zufallen. Sollte Menelaos siegen, sollten die Troer außerdem eine angemessene Buße zahlen. Im Übrigen aber sollte zwischen Griechen und Troern wieder Freundschaft und ein Eidesbund bestehen.797 Hieraus ersieht man auch, dass Friedensverträge mit höheren oder niederen Solemni­ täten abgeschlossen werden konnten.

5. Leitlinien der protostaatlichen Rechtsgeschichte Blicken wir aus der historischen Perspektive abschließend auf die proto­ staatliche Rechtsentwicklung zurück, so ergeben sich reichhaltige Hinweise auf eine kontinuierliche Entwicklung von überwiegend durch Brauchtum und Sitten geordneten zu überwiegend durch rechtliche Normen gestalteten sozi­ alen und politischen Verhältnissen. Soweit aus der Vorgeschichte ablesbar, wurde diese Entwicklung angetrieben: sozial durch die ständige Vergröße­ rung der menschlichen Gemeinschaften und, damit einhergehend, durch die immer stärkere Anonymität der Beziehungen zwischen ihren Mitgliedern (unten α); politisch durch den Aufbau einer von den intimen Verwandt­ schaftsbeziehungen immer unabhängiger werdenden normativen Organisa­ tion der Gemeinschaftsbeziehungen (unten β); kulturell durch die Erfindung einer Schrift, deren Gebrauch das abstrahierende Denken schulte und es er­ laubte, die normative Organisation immer abstrakter zu gestalten (unten γ); und rechtlich durch eine immer größere Vielfalt und Strenge der hoheitlichen Normen sowie durch die Entwicklung von übergeordneten Kriterien für de­ ren Zusammenfassung in abstrakten Gesetzen (unten δ). (α) Die Entwicklung der sozialen Beziehungen. Die ständige Vergrößerung der menschlichen Gemeinschaften und ihre Verbreitung fast über den gesam­ ten Erdball sind zwei so offensichtliche Fakten, dass sie keines Nachweises 796  Als erster dokumentierter Friedensvertrag gilt der zwischen den Ägyptern und den Hethitern 1259 v. Chr. in zwei Versionen abgeschlossene, der es beiden Seiten ermöglichte, als Sieger dazustehen. 797  Homer, Il. III 93 f.

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bedürfen. Sucht man nach den Ursachen, die innerhalb der protostaatlichen Gesellschaften wirksam waren, so lassen sich für die Vergrößerung neben der hohen menschlichen Fertilität die Verbesserungen in den hygienischen Verhältnissen und in der medizinischen Versorgung nennen798 und für die Verbreitung über den Erdball die menschlichen Fähigkeiten zur immer intel­ ligenteren und schnelleren Anpassung an veränderte Umweltverhältnisse und infolgedessen zur Besiedlung von noch kulturell unerschlossenen Teilen der Erde. Die Organisationsprobleme eines vergrößerten sozialen Zusammenlebens löste man, indem man hier die hierarchischen Muster, die dem Aufbau von Kleingruppen zugrunde lagen, soweit wie möglich auf das Zusammenleben auch größerer Gruppen übertrug.799 In der Kleingruppe der Familie war dem Manne aufgrund seiner physischen Stärke die dominante Rolle zugefallen, der Frau und Kinder sich unterzuordnen hatten. Zum Aufbau größerer ver­ wandtschaftlicher Einheiten (Sippen und Clans) konnte man dieses Muster beibehalten, mit dem Unterschied, dass hier nicht mehr allein die körperliche Stärke, sondern auch die Lebenserfahrung und die Sozialkompetenz die Rol­ lenverteilung bestimmen mussten − Eigenschaften also, die erst ein höheres Alter mit sich brachte. Man ergänzte die männliche Führung also durch das Anciennitätsprinzip und übertrug diese Ergänzung dann auch auf größere Systeme mit verwandtschaftlich unverbundenen Mitgliedern: indem auch dort die Rollenverteilung durch Art und Zweck des konkreten Systems be­ stimmt wurde, die Zusammensetzung einer Mannschaft für größere Bauvor­ haben also eine andere war als für militärische Unternehmungen, ferner das vertragliche Zusammenleben von bisher unbekannten Menschen auf engem Raum Personen einschließen musste, die außer einer gewissen Autorität auch ein Gespür für das Knüpfen sozialer Netze mitbrachten. Wichtig wurden Autorität und soziales Gespür vor allem, wenn es galt, Knappheitsprobleme bei der Verteilung beispielsweise von Landflächen an Familien oder von Nahrungsvorräten an arme Gemeinschaftsmitglieder zu lösen. Zwei Verteilungsregeln stießen dann nämlich aufeinander: die Regel der Gleichverteilung an alle und die Regel der Ungleichverteilung gemäß entweder den Bedürfnissen oder den Verdiensten der Mitglieder. Die Gleich­ verteilung war die ältere und infolgedessen die vorrangige Regel. Sie schied indes aus, wenn mangels eines Mindestvorrats an Ressourcen einige Mitglie­ 798  Zu Beginn der Ackerbaukultur gab es allenfalls 5 Millionen Menschen. Am Ende der Achsenzeit können es etwa 200 Millionen gewesen sein. Allerdings gab es Schwankungen, die stärkste in Mexiko, wo die ursprüngliche Bevölkerung von etwa 25 Millionen nach der Ankunft der Spanier durch Krankheiten fast ausgerottet wur­ den. 799  Jeder lebende Organismus besteht nicht nur aus hierarchisch einander zugeord­ neten Organen, sondern ist selber Teil hierarchisch organisierter Systeme.



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der an der Verteilung nicht teilhaben konnten. In den kleinen prästaatlichen Gruppen, den Horden, waren in diesem Fall die schwächsten Mitglieder, die Kinder und Alten, entweder getötet oder aus der Gemeinschaft ausgeschlos­ sen (und dadurch dem natürlichen Tod überlassen) worden; in den größeren prä- und protostaatlichen Gemeinschaften verfuhr man glimpflicher, indem man die Jugend, sobald sie keiner Fürsorge mehr bedurfte, entweder gruppen­ weise in die Fremde ziehen ließ, damit sie sich dort ein eigenes Leben auf­ baute, oder in den Krieg abkommandierte, damit sie die eigene Situation auf fremde Kosten verbesserte.800 War allerdings nicht ein Mangel an Ressourcen der Grund, weshalb es nicht für alle reichte, sondern deren einseitige Anhäu­ fung bei Einzelnen, dann mutierte das Verteilungsproblem nicht selten zum Anfechtungsprozess seitens derer, die benachteiligt waren oder sich so fühl­ ten. Und da es meistens viele solcher ‚unterprivilegierten‘ Personen gab, entstanden im Laufe der Geschichte immer wieder Aufstände, die anschlie­ ßend entweder niedergeschlagen wurden und dann die Besiegten noch tiefer stürzen ließen, oder die – wie etwa in Rom801 – Erfolg hatten und dann u. U. zu einem tiefgreifenden sozialen Wandel führten. Solche Aufstände waren aus Sicht des Gesamtsystems unerwünscht, weil sie dessen Schwächung bedeute­ ten. Deshalb kam man in den meisten Protostaaten dem Überhandnehmen von Unzufriedenheit zuvor, indem man die soziale Fürsorge zu einem Haupt­ anliegen machte. Hilfsmaßnahmen für die Witwen und Waisen etwa waren in den Staaten des Nahen Ostens ein Daueranliegen, ein Schuldenerlass für die Armen ein Thema in Israel und Griechenland. In Vorder- und Südasien sorgte man von Zeit zu Zeit überdies für eine begrenzte Vermögensumverteilung, um die soziale Harmonie niemals vollständig zerbrechen zu lassen und um den Räuberbanden − vor allem in China − den Nachwuchs zu entziehen.802 (β) Die Entwicklung der politischen Herrschaft. Eine Gesellschaft, deren allein verwandtschaftliche oder sozial egalitäre Ordnung wegen ihrer Größe an Grenzen stößt, bedarf zusätzlich einer machtpolitischen − entweder mili­ tärischen, bürokratischen oder, was die Regel ist, sowohl militärischen als auch bürokratischen − Leitung. Ich habe diese Art der Leitung als ‚Herr­ schaft‘ bezeichnet.803 Sie kam einer Person entweder quasi-verwandtschaft­ lich zu, nämlich aufgrund ihrer Beauftragung durch himmlische Ahnen; oder es legitimierten sie Leistungen, die sie nur mit himmlischem Beistand voll­ bracht haben konnte; oder es waren, als der göttliche Beistand zu unbere­ 800  Für Griechenland vgl. schon oben G 3 β. Hier gab es seit 700 v. u. Z. zu viele Menschen im Verhältnis zur Nahrungsbasis. Die Homosexualität wurde deshalb ge­ fördert, der trojanische Krieg angeblich auch aus diesem Grunde angezettelt. Näheres bei H. Thomas (1984), S. 135 ff. 801  Vgl. oben G 3 α. 802  Vgl. oben G 2 α. 803  Genauer zum Begriff ‚Herrschaft‘ oben F 2 d.

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chenbar geworden war, ihre eigenen Leistungen oder ihre fortune, die ihr einen Platz an der Spitze der Gesellschaft verschafften. Damit wurde die Legitimation zur Herrschaft schließlich zum einerseits menschlichen, ande­ rerseits aber auch zum politischen Problem ‒ weshalb das Volk nun bei­ spielsweise nicht mehr den Göttern opferte, um für seinen erfolglosen Herr­ scher deren Hilfe zu erflehen, sondern stattdessen den Herrscher absetzte und sich einen neuen suchte. Politische Herrschaft beruht, auch wenn sie an der Spitze monarchisch ist, auf der Basis eines hierarchisch aufgebauten Systems. Im Altertum bildete daher ein Fürst zwar die (proto-)staatliche Spitze; unterhalb aber führten Statthalter bzw. Deputierte kleinere Herrschaftssysteme in Gestalt von staat­ lichen Provinzen an. Meistens gab es auch noch Dorfschulzen, die als kleine Herrscher – nochmals eine Stufe tiefer – Befehle erteilen konnten. Eine sol­ che Ordnung war, solange sie funktionierte, äußerst effektiv, aber sie hatte einen Nachteil: Sie unterdrückte die Konkurrenz nur solange, bis diese sich so weit verfestigt hatte, dass sie sich zu Höherem berufen fühlte und dies zu beweisen suchte. Hatte sie damit Erfolg, dann stellte sie das Herrschaftssys­ tem auf den Kopf: Die oben Stehenden sanken herab und die unten Stehen­ den stiegen hinauf. Selbstverständlich versuchten die oben Stehenden, das jeweils zu verhindern; sie erließen zur Sicherung ihrer Macht Anordnungen oder Normen, die alles verboten, was ihnen gefährlich zu werden drohte. Und im Normalfall klappte das auch – die verbotenen Veränderungen verlo­ ren an Kraft. Aber manchmal war der politische Druck zu stark. Dann verlo­ ren die Veränderungsverbote an Kraft und neue Anordnungen und Normen sorgten dafür, dass − evt. nach einer kurzen Periode der Anomalie − alles in die geordneten Bahnen eines hierarchischen Herrschaftssystems zurück­ kehrte, angeführt freilich von einer neuen Spitze.804 In Ägypten war, soweit wir in die Geschichte zurückblicken können, die oberste politische Macht den Pharaonen anvertraut − unangefochten, solange sie ihre Macht vom Himmel herleiteten und verwandtschaftlich in gerader Linie vererbten. Für viele kleinere afrikanische Staaten war dies ein Vorbild. Dennoch war der Verfall der Herr­ schaft weder in Ägypten noch anderswo aufzuhalten (und in Ägypten zudem deutlich abzulesen an der sinkenden Qualität des Pyramidenbaus). Während die historisch äl­ teren Pharaonen selber als Götter herrschten, stand den jüngeren die Herrschaftsbe­ fugnis nur noch als irdischen Statthaltern zu, woraus sich gleichzeitig ihre Verantwor­ tung vor den Göttern (insbesondere vor dem Sonnengott Re) ergab. Das einte sie mit den mesopotamischen Herrschern, die als Stadtfürsten zwar zugleich oberste Priester, aber eben nicht Götter waren.805 Vom Himmel waren sie beauftragt, für das Wohl des Volkes und insbesondere das der sozial Schwachen (für die „Witwen und Waisen“) zu auch M. Th. Fögen (2003), S. 25 ff. gab es freilich. Naram-Sîn (2334–2297), Šulgi (Reg. 2094–2047) und einige andere Herrscher in Isin ließen sich als Götter verehren. 804  Vgl.

805  Ausnahmen



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sorgen. Infolgedessen kam hier bereits das Volk als politische Basis zur Geltung. Wieviel politische Kraft ihm allerdings innewohnte, lässt sich heute kaum beurteilen. Spielte sie für die dynastische Festigkeit der Herrschaft schon eine Rolle? Die Lü­ ckenhaftigkeit des Materials erlaubt keine gesicherte Antwort. Doch die ägyptische Entwicklung deutet an, dass die Macht, je mehr sich ihr Ursprung vom Himmel ent­ fernte und auf dem irdischem Boden landete, desto ungesicherter wurde und dort dem gemeinen Volk in die Arme fiel. In Asien war der Ansatz für den Erwerb von politischer Macht und für ihre Siche­ rung von vornherein ein anderer. Chinesen und Inder kannten zwar ebenfalls jenseiti­ ge Götter, doch bestand deren Aufgabe nicht darin, politische Macht zu verleihen, sondern deren Gebrauch zu kontrollieren. Denn obwohl in China der Kaiser sich als ‚Sohn des Himmels‘ bezeichnete, war er kein Spross der Götter, sondern lediglich der oberste Hüter eines sittlichen Prinzips (Dao), das aus unvordenklicher Zeit überliefert war und auch den Göttern gegenüber als unantastbar und ‚heilig‘ galt. Auch was den Götterkult anbelangt, war der Kaiser zwar dessen Anführer; doch kam ihm diese Stellung lediglich kraft seines weltlichen Amtes zu, während er das Amt allein um seiner weltlichen Macht willen innehatte. Ebenfalls musste er seine weltliche Macht zwar wie ein ‚Sohn des Himmels‘ ausüben; doch hieß das nur, dass er sein Volk so effektiv und so gut verwalten musste, dass Usurpatoren keine Chance hatten. – Die­ selbe Aufgabe stellte sich grundsätzlich auch in Indien. Wer immer dort die Herr­ schaft errungen hatte, musste sie auf die effektive Verwaltung des Volkes stützen. Deshalb hielten sich dort die Herrscher in den Stammesmonarchien einen Beraterstab, der nicht nur mit dem Himmel, sondern auch mit dem Volk in ständiger Verbindung stand: Sie räumten den Brāhmanen-Priestern einen entscheidenden Einfluss auf ihre Regierungstätigkeit ein. Und gemäß dem Grundsatz der Reziprozität mussten ihnen die Brāhmanen dann behilflich sein, ihr Herrscheramt in der Familie zu halten, selbst wenn ein Vatermord die Generationenfolge einmal abkürzte oder ein Brudermord die Nachfolge anders regelte, als es von der Natur vorgesehen war. Insgesamt verlief die indische Geschichte daher zwischen königlicher Macht, die religiös abgesichert war, und dörflichen Ratsgremien, die priesterlich gelenkt wurden. In Südeuropa bildete sich infolge ständiger Einwanderungen von Völkern aus dem Norden und Osten eine politische Tradition erst relativ spät und darum kaum noch religiös legitimiert heraus. Im heutigen Griechenland waren es Stadtgründungen, worin zuerst sich politisches Leben regte. Athen nahm eine Sonderstellung ein, weil dort eine feste innere Ordnung schnell zustande kam. Dennoch gelang die Gründung eines attischen Staates erst Solon (594 v. u. Z.). Götter standen ihm dabei nicht zur Seite; sie hatten inzwischen schon so weit abgedankt, dass sie menschliche Rollen nachspielten, statt Muster für sie abzugeben. Aus der Organisation und der Verwal­ tung der Stadtstaaten blieben sie ausgeschlossen, und auch die sittliche Positionen nahmen an ihrer Stelle mehr und mehr die Menschen für sich selber in Anspruch. Deshalb bedurfte die athenische Bürgerschaft keiner göttlichen Legitimation, als sie – nach kurzem Schwanken zwischen Tyrannis und Demokratie – die politische Herr­ schaft in die eigenen Hände nahm. Inwieweit die übrigen griechischen Städte dem Beispiel Athens folgten, ist weitgehend unbekannt. Viele entschieden sich offenbar für das Königtum (in Sparta für ein Doppelkönigtum), das oft eine Tyrannis war, häufig aber auch mit demokratischen Elementen vermischt. Den König brauchte man dann vor allem als Heerführer, wenn es in den Krieg ging. Lehrreich ist die Entwick­

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lung in Griechenland daher vor allem in anderer Hinsicht.806 Obwohl die einen Stadt­ staaten mächtiger waren als die anderen und bei gemeinsam durchgeführten Kriegen die Führungsrolle übernahmen, standen sie im Rang einander gleich. Und in welch hohem Maß sie dennoch gemeinsam handlungsfähig waren, dafür gibt der Krieg ge­ gen Troja Kunde. Nur galt das nicht für immer. Kampfbünde wurden zwar mit wech­ selnder Beteiligung weiterhin abgeschlossen, insgesamt aber nahm die Konkurrenz zwischen den Städten (insbesondere zwischen Athen, Korinth und Sparta) so weit zu, dass außer dem Peloponnesischen Bund es bald auch den Peloponnesischen Krieg gab. Lediglich innerstaatlich blieb es mehrheitlich ruhig; denn das allgemein aner­ kannte Ideal der Eunomie erzwang überall ein Mindestmaß an politischer Gleichheit und Mitbestimmung. Zudem hatte sich zwischen die Bilder der Adligen und der Bauern als Vorbild das der griechischen Kaufleute geschoben. Es zeigte sie als durch Seefahrt, Handel und Kolonisation reich geworden, weil nicht allein Wagemut und Tüchtigkeit ihre Wege geleitet hatten, sondern zusätzlich solidarischer Zusammenhalt. Denn nur indem sie ihre gemeinsamen Interessen gebündelt hatten und als einheitli­ che Wirtschaftsmacht aufgetreten waren, hatten sie in fremden Ländern ihre Forde­ rungen nach Sicherheit und Geltung des Rechts durchsetzen können, während sie, auf sich allein gestellt, dem Diktat der fremden Herrscher ausgeliefert gewesen wären. Dieses Vorbild überzeugte, und, unterstützt von der Forderung der Philosophen nach politischer Mitbestimmung aller sozialen Schichten, schuf es den Nährboden für die weitere soziale Entwicklung nicht nur innerhalb der griechischen Heimat, sondern auch auf der italischen Halbinsel, wo man neue Handelsstützpunkte gründete.

Dort, auf der italischen Halbinsel, entstanden unter dem Einfluss der sess­ haften Bevölkerung eine Reihe von städtischen Siedlungen, worin Könige die Herrschaft innehatten. Rom war (ca. 750 v. u. Z.) eine der Gründungen, Tarquinius Superbus war der dritte, allerdings auch schon der letzte Etrusker auf dem Thron (Regierungszeit 534–509). Dann ließ das Freiheitsbewusst­ sein der ganz überwiegend latinischen Bevölkerung die Herrschaft eines Einzelnen nicht mehr zu. Als der König von einem Feldzug nach Rom zu­ rückkehren wollte, schlossen sie vor ihm die Tore, benannten den Staat in res publica um und gaben ihm eine republikanische Verfassung. Lassen wir den Wahrheitsgehalt dieser Sage dahingestellt; als ihr historischer Kern bleibt der unblutige Übergang von der mit dem höchsten Priesteramt verbundenen Kö­ nigsherrschaft zur Volksherrschaft erhalten. Statt eines Königs standen künf­ tig zwei bürgerliche Konsuln an der Spitze des Staates, die zudem jährlich wechselten. Dem Volk wurde die Freiheit von jeder willkürlichen Ausübung der herrscherlichen Gewalt garantiert. Und da die Römer mit ihren Göttern keine anthropomorphen Vorstellungen verbanden, sondern in ihnen vor allem die Kräfte der Natur verehrten, erlaubten sie ihnen auch keinen Einfluss auf die Staatstätigkeit, sondern befragten sie nur noch (durch Einholung von Auspizien) nach ihrer Meinung zu wichtigen staatlichen Entscheidungen. Kongruent zum Bedeutungsverlust des Himmels gewannen stattdessen Wahlen des Volkes für die Staatstätigkeit Bedeutung. In ihnen bestimmte entwe­ 806  Zum

Folgenden ergänzend Ch. Meier (1987), S. 97 ff.



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der das Plebiszit der Masse oder eines engeren Kreises ‚edler‘ Menschen u. a. die Besetzung aller Leitungspositionen im Staat. In den historisch älteren Staaten wären solche Wahlen nicht einmal denkbar gewesen; in den histo­ risch jüngeren dagegen gehörten sie bald zum Alltag.807 (γ) Die Entwicklung des Schriftgebrauchs. Von den gleichzeitigen kulturellen Entwicklungen war die des Schriftgebrauchs ein Spiegel der sozialpoliti­ schen und zugleich der rechtlichen Entwicklungen. Umfassend kam das alte Herrschaftssystem noch in der Hieroglyphenschrift der Ägypter zum Aus­ druck; denn diese Schrift bekundete nicht nur die Worte und bezeichnete nicht nur die Gegenstände, von denen die Worte handelten, sondern sie zeichnete auch auf, wann und wo die Worte gesprochen wurden, wo seiner­ zeit sich die Gegenstände befanden und vor allem wer die Personen waren, welche die Szene beherrschten.808 Den übrigen Schriften fehlte diese dreifa­ che Funktion: Die phonographischen Urkunden vermittelten lediglich das gesprochene Wort und dienten so ausschließlich der Perpetuierung des per­ sönlichen Wissens und Wollens. Den ideographischen Urkunden war allein die Gegenstands­referenz eigen, die Person ihres Ausstellers aber irrelevant. In all dem kann man Mängel erkennen, jedoch wurden sie durch die Einfach­ heit der Herstellung von phonographischen Urkunden überlagert. Daher bil­ dete alsbald die Fähigkeit zu deren Herstellung die Spitze einer neuen Sozi­ alpyramide, auf der obenan die schriftkundigen Priester, Beamten und Schreiber standen, während sich am unteren Ende die große Menge der des Schreibens und Lesens unkundigen Bauern befand. Phonographische Urkunden herstellen und lesen konnten anfangs fast nur Priester und ‚Schriftgelehrte‘. Denn gebraucht wurden sie vor allem für Weih- und Grab­ inschriften sowie zur Perpetuierung des Inhalts von wirtschaftlichen Verträgen. Da­ raus kann man noch keine allgemeine ‚Schriftkultur‘ ableiten.809 Doch gerade weil es an einer solchen Kultur fehlte, waren die aufgeschriebenen Normen keine bloß wei­ chen Vorgaben für das alltägliche Leben wie die mündlichen, sondern harte Vorschriften, die sich gleich Felsen aus einer weichen Dünenlandschaft abhoben. Hinzu kam, dass die Gesetze an den Wänden oder Stelen von Tempeln (so in Babylon, zunächst wohl auch in Gortyn) oder auf öffentlichen Plätzen (so in Rom, später in Gortyn) leicht zugänglich waren, weshalb sie nicht nur durch die Art ihrer Materialisierung Dauerhaftigkeit, sondern auch durch den Ort ihrer Ausstellung metaphysische oder (in Rom) demokratische ‚Sanktion‘ erhielten. Wie sehr man sich dieses Eindrucks seinerzeit bewusst war, zeigt mittelbar das Beispiel Solons, der sich veranlasst sah, 807  Ob nicht die Römer, sondern die Griechen sie erfunden haben, ist nicht ge­ klärt. Sicherlich aber haben sie als erste exzessiv von ihnen Gebrauch gemacht und ihr politisches Leben als durch freie Wahl gelenkt, ihr Recht als durch freie Wahl geschaffen begriffen. 808  Näheres zur ägyptischen Schrift unten H 2 e aa. 809  Ø. Andersen (1987), S. 36 f.; J. Assmann (1992), S. 265 ff.; J. Fischer (2010), S.  31 ff.

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geradezu emphatisch zu betonen, dass seine Gesetze, obzwar in Stein gemeißelt, nicht dazu bestimmt seien, den mündlich tradierten Nomos von Athen abzulösen oder zu verdrängen.810

Schriftdokumente hatten jahrhundertelang vor allem eine Mitteilungs- und Perpetuierungsfunktion. Je älter sie wurden, umso klarer trat aber auch der Wert ihres Eigenlebens hervor. Denn die konkreten Vorgänge, um derentwil­ len sie errichtet wurden, konnten, obwohl oft längst vergangen, noch immer befragt werden: Was war seinerzeit der Grund für ihre Verschriftung? Was bedeuteten damals ihre Aussagen? Und was wollen sie uns jetzt noch sagen? Diese Fernwirkung wurde bei ihrer Errichtung manchmal nicht nur vorausge­ sehen, sondern sogar bezweckt – etwa bei Gesetzen, denen manche Könige ‚ewige‘ Geltung zu verschaffen suchten,811 aber auch bei privaten Ermächti­ gungen, testamentarischen Anordnungen, Schuld- und Schulderlassurkunden u. a. m., die erst nach Jahr und Tag ihre rechtliche Wirkung entfalten sollten. Je mehr der Schriftgebrauch in der Folgezeit üblich wurde und die Zahl der Schrifturkunden anstieg, desto mehr wurde auch das juristische Denken davon beeinflusst. Das lediglich gesprochene Wort hatte früher normative Geltung dadurch erlangt, dass es durch stereotype Wiederholung zur Formel erstarrte. Doch hatte nicht jeder formelhafte Wortgebrauch eine normative Bedeutung erhalten, z. B. nicht die Begrüßungsformeln und die bloßen Re­ densarten. Deshalb mussten die normativ relevanten Wortformeln durch den Gebrauch spezifisch rechtlicher Termini, durch rituelles Beiwerk oder durch die Umstände, unter denen sie gesprochen wurden, zusätzlich ausgezeichnet werden. Davon erlöste die urkundliche Fixierung: Sie erübrigte erstens die Notwendigkeit ständiger Wiederholung von Worten, weil ohnehin, was dem Stein oder Pergament anvertraut war, ständig vorhanden war und jederzeit vergegenwärtigt werden konnte; sie erübrigte zweitens zusätzliche rituelle Handlungen, weil die rechtliche Bedeutung der Äußerung aus der Tatsache und der Art ihrer Dokumentation zu entnehmen war; und sie erlöste drittens die Äußerung aus ihrer Gebundenheit an die äußeren Umstände, weil sie in der Urkunde eine eigene ideale Existenz besaß, die von den konkreten Um­ ständen abstrahierte. Der Mensch gewöhnte sich deshalb daran, dass Worten eine höhere als die übliche soziale Geltung zukam, sobald sie ‚urkundlich fixiert‘ waren. Insgesamt schloss somit die Verschriftung des Rechts die Epoche des an Zeit und Ort gebundenen ‚Frührechts‘ ab, und die Epoche des hiervon abstrahierenden ‚Rechts‘ begann.812 dazu unten J 6 a, Fn. 854. Babylon etwa Hammurapi (CH Epilog, vgl. unten J 6 a, Fn. 856); für ­Israel etwa Mose (4. Mose 27 6 ff., 11) und David (1. Samuel 24 f., 25). 812  Übereinstimmend H. Wimmer (1997), S. 241: „Die Existenz von geschriebe­ nem Recht unterscheidet staatliches Recht von allein mündlich tradiertem Recht in Chiefdoms. Das Niveau der Verschriftlichung scheint überdies für die weitere Rechts­ 810  Vgl. 811  Für



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Großen politischen Einfluss hatte die vermehrte Zahl von Schriftkundigen zunächst in Ägypten und Mesopotamien, später in Griechenland und in Rom, wo sie jedesmal eine Verstärkung der staatlichen Zentralisation herbeiführte. • Die urkundliche Fixierung der Rechtsnormen setzte die (teilweise bereits in den Königreichen ausgebildete) Bürokratie instand, die Normen unabhängig von der Gedächtnisleistung und der Autorität ihrer Übermittler auf sämtliche darin bezeich­ neten Sachverhalte gleichmäßig anzuwenden. Sie gab damit der sozialpolitischen Ordnung erstmals eine einheitliche Rechtsgrundlage und verstärkte die politische Einheit sozialer Systeme. • Innerhalb der Gerichtsbarkeit konnten jetzt zum einen viele strittige Tatsachen durch Vorlage von Urkunden bewiesen oder widerlegt werden. Zum anderen konn­ ten die Verhandlungen protokolliert und sowohl der Tenor als auch die Gründe von Entscheidungen urkundlich festgelegt werden. Drittens ließen selbst komplizierte Sachverhalte sich nunmehr schriftlich so klar fixieren, dass jederzeit nachweisbar war, worüber die Gerichte entschieden hatten. Und viertens konnte die Gerichts­ barkeit teilweise von Laiengerichten auf Instanzgerichte verlagert werden, wo ausgebildete Priester oder Schreiber sie ausüben und sich hierbei auf die Beurkun­ dungen der Eingangsgerichte stützen konnten. • Wichtig war für den Staat außerdem, dass er aufgrund der schriftlichen Fixierung der individuellen Vermögensverhältnisse einer jeden Familie ein Besteuerungs­ wesen organisieren konnte, das an die Stelle der bisher mehr oder weniger freiwil­ lig vereinbarten Leistungen an den Herrscher trat, weitaus gleichgerechter war und deshalb mit viel größerer Entschlossenheit auch zwangsweise durchgesetzt werden konnte. Ein weiterer Vorteil war, dass die daraufhin erbrachten Leistungen von den staatlichen Beamten schriftlich bestätigt und anschließend abgerechnet werden mussten, was die Korruption weitgehend unterband.

(δ) Die Entwicklung von Gesetzeskodizes. Der Wechsel vom ungeschriebe­ nen zum geschriebenen Recht bedeutete zwar keinen breiten Übergang vom Gewohnheitsrecht (ius) zum Gesetzesrecht (lex); er bereitete diesen Über­ gang jedoch vor. Gesetzesrecht hatte es zwar schon vor der Erfindung der Schrift gegeben. Es war mündlich erlassen und verbreitet worden und hatte zumeist auf herausragende Vorgänge aus jüngster Vergangenheit reagiert, etwa auf die Gründung einer neuen Siedlung (eines Dorfes oder einer Stadt)813 oder auf eine plötzliche Bedrohung des Friedens durch einen Auf­ entwicklung in den vormodernen Staaten von entscheidender Bedeutung gewesen zu sein.“ Auch L. Burckhardt (2007, S. 24) hebt die Bedeutung schriftlicher Gesetze in­ nerhalb einer im Übrigen oralen Rechtstradition hervor. 813  Den Erlass eines städtischen Gesetzes schildert ein Mitglied der Kpelle (Zent­ ral-Liberia): D  er König (Stammeshäuptling) „ruft alle Leute, die in der Stadt sind, zusammen und erlässt das Gesetz (law) der Stadt. Er nennt die Dinge, die kein Mensch in der Stadt tun darf: ‚Keiner, der hier in der Stadt ist, darf hier stehlen; wenn er hier einen Diebstahl begeht, muss er eine große Zahlung dafür leisten … Niemand darf hier jemanden töten; wenn er hier einen tötet, muss er … eine große Geldsumme zahlen, sieben Sklavenwerte, außerdem muss er noch einen Menschen geben; so wird die Angelegenheit erledigt, er hat das Land vom Blut gereinigt. …‘ “.

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stand oder anrückende Feinde. Aber es hatte nirgends die Masse des alltäg­ lichen Rechts ausgemacht. Die Masse des Rechts hatte aus Normen der Ge­ wohnheit bestanden, die seit Menschengedenken (scheinbar) unverändert galten und ihre Legitimation aus ebendieser (scheinbaren) Veränderungs­ losigkeit herleiteten.814 Wenn sein Inhalt sich dennoch wandelte, dann selte­ ner aufgrund von herrscherlichen Erlassen als vielmehr aufgrund von sozia­ len oder ökologischen Entwicklungen, die meistens indes so langsam verlie­ fen, dass sie den Menschen kaum zum Bewusstsein kamen. Diesen Zustand veränderte die Erfindung der Schrift. Zunächst geschah das freilich eher theoretisch, weil anfangs kaum jemand schreiben und lesen konnte. Auch ergänzten die Herrscher, die mithilfe ihrer Schreiber eigentlich ein ganzes Bündel von Gesetzesnormen hätten erlassen können, das Recht nur wie früher aus aktuellem Anlass815 – zu sehr hatte die Gewohnheit auch sie noch im Griff. Die meisten ihrer schriftlich erlassenen Normen waren lediglich Bestätigungen ihrer aktuellen richterlichen Entscheidungen, die ih­ rerseits meistens aus dem Gewohnheitsrecht abgeleitet waren und dessen Geltung auf bisher noch nicht dagewesene Fälle erstreckten.816 Weil deshalb schrift­liche Normen anfangs nur wenig Neues enthielten, wurde das traditio­ nelle Recht im großen Ganzen weiter gepflegt. Was ausnahmsweise neu war, wurde von den Normgebern meist als „Rechtsoffenbarung“ dargestellt817 oder ausdrücklich als Zeitgesetz zur Abschaffung von Missständen erklärt818. Gleichwohl erlangten die Normen durch das dauerhafte Substrat, an das sie von jetzt an gebunden waren, eine höhere Qualität als das mündliche Recht. Sie waren ‚gewichtiger‘, wenn in Stein gemeißelt,819 und sie waren 814  Seine Geltung als Recht war daher häufig umstritten. Insbesondere angesichts der geschriebenen Gesetze hat man ihm den Rechtscharakter bisweilen abgesprochen, weil es unvorstellbar erschien, dass ein höchster Gesetzgeber an eine althergebrachte Gewohnheit hätte gebunden sein können. Doch in Deutschland wurde das Gewohn­ heitsrecht bis ins 16. Jh. hinein dem schriftlichen Recht gleichgeachtet. Danach aller­ dings waren die Richter als Amtsträger des Staates nur noch gehalten, das geschrie­ bene Recht des Staates zu kennen. Das ungeschriebene Recht wurde zur bloßen Tat­ sache herabgestuft und von Amts wegen nicht mehr ermittelt, sondern als Gegenstand des Vortrags und des Beweises der Parteien erachtet. Vgl. dazu E. Ehrlich (1913), S.  10 f. 815  In dieser Tradition steht höchstwahrscheinlich noch Drakons Gesetz über die unvorsätzliche Tötung, das anlässlich der Tötung von Anhängern des Tyrannis-Aspi­ ranten Kylon und die darauf folgende Spirale der Gewalt erging. Vgl. dazu oben bei Fn. 523. 816  Hammurapi verstand seinen Kodex als Rechtsbelehrung nicht für die Gerichte, sondern für die Rechtsuchenden (siehe oben Fn. 380). 817  M. Weber (1922/2005), S. 400, 402, 503. 818  So die Gesetzgebung Solons in Athen (6. Jh.s v. u. Z.). 819  J. Goody (1986), p. 127 ff.



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öfters vermischt mit ‚gelehrten‘ Gedanken, weil die Schrift vor allem in so­ zial herausgehobenen Kreisen verbreitet war.820 Eine Klärung brachten sie insoweit, als von der Aufnahme in das schriftliche Recht die zeremoniellen Sitten ausgenommen waren, obwohl sie sozial relevant und oft so fest mit Rechtsakten verbunden waren, dass sie als Teil des Gewohnheitsrechts er­ schienen. Jetzt wurden sie stattdessen entweder der Religion oder den Kon­ ventionen zugeschlagen oder zumindest klargestellt, dass ihre Einhaltung, obwohl in einem schriftlichen Rechtstext erwähnt, rechtlich irrelevant ist. Zum Beispiel wurden in Israel und Indien Recht und Religion zwar mehr und mehr getrennt, doch vereinigten sowohl die Gesetzbücher von Moses als auch die indischen Gesetzbücher nach wie vor rechtliche, religiös-moralische und konventio­ nelle Regeln. Und nicht immer wurde die unterschiedliche Bedeutung ihrer Missach­ tung so klargestellt wie in der folgenden Norm aus dem Gesetzbuch des Manu (V 152): „Der Segensspruch und das Opfer an den Herrn der Geschöpfe werden [nur] um des Wohlergehens willen vollzogen; die Übergabe [der Frau] aber ist die Wirk­ ursache [für die Erlangung] der [eheherrlichen] Gewalt.“

Einschneidender als der Übergang vom mündlichen zum schriftlichen Recht war, dass das schriftliche Recht urkundlich zusammengefasst werden konnte. Insbesondere in den größeren Protostaaten bediente man sich solcher Zusammenfassungen (als dem Beginn förmlicher ‚Kodifikationen‘), weil sie der stärkeren Zentralisierung der hoheitlichen Gewalt Ausdruck gaben. Dies erschien erforderlich, weil die Protostaaten ihre Nähe zu den Königreichen insofern bewahrt hatten, als sie ebenso personalistisch wie diese organisiert blieben und man beispielsweise die Geltung gerichtlicher Entscheidungen seitens des Herrschers nach wie vor auf dessen Person und nicht auf dessen institutionelle Position zurückführte.821 Waren die herrscherlichen Entschei­ dungen jedoch zusammenfassend aufgezeichnet, dann wurde dies als institu­ tionelle Gesetzgebung verstanden. Und das war vor allem an den größeren Handelsplätzen wichtig, wo aufgrund ihrer Öffnung für ausländische Händler

820  Ein Beispiel bildet der Kodex des Hammurapi, der neben real ergangenen gerichtlichen Entscheidungen auch virtuelle auflistet, die offenbar von gelehrter Hand hinzugefügt wurden. 821  Die personalistische Struktur der meisten Protostaaten hat sich, wenngleich allmählich immer stärker mit institutionellen Strukturen durchmischt, über das ganze europäische Mittelalter erhalten. Selbst in der Neuzeit ist sie erneut auferstanden – etwa in Frankreich, wo im 18. Jh. Louis XIV. seine personale Einheit mit dem Staat verkündete („l’État c’est Moi“), oder in Deutschland, wo im 20. Jh. der Wille des „Führers“ Adolf Hitler zum Gesetz erhoben und der Staat zum „Organ des Führers“ erniedrigt wurde (C. Schmitt, 1934, S. 66 f.). Der deutsche − in andere Sprachen un­ übersetzbare − Begriff ‚Reich‘ ist Ausdruck einer solchen innigen Beziehung zwi­ schen dem Herrscher (oder einem Herrscherhaus) und dem Staat („Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“).

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Gerichtsentscheidungen des Herrschers schon aus Gründen der Staatsraison als Normsetzung bekannt gemacht werden mussten. Vorreiter war insoweit Mesopotamien. Von ca. 2500 v. u. Z. an wurden in seinen Handelsstädten auf Initiative der Könige erste Gesetze publiziert und um 1940 v. u. Z. sogar wesentliche Teile des geltenden Rechts vom Babylonier Hammurapi erstmals systematisch zusammengefasst.822 „Ich, Hammurapi, der von Enlil berufene Hirte, … den Marduk823 beauftragte, die Menschen gerecht zu leiten und dem Lande Ordnung zuzuweisen, … habe festge­ setzt“ – so beginnt der Prolog zum wahrscheinlich ersten Rechtskodex der Mensch­ heitsgeschichte. Geschichtlich bedeutsam war auch, dass Hammurapi nicht nur ausdrücklich auf seine göttliche Legitimation zur Gesetzgebung hinwies, sondern daraus auch für seine Gesetze Ewigkeitsgewähr ableitete und jede Änderung verbot. „Bis zum Ende der Tage, für immerdar bewahre der König, der dem Lande ersteht, die Worte der Gerechtigkeit, die ich auf meinen Denkstein geschrieben habe. Das Recht des Landes … soll er nicht ändern, meine Aufzeichnungen nicht beseitigen. Hammurapi, der König der Gerechtigkeit, dem Šamaš824 das Recht geschenkt hat, bin ich.“

(ε) Ewiges Recht? Obwohl in Kodizes zusammengefasst und publiziert, teilweise sogar in Stein gehauen ‒ die Normen der Herrscher, die das Recht verkündeten, verfielen, während das Recht selbst fortbestand. War folglich das Recht etwas Bleibendes, gar Ewiges ‒ dem Verfall seiner Gesetze zu Trotz? Der Wunsch nicht nur nach ewigem Recht, sondern auch nach ewigen Rechtsgesetzen gleich den Naturgesetzen, die man ständig genauer erforschte, war im Altertum vorhanden und blieb auch bestehen, obwohl man nach dem Tode eines Herrschers dem Verfall seiner Gesetze jederzeit zuschauen konnte. Nur zweimal gab es im Altertum Versuche, die offenbar bestehende Zeitmauer zu durchbrechen. Etwa fünfhundert Jahre nach Hammurapi glaubten die Israeliten, ein ewiges Ge­ setz von ihrem Gott Jahwe erhalten zu haben. Ihr Anführer Moses erfuhr es teils aus Gottes eigenem Mund, teils erhielt er es auf steinerne Tafeln geschrieben. Er gab es weiter an sein Volk, und von ihm überkam es der Nachwelt als Teil seines Testa­ ments. Doch diese Herkunft ist Sage. Heute glauben nur wenige Juden noch an Gottes eigene Offenbarung und sehen sich zur Einhaltung seiner überlieferten Gebote ver­ pflichtet. Noch wichtiger ist, dass zum einen das im Staat Israel geltende Gesetzes­ recht eindeutig nicht das ist, das angeblich einst Jahwe verkündete, sondern das eines modernen weltlichen Staates, und dass zum anderen die israelischen Gerichte die 822  Eine Kodifikation im strengen Sinne wurde allerdings nicht erreicht und war wohl auch nicht beabsichtigt, da leicht zu ergänzende Vorschriften etwa aus dem strafrechtlichen Bereich fehlen. 823  Marduk war der Stadtgott von Babylon und seit Hammurapi der eigentliche Landesgott, auf den man die Züge Enlils, des Weltgottes, übertragen hatte. 824  Šamaš war der Sonnen- und Richtergott.



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts351

Überlegenheit der neuen weltlichen gegenüber den alten religiösen Normen ausdrück­ lich anerkannt haben.825 Wichtig für uns bleibt folglich nur der Gedanke, dass ewiges Recht, wenn überhaupt, einzig von einem Gott gesetzt werden könnte, der von der Ewigkeit und Unwandelbarkeit seiner Schöpfung überzeugt ist. Noch einmal rund tausend Jahre später versuchten die Römer, einem Gesetz Ewig­ keitswert zu verleihen. Es war ebenfalls auf Tafeln geschrieben, hatte diesmal aber das Gewohnheitsrecht des römischen Volkes zum Urheber und ein Zehnmännerkolle­ gium zum Übermittler. Livius bezeichnete es als „fons omnis publici privatique juris“.826 Dass es für lange Zeit den Keim allen römischen Rechts enthielt, lag daran, dass man jene allgemein-menschliche Vernunft darin vermutete, die nach römischer Auffassung allem Recht ‒ also nicht nur dem römischen ‒ zur Grundlage dienen muss. Doch wiederum erwies sich sehr bald, dass die verschrifteten Normen eine zeitgebundene Vernunft widerspiegelten. Neue Zeiten brachen an und erzeugten neue soziale und politische Probleme, zu deren Lösung die überlieferten Normen keinen Zugang boten. Heute ist das Gesetz tot. Geblieben ist nur der Gedanke, dass ewiger Ursprung des Rechts einzig die menschliche Vernunft sein kann.

Der Unterschied zwischen den ewig geltenden Natur- und den nur zeitge­ bunden geltenden Rechtsgesetzen war seinerzeit in den Sprachen verbor­ gen ‒ und ist es auch heute noch. In Theorie und Praxis trat er jedoch immer stärker hervor. In Griechenland begründete noch die Gleichheit des Namens (νόμοι) eine Demokratie, die es erlaubte, alles Recht aus der (empirischen) Natur all derer abzuleiten, für die es gelten sollte, in Athen also aus der übereinstimmenden Natur aller männlichen Bürger (es waren etwa 50.000), von denen etwa ein Zehntel in den Abstimmungen der Vollversammlungen davon Gebrauch machte. Das reichte als Legitimation aus. In Rom begrün­ dete ebenfalls die Gleichheit des Namens (leges) Natur und Recht. Doch schob sich hier zwischen die Natur- und Rechtsgesetze bereits ein legitimie­ rendes Abstraktum, nämlich die menschliche Vernunft (ratio). Bedeutung erhielt dieses Abstraktum zunächst allerdings nicht; denn man nahm an, dass kein anderes Volk so wie das römische in der Lage sei, kraft seiner Vernunft das Recht zu begründen ‒ bis schließlich die Internationalisierung u. a. der Handelsbeziehungen das Fehlsame dieser Annahme deutlich machte. Man musste anerkennen, dass sich die gesetzgebende Vernunft nicht auf das ­eigene Volk beschränkte, sondern dass auch andere Völker sie besaßen und zum Erlass anderer Gesetze gebrauchten.827 Daraus zog man dann den 825  Lediglich die territorialen Ansprüche des Staates Israel werden heute noch mit der biblischen Verheißung begründet. 826  T. Livius, De urbe condita, III 34 merkt allerdings kritisch an, dass auf den Tafeln lediglich ein ungeheurer Wirrwarr an Gesetzen aufgehäuft sei und seinerzeit noch den Hauptquell des römischen Rechts bildete („… qui nunc, in hoc immenso aliarum super alias acervatarum legum cumulo, fons omnis publice privatique est ius“). 827  Vgl. dazu noch näher unten K 4 α–β.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Schluss, dass die Vernunft offenbar ein dem Menschen von der Natur mit­ gegebenes schmiegsames Mittel zur Gestaltung seiner Rechtsgesetze ist und dass folglich eine unterschiedliche Umwelt (reziprok) eine unterschiedliche Gesetzgebung veranlasst. Denn das sowohl die Natur als auch die mensch­ liche Vernunft beherrschende Reziprozitätsgesetz gelte auch für die Beziehung zwischen Natur und Vernunft und verlange vom Menschen infolgedessen den Ausbau rechtlicher Verhältnisse entsprechend seiner natürlichen Umwelt. Ein von Gott ohne Vermittlung der menschlichen Vernunft gegebener Rechtskodex wäre zwar ex origine legitimiert gewesen, für alle Völker ewig zu gelten. Er hätte jedoch weder auf Unterschiede in der Umwelt Rücksicht nehmen noch auf deren Veränderungen reagieren können ‒ oder er hätte Gott verpflichtet, Kodex und Natur ständig einander anzugleichen. Ein Rechtskodex aufgrund menschlicher Vernunft schob diese Aufgabe dagegen den Menschen zu: Sie mussten ihre Normen der natür­ lichen Umwelt und den darin von ihnen verursachten Veränderungen ständig anpas­ sen. Und nur in ihren Veränderungen waren sie frei, bei der Anpassung dagegen war sie Knechte;828 ihre Rechtspflicht entstand, juristisch ausgedrückt, aus ihrer‚Ingerenz‘.

Was im Hinblick auf die natürliche Umwelt gilt, gilt danach auch im Hin­ blick auf die soziale Umwelt: Auch auf sie muss jeder Gesetzgeber gemäß dem Reziprozitätsgesetz reagieren, wenn er darin eingreift. Denn vernünftig ist allein ein Zielzustand, der einesteils der sozialen Realität Rechnung trägt und der andernteils das soziale Ideal nicht aus den Augen verliert – anders gewendet: worin das soziale Ideal der Realität die Entwicklungsrichtung vorgibt, die soziale Realität aber die ideale Entwicklung auf das Erreichbare begrenzt.829 Oder kürzer: worin die ‚Vernunft‘ die Oberhand behält. (ζ) Was also treibt die Rechtsgeschichte an? In der Antike wurde diese Frage kaum gestellt. Denn nicht die geschichtliche Entwicklung, sondern die aktuelle Gegenwart des Rechts stand für die Menschen zur Entscheidung an. Zwar wurden bedeutsame prozessuale Entscheidungen damals bereits gesam­ melt und standen als Präjudizien zur Verfügung. Sie konnten also zur Lösung künftiger Rechtsprobleme verwendet und dabei auch modifiziert oder er­ gänzt, d. h. fortentwickelt, werden. Und dass ein Bedarf dafür bestand, zeigte sich nirgends deutlicher als in Rom, der Hauptstadt des Rechts, wo einerseits ein reger Handels- und Wirtschaftsverkehr eine ständige Weiterentwicklung 828  Beispiel: Die Vermüllung der Natur zwingt den Menschen zur Organisation auch der Müllbeseitigung. Im ersten ist er frei, im zweiten ist er dagegen Knecht. 829  Die Problematik lag auch den Lehren der deutschen Rechtswissenschaftler des 19. Jh.s zugrunde. Die historische Rechtsschule F. C. von Savignys schrieb einem durch Jurisprudenz veredelten (!) Volksgeist die Legitimation zur Gesetzgebung zu, sah allerdings diesen Geist seinerzeit nicht am Werk (vgl. 1814, S. 13 f., 45 ff.). R. von Jherings progressistische Anschauung sah in der durch Inspiration veredel­ ten (!) Tatkraft Einzelner das treibende Moment, konnte aber die Legitimation zur Gesetzgebung für keinen Einzigen nachweisen (vgl. 1861, S. 369; 1894, S. 28). Zum Ganzen auch schon E.-J. Lampe (2001a), passim.



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts353

des Gesetzesbestands erforderte, andererseits das hier allein gültige XII-Ta­ felgesetz ein Bollwerk gegen jede Weiterentwicklung bildete. Doch zum ei­ nen hätte der Wirrwarr innerhalb dieses Gesetzes830 eine systematische Wei­ terentwicklung nicht vertragen und zum anderen war der römische Geist seinerzeit eher mit der Zerstückelung und Sondierung der Teile statt mit ihrer Zusammen­fügung auf höherer Ebene beschäftigt und folglich dem Bemühen abgeneigt, das Recht wissenschaftlich zu erfassen und weiterzu­entwickeln.831 Stattdessen überließ er es den Gerichten, die neu entstandenen Probleme von Fall zu Fall praeter legem zeitgerecht zu lösen.832 Deshalb nahmen beispielsweise zuerst die Gerichte des Altertums zur Kenntnis, dass das alte Ideal der Gleichheit zwischen den Familien und Sippen abgedankt und die Gesellschaft sich hierarchisch gegliedert hatte. Sie reagierten auf diese Entwick­ lung, während die Gesetzgebung zunächst nichts beisteuerte − bis sie schließlich die Rechtsverhältnisse dann doch mit einiger Verspätung sowohl auf den einzelnen Hier­ archieebenen als auch zwischen diesen Ebenen neu regelte und z. B. dem mächtigen Adel, den hohen Amtsträgern und den mannigfaltigen Spezialisten (Ärzten, Handwer­ kern u. a. m.) ihre Privilegien sicherte.

War die Lösung sozialer Probleme zwar drängend, hatte sie aber bisher in gerichtlichen Entscheidungen keinen Niederschlag gefunden, dann sparte auch Gesetzgebung sie aus − solange, bis sie meinte, dass die Rechtsmeinung des Volkes den Trend zu ihrer Lösung vorgegeben habe und die Rechtspre­ chung diesem Trend folgen werde. So durften in Griechenland beispielsweise die Angehörigen eines Getöteten noch lange Zeit ein ‚Blutrecht‘ für sich beanspruchen, obwohl man dessen soziale Schäd­ lichkeit längst erkannt hatte. Doch erst, als das Rechtsbewusstsein des Volkes genü­ gend Kraft besaß, um sich gegen die beharrenden Kräfte durchzusetzen, entstand ihm in Solon ein Gesetzgeber, der den Wandel in Normen goss.

Demnach hatten sowohl die Rechtsprechung der Gerichte als auch die Rechtsmeinung des Volkes den Vortritt, wenn es galt, der Rechtsgeschichte den Weg in die Zukunft zu bahnen.833 Dennoch war die Gesetzgebung nicht etwa ein bloßer Rückblick auf eine durch Gerichtsurteile und Volksmeinung 830  Siehe

oben Fn. 826. T. Cicero, De oratore III 33 132: Durch distributio partium ac separatio sei der Umfang der Rechtswissenschaft seinerzeit so verringert gewesen, dass niemand mehr sie als Einheit, sondern nur beschränkt auf sein Arbeitsgebiet habe erfassen können („ut nemo genus universum complecteretur atque ut alius aliam sibi partem in qua elaboraret saponeret“). 832  Vgl. dazu noch unten J 6 b. 833  Dabei durfte die Rechtsprechung, die es mit dem Einzelfall zu tun hat, mehr Mut zur Neuerung beweisen, während die Gesetzgebung, die eine unbestimmten Viel­ zahl von Fällen betrifft, sich ihrer abstrakten Macht bewusst sein und deshalb Zu­ rückhaltung üben musste. „Altes aufbewahrt mit Treue, mutig angefasst das Neue!“ Mit dieser Abwandlung eines Goethe-Wortes (J. W. Goethe, Werke [Ausg. E. Trunz], 831  M.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

vorbereitete Bahn. Ihr Verhältnis zu den beiden anderen Quellen des Rechts war vielmehr dialektisch und spiegelte jene Art wider, zu der das juristische Denken sich innerhalb der römischen Kultur unter dem Einfluss der helleni­ schen Philosophie entwickelt hatte: Es setzte jeweils zwei Quellen voraus, welche dem Fluss aus einer dritten Quelle die Richtung wiesen. So waren es Rechtsprechung und Volksmeinung, an denen die Gesetzgebung sich ausrich­ tete, wenn sie ihre eigene Aufgabe, die Richtung des Fortschritts zu bestim­ men, hoheitlich-autoritär wahrnahm. Die Rechtsprechung wiederum legte ihren Urteilen die Normen der Gesetze zugrunde, orientierte deren Auslegung aber an der wahrscheinlichen Akzeptanz durch die Volksmeinung. Und die Volksmeinung schließlich konnte sowohl auf Gesetze als auch auf die Recht­ sprechung zwar nur reagieren, dabei jedoch ihre Billigung durch künftige Rechtstreue, ihre Missbilligung durch einen Mangel daran zum Ausdruck bringen. Mit der Erwähnung dieser Quellen eines dialektischen Denkens auf der Suche nach einer alle Gründe der Rechtsentwicklung vereinigenden Erkennt­ nis endet der geschichtliche Teil meiner Darstellung. Die genetischen Ur­ sachen und Randbedingungen der Rechtsentwicklung wird der folgende Teil meiner Untersuchung darstellen.

Bd. I S. 327 [Nr. 140]) lässt sich daher das Verhältnis zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung charakterisieren.

Teil III

Genetische Entwicklung des Rechts In meiner vorangehenden Untersuchung ging es vor allem um die Fragen, was Recht ist, wie es entstand und wie es sich historisch entwickelt hat, also um das diachronische Werden und den Wandel des Rechts. In meiner folgen­ den Untersuchung wird es um die Fragen gehen, woraus Recht entstand und weshalb seine Entwicklung so, wie geschehen, verlief, also um die genetischen Ursachen und Gesetzmäßigkeiten, die Recht entstehen ließen und seine Entwicklung vorantrieben. Diese Untersuchung erhält ihre Berechtigung aufgrund der Hypothese, dass, wie alles Lebendige, so auch alles PsychischGeistige und mit ihm auch alles Recht in einem ständigen Werden und Ver­ gehen begriffen ist, dass Dike nicht nur eine Macht der Geschichte ist,1 sondern auch ein Symbol des Entstehens und des Verfalls.

H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts (I: Ursachen) Die altgriechische Auffassung vom Recht als einer Macht der Geschichte war lange Zeit in Vergessenheit geraten; erst im 19. Jh. wurde sie von der Historischen Rechtsschule wieder entdeckt.2 Für ihren Hauptvertreter Friedrich Carl von Savigny war das Recht „derselben Bewegung und Entwicklung unterworfen wie jede andere Richtung des Volkes“ – erzeugt „erst durch Sitte und Volksglaube, dann durch Jurisprudenz, überall also durch innere, still wirkende Kräfte, nicht durch die Willkür des Gesetzgebers“3. Das nationale Element stand also im Vordergrund. Ein halbes Jahrhundert später entdeckte Rudolph von Jhering dann das universale Element: das Fortschreiten des Rechts durch „gegenseitige Berüh­ rung und Einwirkung“ zwischen den Völkern, welches „ein Geben und Neh­ men, Entlehnen und Mitteilen, kurz ein großartiges, alle Seiten des mensch­ lichen Daseins umfassendes Austauschgeschäft“ ist.4 Allerdings benutzte er zum Ansatz seiner Untersuchung die Entwicklung nur eines einzigen Rechts, 1  E.

Wolf (1950), S. 214. dazu oben C 4. 3  F. C. von Savigny (1814), S. 11, 14. 4  R. von Jhering (1907), S. 5. 2  Vgl.

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

freilich eines, mit dem er bestens vertraut war, nämlich des römischen, und erhob es zum Prototyp der universellen Rechtsentwicklung. Berechtigt hierzu meinte er sich, weil alles Recht sich vornehmlich aus einem einheitlichen sachlichen Zusammenhang heraus entwickle, wogegen Ort und Zeit der Ent­ wicklung akzidentell seien. Der sachliche Zusammenhang aber komme in der Entwicklung des römischen Rechts so mustergültig wie nirgendwo sonst zum Ausdruck.5 Deshalb sei die Arbeit, die ihn zutage fördere, der des Geo­ logen vergleichbar: „Dem Geologen, der uns die Geschichte der Bildung der Erdoberfläche schildert, ist kein äußeres Zeugnis der Zeit gegeben, ihm ist nicht berichtet, in welcher Rei­ henfolge und in welchen Intervallen die Veränderungen der Erdoberfläche vor sich gegangen sind. Und doch kann er uns diese Reihenfolge aufs Unwidersprechlichs­ te dartun, ja er kann, wenn auch nur in einem sehr weiten Maßstabe, die Zeit be­ stimmen, die über diesen Bildungen verflossen ist – denn die Geschichte, die er darstellt, hat sich dem Gegenstande selber inkrustiert, das Moment der Zeit hat sich entsprechend in der Sache selber ausgedrückt.“6

Die von ihm aufgedeckte „Möglichkeit einer inneren Chronologie im Ge­ gensatz zu der sich auf äußere Zeugnisse stützenden äußeren Chronologie“, so Jhering weiter, bestehe im Hinblick auf das Recht immer dort, wo seine Entwicklung durch das „psychische Moment“ bestimmt werde, „das sich zu der sichtbaren Äußerlichkeit desselben verhält wie die Seele zum Körper“7. Dem pflichtete ein halbes Jahrhundert Giorgio del Vecchio bei:8 Das Recht sei ein psychisches Phänomen; es werde deshalb von einer psychischen Grundlage aus geschaffen und wandle sich mit ihr.9 Heute, nach mehr als nochmals einem halben Jahrhundert, ist der biopsychische Charakter des Rechts durch so viele Untersuchungen aufgehellt, dass kein Zweifel daran mehr erlaubt ist. Doch auch seine äußerliche Sichtbarkeit ist soziologisch und politologisch so gut untersucht und − verteilt auf die Institutionen der 5  R. von Jhering

(1907), S. 79. (1907), S. 76. 7  R. von Jhering (1907), S. 44 f.: „Während die Rechtssätze sichtbar auf der Ober­ fläche liegen, während die Rechtsinstitute und Rechtsbegriffe durch ihre praktische Anwendung sich fast von selbst dem Bewusstsein aufdrängen, ruhen jene treibenden Kräfte des Rechts im tiefsten Innern, wirken höchst allmählich, durchdringen zwar den ganzen Organismus, aber treten regelmäßig an keinem einzigen Punkte so deut­ lich hervor, dass man sie notwendigerweise wahrnehmen müsste.“ Jhering begreift sie allerdings nicht als Strukturelemente des Rechts, sondern als die „allgemeinen Gedanken“, die „auf die Gestaltung der praktischen Sätze des Rechts einen bestim­ menden Einfluss ausgeübt haben“. Damit unterscheidet sich sein Ansatz klar von dem hier verfolgten. 8  Er stützt sich seinerseits auf Giambattista Vico (1744/1990). 9  G. del Vecchio (1951), S. 559: „Das Recht ist in jedem Abschnitt seiner Entwick­ lung mit den in diesem wirkenden psychologischen Kräften verknüpft.“ 6  R. von Jhering



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I357

Gesetzgebung, der Justiz und der Verwaltung − dargestellt worden, dass wir sie als Teil der genetischen Entwicklung von Recht ansehen können. Ich bin im Teil I der vorliegenden Arbeit hierauf schon eingegangen (Abschnitte C und D) und habe dort auch darauf hingewiesen, dass die Veränderung der nicht sicht­ baren biopsychischen Basis nur ein Grund für die universelle Entwicklung des Rechts ist. Weitere Gründe entstammten der ökologischen, sozialen und ökonomischen Um­ welt des Menschen – wenngleich diese zusätzliche Basis lediglich so weit zur Gel­ tung kommt, wie ihr die menschliche Psyche Einfluss gewährt hat. Hieran knüpfe ich jetzt an, indem ich neben die für die Entwicklung des Rechts wesentlichen psychi­ schen Faktoren die ökologischen Randbedingungen stelle (unten H) und anschließend die wichtigsten Gesetzmäßigkeiten erörtere, nach denen diese Faktoren und ihre Randbedingungen die Entwicklung des Rechts (als eines hyperzyklischen Systems, vgl. unten J 1) vorangetrieben haben. Die Entwicklung des Rechts selbst erkläre ich demgemäß (unter Rückbezug auf die in Teil II dargestellte antike Rechtsvorgeschich­ te und -geschichte) sowohl als einen auf ständig wiederholten Ontogenesen beruhen­ den Teil der Anthropogenese (unten J 2) als auch als eine in gesetzmäßiger Phasen­ folge (unten J 3) verlaufenden Teil der Soziogenese (unten J 4). Sie kommt in höhe­ rem Gliederreichtum und Integration (‚Anagenese‘) der jeweils folgenden Rechtszu­ stände zum Ausdruck und kann rückblickend als orthogenetisch und weitgehend irreversibel verlaufend beurteilt werden (unten J 5).

1. Rückschau und Vorschau (α) Die Faktoren und Randbedingungen für die Rechtsentwicklung. Ich werde meine Untersuchung mit jenen dynamischen Faktoren beginnen, wel­ che die Rechtsgenese unter gleichen Randbedingungen zu jeweils gleichen, unter unterschiedlichen Randbedingungen zu jeweils unterschiedlichen histo­ rischen ‚Rechtsordnungen‘ (als ausdifferenzierten Erscheinungsformen des ‚Rechts‘) geführt haben:10 mit den bio-psychischen Faktoren. Ihre für die Rechtsgenese wichtigen biotischen Anteile waren vor allem auf die Nerven­ zellen des menschlichen Gehirns konzentriert und wurden dort von den psychischen Anteilen, welche die eigentlich vorantreibenden Kräfte der Evolu­ tion waren, als Basis benutzt. Deshalb sind auch die im menschlichen Gehirn etwa stattfindenden biotischen Mutationen und Selektionen als Mechanismen sowie Anagenese und Orthogenese als deren Richtungstendenzen nur auf­ grund derjenigen Veränderungen wirksam geworden, die sie in der mensch­ lichen Psyche erzeugt haben. Zu ihrer Wirksamkeit benötigten sie außerdem 10  Siehe oben A 5. Zur Lösung der Aufgabe habe ich sechs methodische Schritte benannt: (1) Identifizierung des historischen Ausgangszustands; (2) Festsetzung des Zielzustands, bis zu dem die Entwicklung verfolgt werden soll; (3) Identifikation der Differenz zwischen Ausgangs- und Zielzustand; (4) Erforschung der treibenden Fak­ toren für die Entwicklung; (5) Erforschung der Randbedingungen für das Wirksam­ werden der Faktoren; (6) Feststellung mittels interkulturellern Rechtsvergleichungs, ob eine allgemeine Gesetzmäßigkeit besteht (siehe oben B 2).

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

Randbedingungen, bestehend aus Faktoren, die teils der natürlichen Umwelt angehörten, teils dem soziokulturellen Umfeld zuzurechnen sind – es waren in ältester Zeit vor allem der natürlichen Umwelt angehörige ökologische, in jüngerer Zeit vor allem dem soziokulturellen Umfeld angehörige soziokultu­ relle Faktoren.11 Während frühere Untersuchungen zur Genese des Rechts sich hauptsäch­ lich mit dem Einfluss befasst haben, der von Veränderungen entweder inner­ halb der menschlichen Psyche oder von ihrem sozialen Umfeld ausgingen,12 wird die vorliegende Untersuchung den Blick vor allem auf die Wechselwir­ kung zwischen menschlicher Psyche und sozialem Umfeld und deren Bedeu­ tung für die Rechtsentwicklung richte. Weil sie dabei die Identität eines ein­ heitlichen Kernbegriffs des Rechts voraussetzen muss, wiederhole ich dessen Definition: „Recht ist eine Summe von sozialen Verhaltensnormen; es bewertet soziale Prozes­ se und Zustände, knüpft an sie positive oder negative Folgen, begründet Ansprüche und Verpflichtungen und wirkt so als Kontrollinstanz über das soziale Leben; es beruht entweder auf einem sozialen oder politischen Willen oder auf spontanen psychosozialen Prozessen; es wird sprachlich verlautbart und ist im Streitfall unter Einschaltung kompetenter Instanzen nach allgemeinen Verfahrensregeln durchsetz­ bar.“

Alle Veränderungen betrafen die Randbereiche dieses Kernbegriffs. Ge­ schichtlich habe ich sie in Teil II für sechs Rechtsordnungen aufgezeigt und dort auch bereits auf ihre Gründe aus dem soziokulturellen Umfeld hinge­ wiesen. Soweit die Gründe sich glichen, bestanden sie erstens in der Vergrö­ ßerung und Verdichtung der Bevölkerung; zweitens in der Stratifizierung der sozialen Verhältnisse mittels Ausbildung politischer Institutionen; drittens in der Kulturierung der natürlichen Umwelt mittels verbesserter Werkzeuge und Methoden; und viertens in der Kulturierung des sozialen Umfelds u. a. mit­ tels Gebrauchs einer das gesprochene Wort perpetuierenden Schrift. Überein­ stimmend hatten sie komplexere, hierarchisch aufgebaute und abstrakte Rechtsordnungen zur Folge. Deshalb war es historisch sinnvoll, zwischen einem Frührecht innerhalb von sich ausdifferenzierenden und sich stratifizie­ renden prästaatlichen Gemeinschaften und einem protostaatlichen Recht in­ nerhalb von ausdifferenzierten, stratifizierten und bürokratisch organisierten Sozietäten zu unterscheiden.13 11  Die Randbedingungen haben zum einen die ontogenetische Ausreifung derje­ nigen Tendenzen angeregt, die dem Leben und Überleben dienten, und zum anderen die Entwicklung derjenigen Tendenzen inhibiert, die man stigmatisiert und tabuisiert hatte (siehe oben C). 12  Siehe oben D. 13  Siehe oben E.



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I359

(β) Die Stufen der Rechtsgenese. Innerhalb des prästaatlichen Stadiums habe ich die sozialen Gemeinschaften zunächst gemäß dem Drei-StufenSchema von M. D. Sahlins und E. R. Service eingeteilt. Größe und organisa­ torische Komplexität waren dafür entscheidend: Auf die erste Stufe habe ich die familiär organisierten Horden (band societies), auf die zweite Stufe die – von patri- oder matrilinearen lineages zusammengehaltenen – Stammesge­ sellschaften (tribal societies) und auf die dritte Stufe die zentralisierten Häuptlingsschaften (chiefdoms) gestellt. Ergänzt habe ich das Schema um eine vierte Stufe, auf der ich den Besonderheiten von Königreichen (kingdoms) Rechnung getragen habe, nämlich dass sie regelmäßig mehrere chiefdoms in sich vereinigten, über eine vollständig ausdifferenzierte Gesell­ schaftsstruktur verfügten und von einer Hauptstadt aus bürokratisch verwaltet wurden. Dadurch trugen sie bereits staatsähnliche Züge und bereiteten den Übergang zu den sich nahtlos anschließenden (Proto-)Staaten vor. Die prästaatliche Genese wurde von einer prärechtlichen ständig begleitet: Den Beginn bildete das pränormative Brauchtum in den band societies. Ihm folgten die normative Sittenordnung in den tribal societies und das von mir sogen. ‚Frührecht‘ in den chiefdoms. In den kingdoms wurde dieses Früh­ recht dann erstmals in Verfassungs- und Gesetzesnormen aufgeteilt, ferner wurden viele seiner Einrichtungen (Regierung, Verwaltung und Gerichte) institutionalisiert. Für den Übergang zum Recht im vollen Sinne ermangelte es daher hauptsächlich an dessen Perpetuierung in Schriftdokumenten; dazu kam es erst in den Protostaaten.14 Mit der Erfindung der Schrift endete das vorgeschichtliche Zeitalter. Die im historischen Teil II dargestellten (Proto-)Staaten (states) − Mesopotamien (Sumer, Akkad, Babylon), Ägypten, Indien, China, Griechenland (Kreta, At­ tika) und Rom − traten etwa ab 3500 v. u. Z. nicht nur in die Geschichte ein, sondern sie hinterließen auch schriftliche Zeugnisse ihres Werdens und Wir­ kens. Ihre Entwicklung habe ich so weit verfolgt, wie sie auch für die Genese des Rechts bedeutsam war. Übereinstimmungen und Unterschiede hielten sich insoweit die Waage. Übereinstimmend entwickelten sie sich, (a) indem sie politisch eine Hauptstadt zum Zentrum ihrer Herrschaft machten und ihre Herrschaft teils theologisch, teils anthropologisch legitimierten und mittels schriftkundiger Beamter bürokratisch organisierten; (b) indem sie ökonomisch ein einheitliches Besteuerungssystem schufen, das an die Stelle der bisher freiwilligen ‚Geschenke‘ an den Herrscher trat und den Beamten er­ laubte, Steuern als verbindlich geschuldete Leistungen zugunsten der Herr­ schaftszentrale einzuziehen; und (c) indem sie juristisch einen Teil der Ge­ richtsbarkeit von der Laienebene auf Instanzgerichte verlagerten, wo zumeist 14  Siehe

oben F.

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

ausgebildete Priester oder Schreiber15 Recht sprachen und dadurch ein zu­ vor unerreichtes Maximum an Rechtseinheit und Rechtssicherheit gewähr­ leisteten.16 (γ) Die Funktionen des Rechts. In den Grenzen der dargestellten histori­ schen (vorgeschichtlichen und geschichtlichen) Entwicklung blieben die Funktionen eines rechtlichen ‚Kernbereichs‘ gleich. Sie bestanden in jedem Stadium zum einen in der Einpassung der Menschen in die Erfordernisse sozialer Systeme und zum anderen in der Anpassung der Systeme sowohl an die individuellen Bedürfnisse17 der Menschen als auch an ihre natürliche Umwelt. Veränderliche Größen waren dagegen die Sozialsysteme sowie die Zahl der Mitglieder, weshalb sie ständig neu aufeinander abgestimmt werden mussten. Ihrerseits auslösend für Veränderungen der Sozialsysteme waren Veränderungen der Umwelt, in die die Menschen kulturierend, etwa städte­ baulich, eingriffen und eingreifen mussten, weil ihre zahlenmäßige Vergröße­ rung eine Verdichtung der Besiedlung erforderte. Die Verdichtung der Be­ siedlung hatte dann eine Verdichtung auch der rechtlichen Normenstruktur zur Folge, weil sie Regelungen für Verhaltensweisen erforderte, die man zu­ vor dem freien Belieben überlassen konnte. Wenn gleichwohl ein wissenschaftlich einigermaßen einheitlicher Befund die Historiogenese des Rechts nicht nur innerhalb einzelner Völker, sondern auch innerhalb der Menschheit insgesamt erhellt, dann vor allem aufgrund 15  Schreiber waren in der frühen Antike, wo kaum einer lesen und schreiben konnte, hoch angesehen ‒ allerdings nur dort, wo man die Schrift höher achtete als das gesprochene Wort. Das allerdings war nicht überall der Fall, generell nicht in Indien, nicht immer in Griechenland (Pythagoras, Sokrates) und in Israel (Jesus), wo das von einer Autorität gesprochene (lebendige) Wort über dem geschriebenen (toten) Buchstaben thronte. Denn „im Anfang war das Wort“ und nicht die Schrift; Jesus war das Fleisch gewordene Wort Gottes, weshalb er es sprach und nicht schrieb. Selbst Faust stellt bei Goethe (v. 1716 ff.) das Manneswort noch über „ein Pergament, be­ schrieben und beprägt“. 16  Vgl. oben G. 17  Zum Begriff A. Krapp (2005), S. 637: „Bedürfnisse sind keine Motive oder in­ haltlich definierte Strebungen, im Sinne von kognitiv repräsentierten Zielvorstellun­ gen der handelnden Person. Es handelt sich vielmehr um ein System subbewusst agierender ‚dynamischer Triebfedern‘, die auf unspezifische Weise für die Sicherstel­ lung der grundlegenden Erfordernisse der organismischen Entwicklung Sorge tra­ gen. … Die Begründung des Postulats grundlegender psychologischer Bedürfnisse basiert in erster Linie auf theoretischen Überlegungen und nicht auf empirischen Forschungsbefunden. Dabei handelt es sich nicht um philosophische Spekulationen oder willkürlich getroffene Annahmen, sondern um logisch abgeleitete Argumente auf der Basis unbezweifelbarer Sachverhalte und nicht hinterfragbarer Prinzipien der Entwicklung lebender Organismen.“ Ausführlich dazu und zur Bedeutung der menschlichen Grundbedürfnisse für die juristischen Grundrechte E.-J. Lampe (1970a), S.  207 ff.



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I361

jener gemeinsamen Conditio humana, worin sowohl die Genese als auch die Geschichte ihren Ursprung haben und die anfangs noch klar hervortrat: Die Existenzweise des Menschen war gleichartig, die menschlichen Bedürfnisse waren überschaubar und die Möglichkeiten, sie zu befriedigen, zumindest grosso modo von der näheren Umgebung und den (beschränkten) Möglich­ keiten ihrer Kulturierung abhängig. Selbst das Kräftemessen der Völker be­ schränkte sich noch auf örtliche ‚Feldzüge‘ bzw. auf die Unterwanderung eines Volkes durch ein vital stärkeres. Das alles änderte sich erst später, als die Menschheit (etwa in der Mitte des 4. Jahrtausends) sich der Fülle in ihr schlummernder, bisher angestauter Kräfte bewusst wurde und ein erster akti­ ver Abschnitt ihrer Entwicklung begann: als Wanderungen vom Land in die Städte einsetzten, als die Bevölkerung sich dort zusammenballte und sich sowohl ökonomisch als auch sozialpolitisch stratifizierte, als für den Fern­ handel Verkehrswege geschaffen wurden, als an den Grenzen der Völker sich immer eigenständiger werdende Kulturen begegneten, einander über die Grenzen hinweg befruchteten und ein immer schnelleres Erblühen stimulier­ ten18 – kurzum, als in die Menschheit eine umfassende Bewegung kam und von jetzt an neben ihre Genese eine eigenständige Geschichte trat.19 Die genetischen Entwicklungsfaktoren hatten dieser Entwicklung bisher zwar vorgearbeitet, indem sie u. a. den Rechtsgedanken inmitten jener Urnormen keimen ließen, die wir unter dem Begriff ‚Sitte‘ zusammenfassen. Jetzt ent­ faltete dieser Gedanke jedoch seine ihm innewohnende Kraft – psychisch angetrieben durch freigesetzte Potenziale, sozial kanalisiert durch den Druck, den die Bevölkerungsvermehrung und ein immer komplexer werdendes sozi­ ales Umfeld ausübten. Zur Rechtsgenese trat die Rechtsgeschichte hinzu, und es begann jene ‚Historiogenese des Rechts‘, die dann zum wesentlichen Teil der Sozialgeschichte der Menschheit wurde. Für die Funktionen des Rechts wurden vor allem zwei genetisch überlie­ ferte Bedürfnisse leitend: diejenigen nach einer vorhersehbaren und nach ei­ ner gerechten Welt.20 Die Menschen erkannten, dass nur innerhalb kleiner sozialer Einheiten ein öffentliches Gedächtnis individuelles Verhalten spei­ 18  A. Powell/St. Shennan/M. G. Thomas (2009) haben die Abhängigkeit der Kul­ turentwicklung von der Bevölkerungsdichte durch mathematische Simulationen nach­ gewiesen. 19  Als ‚Geschichte‘ versteht man die Darstellung der menschlichen Vergangenheit begrenzt auf diejenigen Veränderungsprozesse, in denen sich ein die einzelnen Ereig­ nisse übergreifender Sinn offenbart (vgl. dazu oben I A 1). Es handelt sich also um einen geisteswissenschaftlichen Begriff. Beginnen lässt man die Geschichte meistens erst mit der Erfindung der Schrift. Die der Geschichte vorangehende ‚Vorgeschichte‘ bezeichnet V. G. Childe (1951, p. 51) als „a bridge between human history and the natural science of zoology, paleontology, and geology.“. 20  Dass beide Bedürfnisse auch heute noch tragende Pfeiler jeder Rechtsordnung sind, wird später ausgeführt werden (vgl. unten K 7). Ihr Vorhandensein wird sowohl

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

chern und sozial bewerten kann, dass innerhalb großer sozialer Einheiten dagegen generelle Normen die Beziehungen ordnen und dass die Normen umso abstrakter sein müssen, je größer die sozialen Einheiten und je anony­ mer die individuellen Beziehungen darin sind. Diese Normen mussten sie jedoch aktiv erst schaffen. Ihre Funktion musste es werden, statt des indivi­ duell erwarteten das erfahrungsgemäß übliche Verhalten zu bewerten, die expérience des tous also durch die expérience générale zu ersetzen und das generell als sozialadäquat bewertete Verhalten zum allgemein verbindlichen zu erheben. Beispiel: In den kleineren Gemeinschaften hatte jedes Mitglied seine Reputation, sein soziales ‚Ansehen‘. Altruistisches Verhalten galt darin als vorteilhaft, Egoismus als nachteilig. Innerhalb der Horden bemühten sich deshalb die jungen Männer nicht nur um Erfolg bei der Jagd, sondern gaben auch besonders viel von den begehrten Teilen der Beute an andere ab, um ihre Reputation zu erhöhen – und um später viel­ leicht ein besonders begehrtes Mädchen als Frau zugeteilt zu bekommen. In den größeren Gesellschaften der Städte, wo es für altruistisches Verhalten kaum noch Belohnungschancen und folglich auch keine äußeren Anreize mehr gab, verlor sich solches Verhalten. Egoismus gewann stattdessen die Oberhand und musste, da sozial inadäquat, von nun an normativ unterdrückt werden.

2. Anthropologische Faktoren der Rechtsgenese Die anthropologischen Gründe, die zur Rechtsgenese hinführten und keim­ haft erstmals im 4. Jahrtausend v. u. Z. sichtbar wurden, verstärkten ihre Be­ deutung während der sogen. Achsenzeit (800‒200 v. u. Z.) und blieben auch dann noch im Vordergrund, als sie in Wechselwirkung mit soziologischen, ökologischen, religiösen und sozialpolitischen Gründen traten. Sie sollen daher am Beginn der folgenden Untersuchung stehen. a) Bedürfnisse, Bestrebungen und Interessen Die wichtigsten Gründe für die Genese zum Recht ergaben sich aus dem menschlichen Bestreben, die natürliche und die soziale Umwelt aktiv auszu­ formen: gemäß den vitalen Bedürfnissen eines animal naturale, gemäß den personal-sozialen Bedürfnissen eines animal sociale und gemäß den meta­ physischen und religiösen21 Bedürfnissen eines homo metaphysicus et reliin der psychologischen als auch ökonomischen Literatur reichlich belegt. Zur „spon­ tanen Normentstehung“ allgemein vgl. Ch. Henke (2010), S. 131 ff. m. Nachw. 21  Eine Begründung für diese Bedürfnisgruppe findet sich bei A. Schopenhauer (1844/1961), Bd. 2, S. 206 f.: „Erst nachdem das innere Wesen der Natur … sich durch die beiden Reiche der bewusstlosen Wesen und dann durch die lange und breite Reihe der Tiere rüstig und wohlgemut gesteigert hat, gelangt es endlich beim Eintritt



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I363

giosus. Alle frühen Hochkulturen wiesen darum Institutionen und Normen auf, die dem menschlichen Streben (α) nach individuellem Leben und ge­ meinschaftlichem Überleben, (β) nach personaler Entfaltung und sozialer Integration sowie (γ) nach Existenzerhellung und metaphysischer Integration zur Erfüllung verhelfen sollen. Diese Dreiteilung der menschlichen Grundbedürfnisse (basic needs)22 stimmt nicht nur mit der psychoanalytischen Einteilung in Es-, Ich- und Über-Ich-Bedürfnis­ se weitgehend überein, sondern auch mit einer Vielzahl anders orientierter psycholo­ gischer Untersuchungen des vorigen Jahrhunderts.23 Sie unterscheidet sich von der psychoanalytischen Dreiteilung, indem sie in den Ich-Bereich die soziale Komponen­ te und in den Über-Ich-Bereich die integrative Komponente einbezieht.24 Die Einbe­ ziehung dieser Komponente ist gerade für eine normativ ausgerichtete Untersuchung wichtig, weil die meisten sozialen Institutionen und Normen sozialen oder metaphy­ sischen Bedürfnissen dienen. Die Entwicklung von Institutionen und Normen stimm­ te deshalb weitgehend mit derjenigen überein, die die entsprechenden Bedürfnisse durchliefen: Sie veränderten sich umso langsamer, je vitaler und damit universaler die Bedürfnisse waren, dagegen umso schneller, je geistiger und damit kulturell abhängi­ ger das Anliegen war, das die Bedürfnisse verfolgten.25

(α) Vital-organische (Lebens- und Überlebens-)Bedürfnisse der Menschen bildeten die Basis für soziale, später auch politische Normen und Institutio­ nen zum Schutz vor allem von Leib und Leben,26 Familie, Besitz und Ei­ gentum. Weil biotisch fundiert, veränderten sie ihren Charakter nur langsam; ihr normativer Schutz hatte demgemäß während des gesamten hier unter­ der Vernunft, also im Menschen zum ersten Male zur Besinnung: dann wundert es sich über seine eigenen Werke und frägt sich, was es selbst sei. Seine Verwunderung ist aber umso ernstlicher, als es hier zum ersten Male mit Bewusstsein dem Tode ge­ genübersteht und neben der Endlichkeit alles Daseins auch die Vergeblichkeit alles Strebens sich ihm mehr oder minder aufdringt. Mit dieser Besinnung und dieser Ver­ wunderung entsteht daher das dem Menschen allein eigene Bedürfnis der Metaphysik: er ist somit ein ‚animal metaphysicum‘.“ 22  Zur Dreiteilung sowie weiteren Unterteilungen der Grundbedürfnisse vgl. ­E.-J. Lampe (1970a), S. 230 ff. 23  Zur Hierarchie der Bedürfnisse siehe u.  a. E. E. Lawler III und J. L. Suttle (1972), welche das berühmte fünfstufige Konzept von A. H. Maslow (1970) kritisch würdigen und selber ein zweistufiges Konzept (biotische Bedürfnisse auf einer niede­ ren, alle anderen Bedürfnisse auf einer höheren Stufe) vorschlagen. 24  Freud hat die sozialen Einflüsse zugunsten einer Überbetonung der Sexualität vernachlässigt; deshalb hat er ihre Rolle niemals genauer untersucht. Neo-Freudianer wie beispielsweise Erik H. Erikson haben diesen Mangel zwar erkannt und ihm abzu­ helfen versucht, sind aber auf so wichtige Konzepte wie etwa Empathie und Altruis­ mus niemals intensiv eingegangen. Vgl. dazu noch unten J 2 a cc. 25  Vgl. dazu S. Gasiet (1981), S.  249 ff. 26  In dieser Zusammenstellung werden traditionell nur schwere Eingriffe in die körperliche Integrität vom normativen Schutz erfasst, stattdessen zusätzlich aber auch Eingriffe, die die Arbeitskraft erheblich mindern.

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suchten vorgeschichtlichen und geschichtlichen Zeitraums einen nahezu identischen Inhalt. Lediglich das Schutzbedürfnis für Besitz und Eigentum veränderte sich signifikant: Es war anfangs intrasozietär begrenzt auf das, was der Einzelne und seine Familie zum Leben und zur Arbeit brauchten, intersozietär auf das, was das Überleben einer Population sicherte;27 seit der Sesshaftigkeit umfasste es dagegen außer Grund und Boden auch z. B. die Beute aus Eroberungskriegen (darunter Frauen, Kinder und Sklaven) und Luxusgegenstände. Ich versuche, die Fülle der Fakten in eine der genetischen Entwicklung entsprechende Reihung zu bringen. • Innerhalb aller nomadisierenden und der meisten übrigen Horden gab es weder überindividuelles noch individuelles Eigentum. Deshalb gab es hierfür auch keine Schutznormen, sondern stattdessen solche für bloße Nutzungsbefugnisse:28 eines­ teils der gesamten Horde an einem Territorium,29 andernteils des Einzelnen an selbst hergestellten Geräten sowie an der individuellen Jagdbeute bzw. an individu­ ell eingesammelten Früchten. Brauchtum oder Sitte regelten ferner die Entschei­ dung über das Umherziehen zwecks Nahrungssuche sowie das gemeinsame Errich­ ten von Hütten und Zelten nach der Ankunft an einem festen Ort. Dort organisier­ te man dann die weitere Nahrungssuche, etwa das Aufstellen von Fallen und die Beteiligung an der gemeinsamen Jagd. Wer sich nicht fügte, gar heimlich versuch­ te, sich Sondervorteile zu verschaffen, wurde bestraft und im Wiederholungsfall aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. In Bezug auf die gemeinsame Jagdbeute und das Ergebnis gemeinsamen Sammelns gab es Teilungsregeln, u. U. auch in Bezug auf individuelle Vorräte an Nahrung, falls andere Hordenmitglieder in Not waren. Diese Regeln waren meistens sehr differenziert; gleichwohl waren sie jedem Er­ wachsenen bekannt, weil andernfalls sofort Streit entstand. • Innerhalb der segmentären Stammesgesellschaften lockerte sich die gemeinschaft­ liche Organisation des Lebensunterhalts zugunsten größerer Eigenvorsorge. Nor­ men regelten jetzt vor allem die Verteilung von Ackerflächen, da hiervon das Wohl 27  Grundsätzlich unterlagen die organisch-vitalen Bedürfnisse einer natürlichen Befriedigungsgrenze: Essen beispielsweise konnte jeder nur so viel, bis er satt war. Dagegen konnte er Eigentum über das benötigte Maß hinaus anhäufen. Eine natür­ liche Begrenzung gab es ferner für umherziehende Horden: Jeder konnte nur so viel mitnehmen, wie er tragen konnte. Sobald der Mensch jedoch sesshaft wurde, entfiel diese Begrenzung, und von da an vergrößerte sich der Abstand zwischen Besitzenden und Habenichtsen, zwischen Reichen und armen Schluckern. 28  Diese Nutzungsrechte sind nicht mit dem Eigentum gleichzusetzen. So erlaubt zwar § 903 Satz 1 BGB dem Eigentümer ebenfalls, „mit der Sache nach Belieben zu verfahren und andere von jeder Einwirkung auszuschließen“. Doch im Unterschied zu den bloßen Nutzungsbefugnissen endet dieses Recht nicht, wenn der Eigentümer sein Interesse an der Ausübung verliert. Um den Unterschied zu verdeutlichen: Bei den Inuit musste derjenige, der eine Sache nicht mehr brauchte, der Bitte eines anderen entsprechen, sie ihm zum Gebrauch zu überlassen. Beschädigte der Empfänger dann die Sache oder verlor er sie, hatte der Geber keinen Anspruch auf Schadensersatz, denn er hatte ja keinen Schaden erlitten (K. Birket-Smith, 1929, p. 264 f.). 29  Einzelheiten dazu bei U. Wesel (1985), S. 99 ff.



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I365 der einzelnen – nunmehr stärker aus der Gemeinschaft herausgehobenen – Famili­ en abhing. Verteilt wurde Land im Allgemeinen ‚nach Bedarf‘: Große Familien erhielten größere, kleine kleinere Flächen – wiederum allerdings meistens nicht als Eigentum, sondern nur zur Nutzung. Hatte eine Familie ein Stück Land im Graboder Hackbau allein bearbeitet oder durch die Anlage von Bewässerungseinrich­ tungen fruchtbar gemacht, stand ihr i. d. R. auch allein das Ernterecht an den Früchten zu.30 Ein dem Eigentum angenähertes Nutzungsrecht gab es daneben frühzeitig am Vieh. Damit trug man der Verpflichtung zu stärkerer Eigenvorsorge Rechnung; denn Vieh war gleichzeitig eine Erweiterung des Lebensraumes, Braut­ preis und Konfliktlöser par excellence, weil es zum Ausgleich von Forderungen diente. Jede Familie hatte eine ihr gehörende Herde, die auf einem eigens für sie abgegrenzten Weideland graste und aus einem eigens für ihren Bedarf reservierten Brunnen trank. Soweit Familien sonst etwas zu eigen hatten, war die Verfügungs­ macht darüber bedarfsgerecht aufgeteilt: Was zur Lebensgrundlage diente – außer dem Vieh vorallem das landwirtschaftliche Gerät –, stand der Familie insgesamt zu und konnte, wenn überhaupt, nur mit Zustimmung aller veräußert werden. Was einem Familienmitglied persönlich gehörte – etwa dem Mann die Waffe, der Frau der Schmuck –, stand individuell zur Verfügung. Von diesen Regeln gab es Ausnahmen – ob schon in frühester Zeit, ist allerdings ungewiss. Beispielsweise kannten die heute im Nordwesten Guatemalas lebenden Ixil-Maya31 keine Nutzungsrechte, sondern nur individuelles Eigentum sowohl am Land als auch am beweglichen Vermögen. Dementsprechend wurde das Land von ihnen zwar gemeinschaftlich bearbeitet (die Felder von den männlichen Familien­ mitgliedern, die Gärten von den weiblichen), jedoch nach dem Tode individuell vererbt. Für die Vererbung des Viehs und der Arbeitsgeräte war die Nutzung zu Lebzeiten entscheidend: Die Söhne erhielten die Rinderherden und den Pflug, die Töchter die Ziegen und Schafe sowie die Schaufeln.

• Während die soziale Struktur der Horden und Stammesgesellschaften eng mit der Art der Nahrungsbeschaffung verbunden war – bei den Horden mit der Erbeutung von Wild und dem Sammeln von Früchten, bei den Stammesgesellschaften mit der Domestizierung von Wild und der Erzeugung von Früchten –, veränderte sie sich 30  Typisch waren sind die Verhältnisse bei den Damara, einem vorwiegend als Jäger und Sammler lebenden, daneben aber auch Gartenbau und Kleinviehhaltung betreibenden Volk in Namibia: Wer ein Stück Land urbar gemacht und bebaut hatte, durfte die Früchte ernten. Zog er weg, ging das Recht am Land auf seinen Clan über. Jedes Mitglied konnte das Land nunmehr nutzen, sofern es sich die Einwilligung beim Oberhaupt der Sippe eingeholt hatte. Dagegen waren offene Quellen und künst­ lich geöffnete Wasserlöcher von vornherein Gemeingut (H. Vedder, 1923, S. 78 f.). 31  Zu ihnen H. Nachtigall (1978), S. 91  ff., 337. Einleitend (S. 7) schreibt er: „Trotz ihrer geringen Zahl ist die Erforschung der Ixil in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung: Sie wohnen in einem geographisch klar abgegrenzten, abgelegenen Ge­ birgs-Gebiet und sind deshalb am wenigsten kulturell beeinflusst worden. … [Im ‚Akkulturations-Index‘ für mesoamerikanische Stämme] wurden die Ixil nach den am wenigsten akkulturierten Lacandonen an 2. Stelle eingeordnet. Tatsächlich lassen sich bei ihnen sowohl relativ altertümliche Züge studieren als auch die modernen Akkul­ turations-Probleme, die sich aus dem Zusammenstoß mit dem ‚Maschinen-Zeitalter‘ ergeben.“

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

in den Häuptlingsschaften aufgrund einer erstmals überwiegend politischen Orga­ nisation: Alle darin zusammengefassten Gemeinschaften waren hierarchisch struk­ turiert und standen unter einheitlicher und i. d. R. erblicher politischer Führung.32 Sozial waren die Mitglieder lockerer als bisher verbunden – die straffere politische Organisation glich dies aus, indem sie jedem Mitglied eine Funktion innerhalb der Gemeinschaft zuwies. Die dafür erforderlichen Normen erließ der Häuptling; ihre Einhaltung ließ er durch Helfer überwachen.33 Für das Wohl des gesamten Stam­ mes stand nach wie vor die Befriedigung der organisch-vitalen Bedürfnisse seiner Mitglieder im Vordergrund: Daher war es wichtigste Pflicht des Häuptlings, für die Fruchtbarkeit des Landes Sorge zu tragen. War der Himmel ihm dabei gewogen, erwarb er Ansprüche auf Mithilfe bei der Bearbeitung seiner eigenen Felder und beim Einbringen seiner Ernte, darüber hinaus auf einen Teil der Früchte von den Feldern der Stammesmitglieder. Nächst wichtig und einkommensträchtig war seine Pflicht, Raubzüge gegen die Nachbarstämme durchzuführen. Hatte er Erfolg, stand ihm bei der Teilung der Beute (meistens Vieh, aber auch Frauen und Kinder) wie­ derum ein Sonderanteil zu. Und da er durch himmlische Fügung und kriegerische Erfolge somit schnell reich werden konnte, hatte er kompensatorisch die Pflicht, opulente Feste für seine Untertanen zu veranstalten, bei denen er sich als der ‚gro­ ße Versorger‘ gerieren konnte und musste – weshalb solche Feste manchmal meh­ rere Wochen dauerten. • Der wirtschaftliche Übergang von den Häuptlingsschaften zu den Königreichen war nicht einschneidend genug, um die Versorgungskultur der Bevölkerung erheb­ lich zu verändern. Wann und wie der Übergang stattfand, lässt sich heute ohnehin nicht klären. Die Mehrzahl der Königreiche entstand in Westafrika und dort wahr­ scheinlich nicht schon im Altertum, sondern erst weitaus später. Hauptgrund war jeweils das starke Bevölkerungswachstum in fruchtbaren Gegenden. Der Sied­ lungsraum reichte dann bald nicht mehr aus, und wenn er sich nicht erweitern ließ, konnten die Häuptlinge ihre Untertanen zwingen, für das ihnen zugeteilte knappe Land Steuern zu entrichten bzw. Militär- oder Arbeitsdienste zu leisten. Viele Häuptlinge beanspruchten sogar von vornherein das gesamte Land für sich und beließen ihren Untertanen nur das Untereigentum, oder sie machten sie zu Päch­ tern, deren Abgabepflichten sie anschließend beliebig erhöhen konnten. All das 32  Vgl. dazu oben F 2 c. Das Ausmaß der Institutionalisierung unterlag der Ent­ wicklung, und zwar sowohl was die Festigkeit der Institutionen als auch was ihre Bedeutung für das soziale Leben anbelangt. Die Entwicklung schritt zumeist kontinu­ ierlich zu einem Mehr voran. 33  Eingeschränkt war die Herrschaft des Häuptlings allerdings durch die Sip­ penoberhäupter und Clanchefs, deren Einfluss umso stärker größer war, je größere und ältere Gemeinschaften sie vertraten. Auch Initiativen zum Wohle des gesamten Stammes konnten auf sie zurückgehen; waren sie untereinander einig, hatte der Häuptling keine andere Chance als ihnen zu folgen. Zu den Kpelle bemerkt D. Westermann (1921), S. 94: „Eine Angelegenheit kann innerhalb einer Ortschaft oder auch mehrerer von den Männern unter sich besprochen werden; ergibt sich da­raus eine übereinstimmende Meinung der Mehrheit, so wird dies dem Oberhäuptling [paramount chief] als Wille des Volkes vorgetragen, und ihm bleibt nur übrig, ihn auszu­ führen. Natürlich hängt es dabei doch von den persönlichen Eigenschaften eines Oberhäuptlings ab, ob er mehr Führer oder Geführter ist.“



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I367 förderte freilich zunächst nur ihren Reichtum. Ihre Herrschaft sicherten die Könige dagegen, indem sie sie zusätzlich organisatorisch zu einer Regierung ausbauten: wenn sie selbst nur deren Spitze bildeten, die Geschäfte dann aber von einem Ka­ binett mit mehreren Ministern führen ließen. Die Minister wurden berufen, damit sich der König mit ihnen über wichtige Fragen beraten, Gesetze vorbereiteten und anschließend ihren Erlass an einen von ihnen übertragen konnte. Regelmäßig wa­ ren darunter ein Minister für die Fruchtbarkeit und einer für die Verteidigung des Landes gegen Feinde. Diese Aufgaben waren besonders wichtig und ihre Delega­ tion für den König besonders vorteilhaft: Sank infolge von Missernten oder von feindlichen Einfällen der Lebensstandard der Bevölkerung, dann trug nicht etwa er die Verantwortung, sondern der jeweils zuständige Minister, der abdanken musste und manchmal auch hingerichtet wurde. Eine weitaus komfortablere Position hatte dagegen der Handelsminister inne: Ihm oblag die (meist unproblematische) Pflege des Handels mit den Ländern, aus denen die immer reicher werdenden Land Lords ihre Luxuswaren importierten. Und vom Reichtum fiel stets auch für ihn einiges ab.

Während wir über die Normen zur Befriedigung der organisch-vitalen Bedürfnisse bei Völkern aus vorgeschichtlicher Zeit nur aufgrund von Rück­ schlüssen aus späterer Zeit etwas wissen (oder zu wissen meinen), verbessert sich die Nachrichtenlage wesentlich dank der Erfindung der Schrift in den frühantiken Staaten. Dort gab es zur Befriedigung der Lebensbedürfnisse offenbar schon seit dem Ende des 4. Jt.s institutionelle Versorgungssyste­ me.34 Ab wann diese auch eine (früh-)rechtliche Basis hatten, wissen wir allerdings nicht; sicher ist lediglich, dass sie von den Stadtstaaten politisch gestützt wurden, da hier die Versorgungsprobleme sich nicht nur komplizier­ ter als auf dem Lande darstellten, sondern auch eine krisenhafte Entwicklung nehmen konnten. Ich übernehme für das folgende Referat die Reihenfolge meiner geschichtlichen Darstellung (oben G). • Mesopotamien: Die dortigen Stadtstaaten schrieben eine jährliche Erzeugungsrate für die Landwirtschaft vor und zogen durch Steuern und Dienstverpflichtungen große Teile des Volkseinkommens ein, um es anschließend u. a. zur allgemeinen Versorgung (einschließlich der Infrastrukturmaßnahmen) zu verwenden. Urnamma, von dessen Gesetzgebung uns Fragmente erhalten sind, rühmte sich bereits, dass er die Waisen nicht den Reichen, die Witwen nicht den Mächtigen, den „Mann von 1 Sheqel“ nicht dem „Manne von 1 Mine“ überantwortete, sondern mit Gewaltta­ ten aufräumte, bewaffnete Einfälle abwehrte und das Kauffahrteiwesen sowie die Viehhaltung vor Gefahren schützte.35 Die Strafdrohungen seiner Gesetze galten dem Schutz u. a. von Leib und Leben sowie von Freiheit und Eigentum. 400 Jahre später klang es bei Hammurapi noch ähnlich, obgleich weniger konkret, wenn er die Wohltaten pries, die er, gestützt auf eine vielköpfige Beamtenschaft, sowohl 34  Dagegen ist nicht anzunehmen, dass es schon im Jungpaläolithikum oder im Neolithikum spezielle soziale Institutionen für Gemeinschaftsaufgaben gab – vgl. H. Müller-Karpe (1998), Bd. I, S. 67 f., 151. 35  LU Prolog.

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„dem Lande“ als auch „den Einwohnern der Ortschaften“ angedeihen ließ.36 Auch war seine Regierungspolitik offenbar stärker gesamtwirtschaftlich ausgerichtet, weil er sich ausdrücklich der Erweiterung des kultivierten Landes rühmte37 und u. a. die Befestigung von Deichen zur Rechtspflicht seiner Bürger gemacht hatte.38 • Ägypten: Anfangs gab es eine staatliche Wirtschaftsplanung nur im lokalen Maß­ stab. Doch etwa seit der 3. Dynastie (Mitte des 3. Jt.s) steigerte sich mit der poli­ tischen und administrativen auch die Planungsmacht des Staates. Die Einwohner wurden in verschiedene Ränge eingeteilt und erhielten u. a. ein (katastermäßig er­ fasstes und qualitativ bewertetes) Stück Land. Diese Zuteilung diente dem Staat gleichzeitig als Bemessungsgrundlage, um einerseits den Nahrungsbedarf aller Einwohner zu sichern und um andererseits die Arbeitspotentiale der Bevölkerung für seine Siedlungs-, Landwirtschafts- und Arbeitspolitik in Anspruch zu nehmen.39 Zur Vorsorge innerhalb der Landwirtschaftspolitik gehörten insbesondere: die Ka­ nalisation des Nils zwecks Bewässerung des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens; die Instandhaltung der Kanäle; die Anschaffung von Gerätschaften für die Boden­ bearbeitung und für die Ernte; die Bevorratung und systematische Verteilung von Getreidesamen zur Aussaat. Die Beamten des Pharaos legten jährlich nach der Nilüberschwemmung durch Verordnungen fest, was wo anzubauen ist und welche Ernteanteile an die staatlichen Speicher abzuliefern sind. Schriftzeugnisse aus dem AR belegen, dass die Masse der Bevölkerung diese staatliche Bevormundung we­ niger als Last denn als Schutz vor den Unwägbarkeiten des täglichen Lebens empfand. Verschaffte sie ihr doch Sicherheit und damit Freiheit, um an den kul­ turellen und sozialen Errungenschaften des Landes teilzunehmen. Erst im NR ­verstärkten sich in der Bevölkerung Individualismus und persönlicher Lebensstil sowie der Bedarf nach einem persönlichen Vermögen als Lebensgrundlage − dann allerdings auch verbunden mit einer erhöhten Verantwortung für das eigene Schicksal. • Indien: Hervorgehobene Funktion des dharma war auch hier, die Schwachen vor den Starken zu schützen. Allerdings sah man das nicht als gleichbedeutend mit dem Streben nach sozialer Gleichheit an; denn die Menschen waren je nach Kaste und Position unabänderlich verschieden. Aber sie hatten ihre vitalen Bedürfnisse gemeinsam. Deshalb betrieb man während der Harappa-Kultur (um 2500–1500) eine allen dienende ausgedehnte Versorgungswirtschaft und richtete zentrale Ver­ teilungsstellen für die landwirtschaftlichen Produkte ein. Diese Versorgungswirt­ schaft endete ebenso wie das Kastenwesen erst, als die Stämme der Ārya ins Land einsickerten. Sie erneuerte sich auch später nicht, als aus den Kleinstaaten der Ārya das Großreich von Magadha hervorging. Denn dessen Hauptsorge galt allein der Wiederherstellung des Kastenwesens (varna), während die Versorgung der Bevölkerung mit landwirtschaftlichen und handwerklichen Produkten nunmehr vom Staat auf die Brāhmanen überging. 36  CH

Epilog. Prolog, col. III Z. 18–20. 38  CH § 53. 39  Für öffentliche Bauvorhaben gab es nach Arbeitsschichten gegliederte Trans­ port-, Arbeiter- und Handwerkerorganisationen. 37  CH



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I369

• In China war die Verwaltung des Reiches schon zu Beginn der Shāng-Dynastie (17. Jh.) so kompliziert, dass dafür eine (schriftkundige40) Beamtenschaft benötigt wurde. Spätestens seit der Zhōu-Dynastie (ca. seit 1050) wurden Landwirtschaft und Viehzucht planmäßig gefördert und die Grundlagen dafür geschaffen, dass nicht nur die Bauern und Züchter selbst, sondern auch die Stadtbevölkerung und der umfangreiche Staatsapparat mit allem Nötigen versorgt wurden. Planungs­ grundlage war die Staffelung des Eigentums am Boden: Das Obereigentum stand dem König zu, das Untereigentum war entsprechend dem Verwandtschaftsgrad zum Herrscherhaus aufgeteilt. Am unteren Ende standen die Bauern als Lehens­ nehmer: Sie waren verpflichtet, den Hauptanteil ihres Arbeitsertrages dem Staat abzuliefern, den dieser dann an die nicht landwirtschaftlich tätige Bevölkerung verteilte. Die nachfolgende Q’ín-Dynastie (ab 221 v. u. Z.) behielt diese ökonomi­ sche Linie grundsätzlich bei, obwohl ihre feudalistische Grundlage inzwischen weggefallen war.41 Doch sah sie neben der Förderung der Landwirtschaft ihre Aufgabe auch in der Entwicklung der Infrastruktur und führte daher groß ange­legte Landwirtschafts-, Verkehrs- und Hydraulikprojekte durch, entwickelte die Seiden­ raupenzucht mittels Maulbeerbaumpflanzungen und baute u. a. die ‚Große Mauer‘ aus gestampftem Lehm (bei Peking aus Stein) zum Schutz des Landes.42 • Israel: Hier wurde das Land von Anfang an einzelnen Familien als Eigentum zu­ geteilt. Dennoch ergab sich aus der ungleichen Qualität des Bodens eine Ungleich­ verteilung des Wohlstands, und diese setzte wiederum eine Spirale in Gang: Wen fruchtbarer Boden reich gemacht hatte, der konnte weiteren Boden hinzuerwerben und einen Teil davon an die ärmeren Bauern verpachten; deren Abgaben vermehr­ ten dann abermals seinen Reichtum. Ein weiteres Absinken der ärmeren Bauern in die Unfreiheit wurde lediglich dadurch verhindert, dass jedem, der seine Pacht nicht zahlen konnte, gemäß der Sitte Kredit gewährt43 und ihm, wenn er zur Rück­ zahlung außerstande war, die Tilgung alle sieben Jahre erlassen wurde.44 Eine weitere soziale Maßnahme bestand darin, dass jeder Reiche den Zehnten seines jährlichen Ertrags den Armen seiner Stadt – dem „niederen Volk, das nichts hat“45 – geben sollte.46 Über Eingriffe des Staates zur Stützung dieses Systems wissen wir wenig. Es funktionierte offenbar hauptsächlich aufgrund der strengen religiösen Gebote, deren Geltung (anders als in Indien) staatlich gestützt und deren Einhaltung (wie in Indien) von den Priestern kontrolliert wurde.

40  Erste datierbare Schriftzeugnisse stammen zwar erst aus dem 13. Jh., deuten aber auf eine sehr viel frühere Erfindung der Schrift hin. 41  Vgl. dazu oben G 4 d α. 42  Näheres u. a. bei O. Weggel (1980), S. 22 ff. 43  2. Mose 22 24; 5. Mose 23 19 f. Nach 3. Mose 25 36 ff. sollte der Kredit zinslos sein. 44  5. Mose 15 1 ff. 45  Jeremia 39 10. 46  5. Mose 14 28 f. Dennoch kam es in der Königszeit zu starken sozialen Unter­ schieden, als das Handelsmonopol der Krone große Schätze zuführte und diese vor allem ihredie Beamtenschaft durch Lehnsvergabe am Reichtum teilhaben ließ. Die Kritik daran ging insbesondere von religiöser Seite aus.

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• Griechenland: Auf Kreta bestanden bereits innerhalb der minoischen Kultur admi­ nistrative Strukturen.47 Und da man keine Kriege führte, war man in der Lage, die wirtschaftliche und technische Entwicklung des Landes voranzutreiben. Viehzucht, Fischerei und Gartenbau versorgten die Bevölkerung ausreichend mit Nahrung, technische Anlagen (Quellhäuser, Kanäle und Leitungen) darüber hinaus mit Was­ ser. Der erwirtschaftete Überschuss wurde teils für den Straßen- und Brückenbau verwendet, teils stand er der in Palästen lebenden Oberschicht für Abwasserkanäle, Badezimmer, Klosetts und sonstigen Luxus zur Verfügung. – Auf dem Festland wurden nach dem Zusammenbruch der mykenischen Herrschaft die Städte (poleis) zu Zentren des wirtschaftlichen Lebens. Hier erlebte auch das Handwerk im 8. Jh. seinen Aufschwung. Allerdings führte die Ausweitung des Handels alsbald zum Preisverfall und nicht nur zur Verarmung, sondern auch zur Verknechtung der bäu­ erlichen Bevölkerung. Viele Bauern waren gezwungen, das Mutterland zu verlas­ sen. Sie taten es per Schiff und gründeten auf den Inseln der Ägäis, in Süditalien und am Schwarzen Meer neue Siedlungen. Erst ab Mitte des 6. Jh.s setzte wieder ein wirtschaftlicher Aufschwung ein. Die öffentliche Hand förderte ihn mit Groß­ aufträgen, weil er politische Stabilität versprach. Auf diese Weise blieb die familiär (mit höchstens zwei Sklaven) betriebene Landwirtschaft bis zum 4. Jh. sowohl der Haupterwerbszweig der Bevölkerung als auch ein Stabilitätsfaktor – den freilich die Oberschicht nutzte, um großartige Feste auf Kosten der Landbevölkerung zu feiern. Die spätere Entwicklung wurde durch den Übergang zur Marktwirtschaft geprägt. Auslöser dafür war die Einführung der Silberdenarmünze (um 500 v. u. Z.), die zunächst nur den Einkauf auf allen attischen Märkten zuließ, schließlich aber so erfolgreich war, dass sie die Märkte von Spanien bis Indien dominierte. • Rom: Über die latinisch-sabinische Urbevölkerung im Umland wissen wir nur, dass sie im Wesentlichen aus Kleinbauern bestand und neben dem Ackerbau haupt­ sächlich Viehwirtschaft betrieb. Am Beginn der historischen Zeit jedenfalls war die Landwirtschaft der Haupterwerbszweig der Bevölkerung. Man betrieb sie aller­ dings – im Gegensatz zur griechischen – großenteils nicht selber, sondern mithilfe der massenhaft versklavten Kriegsgefangenen in Form einer Latifundienwirt­ schaft. – In der Stadt Rom lebte man wie auch sonst in den Städten des Umlands hauptsächlich von den Produkten der außerhalb der Stadtmauer ihre Felder bewirt­ schaftenden Kleinbauern, und führte gleichzeitig mit den in der Stadt lebenden, längst verarmten Kleinbauern einen ständigen Kampf um soziale Gleichberechti­ gung. Hierüber habe ich bereits im geschichtlichen Teil meiner Untersuchung kurz berichtet.48

Zusammenfassung: Vital-organische Bedürfnisse, biotisch fest in den Ge­ hirnen der Menschen verankert, haben von Anfang an dem Leben und Über­ leben das einheitliche Ziel ihrer Befriedigung vorgegeben. Anders allerdings als bei den übrigen Lebewesen revolutionierte sich geradezu beim Menschen 47  Die minoische Palastkultur auf Kreta, die mit einiger Sicherheit vom Bestehen einer Administration zeugt, dauerte von 1950 bis 1450. Die entsprechende (mykeni­ sche) Palastkultur auf dem Festland dürfte vor 1450 begonnen haben und dauerte bis ins 12. Jh. 48  Vgl. dazu oben G 3 α.



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I371

die Art der Befriedigung. Am Beginn standen noch tiergleich die aneignende Nahrungssuche und das nomadische Umherziehender kleiner Gruppen. Spä­ ter jedoch wurden die aneignende Nahrungssuche weitestgehend abgelöst durch die Produktion von Nahrung und das nomadische Umherziehen durch die sesshafte Lebensweise. Noch später bedingte das ständige Anwachsen der Bevölkerung vor allem die Entwicklung kultureller Techniken zur land­ wirtschaftlichen Produktionssteigerung (z. B. bei der Bodenbearbeitung) so­ wie der Organisation einer Vorratswirtschaft (z. B. der Einlagerung von Hartgetreide für die nächste Aussaat). Beides wurde zu Keimen für die Ar­ beitsteilung und den Übergang von einer egalitären zu einer hierarchischen Gesellschaftsstruktur. Abermals später führte dann der Erfolg dieser Neue­ rungen zu weiterem Bevölkerungsüberhang und zur Aufteilung der Besied­ lung in städtische und ländliche Bezirke. Es entstanden Königreiche und Protostaaten, deren Verwaltung man bürokratisch organisierte und deren In­ frastruktur man zugunsten einer umfassenden Versorgung einerseits der gro­ ßen Städte mit Nahrungsprodukten aus der Landwirtschaft (und andrerseits der Dörfer mit Handwerksprodukten aus den Städten) laufend verbesserte. Mittler war der Handel, der zu einem selbstständigen Erwerbszweig wurde. (β) Ethnologen49 und Tiefenpsychologen50 sind sich sicher, dass die Be­ friedigung der vital-organischen Bedürfnisse im Menschen Voraussetzung war für das Aufkeimen von Bestrebungen zu personaler Entfaltung und sozialer Integration. Ebenfalls wesentlich dafür war aber in vorgeschichtlicher Zeit, wahrscheinlich alsbald nach dem Übergang zur Sesshaftigkeit, der Ver­ lust nahezu totaler Anbindung an eine Gruppe, deren Schicksal der Einzelne fast in jeder Hinsicht teilte. Denn diesen Identitätsverlust musste er auffüllen, indem er sich selbst und seine Familie in eine Gemeinschaft mit anderen integrierte. Er blieb infolgedessen zwar animal sociale, aber seine sozialen Bedürfnisse wichen von seinen vital-organischen deutlich ab: Sie waren an­ tinomisch und ließen sich nicht schon durch Integration in eine Gemeinschaft, sondern erst durch die Gewährung von Chancen zur individuellen Entfaltung darin, gar zum Erlangen eines Ranges, befriedigen. Beide Seiten, soziale Eingliederung und individuelle Ausdifferenzierung, ergänzten und begrenz­ ten sich daher gegenseitig.51 Ansätze zur gegenseitigen Begrenzung von Individualität und Sozialität zeigen zwar auch schon die Sozialinstinkte der höheren Wirbeltiere.52 Gleichwohl musste 49  Vgl. etwa M. Mead (1932), P. Parin (1978; 1983), B. B. Whiting/J. H. Whiting (1975), B. Malinowski (1929/1979). 50  Vgl. N. Elias (1976) – zu ihm oben C 2 c bb γ. 51  Typischerweise sind sie also jene ‚eigenen‘ Bedürfnisse, von denen K. O. Hondrich (1983, S. 26) sagt: Sie seien „immer zusammengesetzt aus einem individuellen (selbstbezogenen) und einem kollektiven (auf das soziale System bezogenen) Teil“. 52  Dazu bereits E.-J. Lampe (1992), S.  8 f.

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

nur der weitgehend instinktentbundene Mensch Normen entwickeln, um sein Bedürf­ nis nach Selbstentfaltung innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu zügeln. Im Einzel­ nen galten die Normen der Begrenzung folgender Entfaltungsbedürfnisse: • Freiheit: Begrenzung auf das, was Anderen nicht schadet; • Erwerb und Besitz: habenwollen nur, was die Gemeinschaft jedem auf eigentümli­ che Weise zu haben erlaubt; • Geltung: sich einen angesehenen Rang innerhalb der Gemeinschaft erwerben; • Sozialteilhabe: miterleben, was in der eigenen Gemeinschaft geschieht, mitbestim­ men, was in ihr geschehen soll; • Kulturteilhabe: die Kultur der eigenen Gemeinschaft in sich aufnehmen und an ihrer Entwicklung mitwirken; • Bildung sozialer Subsysteme: sich mit anderen zusammenschließen zu einer Grup­ pe, die in eine größere Gemeinschaft integriert ist (oder integriert werden kann).

Sobald es antike Sozialordnungen gab, trugen sie deshalb einerseits dem Bindungsbedürfnis des Einzelnen Rechnung, schoben sie andererseits dem damit verbundenen Bestreben nach Persönlichkeitsentfaltung von vornherein einen Riegel vor, um dauernde Rangstreitigkeiten innerhalb der Gruppe zu vermeiden. Erst als die Gruppen größer wurden und stärkerer Ordnungskräfte bedurften, um handlungsfähig zu sein, ließen sie eine stärkere Stratifizierung zu. Denn man erkannte jetzt die Gefahr einer allgemeinen Schwächung, wenn man die besonderen Fähigkeiten Einzelner nicht nutzte. Und in der Tat schlug sich der Zugewinn sehr schnell in besseren Lebens- und Überlebens­ bedingungen nieder, sodass stratifizierte Gesellschaften einen höcheren Zu­ wachs neuer Mitglieder erhielten und schließlich der nahezu einzige Gesell­ schaftstyp waren. Am stärksten war der Zuwachs an Mitgliedern dort, wo die Gesellschaften zum Bau von städtischen Siedlungen übergingen. Denn einesteils wurden zur Eingewöhnung in die städtische Lebensform viel Intelligenz und Organisa­ tionsgeschick benötigt. Doch andernteils ermöglichte die städtische Lebens­ form ein rapides Bevölkerungswachstum, weil Handwerk und Verwaltung, Religion und Wissenschaft, die hier konzentriert wurden, nach ständig neuen Arbeitskräften mit neuen Ideen verlangten. Man perfektionierte daher die Arbeitsteilung und die berufliche Spezialisierung, was die Stratifizierung der Gesellschaft verstärkte; man schuf zur Bewältigung größerer Aufgaben kol­ lektive Arbeitsbedingungen, was zu einer Ergänzung der verwandtschaft­ lichen durch arbeitsbezogene Nähebeziehungen von nahezu beliebiger Dichte führte; und man trennte die Aufgaben von Arbeitsorganisation und Arbeits­ leistung, was eine Rationalisierung aller Arbeitsabläufe bedeutete und über­ dies ein logisches Konzept war, das man später in den unterschiedlichsten Bereichen wiederverwenden konnte.



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I373

Als äußerst zukunftsträchtig erwiesen sich ferner Verbesserungen in der Nachrichtentechnik. Zunächst hatte sich nur die Politik menschlicher Späher bedient, um Nachrichten über mögliche Verschwörungen im Inland und über etwaige Kriegsvorbereitungen im Ausland zu erhalten. Später nutzte die Wirtschaft die Verbindungen über den Warenhandel aus, um über neue tech­ nische Entwicklungen oder Lagerstätten wertvoller Mineralien informiert zu werden. An Stellen, wo diese Nachrichten zusammenflossen, bildeten sich Zentren der Macht. Politische Führungspersönlichkeiten wuchsen dort heran und rissen die Befehlsgewalt an sich, clevere Kaufleute und Händler gelang­ ten zu großem Reichtum und bauten ein Netz von Niederlassungen aus. Die Gleichheit aller, die einst die nomadisierenden Horden ausgezeichnet hatten, gab es daher bald nur noch in einigen entlegenen oder klimatisch unvorteil­ haften Gebieten der Erde.53 Ich versage es mir, Details darzulegen und sie auf Zeitabschnitte zu vertei­ len. Die Entwicklungen verliefen offenbar überall gleichartig, wo sich Völker an großen Flüssen niederließen: Zunächst begründeten sie bäuerliche Zivili­ sationen, diese blühten dann auf und es entstanden prachtvolle Städte, die zu Zentren kulturell hochstehender Protostaaten wurden.54 (γ) Dort, wo nicht nur die vitalen Bedürfnisse, sondern auch die Bestre­ bungen nach personaler Entfaltung und sozialer Integration befriedigt waren, traten die Interessen an Existenzerhellung und metaphysischer Integration in den Vordergrund. Ihre Entwicklung wurde von Einflüssen aus dem soziokul­ turellen Umfeld angetrieben, und im weiteren Verlauf beförderten sie den Übergang vom „prälogischen“ Denken zum logischen Denken55. Einen ersten Entwicklungsschub gab es im Übergang vom 4. zum 3. Jt. v. u. Z. infolge des Aufkeimens einer intensiv auf das Jenseits bezogenen Be­ wusstseinshaltung. Diese Bewusstseinshaltung kam u. a. zum Ausdruck in den Überzeugungen: (1) dass die eigene Existenz sich nicht im physischen Dasein erschöpfe, sondern in metaphysische Dimensionen hineinrage; (2) dass überirdische Mächte die Geschicke der Welt bestimmten und dass 53  Beispiele sind Melanesien, die Sahelzone Nordafrikas, das Amazonasgebiet und das nordamerikanische Alaska. 54  Ich verweise außer auf meine historische Darstellung in Teil II insoweit auf die Darstellungen in G.Lenski (1973), passim; H. Parzinger (2015), S. 720 ff. 55  Vgl. L. Levy-Bruhl (1910/1921); (1922/1927); (1927/1930). Der Begriff „prälo­ gisch“ ist insofern unglücklich gewählt, als er mehr zu besagen scheint, als dass der Frühmensch eine andere Logik gehabt hat als die unserige. Ähnlichen Bedenken be­ gegnet es, wenn W. Nestle (1975) die Entwicklung des griechischen Denkens als „vom Mythos zum Logos“ verlaufen sieht; denn auch das mythologische Denken war nicht etwa alogisch, sondern folgte einer eigenen – freilich heute überwundenen – Logik. H. Blumenberg (1987) sieht beide Denkweisen durch ihre Funktion als For­ men der „Weltbemächtigung“ miteinander verbunden.

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sie im Kult bzw. als Gottheiten in Bild und Dichtung zu verehren seien; (3) dass weltlichen Herrschern eine metaphysische Verantwortung vor den überirdischen Mächten obliege; (4) dass menschlichen Beziehungen sittliche Prinzipien zugrundeliegen, etwa der Beziehung zueinander das Prinzip der Solidarität und der Beziehung zur Gemeinschaft das Prinzip der Loyalität.56 Mittelbar verbunden war damit die Überzeugung, dass die an mehreren Or­ ten erfundene Schrift eine neue Ebene des Bewusstseins eröffne, da sie Ge­ danken eine Existenz unabhängig von ihrem Urheber verleihe und diese weit über den Tod des Urhebers hinaus konserviere. Insgesamt kann man vom Erreichen somit einer „neuen Stufe der Menschheitsgeschichte“57 spre­ chen. Es gab indes noch einen zweiten Entwicklungsschub. Er fand in der Epo­ che zwischen 800 und 200 v. u. Z. statt, innerhalb der sogen. „Achsenzeit“58. Beispielhaft verdeutlichen kann ihn ein Vergleich zwischen dem ägyptischen und dem griechischen Denken. Die Menschen in Ägypten erkannten die Rea­ lität noch ausschließlich empirisch und verallgemeinerten das Erkannte le­ diglich implizit. Ihr Denken war „mythopoetisch“59 bzw. „prä-“ oder „proto­ logisch“60. Dagegen schritten die Griechen „vom Mythos zum Logos“61. Sie stellten Glaubensinhalte sowie Sitte und Recht „in allen ihren Auswirkungen vor den Richterstuhl der Vernunft zur Prüfung auf ihre Wahrheit und Recht­ mäßigkeit“ und schätzten alles geschichtlich Gewordene, alle religiösen, staatlichen und künstlerischen Formen gering im Verhältnis zur Selbstherr­ lichkeit der Formen des Denkens.62 Soweit wir heute erkennen können, lagen die Hauptgründe für diese Entwicklung nicht in der Außenwelt. Denn die Zustände, von denen uns beispielsweise die Gesänge des Homer sowie die 56  W. Rudolph/P. Tschohl (1977), S. 228: Ein bestimmtes Maß an ideologischer Sinnstiftung war insoweit erforderlich, da nur hierdurch die Zurückstellung indivi­ dueller Eigeninteressen zugunsten des Allgemeininteresses erreicht werden konnte. 57  H. Müller-Karpe (1998), Bd. I, S. 325 f. (Zitat S. 326). 58  K. Jaspers (1949) im Anschluss an A. Weber (1935). „In seiner ursprünglichen Version zielt das Konzept darauf, dass es zu einem bestimmten Zeitpunkt, etwa um 500 v. Chr., in den drei Hauptkulturen der Alten Welt (China, Indien, Vorderasien/ Okzident) zu einem Durchbruch durch das bis dahin vorherrschende magisch-mysti­ sche Weltbild und zur Schaffung einer für alle Menschen verbindlichen ‚Sinngemein­ schaft‘ kommt. Es verbindet also eine Behauptung über die Universalität des mensch­ lichen Geistes mit der Annahme eines synchronen Auftretens derselben, wenn schon nicht in allen Kulturen, so doch in den drei wichtigsten“ (St. Breuer, 1994, S. 1; kri­ tisch zur empirischen Tragfähigkeit des Begriffs allerdings S. 11 ff.). 59  H. Frankfurt et al. (1946), ch. 1. 60  W. F. Albright (1957), p.  2 f., 122 f., 168 f., 197 f. 61  So der berühmt gewordene Titel des Buches von W. Nestle (1975). Zur angeb­ lichen Antithese „Mythos“ vs. „Logos“ vgl. jedoch oben Fn. 55. 62  W. Nestle (1975), S. 486.



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Bücher des Ṛg-Veda und des Mose berichten, waren von denen Ägyptens und Mesopotamiens nicht grundsätzlich verschieden. Es waren hauptsächlich endogene Faktoren, welche die Entwicklung vorantrieben − und einflussrei­ che Intellektuelle, die sie klar ins Bewusstsein hoben. Sozial führten sie einen Wandel von einer durch den persönlichen Status geprägten zu einer durch die Eigentumsverhältnisse stratifizierten Gesellschaft herbei. Und rechtlich führ­ ten sie zur Entmythologisierung aller Wahrnehmungs- und Denkprozesse und zur Entkleidung des bloß Traditionellen zugunsten des als vernünftig Erkann­ ten. Ein neues Selbstbewusstsein erhob mithin den geistig erkennenden Men­ schen über die physische und sinnliche Natur und ließ ihn kraft seiner Vernunft an der metaphysischen Sphäre der Gedanken teilhaben. Einzelheiten werde ich noch benennen.63 An dieser Stelle möchte ich aber anführen, dass die Entwicklung unverlierbare Erkenntnisse zwar auf den Gebieten der Wissenschaft und der Technik erbrachte − auf Gebieten also, auf die sich auch heute unser Fortschrittsoptimismus bezieht;64 dass man je­ doch, was die Ordnung des sozialen Bereichs anbelangt, sich der Vergeblich­ keit des Ringens um endgültige Wahrheiten einigermaßen bewusst blieb und nicht glaubte, dass das, was man erreicht hatte, auch in Zukunft noch Bestand haben werde. Auf dem Gebiet der Moral überwog die meiste Skepsis: Man erkannte einerseits, dass viele der alten Werte und Dogmen inzwischen ver­ altet waren, sah andrerseits aber auch, dass man sich bei der Suche nach neuen Werten und Dogmen im Kreise bewegte, weil man weder in der dies­ seitigen Welt etwas zum Ideal noch in der jenseitigen Welt etwas zur Reali­ 63  Vgl. unten b. Die griffige Formel H. Maines (1861/1950), p. 141, das Recht habe sich „from Status to Contact“ bewegt, lässt sich allerdings schon deshalb nicht aufrechterhalten, weil sie von einer Entwicklungsebene auf die andere springt. Die Entwicklung verlief vielmehr gleichzeitig auf mehreren Ebenen, so u. a. (1) auf der sozialen Ebene von einer am persönlichen Status orientierten zu einer am persön­ lichen Reichtum orientierten Hierarchie, (2) auf der rechtlichen Ebene von Realkon­ takten zu Konsensualkontakten (vom unmittelbaren zum durch einverständlichen Güteraustausch). Zutreffender hat M. Weber (1967, S. 134 ff.) zwischen „Statuskon­ takten“ und „Zweckkontakten“ unterschieden: jene erfassten Personen in ihrer gesell­ schaftlichen und wirtschaftlichen „Gesamtqualität“ und banden sie statusmäßig in den Sozialverband; diese dagegen dienten statusunabhängig der Durchführung privater Transaktionen innerhalb der modernen Markt- und Geldwirtschaft. Wie hier I. A. White (1943), p. 335 ff.: Der Wandel der primitiven zur zivilen Gesellschaft fand nicht bezogen auf Verwandtschaftsverhältnisse statt, sondern war die revolutionäre (!) Folge des Prinzips der Eigentumsverhältnisse. 64  Eine sogen. ‚Genietheorie‘ wird allerdings den ‚revolutionären‘ technischen Erfindungen nur in den seltensten Fällen gerecht. Vgl. G. Schurz (2011), S.  252 f.: Watts Dampfmaschine war bloß eine Verbesserung von Newcomens atmosphärischer Dampfmaschine (die als Saugpumpe eingesetzt wurde), Edisons Glühlampe bloß die Nachfolgerin der elektrischen Bogengaslampe, und die Erfindung des Stacheldraht­ zauns in den USA bloß ein Ersatz für die zu kostspielig gewordene Dornenhecke.

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sierung Taugliches fand.65 Und das Vertrauen, dass die Umsetzung religiöser Offenbarungen die Realität zum Besseren verändern werde − dass Glück und Segen also über diejenigen kämen, welche die Gebote eines Gottes einhalten, eine poena naturalis dagegen diejenigen dahinraffe, die sie übertreten  −, musste spätestens schwinden, als man sah, dass es guten Menschen schlecht und schlechten Menschen gut ging, dass also Gott keineswegs in die Realität eingriff, um gute Taten zu belohnen und Missetaten zu vergelten66 ‒ weshalb offenbar ein Mittelmaß an Güte einerseits und Bosheit andrerseits die beste Richtschnur für das menschliche Leben ist. Das Fazit war also: Man musste sich damit abfinden, dass die Realität nicht eo ipso auf soziale, moralische oder religiöse Werte hin ausgerichtet ist, sondern auf die Selektion durch den Zufall; und dass durch den dunklen Tunnel des Zufalls zwar alles Neue hin­ durch muss, das Meiste aber darin stecken bleibt, während das Wenige, das wieder zum Vorschein kommt, oft nicht mehr das ist, was darin verschwand.67 Zusatz: Metaphysische Offenbarungen und Prophezeiungen hatten stets nur ein kurzes Leben; ihre Urheber wurden von der Nachwelt weitaus öfter verlacht als ge­ feiert. Selbst segensreiche Erfindungen wie die des Rades wurden nicht etwa in aller Welt dankbar aufgenommen, sondern nur in Gegenden, wo Räderfahrzeuge rollen konnten, und selbst da alsbald verbunden mit der Befürchtung, dass man eines Tages selbst ‚unter die Räder‘ kommen werde. Heute sieht es im Hinblick auf die Atom­ energie oder Eingriffe in die Erbsubstanz des Menschen nicht anders aus: Es überwie­ gen wie selbstverständlich die Befürchtungen vor ihrem Schaden die Hoffnungen auf ihren Nutzen. Selbst die Macht, obwohl die meisten nach ihr streben, gilt als nur trügerischer Wert; denn auf der Vorderseite stehen zwar die Privilegien, die sie ver­ leiht, doch auf der Kehrseite stehen die Lasten, die der Mächtige tragen und vor de­ nen er aus Angst sich unter die Gnade Gottes flüchten muss. In fremde Völker haben die Regierungen deshalb früher die Missionare vorausgeschickt, bevor sie die Solda­ ten folgen ließen. Und in der Antike waren die Gebote zum Gehorsam gegenüber den Mächtigen oft mit solchen verbunden, die zu ihrem Sturz aufriefen, wenn sie ihre Pflichten nicht erfüllten. In Indien etwa wurde der König in die Hölle geschickt, wenn er die Grenzen des Reichs nicht schützte, begangene Verbrechen nicht aufklär­ te, ihre Urheber bestrafte, die moralischen Gesetze nicht aufrecht hielt, die Keime zu Verbrechen nicht erstickte, die „Dornen im Staate“ nicht ausrottete und die Urteile der Richter nicht vollstreckte.68

(δ) Der Einfluss der Bedürfnisse etc. auf die Rechtsentwicklung. Entspre­ chend dem psychischen Rang der Bedürfnisse stand in allen vorhistorischen dazu die oben G 3 ε kurz dargestellte Diskussion der Vorsokratiker. schon gar nicht die Missetaten der Väter an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied − vgl. 2. Mose 20 5. 67  Beispielsweise war Edisons Phonograph als Diktiergerät und nicht für die Musikproduktion geplant, das Internet als schneller Informationstransfer für Wissen­ schaftler und nicht als flächendeckendes Unterhaltungsmedium. 68  L. Gopal (1978), p. 63. 65  Vgl. 66  Und



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und historischen Gesellschaften die Befriedigung der organisch-vitalen Bedürfnisse normativ im Vordergrund. Wie die vorhistorischen Normen lauteten, wissen wir nicht; lediglich ihren Sinn können wir gemäß den Randbedingungen mutmaßen, unter denen sie entstanden. Sicher können wir sein, dass innerhalb der nomadisierenden Hor­ den Regelungen zur Gewinnung und Verteilung von Nahrung – neben eini­ gen familialen Statusregelungen – an vorderster Stelle standen und dass sie jedem, der mit gejagt oder mit gesammelt hatte, einen Anteil am Ergebnis zusprachen. Wir dürfen ferner vermuten, dass sie dies grundsätzlich ohne Rücksicht auf Art und Bedeutung seines Beitrags taten; denn durch Gleichgerechtigkeit vermied man Streit, weshalb man Ausnahmen nur erwog, wenn man überzeugt war, dass alle sie billigen konnten. Kein Gegenstand der Re­ gelungen war dagegen, wo gejagt und gesammelt werden darf. Denn die Jagdgründe und Sammelreviere waren nicht aufgeteilt und blieben deshalb Gegenstand gegenläufiger Interessen zwischen den Horden, sodass, wenn es Konflikte gab, diese entweder verhandelt oder notfalls mittels Gewalt ausge­ tragen werden mussten. Als später die Menschen sesshaft wurden, begleiteten Normen den Über­ gang von der wildbeuterischen Aneignung zur bäuerlichen Produktion von Nahrung und schützten zusätzlich das Territorium, innerhalb dessen die Nah­ rung produziert wurde. Sie sicherten einesteils das Siedlungsgebiet eines je­ den Stammes, andernteils innerhalb eines Stammes die Zone eines jeden Dorfes und innerhalb eines Dorfes jedes Stück Land, sobald es einem Haus­ halt zur alleinigen Bewirtschaftung zugeteilt war. Fest stand auch, dass man die externen Stammesgrenzen zwar mit Waffengewalt verteidigen, dass man am Ende aber das Recht des Stärkeren anerkennen musste. Intern dagegen gab es Verfahren zur friedlichen Durchsetzung einer gerechten Verteilung: nicht nur wenn es um die Abgrenzung der einer Familie zugeteilten Parzelle zu den Nachbarparzellen, sondern auch wenn es um die Fruchtbarkeit dieser Parzelle im Vergleich zu den anderen Parzellen ging. In diesem Fall war beispielsweise zu prüfen, ob für die mindere Fruchtbarkeit die Beschaffenheit des Bodens oder dessen Bewirtschaftung seitens der Familie ursäch­ lich war. War ursächlich die Bodenqualität, dann musste man die Ungerechtigkeit durch eine Neuzuteilung von Land beheben – sofern dies angesichts der begrenzten Menge urbaren Landes möglich war. Denn geriet die Familie aufgrund unzureichen­ der Ernten in Armut, wurde die Angelegenheit noch schlimmer. Die Normen einiger Völker sahen dann eine vorsorgliche Verpflichtung zum Ausgleich vor. Bei anderen Völkern, die das nicht vorsahen, drohte der ärmere Teil der Bevölkerung weiter abzu­ sinken und letzthin in die Schuldknechtschaft zu geraten. Und spätestens dann muss­ ten Normen dem Zerfall der sozialen Gemeinschaft entgegenwirken.69 69  Zu weiteren Einzelheiten u. a. oben G 4 d α sowie H 2 a α (Israel) und unten bei Fn. 795.

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Weitere Gründe für normative Regelungen ergaben sich aus unterschied­ lichen Umwelten. Völker am Meer hatten andere Nahrungsquellen als solche inmitten des Landes. Völker, deren Land durch Wasser, Berge oder Wüsten gegen Feinde geschützt war, mussten weniger in den militärischen Schutz ihrer Nahrungsquellen investieren (Beispiele: Ägypten und Kreta) als Völker in offenen Landschaften (Beispiele: China und Rom, die große Armeen un­ terhalten mussten). Und als im weiteren Verlauf der Entwicklung die Men­ schen noch enger zusammenrückten und viele von ihnen in Städten siedelten, ergaben sich Regelungsbedürfnisse für den Austausch von Produkten zwi­ schen Stadt und Land: Die Bauern lieferten einen Teil ihrer Produkte in die Städte und erhielten umgekehrt von dort Leistungen von Berufsgruppen, die es auf dem Lande nicht gab: von Handwerkern, Ärzten, Beamten, Soldaten u. a. m. Daher finden wir von jetzt an überall Märkte, die dem inländischen Leistungstausch dienten, sehr bald aber auch Händler aus dem Ausland anzo­ gen. Und gerade für den intersozialen Handel bedurfte es noch weiterer Normen. Ich komme zu den Normen, die der Befriedigung von Bestrebungen nach personaler Entfaltung und sozialer Integration sowie von Interessen an Existenzerhellung und metaphysischen Integration dienen. Die erstgenannten Bestrebungen entwickelten sich aus der Erfahrung heraus, dass nahezu jede Umwelt einer ungehemmten Befriedigung vitaler Bedürfnisse Widerstand leistet und dass daher zusätzliche kulturelle Mittel zur Überwindung des Widerstands einzusetzen sind. Die letztgenannten Interessen entwickelten sich anschließend von innen heraus mit dem Ziel, die Zwänge der Umwelt in Selbstzwänge umzuarbeiten, um einen internen Ausgleich zwischen den vita­ len Bedürfnissen und den Chancen zu ihrer Befriedigung in der Umwelt herzustellen.70 In der Terminologie der Tiefenpsychologie ausgedrückt: Die Entwicklung des Ich-Zentrums im Menschen beruhte auf der Wechselwir­ kung zwischen dem Es und seiner natürlichen Umwelt, die seines Über-IchZentrums auf der Wechselwirkung zwischen der entwickelten Psyche (Es und Ich) und ihrem soziokulturellen Milieu.71 Für die Entwicklung von Normen bedeutete das: Die in den Hordengesellschaften noch vorherrschende naturhafte Triebsteuerung hatte es zugelassen, dass das soziale Miteinander durch ein fast ohne schöpferische Eigenleistung auskommendes Brauchtum 70  N. Elias (1939/1976), Bd. II S. 313: Verwandlung von Fremdzwängen in Selbst­ zwänge, wodurch „die Regelung des gesamten Trieb- und Affektlebens durch eine beständige Selbstkontrolle immer allseitiger, gleichmäßiger und stabiler“ wird. Ferner Bd. I S. 181 ff. Dazu auch oben C 2 c bb γ. 71  Vgl. dazu auch G. Oesterdiekhoff, 2000, S. 135 ff., 143. Was die empirische Bestätigung dieses Befunds anbelangt, überragt allerdings die Stadientheorie von Jean Piaget die insoweit kaum abgesicherte Tiefenpsychologie (siehe dazu unten J 2 a bb).



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bestimmt wird. In den Stammesgesellschaften verstärkten sich dann die IchFunktionen (Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen, soziale Geltung, Eigentum, Kulturteilhabe u. a.). Die sich gleichzeitig verstärkende soziale Neigung konnte sie zwar noch weitgehend in Schranken halten, weshalb wir überall das Aufkeimen von Wir-Funktionen gewahren. Doch waren die Zwänge, welche die Wir-Funktionen auferlegten, lediglich von der Furcht vor sozialer Ausgrenzung bestimmt und ließen daher jederzeit den Ausbruch von gewalt­ samen Affekten zu. Deshalb konnten nur soziale Rollenzuweisungen und die Institutionalisierung von Verhaltensnormen in den Häuptlingsschaften und Königreichen die Menschen zwingen, ihre Affekte zu beherrschen. Und erst in den städtischen Zivilisationen erlangte dann das Über-Ich72 eine das sozi­ ale Verhalten derart beherrschende Bedeutung, dass es den sozialen Zwang weitgehend ablösen und durch die sittliche Verpflichtung zur Selbstbeherr­ schung mittels Normgehorsam ersetzen konnte.73 Zu vergleichbaren, obschon weder tiefenpsychologisch noch empirisch abgestütz­ ten, Ergebnissen kam bereits im 16. Jh. aus staatstheoretischer Sicht Jean Bodin. Die Frage, welchen Schranken die für die Souveränität charakteristische Macht zur Ge­ setzgebung unterliege, beantwortete er mit dem Hinweis auf Rechtsgrundsätze, die allen Menschen gemeinsam sind und die man erkenne, wenn man den Stufenbau der menschlichen Interessen von unten nach oben verfolge: Am Anfang seien die Men­ schen von der Notwendigkeit beherrscht gewesen, sich am Leben zu erhalten. Als dies gewährleistet war, seien gewisse Annehmlichkeiten des Lebens in den Vorder­ grund getreten, etwa die Verfügung über Werkzeuge, Medikamente u. a. Als auch hierin Befriedigung eingetreten war, hätten die Menschen sich den Wissenschaften zugewandt. Und als Wissenschaftler hätten sie dann diejenigen Rechtsgrundsätze entdeckt, denen ausnahmslos alle Menschen unterliegen und von denen auch ihre Gesetze nicht abweichen dürfen.74 Zusätzlich bleibt zu erwähnen, dass der Anspruch auf Selbstverwirklichung und seine normative Begrenzung, einmal entstanden, auch einen völkerpsychologischen und (proto-)staatsrechtlichen Aspekt besaß. Völker oder Volksgruppen (bzw. -klassen) lehnten sich gegen die Unterdrückung ihrer Selbstverwirklichung durch andere Völ­ ker oder Volksgruppen (bzw. -klassen) innerlich auf und begehrten nach Freiheit: et­ wa die Ägypter gegen die ins Land eingefallenen Hyksos, die Plebejer gegen die rö­ 72  Vgl. dazu S. Freud (1923), S. 263, wonach das Über-Ich das Ergebnis zweier höchst bedeutsamer Faktoren ist, für die Freud neben der langen frühkindlichen Ab­ hängigkeit des Menschen auch den Ödipuskomplex als Ursache nennt. Wichtiger und gleichzeitig auch richtiger erscheint mir allerdings Freuds Erkenntnis, dass gleichzei­ tig mit dem Über-Ich auch das Gewissen im Menschen erwacht ist (vgl. S. Freud, 1930, S. 496). 73  Die sozialen Verhältnisse in den Städten waren zu vielfältig, als dass äußere Anpassungserfordernisse ihnen hätten genügen können. Der Stadtbürger musste daher eine stabile Ich-Identität sowie ein Über-Ich entwickeln, die ihm Kriterien für die Akzeptanz gerechtfertigter und die Abwehr ungerechtfertigter Rollenerwartungen ver­ mittelten. Vgl. dazu L. Krappmann (1971). 74  Siehe dazu J. Bodin (1577/1981), Buch I, Kap. 8.

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mischen Patrizier. Hatten sie Erfolg, dann konnten sie ihre Unterdrücker entweder vertreiben oder deren Vorherrschaft brechen; hatten sie keinen Erfolg, dann kam es zur Tyrannei − sei es des einen Volkes über das andere oder der einen Gruppe (bzw. Klasse) über die andere. Griechenland liefert für alles die besten Beispiele: Eine De­ mokratie verwirklichte Perikles in Athen (5. Jh.)75, eine Tyrannis dagegen errichteten Kleisthenes in Sikyon, Pesistratos in Athen, Periander in Korinth und Polykratos auf Samos (7.−5. Jh.).

Zwangsandrohungen durch Normen zur Begrenzung der Selbstverwirkli­ chung entwickelten sich in der frühen Antike nur sehr allmählich. Das lag anfangs an der Kleinheit der Gruppen, worin der individuelle Drang nach Selbstbehauptung und Selbstdarstellung zwar geachtet, aber eine auch nur geringfügige Überschreitung der üblichen Grenzen sofort bespöttelt wurde und eine Übersteigerung daher regelmäßig bereits im Keim erstarb.76 Erst in den größer gewordenen Gruppen mussten soziale Grenzen in den Drang nach Selbstverwirklichung integriert werden, und erst, wenn deren Überschreitung nicht nur die Freiheitsbereiche anderer, sondern die soziale Ordnung insge­ samt bedrohte, musste man ihre Einhaltung zur Rechtspflicht machen.77 Al­ lerdings blieben derart schwere Normwidrigkeiten aufgrund des starken ­Zusammenhalts der Gruppen selten. Geschahen sie allerdings, wurden sie als so bedrohlich angesehen,78 dass entweder die Gesellschaft als Ganze oder die staatliche Macht sie (oft mit der Ausstoßung aus der Gemeinschaft oder gar mit dem Tode) ahndeten. Dass Normverletzungen später durch (proto-)staatlichen Zwang sanktio­ niert wurden, hatte weniger mit der Qualität der geschützten Bedürfnisse und Interessen zu tun als mit der Qualität der Rechtsnormen, die sich gewandelt hatte: In einem ersten Stadium hatten staatliche Rechtsnormen nämlich vor allem die Aufgabe, die Menschen vor Gewalttaten zu schützen und nachfol­ gende Rachehandlungen zu verhindern oder zu beenden, weil dieser Automa­ tismus die Gemeinschaft schwächte. Als der Begehungsnutzen von Gewaltta­ ten schwand, weil Kräfte zunächst der Gemeinschaft, später der herrschaftli­ chen Organisation den Opfern ihren Beistand liehen, häuften sich stattdessen die gewaltlosen Verbrechen (z. B. heimlicher Diebstahl, Betrug, öffentliche Kränkung). In einem zweiten Stadium verlangten daher die Menschen von 75  Zu den Gründen vgl. A. Heuss (1962), S. 271: „Isonomía und isogoría, was sich am ehesten mit ‚Gleichberechtigung‘ übersetzen lässt, waren die Leitmotive der Ent­ wicklung, welche zum Perikleischen Staat führten.“ 76  Vgl. dazu P. Radin (1927/1957), p. 34 ff. 77  Vgl. heute Art. 2 Abs. 1 GG, wo das Recht zur „freien Entfaltung der Persön­ lichkeit“ ausdrücklich nicht nur durch die Rechte anderer und das Sittengesetz, son­ dern auch durch die verfassungsmäßige Ordnung (d. i. die verfassungsmäßig zustande gekommene Rechtsordnung) begrenzt wird. 78  Beispiele: Delikte gegen den König, Verstöße gegen Lehnspflichten.



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den staatlichen Rechtsnormen vor allem nach Schutz für ihr Eigentum, für ihr Vertrauen in vertragliche Bindungen und, wenn es zum gerichtlichen Streit kam, gegen falsche Bezichtigung, falsches Zeugnis und richterliche Korruption. Eigentumsrecht und Prozessrecht standen jetzt (z. B. im Kodex Hammurapi) vornan.79 In einem dritten Stadium vertiefte sich dann die moralische Bedeutung der Normen. Sie büßten ihren utilitaristischen, auf die eigene Person bzw. auf die eigene engere Gemeinschaft beschränkten Cha­ rakter ein. Hieß es früher „Töte nicht, denn das ist für dich nicht nützlich“80 und wurde als geschädigt die Sippe des Getöteten vor allem deshalb angese­ hen, weil sie eine Arbeitskraft verlor, so belastete jetzt die Begehung eines Totschlags den Täter auch moralisch, während auf der anderen Seite der Wert des Getöteten nicht nur danach veranschlagt wurde, was er als Arbeitskraft leisten konnte.81 Auch Gelöbnisse wurden jetzt nicht mehr nur befolgt, weil man eine poena naturalis als Folge ihres Bruchs befürchtete, sondern weil man ein sittlich begründetes Recht auf ihre Erfüllung anerkannte. Die Sühne ihrerseits erhielt ebenfalls einen tieferen Gehalt, weil sie sich nicht mehr im äußerlich gleichen Erleiden von Talion erschöpfte, sondern Ausdruck war der moralischen Verantwortung, die der Täter dem Opfer schuldig geblieben war. Strafen wurden daher nicht mehr nur um ihrer abschreckenden Wirkung wil­ len verhängt, sondern auch zum Schutze der sozialen Sittlichkeit, die unter der Straflosigkeit gelitten hätte.82 Insgesamt gab es von jetzt an also: • Obliegenheiten: etwa zur Begrenzung eigenmächtiger Verfügungen über das Grundeigentum der Familie oder Sippe; • Verbote: etwa der willkürlichen Missachtung sozialer (z. B. nach Geschlechts- und Klassenzugehörigkeit definierter) Strukturen;83

79  CH

§§ 1–126. oben G 3 γ bei Fn. 387. 81  Diese Vertiefung der Moral kam u. a. der sozialen Stellung der Frau zugute. Wurde sie früher vor allem nach ihrem Nutzen für den Fortbestand der Familie, nach der Zahl ihrer Geburten und nach ihrem Beitrag zur Aufzucht ihrer Kinder einge­ schätzt, so wurde sie jetzt als Person mit eigenem Wert und mit einer über den engen familiären Bereich hinausweisenden sozialen und rechtlichen Würde geachtet. 82  Selbst vor den Göttinnen machte der Sinneswandel nicht halt: Man verehrte sie nicht mehr allein um ihres Einflusses willen auf das eigene Wohlergehen als Schutzgöttinnen (z. B. Nereiden), Jagdgöttinnen (z. B. Artemis), Fruchtbarkeitsgöttin­ nen (z. B. Proserpina) etc., sondern auch um der Ideale willen, die sie repräsentierten: Schönheit (Aphrodite), Weisheit (Athene), Tugend (Minerva), Glück (Fortuna) etc. 83  Beispiele: Missachtung des hausväterlichen Bestimmungsrechts, des Aus­ schlusses der Frau von der Verfügung über (ihr) Vermögen. So durfte etwa eine Witwe nur ausnahmsweise Haushaltsvorstand werden. Genauestens wurde u. a. der soziale Status von Sklaven normiert (vgl. oben G 4 b γ). 80  Siehe

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

• Gebote: etwa zur Mitwirkung bei der Erfüllung sozialer und kultureller Aufgaben (z. B. beim Bau oder der Instandhaltung von Befestigungsanlagen, Kanälen, Pyra­ miden); • Rechtspflichten: etwa zur Erfüllung eines Vertrages, zum Schutz der Familie oder des Staates; • Strafandrohungen: in erster Linie gegen den Religionsfrevel und andere sozial­ schädliche Handlungen, darüber hinaus gegen Kapitalverbrechen, Körperverletzung (unter Einschluss der tätlichen Beleidigung84), Frauenraub, Sachdiebstahl und Be­ leidigung.

b) Wahrnehmungs- und Denkprozesse Die Genese der Wahrnehmungs- und Denkprozesse, die neben der Bedürf­ nisentwicklung eine immer größere Bedeutung für das Recht erlangte, be­ stand vor allem in einer Gewichtsverlagerung von der Außenansicht der Dinge auf deren gedanklich allein fassbaren Wesenskern. Auch spaltete sich aufgrund des umfassenden Rationalisierungsprozesses die physische von der metaphysischen Welt während der sogen. Achsenzeit ab. aa) Entmythologisierung der Wahrnehmungs- und Denkprozesse In den Kulturen Ägyptens und Mesopotamiens sowie in den archaischen Kulturen Chinas (während der Shāng-Dynastie) und Indiens (in der frühvedi­ schen Zeit) waren physische und metaphysische Welt im Wesentlichen nach gleichen Prinzipien aufgebaut und gingen unscharf ineinander über. • In Ägypten war während des ARs der König zugleich ein Gott, der die staatliche Ordnung (ma`at) nicht vorfand, sondern erst schuf. Eine Spaltung zwischen welt­ licher und metaphysischer Ordnung konnte es unter diesen Umständen nicht geben: Religion und Staatsdoktrin waren eins. Auch die ägyptischen Götter waren nicht nur jenseitige Mächte, sondern der ägyptische Staat war auch ihr Reich. Dabei blieb es selbst in der Zwischenzeit vom AR zum MR. Erst im MR verlagerten sich Macht und Autorität des Königs von der Heiligkeit seines Amtes auf das weltliche Ansehen, das er sich durch Klugheit und Tatkraft erwerben musste.85 Religiöse und staatliche Autorität spalteten sich daher jetzt voneinander ab. • In Mesopotamien war der Sonnengott Herr einer Gerechtigkeit (bēl dīni), die in der kosmischen Ordnung verankert war; sein irdisches Gegenstück, der König, war lediglich ihr Wahrer. Eine Spaltung zwischen weltlicher und metaphysischer Ge­ 84  Vgl. M. T. Roth (1997), p. 25 ff. Die Bestrafung der tätlichen Beleidigung als Körperverletzung ist ein Beispiel dafür, wie sehr das archaische Rechtsdenken noch der sinnlich wahrnehmbaren Sphäre verhaftet war. 85  So stellte Amenemhet, der Begründer der 12. Dynastie (1991 v. u. Z.) mit Stolz fest: „Ich habe die Grenzen meiner Kraft hinausgeschoben durch meine eigene Kraft; alles, was ich befahl, war in Ordnung.“



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I383 rechtigkeit konnte unter diesen Umständen zwar entstehen; aber es gab keine In­ stanz, vor der man die Rechtschaffenheit des Königs hätte in Frage stellen können. Man war überzeugt, dass das Königtum zu Beginn der Menschheitsgeschichte vom Himmel herabgekommen war und dass der König deshalb nicht anders als gerecht sein könne. Sargon leitete das sogar aus seinem Namen ab (akkadisch Šarru-kīn = der König ist fest)86.

• In China war die Shāng-Dynastie ebenfalls Teil der kosmischen Ordnung. An ihrer Spitze stand der Gott Di, mit dem das Königshaus eng verbunden war, möglicher­ weise sogar von ihm abstammte. Die Schicht darunter war von Geistern und hohen Ahnen bevölkert, an die sich eine irdische Hierarchie anschloss. Eine Spaltung zwischen weltlicher und metaphysischer Ordnung, aus der sich ein transzendenta­ ler Maßstab für das irdische Handeln hätte gewinnen lassen, konnte es auch hier nicht geben. • In Indien hatten die ins Industal am Ende des 2. Jt.s eingedrungenen Ārya die dort vorhandene Kultur durch ihre eigene pastorale (seminomadische87) Kultur ersetzt. Sie nahmen sie auch ins Gebiet des Ganges mit, als sie sich dort Mitte des 1. Jt.s ausbreiteten und kleine Königreiche gründeten. In ihrer Religion bildete der große vedische Gott Indra zusammen mit seinen Brüdern, dem Feuergott Agni und dem Wettergott Vayu, eine Triade, um die herum es ein Pantheon von Naturgottheiten gab, die alle Bereiche des Kosmos – Himmel, Luftraum und Erde – gleichermaßen beherrschten. Die Asuras unter ihnen hatten eine sozialmoralische Funktion, die ‚Große Mutter‘ Aditi regierte die Weltordnung, ihre Tochter Mitra hütete das Recht (rita). Zu diesen Göttern unterhielt man lebhafte Beziehungen, indem man sie zu Gastmahlen einlud und an einer Fülle von Speisen und Getränken sich laben ließ. Weltliche und irdische Ordnung waren also auch hier noch nicht getrennt.

In den achsenzeitlichen Kulturen Chinas und Indiens sowie in den Kultu­ ren Griechenlands und Roms spalteten weltliche und metaphysische Ordnung sich dann auf: Die metaphysische Ordnung der überirdischen war nunmehr Maßstab für den richtigen Bau der irdischen Welt. Dadurch entstand aller­ dings das Problem, welche Mittel der menschlichen Erkenntnis offenstehen, um die Grenze von der irdischen zur überirdischen Welt zu überschreiten. Ein einfaches Hinübergleiten schied aus. Erst recht kam eine Berufung auf den Ursprung der irdischen aus der überirdischen Ordnung nicht in Betracht; denn an der Spitze der Staatswesen standen nunmehr Herrscher, die keine Abkömmlinge der Götter waren, sondern lediglich deren Beauftragte, die Rechenschaft schuldeten. Infolgedessen hatte auch die politisch-militärische Elite ihre religiöse Legitimation eingebüßt und war gezwungen, ihr Ansehen durch administratives oder militärisches Können (τέχνη) zu rechtfertigen. 86  In einem Keilschrifttext Sargons heißt es: „Entsprechend meinem Namen, mit dem die großen Götter mich benannt haben – ‚Recht und Gerechtigkeit zu wahren, die Machtlosen zu regieren, die Schwachen nicht zu schädigen‘ – habe ich …“ (nach der Übersetzung von D. G. Lyon, 1883, S. 37 Nr. 50). Hammurapi sah seine Herr­ schaft dagegen mit der Verpflichtung zur Gerechtigkeit verbunden (vor CH § 1 a. E.). 87  H. Kulke (1987), S. 209.

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Ferner nahmen die Priester nicht mehr den höchsten Rang innerhalb der ge­ sellschaftlichen Hierarchie ein, sondern standen mit den weltlichen Weis­ heitslehrern, den ‚Philosophen‘, auf einer Stufe. In diese geistige Lage hinein passte nur noch ein Recht, das aus dem Be­ reich der Heiligkeit gelöst und auf weltliche Vernunft gegründet war. Seine Gerechtigkeit maß man folglich nicht mehr am unerforschlichen Willen der Götter, sondern am sichtbaren Nutzen, den es für die Erfüllung staatlicher und gesellschaftlicher Ordnungsaufgaben hatte.88 • Sichtbaren Ausdruck fand diese Entwicklung vor allem in Griechenland. Homer rief noch die Götter und die Musen an, damit sie ihm die Wahrheit verkündeten („Singe mir, Göttin, den Zorn…“; „Nenne mir, Muse, den Mann…“); mythologisch symbolisierte die Sprache für ihn die von den Göttern gestaltete Wirklichkeit. Da­ nach aber wurde die Sprache zur menschlichen Rede, und menschliche Vernunft brachte darin das Wesen der Dinge zum Ausdruck. Homer leitete noch die Königs­ herrschaft Zeus ab; die Anerkennung des Volkes war ihm lediglich – aber immer­ hin – zusätzlich wichtig.89 Danach aber verlagerte sich das Gewicht vollständig auf die Anerkennung der Herrschaft durch den δῆμος, das Volk (z. B. von Athen). Bei Homer war noch der νόμος eine Stiftung der Götter.90 Danach aber, seit dem 5. Jh., bezeichnete man mit ihm die Gesetze, die die menschliche Vernunft (in Athen ver­ körpert durch die Volksvertretung) beschlossen hatte und auf die sich jeder berufen konnte, der an der menschlichen Vernunft teilhatte und somit vor den Gesetzen gleich war.91 Auch die Gerechtigkeit wurde von nun an im Sinne der im Staat gel­ tenden Gesetze interpretiert – weshalb Sokrates beispielsweise es für unverantwort­ bar hielt, sich gegen sie aufzulehnen, sondern lieber zum Schierlingsbecher griff. • In Israel war die Entwicklung teilweise anders, weil dort die Thora, das Gesetz Jahwes, nicht nur in Geltung blieb, sondern nach der Zeit des babylonischen Exils nochmals neu verkündet92 und schriftlich niedergelegt wurde. Doch während zur Zeit des ungeschriebenen Rechts Lehre und Verwaltung der Thora allein den Pries­ tern oblag,93 entstand nach ihrer schriftlichen Ausformung ein Wettbewerb zwi­ schen Priestern und Schriftgelehrten um die richtige Interpretation, und die Autori­ tät ging allmählich auf die Schriftgelehrten über.94 88  Allerdings ist noch allenthalben Furcht vor den Folgen zu spüren, die sich aus dem Wegfall der sakralen Legitimation gesellschaftlicher Regeln ergeben (Nachweise bei A. Dihle, 2001, S. 160 ff.). 89  Homer, OdysseeOd. I 383 ff. 90  So auch noch Hesiod, Th 901 f.: „Dann verband sich Zeus mit der glänzenden Themis (θέμις); die Horen (Ὥραι) schenkte sie ihm: Eunomia (Εὐνομία) und Dike (Δίκη) und blühend Eirene (Εἰρήνη).“ 91  Die „Gleichheit vor dem Gesetz“ (ἰσονομία) findet sich erstmals bei Herodot, Historien III 80. Solon hatte zuvor den Ausdruck εὐνομία gebraucht. 92  Vgl. Nehemia 9. 93  Vgl. 5. Mose 33 10, 17 11; Jeremias 18 18. 94  Vgl. dazu J. Stone (1965), p. 22 ff.; St. Breuer (1954), S. 17 ff. m. w. Nachw. (22: „Die Propheten … haben den Durchbruch zur Achsenzeit vorbereitet. Vollzogen ha­



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I385

• Indien stand während der Achsenzeit, was die Jenseitsorientierung anbelangt, hin­ ter dem Judentum nicht zurück. Gleichwohl unterschied sich die Orientierung von der jüdischen. In den östlichen Städten hatte sich eine intellektuelle Mittelschicht herausgebildet, und sie ersetzte (niedergelegt in den Upaniṣaden) die alte homolog zur Menschenwelt konzipierte Götterwelt durch eine abstrakte Urkraft: das Ātman, welches die Erscheinungswelt transzendierte und durch Versenkung in das eigene Wesen erfahren werden konnte. Diese Versenkung ins eigene Wesen war vorrangig Aufgabe des Königs. Denn obwohl er entheiligt und auf eine fast ausschließlich weltliche Rolle beschränkt war, erwartete man von ihm, dass er die transzenden­tale sittliche Ordnung auf Erden durchsetzt. Als Berater dafür dienten ihm die Brāhmanen, die gleichzeitig die Übereinstimmung der Ordnung mit der (hinduisti­ schen) Religion sicherten. Was sich danach im Laufe der Zeit noch veränderte, waren einzig die Bedingungen, unter denen man Brāhmane werden konnte: Zuvor hatten hauptsächlich Mitglieder der begüterten Brāhmanengeschlechter den Zugang zur Priesterschaft erhalten, jetzt wurden auch Angehörige der niederen Kasten aufgenommen. Und die Folge war, dass die alten statusgestützten Einheiten zusam­ menbrachen und neue demokratische(re) entstanden. • In China war man, anders als in Israel und Indien, von vornherein stark diesseitig orientiert.95 Die soziale Ordnung wurde anfangs zwar noch aus einer Mischung von guten Sitten und Heiligkeit heraus legitimiert, jedoch gewann ein profanes humanistisches Denken immer mehr die Oberhand (Kongzi), sodass schließlich sogar rein utilitaristische Erwägungen den Ausschlag gaben (Mo Di). Diese Ent­ wicklung hatte Folgen: Man verbrannte zwecks Beendigung von Dürrekatastro­ phen nicht mehr Hexen oder las überirdische Weissagungen aus dem Panzer von Schildkröten ab, sondern verordnete Sparsamkeit und gegenseitige Hilfeleistungen; man gab den Toten nicht mehr so viel an Vermögen mit ins Grab, dass ihre Ange­ hörigen verarmt zurückblieben, sondern beschränkte sich auf das Nötigste, dessen sie im Jenseits bedurften; man beschäftigte Wahrsager und Schreiber nicht mehr mit metaphysischen Problemen, sondern ließ sie ihre Fähigkeiten an weltlichen Aufgaben wie dem Aufsetzen von Vertragstexten bewähren. Vor allem aber trat an die Stelle eines obersten Gottes, der über geringere Götter regierte, nunmehr ein amorphes, der Erfahrungswelt immanentes Prinzip (Dào), sodass nur noch das hohe Gewicht, das man den guten Sitten nach wie vor beilegte, das Hervortreten ben ihn jedoch erst die Weisheits- und Schreiberkreise in Jerusalem. … Vorderorien­ talisch ist der theozentrische Ansatz, die Theologie des Willens, die so sehr gesteigert wird, dass die traditionellen Vermittlungsinstanzen wie Königtum und Hierokratie zur Bedeutungslosigkeit schrumpfen. … In die Richtung des griechischen Weges aber weist der Gedanke, die Herrschaft Gottes, die Theokratie, nicht allein über das Kö­ nigtum und/oder die Priesterschaft zu verwirklichen, sondern über ein Ensemble von Machtträgern, zu denen auch der ‚amm ha ‚arez [Landeigentümer] gehört.“). 95  Sh. N. Eisenstadt (1987), S. 96: „In den klassischen chinesischen Glaubenssys­ temen wurde die Spannung zwischen der jenseitigen und der irdischen Ordnung in verhältnismäßig weltlichen Begriffen ausgedrückt, d. h. im Sinne einer metaphysi­ schen und/oder ethischen, nicht aber religiösen Unterscheidung zwischen diesen bei­ den Ordnungen. … Die ‚diesseitige‘ Definition solcher Spannungen und die ihr inne­ wohnenden Rattionalisierungstendenzen verbanden sich mit der Neigung zu einer fast gänzlich diesseitigen Vorstellung von der Lösung dieser Spannungen.“

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einer eigenständigen, von der Moral abgehobenen Rechtssphäre verhinderte. Den­ noch schloss ihr Fehlen nicht aus, dass die Herrscher menschliche Unmoral, wenn sie einen starken Unwillen im Volke erregt hatte, mit so harten Strafen ahndeten, wie sie später nur noch das Recht nach der Durchführung eines geordneten Be­ weisverfahrens und aufgrund eines richterlichen Schuldspruchs erlaubte. • Auch in Rom hatte man ursprünglich religiöses und profanes Leben untrennbar miteinander vermischt.96 Doch war die Spaltung längst vollzogen, als das XII-Ta­ felgesetz (ca. 450 v. u. Z.) die Gerechtigkeit im Verhältnis zur Gottheit von der zwischen den Menschen schied: Nefas war, was das sacrum antastete, iniuria, was die Rechtsgenossen verletzte. Neu war lediglich, dass auf dieser Grundlage auch zwischen ius publicum und ius privatum unterschieden wurde: jenes als Ausdruck des Gemeinwillens in Form von rechtlichen Gesetzen (leges publicae),97 dieses als Äußerung des Einzelwillens in Form von rechtlichen Erklärungen (leges dictae).98

bb) Genese neuartiger Wahrnehmungs- und Denkprozesse Die Abspaltung der weltlichen von der überweltlichen Ordnung hatte ihren Grund in einer neuen Bewusstseinshaltung, wonach Intelligenz und Erfah­ rung (kurz Vernunft) es sind, welche die Menschen über alle anderen Lebe­ wesen erheben und die am vollkommensten Begabten unter ihnen zu Anfüh­ rern machen. (α) Genese eines neuen Selbstbewusstseins. Das Bewusstsein, vor allen anderen Lebewesen durch den Geist ausgezeichnet zu sein, hatte der Mensch bereits gegen Ende des 4. Jt.s erworben.99 Seither fühlte er sich nicht nur als Geschöpf der Natur, sondern auch als ihr Schöpfer – sicut Deus, wie er es 96  Das erweist sich u. a. am Begriff ius, der von iurare (schwören = eine religi­ öse Formel mit bindendem Charakter sprechen) abgeleitet ist. Iurare wiederum geht etymologisch auf iouvesare zurück, eine Verbalform, die hundert Jahre vor dem XIITafelgesetz in der Duenosinschrift belegt ist: „iouvesat deos“ (= er beschwört die Götter). Überdies lesen wir in Rhetor ad Her. 2.13.19 als Paraphrase der Bestimmung in Tafel I („si in ius vocat, ito“): „Lege ius est id, quod iussu populi Romani sanctum est.“ Der Begriff lex erscheint im Zwölftafelgesetz noch nicht, sondern erst in der Literatur seit dem oskischen Dichter Ennius (osk. ligud = lege). Die genaue Bedeu­ tungsentwicklung ist unklar, doch dürfte das griechische λέγειν τι, das nicht nur „le­ sen“, sondern auch „etwas Zutreffendes sagen, Recht haben“ bedeutet, einer richtigen Interpretation den Weg weisen. 97  Dass die leges publicae sich vor dem XII-Tafelgesetz ausschließlich auf die Regelung von Einzelfällen bezogen, bezeugt die Verwurzelung des römischen Rechts im lebendigen Sittenbewusstsein der Bevölkerung, aus dem sich das gesetzmäßige Rechtsbewusstsein nur allmählich herauslöste. 98  Die römisch-rechtliche Unterscheidung zwischen ius publicum und ius privatum darf also nicht mit der modernen zwischen öffentlichem und privatem Recht verwechselt werden. Vgl. G. Dulckeit/F. Schwarz/W. Waldstein (1995), § 9 III 2. 99  Vgl. H. Müller-Karpe (1998), Bd. I, S. 158; auch S. 102: „Zäsur in der mensch­ lichen Geistesgeschichte“.



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später formulierte.100 Zwar hatte er die Gesetzmäßigkeiten der Natur schon früher erkannt und genutzt; jetzt aber entwickelte er Mittel, um sich dieser Gesetzmäßigkeiten planmäßig zu bedienen. Und nachdem er diese Mittel gefunden hatte, verschärften sich auch sein Blick in die Zukunft und seine Fähigkeit, sie nach seiner Vorstellung zu gestalten. Doch noch war sein Denken an das Anschaulich-Konkrete gebunden. Das änderte sich erst ab der Mitte des 1. Jt.s v. u. Z., als einige, die später ‚Philo­ sophen‘ genannt wurden, bemerkten, dass es hinter dem Anschaulich-Kon­ kreten noch etwas gibt, das in der gesetzmäßigen Wiederholung des Gleichen sich nicht erschöpft, sondern den Charakter des Feststehenden, Ewigen in­ nerhalb des Fließenden, Vergänglichen besitzt: etwas Gedanklich-Abstraktes, das seiner Qualität nach am Ewigen und daher Göttlichen teilhat und vom menschlichen Geist, der dem Göttlichen nahesteht, erkannt und im Begriff erfasst werden kann. Mittels seines Geistes machte daher der Mensch sich jetzt auf, den intelligiblen Kosmos zu entdecken. Die Führung übernahmen die Griechen, vielleicht weil ihre Sprache – im Gegensatz etwa zur lateini­ schen101 – es erlaubte, mittels bestimmter Artikel (ὁ, ἡ, το) gedankliche Ge­ bilde als selbstständige ideelle Gegenstände zu begreifen und sie zu ‚Wesen­ heiten‘ zu erhöhen.102 Noch Homer hatte den bestimmten Artikel nur dazu benutzt, um das konkret Sei­ ende (ἡ λάμπας = diese konkrete Fackel) und darüber hinaus allenfalls ein mystisches Wesen (ὁ φόβος = der Dämon des Schreckens) zu bezeichnen. Heraklit benutzte ihn dagegen bereits zur Bezeichnung auch des abstrakt Seienden (ὁ λόγος = die Vernunft, das Weltgesetz103; τὸ ἀγαθόν = das Gute). Daher kam dem bestimmten Artikel von nun an eine Doppelfunktion zu: Er konnte sowohl für konkrete Gegenstände ge­ braucht werden, die der sinnlichen Anschauung gegeben waren, als auch für abstrakte Gegenstände, die der Mensch mittels seines Geistes erst schuf. Allerdings entstand daraus wiederum ein Erkenntnisproblem, das Parmenides so formulierte: Falls es nicht nur ein konkretes, sondern auch ein abstraktes Sein gibt, ein Sein jenseits aller sinnlichen Erfahrung – womit, wenn nicht mit unseren Sinnen, können wir es erkennen? Er löste das Problem, indem er die Aufgabe eben jenem menschlichen Geist zuwies, dem die abstrakten Gegenstände zuvor entsprungen wa­

Mose 3 5. gab es auch im Althebräischen den bestimmten Artikel. Ob und wann es dort zur Bildung von abstrakten Begriffen kam, ist jedoch umstritten (vgl. dazu L. Gulkowitsch, 1931, der zwischen Kollektiva und Abstrakta allerdings nicht scharf unterscheidet). Zu Ägypten vgl. E. Edel (1955), § 234 („Nomina actionis und Abstrakta“), dessen Annahme, dass es Abstraktbildungen auf -w gegeben habe, aber fraglich ist, da uns beispielsweise anstelle des Abstraktums ‚Vermögen‘ nur dessen Umschreibung durch ‚Acker, Leute, Vieh, … und jegliche Sachen‘ entgegentritt. 102  Zum Folgenden B. Snell (1980), S.  205 ff. 103  Herakleitos, fr. 50 und 2. 100  1.

101  Daneben

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ren.104 Und da die anderen Philosophen sich ihm anschlossen, galt von nun an auch der menschliche Geist als eine Wesenheit, die, obschon abstrakt, gleichwohl den Kosmos des Konkreten in sich enthielt. In der Folgezeit nahmen die Naturwissenschaftler die Unterscheidung zwischen Konkretem und Abstraktem ebenfalls auf. Thales hatte zwar hundert Jahre zuvor schon die Mathematik als abstrakte Wissenschaft begründet, die physikalische Welt aber hatte er noch konkret durch das Vorhandensein eines sie verbindenden Stoffes, nämlich des Wassers, erklärt. Jetzt schaltete Demokrit den sinnlich wahrnehmbaren Stoff als Verbindungsglied aus und ersetzte ihn durch den nur mathematisch bestimm­ baren Stärkegrad unsichtbarer Atome.105

(β) Genese eines neuen normativen Denkens. Zumal für die Juristen war die Entwicklung des abstrakten Denkens neben dem konkreten ein entschei­ dender Schritt voran. Denn während den Medizinern das Wissen um das ab­ strakte Wesen z. B. der Leber wenig nützte, half den Juristen das abstrakte Denken, Begriffe zu bilden und Normen zu formen, die nicht wie bisher von einer Summe gleicher Tätigkeiten bzw. Taten, sondern von einem ‚Kauf‘ oder ‚Diebstahl‘ als gedanklich-abstrakten Gegenständen handelten, die in der sinnlich-konkreten Realität in variabler Gestalt und somit nur in unvoll­ kommener gedanklicher Bestimmtheit vorkommen. Allerdings behielten sie daneben auch den konkreten Begriff bei, weil ihre Normen ja auch für die sinnlich-konkrete (soziale) Realität Bedeutung haben sollten. Und sie griffen daher begierig die Lehre des Aristoteles auf, wonach Begriffe zwar die me­ taphysischen Formen der Dinge bezeichnen, in diesen Formen aber der Stoff des sozialen Lebens pulsiert und dort konkrete Gestalt erlangt hat (sogen. Hylemorphismus).106 (αα) Genese normativer Begriffe. Als wahrscheinlich kann angenommen werden, dass die vorgeschichtliche Genese des begriffslogischen Denkens, auf die wir nicht unmittelbar zugreifen können, derjenigen entsprach, die wir heute noch in der kindlichen Ontogenese beobachten können.107 Deshalb sei diese zuerst dargestellt. 104  Parmenides, fr. 5: „Denn [nur] ein und dasselbe kann gedacht werden und sein.“ Ferner fr. 8. Vgl. auch G. W. F. Hegel (oben I A bei Fn. 5). 105  Demokrit, fr. 10: „Es ist oft von mir dargelegt worden, dass wir [durch unsere Sinne] nicht erkennen können, wie in Wirklichkeit ein jedes Ding beschaffen oder nicht beschaffen ist.“ Ferner fr. 125 (= Galen, Von der empirischen Medizin, Frag­ ment [Hg. H. Schöne, S.B.A. 1901]): „Nur der herkömmlichen Meinung nach gibt es Farbe sowie süß und bitter; in Wirklichkeit gibt es nur die Atome und das Leere.“ 106  Vgl. zur Stoff-Form-Lehre (‚Hylemorphismus‘) Aristoteles, Physik I 6  ff.: 189a ff.; ders., Metaphysik IX 4 ff.: 1047b ff. Kurze Darstellung und Kritik im Hin­ blick auf seine Bedeutung für das Recht bei E.-J. Lampe (1970a), S.  38 ff. 107  Vgl. dazu die Übersicht bei E. Hennon/K. Hirsh-Pasek/R. M. Golinkoff (2000), S. 42 ff.; zum Verhältnis von Sprache und Gestik in der Entwicklung vgl. D. McNeill (2012), p.165, 168 ff.



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Wie wir wissen, wird die kindliche Sprachentwicklung vom 2. bis zum 12. Lebensjahr primär durch die Hirnreifung gesteuert.108 Universell folgt sie in einem ersten Abschnitt einem genetischen Programm und ist daher in allen Kultur- und Sprachgruppen gleich.109 In einem zweiten Abschnitt lässt die 108  Zusammenfassend E. H. Lenneberg (1972), S. 196: „Zwischen dem Alter von 2 und 3 Jahren entwickelt sich die Sprache durch ein Wechselspiel von Reifung und selbst programmiertem Lernen. Zwischen dem 3. und etwa dem 13. Lebensjahr bleibt die Fähigkeit zum primären Spracherwerb gut; in dieser Zeit scheint das Individuum äußerst sensibel für Reize zu sein und eine gewisse angeborene Flexibilität für die Organisation der Hirnfunktionen zu bewahren, um die komplexe Integration der für die gleichmäßige Entwicklung des Sprechens und der Sprache notwendigen Subpro­ zesse vollenden zu können. Nach der Pubertät nimmt die Fähigkeit zur Selbstorgani­ sation und Anpassung an die physiologischen Erfordernisse des verbalen Verhaltens schnell ab. Das Hirn verhält sich so, als ob seine Funktionen nun festgelegt wären, und primäre, grundlegende Sprachfertigkeiten, die um diese Zeit nicht erworben wor­ den sind, bleiben – außer dem Artikulationsvermögen – gewöhnlich während des ganzen Lebens unzulänglich.“ 109  Folgende Phasen lassen sich darin unterscheiden (knappe Darstellung bei D. Crystal, 1983, p. 45 f.; genauere mit dem Hinweis, dass die frühesten lexikalischen Elemente der Sprache allenthalben sehr ähnlich sind, bei P. Malaniuk, 2000, S. 174 ff., 179 ff., 184 ff.): • Zuerst produziert das Kind vorsprachliche Laute, die eine instrumentelle ‚ich will‘Funktion, eine regulative ‚tu, wie ich dir sage‘-Funktion, eine interaktionale ‚ich und du‘-Funktion und eine personale ‚hier komme ich‘-Funktion erfüllen können. Den Beginn bilden somit imperative bzw. expressive und regulative vorsprachliche Akte. • Zwischen dem 12. und dem 18. Monat gelingt es dem Kind, durch einzelne Wörter die Gegenstände seiner Umgebung („Mama“, „Papa“, „Auto“ etc.) und ihre Quali­ täten („hm“, „ba“, „gut“ etc.) zu bezeichnen sowie Wünsche („auf“, „dada“, „mehr“ etc.) zu artikulieren. Diesen Äußerungen liegt sowohl eine grammatische Struktur zugrunde, die zwischen der Bezeichnung von Gegenständen und von Qua­ litäten sowie zwischen der Artikulation von Fragen, Aussagen und Befehlen unter­ scheidet, als auch eine Identitätslogik, die für dieselbe Sache stets denselben Aus­ druck verwendet. • Ungefähr vom Ende des 18. Monats an bildet das Kind Zweiwortsätze. Es benutzt sie, um nunmehr auch eine Relationslogik zu entwickeln, also etwa Subjekten (Papa, Mama) Objekte („Papa Hut“) und Tätigkeiten („Mama schläft“) zuzuord­ nen. Auch gewinnt die Sprache – entsprechend der Wahrnehmung – an räumlicher und zeitlicher Perspektivität, sodass es gelingt, Vergangenes in die sprachlichen Aussagen einzubeziehen. (Viel berichtetes Beispiel nach C. & W. Stern, 1965, S. 47: Der Vater lässt beim Einsteigen in eine Pferdedroschke seine Touristenfla­ sche fallen. Fünf Tage später erinnert sich seine 25 Monate alte Tochter: „Papa, brrbrr, Flasche putt.“) Dies alles bleibt jedoch im Rahmen konkreter Anschauung. • In der zweiten Hälfte des 2. und in der ersten Hälfte des 3. Lebensjahrs werden die ersten Drei- und Vierwortsätze gebildet. Immer noch bleiben Anschauung und sprachliche Erfassung jedoch an der Oberfläche des Angeschauten hängen. Entwi­ ckelt wird dagegen die Satzstruktur, so dass Fragen, Aussagen und Befehle jetzt auch grammatisch (und nicht nur in der Artikulation) klar voneinander getrennt werden.

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physiologische Determination jedoch nach, sodass die Entwicklung mehr und mehr in den Einflussbereich psychischer Lernprozesse gerät. Sie verläuft dann zwar weiterhin ‚orthogenetisch‘, d. h. gesetzmäßig in einer Reihe, die nicht zulässt, dass ein Entwicklungsstadium etwa übersprungen wird oder dass es zum Rückfall in ein früheres Stadium (‚Regression‘) kommt, doch flacht insgesamt die universelle Übereinstimmung ab110 und gerät unter kul­ turelle Kontrolle. Das bedeutet: Die Fortschritte entsprechen zwar immer noch der Gehirnreifung, sie führen jedoch – trotz gleichartigem Grundmus­ ter – zu größeren kulturellen und individuellen Unterschieden sowohl im zeitlichen Ablauf der Lernphasen als auch in der erreichten Sprachkompe­ tenz.111 Dennoch lassen sich weiterhin folgende gemeinsame Charakteristika herausheben:112 •• Die Begriffe verlieren an Abhängigkeit von ihrer Bildung (Kontextabhän­ gigkeit) und werden zu generalisierenden Bezeichnungen für individuelle Gegenstände oder Situationen. •• Die Begriffe gehen von einem konkreten in einen abstrakteren Zustand über. •• Die Verknüpfung der Begriffe in Sprachsätzen entwickelt sich von wenig differenzierten und vagen zu differenzierteren und präziseren Aussagen.

110  Über empirische Studien berichtet E. L. Newport (1991). Sein Résumé (p. 123): „The data support a maturational interpretation, with a gradual decline in performance over the age range during which there is ongoing maturational change, and a flatter­ ing of the function in adulthood.“ 111  Neuere Untersuchungen mittels Computersimulationen (vgl. dazu insbeson­ dere J. L. Elman, 1990 und 1994) haben ergeben, dass Kinder auf zwei Arten lernen können, komplexe Sprachstrukturen zu verstehen und zu verwenden: zum einen, in­ dem ihnen zunächst einfache und dann kompliziertere Sätze angeboten werden, zum anderen, indem sie zwar sogleich mit komplexen Sprachstrukturen konfrontiert wer­ den, sie daraus aber einfachere Strukturen extrahieren und diese erst später durch komplexere Strukturen ersetzen. Die zweite Art des Spracherwerbs gelingt ihnen deshalb, weil ihr Gehirn zu Beginn der Lernzeit nur eine geringe Verarbeitungskapa­ zität besitzt, die sich während der Lernzeit aber kontinuierlich erhöht. Das unvollstän­ dig entwickelte Frontalhirn des Kindes ist somit – entgegen dem ersten Anschein – kein Hindernis für das Erlernen komplexer Sprachstrukturen, sondern im Gegenteil die Voraussetzung dafür. Die zunehmende Kapazität ersetzt dem Kind gleichsam den Lehrer, der ihm zunächst lernphasengemäß einfache Sätze darbietet und sodann den Schwierigkeitsgrad steigert. Vgl. dazu E. L. Newport (1991), p. 126: „The child suc­ ceeds better at language learning precisely because she begins with the ability to ex­ tract only limited pieces of the speech stream, with a gradual increase over maturation and learning in the amount of material to be analyzed; in contrast, the more capable adult extracts more of the input but is then faced with a more difficult problem of analyzing everything all at once.“ 112  Näher dazu Th. B. Seiler/W. Wannenmacher (1987), S. 481 ff.



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I391

Gehen wir von diesem Erkenntnisstand nunmehr auf den anthropogenetischen Spracherwerb über, so stoßen wir auch dort auf das Wirken zunächst morphologischer und physiologischer, später auch psychologischer Prozes­ se.113 Annehmen können wir, dass alsbald, nachdem die erforderlichen mor­ phologischen und physiologischen Voraussetzungen vorhanden waren, der Mensch seine Sprache ziemlich geradlinig zum sozialen Verständigungsmittel entwickelt und sie vor allem auf seine spezielle soziale Umwelt ausgerichtet hat. Denn so wurde es ihm möglich, wechselseitig Erfahrungen über die von ihm benannten Gegenstände und Eigenschaften unabhängig von deren Prä­ senz auszutauschen und dadurch auf die Veränderungen seiner Umwelt sozial abgestimmt und schnell zu reagieren. Und da ihm dies nicht nur für die Re­ aktion auf Witterungsumschwünge, Trockenheit, Regenperioden etc., sondern auch auf plötzlich hereinbrechende Gefahren (feindliche Angriffe o. ä.) einen Vorteil brachte, konnten sich die sprachlich organisierten Gemeinschaften gegenüber anderen durchsetzen: Sie überlebten, während die anderen aus­ starben.114 Allerdings müssen wir einen wichtigen Unterschied zwischen der kindli­ chen Ontogenese und der frühen Anthropogenese des Spracherwerbs berück­ sichtigen: Der archaische Mensch wuchs nicht innerhalb einer Sprachkultur auf, sondern er schuf sie erst. Trotzdem durchlief sein Erzeugungsprozess vermutlich dieselben sozialgenetischen Stadien, die auch der kindliche Er­ werbsprozess durchläuft: (1) Adjunktion, (2) Konjunktion und (3) Interpene­ tration. •• In einem 1. Stadium gab der archaische Mensch konkret wahrgenomme­ nen Gegenständen Namen. Es handelt sich bei diesem Vorgang um eine Adjunktion – nämlich um die ‚Anheftung‘ von etwas Sprachgedanklichem (einem ‚Namen‘) an etwas Materiell-Dinghaftes (an einen ‚Gegenstand‘). Dabei wurde der Name ursprünglich wahrscheinlich nicht als Attribut, sondern als Teil des Gegenstandes aufgefasst. Er gehörte zu ihm und konnte ihn sogar in der Magie vertreten.115

113  P. F. MacNeilage (2008), p. 106: „The implication of Darwin’s thesis is that earlier-evolving aspects of genetic causality play themselves out earlier in ontogeny. This phenomenon is almost evident in embryology.“ Ferner E. H. Lenneberg (1972), S.  157 ff.; A. D. Friederici/A. Hahne (2000), S. 186 ff., 301 f.; Ch. Lehmann (2005) in: www.christianlehmann.eu/ling/ling_theo/evolution.phs. 114  Dies gilt vielleicht auch im Hinblick auf die Neandertaler, deren genetische Vermischung mit homo sapiens heute aufgrund von DNA-Analysen zwar gesichert, deren Aussterben aber immer noch immer nicht erklärt ist. 115  Ausführlich H. Werner (1959). S. 190 ff. Selbst heute noch sagen wir beispiels­ weise, dass man den Namen des Teufels nicht aussprechen darf, weil er sonst er­ scheint.

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•• In einem 2. Stadium verglich der archaische Mensch die von ihm benann­ ten ‚Gegenstände‘ mit anderen und benannte sie, wenn er sie für ähnlich befand, mit denselben ‚Namen‘. Es handelte sich bei diesem Vorgang um eine Konjunktion – nämlich die ‚Verbindung‘ zweier Objekte (zweier ähn­ licher ‚Gegenstände‘) mittels etwas Sprachgedanklichen (eines identischen Namens = eines ‚konkreten Begriffs‘).116 Begründend dafür war die zu­ sätzliche Fähigkeit des Menschen zur nicht nur wahrnehmenden Verglei­ chung, sondern auch zur mentalen Zusammenfügung von gleichen Wahr­ nehmungen. Sie erlaubte ihm, die Vielheit der Gegenstände seiner natür­ lichen und sozialen Umwelt geistig zu reduzieren und sie sich sprachlich verfügbar zu machen. Es handelt sich um eine produktive Tätigkeit, die entweder auf bestimmten Sinnes­ eindrücken oder auf bestimmten Gefühlserlebnissen oder auf einer Kombination beider beruht und die sich von der Physiognomie der Dinge nährt, die mal die Betrachtung, mal das Gefühl und mal beide zugleich anregt. Noch heute fassen die Sprachen indigener Völker einerseits aufgrund desselben Gefühlseindrucks Gegen­ stände zusammen, die wir infolge ihrer sachlichen Verschiedenheit unterschiedlich bezeichnen, und trennen andererseits begrifflich Tätigkeiten, zwischen denen wir nicht unterscheiden und die wir deshalb mit demselben Wort belegen. Einerseits variieren beispielsweise die Huronen ihr Wort für ‚Essen‘ je nachdem, welche Speise gemeint ist.117 Andererseits vereinen die Bewohner von Buin (Melanesien) ‚Papagei‘ und ‚Stängel‘ begrifflich als „kumo“, weil beide grün sind,118 und die Trobriander bringen mit dem Begriff „pwaypwaya“ sämtliche freudigen Gefühle zum Ausdruck, die sie nach langer Bootsfahrt bei der Rückkehr an Land empfin­ den.119

Namen, mit denen als ähnlich wahrgenommene (d. h. mit der gleichen Ei­ genschaft x ausgestattete) Gegenstände ständig benannt wurden, entwi­ ckelten sich danach zu Allgemeinbegriffen. Die Allgemeinbegriffe der archaischen Menschen waren allerdings wesentlich dif­ fuser und in ihrem Sinngehalt viel weniger konstant als die heutigen. So konnte beispielsweise der Begriff ‚Tropfen‘ mal das Tropfen (als Vorgang), mal auch den (herabgefallenen) Tropfen, mal aber auch den Eindruck bezeichnen, den der Trop­ fen auf einer weichen Oberfläche hinterlassen hat.120

•• In einem 3. Stadium konnte der archaische Mensch auch ohne Anbindung an zuvor erlangte bildliche Wahrnehmungen Begriffe produzieren, die teils neben die von Wahrnehmungen gestützten Allgemeinbegriffe, teils an deren Stelle traten und dann sinnbildliche (ideelle) Gegenstände bezeich­ H. Werner (1959), S. 183. H. Werner (1959), S. 208. 118  Vgl. H. Werner (1959), S. 183. 119  B. Malinowski (1935), vol. II p. 71. Vgl. auch H. Werner (1959), S. 171 f. 120  H. Werner (1959), S. 213 f. 116  Vgl. 117  Vgl.



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I393

neten. Es handelte sich bei diesem schöpferischen Vorgang um eine ‚men­ tale Penetration‘ – nämlich um die ‚Durchdringung‘ von sinnlichen oder gedachten Gegenständen mit Eigenschaften, die künftig ihr (inneres) ‚Wesen‘ bilden und sie selbst als Teile dieses ‚Wesens‘ erscheinen lassen. Als Erläuterung und gleichzeitig als Hinweis auch auf die juristische Relevanz der Entwicklung zitiere ich aus dem entwicklungspsychologischen Lehrbuch von Heinz Werner: „Um dies [d. i. den ideellen Gegenstand als Sinnbild für die Mannigfaltigkeit sinn­ licher Gegenstände] zu erreichen, muss der Mensch jene eigentümliche Wendung vornehmen, durch die das Bedingte zum Bedingenden, das Ursprüngliche zum Abgeleiteten wird. Die totale Qualität, anfänglich durch die Figuration der Teile und Glieder gegeben, wird nunmehr losgelöst und selbst zum denkschöpferischen Prinzip, indem sie als Idee, als Gattungsbegriff, die Exemplare, die Glieder als Versinnlichung und Abwandlung ihrer – der Totalqualität – selbst hervorruft. Was ursprünglich als Figuration, als konkrete Reihung in einem Miteinander und ­Nebeneinander gegeben war, wird hier zu einem Untergeordneten durch Subsu­ mierung.“121

Alle Begriffe, die der archaische Mensch auf die genannte Weise produ­ zierte, hatten im 1. Stadium noch keinen spezifisch normativen Charakter, sie waren bestenfalls prä-normativ. Das heißt: Der archaische Mensch kannte zwar das Sollen, doch hatte er es gegenüber dem Sein noch nicht abgegrenzt. Deshalb konnte er beispielsweise einen normativ geschützten ‚Besitz‘ noch nicht von einem bloß faktischen ‚Haben‘ unterscheiden. Er wusste lediglich, dass man sich des Angriffs auf gewisse Dinge, die man ‚hat‘, erwehren darf, wenn andere sie wegnehmen wollen − weil jede Veränderung eines possessi­ ven Zustands einer natürlichen oder sozialen Begründung bedarf, also etwa einer körperlichen Kraft oder eines Brauchs. Zu normativen Begriffen kam es erst aufgrund des Übertritts in das 2. Stadium der Begriffsbildung, das mit der Befähigung zur bewusst-produktiven Gestaltung des sozialen Zusammenlebens erreicht wurde.122 Allerdings be­ schränkten sich die Begriffe in diesem Stadium noch auf die Benennung von konkreten Situationen oder Ereignissen ‚in der Reihe‘, sodass jedem Begriff ein sinnlich vorgestelltes, wenngleich von Augenblick zu Augenblick und von Person zu Person wechselndes Bild entsprach. Die Begriffe waren also subjektiv-konkret. Normativ waren sie dennoch, weil sie einen sozialen Maß­ stab voraussetzten, der außerhalb der Realität vorhanden, mithin emergent war: Sie bezeichneten als ‚Besitz‘ also nicht mehr jedes possessive, sondern nur noch das nach sozialem Maßstab anerkannte Haben, und als ‚Tausch‘ nicht mehr jedes wechselseitige Aus-der-Hand-Geben von Gegenständen, 121  H. Werner 122  Vgl.

(1959), S. 181. dazu oben F 4.

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sondern ausschließlich die wechselseitige Übertragung von sozial geschütz­ ten Positionen. Abstrakt-normative Begriffe konnte der Mensch erst im 3. Stadium seiner Entwicklung bilden: beispielsweise den Begriff des ‚Eigentums‘ als ideelle (wesenhafte) Eigenschaft eines Gegenstands. Dies geschah erst in histori­ scher Zeit, wahrscheinlich erstmals in Griechenland. Denn der abstrakt-nor­ mative Begriff trat hier erstmals neben den konkret-normativen Begriff, der Begriff ‚Eigentum‘ als absolutes Herrschaftsrecht neben das relative Herr­ schaftsrecht an den eigenen Sachen (den Meinigen). Er bezeichnete das ‚Wesen‘ aller eigentümlich besessenen Gegenstände und erlaubte, abstraktgenerelle Regeln dafür zu entwickeln.123 Gleiches gilt z. B. für den Begriff des vertraglichen ‚Tauschs‘, unter den man künftig alle konkreten Tauschge­ schäfte subordinieren und aus dem man künftig die sich daraus ergebenden Rechte und Pflichten der Vertragspartner ableiten konnte. (ββ) Genese normativer Sätze. Mittels abstrakt-normativer Begriffe konnte der Mensch dann auch Normsätze bilden, die abstrakte, d. h. über die Summe konkreter Einzelfälle hinausgehende, Anordnungen enthielten. Die hierzu erforderliche Entwicklung glich mit hoher Wahrscheinlichkeit derjenigen der Begriffsbildung; sie verlief deshalb mutmaßlich nahezu parallel mit ihr. His­ torisch belegen lässt sie sich freilich nicht; sie gehört der Vorgeschichte an, die uns lediglich Vermutungen erlaubt. •• Mit Sicherheit bildete den Beginn abermals ein prä-normatives Stadium, worin die sozialen Verhältnisse individuell durch persönliche Gewohnheit, interindividuell durch den Gehorsam gegenüber den konkreten Anordnun­ gen einer Autoritätsperson, überindividuell durch Brauchtum oder durch Gehorsam gegenüber den generellen Anordnungen einer beherrschenden Persönlichkeit oder einer überirdischen Macht (z. B. eines Gottes, Geistes oder Ahns124) organisiert wurden. Diesem Stadium entspricht heute ein (bis etwa 6 Jahre währendes) prä-moralisches Stadium in der Ontogenese des moralischen Denkens, worin das Kind den Anord­ nungen seiner Eltern und anderer Autoritätspersonen folgt und im Übrigen die 123  Ein indogermanisches Wort für ‚Eigentum‘ oder ‚Eigentümer‘ gab es nicht (O. Schrader, 1917–23, S. 231 ff.). Im deutschen Recht ersetzte die ‚Gewere‘ das Ei­ gentumsrecht, weil es die bewehrte und gerüstete Hand war, welche die Habe fest­ hielt. Selbst bei den Römern, die das Eigentumsrecht erstmals durchbildeten, heißt es in den leges actionis anstelle von ‚Eigentum‘ stets nur ‚hanc rem meam esse‘. 124  Dazu K. Goldammer (1984), S. 42: „Man könnte vielleicht von einem ‚heiligen Mechanismus‘ sprechen, der das Ganze regiert, einer ‚sakralen Gesetzlichkeit‘, einer ‚numinosen Funktion‘, die das Weltbild der Urmenschen durchzieht. … Wir würden es eine abstrakte Vorstellung vom Göttlichen nennen, die es freilich für diese Men­ schen kaum war, welche ja noch konkret dachten.“ Vgl. dazu auch unten e dd α–γ.



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I395 Regeln des sozialen Lebens als Teile einer allgemeinen (natürlichen) Ordnung übernimmt, in die es sich vollständig eingebunden fühlt.125

•• Für das anschließende konkret-normative Stadium war u. a. charakteris­ tisch, dass Zuwiderhandlungen gegen überkommene Sitten mit bestrafen­ den Folgen belegt wurden. Man folgte dem Grundsatz, dass alles, was sozialwidrig geschieht, reziprok (‚adäquat‘) vergolten werden soll, damit kein weiterer Schaden daraus entsteht. Die Geltung dieses Grundsatzes entnahm man der Natur, wo man die Gleichheit von Ursache und Wirkung (causa aequat effectum) ständig als offenbar universell geltendes Gesetz erlebte. Und da man überzeugt war, dass natürliche und soziale Ordnung eine Einheit bilden, nahm man das adäquat übereinstimmende Verhältnis von Ursache und Folge als zwingende Regel auch für die soziale Ordnung an. Beweise dafür glaubte man genug zu finden: Soziales Wohlverhalten, so schien es, spiegelte sich in natürlicher Fruchtbarkeit (‚Arbeit bringt Segen‘), soziales Fehl­ verhalten in natürlichem Unheil – in Trockenheit, Unwetter, Krankheit oder Krieg. Deshalb sei beste Garantie auch für allgemeines Wohlergehen die Einhaltung der gemeinschaftlichen Bräuche, ihr Bruch die Wurzel allen Übels.126 Und würden gar schwere Missetaten ungesühnt bleiben, werde erst recht die Natur den Fehler kor­ rigieren und unweigerlich nicht nur den Übeltäter, sondern auch die Gemeinschaft bestrafen, die ihn hatte gewähren lassen.127

Neue soziale Randbedingungen führten allerdings bald zur Entwicklung auch neuer konkret-normativer Folgen, und zwar selbst dort, wo die Ursa­ chen sich glichen. Die neuen Randbedingungen bestanden einesteils in ei­ ner sesshaften anstelle der zuvor nomadischen Lebensweise und andern­ teils aus einer Vergrößerung der sozialen Gemeinschaften anstelle der zu­ vor kleinen Gruppen, in denen man lebte und wirkte. Wirtschaftlich nötig­ ten sie, anstatt offenes Land abzuernten, eigenes Land zu bearbeiten und fruchtbar zu machen, dazu sächliche und tierische Hilfe zu gebrauchen, Saatgut vorrätig zu halten und für eine ausreichende Bewässerung zu sor­ gen. Sozial nötigten sie, Verhaltensformen zu entwickeln, die trotz eines 125  J.

Piaget (1983), S. 67. eine Gemeinschaft ein natürliches Unheil traf, prüfte sie deshalb als Erstes, ob bisher alle Bräuche korrekt eingehalten wurden. Fand sie nichts Auszuset­ zendes, prüfte sie, ob etwa die Bräuche inzwischen ungeeignet geworden seien, um den überirdischen Mächten noch zu gefallen. Kam sie zur Bejahung, erwog sie, ob dies nicht ein Grund für eine der sonst raren Innovationen sein könne. 127  So meinten die Thebaner, dass die in ihrer Stadt grassierende Seuche die Strafe für den noch ungesühnten Vatermord des Ödipus sei. Auch in der frühen Neu­ zeit haben die Menschen ein Unheil, beispielsweise ein Erdbeben (etwa das von Lissabon), noch als Strafe Gottes für ihr sündiges Leben gedeutet. Und selbst heute noch wird eine poena naturalis bei der gerichtlichen Strafbemessung berücksichtigt (vgl. § 60 StGB). 126  Wenn

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immer größeren und sozial immer weniger vertrauten Umfeldes allgemeine ‚Verträglichkeit‘ gewährleisteten, die aber auch erlaubten, zu Menschen mit ungewöhnlichen Eigenheiten ein passables Auskommen zu finden, und die verlangten, eine freundliche oder abweisende Gesinnung von Fremden ‚auf den ersten Blick‘ zu erkennen, usw. All dies erforderte von jedem Einzelnen die Stärkung zum einen seines Selbstbewusstseins, zum anderen aber auch seines Verantwortungsbewusstseins gegenüber seinen Kommu­ nikations- und Interaktionspartnern und gegenüber der sozialen Gemein­ schaft. Unterschiedliche Eigeninteressen mussten daher von jetzt an nicht nur gegeneinander abgewogen, sondern auch im Hinblick auf ihre sozialen Auswirkungen bedacht werden, Streitigkeiten auf einer allgemeingültigen Basis verhandelt und notfalls mithilfe eines unparteiischen Dritten durch einen gemeinverträglichen ‚Vergleich‘ beendet werden128 ‒ wobei ‚ge­ meinverträglich‘ nicht bedeutete, dass die Grundlage des Vergleichs eine Norm aus der traditionellen Sittenordnung sein musste,129 sondern dass sie stattdessen auch einem inzwischen neu erworbenen Gefühl für das sozial Angemessene entstammen konnte. •• Doch während diese Anpassungsleistungen sich lediglich mit der Zeit summierten – und die Normen, aus denen sie folgten, den bisher üblichen speziellen Gemeinschaftscharakter behielten –, trieb eine weitere Vergrö­ ßerung der sozialen Systeme und die allmählich unüberschaubare Zahl der an ihnen Beteiligten auf ein abstrakt-normatives Stadium zu. Ablesbar war das zum einen daran, dass Sozialverhalten immer rationaler gesteuert wer­ den und auf einer klaren Differenzierung zwischen realen und sozialen Ursachen sowie zwischen realen und sozialen Folgen beruhen musste: Man durfte es nicht mehr als eine Strafe des Himmels ansehen, wenn ein Gewitter die Ernte vernichtete, sondern als irdische Realität, und musste deshalb durch die Anlage von Nahrungsreserven hierfür Vorsorge treffen. Man durfte aus einem tödlichen Dolchstoß nicht mehr folgern, dass nun­ mehr die Tatwaffe vernichtet und der Ort, an dem es geschah, verwüstet werden müssen, sondern man musste den Mörder dafür zur Rechenschaft ziehen. Und vor allem musste man sich von der Vorstellung entfernen, 128  Die Funktion des Dritten konnte unterschiedlich sein. A. Holtwick-Mainzer (1985, S. 86 ff.) unterscheidet sieben Formen der Vermittlung von der bloßen Förde­ rung der Gesprächsbereitschaft bis zur Streitentscheidung. In jeder dieser Formen veränderte die Einschaltung des Dritten die Konzessionsbereitschaft streitender Par­ teien. 129  P. H. Gulliver (1979, p. 223 ff.) bezeichnet sie als ‚enunciator‘. J. Gay/M. Cole (1967, p. 24 p.) berichten von den Kpelle, einem westafrikanischen Volk im Norden von Liberia, dass sie, um einen gerichtlichen Streit zu gewinnen, eine Behauptung aufstellen, die im Einklang mit der Tradition steht. Der Gegner weiß dann meistens keine überzeugende Antwort, weil er sich gegen die Tradition wenden müsste.



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I397

dass reale Ursachen soziale Folgen haben sollen, die den Ursachen so spiegelbildlich wie irgend möglich glichen. Talion blieb zwar das allge­ mein anerkannte Ideal reziproker Gerechtigkeit. Doch bemerkte man auch, dass sich das Ideal nicht überall verwirklichen ließ, und dass es selbst dort, wo es sich verwirklichen ließ, nicht immer sozial nützliche Wirkun­ gen hatte. Denn wenn beispielsweise nach einem Mord auf die Leiche des Ermordeten sich die Leiche des Mörders und auf sich diese wiederum die Leiche des Rächers türmten usf., dann konnte in die sozialen Beziehungen niemals der ersehnte Frieden einkehren. Reziprozität sollte zwar sein; aber sie gebot nicht arithmetische Gleichheit, sondern Gerechtigkeit, und diese war eine Aufgabe nicht der Mathematik, sondern des menschlichen Ge­ staltungswillens. Rationale Gleichheit zwischen Ursachen und Folgen sollten deshalb zwar am Anfang aller Gerechtigkeitserwägungen stehen und den weiteren Erwägungen die Richtung weisen, jedoch sollten kon­ krete Erwägungen, an denen auch das Gefühl beteiligt war, zu einer diffe­ renzierenden Bewertung der Ursachen ihr zur Seite treten und in die Be­ stimmung der Folgen mit einfließen.130 Abstraktion einerseits, Konkretion (Differenzierung) andererseits innerhalb realer Ursachen und sozialer Folgen waren danach die Endpunkte der norma­ tiven Entwicklung. Man musste innerhalb der Gerechtigkeit die abstrakte Gesetzesgerechtigkeit mit der konkreten Fallgerechtigkeit (‚Billigkeit‘) ver­ binden mal die eine, mal die andere höhersellen. Manchmal musste man al­ lerdings auch nach einem Kompromiss zwischen beiden suchen und deshalb mal das konkret Gerechte danach befragen, ob und inwieweit es sich verall­ gemeinern ließ, mal das abstrakt Gerechte danach, ob und inwieweit man es konkret anwenden dürfe. Und manchmal durfte man sich auch der Problema­ tik einfach entschlagen, indem man auf die Begrenztheit nicht nur der menschlichen Erkenntnis von Gerechtigkeit, sondern der Möglichkeit, ihr im Recht Ausdruck zu verleihen, Bezug nahm und dies historisch oder verglei­ chend anhand der unterschiedlichen historischen Folgen für exakt dieselben Rechtsverstöße beglaubigte: etwa für Ehrverletzungen, die mal mit dem Tode des Verletzers, mal mit einer bloßen Geldstrafe vergolten wurden, oder für den Raub von Eigentum, der dem Räuber mal die Anerkennung seines Mutes und seiner Kraft einbrachte, mal die Pönalisierung durch eine Freiheitsstrafe oder gar durch Erhängen am Galgen. Zusatz: Der Genese von Normsätzen entsprach auch die von ganzen Normensystemen. Im Brauchtum hatte die soziale Gemeinschaft ursprünglich sowohl die Formen 130  Als Ausdruck dieses Gedankengangs lässt sich beispielsweise die Norm 8 2 des XII-Tafelgesetzes interpretieren: Si membrum rupsit, ni cum eo pacit, talio esto. („Wer ein Glied verstümmelt, soll [nur dann] das Gleiche erleiden, wenn er sich nicht [mit dem Verletzten] gütlich einigt.“). Für Indien vgl. R. W. Lariviere (1997), p. 100 ff.

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traditionalen Verhaltens als auch die sozialen Reaktionen auf Abweichungen regelhaft zusammengefasst und damit eine Vertrauensbasis sowohl für die Erwartung künftigen Regelverhaltens als auch für die Folgen von Regelverstößen geschaffen.131 Im kon­ kret-normativen Stadium konnten von dieser Basis aus soziale Verhaltensgebote und Reaktionen auf abweichendes Verhalten in rationale Konzepte gegossen und diese miteinander zur Sittenordnung eines Stammes oder Volkes verbunden werden – wo­ bei der erste Abschnitt der Entwicklung noch weitgehend unartikuliert ablief, die sprachliche Genauigkeit der Verhaltensnormen also noch sekundär war, während der zweite Abschnitt schon zur überwiegend sprachlichen Verfestigung hinleitete. Und den Beginn eines abstrakt-normativen Stadiums bildeten Normensysteme, die einer­ seits die Struktur anonymer Sozialbeziehungen übernahmen, andererseits deren Abs­ traktheit auflockerten, weil man es ja immerhin mit persönlichen Beziehungen zu tun hatte und dies glaubte berücksichtigen zu müssen.

(γ) Bedeutung abstrakt-normativen Denkens für das Recht. Die Vergan­ genheit hatte schon erwiesen, dass Recht und Gerechtigkeit nicht identisch sind. Deshalb war das Vordringen abstrakter Normsätze in das Recht weder logisch ausgeschlossen noch der Gerechtigkeit abträglich, sodass man ihrem Vordringen auch keinen Widerstand zu leisten brauchte. Die abstrakte Be­ grifflichkeit von Normsätzen bezog sich auf eine rationale Welt, und die stand mit der wahrgenommenen realen Welt zwar einerseits in Kontakt, hob sich aber andererseits durch ihre Freiheit von allen realen Besonderheiten deutlich ab. Genetisch vorbereitet war der Schritt in eine rationale Welt möglicherweise durch physiologische Veränderungen im Gehirn, psychologisch war er eher die Folge jener Veränderung im Weltbild, die wir heute noch in der frühen Ontogenese des Kindes beobachten können: Zunächst glaubt das Kind an ‚märchenhafte‘ metaphysische Kräfte, die einerseits ‚isoliert‘ über der wahrgenommenen Realität stehen, ihr ande­ rerseits aber von Zeit zu Zeit ihren Stempel aufdrücken (‚Adjunktion‘).132 Später entsteht daraus der Glaube an metaphysische Wesen, die gelegentlich in die reale Welt eingreifen und dadurch beide Welten miteinander verbinden (‚Konjunktion‘). Und in einem dritten Entwicklungsschritt sieht der Jugendliche die irdische Welt 131  Ein Beispiel dafür ist die Nahrungsversorgung neugeborener Kinder: Bei eini­ gen Völkern wurde das Kind versorgt, sobald es schrie, bei anderen nach einem star­ ren zeitlichen Schema. Bei einigen Völkern wurde es solange wie möglich gestillt, bei anderen so früh wie möglich entwöhnt. Obwohl das Nahrungs- wie das Bedürfnis nach körperlicher Nähe sowohl seitens des Kindes als auch seitens der Mutter gene­ tisch bedingt sind, wurde ihre Befriedigung durch Brauchtum also in unterschied­ licher Weise modifiziert. 132  M. J. Rossano (2007), p. 286 f. Das Verhältnis des Märchenglaubens zu den Urreligionen der Menschen bzw. zu einer vorreligiösen Epoche der Menschheit ist nicht erforscht, da wir (zumindest bisher) keinen wissenschaftlichen Zugang zum Glauben prähistorischer Menschen haben. „Das Weltbild oder gar eine Weltanschau­ ung des Eiszeit- oder Steinzeitmenschen darlegen zu wollen, wäre vermessen. Man kann darüber kaum Genaueres beim bronzezeitlichen Menschen aussagen“ (K. Goldammer, 1984, S. 46).



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I399

durchdrungen von dieser metaphysischen Welt und sich im gedanklichen Bewusstsein mit ihr vereinigen (‚Interpenetration‘).133

Der Fortschritt, wie auch immer entstanden, lag darin, dass den Menschen abstrakte (und deshalb ‚unveräußerliche‘) subjektive Rechte zugeschrieben wurden. Er kam in erster Linie den Fremden zugute, insbesondere denen, die als Botschafter, Mitglieder von Handelskarawanen oder als Reisende ins Land kamen. Man hatte sie lange Zeit als minderwertig bzw. weniger menschlich angesehen, weil ihre Sprache und Kultur, bisweilen auch ihr Aussehen, anders waren als die des eigenen Volkes.134 Jetzt gewährte man ihnen kraft ihres (abstrakten) Menschentums Rechtsschutz gegen räuberische Überfälle, den Handelsreisenden auf geordneten Märkten135 überdies Rechts­ schutz durch die Bekanntgabe der Marktordnungen. Ja, man unterstützte ihr Rechtsbewusstsein sogar noch dadurch, dass man sämtliche im Lande gelten­ den Gesetze auf Tafeln schrieb und diese Tafeln an einem allgemein zugäng­ lichen Ort aufstellte. Der darin liegende Fortschritt wurde so allgemein be­ grüßt, dass er schließlich auch der Allgemeinheit zugutekam: Rechtsgesetze mussten künftig leges sein, sie mussten ‚lesbar‘ im Lande verbreitet werden, ohne dass zwischen der Herrschaftsinstanz, die sie erließ, und den Bürgern, welche sie empfingen, eine Mittelsperson, etwa ein Abgesandter oder Ver­ künder, stand und für die Richtigkeit der Übermittlung bürgte. Inhaltlich be­ stätigten die Gesetze dann meistens zwar nur das im Volk ohnehin geltende mündliche (Gewohnheits-)Recht, allenfalls schlossen sie Lücken im Nor­ 133  Das historisches Pendant zu dieser differentiell-psychischen Entwicklung fin­ den wir in der Aufeinanderfolge einer prä-religiösen Epoche magischer Anschauun­ gen und Riten im archaischen Altertum, einer religiösen Epoche der Verbundenheit mit höheren Wesen vom Altertum bis in die Neuzeit und einer eher post-religiösen Epoche seit der Neuzeit, die das Physische mit dem Metaphysischen verschmilzt und u. a. an innere, ‚unveräußerliche‘ menschliche Werte glaubt, die das Wesens des Men­ schen unabhängig sowohl von seiner Physis (und seiner Hautfarbe!) als auch von seiner Psyche ausmachen. 134  Die Eskimos (= Fleischesser) bezeichneten nur sich als Menschen (Inuit); dasselbe gilt für die Komantschen in Nordamerika (Nemene), für die Nuer in Afrika an den Seiten des Weißen Nils (Naadh) und für viele andere Völker. Eine Abwertung der anderen Populationen war mit dieser Bezeichnung zwar nicht notwendig verbun­ den; bisweilen handelte es sich um bloß sprachliche Markierungen (J. H. Greenberg, 1975; ferner Ch. Antweiler, 2007, S. 191: „Ethnizität muss nicht per se mit der Ab­ wertung anderer verbunden sein.“). Dennoch vertraute man im Zweifel der Überle­ genheit des eigenen Volkes, der eigenen Sitten und der eigenen Götter. Noch die Griechen erkannten lediglich Angehörige des eigenen Volkes als vollwertige Men­ schen an. Und nicht nur bei ihnen, sondern auch sonst war ausschließlich die Verskla­ vung fremder Völker üblich. Selbst in der Neuzeit schaffte man die Sklaverei nicht immer aus humanitären Gründen ab, sondern weil sie wirtschaftlichen Interessen zu­ widerlief. 135  Die Märkte waren typisch städtische Produkte und als solche ein wesentlicher Teil der achsenzeitlichen Entwicklung. Vgl. dazu W. Fikentscher (2016), p. 382 ff.

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mensystem. Trotzdem war ihre Veröffentlichung praktisch wichtig, weil sie die gleichmäßige Verfolgung und Ahndung von Normbrüchen, vor allem von gewaltsamen, versprachen und damit einen gewichtigen Schritt hin zu unse­ ren modernen Rechtsordnungen taten. Aufgrund der conditio humana wäre ein Fortschritt durch abstrakte Gesetz­ gebung freilich unmöglich gewesen, wenn er nicht gleichzeitig Rückschritte in frühere Stadien erlaubt hätte. Das war indessen der Fall. Erstens musste der Mensch nicht etwa vollständig vom Glauben ablassen, dass außerirdische Kräfte auf die irdische Realität einwirken oder dass deistische Fügungen über sein persönliches Schicksal entscheiden. Zweitens konnten weiterhin altüber­ kommene soziale Konventionen und Bräuche das gemeinschaftliche Leben mitgestalten. Und drittens durften nach wie vor prä-normative Gefühle einen wichtigen Ausschlag für das Sozialverhalten im konkreten Fall geben − oft sogar für sich allein, wenn atypische Situationen zu meistern waren und sie kurzfristig gedanklich nicht analysiert werden konnten. Dann nämlich wichen die Gesetzesordnungen zurück und überließen den vor- bzw. untergeordneten Instanzen die Bestimmung über das Geschehen. Nicht einmal heute entschei­ den sich rational denkende und logisch geschulte Menschen stets aufgrund abstrakt-normativer Gedankenoperationen. Sie fragen nicht, ob die ihrer Handlung zugrunde liegende Maxime geeignet sei, zum allgemeinen (d. h. abstrakten) Gesetz erhoben zu werden,136 sondern vertrauen der Goldenen Regel, die einem früheren Entwicklungsstadium angehört: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“137 Zusatz: Die hier dargestellte Stadienfolge eines prä-normativen, konkret-normati­ ven und abstrakt-normativen Denkens entspricht der genetischen Erkenntnistheorie von Jean Piaget,138 die – wenn auch mit kleinen Einschränkungen139 – empirisch bestätigt worden ist. Verbesserungsvorschläge haben nur marginale Bereiche betrof­ fen, die für die homologe Entwicklung des normativen Denkens irrelevant sind und deshalb vom Verfasser unberücksichtigt bleiben konnten. 136  Diese Entscheidung gemäß dem kategorischen Imperativ I. Kants, (1788, S. 54: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer all­ gemeinen Gesetzgebung gelten könne!“), wäre zwar schon im Altertum möglich ge­ wesen, wurde aber offenbar nicht einmal angedacht, weil sie lediglich eine Vorstufe zur lebendigen Gerechtigkeit eröffnet. 137  Vgl. dazu unten J 5 c β. 138  Vgl. oben C 2 c bb α und unten J 2 a bb α αα. 139  So stimmt es nicht, dass Kinder nur mit gewissen sensumotorischen Fähigkei­ ten auf die Welt kommen und dass sie sich von dieser Basis aus fortschreitend sämt­ liche weiteren Fähigkeiten erarbeiten müssen. Kinder besitzen vielmehr eine größere Anzahl bereichsspezifischer Organisationsprinzipien, die eine Art (auch sprachliches) Vorwissen enthalten und ihre Aufmerksamkeit auf die für sie künftig wesentlichen Eigenschaften von Objekten und auf ihr Verhältnis zueinander lenken (vgl. etwa A. Karmiloff-Smith, 1991, p. 192).



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(δ) Bedeutung logischer Schulung für die Geltung abstrakten Rechts. Trotz der hohen Bedeutung, welche die frühen Stadien für die Entscheidungsfin­ dung behielten, blieben wegen der immer anonymer werdenden sozialen Kontakte in den immer volkreicher werdenden Staaten die Ordnung des so­ zialen Lebens durch abstrakte Gesetze und eine Schulung des Volkes im ab­ strakten Denken zur Beförderung des Gesetzesgehorsams unvermeidlich.140 Denn ohne eine solche Schulung blieb das menschliche Denken und Handeln auf das Anschauungsmaterial aus der Umwelt und seine Kategorisierung aufgrund von Ähnlichkeit angewiesen – und das reichte zwar für die Bewäl­ tigung alltäglicher sozialer Probleme aus141, nicht aber für die Subordination von Handlungen unter abstrakte juristische Normen. Erste Maßnahmen zum Erlernen abstrakt-normativen Denkens und damit des Gesetzesgehorsams bezogen sich im frühen Altertum offenbar auf die Verbesserung der Fähigkeit, wichtige Ähnlichkeiten im Erfahrungsmaterial zu erkennen und diese zur begrifflichen Kategorisierung zu verwenden. So deutet etwa der Inhalt des Kodex Hammurapi auf eine Schulung sowohl in Bezug auf die Differenzierung von Straftaten (Unterschiede der körperlichen Verlet­ zungen und der verletzten Personen) als auch von Strafen (Geld- und Talionsstrafen) als auch des Zusammenhangs zwischen beiden hin.142 Eine entsprechende Schulung scheint es in China gegeben zu haben, wo seinerzeit aufgrund der Bilderschrift ein noch viel größeres Fallmaterial zu bewältigen war.143

Einer zusätzlichen Schulung bedurfte es, um aus bloß abstrakt-gedank­ lichen Informationen über die Realität abstrakt-gedankliche Folgerungen ab­ zuleiten. Man nimmt heute vielfach an, dass derartige rein gedankliche Operationen die Kenntnis des Lesens und Schreibens voraussetzen.144 Daher 140  Die alphabetische Schrift schulte m. E. die Analysefähigkeit am besten; sie war aber, wie das Beispiel Chinas zeigt, keine condicio sine qua non für den Erwerb abstrakten Denkens. Allerdings sind mir Untersuchungen, ob in der chinesischen Be­ griffsilderschrift aufgewachsene Personen (!) schlechter abstrakt denken können als in der Lautschrift aufgewachsene Personen, nicht bekannt geworden. 141  Vgl. dazu etwa R. S. Siegler (1991). 142  Dazu näher J 5 b γ αα. 143  Vgl. dazu G 2 ε. 144  A. R. Luria (1976, p.  108 f.) folgerte dies aus Interviews mit schriftunkundigen Bauern, denen er teils mathematische Aufgaben stellte (z. B. „Zum Dorf X geht man zu Fuß 30 Minuten, mit dem Fahrrad geht es fünfmal schneller. Wie lange fährt man mit dem Fahrrad?“), teils einfache logische Schlussfolgerungen abverlangte (z. B. „Baumwolle wächst nur, wo es heiß und trocken ist. In England ist es kalt und feucht. Wächst dort Baumwolle?“). Wichtiger im vorliegenden Zusammenhang sind klassifi­ katorische Aufgaben, Gegenstände und Eigenschaften richtig zu klassifizieren. Dazu ein Interview als Beispiel: Einer Versuchsperson (Vp) wurden von einem Interviewer (I) Zeichnungen von Hammer – Säge – Holzklotz – Spaten vorgelegt. Anschließend wurde die Versuchsperson vom Interviewer gefragt, ob alle abgebilde­ ten Gegenstände Werkzeuge seien.

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konnten historisch erst literale Gesellschaften eine solche Schulung anbieten (die Rede ist von etwa drei Jahren ‚moderner‘ Schulbildung). Diese Einschränkung wird manchmal zusätzlich noch auf moderne Industriestaaten verengt – doch das erscheint mir allenfalls richtig, wenn man sie auf die neuzeitlichen Verhältnisse bezieht; denn im Altertum war beispielsweise Athen kein Industriestaat, wohl aber ein Staat sowohl mit Schulen als auch mit einer hohen Schriftkultur. Und offenbar war nicht die (weitgehend fehlende) Industrie, sondern die (vorhandene) Schriftkultur der Grund, weshalb der Athener Platon seinerzeit eine abstrakte Welt hypostasieren konnte, die einzig dem abstrakten Denken zugänglich ist.145

Tritt man der Auffassung bei, dass rein gedankliche Operationen die Schu­ lung in einer Schrift voraussetzen, dann enthalten alle Rechtsgesetze, die vor der Erfindung der Schrift entstanden sind,146 keine abstrakten Normen – eine Folgerung, die mir im Hinblick auf das mündlich überlieferte Gesetzesmate­ Vp: Alle

sind ähnlich. Ich denke, dass sie alle gebraucht werden. Sehen Sie, um zu sägen, ist eine Säge nötig, und zum Zerkleinern braucht man den Spaten… Alle sind nötig! … I: Welche von diesen Gegenständen kann man mit einem Wort bezeichnen? Vp: Wie soll das gehen? Wenn man alle drei mit dem Wort ‚Hammer‘ bezeichnet, dann wird das nicht richtig sein! I: Einer hat aber drei Gegenstände ausgewählt, die sich ähnlich sind: Hammer – Säge – Spaten. Vp: Säge, Hammer und Spaten sind füreinander sehr nötig! … Und der Holzklotz ist hier auch nötig! I: Warum wählte er diese drei aus und nahm den Holzklotz nicht dazu? Vp: Wahrscheinlich hat er viel Holz! Wenn wir kein Holz haben, können wir über­ haupt nichts machen. I: Gut, aber Hammer, Säge und Spaten sind doch Werkzeuge. Vp: Ja, aber wenn wir Werkzeuge haben, dann brauchen wir Holz, ohne das wir nichts bauen können… I: Der andere sagte, dass der Hammer dem Spaten und der Säge ähnlich ist, dass er aber dem Holzklotz nicht ähnlich ist. Vp: Selbst wenn sie nicht ähnlich wären, wirken sie doch zusammen und zerkleinern den Holzklotz… I: Diese drei Dinge kann man mit dem einen Wort ‚Werkzeug‘ bezeichnen, den Holzklotz aber nicht. Vp: Welchen Sinn hat es, sie mit einem Wort zu bezeichnen, wenn sie nicht zusam­ menarbeiten werden? Luria kam aufgrund dieses Interviews zu dem Ergebnis, dass die Versuchsperson nicht in der Lage war, von der anschaulich-praktischen Situation zu abstrahieren und die Gruppierung der Gegenstände allein auf die ausgeübte Tätigkeit zu beziehen. Zur Kritik vgl. oben D 1 f (Fn. 293). 145  Platon, Politeia, 6. Buch. 146  Dazu, dass viele indigene Völker Gesetze kannten, obwohl sie schriftunkun­ dig waren, und dass die darin enthaltenen Normen in metrischer Form abgefasst wurden, damit sie man sie leichter auswendig lernen konnte, vgl. oben G 5 γ und unten H 2 e bb.



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rial vertretbar erscheint. Doch selbst Rechtsgesetze, die nach der Erfindung der Schrift entstanden sind, enthalten nicht notwendig abstrakte Normen; denn der Grund für ihren Erlass war keineswegs immer, den bisher mündlich tradierten konkreten Normen nunmehr einen abstrakten Charakter zu geben. Vielmehr konnten auch eher praktische Gründe ihre Verschriftlichung veran­ lasst haben: etwa um sie übersichtlich zusammenzufassen, sie zu ergänzen oder zu korrigieren oder um Rechtsgleichheit im Lande herzustellen.147 Ziemlich eindeutig ist die Situation in Ägypten: Dort verfasste man anstelle von Gesetzen kasuistische Sittenlehren, etwa die ‚Lehre des Ptahhotep‘ und die ‚Lehre für Merikare‘, deren Weisungen nicht einmal den Anschein abstrakter Normen erwecken. Aber auch in Israel bedeutete tōrā ursprünglich nicht ‚Gesetz‘ im heutigen Sinne, sondern ‚Weisung‘ – weshalb man die im Deuteronomium und anderwärts niederge­ legten Normen so verstand, dass sie jedem den Weg zu einem sittlichen Leben gemäß der göttlichen Solidarität und Treue weisen. In unserem heutigen Sinne waren sie mithin keine Rechtsnormen.148

Als abstrakt werden wir daher hauptsächlich diejenigen Rechtsnormen ansehen dürfen, deren Gerechtigkeit ausdrücklich gemäß Billigkeit korrigiert werden durfte. Ansatzweise gab es sie in Mesopotamien, deutlicher und be­ deutsamer in Griechenland und Rom, wo ἐπιείκεια149 und aequitas150 (ein 147  Darauf deutet die Detailfreude vieler archaischer Gesetze hin. So enthält z. B. der Kodex des Hammurapi Normen, die eindeutig auf gerichtlichen Entscheidungen konkreter Streitigkeiten beruhen: über das aushäusige Verhalten einer Ehefrau, deren Mann verhaftet wurde (§§ 133a/b – 135), über das Verhalten einer Schankwirtin, die ihre Kundschaft betrügt (§ 108) oder eine betrügerische Sippschaft in ihrer Schenke duldet (§ 109), über das Abbrechen von Hörnern und Abschneiden des Schwanzes eines gemieteten Rindes (§ 248) u. a. m. Das XII-Tafelgesetz bestimmt, dass der Klä­ ger einem Beklagten, der sich krankheits- oder altersbedingt weigert, zu Gericht zu gehen, ein Lasttier zur Verfügung stellen müsse oder, falls dieser das nicht wünscht, einen Wagen, den er aber nicht mit einem Verdeck zu versehen braucht (1 3); dass er einem Schuldner, der keinen Bürgen stellen kann, Fußfesseln im Gewicht von 15 Pfund anlegen dürfe, „nicht stärkere, wenn er aber will, leichtere“, und dass er ihn ernähren müsse, „täglich mit einem Pfund Spaltbrei, wenn er aber will, mit einer größeren Menge“ (3 3/4); dass es erlaubt ist, Eicheln auf einem fremden Grundstück zu sammeln (7 10); dass man einem Toten das Zahngold vor dessen Begräbnis he­ rausnehmen solle (10 8), u. a. m. 148  Vgl. 5. Mose 17 11. 149  Zu ihr vgl. unten J 6 b. 150  Die aequitas klingt an in der Bestimmung der ‚iustitia‘ als constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi (Dig. 1,1,10). Das ius suum cuique tribuere entstammt darin der griechischen Philosophie und bedeutet die Konkretisierung des abstrakten Rechts auf die Verhältnisse des konkreten Falles. Stellt man in der deut­ schen Sprache ‚Recht‘ und ‚Gerechtigkeit‘ einander gegenüber, wird ebenfalls ‚Recht‘ als Summe abstrakter Normen begriffen, während ‚Gerechtigkeit‘ die vom abstrakten gesetzlichen ‚Recht‘ nicht erreichte konkrete Gerechtigkeit bzw. ‚Billigkeit‘ einbe­ zieht.

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Wort, das im englischen equity151 weiterlebt) die Gesetzesgerechtigkeit er­ gänzten. Praktisch aber spielten sie weder in Griechenland noch in Rom eine erhebliche Rolle. In Mesopotamien wurde dīnu (das „gesetzte Recht“, die „Rechtsnorm“) durch mīšaru (die „Gerechtigkeit“)152 und kīttu (die auch sittlich zu verstehende „Recht­ schaffenheit“) ergänzt. In Griechenland (Attika) waren die sozialen Verhältnisse überschaubar, vor Ge­ richt traten Kläger und Beklagte auf, die mindestens einem Teil der Geschworenen bekannt waren, und die Geschworenen hatten nur über ihre konkreten Anträge zu entscheiden, wobei sie zusätzlich zwischen der konkreten Folgenabschätzung für den Kläger und für den Beklagten abzuwägen hatten. Für die Anwendung abstrakter Ge­ setze kamen daher hauptsächlich diejenigen Fälle in Betracht, (1) worin arithmetisch Gleiches mit Gleichem zu vergelten (‚Talionsprinzip‘) oder wo für einen Schaden ein arithmetisch Mehrfaches als Ersatz zu leisten war, (2) worin geometrisch Verhältnis­ mäßiges zu geometrisch entsprechenden Folgen führen sollte (etwa größeres Verdienst zu entsprechend größerer Belohnung), oder (3) worin anhand von feststehenden Zähl­ einheiten Maße, Preise oder Fristen (etwa für die Ersitzung eines Grundstücks) fest­ zusetzen waren. Ähnlich beschränkt war der Bedarf an abstrakten Gesetzen auch in Rom, wo Legis­ aktionenverfahren nur entweder in rem seitens des Eigentümers gegen den Besitzer zwecks Herausgabe einer (konkreten) Sache oder in personam zur Verfolgung von zahlenmäßig bestimmten Schadensersatzansprüchen durchgeführt werden konnten und auch den später eingeführten Kondiktionsverfahren ein zahlenmäßig bestimmter Geldanspruch zugrunde liegen musste. Diese Situation änderte sich grundlegend erst im 2. Jh. v. u. Z., als man zum sog. Formularprozess überging. Die Prätoren formu­ lierten abstrakte actiones, auf die sich die konkreten Klageforderungen stützen muss­ ten. Und die Tätigkeit der Advokaten verlagerte sich auf die Auslegung der actiones in einem ihrem Mandanten günstigen Sinn.

Mit einiger Sicherheit lässt sich Abstraktheit ferner für diejenigen Rechts­ normen bejahen, die in bewusster Abgrenzung zu geltenden Sittennormen geschaffen wurden: in Griechenland etwa für die Normen Solons aus dem 6. Jh., in Rom für die Normen der Prätorianischen Rechtssetzung aus dem 3.  Jh.  v. u. Z. 151  Equity wird in Black’s Law Dictionary (ed. 1990) definiert als „justice admi­ nistered according to fairness as contrasted with the strictly formulated rules of com­ mon law. It is based on a system of rules and principles which originated in England as an alternative to the harsh rules of common law and which were based on what was fair in a particular situation.“ Dasselbe Lexikon (ed. 1999) räumt aber auch ein, dass wie jede Definition auch diejenige von equity historisch bedingt ist (vgl. dazu ausführlich A. Hudson, 2010, p. 14 ff.). In Deutschland wird das englische ‚fair‘ heute oft gebraucht, um den Begriff ‚Billigkeit‘ zu ersetzen (z. B. ein ‚faires Verfahren‘). Zum römischen Billigkeitsdenken vgl. T. Kleiter (2010). 152  Auf seiner Gesetzesstele trägt Hammurapi den Titel „König der Gerechtigkeit“ (šar mīšarim).



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In Griechenland hatte die Trennung von Recht und Sitte politische Gründe. Solon wollte die sozialökonomischen Folgen beseitigen, die aus der Verschuldung der Kleinbauern herrührten und von der Normenordnung verstetigt wurden. Er stellte der schlechten Normenordnung (der δυσνομία) daher die gute Normenordnung (die εὐνομία) gegenüber, die er an der Interessenlage des einfachen Volkes orientierte. Um sie durchzusetzen, verdrängte er den Adel aus dem Zentrum der Politik und ermäch­ tigte die Volksversammlung, alle ihr notwendig erscheinenden Beschlüsse selber zu fassen. Gleichzeitig veränderte er den Charakter der Normen, indem er sie als dem menschlichen Zugriff offene Setzungen ansah – und somit zum ‚Erfinder‘ von Geset­ zen als Objekten menschlicher ‚Satzung‘ wurde. In Rom wurden abstraktes Recht und konkrete Sitte dagegen prozessual voneinan­ der getrennt: Das Rechtsverfahren fand vor dem Prätor statt, während für das Sitten­ verfahren (iudicium de moribus) die Zensoren zuständig waren. Allerdings ging die zensorische Gewalt später auf den Kaiser über, der auch für die Entscheidung über die Berufungen gegen Rechtsurteile zuständig war. Somit kam es zwar in seiner Hand zu einer Vereinigung von Rechts- und Sittenverfahren; doch war diese eher äußerlich, als dass sie der Einbeziehung von Erwägungen der Moral und der Billigkeit in den Rechtsprozess diente.153

c) Bewertungsprozesse Juristische Denkprozesse werden stets von Bewertungsprozessen begleitet, für die hauptsächlich physiologische Prozesse in den mittleren Abschnitten des menschlichen Gehirns, insbesondere im Hypothalamus und im limbi­ schen System, zuständig sind. Das menschliche Gefühl, das dort seinen Ort hat, hat nämlich, wie wir sahen, zwar vordergründig die Leitfunktion für das menschliche Verhalten an das Denken abgegeben und den rationalen Grün­ 153  Vgl. hierzu Gaius, Inst. IV 26 f.; M. Eine entsprechende Entwicklung wie in

Kaser (1971), S. 196. Rom vollzog sich viele Jahrhunderte spä­ ter in England, wo neben den courts of common law auch courts of equity tätig wa­ ren. Das common law war von den germanischen Stammesrechten abgeleitet; es war starr und unbeugsam (und entsprach insoweit in etwa dem römischen ius civile). Das von den courts of equity geübte Verfahren war dagegen erheblich freier sowohl was die Einbeziehung des Prozessstoffes als auch dessen Behandlung anbelangt. Die von den common-law-Gerichten erlassenen Urteile besaßen allerdings höheres Gewicht; ein Gang vor ein equity-Gericht im Anschluss an das Urteil eines common-law-Ge­ richts brachte der dort unterlegenen Partei daher kaum jemals Hilfe. Hilfe bringen konnte nur eine Reform des common law. Eine solche Reform ging in der Tat vom Kanzler als dem ersten Minister und Siegelbewahrer des Königs aus, dessen court of chancery die strengen Regeln des common law mit dem law of equity verband. Der court des Kanzlers konnte erst abgeschafft werden, als die courts of law außer der Jurisdiktion über die gesetzliche Beurteilung eines Streitfalles hinaus auch die über die konkrete Billigkeit der gesetzlichen Beurteilung im Hinblick auf einen konkreten Streitfall erwarben. Das geschah erst Anfang des 20. Jh.s. Heute ist equity in England „part of the law …; it is not law only in the sense that it is part of the common law“ (G. L. Williams, 1982, p. 26). Siehe dazu auch W. Seagle (1951), S. 251 ff.

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den für die Diskussion um die Gerechtigkeit die Herrschaft eingeräumt. Im Hintergrund aber ist es wirksam geblieben: Es bestimmt insbesondere das Ziel aller Diskussionen zur Gerechtigkeit, und es gewichtet die dazu vorge­ tragenen rationalen Gründe danach, wieweit sie sich dem gefühlsmäßig als richtig Empfundenen annähern. Gleichzeitig schult es sich allerdings auch selber in der Diskussion von widersprüchlichen Meinungen, sodass ein stän­ diges Geben und Nehmen zwischen ihm und der Ratio stattfindet und am Ende beide gemeinsam dafür sorgen, dass bei der Lösung der vielfältigen Probleme um Interessenkonflikte und Verteilungsaufgaben die Gerechtigkeit den Sieg davonträgt. aa) Streben nach Gerechtigkeit Immanentes Ziel der Entwicklung eines Rechtsgefühls war das Streben nach Gerechtigkeit. Das Bedürfnis danach war menschliches Allgemeingut gewesen, noch bevor die ersten Rechtsnormen entstanden. Es bildete die Grundlage zunächst für ein Richterrecht, das soziale Streitigkeiten – anfangs noch ohne Hinblick auf künftige Fälle – ‚ausgleichend gerecht‘ entschied oder schlichtete. Es verstärkte sich, als man die Richtersprüche im Gedächt­ nis oder in Karteien sammelte und sie zur Richtschnur auch für die ‚austei­ lende Gerechtigkeit‘ von Entscheidungen ‚in der Reihe‘ machte – als m. a. W. das Richterrecht zum Präjudizienrecht wurde. Und es verstärkte sich aber­ mals, als aufgrund einer Fülle ähnlicher Fälle das gleichbleibend Gerechte in den Vordergrund trat und das Besondere an den Rand drängte und zuletzt Normen entstanden, die dem Gleichen bzw. Ähnlichen den Vorrang vor dem Besonderen gaben. Die Vorstufe zu einer Rechtsordnung war damit erreicht, und diese erstreckte sich denn auch bald auf die gesamte ‚Materie‘, die man einer staatlichen Friedenssicherung in der ‚Form‘ von Gesetzen für würdig und bedürftig befand. Aus dem Gerechtigkeitsgefühl ging ein eigenes Rechts­ ordnungsgefühl hervor. „Gerechtigkeit im Lande sichtbar zu machen“ sah in Babylon Hammurapi als sei­ nen göttlichen Auftrag an.154 Er erfüllte den Auftrag, indem er auf einen Denkstein die Worte seiner Gerechtigkeit, nämlich die Leitsätze seiner Entscheidungen, schrei­ ben ließ, die den Entrechteten sowie den Witwen und Waisen zu ihrem Recht verhal­ fen.155 Dasselbe Ziel, Gerechtigkeit im Lande sichtbar zu machen, verfolgten die ägyptischen Herrscher: Auch sie sahen sich als Garanten der Gerechtigkeit, der ma`at, und sie verwirklichten sie, indem sie das ‚Gesetz der Fische‘, wonach die großen die kleinen fressen, entmachteten und die Schwachen vor den Starken schützten.156 Gerechtigkeit, welche den Himmel mit der Erde verbindet, verordnete schließlich 154  CH

Prolog. Epilog. 156  J. Assmann (1995), S. 226 ff. 155  CH



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auch das Alte Testament, damit die Natur fruchtbar sei und sie den Menschen Nah­ rung bringe, während Ungerechtigkeit Dürre und Hungersnot zur Folge hat.157

bb) Ausdifferenzierungen der Gerechtigkeit Im Laufe der Entwicklung wurde die Erkenntnis dessen, was ‚Gerechtig­ keit‘ ist, immer schwieriger, weil differenzierter. Man unterschied materiale und prozessuale Gerechtigkeit: jene als Aufarbeitung der Vergangenheit, Gestaltung der Gegenwart und Vorsorge für die Zukunft, diese als bestmög­ liches Verfahren hierzu. Unterscheidung aber bedeutete nicht Zerreißung: Beide blieben aufeinander angewiesen; denn materiale Gerechtigkeit ließ sich nicht ohne ein gerechtes Verfahren gewinnen, und umgekehrt erzeugte ein gerechtes Verfahren allein noch keine materiale Gerechtigkeit – es gab keine „Legitimation [allein] durch Verfahren“158, außer wo sie ausdrücklich angeordnet, weil als ausnahmsweise gerechtfertigt empfunden wurde – ich werde bei späterer Gelegenheit darauf zurückkommen (unten K 5 c). (α) Materiale Gerechtigkeit. Eine weitere Differenzierung, die wahrschein­ lich älteste innerhalb der materialen Gerechtigkeit, bestand zwischen (αα) Ausgleichs- und Austeilungsgerechtigkeit. Aristoteles hatte die Gerechtigkeit ursprünglich noch undifferenziert als eine sozi­ ale Tugend (ἀρετή) begriffen, „die jegliche Tugend umfasst“.159 Damit schloss er sich der ursprünglichen Bedeutung von δίκη an, die sich noch ausschließlich auf die aus­ teilende Gerechtigkeit bezog, „durch die jeder das Seine erhält und wie es das Gesetz angibt“ (δίκαιον διανεμητικόν, iustitia distributiva). Erst später fügte er der Gerech­ tigkeit den weiteren, nach heutigem Verständnis gleichrangigen, Aspekt hinzu: den des gerechten Ausgleichs, wonach bei einem Gütertausch beide Seiten die gleichen Werte hingeben und erhalten sollen (δίκαιον διορθωτικόν, iustitia com­mutativa).160 Er sah (oder erwähnte) allerdings nicht, dass beide Aspekte der Gerechtigkeit sich überlappen; denn eine Austeilung wird nur dann als gerecht empfunden, wenn ihr gerechte Ausgleichungen entweder eines Bedarfs oder eines Verdienstes zugrunde liegen; und umgekehrt wird ein Ausgleich nur dann als gerecht empfunden, wenn er auch anlässlich einer Austeilung als gerecht bewertet würde.

Ausgleichsgerechtigkeit ist diachrone, auf die Vergangenheit bezogene, Gerechtigkeit. Ihr liegt ein Rückkopplungsvorgang zugrunde, der einen H. H. Schmid (1968). der Titel einer zeitweise einflussreichen Abhandlung von N. Luhmann (1969). Wieweit Verfahren unabhängig von weiteren materiellen Voraussetzungen wie Volksbeteiligung bei der Gesetzgebung (Demokratie), Beteiligung der vom Ergebnis einer Entscheidung Betroffenen u.dgl. eine legitime Normung erzeugen können, wird später zu erörtern sein (vgl. unten K 5 c β). 159  Aristoteles, NE V 3: Zitat 1129b. 160  Aristoteles, Rhetorik I 9: 1366b. 157  Dazu 158  So

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Ausgangszustand aus einem Eingangszustand heraus legitimiert. Sie legiti­ miert z. B., dass die Lieferung einer gekauften Ware durch die Zahlung des Kaufpreises ausgeglichen wird, die Vernichtung oder Beschädigung einer fremden Sache durch die Leistung von Schadensersatz,161 die zuvor began­ gene Straftat durch die Verbüßung einer Strafe. Und zwar legitimiert sie den nachfolgenden Zustand deshalb, weil es ein angeborenes Bedürfnis (das seinen prominenten Ausdruck in der ‚Talion‘ findet) befriedigt, wenn der Nachteil, den jemand einem anderen zugefügt hat, mit dem Nachteil, den er selbst daraufhin erleidet („Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn …“), ausgeglichen wird. Zu dieser arithmetischen Gleichheit tritt innerhalb der Realität dann noch die Kausalität als Berührungsgleichheit ­ hinzu, wonach die Reaktion auf eine Nachteilszufügung als Schadensersatz in der Naturalrestitution spiegelbildlich zum Ausdruck kommen und als Strafe dasjenige Glied treffen soll, das den Nachteil zugefügt hat: Dem Dieb soll die Hand abgehauen, dem Lügner die Zunge herausgeschnitten werden. Allerdings beharrte man schon im Altertum nicht unbedingt auf einem naturalistisch spiegelnden Ausgleich, sondern setzte an seine Stelle den Wertausgleich. Man lehnte ‚Spiegelstrafen‘ also zwar nicht ab, legte die Forderung danach aber auf die Waage der Gerechtigkeit und relativierte sie im Hinblick auf die am Schadensereignis beteiligten besonderen Umstände. Dann nämlich zeigte sich, dass derselbe Schaden, der dem einen zugefügt wurde (etwa dieselbe Freiheitsentziehung oder Vermögensbeschädigung), ein anderes Opfer u. U. entweder härter oder weniger hart getroffen hätte; und dass dieselbe spiegelnde Folge, die den Urheber des Schadens darauf­ hin treffen soll, ebenfalls anders wäre, würde ein anderer der Urheber des­ Schadens sein. Dadurch verlor die Ausgleichsgerechtigkeit ihre Bestimmt­ heit und schrumpfte zur regulativen Idee, die der Konkretisierung durch einen Eingangs- und einen Ausgangswert bedurfte: Eine Schädigung und deren Ausgleich sollte lediglich die Gleichheit ihres Wertes verbinden. Für die Verteilungsgerechtigkeit, die nicht die Aufarbeitung der Vergan­ genheit, sondern die Gestaltung der Gegenwart zum Gegenstand hatte, war es von vornherein schwierig, wenn nicht unmöglich, ein naturalistisches Pendant zu finden. Aristoteles behalf sich deshalb mit einer Analogie zur Geometrie: Verhält die Linie a zur Linie b sich wie die Linie c zur Linie d, dann verhält auch die Linie a zur Linie c sich wie die Linie b zur Linie d. Das sollte entsprechend auch für die gerechte Verteilung von Leistungen an verschiedene Empfänger gelten: Der Wert der Leistungen und die Würdigkeit der Personen, die sie empfingen, sollten bei einer gerechten Verteilung in 161  Vgl. im Sinne der Restabilisation die Norm des § 249 Abs. 1 BGB: Der Schä­ diger „hat den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz ver­ pflichtende Umstand nicht eingetreten wäre.“



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gleichem Verhältnis zueinander stehen: der Wert der Leistung a der Würdig­ keit ihres Empfängers b als ebenso entsprechen wie der Wert der Leistung c der Würdigkeit des Empfängers d, weshalb ein Unterschied im Wert der Leistungen gleichzeitig auch den Unterschied in der Würdigkeit der beiden Empfänger spiegeln sollte. Beispiele: Eine Verteilung von Ehrenzeichen, Geldern und anderen Dingen sollte dann gerecht sein, wenn sie gleiches Verdienst gleich, unterschiedliches Verdienst entsprechend unterschiedlich belohnte, eine Bestrafung dann gerecht, wenn sie glei­ ches Unrecht an allen Tätern gleich, unterschiedliches Unrecht entsprechend seiner Schwere unterschiedlich sühnte.

Aristoteles erkannte allerdings auch: „Man versteht unter der Angemessen­ heit [einer Belohnung oder Strafe] nicht überall dasselbe.“162 Und hätte er noch ergänzt, dass man auch „nicht jederzeit“ dasselbe darunter verstanden hat, dann hätte er die praktische Verwendbarkeit seiner Berechnung vollstän­ dig relativiert. Mit Recht! Denn so wenig wie die Arithmetik erzeugt die Geometrie aus sich heraus Gerechtigkeit; vielmehr steht auch sie stellvertre­ tend nur für eine regulative Idee, wonach sich die Erzeugung von austeilen­ der Gerechtigkeit nach der Gleichheit der zuvor festgesetzten Werte zu rich­ ten hat. Andernfalls bleibt jede Aussage über die Gerechtigkeit einer Austei­ lung spekulativ.163 Das Ergebnis ist folglich, dass positives Recht nicht schon mithilfe der Mathematik ein gerechtes Verhältnis zwischen Ursache und Folge entwickeln kann, sondern dass es von denjenigen Werten unterstützt werden muss, die es entweder (z. B. in einer Sittenordnung) vorfindet oder die ihm (z. B. von ei­ nem Gesetzgeber) vorgegeben werden. (ββ) Abstrakte und konkrete Gerechtigkeit. Ein weiterer Unterschied inner­ halb der Gerechtigkeit besteht darin, dass sie uns entweder konkret als soziale oder abstrakt als staatliche (gesetzliche) entgegentritt. Wahrscheinlich hat wiederum Aristoteles164 als erster die Bedeutung dieses Unterschieds klar erkannt und daraus auch als erster die Folgerungen gezogen, dass eine staat­

162  Aristoteles,

NE V 6 (Zitat 1131 a). dazu noch unten K 7 c β: Jede empirische Rechtsordnung braucht zur Konkretisierung dessen, was verteilungsgerecht ist, spezifischer Grundlagen, und als solche kommt nur die jeweilige Sozialordnung in Betracht, der alle wesentlichen Ankernormen für die Verteilung von Rechten und Pflichten zu entnehmen sind. Deshalb sind in Wahrheit die Sitten eines Volkes – und nicht die Geometrie – die Grundlage für die Verteilungsgerechtigkeit. Und der Kampf um die soziale Gerechtigkeit in allen Staaten zeigt denn auch deutlich, dass die ‚richtige‘ Verteilung nur auf dem Kampf­ platz der Meinungen entschieden werden kann. 164  Aristoteles, NE V 14: 1137b. 163  Vgl.

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liche Gesetzgebung das soziale Leben stets nur im abstrakt Allgemeinen,165 die staatliche Gesetzesanwendung durch Rechtsprechung und Verwaltung das soziale Leben stets nur im konkret Besonderen regeln kann. Deshalb müsse ein gerechter Gesetzgeber in dem Maße, wie er Rechtsprechung und Verwal­ tung bindet, die Wirkung seiner Normen auf das Besondere vorhersehen, während Rechtsprechung und Verwaltung umgekehrt die Pflicht haben, die Auswirkungen ihrer Entscheidungen auf die Allgemeinheit gesetzlicher Nor­ men zu bedenken. Die Güte einer Gesetzgebung ist folglich davon abhängig, inwieweit es ihr gelingt, Rechtsursachen und Rechtsfolgen sowohl in ein logisch klares Wenn-dann-Verhältnis als auch in ein gerechtes Weil-deshalb-Verhältnis zu bringen.166 Ein logisch klares Wenn-dann-Verhältnis entsteht, wenn eine abstrakte Norm auf einen konkreten Sach­ verhalt anwendbar ist, weil ihr Tatbestand „das enthält, was meistenteils geschieht“167. Fehlt es daran, weil ein konkreter Sachverhalt außergewöhnliche Umstände enthält, dann kommt nur eine mittelbare (analoge) Anwendung der abstrakten Norm auf ihn in Betracht; der Anwender eines Gesetzes muss in Wahrheit zum Gesetzgeber werden und so entscheiden, wie der Gesetzgeber selbst es getan hätte, wenn ihm der Sachver­ halt vor Augen gestanden hätte.168 Ein gerechtes Weil-deshalb-Verhältnis entsteht somit nur dann, wenn der Gesetzgeber genügend Raum entweder für eine konkretgerechte Interpretation seiner Normen oder für ihre gerechte Ergänzung gelassen hat − entweder durch einen sogen. ‚offenen Tatbestand‘ oder durch einen ‚Rahmen‘ für die Rechtsfolge.169

(γγ) Herstellende und vorsorgende Gerechtigkeit. Ausgleichung und Aus­ teilung beziehen sich auf die Herstellung von Gerechtigkeit und bringen hierfür ein mathematisches Skelett mit – jene die arithmetische, diese die geometrische Gleichheit. An solcher mathematischen Grundversorgung fehlt es der vorsorgenden Gerechtigkeit. Ihr geht es um Voraussicht und Erstreben dessen, was dem Wohle eines Gemeinwesens (Staates) dient – und zwar nicht nur seinem materiellen Nutzen, sondern auch seiner ideellen Wohlfahrt. Von den Herrschern und den staatlichen Institutionen erwartet sie deshalb eine ‚Daseinsvorsorge‘, welche die Römer als ars boni et aequi bezeichne­ ten. Und von den Bürgern verlangt sie die Mitarbeit daran nicht nur durch Zahlung von Steuern, sondern auch durch persönlichen Einsatz (sozialen Hilfsdienst, militärischen Waffendienst) und ehrenamtliche Tätigkeit. 165  Vgl. auch Dig. 1,3,5 (Celsus): Gesetze müssen „dem angepasst werden, was häufig und leicht geschieht“. 166  Vgl. dazu E.-J. Lampe (1999), S. 47. 167  Dig. 1,3,10 (Julian). 168  Dig. 1,3,18 (Celsus). So kann – entgegen XII-Tafelgesetz 8 6 – auch Ersatz für einen Schaden verlangt werden, den nicht ein vier-, sondern ein zweibeiniges wildes Tier (etwa ein afrikanischer Strauß) in einem Garten angerichtet angerichtet hat. 169  Dig. 1,3,11 (Julian). Ein Beispiel ist die Festsetzung eines Strafrahmens für ein Delikt.



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Francisco Suarez hat diese fürsorgende und vorsorgende Gerechtigkeit (iustitia providentialis) erst im 16. Jh. u. Z. als das Ziel jeder Staatstätigkeit (iustitia gubernativa) namhaft gemacht.170 Sie galt indes schon im Altertum als bestimmend für alle am Rechtsverkehr teilnehmenden öffentlichen Institutionen.

Daseinsvorsorge lässt sich als Aufgabe des positiven Rechts damit begrün­ den, dass nicht nur der einzelne Mensch, sondern auch der Gesetzgeber aus der Vergangenheit lernen und Lehren für die Zukunft ableiten soll. Die Ge­ setzgeber und die Verwaltungsbehörden trifft daher die Aufgabe, Gerechtig­ keit im öffentlichen Leben zu verbreiten,171 die Bürger eine entsprechende Aufgabe für ihre Funktion im privaten Leben: in Bezug auf die Familie, in Bezug auf ihre Vertragspartner, auf die Gesellschaften und Vereine, deren Mitglieder sie sind. Inhalt des staatlichen Rechts soll es sein, den Maßstab für die Erfüllung dieser Aufgaben zu benennen und die Verwaltung oder die Justiz172 zu Reaktionen zu veranlassen, wenn die Nichterfüllung einen Scha­ den für andere oder für die Allgemeinheit zur Folge hatte oder ihn herbeizu­ führen droht.173 (δδ) Zusammenfassung. Bereits im Altertum differenzierte man innerhalb der materiellen Gerechtigkeit zwischen Ausgleichs- und Verteilungsgerech­ tigkeit (Aristoteles). Den Weg zu dieser Unterscheidung wiesen die damals neuen Erkenntnisse der Mathematik (Euklid) mit ihrer Unterscheidung zwi­ schen Arithmetik und Geometrie. Die der Mathematik fehlende Beziehung zur sozialen Realität entnahm man den psychischen Gesetzen der Ähnlichkeit (Similarität) und der Berührung (Kontinuität). Innerhalb einer Norm sah man folglich ein Höchstmaß an Gerechtigkeit als erreicht an, wenn zum einen ihre Rechtsfolge einen (rechtswidrigen) Tatbestand ‚spiegelte‘ – weshalb im Strafrecht ‚Spiegelstrafen‘, im Zivilrecht ‚Naturalrestitutionen‘ den sinnfäl­ ligsten Ausdruck der Gerechtigkeit waren174 – und wenn zum anderen von 170  Vgl. dazu J. Giers (1958), S. 172 ff. Sie ist iustitia legalis, wird aus dem Wohl des Gemeinwesens (bonum commune) begründet und leitet als Rechtspflicht sowohl das Verhalten sowohl der Herrscher als auch das der Bürger. 171  Ihnen oblag traditionell die Aufgabe der ‚Daseinsvorsorge‘, d. i. die Pflicht zur Abwendung von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, speziell die Pflicht zur Verhinderung krimineller Handlungen. 172  So soll das Strafrecht nicht nur begangenes Unrecht sühnen, sondern mit sei­ nen Straffolgen auch präventiv in die Zukunft wirken. Vgl. Platon, Protagoras 324b: „Wer mit Vernunft sich vornimmt, einen zu strafen, der bestraft nicht um des began­ genen Unrechts willen – denn er kann ja doch das Geschehene nicht ungeschehen machen – sondern des zukünftigen wegen, damit nicht auf ein andermal wieder weder derselbe noch einer, der diesen bestraft gesehen hat, dasselbe Unrecht begehe.“ Aus­ führlich dazu Einzelheiten bei u. a. bei E.-J. Lampe (1999), S.  200 ff. m. w. Nachw. 173  Beispiel Dig. (Marcianus) 48,4,3: Lex tabularum jubet, eum qui hostem concitaverit, quive civem hosti traderit, capite puniri. 174  E.-J. Lampe (1988a), S. 158 f.

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der Rechtsfolge bei naturalistischer Betrachtung primär diejenigen betroffen wurden, welche die engste Berührung mit dem Tathergang hatten, sodass die Spiegelung das Ausmaß ihrer ‚Haftung‘ bestimmte. Begehungstäter waren daher vor ihren Hintermännern (Anstiftern, Gehilfen) haftbar. Zusätzlich mussten sächliche Mittel zur Tatbegehung (instrumenta sceleris) wie etwa die Axt zum Einbruch in eine Wohnung vernichtet werden.175 Kulturell hö­ herstehende Gesellschaften lösten sich zwar von dier naturalistischen Sicht­ weise, wonach der Dieb auch mit dem Verlust der Hand bestraft werden musste, die er zur Tat gebraucht hatte; sie behielten aber den Spiegelungsge­ danken als Wertgesichtspunkt grundsätzlich bei. (β) Formale Gerechtigkeit. Während die materiale Gerechtigkeit die mate­ rielle Relation zwischen einer Rechtsursache und ihrer Folge betrifft, betrifft die formale Gerechtigkeit den Prozess, den die Erkenntnis zwischen einer Rechtsursache und ihrer Rechtsfolge durchläuft. Und weil korrekt erkennen nur kann, wer unvoreingenommen an den Erkenntnisgegenstand herantritt, sah man bereits im Altertum die Unparteilichkeit der Richter als Bedingung für einen gerechten Erkenntnisprozess an. (αα) Grundlinien der Entwicklung. Innerhalb der historischen Entwicklung eines zunächst prärechtlichen und sodann rechtlichen Erkenntnisprozesses lassen sich mehrere Stufen unterscheiden. Am Anfang, als noch die Gemein­ schaft als Ganze am Erkenntnisprozess beteiligt war, war dieser einstufig, weil es infolge der Gleichheit der Familien von vornherein keine andere Möglichkeit ab, als alle Familienangehörigen (oder zumindest alle Männer) am Verfahren zu beteiligen und ein gemeinsames Palaver abzuhalten, das solange dauerte, bis man zu einer einvernehmlichen Erkenntnis gelangte. Anders sah es aus, als später in den Stammeskulturen ein Gremium das Er­ kenntnisverfahren durchführen sollte: Jetzt musste auf einer ersten Stufe un­ ter den infrage kommenden Personen eine Auswahl getroffen werden, und die ausgewählten Personen mussten sich anschließend über das einzuschla­ gende Verfahren beraten.176 Dabei war höchstwahrscheinlich sehr früh schon klar, dass für die Entscheidung über einen Streit nur Personen ausgewählt werden durften, die von den Streitparteien und ihrem Konflikt gleich weit entfernt waren und deshalb als unparteiisch gelten konnten, dass allerdings ihre erste Aufgabe darin bestand, sich möglichst umfassend über den Kon­ flikt und seine Hintergründe zu informieren. Erst auf der zweiten Stufe fand dann das eigentliche Erkenntnisverfahren statt. Wir dürfen mangels unmittelbaren Zugriffs auf Erkenntnisse aus der vor­ geschichtlichen Epoche davon ausgehen, dass die ontogenetische Entwick­ 175  E.-J. 176  Vgl.

Lampe (1988a), S. 148 f. zum Folgenden die Darstellung oben F 3 η.



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lung von Kindern in der gegenwärtigen Kultur, auf die ich Zugriff hatte, diese historiogenetische Entwicklung bei der prozessualen Bewältigung von Streit annähernd wiederholt.177 Das Ergebnis meiner Untersuchung war: So­ bald Kinder fähig sind, sich in den Kenntnisstand anderer Person zu verset­ zen, verlangen sie, dass diese vor einem Urteil über den Gegenstand eines Streits Sachaufklärung betreiben (sie „sollen fragen, was passiert ist“). Nur sofern die Personen zwischen den Streitenden lediglich zu schlichten beab­ sichtigen, darf die Zukunftsperspektive der Versöhnung die rückbezogene Sachaufklärung verdrängen: Sie dürfen sich begnügen, die Streitenden zur Verträglichkeit zu ermahnen und sie zu trennen, bis ihr Eifer verraucht ist. Wie in sonstigen Fällen die Sachaufklärung zu bewältigen ist, dazu entsteht allerdings erst allmählich Übereinstimmung. U. a. sehen erst die 12- bis 13-Jährigen als eine unabdingbare Voraussetzung an, dass beide Streitpar­ teien zu Wort kommen.178 Historiogenetisch hat man vermutlich anfangs nicht so sehr versucht, einen Streit, dessen Gründe nicht allgemein bekannt war, aufzuklären als vielmehr zu schlichten; denn sein Fortschwelen schwächte die Gemeinschaft insge­ samt. Insoweit wusste man, dass ideale Schlichter diejenigen Personen sind, deren Autorität allgemein anerkannt ist: Wie innerhalb der Familie der Vater, so war es innerhalb der Sippe deren Oberhaupt, im Dorf entweder der Schulze oder ein Rat angesehener Männer – wenn man schon nicht das ganze Dorf entscheiden lassen wollte, weil das zu viel Aufhebens gemacht hätte. Gelang die Schlichtung nicht, war ein offener Zweikampf entweder der Strei­ tenden selber oder von Stellvertretern manchmal die Lösung.179 Autoritative Entscheidungen zur Beendigung einer Streitigkeit kamen auf diese Weise allerdings nicht zustande; dazu hätte es eines klar geregelten Verfahrens be­ durft. Ein solches ließ sich aber erst in politisch organisierten Gesellschaften entwickeln. Ein geregeltes Verfahren war zweigeteilt: Die Einsetzung der den Streitfall entscheidenden Personen ging in einem ersten Teil förmlich voran, die Orga­ nisation des Verfahrens und seine Durchführung folgten in einem zweiten Teil nach. Diese Zweiteilung wurde noch vertieft, wenn streitentscheidende Instanzen unabhängig von einem konkreten Anlass gebildet wurden. Das 177  Ich beziehe mich auf eine von mir um die Jahrtausendwende durchgeführte Untersuchung (E.-J. Lampe, 2006, S. 397 ff.). 178  E.-J. Lampe (2006), S. 418. 179  Vgl. oben E 4 b. A. H. Post (1895, S. 504 ff.) bezeichnet diese Art des Prozes­ sierens als „Kampfprozess“ und gibt als Hauptbeispiel den Zweikampf zwischen Lohengrin (als Streithelfer für Elsa von Brabant) und dem brabantischen Grafen Tel­ ramund an. Über Zweikämpfe bei den Eskimos berichtet anschaulich E. A. Hoebel (1968), S. 118 ff. (119: „Es hat den Anschein, als könnten alle Arten von Konflikten durch Boxen und Kopfstoßen erledigt werden, ausgenommen Mord und Totschlag.“).

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geschah vor allem dort, wo es schon eine auf Dauer bestellte politische Macht gab; denn dort war auch klar, wer die besten Voraussetzungen für autoritative Entscheidungen von Streitfällen mitbringen werde. Man verband daher die richterlichen Funktionen mit den politischen. Doch weil man nicht nur autoritative, sondern auch gerechte Entscheidungen erwartete, legte man zusätzlich auf Unparteilichkeit Wert – und das hieß: auf Unabhängigkeit von den Auswirkungen der Entscheidungen. Bei den Häuptlingen und Königen ergab sich das fast immer von selbst. Je größer die Populationen allerdings wurden, umso seltener konnten sie alle Streitfälle selber entscheiden. Spezi­ elle Institutionen (‚Gerichte‘) wurden dann erforderlich. Doch was man bei den Häuptlingen und Königen als Selbstverständlichkeit voraussetzte, näm­ lich die Unbestechlichkeit ihres Urteils, wurde bei den bestellten Richtern zum Problem. Soweit uns Einblicke in die früheste Rechtsprechung möglich sind, bemerken wir jedenfalls, dass sowohl für die Bestechung als auch für die Bestechlichkeit von Richtern harte Strafen angedroht wurden180 – und das sicher nicht ohne triftigen Grund! Was die Durchführung der Verfahren anbelangt, verlangte man prozessuale Gerechtigkeit: einen Ablauf, für den man heute gern den Begriff fair trial verwendet.181 Zwingend mussten an einem Streitverfahren sowohl der An­ tragsteller (Kläger) als auch der Antragsgegner (Beklagter bzw. Angeklagter) mitwirken, jener an das Gericht ein Klagebegehren adressieren, dieser vor Gericht geladen werden und erscheinen (oder zum Erscheinen gezwungen werden). Die Verhandlung musste anfangs mündlich sein, weil man noch keine Schrift kannte; später konnte sie zwar schriftlich vorbereitet werden, doch blieb man zur Wahrung der Unmittelbarkeit einer Verhandlung überall beim mündlichen Wort. Der Gerechtigkeit des Verfahrens trug man u. a. da­ durch Rechnung, dass man nicht nur dem Kläger zur Begründung seiner Klage, sondern auch dem Beklagten zur Erwiderung Gelegenheit gab (‚audiatur et altera pars‘), ferner dass man es beiden Parteien ermöglichte, dieje­ nigen sachlichen und persönlichen Beweismittel beizubringen, die ihren dazu oben G 4 k. Grundsatz ist in Art. 6 MRK enthalten. Nach der Rechtsprechung des Bun­ desverfassungsgerichts umfasst er „als Ausprägung des Rechtssstaatsprinzips … keine in allen Einzelheiten bestimmten Gebote und Verbote; er bedarf daher der Kon­ kretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten. … Erst wenn sich bei Berück­ sichtigung aller Umstände und nicht zuletzt der im Rechtsstaatsprinzip selbst ange­ legten Gegenläufigkeiten unzweideutig ergibt, dass rechtsstaatlich unverzichtbare Er­ fordernisse nicht mehr gewahrt sind, können aus ihm selbst konkrete Folgerungen … gezogen werden“ (BVerfGE 57 250, 275 f.; ferner 63 45, 61; 64 135, 145 f.; 70 297, 308 f.; 86 288, 317 f.; 122 248, 272). Fairness ist also kontextabhängig. Als Determi­ nanten fairen Verhaltens werden soziale Wertvorstellungen und Normen genannt, da­ neben grundsätzlich die Gleichheit und bei Abweichung von der Gleichheit die Bil­ ligkeit. 180  Vgl. 181  Der



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Standpunkt stützten. Ob das Gericht diese Beweise dann nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern darüber hinaus eigene Ermittlungen anzustel­ len hatte, wenn das Verhältnis der Parteien (etwa fehlende ‚Waffengleich­ heit‘182) dazu Anlass gab, war von Kultur zu Kultur und je nach der Art des Prozesses (Zivil- oder Strafprozess) verschieden. Kulturell bedingt war auch, ob das Gericht das Ergebnis seiner Beweisaufnahme mit den Parteien erör­ tern und ob es sein abschließendes Urteil begründen musste. Soweit ersicht­ lich, gab es in den höheren Kulturen immerhin die Tendenz zur Rechtferti­ gung der aus der Beweisaufnahme gezogenen Schlüsse und des abschließen­ den Entscheids über die Klage. Gerade in der sonst so hochstehenden atti­ schen Kultur aber war das nicht der Fall. (ββ) Völkertypische Einzelheiten der Entwicklung seien (teils im Anschluss an frühere summarische Ausführungen183) noch etwas genauer ausgeführt: • In den Horden und segmentären Stammesgesellschaften gab es noch keine ent­ scheidungsbefugten Gerichte, sondern allenfalls erste Ansätze zu einer Schiedsge­ richtsbarkeit. Lediglich dort, wo sich hierarchische Strukturen herausgebildet hat­ ten, also innerhalb der Häuptlingsschaften und Königreiche, gewahren wir außer Schiedsgerichten vermehrt auch entscheidungsbefugte Gerichte. Die Entschei­ dungskompetenz lag entweder beim politischen Herrscher oder bei einem Rat von meist älteren Männern, in den Königreichen auch bei speziellen Rechtsprechungs­ organen, deren höchstes am Königshof etabliert war, damit sich die Richter in Zweifelsfällen mit dem König oder einem von ihm beauftragten Minister beraten konnten. Zwischen Zivil- und Strafverfahren wurde nicht unterschieden, dagegen zwischen privaten und öffentlichen Angelegenheiten. Bei privaten Streitigkeiten hatte meistens der Kläger für das Erscheinen seines Gegners zu sorgen; notfalls konnte er ihn zu diesem Zweck festnehmen (lassen). Auch die weitere Prozessfüh­ rung lag in den Händen der Parteien: Sie hatten ihren Standpunkt darzulegen und für seine Berechtigung Beweismittel beizubringen; nur ausnahmsweise ergriff das Gericht inquisitorische Maßnahmen. Bei öffentlichen Angelegenheiten, wo vitale Interessen der Gemeinschaft (einschließlich ihres Verhältnisses zu den Göttern) auf dem Spiel standen (es waren dann ausnahmslos Strafsachen), war das Verfahren dagegen die Sache aller, nicht nur der Parteien und der Obrigkeit. Es konnten ge­ gen einen Beschuldigten Zwangsmaßnahmen angewandt, er konnte gefesselt vors Gericht geführt werden, und auch das weitere Verfahren einschließlich der Beweis­ aufnahme lag ganz in den Händen des Gerichts. Einen Beweis durch Zeugen gab es solange nicht, wie man damit rechnen durfte, dass der Sachverhalt allgemein bekannt war. Sobald das nicht mehr der Fall war, war seine Aufklärung Haupt­ inhalt der Verhandlung. Den Beweis durch Eid und Gottesurteil wird man schon für eine sehr frühe Zeit vermuten dürfen. Oft war er für den einer Straftat Verdäch­ 182  Unter dem Grundsatz der Waffengleichheit versteht man heute die faire Ba­ lance von in den Prozesschancen der Parteien infolge der Verpflichtung des Gerichts zu einer Verhandlungsführung, die etwa bestehende strukturelle Unterschiede zwi­ schen den Parteien ausgleicht. 183  Siehe oben F 3 η und θ sowie G 4 i und k.

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tigten auch die einzige Möglichkeit, seine Unschuld zu beweisen. Ein Urkunden­ beweis war erst vor den königlichen Gerichten nach der Erfindung der Schrift möglich. Die Echtheit der Urkunden hatten, sofern sie nicht gesichert war, Zeugen zu beschwören, die bei der Herstellung anwesend waren. • In Ägypten gab es bereits im AR förmlich eingesetzte Gerichte. Wesentliche Auf­ gabe der Richter war es, den Streitgegenstand genauestens festzustellen. Kläger und Beklagter waren zu diesem Zweck anzuhören. Zum Beweis von Behauptungen konnten Dokumente vorgelegt werden, deren Authentizität, falls bestritten, durch Zeugen nachgewiesen werden musste. Eide konnten die Glaubhaftigkeit bestritte­ ner Aussagen erhöhen. • Auch in Mesopotamien gab es schon in sumerischer Zeit Gerichte, deren Bemühen im Falle unklarer Verhältnisse in erster Linie der Sachaufklärung galt. Das Materi­ al lieferten sowohl die Vorträge der Parteien in Rede und Gegenrede (vgl. CH § 9) als auch die Erkundungen einer vom Gericht eigens beauftragten Person. Als Be­ weismittel waren neben Urkunden und Eidesleistungen der Parteien und Zeugen auch Flussordale zulässig. Eine Verteilung der Beweislast wie im modernen Recht gab es jedoch nicht. • Die Gerichtsbarkeit in Indien184 stand den Familien, den Innungen und den Dör­ fern zu; über ihnen, in schweren Fällen ausschließlich, übte sie der König als oberster Gerichtsherr aus bzw., wenn er selber nicht tätig werden konnte, an seiner Stelle einer der Brāhmanen. Beweismittel waren außer den Aussagen der Parteien und den Bekundungen der Zeugen auch Augenschein und (nach Einführung der Schrift) Urkunden. Die Verteilung der Beweislast entsprach der heute üblichen, d. h. für seinen Anspruch hatte der Kläger, für Einreden der Beklagte die Gründe vorzubringen und zu belegen. Das Gericht konnte zusätzliche Beweise erheben und insbesondere einer der Parteien, i. d. R. dem Beklagten, einen Eid oder ein Ordal185 für seine Behauptungen auferlegen. Überstand der Beklagte das Ordal, so traf in Strafsachen den Kläger die Strafe, die sonst dem Beklagten auferlegt worden wäre. Allerdings geriet mit der Zeit das Vertrauen in die Ordale ins Wanken, und man gab rationaleren Beweismitteln den Vorzug. • Weder in Indien noch in China kannte man eine strenge Trennung zwischen Zivilund Strafverfahren. Die Aufmerksamkeit der Herrscher galt dennoch in beiden Ländern vor allem den zur Bestrafung führenden Verfahren; denn die gerechte Anwendung von Strafen durch unbestechliche Richter galt in beiden Ländern als Ausweis einer guten Regierung. Die Untersuchung einer Beschuldigung unterlag in China strengen Regeln: Der Angeschuldigte wurde zunächst in Haft genommen und anhand einer Frageliste verhört, seine Äußerungen wurden niedergeschrieben. Das Verhör wurde solange ohne Anwendung von Folter und Einschüchterung durchgeführt, wie sich der Angeschuldigte nicht in Widersprüche verstrickte. Be­ weismittel waren neben seinem Geständnis noch Augenschein, Zeugenaussagen und Sachbeweise. Zum Schluss der Untersuchung wurde eine Niederschrift ange­ Folgenden siehe insbesondere J. Jolly (1880) und J. Kohler (1891). Indien bezeichnete dasselbe Wort ‚Eid‘ und ‚Ordal‘, vgl. J. Jolly (1880),

184  Zum 185  In

S. 252.



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I417 fertigt, dem Angeklagten vorgelesen und ihm die Möglichkeit zur Stellungnahme gegeben. Wurde eine falsche Anschuldigung aufgedeckt, traf den falsch Anschuldi­ genden dieselbe Strafe, die für die angezeigte Straftat verhängt worden wäre.

• In Griechenland186 war die Ahndung von Verbrechen in Homerischer Zeit noch der Selbsthilfe überlassen. Die schiedsrichterliche Tätigkeit beschränkte sich daher zunächst auf die Entscheidung privater Streitigkeiten. Als später der attische Staat erstarkte, ging die Verfolgung von Straftaten auf ihn über und stand den Archonten als höchsten Beamten zu. Lediglich die Blutgerichtsbarkeit war dem Basileus vor­ behalten, der sie zusammen mit einem Kollegium von 150 Mitgliedern der Adels­ geschlechter (Epheten) ausübte.187 Besondere Bedeutung erhielt später die Einrich­ tung eines Geschworenengerichts (δικαστήρια), die Solon zugeschrieben wird.188 Sie erlaubte der gesamten Bürgerschaft Athens, an der Rechtsprechung teilzuneh­ men und damit gleichzeitig, wie Aristoteles unterstreicht, die gesamte staatliche Ordnung zu beaufsichtigen. • Kaum Erkenntnisse besitzen wir für die vordezemvirale Zeit Roms. Aufgrund ihrer sakralen Bedeutung könnte die Gerichtsbarkeit damals mit dem Königsamt verbun­ den gewesen sein und die Aufgabe des Königs – wie in späterer Zeit – in der Überwachung des Verfahrens bestanden haben, während die Urteilsfindung den iudices anvertraut war. Für die XII-Tafelzeit nimmt man an, dass die Gerichtsbar­ keit bei den Höchstmagistraten lag, deren Organisation für diese Zeit aber dunkel ist. Wahrscheinlich hatte der Magistrat in einem ersten Verfahrensabschnitt nur die Vorentscheidung zu fällen, ob er für den Rechtsstreit ein Urteilsgericht einsetzt und welches dies sein soll. Die Sachentscheidung fiel dann in einem zweiten Verfah­ rensabschnitt durch das vom Magistrat unabhängige, weil aus Geschworenen be­ stehende, Urteilsgericht. Nachweisbar ist der Ablauf des Verfahrens nur für eine spätere Zeit, worin man je nachdem, ob ein privates oder öffentliches Gut verletzt war, zwischen Zivil- und Strafverfahren unterschied. Das Strafverfahren glich aufgrund einer Zweiteilung zwischen dem vor dem Prätor stattfindenden Verfahren in iure und dem vor den Geschworenen (apud iudices) stattfindenden Beweisverfahren ähnlich dem heute noch im angloamerikanischen Rechtsbereich gebräuchlichen. Sein erster Teil wurde durch Einreichung einer An­ klageschrift eröffnet und durch deren Zulassung seitens des Prätors abgeschlossen. Sein zweiter Teil bestand in einer mündlichen Verhandlung, die mit dem Vortrag der Anklageschrift durch den Kläger eröffnet wurde. Der Angeklagte erhielt an­ schließend das Wort zur Erwiderung, er konnte sich aber auch durch Sachwalter (patroni) oder weitere Berater (advocati) verteidigen lassen. Danach erhielten die Parteien die Möglichkeit, sich wechselseitig zur Sache zu befragen. Es folgte ein Beweisverfahren (probatio), nach dessen Abschluss die Geschworenen sich berie­ ten und schließlich mit einfacher Mehrheit auf ‚schuldig‘ oder ‚nicht schuldig‘ votieren konnten. Der Prätor war an dieses Urteil und an die in den Volksgesetzen enthaltenen starren Strafdrohungen gebunden und hatte sie abschließend gegen den attischen Rechtsverfahren vgl. J. H. Lipsius (1905). (1905), S. 14 ff. 188  Aristoteles, Politik II 12; ders., Staat der Athener 9 1. Einzelheiten zu den Geschworenengerichten und ihrem Verfahren bei J. Bleicken (1994), S. 203 ff. 186  Zum

187  J. H. Lipsius

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schuldig gesprochenen Täter zu verhängen und zu vollstrecken. Eine Berufung gegen das Urteil war ausgeschlossen. Das Zivilverfahren war ebenfalls zweigeteilt in ein vor dem Prätor staatfindendes Verfahren in iure, das mit der Einigung der Parteien auf eine Prozessformel endete (litis contestatio). Darin wurde der von den Parteien gewählte Richter benannt und an ihn ein Jurisdiktionsbefehl erteilt: dass, wenn die vom Kläger behaupteten Tat­ sachen erwiesen würden, dann der Beklagte dem Anspruch des Klägers gemäß zu verurteilen, wenn nicht, freizusprechen sei. Die Beweisaufnahme vor dem Richter fand alsdann ähnlich wie im Strafverfahren statt. Die Vollstreckung eines der Kla­ ge stattgebenden Urteils musste anschließend mittels eines besonderen Verfahrens (actio iudicati) betrieben werden. Dieses diente gleichzeitig als Kassationsverfah­ ren, weil der Beklagte darin das vorangegangene Urteil als rechtswidrig beanstan­ den konnte. Verlor er allerdings auch in diesem Prozess, verdoppelte sich die Ur­ teilssumme. Daher war vonseiten des Beklagten ein Schuldanerkenntnis die Regel.

Zieht man ein Fazit, wird man allenthalben – und zwar auch da, wo kon­ krete Nachweise nicht möglich sind – ein obrigkeitliches Bemühen sowohl um die Unparteilichkeit der Richter als auch um die Durchführung gerechter (fairer) Verfahren am Werke erkennen. Dass dieses hehre Ziel nicht immer und überall erreicht wurde, ist selbstverständlich; aber für ein fehlendes Be­ mühen lassen sich nirgends Indizien finden. Denn es ist, wie schon erwähnt, homo sapiens angeboren, dass er nur durch den Glauben an eine gerechte Welt soziale Befriedung (und auch ‚Rechtsfrieden‘) erreichen kann. cc) Sicherung der Gerechtigkeit Was dem Menschen nicht angeboren ist, ist die Erkenntnis, welcher Weg am sichersten zur staatlichen Gerechtigkeit führt. Dieser Weg ergab sich in der Folge aus der prozessualen Teilung der Zuständigkeit in Gesetzgebung und Gesetzesanwendung. Während es im Sozialleben als ein Umweg erschei­ nen mag, wenn zur gerechten Entscheidung eines Einzelfalles zunächst nach einem abstrakten Gesetz gesucht und dieses dann auf seine konkreten Folgen überprüft wird, lag genau hierin das Mittel, auf das es in der Folgezeit mehr und mehr ankam: staatlichen Machtmissbrauch zu verhindern. Die Macht der politischen Herrscher wurde darauf begrenzt, mittels Gesetzen eine abstrakte Basis für die Gerechtigkeit zu schaffen, die Aufgabe der die Gesetze anwen­ denden Institutionen war es dann, von dieser Basis aus die konkrete Fallge­ rechtigkeit herzustellen. Gelang ihnen dies nicht, stellte sich die Frage nach der Gerechtigkeit der Gesetze, und wenn diese sich auch in anderen Fällen nicht einstellte, war es offenbar, dass die Gesetze novelliert werden mussten. Allerdings machte das Altertum von der Kontrolle der Gerechtigkeit durch eine Aufteilung in abstrakte Rechtssetzung und konkretisierende Rechtsan­ wendung noch kaum Gebrauch.



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I419

In Babylon sah Hammurapi ihre Chancen nicht. Er nahm für sich in Anspruch, im Auftrag des Stadtgotts Marduk selber „Recht und Gerechtigkeit in den Mund des Landes zu legen“. Die in seinem Kodex enthaltenen Normen sollten nicht etwa den Gerichten, sondern den Rechtsuchenden unmittelbar zur Einsicht in den Erfolg ihrer Rechtsbegehren verhelfen.189 Und ebenfalls nicht die Gerichte, sondern „den König, der [künftig] dem Lande ersteht“ mahnte er: „Das Recht des Landes, das ich gegeben habe, die Entscheidungen des Landes, die ich gefällt habe, soll er nicht ändern, meine Aufzeichnungen nicht beseitigen.“190 Offenbar war er überzeugt, dass die unmittelba­ re Anwendung seiner Normen durch die Gerichte überall im Lande nicht nur das Recht über das Unrecht, sondern auch die Gerechtigkeit über die Ungerechtigkeit triumphieren lasse. In den meisten übrigen Staaten der Alten Welt verhielt es sich ebenso. Entweder war die gesetzgebende oder die rechtsprechende Gewalt zu stark ausgebildet, als dass die eine das Gegengewicht zur anderen hätte sein können: Die gesetzgebende Gewalt konnte es nicht sein, weil sie gleichzeitig die Spitze der rechtsprechenden war, und die rechtsprechende Gewalt nicht, weil sie, statt an die gesetzgebende gebunden, selber gesetzgebend war.

Selbst in Rom hatte sich nach der Vertreibung der Könige die soziale Ord­ nung zwar rasch gewandelt, und eigentlich hätte das Recht, das bisher in den leges regiae verkörpert war, hierauf reagieren müssen. Doch stattdessen wurden die königlichen Gesetze außer Kraft gesetzt, ohne dass neue Geset­ zesnormen an ihre Stelle traten, und die Römer lebten Jahrzehnte lang „nach ungewissem Recht und irgendwelchen Gewohnheiten“191. Indessen war der Stamm des Rechts keineswegs abgestorben, sondern nur geschwächt. Und als er daher, vom Bedürfnis der Römer nach neuem Recht genährt, wieder erstarkte, breitete er rasch seine Äste aus und setzte – teils unter dem Ein­ fluss politischer Interessen, teils funktional autonom – einen allgemeinen Verrechtlichungsprozess in Gang, der sowohl alte wie neue Normen zur Einheit einer Rechtsordnung zusammenfügte. Frucht dieser Entwicklung war das XII-Tafelgesetz. Es galt von Anfang an als „fons omnis publici privatique iuris“192 und schien den Römern die ersehnte Rechtssicherheit wiederzuge­ 189  „Der entrechtete Bürger, der in einen Rechtshandel gerät, trete vor mein Bild­ nis ‚König der Gerechtigkeit‘, und dann lese er meinen Schriftstein und höre er meine wertvollen Worte, und mein Denkstein kläre ihm seinen Rechtshandel, seinen Rechts­ spruch soll er ersehen, sein Herz aufatmen lassen.“ CH Epilog (Übersetzung W. Ei­ lers). 190  CH Epilog (Übersetzung W. Eilers). 191  Dig. 1,2,2,3 (Pomponius): „Exactis deinde Regibus lege Tribunica, omnes leges hae exoleverunt: iterumque coepit populus Romanus incerto magis jure, & consuetudine aliqua uti quam per latam legem: idque prope viginti [?] annis passus est.“ 192  T. Livius, De urbe condita, III. 34, 6. Siehe auch Cicero, De Oratore I 195: „Bibliothecas me hercule omnium philosophorum unus mihi videtur XII tabularum libellus, si quis legume fontis et capita viderit [!], et auctoritatis pondere et utilitatis ubertare superare.“ Siehe aber auch oben G 5 ε Fn. 826.

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ben, weil es für die zuvor wildwüchsige Rechtsprechung der Gerichte bin­ dend war und selbst die Dezemvirn als die Urheber des neuen Gesetzesrechts erfasste: Sie waren nicht, wie spätere Fürsten, legibus absoluti. Titus Livius erzählt dazu im 3. Buch seiner Geschichte Roms einen damals Aufse­ hen erregenden Prozess:193 Der Patrizier Appius Claudius, der gleichzeitig oberster Richter war, hatte Verginia, die tugendhafte Tochter des römischen Centurionen Ver­ ginius, verführen wollen. Diese war mit Icilius, einem ehemaligen Volkstribun, ver­ lobt und widerstand aus diesem Grunde allen Schmeicheleien und Geschenken. Um dennoch seine Ziele zu erreichen, stiftete Appius Claudius den ihm ergebenen Marcus Claudius an, Verginia als Tochter einer zu seinem Haus gehörenden Sklavin auszuge­ ben und sie in einem Prozess für sich zu beanspruchen. Erwartungsgemäß kam die Sache vor den Richterstuhl des Appius Claudius, und dieser hatte nichts Eiligeres zu tun, als Verginia – ohne sie oder ihren Vater auch nur anzuhören – dem Marcus zuzu­ sprechen. Icilius und ein Verwandter protestierten zwar lauthals, konnten aber ledig­ lich erreichen, dass Verginia dem Marcus nicht sogleich ausgeliefert wurde, sondern dass man zunächst noch ihrem Vater, der im Felde weilte, Gehör schenkte. Vergilius wurde somit eilends herbeigeholt und erschien zusammen mit seiner Tochter vor Appius auf dem Forum, beide in Trauer gekleidet. Unbeeindruckt wiederholte dieser sein Urteil und ließ gleichzeitig Bewaffnete aufziehen, um Verginia ihrem Vater zu entreißen. Da verlegte dieser sich auf ein letztes Mittel, um die Ehre seiner Tochter zu retten. Er bat, in Gegenwart seiner Tochter deren Amme zu befragen und sich von dieser Gewissheit über seine Vaterschaft geben zu lassen. Seine Bitte fand Gehör, woraufhin er mit seiner Tochter und der Amme etwas beiseite ging, bis er vor nahen Metzgerbude stand. Dort riss er vor aller Augen dem Metzger plötzlich das Schlacht­ messer aus der Hand und erstach damit seine Tochter. Dabei rief er aus: „Dies ist das einzige Mittel, Tochter, mit dem ich dir die Freiheit bewahren kann!“194 Appius, hoch erregt, befahl sogleich, den Verginius zu verhaften. Doch der entkam, eilte zum Heer zurück und berichtete dort, was geschehen war. Die Empörung war groß. Das Heer solidarisierte sich mit ihm und zog Waffen schlagend gen Rom. Appius wurde nun­ mehr selbst zum Angeklagten. Man verurteilte ihn, wie Livius erzählt, zur Kerkerhaft, weil er gegen die von ihm selbst in das XII-Tafelgesetz eingebrachte Norm verstoßen habe, „dass derjenige im Besitz der Freiheit sein soll, um dessen Status gestritten wird“195.

Der Schutz der Römer vor richterlicher Willkür war indes nicht der allei­ nige Effekt des XII-Tafelgesetzes. Die zwecks Rechtssicherheit geforderte Zurückführung aller Klageansprüche als ‚legis actiones‘ auf eine seiner Nor­ men wirkte sich nämlich auf die Rechtssicherheit als eine zu strenge Fesse­ 193  T. Livius, III. 44 ff. Die Geschichte wurde in Rom vielfach kolportiert, hatte aber hochwahrscheinlich keinen historischen Hintergrund. Ausführlich wiederholt wird sie von M. Th. Fögen (2003), S. 60 ff., 99 ff. 194  T. Livius, a. a. O. III. 48.5: „Hoc te quo possum modo, filia, in libertatem vindico.“ 195  T. Livius, a. a. O. III. 44.12. Vgl. dazu Dig. 1,2,2,24 (Pomponius): Appius habe gehandelt „contra jus, quod ipse ex vetere jure [‚quo cavebatur, ut qui in suo statu litigaret, in possessione libertatis constitueretur‘] in duodecim tabulas transtulerat.“



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lung aus, wenn sich der abstrakte Wortlaut der Normen als zu weit oder zu eng für eine am Gerechtigkeitsgefühl orientierte konkrete Gerichtsentschei­ dung erwies. Solange daher im Rahmen eines Legisaktionenprozesses die Entscheidung aus dem Wortlaut des XII-Tafelgesetzes gefunden werden musste, wurde nach dem Bericht des Gaius „einem, der wegen abgeschnittener Weinreben in der Weise geklagt hatte, dass er die Weinreben in seiner Klage als solche bezeichnet hatte, das Gutachten erteilt, er habe den Anspruch verloren, da er diese [stattdessen] als Bäume hätte bezeichnen müssen, weil das XII-Tafelgesetz, aus dem ihm die Klage wegen abgeschnittener Weinreben an sich zugestanden hätte, nur allgemein von abgeschnittenen Bäumen spreche.196 Entsprechend wurde demjenigen, dem ein afrikanischer Strauß seinen Garten verwüstet hatte, geraten, ihn als vierfüßiges Tier bezeichnen, weil nach dem XII-Tafelgesetz ein Anspruch auf Schadensersatz nur dann gegeben war.197

Dass deshalb das Gefühl für die konkrete Gerechtigkeit und ihr Recht sich eines Tages Bahn brechen und gegen die strikte Bindung an einen immer altertümlicher werdenden abstrakt-gesetzlichen Wortlaut rebellieren würde, war unausweichlich. Doch obwohl das Gefühl an sich schnell reagiert ‒ schneller als rationale Erwägungen, die es normalerweise nur bestätigen oder infrage stellen können ‒, dauerte es in Rom relativ lange, bis es so weit kam. Und das wiederum lag am starken Traditionsbewusstsein der Römer, welches sich nicht nur in den Fesseln der legis actiones befand, denen man wenigs­ tens teilweise durch interpretatio entrinnen konnte, sondern auch in den Fesseln der verfahrensrechtlichen Zweiteilung in iure und apud iudicem. Diese Zweiteilung war im XII-Tafelgesetz zwar angelegt, ihre Beibehaltung wurde jedoch erst durch die Priester erzwungen, die über die im ersten Ver­ fahrensteil in iure auszutauschenden Spruchformeln die Herrschaft erlangt hatten und diese als ihr geheimes Wissen hüteten. Und da die Formeln auf althergebrachte magische Zauberformeln (carmina) zurückgingen, bildeten sie – vergleichbar den rituellen Gebetsformeln – den einzigen Schlüssel zum zweiten Teil des Verfahrens apud iuducem, also zum Zugang zum Gericht: Wer den Schlüssel nicht besaß, stand vor verschlossener Tür. Erst als die Formeln im Jahre 304 v. u. Z. (der Sage nach durch Gnaeus Flavius, den Schreiber des Zensors Appius Caudius Caecus) veröffentlicht wurden, über­ wand das Recht auch diese Sperre und ließ zur Verfahrenseröffnung weitere, der Mannigfaltigkeit des sozialen Lebens angepasste Formeln zu. Diese For­ meln erhielt man zunächst vom Prätor.198 Doch wenn dieser sich dem Begeh­ 196  Gaius, Inst, IV 11: „Unde eum, qui de vitibus succisis ita egisset, ut in actione vites nominaret, responsum est rem perdidisse, cum [quia] debuisset arbores nominare, eo, quod lex XII tabularum, ex qua de vitibus succisis actio competeret, generaliter de arboribus succisis loqueretur.“ Die Norm des XII-Tafelgesetzes (8 11) lautet: „… ut qui iniuria cecidisset alienas (arbores), lueret in singulas aeris xxv.“ 197  Vgl. XII-Tafelgesetz 8 6: „Si quadrupes pauperiem fecisse decitur…“. 198  Vgl. oben G 3 δ.

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ren versagte, übernahm das Rechtsgefühl selber die Führerschaft und ver­ schaffte sich den Zugang zu einem außerordentlichen Verfahren (­cognitio extra ordinem), das weder an die Formvorschriften des Formularprozesses noch an den Wortlaut des XII-Tafelgesetzes gebunden war. Es gründete sich auf die dem imperium innewohnende Gerichtshoheit und schloss sich mit der Sittengerichtsbarkeit zusammen, für die zunächst die Zensoren, später die Kaiser zuständig waren. Und mit ihrer Hilfe korrigierte das konkret-sittliche Gefühl dann das abstrakt-gesetzliche Recht dort, wo es sich als ‚unbillig‘ erwies, und trug damit zur konkreten Gerechtigkeit bei.199 dd) Begründungen der Gerechtigkeit Das Rechtsgefühl als Mittel der Erkenntnis, was im konkreten Fall rech­ tens ist, hatte seine Wurzeln im selben Boden wie das Gefühl dafür, was ‚gute Sitte‘ ist. Es vereinigte deshalb in einem ersten Stadium seiner Ent­ wicklung, was sich in einem zweiten als abstraktes Recht einerseits und als konkrete Sitte andererseits ausdifferenzierte und alsdann entweder einer konkreten Auffassung von Gerechtigkeit oder einer dem abstrakten (Geset­ zes-)Recht den Vorrang einräumenden Gerechtigkeit näher stand. Erst in ei­ nem dritten Stadium verbanden sich Recht und Sitte wieder miteinander und bildeten nunmehr die Grundlage nicht nur für eine abstrakte oder konkrete, sondern für eine abstrakte und konkrete Gerechtigkeit. Diese Entwicklung wurde begleitet und gestützt von unterschiedlichen Weltbildern, die wir allerdings nur vage skizzieren können: einem magischholistischen, einem egozentrisch-synthetischen und einem egozentrisch-­ holistischen Weltbild (dazu α–γ). Ihnen gemeinsam war die Vorstellung, dass wir in einer Welt leben, deren Veränderungen nicht nur in einem historischen Nacheinander isolierter Zustände, sondern auch in einem genetischen Ausei­ nander dieser Zustände besteht, und dass das Nacheinander vom Gesetz der Kausalität (als historischer Berührungsdichte), das Auseinander vom Gesetz der Reziprozität (als genetischer Entwicklungsgleichheit) beherrscht wird (dazu ε), dass unterschiedlich dagegen die Weise ist, wie aus ihnen Gerech­ tigkeit hervorgeht (dazu δ). (α) Magisch-holistisches Weltbild. Die erste Entwicklungsphase des Rechts­ gefühls fand in einer Umwelt statt, die sich dem archaischen Menschen höchstwahrscheinlich als magisch-mystisch offenbarte. Das Universum er­ schien mystisch bewegt von magischen Kräften: Regelmäßig wechselten Tag 199  Zur römischen Sittengerichtsbarkeit vgl. M. Kaser/R. Knütel/S. Lohsse (2017), § 3 Rn. 3, § 25 Rn. 11 u.  ö.; zur Wiedervereinigung von Recht und Sitte vgl. W. Waldstein/M. Rainer (2014), § 9 I 3.



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und Nacht nacheinander, folgten Jahreszeiten aufeinander, entstand und ver­ ging Leben. Am Himmel zogen Sonne und Mond auf vorbestimmten Bahnen vorbei, Sterne veränderten jahreszeitlich ihren Platz, von Zeit zu Zeit türmten Wolken sich auf, Regen strömte dann heraus, manchmal begleitet von Blitz und Donner, danach herrschte wieder Klarheit, und aus dem Boden quoll die lebendige Natur gestärkt hervor. All dies erschien als das Werk kosmischer Mächte, denen auch der Mensch untertan war. Solche mystischen Vorstellungen durchdrangen in vorhistorischer Zeit alle mensch­ lichen Völker. Wir haben indes keinen Grund, sie als eine Erbschaft aus vorhominider Zeit anzunehmen, da in heutigen Schimpansenpopulationen (als einziger in Betracht kommender Vergleichsgruppe) keinerlei Anzeichen festgestellt werden konnten, dass sie an eine Verbindung der physikalischen Welt mit metaphysischen Kräften glauben. Die Menschen dagegen glaubten (historisch von wann an auch immer, genetisch aber mit Sicherheit aufgrund der enormen Vergrößerung ihres Gehirns), dass Götter, Geis­ ter und Dämonen die Natur lenken und dass deren Kräfte nicht nur in der belebten Natur ‚wesen‘, sondern auch in den Pflanzen, in Wind und Wetter, kurzum in allem, was sich bewegt – und folglich auch im Menschen. Während seiner Lebenszeit könne der Mensch mit den Göttern und Geistern wie mit Seinesgleichen in Kontakt treten, selbst wenn das nur wenigen Auserwählten gelinge. Nach seinem Tode vereinige er sich dagegen mit ihnen; denn im Tode ereigne sich ein Übergang (rite de passage) in ein wesenhaft anderes Dasein: Der Körper falle nieder ins Erdreich, der Geist aber steige zum Himmel empor und mische sich unter die übrigen Geister.200 Manchmal kehre er als Toter auch wieder201 – dann freilich nicht notwendig in derselben Ge­ stalt, sondern entweder als anderer Mensch oder als Bär, Wolf, Schlange oder Käfer. Doch meistens schwebe er nur mahnend, Achtung einfordernd, Angst einflößend202 über den noch Lebenden, nehme Anteil an ihrem Leben, freue sich über die Opfer, die man ihm bringt, und zürne, wenn man ihn vergisst.

Auch die Gewohnheiten und Bräuche der Menschen waren das Werk kos­ mischer Mächte – allerdings mit unterschiedlichen Folgen: Wich jemand von 200  N. Rouland (1988), p. 184: „La pensée africaine n’est donc ni idéaliste, ni ma­ térialiste, mais réaliste.“ R. Linton (1933, p. 162, 165 ff.) berichtet von den Tanala auf Madagaska, dass die Geister ihrer Verstorbenen in ihre Sippen integriert bleiben. Man müsse sie verehren, über alle wichtigen Ereignisse informieren und zu allen Feiern des Clans einladen. „They [the souls] have their chiefs, marry, have children, build houses, plant rice and raise cattle, go on journeys, etc. … Their state is thought to be somewhat more felicitous than that of the living, but they are not exempt from troubles and even sickness. … Each soul has exactly the same form as its body at the time of death, even to mutilations and deformities.“ 201  Diese Vorstellung wurde als Seelenwanderung Teil der indischen Religion und der altgriechischen Philosophie (Pythagoras), während sie anderwärts zum Unsterb­ lichkeitsglauben führte. 202  Deshalb war es bisweilen Brauch, sich einem Toten zu entziehen oder ihn aus der Nähe zu vertreiben: etwa indem man sein Haus verbrannte, indem man sich ihm unkenntlich machte (mutmaßlich der Ursprung unserer Trauerkleidung), indem man den Namen des Toten nicht laut nannte (weil man ihn sonst herbeirief), usf.

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seinen Gewohnheiten ab, war das regelmäßig seine eigene Sache; verhielt er sich dagegen den Bräuchen zuwider, dann bedeutete das ebenso regelmäßig Empörung gegen eine Ordnung, die Teil der kosmischen Ordnung war, wes­ halb seine Zuwiderhandlung kosmische Auswirkungen haben konnte. Dabei standen aus kosmischer Sicht böse Gedanken und böses Wollen nicht nur einander gleich, sondern waren auch genauso wirklich wie böse Taten und konnten daher dieselben äußeren Folgen haben und dieselbe innere Pein ver­ ursachen. Was wir heute ein Wahnverbrechen nennen, war in Wahrheit kein bloßes Wähnen, sondern harte Wirklichkeit: Wer einen anderen aufs Totenla­ ger warf, indem er über seinem Abbild Zauberformeln sprach, war deshalb nicht weniger verantwortlich als derjenige, der ihm ein Messer in den Rücken stieß. Hätte man regelmäßig nach den physischen Ursachen forschen wollen, wären dagegen viele Vorgänge unerklärt geblieben. Doch gerade die am we­ nigsten erklärbaren Vorgänge waren die schrecklichsten und verloren nur dann einen Teil ihres Schreckens, wenn man annahm, dass Magie dabei im Spiel war. Eine für ihre magischen Kräfte bekannte Person (meist ein älterer Mann oder eine ältere Frau) war dann offenbar deren Urheber und für sie verantwortlich. Deshalb war es vom kosmischen Standpunkt aus die einzig richtige Konsequenz, wenn man diese Person aus den üblichen Verdächtigen herausfand und verurteilte. Und wie zum Beweis tat ihre Verurteilung an­ schließend auch einem Gerechtigkeitsgefühl wohl, welches vehement die Übereinstimmung von sichtbarer und kosmischer Ordnung forderte. Beispiele: Über die Loango-Leute äußert Eduard Pechuël-Loesche, dass der böse Wille bei ihnen wirkt, „wie die Sonnenstrahlen wärmen, wie die Winde kühlen, wie Blumen riechen und Äser stinken, er wirkt wie Gift von Pflanzen und Tieren … Böse Gedanken können scheinbar Erfolg haben, bedingen ein böses Gewissen, sogar Selbstanklagen…“.203 Und bei Heinz Werner heißt es über die Cora-Indianer: „Der Gedanke oder das Denken bildet [bei ihnen] den Hauptteil des magischen Handelns … Bei richtigem Denken ist die Ausführung nebensächlich und beinahe unnötig.“204

(β) Egozentrisches Weltbild. Für die weitere Entwicklung war ein Faktor wegweisend, der das magisch-holistische Weltbild lediglich ergänzt hatte: die egozentrische Perspektive. Das Ich war vom Kosmos durchdrungen, und alle kosmischen Vorgänge erhielten dadurch eine auch ich-bezogene Bedeutung. Wen eine schwere Krankheit heimsuchte oder wem seine Kühe wegstarben, der konnte sicher sein, dass er für einen vorangegangenen Fehltritt büßte – denn die Natur (bzw. der Kosmos) rächte jeden Fehltritt, der ungesühnt ge­ blieben war. Diese Vorstellung von einer Natur, die jeden Fehltritt rächt, verband sich fast notwendig mit einer Personalisierung und Individualisierung aller Natur­ 203  E.

Pechuël-Loesche (1907), S. 335. (1959), S. 286.

204  H. Werner



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kräfte. Man nahm an, dass in der Natur überirdische Wesen gleich den Men­ schen agieren und dass sie miteinander in einer Gemeinschaft gleich der menschlichen leben.205 Diesseitige und jenseitige Welt glichen sich folglich: Man verneinte zwar jetzt deren (kosmische) Einheit, bejahte aber deren Gleichheit. Man trennte mithin zwar reale und irreale, menschliche und über­ menschliche, sterbliche und unsterbliche Wesen voneinander, relativierte die Trennung jedoch, indem man an Verbindungskanäle zwischen Diesseits und Jenseits glaubte, die einerseits den irrealen Wesen Einfluss auf die diesseitige Realität gestatteten und andererseits gewissen auserwählten Personen, etwa Priestern und Schamanen, die Möglichkeit öffneten, mit dem Jenseits in Kontakt zu treten.206 Die magisch-holistische Wahrnehmung des Kosmos wandelte sich somit in eine egozentrisch-synthetische, und das auf Überein­ stimmung mit dem Kosmos beruhende Gerechtigkeitsgefühl in eines, das in der Übereinstimmung mit dem Willen überirdischer Mächte seine Grundlage hat, weil deren Wille sowohl für das irdische Leben jedes Einzelnen als auch für das gemeinschaftliche Zusammenleben die Richtschnur ist. Später, als das Recht sich herausbildete und von der Sitte trennte, sah man deshalb das Recht, weil es das Höhere war, als vom Himmel gegeben an, während die Sitte zwar das irdische Leben bestimmte, es aber der Gemeinschaft vorbehal­ ten blieb, sie auszugestalten. Benutzen mussten die Kanäle zur jenseitigen Welt vor allem diejenigen, die sich ohnmächtig fühlten, das Diesseits gerecht zu ordnen, weil es ihnen entweder an Wissen oder an Kraft mangelte. Wer beispielsweise als Richter trotz allem Bemühen ein Verbrechen nicht aufklären konnte, weil Zeugen, Augenschein o. ä. kein Licht ins Dunkel brachten, dem blieb nichts übrig, als sich an die überirdischen Wesen zu wenden und sie um Weisung zu bitten. Seinen Urteilsspruch und dessen Vollstreckung machte er deshalb von einem Ereignis abhängig, auf dessen Eintreten oder Ausbleiben nur die Überirdi­ schen Einfluss haben konnten. Er veranstaltete etwa einen Zweikampf, bei dem er ihren Beistand auf denjenigen herabflehte, der für die gerechte Sache kämpfte; er ließ den eines Mordes Beschuldigten ins tiefe Wasser werfen und vertraute darauf, dass der Flussgott ihn nur dann ertrinken ließ, wenn er 205  Zur Sehnsucht nach einer gerechten Welt, die den Menschen schon in sehr alter Zeit beherrschte, vgl. unten K 7 c und γ. Zum gegensätzlichen Menschenbild von Hobbes, das die – zweifellos auch zur menschlichen Natur gehörenden – aggressiven Charakterzüge vor das Streben nach Gerechtigkeit rückt, vgl. S. S. Kim (1984), p. 68 ff., 73 f., 312 f. Das hatte zur Folge, dass manche Völker die Gemeinschaft der Überirdischen als Vorbild für die eigene irdische Gemeinschaft begriffen, obwohl es eher umgekehrt war. 206  Zauberer, die noch in den prä-normativen Kulturen eine große Rolle gespielt und als Jagdzauberer oder Erdherrn zum Wohle der Gemeinschaft gewirkt hatten, verloren dagegen allmählich ihre Bedeutung.

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schuldig war;207 er gab dem Kläger und/oder dem Beklagten auf, zur Bekräf­ tigung der widerstreitenden Behauptungen einen Eid zu schwören und dabei eines der überirdischen Wesen, meistens ein besonders hohes, zum Zeugen anzurufen, dass er wahr gesprochen habe und dass ein Übel ihn heimsuchen solle, falls das nicht der Fall sei (‚Selbstverfluchung‘). Und je schlimmer das Übel war, das entweder der Gegner oder der Schwörende benannte, desto höhere Beweiskraft maß der Richter dem Eid bei. Blieb anschließend das Übel aus, war die Wahrheit der Aussage erwiesen; trat es ein, traf den Lügner zusammen mit der Strafe auch sogleich deren Vollstreckung. Es ist verständlich, dass viele Kläger und Beklagte darauf drängten, dass gerade sie und nicht der Gegner die Wahrheit der eigenen Aussage durch einen Eid bekräftigen durften. Denn auch der Lügner hoffte auf himmlischen Beistand. Allerdings verband sich für ihn damit ein hohes Risiko, und die Furcht vor dem leichtfertig heraufbe­ schworenen Übel ängstigte ihn oft so stark, dass er seine Lüge offenbarte, weil ein Ende mit Schrecken ihm besser erschien als eine Furcht ohne Ende.

Die Worte, mit denen man eine Verbindung zwischen der diesseitigen und der jenseitigen Welt herstellte, waren naturgemäß menschlich, hoben sich aber aus dem alltäglichen Geplapper sowohl durch die Feierlichkeit heraus, mit der sie gesprochen wurden, als auch durch den rituellen Charakter, der ihrer Form zukam. Sie erhielten mithin jene magische Bedeutung, die der ersten, mystischen Phase der Entwicklung insgesamt eigentümlich gewesen war, jetzt aber durch den begleitenden Ritus erst hergestellt werden musste. Es war darum konsequent, dass das Recht sich diese magische Bedeutung zunutze machte, um bestimmten Wörtern und Wortverbindungen sowie den sie begleitenden Handlungen eine die materielle Rechtslage verändernde Kraft zu geben oder sie zumindest als Beweis für die Wahrheit und die Ernst­ lichkeit eines innerlichen Wissens und Wollens zu nehmen. Ein Beispiel lässt sich dem Recht der Aschanti entnehmen. Es gab dort tabuisierte Eidesformeln, deren Benutzung in einem Prozess ein schweres Verbrechen war. War, wie üblich, ein Zeuge beim Eid zugegen, dann war er verpflichtet, den Verbrecher sofort festzunehmen, ihn zum Palast des Häuptlings zu bringen und ihn dort der Tat anzuklagen. Im daraufhin festgesetzten Verhandlungstermin wiederholte er seine An­ klage. Aber auch der Angeklagte kam zu Wort und gab seine Darstellung des Vor­ gangs, der Anlass für den verbotenen Eid war. Er endete mit der Schlussformel: „Se asem a me kae, se nye nokwarem na se me di ye no ayesem. Ya me ka ntam kesie.“ („Wenn meine Darstellung nicht der Wahrheit entspricht oder geschönt ist, dann bin ich zum Erleiden der Strafe bereit, denn ich habe den großen verbotenen Namen ausgesprochen.“)208 Widersprach dann seine Darstellung der eines Zeugen, so kam es zur Beweisaufnahme – aber nicht etwa über den Streitgegenstand, sondern ob der Angeklagte den großen Eid missbraucht hatte oder nicht.

207  Vgl.

208  R. S.

dazu oben F 2 b und 3 θ. Rattray (1929/1956), p. 381.



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I427 Ein weiteres Beispiel aus dem römischen Recht schildert Gaius:209 „Wenn es sich um eine Sachklage handelte, wurden bewegliche Güter, d. h. alles, was man an die Gerichtsstätte bringen oder führen konnte, dort folgendermaßen vindiziert [= herausverlangt]: Derjenige, der die Forderung erhob, hielt einen Stab in der Hand, dann ergriff er das strittige Objekt, z. B. einen Sklaven, und sprach so: ‚Ich behaupte, dass dieser Mann nach quiritischem Recht mein Eigentum ist. Aus diesem Grunde, wie ich gesagt habe, sieh her, habe ich auf ihn die Vindicta ge­ legt.‘ Gleichzeitig legte er dem Sklaven den Stab auf. Der Gegner aber sprach und tat das gleiche. Wenn beide ihre Forderung in dieser Weise erhoben hatten, sprach der Richter:210 ‚Lasst beide den Mann los!‘ Sie taten es. Der zuerst vindiziert hat­ te, fragte den anderen folgendermaßen: ‚Ich frage, ob du sagen willst, auf welchen Rechtstitel du vindiziert hast?‘ Der antwortete: ‚Ich habe mein Recht ausgeübt, indem ich die Vindicta auflegte.‘ Darauf sagte wieder derjenige, der als erster vin­ diziert hatte: ‚Da du zu Unrecht vindiziert hast, fordere ich dich mit einem Einsatz von 500 As [etwa 130 kg Kupfer] heraus.‘ Der Gegner sagte entsprechend: ‚Und ich dich ebenso.‘ … Danach sprach der Richter zugunsten einer der Parteien vindiciae aus, d. h. er setzte vorläufig einen als Besitzer ein und befahl ihm, dem ande­ ren Bürgen [prädes] für Streitgegenstand und vindiciae zu stellen, d. h. für das Objekt und den Nutzen, den es bringen würde.“

(γ) Egozentrisch-holistisches Weltbild. Die weitere Entwicklung verhalf in einer dritten Phase einer erneuten Vereinigung von Diesseits und Jenseits zum Durchbruch, diesmal allerdings innerhalb eines egozentrisch-holistischen Weltbilds. (αα) Gründe für seine Entstehung. Ein ganzheitliches, auf die Einheit des innerlichen Welterlebens bezogenes Weltbild war das Resultat einer Weltbe­ völkerung, die in dicht aneinandergrenzenden Protostaaten siedelte und Kon­ takte miteinander pflegte.211 Sie brauchte die Einheit des Bildes zum einen privat für die Verständigung mit Fremden (insbesondere im Handelsverkehr), zum anderen politisch für den Abschluss von Verträgen mit anderen Völkern und zum dritten verwaltungstechnisch für Arbeitsvorhaben mit ‚internationa­ ler‘ Beteiligung (etwa die Errichtung von Befestigungsanlagen und von Staudämmen) sowie für Verkehrsprojekte, die die Landesgrenzen überschrit­ ten. Einmal entstanden, brachte dieses innere Weltbild aber auch kraftvolle Herrscher hervor, die gewillt waren, es nicht nur innerlich zu erzeugen, sondern auch nach außen umzusetzen und ihm eine Realität zu verschaffen, die weit genug in die (damalige) Welt hinein reichte, um als Weltreich gelten zu können. Grund für kriegerische Eroberungen fremden Territoriums während der letzten ca. 3.000 Jahre vor der Zeitenwende war demnach nicht die Notwen­ 209  Gaius,

Inst. IV, 16. spricht vom Prätor, was historisch jedoch nicht korrekt ist. 211  Vgl. dazu näher unten J 4 c γ. 210  Gaius

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digkeit zu immer dichteren Siedlungsgemeinschaften infolge Überbevölke­ rung, die später oft als Grund vorgeschoben wurde, sondern der innere Ehr­ geiz von Einzelnen verbunden mit dem äußeren Vertrauen auf ein gut be­ waffnetes Heer, das ihnen den Sieg über andere Völker verhieß – sofern sie sich an die Spitze stellten und zum Angriff bliesen. Auf diese Weise behielten z. B. die Mykener lange Zeit die Oberhoheit in Griechenland, weil einzig sie ihr Heer mit bronzenen Schwertern und Speeren bewaffnet hatten. Die As­ syrer wiederum sicherten ihre kämpferische Überlegenheit u. a. durch die Erfindung der fahrbaren Widderschildkröte, d. i. einer Steinschleuder, der auf Dauer keine Stadtmauer standhielt, sodass mit ihrer Hilfe Sargon von Akkad (2340–2284 v. u. Z.) den als unbesiegbar geltenden Lugal Zaggesi von Uruk in die Knie zwingen konnte. Weitere Prototypen von Anführern, die sich auf ein mächtiges Heer stützen konnten, waren gegen Ende der Achsenzeit dann Alexander der Große (356–323 v. u. Z.), Hannibal Barkas (247–183 v. u. Z.) und Julius Caesar (100–44 v. u. Z.). Sargon, König in Akkad im Norden des Schwemmlands zwischen Euphrat und Tigris, besiegte Lugal Zaggesi, König von Sumer im Süden des Schwemmlands und brachte dessen Reich unter seine Herrschaft. Er vereinigte beide und noch andere Reiche unter seiner Herrschaft und setzte über einzelne Bezirke seine Söhne (‚Söhne von Akkad‘) als Statthalter ein. Überdies nutzte er die literarische Begabung seiner Tochter Enheduana, indem er sie zur Hohen Priesterin des Mondgottes Nanna im sumerischen Ur machte und sie dort Preislieder auf Inanna, Göttin von Kisch und Akkade, dichten ließ, sodass es zur auch religiösen Vereinigung der beiden Staaten kam. Seine Nachfolger versöhnten darüber hinaus die sumerische Kultur, die höher entwickelt, wenngleich im Niedergang begriffen war, mit der akkadischen Kultur, indem sie die wesentlichen Teile der sumerischen Kultur, u. a. auch die Sprache, über­ nahmen, politisch dafür aber Sumer in die straffe Organisation Akkads einbanden. Das Reich Alexanders des Großen umfasste in seiner größten Ausdehnung drei völlig unterschiedliche Bereiche: das makedonische Königtum, das nahöstliche Groß­ reich Persien und den griechischen Bund rechtlich unabhängiger Stadtstaaten. Als König von Makedonien war Alexander für seine makedonischen Soldaten der Primus inter pares, als Eroberer des persischen Reiches war er für die Untertanen dort ein König mit fast unbegrenzter Macht, und für die Griechen war er der gewählte Anfüh­ rer. Die Einheit des Reiches stellte er her, indem er im ehemaligen Perserreich zu­ nächst makedonische Offiziere, später Mitglieder der lokalen Eliten als Satrapen einsetzte. Dieser Wechsel zeigt, dass für ihn die ethnische und kulturelle Zugehörig­ keit der herrschenden Klasse nur eine geringe Rolle spielte. Für die Integration west­ licher und nahöstlicher Elemente in die vorgestellte Struktur eines einheitlichen Großreiches mit ihm an der Spitze schienen ihm die theokratische Version einer griechischen Monarchie und der autokratische Regierungsstil der ehemaligen persi­ schen Großkönige die passenden Vorbilder zu sein. Allerdings harmonierten beide Konzepte nicht. Sie wurden lediglich von seinem autokratischen Willen zusammenge­ halten, sodass nach seinem frühen Tod die zersetzenden Kräfte alsbald die Oberhand gewannen.



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Sowohl für Hannibal Barkas als auch für Gaius Julius Caesar stand der Sinn we­ niger nach dem Erwerb neuer Machtbereiche als vielmehr nach der Verteilung des vorhandenen Herrschaftsraumes rund um das Mittelmeer. Hannibals Leben war daher durch den Kampf gegen die Vorherrschaft Roms ausgefüllt; die Römer setzten später die Legende in die Welt, er habe Rom als Jüngling ewige Feindschaft schwören müs­ sen. Einerseits versuchte er, Roms Armeen in offener Feldschlacht zu besiegen, ande­ rerseits, möglichst viele von Roms Satelliten auf die Seite Karthagos zu ziehen. Zur Zeit Caesars war dieses Vorhaben längst missglückt: Hannibal hatte 183 v. u. Z. sich selbst getötet; Karthagos letzte Stunde hatte 147 v. u. Z. geschlagen. Für Caesar kam es daher hauptsächlich darauf an, die immer wieder aufflammenden Aufstände insbe­ sondere der Gallier und Germanen in den von Rom beherrschten Gebieten niederzu­ schlagen und sich im Übrigen gegen seine internen Herrschaftskontrahenten in der Stadt Rom durchzusetzen. Lange Zeit hatte er dank militärischem und politischem Geschick damit Erfolg. Im Jahre 46 wurde er sogar auf zehn Jahre zum alleinigen Diktator ernannt. Zum Verhängnis wurde ihm wenige Zeit später jedoch die Befürch­ tung, dass er am Ende auch noch die Königswürde anstrebe: Man ermordete ihn si­ cherheitshalber während einer Senatssitzung in den Iden des März 44 v. u. Z.

Mit Sargon dem Großen begannt die Zeit der großen Kriege, die zunächst auf die Beherrschung und äußeren Einverleibung der zum inneren Weltbild zugehörigen, aber noch nicht erorbertern Gebiete ausgingen. Über die Größe des Heeres, mit dessen Hilfe Sargon das bewerkstelligen wollte, sind wir nicht informiert; doch reichte sie aus, um eine zum Schutz des Libanon-/JordanGebiets heranrückende ägyptische Armee zurückzuschlagen. Altbabylonische Quellen berichten dann von weiteren erfolgreichen Feldzügen, die das Sargo­ nische Reich allmählich von Südmesopotamien bis zur Küste des Persischen Golfs sowie Nordmesopotamien und Nordsyrien ausdehnten. Noch viel weiter gesteckt waren indes die Pläne Alexanders des Großen, der von Griechenland aus große Teile der südöstlichen Welt bis hinunter nach Indien zu einem Groß­ reich zu vereinigen trachtete, was nur sein früher Tod verhinderte. Das von ihm erschaute Weltreich entstand dennoch, wenngleich von Rom aus. Gleichzeitig mit der äußeren Entwicklung hatte sich inzwischen eine an­ dere ereignet, die lediglich der Entfaltung der inneren Kräfte bedurfte: die Realisierung eines inneren Weltbildes mittels der Schrift. Deren Erfindung war eine Tat des Geistes, der inzwischen die Herrschaft vom Gefühl über­ nommen und an die Stelle des Sich-hinein-Versenkens in die Welt sich deren gedankliche Objektivierung zum Ziel gesetzt hatte. Der Geist brachte diese Objektivierung zum Ausdruck, indem er an Stelle der realen Existenz der Welt entweder die durch Ideation gewonnene symbolische setzte (ideogra­ phische Schrift) oder indem er anstelle ihrer begrifflichen Erfassung die Laute der dafür benutzten Wörter möglichst getreu widergab (phonographi­ sche Schift).212 Auf welche Weise auch immer, benutzte er die Schrift, um 212  Zusätzlich benutzte man in Ägypten insbesondere eine phonographische Schrift, der es um Sprachbezug, weniger eine Hieroglyphenschrift, der es um einen

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

den Lauf der Welt aufzuhalten: um wichtige Verträge zu fixieren – vor allem im Fernhandel, wo sich zwischen die Vertragspartner häufig Beauftragte schoben, die sich ausweisen mussten, wenn sie Erklärungen in fremdem Na­ men abgaben bzw. annahmen; daneben im Binnenhandel, wo die Verträge detaillierter ausgefeilt und mit Zusätzen versehen werden konnten, um Aus­ legungsschwierigkeiten vorzubeugen. Er benutzte die Schrift ferner im poli­ tischen Umgang der Staaten miteinander: Jeder Herrscherpalast hatte dafür fest angestellte Schreiber, die mit dem Aufsetzen von Noten zwischen den Häusern und mit dem Entwurf von völkerrechtlichen Verträgen beschäftigt waren. Und er benutzte sie zur Abfassung von Hymnen, welche die Macht und die Klugheit des (aktuellen) Herrschers priesen. Wo die reale Welt nicht genügend Stoff bot, entstanden Heldenepen und mythische Erzählungen zur allgemeinen Ergötzung und, da nur wenige sie lesen konnten, zur Grundlage für bildliche Darstellungen an den Wänden der Tempel. Weisheitsschriften dienten dagegen der allgemeinen Erbauung und Belehrung durch öffentlichen Vortrag vor der andächtig lauschenden Menge des Volkes. All das zusam­ men, verbunden mit Schulen, worin die Schrift wie andere wissenschaftliche Fächer gelehrt wurde,213 erzeugte einen geistigen Aufschwung der gesamten Bevölkerung, eine analytische Durchdringung des inneren Weltbildes durch die Philosophen sowie eine äußere Durchdringung des Weltgeschehens durch die Macht des Herrscherwillens, die bisher einmalig waren. (ββ) Soziale Folgen seiner Entstehung. Im Bereich des Rechts erwies sich die einschneidende Bedeutung des neuen Entwicklung vor allem im gericht­ lichen Prozess. Ordal und Eid wurden künftig nicht mehr als alleinige Grundlagen für ein Urteil anerkannt. Vielmehr schied das Ordal aus dem Prozess der Rechtsfindung allmählich aus, während der Eid zwar beibehalten wurde, sich aber von einem Entscheidungsgrund in einen Beweisgrund für Tatsachenbehauptungen verwandelte. Weitgehend zur Belanglosigkeit degra­ diert wurden dagegen symbolische Handlungen wie das Sprechen ritueller Formeln, um damit einen Prozess einzuleiten oder einen prozessualen An­ spruch zu begründen – eine Veränderung, die insbesondere den römischen Legisaktionenprozess betraf, der von solchen Formeln lebte. Darüber hinaus hatte das neue Weltbild einen Bedeutungsverlust vieler sub­ jektiv-gefühlsmäßiger Bindungen und der sich daraus ergebenden sozialen und rechtlichen Verpflichtungen zur Folge. Solche Bindungen hatten sich möglichst umfassenden Weltbezug geht (und für die in der die Welt „ein unerschöpf­ licher Vorrat an Schriftzeichen“ ist (: J. Assmann, 2003, S. 15). 213  Unter ‚Schulen‘ werden hier und im Folgenden situationsentlastete, meistens auch räumlich gesonderte Unterrichtsanstalten verstanden, worin „nichts produziert wird, sondern nur gezeigt wird, wie man es macht bzw. sich verhalten soll“ (so H. Schöneberg, 1981, S. 1). Nachdem die Schrift erfunden war, dienten die Schulen zunächst vor allem deren Vermittlung.



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nicht nur in der langen Kleingruppenzeit innerhalb der Familien und im enge­ ren Kreis von Gefährten aufgebaut, sondern waren später auch auf Teile der weiteren Verwandtschaft erstreckt worden. Diese Erweiterungen wurden jetzt zurückgenommen. Zwar galt auch künftig noch, dass „ein Vater sich wie ein Vater verhalten soll, eine Mutter wie eine Mutter, ein Sohn wie ein Sohn und eine Tochter wie eine Tochter“214. Doch im Umgang mit dem weiteren Kreis der ‚Verwandten‘ verloren die meisten Verhaltensregeln ihre vordem als ‚na­ türlich‘ empfundene verpflichtende Kraft, und je eindeutiger sich stattdessen die Kultur dieser Bindungen bemächtigte, als desto zerbrechlicher erwiesen sie sich. Man darf allerdings die Bedeutung der früheren Bindungsschemata und nicht über­ schätzen – wozu wir heute neigen. Viele davon waren dem Menschen gar nicht von der Natur ‚auf den Leib geschrieben‘ worden, sondern hatten ihre verpflichtende Kraft einzig durch soziale Nähe und daraus folgende soziale Erwartungen erlangt. Die Frau hatte beispielsweise ihre Mutterrolle niemals schon biotisch durch Schwan­ gerschaft und Geburt erworben, sondern in Wahrheit erst sozial durch ihren ständigen Umgang mit dem Kind – durch das Stillen, Sprechen, Spielen. Tötete sie ihr Kind gleich nach der Geburt oder gab sie es unmittelbar nach der Geburt zur Aufzucht weg, dann entwickelte sie keine Muttergefühle, und auch das Kind brachte seine ty­ pische Zuneigung dann nicht ihr, sondern seiner Amme oder Ziehmutter entgegen.215 Entsprechendes galt in noch stärkerem Maße für die Vaterrolle: Beschäftigte der Vater sich nur wenig mit seinen Kindern, dann baute er keine gefühlsmäßige Bindung auf, und auch für das Kind gehörte er dann zwar zur Familie, war jedoch ein im Grunde fremder Mann, dem es lediglich mit besonderem Respekt begegnete (bzw. begegnen sollte).

Erst recht erwiesen sich alle Versuche als Fehlschläge, das angeblich ‚na­ türliche‘ Gefühl der Verbundenheit kulturell auf noch weitere Bereiche aus­ zudehnen und daraus Berechtigungen oder Verpflichtungen herzuleiten. Wo immer man mithilfe bildkräftiger Ausdrücke dennoch abstrakte in konkrete Vorstellungen zu verwandeln suchte, um sie der affektiven Anteilnahme zu öffnen, erwies sich solches Vorgehen als hohl und letzthin einflusslos. Das Mittel für solche Versuche war eine analoge Semantik. Man bezog sich bei­ spielsweise auf die Rolle des Vaters, die im Altertum noch mit natürlicher Autorität (als Beschützer, Erzieher und Versorger) und mit fürsorglicher (freilich Folgsamkeit voraussetzender) Güte verbunden war. Man erstreckte diese Rolle auf Gott als den Herrn im himmlischen Reich („Vater unser“) und auf die Fürsten als Herren in ihren weltlichen Reichen (‚Landesväter‘). Das Land, das sie regierten, nannte man ‚Vater­ land‘, seine Bewohner, die es unter Einsatz ihres Lebens schützen sollten, ‚Landes­ kinder‘. Hektor spornte sie bei Homer an: „Nicht unehrenhaft ist es, fürs Vaterland 214  So

die konfuzianische Lehre bzw. ein altes chinesisches Sprichwort. ist die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers, als Mutter ei­ nes Kindes „die Frau, die es geboren hat“ anzuerkennen (§ 1591 BGB), biopsycholo­ gisch verfehlt. 215  Infolgedessen

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

kämpfend zu sterben …“. Und Horaz verkündete gar: „Süß und ehrenvoll ist es, sterben für’s Vaterland.“216 – Oder man bezog sich auf die Rolle der Mutter, die im Altertum die der (liebenden) Gefährtin des Mannes und der seine (!) Kinder Gebären­ den und liebend Umsorgenden war. Auch als ‚Landesmutter‘ sollte es daher ihre Aufgabe sein, die ‚Landeskinder‘ zu lieben und sich um sie sorgen, damit diese ihre Liebe und Sorge erwidern konnten. Solche Sorge verband man später mit noch ande­ ren Rollen, etwa der eines ‚Mutterschiffs‘ als Versorgungseinrichtung für die es um­ gebenden kleineren Schiffe. Die Rolle der Gebärenden dagegen übertrug man aufs ‚Mutterland‘, das dem ‚Vaterland‘ Kolonien als ‚Töchter‘ schenkte, weniger aller­ dings um für sie zu sorgen, als sich ihrer Schätze (Erdöl, Mineralien) und Erzeugnis­ se (z. B. Textilien) als ‚Familiengut‘ zu bemächtigen. – Künstliche Bruderschaften gab es ebenfalls. Sie wurden u. a. im Rahmen von Initiationsriten zwischen Personen männlichen Geschlechts, gleichen Alters und gleicher Herkunft erzeugt und begrün­ deten dann einen Bund gleichberechtigter und zur Hilfe verpflichteter ‚Brüder‘. In einer ‚Blutsbrüderschaft‘ verstärkten sich die gemeinsamen Rechte und Pflichten nochmals bis zum Maß der natürlichen Verwandtschaft. – In den Begriff ‚Familie‘ schließlich wurden außer einander nahen auch entferntere Personen eingeschlossen, die lediglich ein gemeinsames Schicksal teilten. Heute gehören etwa die Angehörigen eines Wirtschaftsunternehmens oder einer kulturellen Gemeinschaft zu einer ‚einzi­ gen großen Familie‘, woraus sich moralisch, wenn nicht gar rechtlich die Verpflich­ tung zur Solidarität untereinander und zur Loyalität dem Unternehmen gegenüber ergeben soll. Unspezifisch dagegen ist die Verbindung von Staaten zu einer ‚Staaten­ familie‘ geblieben, worin wechselseitige Unterstützung zwar eingeschlossen, Streit aber nicht ausgeschlossen ist und sogar besonders häufig vorkommt.

Einen Bedeutungsgewinn erlangte aufgrund des neuen Weltbilds stattdes­ sen die subjektive Innerlichkeit: das Verlangen nach individueller Selbster­ fahrung (‚Wer bin Ich eigentlich?‘), das Bewusstsein individueller Autonomie (‚Was bedeutet die Welt für Mich?‘) und das Verlangen nach individuellen Rechten für individuelle Bedürfnisse (‚Mein Ich ist Mein Recht!‘). (δ) Weltbild und rechtliche Ordnung. Trotz dieser hohen Bedeutung des konkret-individuellen Lebensgefühls setzte die Entwicklung des abstrakten Denkens sich im Recht durch. Denn dem Recht galt der persönliche Wert von Erfahrungen und Erinnerungen, weil rational unberechenbar, wenig, der wirtschaftliche Wert von Besitz und Eigentum dagegen, weil rational bere­ chenbar, viel. Und auch sonst ließ das Denken bei der Beurteilung einer konkreten Situation das Gefühl nur dann aktiv werden, wenn es selber zu keinem Ergebnis gelangt war, etwa weil ihm die Zeit zur Überlegung zu kurz, die Situation zu kompliziert oder die emotionale Erregung für ein ruhi­ ges Abwägen zu stark war. Denn abstraktes Denken brauchte Zeit, um sich an den Einzelheiten eines Problems abzuarbeiten, während dem Gefühl eine 216  Homer, IliasIl. XV 496 f.: „οὔ οἱ ἀεικὲς ἀνυνομένῳ περὶ πάτρης τεθνάμεν· ἀλλ‘ ἄλοχός τε σόη καὶ παῖδες ὀπίσσω.“, und Horaz, Oden III 2, 13: „Dulce et decorum est pro patria mori“ (Übersetzung: F. G. Klopstock am Ende seiner Ode „Das neue Jahrhundert“).



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Handvoll Erregungsparameter genügten, um zu einem Urteil zu gelangen. Und auch anschließend brauchte nur das Denken ein großes Vokabular, um sein Urteil zu begründen und es anderen mitzuteilen, während das Gefühl mit wenigen Ausdrucksmitteln auskam. Diese Zweiteilung des an sich Zusammengehörigen hat im täglichen Le­ ben seinen guten Sinn: Gefühl und Denken ergänzen sich, indem die schnel­ lere Reaktion des Gefühls dem langsameren, dafür aber genaueren Denken den Umriss eines Problems vorgibt und ihm einen möglichen Weg zur Lö­ sung weist. Die Lösung eines Problems steht deshalb oft schon fest, während der aufwändige Denkapparat noch um ihre Begründung ringt.217 Für das ju­ ristische Urteil aber reicht die gefühlsmäßige Lösung nicht aus, weil von ihm die Ableitung aus einer abstrakten Gesetzesnorm, mithin eine logische Sub­ ordination verlangt wird, an der das Gefühl allenfalls am Rande beteiligt ist (und sich überdies hinter dem Schutzschild des Denkens verbergen muss). Hier lag infolgedessen der Grund für die zukünftige Entfremdung zwischen dem völkischen (nationalen) Lebensgefühl und dem gesetzlichen Recht, die immer tiefer griff, je mehr das Recht Internationalität erlangte. Im Mittelalter ließ sich die Entfremdung noch dadurch verhindern, dass die Gesetze statt einer ‚abstrakt-intellektuellen‘ Sprache eine populäre ‚kon­ kret-affektive‘ Sprache benutzten218, welche die gedankliche Subordination konkreter Fälle unter gesetzliche Normen erübrigte und stattdessen zur ana­ logen Normanwendung aufmunterte, die vom Volk leicht, weil auch ohne intellektuelle Schulung, vollzogen werden konnte. In der Neuzeit unter­ drückte man dagegen alle Reminiszenzen an das urtümliche magisch-holisti­ sche Weltbild, die dieser Sprache zugrunde liegen, weil die Bürger in den zivilisierten Staaten geschult sind, abstrakt zu denken, und sie deshalb die abstrakte Gesetzessprache grundsätzlich verstehen können. Als Beispiel für eine konkret-affektive „Rechtsweisung“219 mag aus dem mittelal­ terlichen Recht die Norm zur Aneignung von Wild im schwedischen Västgötalag dienen (U 15): „Dem gehört der Hase, der ihn packt, der besitzt den Fuchs, der ihn aufhebt, der besitzt den Wolf, der ihn findet.“220 Dagegen lautet die entsprechende 217  R. B. Zajonc (1980), p. 170: „It was a wise designer who provided separately for each of these processes instead of presenting us with a multiple-purpose appliance that, like the rotisserie-broiler-oven-toaster, performs none of its functions well.“ 218  Die Unterscheidung zwischen „konkret-affektiver“ und „abstrakt-intellektuel­ ler“ und „konkret-affektiver“ Sprache findet sich lt. D. Claessens (1993, S. 343) zu­ erst bei Ch. Bally (1951). 219  J. Grimm (1899/1955), S. IX f.: „Ein herrliches Zeugnis der freien und edlen Art unseres eingeborenen Rechts. Neu, beweglich und sich stets verjüngend in ihrer äußeren Gestalt…“ 220  Eine ähnlich detaillierte Regelung enthält auch das römische Recht in Dig. 41,3,15‒16.

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abstrakt-intellektuelle Norm des § 958 I BGB: „Wer eine herrenlose bewegliche Sa­ che in Eigenbesitz nimmt, erwirbt das Eigentum an der Sache.“

Im Altertum versuchte man, die intellektuelle Subordination unter abs­ trakte Gesetze dadurch zu sichern, dass man das Recht allein auf den Wort­ laut (den ‚Buchstaben‘) der Gesetze beschränkte. Doch zeigten die attischen Dramatiker in ihren Tragödien, dass die Herrschaft allein der abstrakten Ge­ setze (der θέμιστες) die Gerechtigkeit notleidend werden ließ. Daher sahen sich die attischen Philosophen zur Abhilfe aufgerufen: Tragödien aufgrund der Starrheit der Gesetze dürfe es nicht geben.221 Die Gerechtigkeit sei in das Rechtsverständnis einzubeziehen – was indessen ohne Einbeziehung des Rechtsgefühls nicht möglich war. Relativ leicht gelang diese Einbeziehung der Gerechtigkeit den pragma­ tisch denkenden römischen Juristen. Sie vertrauten den Umgang mit dem Recht nicht allein der exakten Wissenschaft (der scientia iuris) an, sondern 221  Besonders Aristoteles erkannte die Notwendigkeit einer sittlichen Konkretisie­ rung des abstrakten Rechts: „Selbst wenn es ‚das Gut‘ gäbe, das eines ist und in übergreifender Weise ausge­ sagt wird oder das getrennt und an sich existierte, so ist doch klar, dass ein solches ‚Gut‘ durch menschliches Handeln nicht verwirklicht und auch nicht erreicht werden könnte. … Vielleicht jedoch meint jemand, es sei zweckmäßig, jenes fragliche abso­ lute Gut zu kennen im Hinblick auf die Güter, die sich tatsächlich erwerben und verwirklichen lassen. Wir besäßen es dann gleichsam als Muster und könnten leichter die Güter erkennen, die ‚Güter für uns‘ sind, und hätten wir sie nur erst erkannt, so würden wir sie auch erreichen. … [Doch] wie soll jemand ein besserer Arzt oder Feldherr sein, wenn er sich in die Schau der fraglichen ‚Idee‘ versenkt hat? Hat doch offenbar der Arzt nicht die ‚Gesundheit-an-sich‘ im Auge, sondern die des Menschen, vielmehr die seines Patienten. Denn seine Kunst gilt dem Einzelnen.“ (NE I 4: 1096b f.). Folgen wir dem Philosophen, so können wir in Bezug auf das Recht argumentie­ ren: Zwar kann ein Gesetzgeber von einem höchsten Gut, etwa von ‚der‘ Gerechtig­ keit, ausgehen und daraus ein System allgemeiner Rechtsgrundsätze und abstrakter Rechtsnormen deduzieren. Doch erreicht er auf diese Weise niemals die konkreten Sachverhalte der sozialen Realität, um deren Regelung es ihm doch geht. Im Abstrak­ ten muss vielmehr das Konkrete enthalten sein, damit es sich auf die Beurteilung der einzelnen Sachverhalte auswirken kann; denn die Aufgabe Kunst des Richters besteht darin, es genau ddort zu finden. Umgekehrt darf der Gesetzgeber allerdings die abs­ trakte ‚Gerechtigkeit‘ auch niemals aus den Augen verlieren. Zwar darf er bei seinen Regelungen von konkreten Vorstellungen ausgehen und induktiv verfahren, indem er die vorgestellten Sachverhalte auf ihre übereinstimmende soziale Relevanz überprüft und sie entweder als erlaubt, geboten oder verboten bewertet. Doch bliebe er hierbei stehen, dann verfehlte er jenes ideell Allgemeine, über das allein die Rechtsvernunft gebietet – das Ideal der Gleichgerechtigkeit. Dieses ginge in der Vielzahl individuel­ ler Gerechtigkeiten unter, da es (als κοινὸς νόμος) nur durch die Gleichheit verbürgt und nur dann erreicht wird, wenn über den Unterschieden des gesetzlich Normierten (des ἴδιος und γεγραμμένος νόμος) das nicht verloren geht, was ihnen gemeinsam ist und sie auf einer höheren Ebene verbindet.



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bezogen auch die Lebenskunst (die ars boni et aequi) ein; denn das mensch­ liche Leben verlaufe nicht vollständig berechenbar, sodass Klugheit die abs­ trakt-generalisierenden Gesetze des Rechts auf die Lösung seiner Alltagspro­ bleme zurechtschneiden müsse. Zur Einbeziehung solcher Lebenskunst in die Lösung vom Leben gestellter Probleme bekennen sich auch die heutigen Ju­ risten. Denn im Gestrüpp der gesetzlichen Normen dürfe, so meinen sie, das Gefühl für die Einzelgerechtigkeit nicht verloren gehen, sondern umgekehrt seinen Nährboden finden. Deshalb wenden sie sich als Gesetzgeber zwar vornehmlich an die Juristen. Doch was sie meinen, das aufzuklären überlas­ sen sie den Gesetzeskommentaren und der Presse, welche die Sprache des Volkes sprechen und dadurch gleichsam zu verlängerten Armen ihrer Gesetz­ gebung werden. Ich fasse zusammen:222 Das werdende Recht (‚Prärecht‘) war im Rahmen eines kosmischen Weltbilds noch Teil einer die Menschen in ihrem Fühlen und Denken ganzheitlich ansprechenden Ordnung. Später, auf der höheren Stufe eines synthetischen Weltbilds, wich die ganzheitliche einer differen­ zierteren Ordnung: Höhere Wesen, Götter und Ahnengeister, gaben in der Natur zu erkennen, dass sie über die Schicksale der Menschen herrschten und welches Verhalten sie von ihnen erwarteten. Noch später ließ die Er­ kenntnis, was gut und was böse ist, von menschlichen Herrschern gegebene Verhaltensordnungen zu. Allerdings mussten die Herrscher ihre Legitimation dazu entweder vom Himmel oder von jener Macht erhalten haben, die ihnen auch die Macht zur Herrschaft zugeteilt hatten. Denn ihr Volk, an das sie ihre Gesetze richteten, konnte sie lediglich zur Aufzeichnung des ohnehin gelten­ den Gewohnheitsrechts legitimieren. Die Gerechtigkeit sowohl des Prärechts als auch des Rechts blieb auf allen Stufen identisch. Sie bestimmte zum einen das kausale Nacheinander von Rechtsgrund und -folge als historische Berührungsgleichheit und zum ande­ ren das reziproke Auseinander von Rechtsgrund und -folge als genetische Entwicklungsgleichheit. Und sie bestimmte beide so, dass Gründe und Fol­ gen in einer das menschliche Ordnungsbedürfnis befriedigenden Weise histo­ risch verbunden waren. Kausalität und Reziprozität enthielten hierfür die maßgeblichen Kriterien.

222  Vgl.

insgesamt auch F. Beyerle (1938), S. 12 ff.

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(ε) Die bleibende Bedeutung von Kausalität und Reziprozität für die Gerechtigkeit. Von der Kausalität besaßen bereits weit zurück in der Vorge­ schichte die nichtmenschlichen Primaten ein Konzept, das ihnen gestattete, Ursache und Wirkung zu unterscheiden und diese Erkenntnis zu benutzen, um Handlungseffekte hervorzubringen. Zur Erkenntnis der Randbedingungen verfügte außerdem ihr Wahrnehmungsapparat über Anpassungssysteme an die Verhältnisse im Raum, an die Unterschiede in der Beleuchtung, an die Bedeutung von Gestalten und Geräuschen u. a. m.,223 die zweckhaftes Han­ deln ermöglichten.224 Ferner besaßen zumindest die menschlichen Primaten ein – wenngleich noch undeutliches – Konzept der Reziprozität. Entwickelt wurde es höchstwahrscheinlich aufgrund der Wahrnehmung, dass in der Na­ tur sich immer dann Konstanz einstellt, wenn Gegensätze sich im Gleichge­ wicht befinden, und dass deshalb die Natur solchen Gleichgewichtszuständen zustrebt: dass sie zur Erhaltung des Gleichgewichts zu jeder Veränderung einer Größe eine Gegengröße erzeugt, die entweder das Anwachsen der Ver­ änderung begrenzt oder, wo das nicht möglich ist, die Veränderung beseitigt und die Entwicklung kausal auf ihren Ausgangszustand zurückführt. Moderne Wissenschaftler haben diesen Mechanismus zur Herstellung eines Gleichge­ wichts in Physik, Chemie, Biologie und Psychologie (einschließlich der So­ zialpsychologie) näher erforscht und ihr den Namen ‚negative Rückkopplung‘ gegeben. Angewandt wurde der Mechanismus bereits im vormenschlichen Bereich u. a. in den sozialen Kleingruppen der Schimpansen nach dem Mus­ ter ‚Hilfst du mir, helfe ich dir‘.225 Beispiele: 1. Wird auf einen mit Luft gefüllten Autoreifen physikalischer Druck ausgeübt, dann verdichtet sich die Luft in seinem Innern nicht nur an der Druckstelle, sondern sie verteilt sich auch auf die gesamte Außenhaut. Wird allerdings der Druck immer weiter erhöht, platzt der Reifen – wenngleich nicht etwa an der Stelle, wo der Druck ausgeübt wird, sondern an seiner schwächsten Stelle. Die Luft entweicht dann und nimmt die Volumendichte der Umgebung an; der Reifen selbst wird platt. – 2. Einen entsprechenden psychischen Effekt kann man in sozialen Systemen beobach­ ten: Unterdrückt etwa ein Staat einen Teil seiner Bevölkerung, dann verstärkt er nicht nur deren inneren Zusammenhalt, sondern er erhöht auch den Druck auf die eigenen Grenzen, weil viele Einwohner versuchen, der Unterdrückung durch Emigration zu entgehen. Werden die Grenzen geschlossen, der Druck aber immer weiter erhöht, kommt es entweder im Innern zu einer Revolte oder zur Sprengung der Grenzen. Die Vergangenheit hat in der DDR diese Gesetzmäßigkeit historisch erwiesen.

I. Eibl-Eibesfeldt (2004), S. 62 ff. Lampe (1985b). 225  F. B. M. de Waal (1989) bzgl. Teilen von Futter. Weitere Zitate bzgl. Grooming u. a. bei E. Voland (1997), S. 114 ff. Vgl. ferner unten K 7 c γ. 223  Dazu 224  E.-J.



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(αα) Negative Reziprozität und Kausalität im Unrecht. Die Funktion des Rückkopplungseffekts ist immer gleich: Er begrenzt ein Geschehen, damit ein vorgegebener Sollwert eingehalten oder kausal wiederhergestellt wird: etwa die Helligkeit des Lichteinfalls ins Auge durch den Pupillenreflex, die ge­ wählte Zimmertemperatur durch das Thermostatventil am Heizkörper. Bereits die vorgeschichtlichen Völker übertrugen diesen Effekt auf den moralischen Bereich, weil sie den Wahrnehmungen ihres Gefühls gleiche Bedeutung bei­ maßen wie den Wahrnehmungen ihrer Sinne226: Einem Übeltäter, der die sozi­ ale Harmonie gestört hat, solle gleiches Übel zugefügt werden, damit die So­ zialmoral wiederhergestellt wird (Talionsprinzip). Wer gleiches Übel fürchte, dürfe keine Ursache dafür setzen: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“ Später gründeten die Völker ihr Strafrecht auf diesen Zusammenhang: War ein Verbrechen begangen worden, musste die Gesell­ schaft für eine ausgleichende Bestrafung sorgen (es sei denn, dass eine höhere Macht ihr zuvorgekommen war und durch eine poena naturalis für Ausgleich gesorgt hatte). Nahm die Gesellschaft ihre Pflicht nicht wahr, fiel der Fluch, der sonst nur den Täter traf, auch auf sie.227 Unrecht muss jedoch nicht notwendig bestraft werden; es kann auch nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip gesühnt werden: Wer einem anderen Schaden zugefügt hat, muss ihn ersetzen. Um derart ersatzpflichtig zu sein, brauchte man in alter Zeit noch nicht einmal absichtlich gehandelt zu haben; man haftete auch für bloße Fahrlässigkeit und bloßen Zufall – jedenfalls wenn die Ansicht bestand, dass man es an anständiger Gesinnung habe fehlen lassen. Allerdings ließ sich das reziproke Maß des Schadensausgleichs oft nur schwer bestimmen, und insbesondere bei Nichtvermögensschäden war die Bemessung manchmal nahezu unmöglich. Welche Schadensersatzforderung begründete beispielsweise die Tötung eines Sippenangehörigen? Nach dem Reziprozitätsprinzip konnte das bedeuten, dass die Sippe des Täters einen der Ihren – in der Regel den Täter selbst – an die Sippe des Ermordeten auslie­ fern sollte, damit diese dann nach Gutdünken mit ihm verfahren konnte. Dennoch war diese Folgerung nicht zwingend, weil naturgemäß auch die Ursachen für die Tötung in die Wiedergutmachungsverhandlungen einfließen oben 2 b bb β αα (bei Fn. 117 ff.). Thurnwald (1934), S. 5: „Wenn man aus allen Regelungen zwischen mensch­ lichen Verhaltensweisen und deren Umrankung mit religiös-magischen Phantasien den innersten Kern herauszuschälen sucht, so gelangt man zur Erkenntnis, dass Rezipro­ zität das ist, was die Waage des Rechts einpendeln lässt. … Missbrauch ist die Ver­ letzung der Reziprozität.“ S. 6: „Vielleicht kann man den Satz von der Reziprozität als die sozialpsychologische Grundlage des Rechts bezeichnen.“ Zu „Gegenseitigkeit und Recht“ vgl. auch die umfangreiche, wenngleich in ihren Ergebnissen nicht immer überzeugende, Studie von St. Wesche (2001), S. 221 ff. („reziproker Altruismus“), 245 ff. („längerfristige Reziprozität“), 273 ff. („reziproker Gruppenegoismus“), 313 ff. („konkrete Gegenseitigkeit“ im Recht), 327 ff. („reziproke Hierarchie“), u. ö. 226  Vgl. 227  R.

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mussten. Und hierüber kam es oft zum Streit. War etwa der Täter vom Getö­ teten zuvor in seiner Ehre gekränkt oder sonst zu gerechtem Zorn gereizt worden? Oder hatte er eine alte Blutschuld auf diese Weise rächen wollen? Ohne genaue Aufklärung lieferte man keinen der eigenen Leute ans Messer! Aus diesem Grunde konnten, wenn über die Motive der Tat keine Klarheit herrschte, dauernde Feindschaft oder gar kriegerische Fehden die Folgen sein. Das Reziprozitätsprinzip wurde deshalb nur im Grundsatz überall aner­ kannt, an seinen Fundamenten aber sehr bald gerüttelt, sodass es i. d. R. Sa­ che von Verhandlungen war, dem Verlangen nach Wiedergutmachung Gren­ zen zu setzen. Allenfalls half dem Geschädigten seine Sippe – sofern er sein Verlangen nicht übertrieb. Und als später die staatliche Macht erstarkte, stellte auch sie sich an seine Seite. Berichte darüber, ob wahr oder erfunden, sind Legion. Obwohl jeder Stamm ein großes Interesse an der Beilegung von internen Fehden hatte,228 konnte bei der Tö­ tung eines Stammesangehörigen selbst ein Stammeshäuptling oder Stammespries­ ter229 die aufgewühlten Leidenschaften oft nicht besänftigen. Am besten erschien es meistens, wenn man über die Angelegenheit Gras wachsen ließ, bis die Leidenschaf­ ten sich abgekühlt hatten, die Älteren gestorben waren und die Jüngeren sich zu ­Rachemaßnahmen weniger verpflichtet fühlten. Zu letzthin befriedigenden Lösungen gelangte indes keine der antiken Gesellschaften. Was einzig sich halbwegs bewährte, war das Bußtaxensystem.230 Vollständig durchgesetzt werden konnte es jedoch erst, als es den Staaten gelang, das Gewaltmonopol an sich zu ziehen, die Privatrache zu verbieten und sie schließlich ganz auszumerzen.

(ββ) Positive Reziprozität und Kausalität im Recht. Nicht nur nach einem Unrecht musste eine Gesellschaft für Ausgleich sorgen; auch wo sonst die Natur Gleichheit vorgegeben hatte, musste sie diese zu erhalten oder wieder­ herzustellen suchen. Außer negativer Reziprozität und Kausalität gab es folglich auch eine Pflicht zu positiver Reziprozität und Kausalität, aus der u. a. Hilfs- und Schutzpflichten gegenüber nah Verwandten, aber auch gegen­ über verwandtschaftlich unverbundenen Personen folgten, sofern sich zwi­ schen ihnen ein Abhängigkeits- oder enges Vertrauensverhältnis ausgebildet hatte oder sie vertraglich miteinander verbunden waren. Ihren Ursprung hatten diese Pflichten höchstwahrscheinlich in einer vom Gesel­ lungsbedürfnis ausgehenden positiven Einstellung gegenüber Mitmenschen, mit de­ nen man lange Zeit eng zusammengelebt hatte oder denen man sich sonst schicksal­ haft verbunden fühlte. Speziell auf verwandtschaftliche Beziehungen konzentrierte sich diese Einstellung, nachdem sich die Kleinfamilie herausgebildet hatte, die Mann, 228  Auf welchen Wegen die Sitten und mit ihnen das Frührecht dem Allgemeinin­ teresse an einer Beendigung von Fehden zum Siege zu verhelfen versuchten, habe ich oben F 3 ζ dargestellt. 229  Als Beispiel sei auf das Wirken des Leopardenpriesters bei den Nuern verwie­ sen (vgl. oben F 2 b Zusatz). 230  Vgl. oben G 4 h.



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Weib und Kinder unter einem (Zelt-)Dach vereinigte. Hier trat allerdings als weiterer Faktor noch die Ähnlichkeit genetisch voneinander abstammenden Individuen hinzu. Denn „Gleich und Gleich gesellt sich gern“ – wir besitzen eine Zuneigung zu Men­ schen, die uns ähneln.231 Sympathie war das generell einigende Band innerhalb von Kleingruppen. Sowohl bei der Jagd als auch beim Sammeln war man aufeinander angewiesen, einesteils weil diese Tätigkeiten, gemeinsam ausgeführt, mehr Erfolg versprachen und dabei etwa auftretende Gefahren besser gemeistert werden konnten, andernteils weil das Jagdund Sammlerglück mal den einen, mal den anderen begünstigte und jeder erwartete, dass sein Misserfolg von den Erfolgreicheren ausgeglichen wird. Die Menschen taten deshalb alles, um das einigende Band nicht abreißen zu lassen, und in Notzeiten zo­ gen sie es sogar noch enger umeinander.232 In den größer werdenden Gruppen wurde das soziale Klima allerdings rauer. In den Dörfern versuchte man dennoch, die nachbarschaftliche Verbundenheit der fami­ liären anzugleichen, um so schnelle Helfer in der Not zu gewinnen. Meistens bedurf­ te es dafür aber bereits spezieller Gunstbezeugungen: etwa indem man sich gegensei­ tig einlud, sich bei der Arbeit half oder im Rahmen von Prozessen einander als Eid­ helfer unterstützte.233 Geschah dies öfter, wurde aus guter Nachbarschaft manchmal sogar mehr als bloße Sympathie, nämlich Freundschaft. Freundschaft war die gefestigte Form wechselseitiger Sympathie innerhalb von Kleingruppen – gleichsam eine Einheit der Seelen in getrennten Körpern. Innerhalb familiärer Kleingruppen war sie ausgeschlossen, weil sie dort noch von den Ver­ pflichtungen überlagert wurde, die zur Familienbindung geführt hatten. Außerhalb dagegen konnte sie spontan durch gleiches Fühlen und Handeln entstehen, ohne dass es noch speziell aufeinander bezogener Akte bedurfte. Und da man wahre Freunde 231  B. Malinowski (1937, p. 88) konnte als Folge der Übereinstimmung von natür­ licher und sozialer Ordnung bei den Trobriandern beobachten, dass soziale Normen natürliche Ähnlichkeiten zwischen Verwandten teils erzeugten, teils verhinderten. Sie bejahen, schreibt er, eine äußere Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn, weil sie bei ihnen sozial wichtig ist, und sie verneinen sie zwischen Mutter und Sohn sowie zwi­ schen Brüdern, weil sie den bei ihnen geltenden sozialen Normen widerspräche. Diese Beobachtung spricht statt für einen Egoismus der Gene eher für eine genetisch übertragene Sozialkomponente. 232  Dies wurde verschiedentlich auch bei höheren Tierarten beobachtet, vgl. etwa E. Voland (2013), S.  72 ff. m. w. N. 233  Hesiod dichtete (WuT 346 ff.): „Böse Nachbarn – ein Fluch, genau wie gute ein Segen. Geltung wird dem zuteil, dem ein tüchtiger Nachbar zuteil ward; Keins deiner Rinder kommt um, sofern nicht dein Nachbar ein Schurke. Gut ist’s, vom Nachbarn zu borgen, und gut, ihm wiederzugeben, beides mit gleichem Maß, und noch reichlicher, wenn du es aufbringst, dass du für später dich seiner versicherst, wenn du in Not bist.“ R. L. Trivers (1995), p. 388 ff.; idem (2002), p. 33 ff., führt dem entsprechend Hilfe in Zeiten der Gefahr, Teilen von Nahrung in Zeiten der Not, Hilfe für Kranke, Ver­ wundete, sehr Junge und sehr Alte, Verleihen von Werkzeug und Vermittlung von Kenntnissen als Beispiele für altruistisches Verhalten an.

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vor allem in der Not erkannte, war Kern der Freundschaft die Erwartung, dass sie sich durch Beistand in der Not bewähren werde. Umgekehrt konnte sie allerdings auch durch die Leistung von Beistand begründet werden, etwa wenn ein Helfer kei­ nen Lohn beanspruchte. Innerhalb großer Gruppen war es dann allerdings so gut wie ausgeschlossen, dass alle zu Freunden wurden. Denn „wer jedes Freund sein will, ist niemands Freund“. Auch heute stellen wir emotionale Beziehungen zu Kollegen, Bekannten, Gästen u. a. nur unterhalb der freundschaftlichen Ebene her, d. h. wir erwarten von ihnen keinen Beistand in der Not und schielen auch nicht danach, Nutzen aus der Verbindung mit ihnen zu ziehen.234

Für das sich auf dieser psychischen Grundlage herausbildende Recht lag es nahe, an die natürliche Tendenz zu positiver Reziprozität anzuknüpfen. Aller­ dings hätte es der Zunahme an Rationalität widersprochen, hätte man Aus­ tauschbeziehungen allein vom Gefühl beherrschen lassen; zusätzlich sah man bei ihnen auf ein kausal ausgeglichenes Kosten-Nutzen-Verhältnis. Das Recht unterschied deshalb zwischen dem Gabentausch und dem Tausch als kom­ merziellem Geschäft und schritt folglich regulierend nur beim kommerziellen Tauschgeschäft ein, wenn der reziproke Nutzen vollständig ausblieb oder in keinem kausal auch nur annähernd gleichen Verhältnis zum ökonomischen Einsatz stand. Die bloß emotionale Enttäuschung über eine unausgeglichene Rechnung verwies es dagegen in den Bereich der Moral und ließ sie erst dann in den Vordergrund treten, wenn der Gebende statt der zu erwartenden Dankbarkeit sich einer schweren Verfehlung – entweder gegen ihn selbst oder einen nahen Angehörigen – ausgesetzt sah. In diesem Fall erschien es dem Recht als zwingend, dass er seine Gabe zurückverlangen dürfe (vgl. heute § 530 BGB). Der Gabentausch war offenbar von jeher ein gesellschaftliches Bindemittel. Seine Funktion innerhalb indigener Völker wurde zuerst von Franz Boas und Richard Thurnwald, später von Bronislaw Malinowski erforscht, nachdem er ihn als kula bei den Tobriandern kennengelernt hatte. Häuptlinge und sonstige ranghohe Personen tauschten dort nach einer festen Regel Armreifen und Muschelketten solange reihum aus, bis diese an ihren Ursprungsort zurückgelangten. Dieser Austausch diente aus­ schließlich der Befestigung der sozialen Beziehungen sowie der Bekräftigung des Ranges und des Renommees der Teilnehmer. Rechtliche Konsequenzen waren damit nicht verknüpft.235 Der Austausch heiratsfähiger Frauen zwischen den indigenen Völkern diente zwar ebenfalls dazu, soziale Bande zwischen den beteiligten Familien bzw. Sippen zu knüpfen; doch spielten daneben auch ökonomische Überlegungen eine wichtige Rol­ le. War nämlich die Reziprozität des Austauschs nicht gewährleistet, dann wurde dieser in zwei selbstständige kaufähnliche Akte zerlegt: Für jede aus einer Familie bzw. Sippe erworbene Frau musste ein (Braut-)Preis gezahlt werden (meist in Form sowie zum Folgenden G. Vowinckel (1995), S. 108 ff. Malinowski (1922/1979). Zusammenfassend M. Mauss (19245/1996).

234  Hierzu 235  B.



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von Rindern), der jedoch an die Familie bzw. Sippe zurückfloss, wenn aus ihrer Mit­ te eine Frau in die andere Richtung heiratete. Dem primär nicht-ökonomischen Cha­ rakter der Zahlung tat das umso weniger Abbruch, als der Transfer des Preises sich meistens über einen längeren Zeitraum hinzog und schon deshalb eine dauerhafte soziale Beziehung zwischen den beiden Verwandtengruppen sicherte. Machte die mit einem Brautpreis Erworbene sich allerdings eines Fehlverhaltens schuldig und wurde ihre Ehe daraufhin geschieden, brach konsequent nicht nur die persönliche Beziehung zusammen, sondern es entstand auch ein Rechtsanspruch auf finanzielle Rückabwick­ lung des Erwerbsvorgangs.236

Beim ökonomischen Warentausch zwischen Fremden stand die rationale Kosten-Nutzen-Rechnung von Anfang an im Vordergrund. Und insbesondere beim Fernhandel achtete jeder darauf, dass er geschäftlich nicht zu kurz kam: Man feilschte um einen möglichst niedrigen Preis für die fremde und um einen möglichst hohen Preis für die eigene Leistung. Dennoch durften das Gefühl und mit ihm das prosoziale Element am Ende nicht zu kurz kommen. Größere Geschäftsabschlüsse wurden regelmäßig mit einem gemeinsamen Mahl beendet, und am gemeinsamen Tisch wurden nicht nur Trinksprüche, sondern auch wechselseitige Komplimente ausgetauscht.237 Je freundlicher es dabei zuging, umso weniger war schließlich wichtig, wer das bessere Ge­ schäft gemacht hatte: Wer besser feilschen konnte, war eben Sieger – und das wurde anerkannt. Lediglich wenn der Wertunterschied zwischen den ausgetauschten Leistungen so groß war, dass ein neutraler Dritter ihn als ‚unverhältnismäßig‘ (und daher ‚unverschämt‘) ansah, fühlte sich der Verlie­ rer ‚über den Tisch gezogen‘ und zog seinerseits gegen seinen Partner vor Gericht. Aufgrund der ständigen Vergrößerung der sozialen Gruppen vermehrte sich allerdings nicht nur die Zahl der Fremden, sondern auch das Ausmaß der Fremdheit. Die geschäftlichen Beziehungen wurden infolgedessen immer stärker verrechtlicht, und das soziale Band, das sie zusätzlich umschlungen hatte, wurde immer dünner. Emotionalität spielte bald auch im Binnenhandel kaum noch eine Rolle. Leistungen zwischen Verwandten oder Freunden konnten zwar nach wie vor in großem zeitlichem Abstand ausgeglichen wer­ den, Verträge zwischen Fremden waren dagegen grundsätzlich ‚Zug um Zug‘ zu erfüllen. Dabei wurden Leistung und Gegenleistung auf die Waage der Gerechtigkeit gelegt und gegeneinander ‚abgewogen‘. Und senkte sich eine der Waagschalen alsdann allzu tief, stand das Recht bereit, die reziproke Gleichheit durchzusetzen.

dazu oben F 2 b u. ö. ist teilweise auch heute noch üblich, ebenso wie die feierlichen Worte, die bei solchen Gelegenheiten gewechselt werden und gleichsam magisch das geschäftli­ che Band verstärken sollen. 236  Vgl. 237  Das

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In Rom wurde das als Entgelt für eine Ware geschuldete Kupfer (aes) im wörtli­ chen Sinne auf einer Waage (libra) abgewogen. Und da es üblich wurde, in das Er­ werbsgeschäft (manicipium) diesen Wägeakt mit einzubeziehen, wurden Zug-umZug-Geschäfte unter dem Oberbegriff negotia per aes et libram zusammengefasst.

(ζ) Zusammenfassung: Reziprozität und Kausalität beherrschten die  mensch­ lichen Sozialbeziehungen bereits in vorgeschichtlicher Zeit, verlagerten sich als Grundlage für sie aber tendenziell bald vom Gefühl auf den Intellekt. Das Gefühl herrschte im frühen Altertum. Es umfasste die Kleingruppen­ kontakte zwischen den Familien- und Sippenangehörigen, leicht abge­ schwächt auch noch zwischen den Mitgliedern von Horden und den Bewoh­ nern kleiner Ortschaften. Es war, weil jeder jeden kannte, vom Vertrauen in die Stärken und Schwächen des anderen geprägt, schwieg im Verhältnis zu Fremden zwar nicht, ließ aber an die Stelle von Vertrauen Vorsicht oder gar Misstrauen treten. Zur Verlagerung vom Gefühl auf den Intellekt kam es, als die Menschen generell sesshaft wurden, als sich die Zahl ihrer Mitglieder sprunghaft er­ höhte und als man auf immer engerem Raum nicht nur Bekannte, sondern auch viele Fremde antraf. Das Gefühl blieb eine Zeit lang zwar für die Be­ ziehungen zwischen Stammesmitgliedern noch mit maßgeblich; doch bereits dort, wo diese Beziehungen überwiegend ökonomischen Zwecken dienten, übernahm das intellektuelle Kosten-Nutzen-Denken die Führung und isolierte einen menschlichen Charakterzug, der bisher nur im Hintergrund gestanden und das menschliche Miteinander gelenkt hatte: die Tendenz zum rechneri­ schen Ausgleich beim kausalen miteinander verbundenen Austausch von Leistungen. Das ausgeglichene ‚Zug-um-Zug‘-Geschäft wurde somit zum Ideal des vorwiegend intellektuell geleiteten Handelns. Das Gefühl dankte indes nicht völlig ab, sondern blieb als Hintergrund im Sinne von ‚Treu und Glauben‘ erhalten. Der Intellekt versuchte sogar, es an seiner führenden Rolle teilhaben zu lassen, indem er durch Analogiebildung gewisse längerfristige Fremdbeziehungen quasi-familiären gleichstellte: Be­ ziehungen etwa zwischen Herrschern und Beherrschten als Vätern und Kin­ dern, zwischen Gleichgestellten als Brüdern und Schwestern. Gleichzeitig aber erschuf er für kurzfristige soziale Beziehungen eine Normenordnung, die er als Moral hauptsächlich auf Hilfe bei Bedürftigkeit, als Recht haupt­ sächlich auf Beseitigung von Störungen im Zusammenleben ausrichtete. Psychogenetisch bestätigte sich somit die Edingersche Regel,238 dass eine genetisch jüngere „intellektuelle“ Schicht die ältere „emotionale“ Schicht der 238  Vgl. L. Edinger (1909): Im Laufe der Stammesentwicklung wandern immer mehr Nervenverbindungen und Funktionen aus älteren Hirnteilen in neuere Hirnteile hinüber. Aus der neueren psychologischen Literatur dazu insbesondere R. B. Zajonc (1980).



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Persönlichkeit tendenziell überlagert,239 weshalb die analytisch ausgerichte­ ten Funktionen der jüngeren Schicht immer mehr Aufgaben von der holis­ tisch ausgerichteten älteren Schicht übernehmen und sie differenzierend weiterführen. Die ältere Schicht wird dann hauptsächlich dann noch aktiv, wenn die jüngere ihrer Leitfunktion nicht genügen kann – etwa, wenn infolge der Komplexität der sozialen Probleme oder der Schnelligkeit, mit der sie gelöst werden müssen, rationale Entscheidungen unmöglich sind und deshalb gefühlsmäßige Pauschalurteile das Handeln leiten müssen. Sonst aber benutzt die jüngere Schicht die ältere nur noch, wenn es darum geht, intellektuelle Verhaltensentscheidungen gefühlsmäßig vorzubereiten oder sie nachträglich (moralisch oder rechtlich) abzusichern. Wissenschaftlich ist die Bedeutung der Intellektualität für Verhaltensentscheidun­ gen und ihre Entwicklung von der kognitiven Theorie Piagets (vgl. unten J 2 a bb) bestens nachgezeichnet worden. Für den parallelen Bedeutungsschwund der Emotio­ nalität muss man allerdings auf die Entwicklungstheorie Freuds zurückgreifen, weil nur sie die gesamte Bandbreite der menschlichen Psyche abdeckt. Für die vorliegende Untersuchung haben beide Theorien allerdings den Nachteil, dass sie ontogenetisch konzipiert sind, sodass ihre auch historiogenetische Geltung sich lediglich postulieren lässt.

(η) Verbleibende Problembereiche. Zwischen der emotionalen und der ökonomischen Reziprozität hatten sich relativ frühzeitig drei diffuse und deshalb schwierig zu regelnde Problembereiche aufgetan. (αα) Reziproke Gleichheit innerhalb von nicht-verwandtschaftlichen Näheverhältnissen? Ein erster Problembereich war die Verpflichtungskraft der positiven Reziprozität innerhalb von nicht-verwandtschaftlichen Nähebezie­ hungen. Er betraf zum einen die Hausgenossen, die ja nicht nur Verwandte umfassten, sondern auch Fremde, die man bei sich aufgenommen und in den Haushalt integriert hatte. Je länger man friedlich mit ihnen unter einem Dach wohnte, desto mehr Sympathie brachte man ihnen gemeinhin entgegen. Teil­ weise übertrug man deshalb sogar die Verwandtenbezeichnungen auf sie und behandelte sie auch wie Verwandte: Sie waren dann nicht nur verbal Brüder und Schwestern, Schwäher und Schwieger, sondern standen ihnen auch so­ zial gleich. Entsprechend ging es in den Dörfern zu, in denen nicht nur Sip­ penangehörige, sondern auch Sippenfremde wohnten. Hier vertrat teilweise Nachbarschaft die verwandtschaftliche Nähe.240 Und je enger man beieinan­ der wohnte, desto intensiver tauschte man nicht nur Worte miteinander aus, sondern auch Gegenstände, half sich bei der Ernte und pflegte einander, wenn man krank war oder gar das Ende nahen fühlte. Allerdings vergaß man 239  Vgl. zum Schichtenaufbau der Persönlichkeit insbesondere K. Birnbaum (1926), S.  169 ff. 240  Vgl. oben 2 c dd η αα; aber auch M. Sahlins (1965), p. 147 ff., 170 ff.

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darüber niemals ganz die Unterschiede zwischen Nachbarschaft und Ver­ wandtschaft. Kaufte man eine Kuh vom Nachbarn, weil eine eigene gestor­ ben war oder keine Milch mehr gab, oder nahm man die magischen Kräfte der Nachbarin in Anspruch, damit die Frau endlich einen Sohn gebar, dann bezahlte man dafür, feilschte vielleicht sogar um den Preis oder forderte das Entgelt zurück, wenn die erworbene Kuh sich als aggressiv erwies oder die Frau statt des ersehnten Sohnes die vierte Tochter entband. Empfangene Leistungen erwiderte man zwar auch zwischen Verwandten, aber stets in Form von Geschenken, damit kein Zweifel an der Unentgeltlichkeit aufkam. Und wenn die mit den Leistungen verbundenen Erwartungen sich nicht er­ füllten, machte man allenfalls beiläufig seiner Enttäuschung Luft – aber möglichst in einer Form, die keinen Groll aufkommen ließ. (ββ) Reziproke Gleichheit innerhalb von hierarchischen Verhältnissen? Ein weiterer Problembereich war die Reziprozität innerhalb hierarchischer Beziehungen. Anders als in den Beziehungen zwischen sozial Gleichen, die oft den Grund zu quasi familiärer Vertrautheit und uneingeschränkter nach­ barschaftlicher Hilfe abgaben, gab es in den Beziehungen zwischen sozial Ungleichen eine schwer zu durchbrechende Mauer: Jeder Gedanke an Rezi­ prozität verlor desto mehr an Kraft, je größer der Unterschied zwischen Oben und Unten war. Was sollte auch vernünftige Menschen bewegen, sich dem Wunsch von big men241 oder Häuptlingen nach unentgeltlichen Sach- und Dienstleistungen zu widersetzen? War doch allgemein bekannt und akzep­ tiert, dass diese nicht alles, was sie erhielten, für Gemeinschaftsaufgaben, sondern zur Mehrung ihres Reichtums verwandten. Spätestens als die Häupt­ linge zu Königen wurden und sich mit einem prunkvollen Hofstaat umgaben, blieb für Redistributionen an die Untertanen ohnehin wenig oder nichts üb­ rig. Denn auch die Verwaltung ihres Reiches wurde ja immer aufwändiger; Sach- und Dienstleistungen der Untertanen mussten dafür einen Ausgleich schaffen. Setzten Angriffe ärmerer Völker dem Land zu, dann musste selbst­ verständlich ein Teil der Untertanen das Land verteidigen, ein anderer Teil die Verteidiger ernähren. Aber kamen nicht auch teure Waren ins Land und verlockten die Könige zum Kauf, während den Preis die Untertanen be­ zahlen mussten? Das war gewiss weniger selbstverständlich. Aber es war auch nicht der Hauptgrund für die ständige Vergrößerung der Kluft zwischen Arm und Reich, sodass man es hinnahm. Hauptgrund für die Kluft zwischen Arm und Reich war eine neue Ideolo­ gie, die von oben gesteuert wurde: Das Eigentum am Land sollte nicht mehr den Ahnen zustehen, sondern den Königen als ihren Schutzbevollmächtigten. Diese Ideologie, die sich auch in den Gehirnen der Untertanen festsetzte, 241  Zu

den big men in Melanesien vgl. P. Lemmonier (1988).



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machte die Stratifikation der Gesellschaft auf lange Zeit irreversibel.242 Von dem jetzt ihnen gehörenden Land nahmen die Könige nämlich den besten Teil für den Eigengebrauch in Anspruch und ließen ihn durch erbeutete Skla­ ven oder in Schuldknechtschaft geratene Bauern bewirtschaften. Den großen Rest vergaben sie entweder an ihre Gefolgsleute als Lehen oder als Pachtland an die Bauern gegen einen Teil des Ertrages. Die Häuptlinge und die big men profitierten ebenfalls davon: Viele wurden zu Herren über fruchtbare Felder und große Rinderherden, viele beschäftigten zur Bebauung ihrer Felder und Pflege ihrer Herden eine immer größere Zahl von Abhängigen, und alle hat­ ten an Macht und Reichtum niemals genug in den Händen. Schon bald muss­ ten die Könige darauf achten, dass sie ihre hegemoniale Stellung behielten – dass die Abgaben ihrer Untertanen hauptsächlich ihnen zuflossen und nicht den Häuptlingen, dass die eigens angezettelten Kriege hauptsächlich ihnen Sklaven und Tributzahlungen einbrachten und nicht den Heerführern.243 Denn nur dann hatten sie es besser als jene, auf denen immerhin als Fluch der Neid und die Missgunst der im Range Gleichstehenden lastete, sodass sie ihr Ansehen ständig durch Akte der Großzügigkeit verteidigen und zu diesem Zweck teure Feste veranstalten mussten. Das wenigstens brauchten die Kö­ nige nicht; ihr Rang überstrahlte alle und rechtfertigte nahezu alles. Zu den Festen mussten die Häuptlinge und big men regelmäßig ihre Untergebenen und sonstige Gefolgsleute einladen, bisweilen aber auch nachbarschaftliche Gruppen mit ihren Anführern, denen sie imponieren wollten. Die erstgenannten Einladungen galten noch der Redistribution und blieben in den Häuptlingsschaften relativ lange erhalten. Sie verloren sich sehr schnell in den Königreichen, weil dort der Luxus des Hoflebens alles Erwirtschaftete verschlang. Die zweitgenannten Einladungen galten dem Wettbewerb um die aufwändigste Darstellung wirtschaftlicher Macht; und diese Feste endeten manchmal mit einer geradezu rauschhaften Vernichtung wirtschaftli­ cher Werte. Beispiele sind die Potlatches244 der Kwakiutl-Indianer. Der Chef einer ihrer Gruppen lud den Chef einer anderen Gruppe zum Potlatch-Fest ein. Der kam dann mit seiner Hausgenossenschaft und seinen Gefolgsleuten und ließ sich über Ta­ ge oder Wochen aufs Üppigste bewirten. Zusätzlich wurden innerhalb eines Rituals an jeden der Teilnehmer entsprechend seinem Rang Geschenke (Decken, geschnitzte Schalen und Kästen, Hornlöffel, manchmal sogar Sklaven) verteilt und wertvolle Sa­ chen ins feierlich entfachte Feuer geworfen und verbrannt.245 Der eingeladene Chef 242  Zu sozialmoralischen Reaktionen darauf, die ausweichlich waren, vgl. St. Breuer (1994), S.  29 f. 243  Deshalb war es kluge Politik, wenn die Könige nach einem die erfolgreichen Feldzug die Heerführer mit Ehren überhäuften – sie konnten dann den materiellen Gewinn in die eigene Schatztruhe stecken. 244  Der Begriff ist abgeleitet vom Nootka-Wort für ‚Gabe‘. 245  Solche Feste waren nicht etwa auf die Eingeborenenstämme beschränkt, son­ dern bis ins hohe Mittelalter hinein weltweit verbreitet. Denn auch die feudale Gesell­ schaft Mitteleuropas konnte sich damals Macht und Reichtum nicht ohne den Rahmen der Verschwendung vorstellen. Deshalb galten ihre Feste hauptsächlich der Zurschau­

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musste das alles ruhig mit ansehen und erkennen, wie in jedem Augenblick er und sein Hausstand auf der sozialen Stufenleiter absackte – bis er seinerseits ein großes Fest gab und zeigte, dass er noch mehr von seinem Reichtum aufzuopfern bereit war.

(γγ) Reziproke Gleichheit im Verhältnis zu Göttern und Geistern? Pro­ blembereich drei war die hierarchische Sonderbeziehung zu den Göttern und Geistern. Obwohl man die Überlegenheit der Götter über die Menschen un­ umschränkt anerkannte, begriff man das Verhältnis zu ihnen als reziprokes Austauschverhältnis und versuchte, einerseits das göttliche Wohlwollen durch Dienste und Gaben zu erlangen, andererseits den göttlichen Unwillen durch Opfer zu besänftigen. Entsprechend verhielt man sich zu den Geistern: Den guten brachte man Geschenke dar, um sie günstig zu stimmen, die bösen suchte man durch magische Riten zu verscheuchen. Eine rechtliche Verstär­ kung des Verhältnisses zu ihnen ließ die Furcht vor ihrer Macht nicht zu. Sie selbst dagegen konnten an Rechtsverhältnissen teilhaben, etwa wenn sie in einem gerichtlichen Verfahren in einem Schwur benannt oder als ‚Zeugen‘ für die Wahrheit einer Behauptung in das Verfahren verwickelt oder gar zur Bestimmung des Urteils angerufen wurden.246 Bitt-, Dank- und Sühneopfer an überirdische Wesen lassen sich schon für die frü­ heste Zeit der Horden nachweisen. Wildbeuter opferten teils mit der Bitte um Heil beim Jagen, teils zum Dank für eine erfolgreiche Jagd, teils aber auch zur Sühne für eigenmächtige Eingriffe in die Natur. In den frühantiken Protostaaten wurde diese Opferpraxis beibehalten, aber in mehrerlei Hinsicht strengeren Regeln unterworfen: • In Ägypten war es nur dem König (hilfsweise seinem Stellvertreter) erlaubt, den Göttern zu opfern. Dass der König für sein Opfer eine Gegenleistung erwartete – immaterielle Vorteile wie Leben, Gesundheit, aber auch den Sieg über einen Feind –, ergibt sich aus den Reden, welche die Opferreliefs wiedergeben. Dagegen spendeten einfache Tempelbesucher den Göttern entweder leicht verderbliche Sa­ chen (z. B. Blumen), kleine Schmuckobjekte oder Votivstelen, auf denen lediglich Bitten um Hilfe oder Danksagungen für Hilfe eingeritzt waren.247 stellung ihres Reichtums. Dazu G. Duby, (1992), S. 442 f.: „Der Herr zeigt sich in seiner Macht und seinem Reichtum, bedeckt mit dem ganzen Geschmeide seines Schatzes. Zuvor hat er schon neue Kleider an all diejenigen verteilt, die seine Einla­ dung angenommen haben.“ Außerdem aber dienten die Feste zu rituellen Zeremonien der Zerstörung und die Sühne­opfer zum Dank für das Glück, sein Brot nicht im Schweiße des Angesichts essen zu müssen. Sie sind „Opfer, bei dem die Herren all die langsam in Schwerarbeit durch die Mühsal der Armen produzierten Güter in ei­ nem Schlag zerstören. Die Schlemmereien der Großen verleugnen das Elend der Sklaven. Durch das Fest siedelt sich der Ritter außerhalb des Gewöhnlichen an. … Er triumphiert über die Natur, er plündert sie und entflieht. Und wenn er tot ist, verkün­ den sein Leichenzug, das Festmahl und die anschließende Verteilung der Geschenke ein allerletztes Mal seine feste Entschlossenheit, mittels der Verschwendung über das Elend des Lebens zu siegen.“ 246  Dazu siehe oben F 3 θ und G 4 k. 247  R. H. Wilkinson (2003), S. 46 ff.



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• In Mesopotamien erbaten die Menschen von den Göttern als Gegenleistung für ihre Opfer immaterielle Güter, etwa Fruchtbarkeit, ein langes Leben, aber auch Vergebung ihrer Sünden.248 Durch Spenden an die Götter dankten sie ihnen für die Abwendung eines Unheils, für die Heilung von einer Krankheit oder für die Erret­ tung aus einer Not. • In Indien diente das große soma-Opferfest der Öffnung des Himmelsbornes, aus dem der fruchtbringende Regen strömen sollte, und das aśvamedha-Opferfest der Vermittlung von Zeugungskräften an die Pflanzen-, Tier- und Menschenwelt. Blu­ tigen Opfern, die andernorts geübt wurden, stand der Buddhismus sowohl in Indien als auch in China kritisch gegenüber; Aśoka, Philanthrop auf dem Königsthron der Mauryadynastie,249 verbot solche Opfer sogar durch ein Edikt. Auch Bittgebete zu einem Gott gab es im Buddhismus nicht. Stattdessen konnten die Gläubigen Bud­ dha um Reinigung von ihren Sünden anflehen, ihn um Beistand bitten oder ihm für geleistete Hilfe danken.250 • In Griechenland, wo auch in den Demokratien noch Reste des alten Sakralkönig­ tums fortlebten, wurden die meisten Feste in Gegenwart der politischen Autoritäten mit Opfern an die Götter und mit Gebeten begangen. Ziel war die Abwehr der dämonischen Mächte, die ständig sowohl das Gemeinschafts- als auch die Einzel­ schicksale bedrohten, sowie göttliche Hilfe bei großen Unternehmungen wie Krie­ gen oder Handelsreisen. Private Bitten um Heilung von Krankheiten sowie Dank für therapeutische Hilfe wurden speziellen Göttern (Apollon, Asklepios u. a.) an ihren Heiligtümern vorgetragen. • In Rom bestimmte die enge Berührung mit Griechenland auch das religiöse Leben. Sogar die Eigenschaften der griechischen Götter wurden auf die römischen über­ tragen. Zusätzlich erschuf man sich Gottheiten zur Konkretisierung der abstrakten griechischen Ideen, an deren Verwirklichung man Interesse hatte. Zu diesen Gott­ heiten sandte man dann Bitten empor und dankte ihnen durch Opfer: Pax, Victoria, Concordia, Providentia, Fortuna und Felicitas Imperii waren darunter.

Quintessenz: Überall waren es urmenschliche Sehnsüchte, von denen man meinte, sie nicht aus eigener Kraft befriedigen zu können, die man in Gebe­ ten einer höheren Macht mit der Bitte um Erfüllung anvertraute.251 Obwohl man für ihre Erfüllung Opfergaben darbrachte, bestand zwischen den Men­ 248  Aus Babylonischer Zeit sind uns Sündenlisten überliefert, die den Kranken zur Gewissensprüfung vorgelegt wurden, damit sie den Grund ihres Leidens erkennen konnten. 249  Zu Aśoka Piyadasi vgl. oben G 2 α. 250  Ein spätes Gebet des Rāmacandra Kavibhārati (Bhaktiśataka, 37–42) aus der Mitte des 13. Jh. u. Z. lautet: „… Reich mir, o Sieger, Deine gnädige Hand zur Hilfe!/… Stütze du den, der vor übermächtigem Durst schier vergeht!/… Deine Liebe gegen die Menschen macht ja keine Unterschiede,/ Durch sie, o Sieger, rette mich Sünder.“ 251  Selbst das Christentum sah in Gott noch den helfenden „Vater“ und folgerte daraus die Unterwerfung seiner Kinder unter seinen Willen. Als Gegenleistung erbat man Fürsorge, insbesondere Nahrung („unser täglich Brot“) und Vergebung von Schuld.

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schen und den Göttern und Geistern niemals ein rechtsvertragliches Verhält­ nis – trotz der immensen Wichtigkeit des Verhältnisses für ein gelingendes Leben; denn es fehlte dazu die Gleichheit. Ein Gott, so war der Glaube, kann zwar apodiktisches Recht setzen, das dann dem kasuistischen Recht des Menschen übergeordnet ist und ihm zur Korrektur dient; aber er kann durch menschliches Recht umgekehrt nicht verpflichtet werden. Selbst im ‚Bund‘ mit seinem Volk erwies sich der jüdische Gott nicht etwa als Vertragspartner, sondern als Stifter einer besonderen Beziehung: „Gehorchet meinem Wort, so will ich euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein; wandelt ganz auf dem Wege, den ich euch gebiete, auf dass es euch wohlergehe.“252 Entspre­ chendes galt für die Beziehungen zwischen Herrschern und Untertanen. Auch sie bildeten nach allgemeiner Überzeugung mangels Gleichheit keine Partner für ein rechtsvertragliches Verhältnis. Eine Vereinbarung mit ihnen war zwar eine Beziehung auf Gegenseitigkeit, die aber aufseiten des Herrschers keine Rechtspflicht zur Erfüllung begründete. Diesem Ungleichgewicht abzuhel­ fen, blieb daher erst den Menschen der Neuzeit vorbehalten.253 d) Der Wille Mit der Verlagerung der Außenwelterfassung vom Gefühl auf den Intellekt war ein Erstarken der Willensautonomie und somit eine Gewichtsverlagerung von der Außenansicht des Handelns auf die Intentionalität des handelnden Individuums verbunden. Das Recht folgte dieser Entwicklung: Das Strafrecht züchtigte nicht mehr die Glieder, die die Tat begangen hatten, sondern den Willen, der sie gelenkt hatte. Das Zivilrecht beurteilte die Rechtslage nicht mehr allein aufgrund dessen, was die Beteiligten gesagt und getan, sondern auch danach, was sie beabsichtigt hatten. •• Wegbereitend für das Strafrecht war die Erkenntnis, dass Normen nicht nur objektiv-sozial gelten, sondern auch subjektiv-individuell verpflichten (d. h. Verantwortung begründen und begrenzen). Diese Erkenntnis hatte sich zwar bereits am Ende des 2. Jt.s durchgesetzt,254 gelangte jedoch erst seit dem 6. Jh. in Griechenland voll zur Geltung. Zuvor hatte man sich dort noch mit der von den indigenen Völkern übernommenen Auffassung begnügt, dass eine αἰτία genannte Wirkursache die – göttliche, natürliche, soziale – Welt beherrsche und deshalb jede individuelle Störung ihrer

252  Jeremia 7 23. Vgl. dazu W. Schilling (1957), S. 111: „Jahve will Israels Gott sein durch Gnade. Auf der anderen Seite aber fordert das Bundesverhältnis Israels Gehorsam gegen Jahves Gebot (Ex. 24, 7).“ 253  Vgl. unten K 1 aα. 254  H. Müller-Karpe (1998), Bd. II, S. 358.



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Ordnung kosmische Auswirkungen habe.255 So sollten etwa die Vergehen des Ödipus außer der sozialen Ordnung in Theben auch die kosmische Ordnung der Welt verletzt haben und daher αἰτίαι sein für die Pest in Theben. In der Achsenzeit brach diese kosmische Ordnung jedoch ausein­ ander: Αἰτία war nunmehr erstens die Ursache im ontologischen Sinne,256 zweitens das innere Prinzip der menschlichen (nicht von außen gesteuer­ ten) Tätigkeit257 und drittens der rechtlich relevante Zurechnungsgrund für anderen Menschen zugefügte Schäden.258 Für das Strafrecht ergaben sich daraus folgende Konsequenzen:259 •• Mensch, Tier und sonstige Dinge waren nicht mehr gleichermaßen für ein Geschehen verantwortlich, vielmehr traf Verantwortung allein den Menschen. •• Grund für Verantwortung war die menschliche Fähigkeit zur freien Wil­ lensbestimmung. Angesichts einer Straftat war folglich nicht mehr allein die äußere Seite zu untersuchen, sondern auch die innere Willensrich­ tung ihres Urhebers. Dadurch wurde es immer weniger möglich, Kinder für ihre Taten, und vollends unmöglich, Kindeskinder für die Taten ihrer Ahnen verantwortlich zu machen.260

255  Vgl. dazu oben H 2 c dd α. Nach dem Fragment des Anaximandros (611–546) sind alle Dinge einander verantwortlich, denn „sie leisten einander Sühne und Buße für ihre Ungerechtigkeit, gemäß der Verordnung der Zeit“ (Übersetzung von W. Ca­ pelle, 1963, S. 82). 256  Aristoteles, Metaphysik XII 6: 1072a. 257  Aristoteles, NE III 1 ff.: 1109b ff. 258  Aristoteles, NE III 7: 1113b f., V 10 ff.: 1134 ff.; vgl. aber auch schon Gorgias, Fragment 11, 6. 259  Zum Folgenden J. Holl (1989), S. 40 ff. 260  In Israel etwa forderte man, dass Gerechtigkeit – selbst diejenige Jahwes – sich nicht erst in der Folge der Generationen, sondern schon im Lebensweg des Einzelnen offenbaren müsse. „Der Sohn soll nicht tragen die Schuld des Vaters, und der Vater soll nicht tragen die Schuld des Sohnes, sondern die Gerechtigkeit des Gerechten soll ihm allein zugutekommen, und die Ungerechtigkeit des Ungerechten soll auf ihm al­ lein liegen“, verkündete der Prophet Hesekiel (18 20). Daraus ergab sich zum einen die Notwendigkeit, Tun und Ergehen im Leben des Einzelnen zu vergleichen, und zum anderen die Erwartung, dass die Seele nach dem Tode vor ein göttliches Gericht gestellt werde, welches im Jenseits den Ausgleich schafft, den Gott im Diesseits nicht hergestellt hatte. Vollendet wurde die Entwicklung freilich erst im Christentum durch die Lehre vom liberum arbitrium. Dazu A. Augustinus, Der freie Wille II 3, III 8 u. ö.; Der Gottesstaat V (9 f.: „Der böse Wille ist nicht von Ihm … Er ist der Schöpfer aller Natur, der Geber aller Macht, aber nicht allen Wollens… Vom sittlich Bösen gilt nicht, dass Er es bewirkt, sondern dass Er es zulässt, richtet, ordnet und straft.“).

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•• Rechtlich verantwortlich war der Mensch nicht mehr erst vor der göttli­ chen Weltordnung,261 sondern schon vor der staatlichen Gemeinschafts­ ordnung. Diese forderte Sühne und bestimmte deshalb die Strafverfol­ gung,262 während die Sühne vor Gott aus dem Verfahren ausgeklammert und einem späteren ‚Totengericht‘ bzw. ‚Jüngsten Gericht‘ überlassen wurde. •• Verantwortlich war der Mensch nicht mehr nur für die jedermann sicht­ baren Folgen seines Tuns, sondern auch für die Gesinnung, aus der he­ raus er eine Straftat begangen hatte.263 Sokrates beispielsweise wurde vor allem deshalb zum Tode verurteilt, weil er aus eigener schlechter Gesinnung die Gesinnung der Jugend verderbe. •• Für das Zivilrecht ergab sich aus der Aufspaltung der αἰτία die Konse­ quenz, dass nicht erst der beiderseits erfüllte Realkontrakt verbindlich ist, sondern schon der zu erfüllende Konsensualvertrag. Auf die schuldrechtli­ che Entwicklung bin ich oben F 3 ε eingegangen. Die sachenrechtliche Entwicklung verlief entsprechend: Nach der ältesten Auffassung stützte sich das Eigentum ausschließlich auf die im Besitz zum Ausdruck kom­ mende physische Gewalt, sodass der Raub des Besitzes ein Erwerbsgrund für Eigentum war. Mit dem Erstarken der staatlichen Macht wurde dieser Erwerbsgrund jedoch weitgehend obsolet. Gleichwohl vollzog sich der Übergang des Eigentums zunächst noch immer handhaft wie beim Raub,264 nur mit der Einschränkung, dass das Einvernehmen mit dem bisherigen Eigentümer, das konsensuelle Zug-um-Zug-Geschäft also, hierfür die ju­ ristische Grundlage bildete.265 In der Achsenzeit gelangte man schließlich 261  Bei Homer waren es vielfach noch die Götter, welche die Sühne für Frevelta­ ten unmittelbar festsetzten und sie durch Seher oder Orakel verkünden ließen – ob­ wohl auch damals schon die irdischen Gerichte stellvertretend tätig wurden, nicht zuletzt um den Zorn der Götter auf das Volk abzuwenden, dem der Täter angehörte und das sich durch Untätigkeit mit ihm und seiner Tat zu identifizieren schien. 262  Auch insoweit war es das Christentum, welches die Entwicklung zu Ende führte, indem es streng unterschied zwischen (a) der individual-moralischen Verant­ wortung, für die das Gewissen die alleinige Instanz ist, und (b) der sozial-weltlichen Verantwortung, die von der Obrigkeit eingefordert wird. 263  Denn man nahm an, dass sich die verwerfliche Gesinnung ohne das Eingrei­ fen des Staates unter der Bevölkerung ausbreiten werde, also Ansteckungsgefahr be­ stehe. 264  Das altrömische Erwerbsgeschäft, das mancipium (oder mancipatio von manu capere = mit der Hand ergreifen), wies noch die Züge eines gewaltsamen Sichbe­ mächtigens auf, wie es auf den Beutezügen der autonomen Sippenverbände geübt wurde. Vgl. M. Kaser (1991), § 9 II 3 (S. 45) sowie oben G 4 d β. 265  Im römischen Recht kam dieser Sachverhalt in der Doppelmanzipation zum Ausdruck. Sie setzte sich aus zwei selbstständigen Erwerbsakten zusammen, die we­ der durch einen gegenseitigen Vertrag noch gar durch Verrechnung mit einem Kauf­



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zu einer noch stärker vergeistigten Auffassung des juristischen Vorgangs: Man tauschte jetzt außer den physischen Sachen auch die Berechtigung an ihnen aus, und nur der letztgenannte Vorgang ließ das Eigentumsrecht übergehen. Schließlich vertrat das Wort sogar vollständig die Tat: Das er­ klärte Handlungsziel, also die Einigung über den Eigentumsübergang, trat an die Stelle der realen Leistung – wodurch der Austausch des physischen Besitzes die Funktion einer Er‚füllung‘ des (noch ‚leeren‘) Versprechens erhielt.266 e) Die Schrift Die Bedeutung der Schrift für die Rechtsgenese habe ich verschiedentlich schon hervorgehoben. Fakten zu ihrer eigenen Genese (Entstehung und Ent­ wicklung) muss ich jedoch noch nachtragen. aa) Genese der Schrift Notwendige Voraussetzung für die Genese der Schrift war die Genese einer Sprache. Für die Menschen, die in offenen Landschaften leben, spielten dafür als Grundlagen die Fernsinne des Sehens und Hörens die größte Rolle; denn sie erlaubten, Wahrnehmungen ihrer Umwelt durch gestische Zeichen und Lautsignale anderen mitzuteilen. So entwickelten sie eine durch gesti­ sche Zeichen unterstützte Lautsprache zur innersozialen Kommunikation. Vergleicht man das menschliche Zusammenleben mit dem der uns biologisch eng verwandten Schimpansen, wird die Bedeutung der Umwelt für die Kommunikations­ entwicklung offenbar. Die Schimpansen leben im afrikanischen Regenwald, wo eine visuelle Kommunikation über weite Strecken unmöglich ist. Und da ihr Leben von anschleichenden Leoparden bedroht ist, ist auch eine phonetische Kommunikation für sie zu gefährlich. Ihre Babys durchlaufen daher zwar genau wie die menschlichen ein Lallstadium, brechen dieses jedoch im vierten Monat folgenlos ab.267

Die Höherentwicklung ihrer zerebralen Fähigkeiten bescherte den Men­ schen die Fähigkeit, symbolisch zu denken und symbolisch zu kommunizie­ ren. Sprachlich konnten sie daher mithilfe von Begriffen und Sätzen kommu­ nizieren und nicht nur die meisten ihrer äußeren Aktionen durch symbolische preis verbunden gedacht wurde. Wann sich im römischen Recht die Vorstellung her­ ausbildete, dass das gleichbleibende Recht nur sein Subjekt vertauscht, ist ungeklärt. Offenbar hielt das ältere Recht an der Ursprünglichkeit des Eigentumserwerbs fest, und der Gedanke einer Rechtsübertragung bildete sich erst im klassischen römischen Recht heraus. Vgl. M. Kaser/R. Knütel (2003), § 24 I 1. 266  Näher bei E.-J. Lampe (1997b), S. 201 ff. 267  Wenn sich heute die erwachsenen Schimpansen dennoch auch durch Laute verständigen, beruht dies nicht auf dem frühen Lallstadium (A. Kartlandt, 1962).

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vertreten lassen, sondern dabei auch ihrem Willen symbolisch Ausdruck ge­ ben. Worte und das, wofür sie standen, waren allerdings flüchtig. Um sie auf Dauer zu stellen, sie gar der Nachwelt zu überliefern, bedurfte es eines festen Substrats und somit einer Schrift. Blieb die Schrift den wahrgenommenen Gegenständen nahe, war sie ‚ideogra­ phisch‘; sie bestand dann aus Zeichen, welche die Wahrnehmung vertraten. Orientier­ te sich die Schrift dagegen am gesprochenen Wort, war sie ‚phonographisch‘; ihre Zeichen reihten dann die in der Sprache verwendeten Laute zu Wörtern, die Wörter zu Sätzen aneinander.268 Die ideographische Schrift besaß ein Höchstmaß an Weltre­ ferenz, da jedes Schriftzeichen einen Begriff darstellte, dem in der Realität der Welt mindestens ein Gegenstand entsprach. Solche Schriften mussten allerdings ein großes Inventar an Zeichen besitzen; in China war das geradezu exzessiv der Fall: Es heißt, dass die Schrift dort bis zu 87.000 Zeichen gekannt habe.269 Da es aber unmöglich war, eine so große Zahl von Schriftzeichen zu erlernen, wurden die Schriftzeichen frühzeitig durch Phonogramme ergänzt, welche die Lautwerte der Sprache wiederga­ ben. Damit näherte sich die ideographische der phonographischen Schrift an. Die Erfindung dieser Schrift wird auf die Phönizier zurückgeführt;270 als Muster liegt sie heute fast allen Schriften zugrunde; unterschieden wird lediglich noch zwischen ­Alphabet- und Konsonantschriften. Die ägyptische Hieroglyphenschrift stand zwischen den beiden Extrempositionen. Ihr Ziel war primär weder die Aufzeichnung wahrnehmbarer Gegenstände (also die Weltreferenz) noch der Aufeinanderfolge von Phonemen (also die Lautreferenz), son­ dern die Wiedergabe von Geschehnissen, insbesondere von menschlichen Handlun­ gen, die Geschichte machten – zumeist politische Geschichte, die man dann an den Tempelwänden zur Darstellung der ägyptischen Sicht auf die Geschichte benutzen konnte.271 Zu diesem Zweck verwendete sie sowohl Bilder, die dem Jahr des Gesche­ hens (als ‚Zeitfläche‘) einen Namen gaben und so der chronologischen Orientierung 268  Ideogramme (und bedeutungsgleich Piktogramme) sind Bildzeichen; sie ge­ ben das Bezeichnete entsprechend seiner Erscheinungsform wieder: ein Haus also als ‚Haus‘. Phonogramme bedeuten dagegen Laute (in der ägyptischen wie in der arabi­ schen Schrift Konsonanten) ohne eigenen Sinn. Determinative sind stumm und wer­ den daher nicht gelesen. Sie beziehen sich auf Sinnklassen: das Zeichen des Auges also auf alles, was mit dem Sehen zusammenhängt, das Zeichen des Hauses auf Raumbegriffe, das Zeichen der Sonne auf Zeitbegriffe usw. 269  Von ihnen werden 85 % heute nicht mehr benutzt und kommen nur noch in der älteren Literatur vor. An den chinesischen Schulen werden etwa 2–3000 Zeichen unterrichtet. 270  Die Entwicklung ging wahrscheinlich von den in einer Bilderschrift nicht aus­ drückbaren Wörtern oder Wortzeichen aus, wobei den grammatischen Elementen (Affixen, Suffixen) eine besonders wichtige Rolle zufiel. Sie mussten, soweit sie für sich genommen sinnfrei waren, phonetisch umschrieben werden und waren schließ­ lich Anlass für die Entdeckung, dass auch die sinnhaften Teile der Wörter eine Wie­ dergabe durch phonetische Zeichen zuließen. 271  J. Assmann (2003), S. 80: „Dies ist daher sowohl der Ursprung der ägyptischen Annalistik und Geschichtsschreibung als auch der gesamten monumentalen Bau- und Bildkunst, die keinen anderen Sinn hat, als diesen permanenten zur Götterwelt hin



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dienten, als auch ideographische und phonographische Zeichen, die zwar die Beson­ derheiten der Situation ausschalteten, im Übrigen aber das Geschehen so getreu wie möglich erzählten.

Die weitere Genese der Schriften verlief ebenfalls nicht gradlinig, son­ dern – wie andere evolutive Veränderungen auch – in ständig neue Richtun­ gen hinein, von denen einzelne sich als zukunftsträchtig erwiesen, andere dagegen als Sackgassen. So hatten etwa die ältesten sumerischen Zeichen zwar ein bildhaftes Aussehen, waren aber weder in der Lage noch dazu be­ stimmt, Weltreferenz zu dokumentieren. Ihre Funktion war ausschließlich normativ:272 Sie sollten Herkunft und Herstellungszeit wirtschaftlich wert­ voller Güter sowie Art und Menge gespeicherter Waren benennen. Anderswo waren die Zeichen Piktogramme mit Weltreferenz: Sie bezeichneten reale (i. d. R. sichtbare)273 Gegenstände oder Tätigkeiten, konnten dies aber auf unterschiedliche Weise: ‚Wasser‘ wurde beispielsweise in Mesopotamien mit drei gewellten Linien bezeichnet, in Ägypten mit einer von der Seite her gesehenen Welle,274 in China mit drei senkrechten Strichen (Regen!). Un­ sichtbare Objekte wie etwa die Götter erhielten für ihre in den Tempeln la­ gernden Spenden eine eigene schriftliche Adresse. Entwicklungsmäßig dyna­ misierte sich der Schriftgebrauch unterschiedlich schnell: zuerst im wirt­ öffentlichen situativen Rahmen als einen ‚heiligen Raum der Dauer‘ sichtbar zu ma­ chen und auszugestalten.“ 272  Ebenfalls normativ ist auch die heutige Funktion vieler Piktogramme: sei es dass sie die Herkunft von Waren bezeichnen und deren Hersteller rechtlich schützen, sei es dass sie auf Normen hinweisen, die ein bestimmtes Verhalten gebieten oder verbieten – beispielsweise im Straßenverkehr Hinweise sind auf ein Überholverbot. 273  Man ging offenbar davon aus, dass die Schrift nur das Sichtbare wiedergeben könne. Diese Auffassung wird auch heute noch von Kindern vertreten, die nicht lesen können. Der moderne Verkehr verwendet Piktogramme vielfach aber auch als Orien­ tierungs- und Suchhilfen. 274  Die ägyptische Schrift beschritt auch insoweit einen Sonderweg. Weil sie den Sprachbezug mit dem Weltbezug kombinierte, konnte beispielsweise die Zeichnung eines Auges sich entweder auf das ‚Auge‘ als Gegenstand beziehen oder auf den Laut, der sowohl im Wort ‚Auge‘ (jrt) als auch im Wort ‚tun‘ (jrj) identisch wieder­ kehrt. Und schließlich konnte sie sich auch auf die Funktion des Auges beziehen, dass es zum ‚Sehen‘ dient (mӡӡ). Darüber hinaus wurden große Bilder zur szenischen Realitätsdarstellung verwendet (Weltreferenz), kleinere Bilder zur namentlichen Iden­ tifikation der dabei anwesenden bzw. mitwirkenden Personen (Sprecherreferenz) und noch kleinere Bildzeichen (Konsonantzeichen) zur Mitteilung der Worte, welche in der konkret dargestellten Situation gesprochen wurden (Lautreferenz). Die demoti­ sche Variante der ägyptischen Schrift verzichtete später auf den Weltbezug zugunsten der ausschließlichen Sprachwiedergabe, allerdings unter Verzicht auf die Vokale. Die Einfügung der Vokale in die Schrift war eine griechische Zutat. (Doch wies das grie­ chische Alphabet noch immer auf seine von den Phönikern übernommenen ägypti­ schen Ursprünge hin: Alpha [ägyptisch aleph] bedeutete ‚Rind‘, Beta [bêt] bedeutete ‚Haus‘.).

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

schaftlichen Bereich für kurze Mitteilungen an die Warenadressaten, sodann im sakralen Bereich für die Anbringung von Weih- und Grabinschriften, später im sozialen Bereich für die Übermittlung von Botschaften, und schließlich im juristischen Bereich für die buchstäbliche Festlegung von Aus­ sagen, Eidesformeln und Vertragsinhalten. Am Ende war der Siegeszug der Schrift unaufhaltsam. Die Erfindung der Schrift führte allerdings in keinem Lande zur allgemei­ nen, d. h. das gesamte Volk umfassenden, Schriftkultur;275 ihr Gebrauch blieb vielmehr eine schichtspezifische Errungenschaft, meistens auf Priester und ‚Schriftgelehrte‘ beschränkt. Vorgänge, die verschriftet wurden, bekamen schon allein deshalb eine aus dem Alltäglichen herausgehobene – bei Bedarf auch rechtliche – Bedeutung.276 Mitteilungen oder Normen, deren allgemeine Publizität politisch oder sozial erwünscht war, blieben deshalb noch lange auf mündliches Vorsagen und Vorlesen angewiesen. Schriftunkundige Norm­ adressaten mussten für sie wichtige Inhalte nach wie vor auswendig lernen, Kinder für sie wichtige Norminhalte in der Schule einüben (was ihnen manchmal durch die Einkleidung der Normen in Versform erleichtert wurde). Dennoch ‒ in den meisten Ländern setzte auch die Schriftkultur sich durch, erst noch mit Nachhilfe, indem man wichtige Inhalte nicht nur schriftlich, sondern auch im Bild darbot und durch anschaulich machte, später durch Schulung auch ohne Bilder. bb) Bedeutung der Schrift für die Genese des Rechts Der Einfluss der Schrift auf das Recht hat sich im Laufe der Zeit im sel­ ben Maße gesteigert wie ihr Gebrauch im Rechtsverkehr. Anfangs bestand ihr Wert lediglich im urkundlichen Beweis: dass ein Rechtsgeschäft abge­ schlossen wurde, dass eine Behörde sich mit einer Rechtsfrage befasst und Feststellungen getroffen hatte oder dass ein Gesetz verkündet wurde und damit in Kraft getreten war. Allmählich und hauptsächlich außerhalb des hier untersuchten frühhistorischen Rahmens wurde sie auch zur Bedingung für die rechtliche Gültigkeit besonders wichtiger privater Erklärungen und ho­ 275  J.

Assmann (1992), S. 91 ff., 264 ff.; Ǿ. Andersen (1987), S. 36 f. einer Schriftkultur war die griechische. Im heutigen deutschen Recht besitzt das Erfordernis einer schriftlichen Festlegung noch immer eine besondere Be­ weis- und Warnfunktion, die sich die Gesetze zur Sicherung des ernstlich Gewollten zunutze machen. Beispiele sind freilich selten geworden. Zu erwähnen ist die in § 766 BGB vorgeschriebene Schriftform für eine Bürgschaftserklärung, die der War­ nung des Bürgen vor der übereilten Übernahme einer Bürgschaft sowie der Begren­ zung des Risikos dient, sowie die in §§ 780 und 781 BGB vorgeschriebene Schrift­ form für das (abstrakte) Schuldversprechen und das (abstrakte) Schuldanerkenntnis, die dem gleichen Zweck dient. 276  Prototyp



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heitlicher Akte erhoben. Zu einer fast totalen Verrechtlichung des öffent­ lichen Lebens durch den Schriftgebrauch kam es jedoch erst in der Neuzeit, und erst in der Neuzeit war die Tendenz fast aller Staaten auch darauf gerich­ tet, möglichst allen Menschen das Lesen und Schreiben beizubringen. Überliefert ist uns der Schriftgebrauch im Recht zuerst aus Babylonien und Ägypten, weil hier Schriften nicht nur erfunden wurden, sondern auch am frühesten Ver­ breitung fanden. Gebraucht werden konnte die Schrift hier sowohl zur Begründung eines subjektiven Rechts als auch zur Herstellung eines Beweismittels für seinen Bestand; das Grundprinzip der Mündlichkeit für alle Rechtswirkungen konnte die Schrift allerdings nicht brechen. Mündlichkeit blieb insbesondere Bedingung für An­ träge und deren Verhandlung vor Gericht, innerhalb der Beweisaufnahme vor allem für das feierliche Sprechen von Eiden. Als Beweismittel konnten Urkunden zwar vorgelegt werden, doch ersetzte ihre Vorlage weder die mündliche Bezugnahme auf sie noch die mündliche Vernehmung von Zeugen zum Beweis ihrer Authentizität. Auch bewiesen Urkunden nicht die darin aufgeführten Tatsachen, sondern nur, dass diese von den Ausstellern bezeugt wurden (und auch gegenwärtig würden bezeugt werden können, falls die Aussteller noch lebten und ihre Erinnerung sie nicht im Stich gelassen hätte). Entsprechendes gilt für die gerichtlichen Protokolle: Sie be­ zeugten ebenfalls nur den Verlauf einer Verhandlung sowie deren wesentlichen Inhalt, stellten aber die darin zur Sprache gekommenen Fakten nicht rechtsgültig fest. Auch in Kreta und später auf dem griechischen Festland beschränkte sich die Be­ weisbedeutung der Schrift auf die Abgabe von Erklärungen, nicht dagegen auf die Wahrheit ihres Inhalts. Auch war sie ebenfalls nicht konstitutiv für ein Rechtsge­ schäft.277 Dasselbe gilt für Rom, wohin die Schrift von Griechenland aus kam. Sie wirkte sich zwar sogleich auf das Rechtswesen aus, doch beschränkte sich ihre Be­ deutung wiederum auf den Beweis der Abgabe von Erklärungen ohne Bedeutung für deren Rechtsgültigkeit278 (als Gegenbeispiel lässt sich nur der Litteralkontrakt279 anführen). Insbesondere waren testamentarische Verfügungen auch mündlich gül­ tig.280

277  Für Kreta vgl. J. Fischer (2010), S. 31 ff.; für Athen vgl. R. Harder (1942), S.  91 ff. 278  Zur Bedeutung von Schriftform und Urkundenwesen in Rom vgl. M. Kaser (1971), § 57 III 1. 279  Es handelt sich bei ihm um die vertragliche Umwandlung einer – gleichviel woher – bestehenden Geldschuld in ein fiktives Darlehen. Vgl. M. Kaser (1971), § 129. 280  Ebenfalls nur eine tatsächliche, nicht auch eine rechtliche Voraussetzung war die urkundliche Form einer Erklärung für deren Siegelung. Diese diente der Beglau­ bigung, dass die in einer Urkunde enthaltene Erklärung von einer bestimmten Person herrührt und dass sie unverändert geblieben ist, beispielsweise weil sie seither in der Obhut des Siegelnden stand. Derartige Siegelungen gab es bereits in Ägypten, später waren sie in Rom für wichtige Geschäfte gebräuchlich. Vgl. zu Ägypten W. Boochs (1982), S. 43: „Schriftstücke wurden verschlossen und gesiegelt, um sie vor Einsicht­ nahme und dem Zugriff Dritter zu sichern. Hierzu wurden die Schriftstücke, nachdem sie aufgerollt oder gefaltet worden waren, mehrfach verschnürt und auf der Oberseite

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Folge der Schrift war, dass sich die Komplexität des geltenden Rechts fast beliebig erhöhen konnte. Denn die Zahl der Normen konnte jetzt auf ein Maß anschwellen, das gedächtnismäßig niemals hätte bewältigt werden kön­ nen. Auch ließ sich der Inhalt schriftlicher Normen durch mündliche Inter­ pretation jetzt nochmals steigern.281 Dasselbe galt für private Rechtsge­ schäfte: Ihr schriftlich niedergelegter Text konnte sie so kompliziert ausge­ stalten, wie man es sich nur wünschte, und die Ansprüche, zu denen er ver­ half, konnten sich durch die mündliche Interpretation nochmals vermehren lassen. Allerdings wäre die Vermehrung der rechtlichen Komplexität nicht möglich oder zumindest nicht sinnvoll gewesen, wenn nicht eine verminderte Komplexität des sozialen Lebens ihr die Waage gehalten hätte. Schriftliche Normen mussten daher erlauben, komplexe oder strittige Beziehungen im sozialen Leben zumindest schneller und klarer zu ordnen oder darzustellen als ein mündliches Recht es vermocht hätte. Dasselbe galt für private Bezie­ hungen: Ausschließlich was man als vertraglichen Inhalt aufschrieb, durfte künftig die Vermutung rechtlicher Bindung für sich haben; mündliche Ne­ benabreden durften an dieser Vermutung nicht teilhaben. Weitere Folge der Schriftlichkeit war für öffentlichrechtliche Normen, dass ein Herrscher sie von einem Tag auf den anderen erlassen konnte, in­ dem er sie auf eine Tafel schrieb und öffentlich aufstellte, und dass er sie von einem Tag auf den anderen wieder aufheben konnte, indem er die Tafel ver­ schwinden ließ oder den Text löschte, abänderte oder ersetzte. Auch konnten verknotet. Auf die Knoten wurden Lehmkügelchen gesetzt und anschließend gesie­ gelt.“ Zum ähnlichen Verfahren in Rom vgl. M. Kaser (1971) § 57 IV 1. 281  Das erkannte schon der römische Jurist Pomponius, als wenn er feststellte (Dig. 1,2,2,5), dass alsbald nach dem Erlass des XII-Tafelgesetzes „deren Erörterung (disputatio) vor Gericht notwendig zu werden begann“ und dass darin von Anfang an die Aufgabe der Rechtsgelehrten bestand („ut interpretatio desideraret prudentium autoritate necessariam esse disputationem fori“). Vgl. auch N. Luhmann (1993), S. 256: „Bis hin zur modernen Gesellschaft … ist alle Evolution … durch die Diffe­ renz von Text und Interpretation ermöglicht worden.“ Wahrhaft in Gang kam die Interpretation des Rechts allerdings erst aufgrund eines Ereignisses, das weit außerhalb des hier besprochenen Zeitraums liegt: nämlich auf­ grund der Ausbildung von Juristen, die sich der umfangreichen Sammlung altrömi­ scher Rechtsnormen für den Corpus Iuris des oströmischen Kaisers Justinian (6. Jh.) widmeten und eine Grundlage für die nachfolgenden Kommentierungen der Quellen­ texte durch die Glossatoren und Postglossatoren (11. bis 13. Jh.) schufen. Infolge dieser Kommentierungen konnte das römische Recht der Rechtsentwicklung im ge­ samten mittelalterlichen Kontinentaleuropa den Pfad vorgeben, sodass dieses zum fortan geltenden „gemeinen Recht“ (ius commune) wurde. F. Wieacker (1967), S. 82: Indem sie nicht nur ihre eigene Umwelt, „sondern bald auch die nah verwandte Welt West- und Mitteleuropas zum Material ihrer Wissenschaft machten, haben sie das justinianische Recht zu einem gesamteuropäischen Gemeinrecht (jus commune) ge­ macht und zugleich die Fülle der nicht-römischen Rechte Europas den Denkformen ihrer Rechtswissenschaft anverwandelt.“



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schriftliche Normen einen Rechtsbereich derart umgrenzen können, dass mündliche Normen daneben keinen Bestand hatten (im Strafrecht ist das auch heute noch so). Das mündliche Recht dagegen musste, wenn es nicht die lange Zeit des Zuwartens auf den zwingenden Charakter einer Gewohn­ heit durchlaufen sollte, zumindest in einem öffentlichen Zeremoniell verkün­ det werden, etwa als Urteil am Ende eines gerichtlichen Prozesses oder als Satzung anlässlich der feierlichen Einweihung einer Stadt.282 Und es durfte anschließend nur solange gültig sein, wie es von den Bürgern akzeptiert und befolgt wurde. Möglich wurden unter dem Einfluss der Schrift größere gesetzliche Ord­ nungen und sogar Kodifikationen ganzer Rechtsbereiche. Allerdings hatte der Wunsch danach weder einen Einfluss auf die Erfindung der Schrift noch entstand er als Folge ihrer Erfindung.283 Was dennoch an zusammenfassen­ den Ordnungen entstand, hatte sich meistens schon zuvor unter dem Einfluss von allgemeinen Gewohnheiten oder Geschäftsgebräuchen herausgebildet und war zum Bestandteil der Sittenordnung geworden. Hatte es sich im sozi­ alen Umfeld bereits verfestigt und war es vielleicht sogar von den Gerichten zum Zwecke einer gleichmäßigen Rechtsprechung schon angewandt worden, konnte der Gesetzgeber es von dort entnehmen und als ‚seine‘ Ordnung pu­ blik machen.284 Dies gilt etwa für den Kodex Hammurapi, der in den §§ 42–126 Teile des Vermö­ gensrechts, in den §§ 128–193 Teile des Familien- und Erbrechts, in den §§ 195–220 oben G 5 δ (mit Fn. 812). Vorhandensein einer Schrift war insbesondere keine notwendige Bedin­ gung für die Gesetzgebung. Denn schriftunkundige Völker konnten ihre Gesetze durch andere Mittel verlautbaren – Beispiele aus frühantiker Zeit sind das öffentliche Singen der Gesetze durch den Ionier Charondas, die Unterstützung der Rechtsfin­ dung durch den kretischen Mnamon (‚Erinnernder‘) und das Ausrufen von Rechtsvor­ schriften in Israel (5. Mose 31 9 ff.) bzw. die Verpflichtung der Väter, ihre Kinder darüber zu belehren (5. Mose 6 7 und 11 18 ff.). Um ihre Verbreitung zu erleichtern, verfassten die Völker die Gesetze oft in metrischer Form. Noch heute lässt diese Form sich für verschiedene Normen nachweisen, beispielsweise für solche, die ins XII-Tafelgesetz übernommen wurden. Ferner war die Erfindung der Schrift – entgegen der Annahmen von H. S. Maine (1861), p. 14 – kein hinreichender Grund für eine Gesetzgebung. Vielmehr sind, wie W. Seagle (1967, S. 151 f.) mit Recht betont hat, „die frühesten archaischen Kodices, wenn sie überhaupt Sammlungen darstellen, solche schon zuvor bestehenden Geset­ zesrechts, aber nicht Sammlungen von Gewohnheitsrecht. … Die späteren Kodices enthalten schon mehr bereits früher bestehendes Gesetzesrecht und bis zu einem ge­ wissen Grad auch früher bestehendes Gewohnheitsrecht. Doch bei diesem Gewohn­ heitsrecht, das man schriftlich fixierte, handelt es sich vor allem um solches, das modifiziert werden sollte oder dessen schriftliche Fixierung sich empfahl, weil es zweifelhaft oder fraglich geworden war.“ 284  Vgl. dazu unten J 6 b. 282  Vgl. 283  Das

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Teile des Strafrechts usf. behandelt, allerdings ohne den Zusammenfassungen einen Namen zu geben.285 Ebenso gilt dies für das Gesetzbuch des Manu, obwohl das VIII. Buch klar getrennte Abschnitte über das Gerichtsverfahren im Allgemeinen (­1–46), über die Eintreibung von Schulden durch den Gläubiger (47–59), über das gericht­ liche Beweisverfahren (60–123), über die vom Gericht zu verhängenden Strafen (124–138) usf. enthält.

Über dieses Maß hinaus bestand zum Erlass verschrifteter Normen inner­ halb der frühantiken Staaten nur eine begrenzte Bereitschaft.286 Meist be­ durfte es dazu eines zusätzlichen Anstoßes, etwa dass die Gesetzgeber Män­ gel der gegenwärtigen Rechtslage tilgen oder die Rechtsgleichheit im Lande erhöhen wollten. Um einen allgemeinen Trend zur schriftlichen Gesetzge­ bung in Gang zu setzen, reichten diese Gründe jedoch nicht aus. Wirkungs­ mächtiger war das Streben einzelner Bevölkerungsschichten nach Rechts­ gleichheit. Im Einzelnen ergibt sich daher ein differenziertes Bild: • Voraneilend war Mesopotamien, wo die sumerischen Herrscher wahrscheinlich be­ reits um die Mitte des 3. Jt.s eine auch schriftliche Gesetzgebung zwecks Rechts­ vereinheitlichung begannen (Leges Urnamma, ca. 2100). Einen Höhepunkt erreich­ te das Wirken in babylonischer Zeit durch Hammurapi (1792–1750), der eine – zwar auf sumerische Vorläufer sowie aktuelle Gerichtsentscheidungen zurück­ gehende,287 aber zusätzlich systematisch geordnete – Sammlung von Rechtsnormen verkünden ließ, um für alle Zeit dem Lande Rechtsklarheit und Rechtssicherheit zu bringen. Allerdings bestand zum Beginn der evolutionären Bewegung (in der Ach­ senzeit ab ca. 800 v. u. Z.) der babylonische Staat längst nicht mehr, und auch der assyrische Staat, der an seine Stelle getreten war, hatte seine Hochzeit bereits hinter sich. Die auf uns überkommenen assyrischen Gesetze stammen aus dem 14. bis 11. Jh., während aus neubabylonischer Zeit uns nur ein einziges schriftliches Frag­ ment aus dem 7. oder 6. Jh. überliefert ist. Zeitgenössische Quellen lassen aller­ dings erkennen, dass die Gesetzgebungstätigkeit nicht vollständig zum Erliegen gekommen war;288 welches Ausmaß sie allerdings hatte und welche Ziele sie ver­ folgte, entzieht sich unserer Kenntnis. • In Ägypten finden wir erst im NR, also ab Mitte des 16. Jh.s v. u. Z., schmale An­ sätze zu einer Gesetzgebungstätigkeit.289 Zuvor beschränkten sich die Könige auf schriftliche Dekrete, die lediglich konkrete Einzelfälle regelten. Daneben wurden innerhalb der Schreiberschulen allgemeine „Lehren“ aufgesetzt, die jedoch spezi­ fisch von der Ungleichheit aller in einen Rechtsfall Verwickelten ausgingen und daher keinerlei Tendenz zur Rechtsvereinheitlichung zeigen. Dabei blieb es auch in der Folgezeit − trotz einigen Entwicklungen in der Systematik. Zwar stellte insbe­ sondere das Rechtsbuch von Hermopolis (Anfang des 3. Jh.s v.  u.  Z.) einige oben G 1 ε. zum Folgenden auch L. Pospíšil (1982), S. 43 ff. 287  Dies ergibt sich aus dem Epilog des Kodex, wo die vorangehenden Normen ausdrücklich als „Richtersprüche“ bezeichnet werden. 288  Vgl. H. Neumann (2003), S.  73 f., 83 ff. 289  T. Mrsich (2005), § 138. 285  Näher 286  Vgl.



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I459 Rechtsmaterien auch systematisch dar, und darüber hinaus scheinen sich einige spezielle Berufskreise mit Rechtsproblemen beschäftigt und der normativen Abs­ traktion zuneigende Lösungen gefunden zu haben. Doch bestand niemals die Ab­ sicht, derartige Ergebnisse in einem Kodex zu vereinen und dadurch das Recht zu vereinheitlichen.

• Klarer (zumindest für uns) entwickelte sich das Recht in Israel. Dort war Jahwe der Schöpfer schriftlich niedergelegter Normen, die für alle Juden einerseits glei­ che Rechte und Pflichten vorsahen, andererseits die Gleichheit durch ein umfas­ sendes Gebot zu individueller Gerechtigkeit aufweichten. So sollten Ackeranteile als Lebensgrundlage aller Stammesgenossen zwar zunächst gleichmäßig ausgelost, bei auftretenden Ungerechtigkeiten von Zeit zu Zeit die Auslosung aber individuell korrigiert werden.290 Die Bedeutung dieses biblischen Rechts schwand dann unter König Salomo (gest. 926 v. u. Z.) zugunsten von Elementen des altorientalischen Königskultes. Nur als die Leviten im 7. Jh. die alten Traditionen wiederbelebten (‚deuteronomische Bewegung‘), erstand für kurze Zeit noch einmal die alte Geset­ zesreligion. Die Erneuerung der Gesetze durch König Josia von Juda im Tempel Jahwes und die erneute Verpflichtung auf den Gottesbund291 (ca. 620  v. u. Z.) wandelten das göttliche Gesetz wiederum zum Staatsgesetz um und stellten es unter der Obhut der Staatsgewalt. Doch nach kurzer Zeit zerfiel das Reich Juda wie zuvor schon das Reich Israel, und die jüdische Oberschicht wurde in die baby­ lonische Gefangenschaft geführt. • In Indien gab es eine elitäre Oberschicht, die vornehmlich aus dem brāhmanischen Priesteradel bestand. Die Herrscher in den indischen Kleinstaaten bedienten sich ihrer zur religiösen Legitimation ihrer Regierungstätigkeit. Deshalb gewannen die Brāhmanen großen Einfluss auch auf das Recht, und die von ihnen ab dem 4.  Jh.  v. u. Z. verfassten Dharmasūtras enthielten sogar Kodifikationen der gelten­ den Gesetze. Doch betrafen diese Gesetze nicht allein das Recht, sondern auch die ganze Breite der Sitten. Und wenn sie dennoch (und später die Dharmaśāstras) an allen Gerichtshöfen Grundlage für die Rechtsprechung wurden, dann deshalb, weil Recht in Indien stets unter Bezug auch auf die ‚guten Sitten‘ gesprochen wurde.292 Eine abstrakte Normenordnung oder gar eine schriftlich fixierte Rechtsordnung konnte sich unter diesen Umständen nicht etablieren. – Eindeutige Rechtsgrundla­ gen schufen sich außerhalb der Dharmasūtras lediglich die Kaufleute und Hand­ werker. Und da ihr Recht sich als härter geordneter Bereich aus der allgemeinen weichen Rechtsmasse heraushob, ging es im Konfliktfall dem Recht der Dharma­ sūtras vor. Weil es aber gleichzeitig sehr konkret war, ließen es eine Entwicklung einheitlicher Rechtsgrundsätze für die indische Gesellschaft nicht zu – im Gegen­ teil verhinderte es eher, dass solche Rechtsgrundsätze außerhalb der Kaufmann­ schaft entstanden. • Im weniger religiös ausgerichteten China gewannen in der Achsenzeit zum einen die gelehrten Legalisten (Shang-run Shu u. a.) einen beherrschenden Einfluss.293 auch oben G 4 f β mit Fn. 694. Könige 23 1–3. 292  Ram Gopal (1959), p. 45: Recht war „conventional practice“. 293  Zu ihrer Gesetzgebungstätigkeit vgl. oben G 2 ε (bei Fn.  463 ff.). 290  Vgl. 291  2.

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

Zum anderen demokratisierten die Konfuzianer das Erziehungswesen und bereite­ ten (beginnend bereits in der Hàn-Periode) einen Humanismus des ‚rechten We­ ges‘ vor, der bald darauf auch in das Recht und die ihm unterworfene Zivilverwal­ tung eindrang.294 Ihr Einfluss ging schließlich so weit, dass militärische Gewalt zwar künftig immer noch genügte, um sich eine Machtposition im Staate zu ver­ schaffen, doch eine legalistische Zivilverwaltung anschließend nötig war, um die Machtposition zu erhalten. Deshalb übertraf die Macht der Konfuzianer bald die sämtlicher Monarchen. Allerdings setzten sie ihre Macht nicht gesetzgebend, son­ dern ausschließlich beratend ein, weshalb es im chinesischen Riesenreich durch sie zu keiner gesetzlichen Rechtsvereinheitlichung kam. • In Griechenland ermöglichten die Intellektuellen nicht nur breiten Schichten des Volkes den politischen Aufstieg, sondern sie erfanden auch – anders als die Konfu­ zianer in China – Institutionen, welche die politische Macht des Volkes festigten: nämlich die Volksversammlungen. Diese waren künftig zentrale Verfassungsorgane und blieben es, auch wenn die Monarchen kamen und gingen.295 Wenn es darüber hinaus hin und wieder auch Gesetzgeber (νομοιθέται) gab, dann waren es Adlige, die vom Volk zur Gesetzgebung berufen wurden – teils aus den eigenen Reihen (in Athen Drakon und Solon, in Sparta Lykurg), teils aus dem Ausland, wenn man sich davon mehr Unparteilichkeit versprach. Ihr Wirken blieb allerdings auf die Lösung konkreter Probleme beschränkt. Solon beispielsweise sollte lediglich die sozialöko­ nomischen Folgen beseitigen, die aus der Verschuldung der Kleinbauern herrührten und von der damals geltenden Normenordnung verstetigt wurden. Für die Rechts­ einheit wichtiger waren die Stadtrechte. Sie hatten die Aufgabe, entweder Gerichts­ entscheidungen zur allgemeinen Kenntnis zu bringen oder aber die Geltung der im Volke als Gewohnheitsrecht geltenden Normen allen Bürgern, auch denjenigen der unteren Klassen, kundbar zu machen. Abstraktionen, wie sie zwangsläufig die veröffentlichten Gesetzesnormen alsdann mit sich brachten, entschärfte man wahr­ scheinlich dadurch, dass man sie nur als einen ersten Schritt zum gerechten Urteil ansah, dem als zweiter Schritt eine Beurteilung unter dem Gesichtspunkt der Bil­ ligkeit zu folgen habe. Aristoteles war, wie schon erwähnt, der erste Philosoph, der die Notwendigkeit dieser Abfolge klar erkannte und dadurch der doppelten römi­ T’ung-tsu Ch’ü (1961). frühen Monarchien zu Anfang des 8. Jh. waren meistens schwach. Und wo sie ausnahmsweise stark waren, weil aus blutigen internen Auseinandersetzungen während der nach-homerischen Krisenzeit hervorgegangen, konnten sie sich auf Dauer nicht halten. Infolgedessen gingen bereits die ersten seefahrerischen Handelsund Kolonisationsaktivitäten von Teilen nicht von den der griechischen Staaten, son­ dern von Teilen der Gesellschaft aus. Diese Teile waren bald viel zu reich und mäch­ tig, als dass sie sich in eine hierarchisch aufgebaute Herrschaftspyramide noch hätte einfügen lassen. Und noch ein Umstand war ihnen günstig: Es fehlte sowohl am äu­ ßeren äußeren Druck durch andrängende Feinde als auch am inneren Druck durch permanentes Bevölkerungswachstum, das zu kriegerischer Landgewinnung genötigt und siegreichen Heerführern anschließend Lust auf die Errichtung einer Diktatur ge­ macht hätte. Man gründete längs dem Schwarzen und dem Mittelmeer vielmehr Han­ delsstädte, sodass die wagemutige Jugend, die daheim kein hinreichendes Auskom­ men fand, sich dorthin absetzen konnte. 294  Vgl. 295  Die



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I461 schen Entwicklung des ius zu einer scientia und einer ars (boni et aequi)296 vorar­ beitete.

• In Rom war das Recht aufgrund seiner sakralen Bindung zunächst von der Priester­ schaft verwaltet worden. Doch mit der Eingliederung der Plebejer in den Staatsver­ band verlor es die Anbindung sowohl an die Religion als auch an die Patrizier, denen die priesterlichen Ämter vorbehalten waren. Das unter den Bürgern geltende ius wurde fortan von dem der Gottheit geschuldeten fas streng geschieden und um 450 v. u. Z. im XII-Tafelgesetz als Bürgerrecht aller Klassen urkundlich gemacht. Traditionelle Rechtsgrundsätze, die durch Gerichtsentscheidungen gefestigt waren, wurden darin ergänzt durch aktuelle Normen, die aus sozialen Auseinandersetzun­ gen hervorgegangen waren. Den Hauptbestandteil des Rechts bildeten jedoch die Herrschaftsrechte, die sich entweder auf eine Person oder auf eine Sache (in personam oder in rem) richteten und die zwar als legis actiones, als Folgerungen aus einem Gesetz, bezeichnet wurden, aber aus dem XII-Tafelgesetz nicht abgeleitet, sondern nur legitimiert wurden.

Insgesamt können wir festhalten, dass in dem hier behandelten frühen Stadium der antiken Rechtsgeschichte der Erlass schriftlicher Gesetze meis­ tens nicht der ordnenden Kodifikation von Recht, sondern drei weitaus be­ schränkteren Zielen diente: der Änderung älteren Gewohnheitsrechts, der Bekanntgabe wichtiger herrschaftlicher Entscheidungen (Gerichtsurteile), der Befriedigung akuter sozialer oder politischer Bedürfnisse. Ihre Beschränkung auf diese Ziele verheimlichten die verschrifteten Rechtsordnung nicht, son­ dern brachten sie teils in ihren Tatbeständen, teils durch ihren Bezug auf die akuten Anlässe zum Ausdruck. Soweit man sonst mündliches Gewohnheits­ recht verschriftete, geschah das teils aufgrund von Forderungen aus den un­ teren Klassen der Bevölkerung, die ihre Rechte wahrnehmen und dazu über deren Umfang Gewissheit haben wollten, teils in theoretischer Absicht zu Schulungszwecken angehender Richter und Verwaltungsbeamter. Insgesamt war also der antike Mensch nicht bereit (oder nicht willens?), das Stadium konkret-normativen Entscheidungsdenkens hinter sich zu lassen und in das Stadium abstrakt-normativen Ordnungs- bzw. Gesetzesdenkens einzutreten. Auch die Rechtspraxis war deshalb konsequent auf die Verfolgung konkreter Rechtsansprüche ausgerichtet – und zwar selbst in Rom: Jedes Recht war hier individualisiert und musste durch Verfahren erworben und durchgesetzt werden. Allerdings bahnte sich hier wie auch in Griechenland schon der Übergang zu einer abstrakten Rechtsauffassung immerhin an. Auf den Inhalt von Rechtsnormen hatte die Art der Schrift einen unter­ schiedlichen Einfluss: Von einer (ursprünglich rein) ideographischen Schrift aus lag es nahe, das Recht primär auf die Herstellung äußerer sozialer Har­ monie auszurichten. Deshalb sah das altchinesische Recht, das sich dieser Schrift bediente, seine Aufgabe vor allem darin, der gesellschaftlichen Har­ 296  Dig.

1,1,1.

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monie im Sinne der konfuzianischen Werteordnung zu dienen. Ihr Nachteil bestand darin, dass der in die Rechtszeichen eingearbeitete normative Sinn nicht weiter verarbeitet, etwa ausgelegt oder kommentiert, werden konnte (und auch nicht sollte) – dass es m. a. W. keine Metaebene der argumenta­ tiven Deutung, Kritik und Verständigung gab. Materialisiert war der Sinn einzig in den Schriftzeichen, und die waren eindeutig. Was ihnen fehlte, war die (der Sprache eigentümliche) Eingebundenheit in einen persönlichen Ho­ rizont von Zeit und Raum. Deshalb bestand beispielsweise das chinesische Strafrecht aus einer Unzahl von Tatbeständen, die selbst kleinste äußerlichsoziale (nicht aber inner-persönliche) Veränderungen berücksichtigten.297 Von einer phonographischen Schrift aus lag es dagegen nahe, das Recht als innerlich gewollte und äußerlich erklärte Regelung zu begreifen. Recht war demnach in Rom, aber nicht nur hier, dasjenige, was ein (persönlicher oder institutioneller) Gesetzgeber oder ein rechtsfähiger Bürger gedanklich wollte und sprachlich zum Ausdruck brachte. Sowohl im hoheitlichen als auch im privaten Bereich wurde daher die Erklärung des Gewollten, die ‚Willenserklärung‘, zur wichtigsten Quelle des Rechts. Schließlich lag es von der ägyptischen Hieroglyphenschrift aus nahe, das Recht als Ordnung der menschlichen Handlungen zu verstehen – als eine Macht, welche die soziale Realität durch Handlungsbefehle (i. d. R. seitens hierarchisch hochstehender Personen) gestaltet. Außerhalb Ägyptens hat sich weder diese Schrift noch diese Rechtsauffassung durchgesetzt.

3. Weitere Faktoren für die Rechtsgenese Alle anthropologischen Faktoren, die der Rechtsgenese zugrundelagen, bedurften einer für ihr Wirken freundlichen Umwelt. Diese Umwelt werde ich im Folgenden in ökologische, soziologische, politische und religiöse Be­ reiche aufteilen, freilich eingedenk, dass oft erst ein Zusammenwirken von Einflüssen aus mehreren Bereichen der Rechtsentwicklung den Weg ebnete. a) Ökologische Faktoren Ich benenne die Faktoren aus dem ökologischen Bereich zuerst, zum einen weil sie für das Wirken der übrigen Faktoren die Basis bildeten und infolge­ dessen die Evolution des Menschen und seines Rechts ermöglichten bzw. erzwangen, zum anderen weil sie am leichtesten zu belegen sind und inso­ weit die wissenschaftliche Arbeit auch bereits geleistet wurde.298 oben G 2 ε bei Fn. 471. Folgenden vgl. ergänzend die Untersuchungen von J. H. Steward, über die ich oben C 3 α berichtet habe. 297  Vgl.

298  Zum



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Dem Zwang zur Anpassung an die Umwelt tragen die meisten Tierarten vor allem dadurch Rechnung, dass sie ihre Eigenschaften und ihre Lebensgewohnheiten in Übereinstimmung mit der Umwelt veränderten. Insekten etwa nehmen die Farben und Strukturen derjenigen Pflanzen an, auf denen sie sich größtenteils aufhalten, manche Raupen beispielsweise diejenigen von trockenen Ästchen, manche Schmetterlinge diejenigen von welken Blättern. Doch je stärker eine Tierart sich ihrer Umwelt leib­ lich anpasste, desto schwieriger wurde es für sie, auch die Veränderungen ihrer Um­ welt mit zu vollziehen. In der Vergangenheit starben daher die auf das Leben in kal­ tem Klima leiblich besonders gut angepassten Tierarten − Mammute, Wollnashörner, Höhlenbären u. a. ‒ aus, als die Eiszeit zu Ende ging. Von vornherein weitaus bessere Chancen, mit Umweltveränderungen fertig zu werden, hatten dagegen diejenigen Lebewesen, die sich Umweltveränderungen entweder genetisch durch schnelle Gene­ rationenfolge anpassen − etwa die Virenarten − oder die dafür psychische Verände­ rungen oder ihre Intelligenz einsetzen können.

Die Menschen trieben ihre Anpassung an die Umwelt hauptsächlich mit­ hilfe ihrer Intelligenz voran. Denn es waren Wissenschaft und Technik, die sie aus Verbrauchern von Umweltprodukten zu Züchtern machten, sie dazu an festen Plätzen siedeln ließen und ihnen dort ermöglichten, die Umwelt auf ihre Bedürfnisse nach Nahrung, wärmender Kleidung, schützender Behau­ sungen u.dgl. auszurichten.299 Starke Vermehrung ihrer Zahl bedingte an­ schließend ein immer stärkeres Zusammenrücken, den Bau fester Städte, darin die Errichtung von Behausungen und von Regierungs- und Verwal­ tungsgebäuden und um sie herum den Bau von gewaltigen Befestigungsanla­ gen. Schließlich blieb nur noch eine Einschränkung übrig: Die Menschen blieben auf die Materialien angewiesen, die in der Umwelt vorkamen; Wis­ senschaft und Technik mussten sich hierauf ausrichten.300 Das hatten sie schon immer getan. So etwa, als wegen eines Anstiegs der Tempe­ raturen und Trockenheit die Pflanzen ihre Früchte mit härteren Schalen umgaben, um sie am Austrocknen zu hindern. Damals hatte ein Teil der Menschen, denen diese Früchte bisher zur Nahrung gedient hatten, sich dieser Veränderung noch leiblich angepasst, indem er kräftigere Kiefermuskeln und -knochen ausbildeten, um die Schalen der Früchte zu knacken. Ein anderer Teil hatte dagegen seine Technik der neuen Situation angepasst: Er benutzte zum Knacken der Früchte Steine als Werkzeu­ ge. Die Menschen mit den kräftigeren Kiefern starben aus; homo sapiens überlebte.

Gehen wir dem wechselnden Einfluss zwischen den Bedürfnissen der Menschen und seiner Umwelt im Einzelnen nach. Bei den Wildbeutern stand die Befriedigung der Nahrungsbedürfnisse im Vordergrund. Einfache Techni­ ken halfen ihnen: Ausgerüstet mit Pfeil und Bogen, Angel und Harpune, 299  Immer noch lesenswert: A. Bastian (1872), insbes. Einleitung S. I ff. Zur Evo­ lution der Technik jetzt eingehend J. Diamond (2000), S. 287 ff., bes. 316 ff. 300  Dennoch führte eine Anpassung an gleiche Umwelten mit gleichen technischen Mitteln weder zu gleichen sozialen Institutionen (P. J. Richerson et al., 2002, p. 360) noch zu gleichen sozialen Normen.

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Fallen und Schlingen zogen die Männer zur Jagd nach wild lebenden Tieren aus, versehen mit Körben die Frauen zum Sammeln von wild wachsenden Wurzeln und Früchten. Bot die Umwelt Nahrung genug, schlugen sie ihre Zelte auf und lagerten; wurde die Nahrung knapp, zogen sie weiter. – Ihr Bedarf an sozialen Normen für dieses Leben war gering; das meiste regelte von alters her das Brauchtum, etwa das Wissen, wie man gelegentlichen Streit beilegt. Ein Wandel trat ein, als nach dem Ende einer Eiszeit die Austrocknung der Böden die Menschen zum Rückzug aus ehemals fruchtbaren Gebieten zwang. Der Raum zum Umherziehen wurde enger, die Zahl der menschlichen Hor­ den aber wuchs. Ein Teil von ihnen zog sich ins karge Hochland zurück, um dort weiterhin durch Jagd und Aufzucht von Rindern und Ziegen das Leben zu fristen, ein anderer Teil besetzte die tiefer gelegenen Hänge, wurde dort sesshaft und lebte als Bauern. Arbeitskraft und Arbeitsleistung des Einzelnen erhielten bei den Bauern jetzt einen eigenen Wert und mussten u. a. beim Wechsel einer Person von einer Sippe in eine andere ausgeglichen werden. Die Sesshaftigkeit veränderte nicht nur das Wirtschaftsverhalten, sie ver­ änderte auch die Zeit- und Weltperspektive, weil man von nun an Vorrats­ wirtschaft betreiben und sich den jahreszeitlichen Schwankungen der Vege­ tation anpassen musste.301 Das reichte allerdings nur für den Anfang. Denn die ersten dauerhaften Siedlungen wurden in Gebieten mit genügendem Nie­ derschlag für den Feldanbau gegründet, etwa an den Stufenplateaus des ‚fruchtbaren Halbmonds‘: Dort reichte es, wenn man Vieh domestizierte, den Boden pflügte und düngte sowie den Göttern opferte, damit auf den Feldern und in den Gärten genügend Getreide und Gemüse für die Gegen­ wart und die nahe Zukunft wuchsen. Bald aber wurde der Platz zu eng. Der Nachwuchs musste die fruchtbaren Hänge verlassen und sich in den Strom­ tälern ansiedeln. Hier reichte infolge von Niederschlagsarmut das bloße Durchfurchen und Durchhacken des Bodens nicht mehr aus; der Boden müsste künstlich bewässert, weiterer Boden gerodet und urbar gemacht wer­ den.302 Neue technische Geräte und Methoden mussten dabei helfen: Der Pflug musste bei der Feldarbeit die Grabhacke ersetzen, die wenig effektive Methode des Wasserschöpfens per Hand und Eimer musste der effektiveren mittels Benutzung eines Schöpfwerks weichen.303 Aber auch Helfer bei der Arbeit waren gefragt. Künftig brachte man deshalb die besiegten Feinde 301  Gewöhnlich hat in diesem Zusammenhang die idealistische Geschichtsschrei­ bung die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Menschen zu niedrig, die materialistische sie zu hoch eingestuft. 302  Zu dieser ‚Ackerbaurevolution‘ vgl. Ph. L. Wagner (1960), p. 236 ff. 303  Z.  B. eines sogen. ‚Schaduffs‘: eines Schwenkhebers, dessen Arm seitwärts gedreht werden konnte, bis der daran befestigte Eimer eine Abflussrinne erreichte.



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nicht mehr um, sondern versklavte sie, um die Männer als Arbeitskräfte, die Frauen zur Geburt weiterer Arbeitskräfte zu gewinnen (und bisweilen zet­ telte man eigens deswegen neue Kriege an). – Wir stoßen von jetzt an nicht nur bei allen sesshaften Völkern auf sachenrechtliche Normen, wem welche Teile fruchtbaren Bodens gehören sollen (bzw. von wem sie genutzt werden dürfen), sondern bei den meisten auch auf soziale Normen zur Bewertung der Arbeitsleistung für die Bodenbewirtschaftung und auf technische Nor­ men für die Entwicklung und Herstellung der hierzu benötigten Geräte.304 Die Notwendigkeit, zur Bodenbewirtschaftung neue Geräte, aber auch zur Verteidigung des Erwirtschafteten Waffen herzustellen, setzte eine weitere technische und organisatorische Evolution in Gang. Eins griff ins andere: •• Neue Materialien lösten die alten ab. Werkzeuge und Waffen aus Bronze ersetzten die bisher gebrauchten aus Holz oder Stein, aus Eisen gefertigte später die aus Bronze. Die dafür erforderlichen Techniken verbreiteten sich i. d. R. schnell, weil es von nun an einerseits berufsmäßige Handwer­ ker gab,305 die jede Erfindung sofort vervielfältigen konnten, und weil andererseits die allgegenwärtige wirtschaftliche und militärische Konkur­ renz diejenigen zurückfallen ließ, die sich veralteter Werkzeuge oder Waffen bedienten. •• Ein transsozialer Handel trug zur Verbreitung von neuen Geräten und von Kenntnissen zu ihrer Herstellung bei und holte weitere bisher unbekannte Materialien und Produkte ins Land. Dies sowie der chronische Mangel an wichtigen Rohstoffen erzwangen den Bau von Transportfahrzeugen und von Transportwegen außerhalb der Flüsse, weil man mit Booten längst nicht mehr jeden Ort erreichen konnte. •• Im Landesinnern war die Organisation von Infrastrukturmaßnahmen für die ständig wachsende Bevölkerung erforderlich. Oft ließ ein Mangel an Regenwasser sich nur durch Bohren nach Grundwasser oder Kanalisieren von Flusswasser ausgleichen, die Qualität des frisch gerodeten Bodens nur Das viel effektivere Schöpfrad ist erst seit der hellenistischen Zeit belegt, doch sind ältere Stufen wahrscheinlich. 304  In den antiken Staaten wurde der Wert eines Menschen unterschiedlich ge­ schätzt. Im hethitischen Gesetzbuch stand sein Wert als Arbeitskraft im Vordergrund, denn dort hieß es in § 43: „Wenn ein Mann mit seinem Ochsen einen Fluss über­ schreitet und ein anderer stößt ihn hinein und gelangt über den Fluss, weil er sich am Schwanz des Ochsen festhält, während der Eigentümer des Ochsen weggeschwemmt wird, dann empfangen sie [d.s. die Familie bzw. Sippe] diesen Mann [als Ersatz].“ In Israel war eine auf die kommerzielle Komponente begrenzte Einschätzung des Men­ schen dagegen unmöglich: Auf Tötung musste der Tod stehen (5. Mose 19 11 ff.), Blutvergießen mit Blutvergießen beantwortet werden (5. Mose 21 1 ff.). 305  Eine Tontafel vom Palast von Knossos (um 1450 v. u. Z.) nennt bereits zahlrei­ che Handwerkerberufe.

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mittels Durchmischen mit Flussschlamm erhöhen. Die Weiterbearbeitung des Bodens konnte man zwar entweder der gemeinschaftlichen Initiative, die von Teilflächen einzelnen Familien überlassen; doch der Bau von Ka­ nälen zur Umleitung größerer Wassermengen musste zentral geleitet und beaufsichtigt werden.306 Auch noch danach brauchte man eine regelmäßi­ ge Aufsicht, weil die Kanäle instand gehalten und ggf. erneuert werden mussten, und eine Leitung, wenn zusätzlich der Bau von großen Deichen, Schleusen und Wasserhebeanlagen anstand. •• Für größere Organisations- und Kontrollaufgaben musste deshalb eine zentrale Verwaltung geschaffen werden. Diese musste flächendeckend so­ wohl die Arbeitseinsätze, die Ernährung der Arbeiter, die Beschaffung von Arbeitsmaterial und vor allem den bewaffneten Schutz des Geschaffenen gegen Usurpatoren und Feinde aus dem Umland organisieren und leiten sowie den dafür erforderlichen Kostenaufwand berechnen und entspre­ chende Abgaben von den Bürgern einziehen. Um effektiv zu sein, musste sie zudem hierarchisch aufgebaut sein, einen ständigen Kontakt zur poli­ tischen Zentrale (Häuptlings- oder Königshof) haben und deshalb entwe­ der in der Hauptstadt oder in einer zentralen Provinzstadt residieren und ständigen Kontakt mit der Regierungsspitze haben. Für all das gab es im Altertum ab einer gewissen Entwicklungshöhe Organisationsnormen in Form von Ermächtigungen und Verpflichtungen, die von der Regierungsspitze aus entweder unmittelbar oder über zwischengeschal­ tete Institutionen an die Ausführenden ergingen. Darüber hinaus gab es, wiederum ab einer gewissen Entwicklungshöhe, ein Steuer- und Abgabensystem, das für die finanziellen Mittel zur Bezahlung abhängiger Arbeit sorgte – wobei die Regierungsspitze die erforderlichen Normen, wie damals üblich, im rechtsfreien politischen Raum erließ, ihre Normen dann jedoch die recht­ liche Grundlage für die Anordnungen aller untergeordneten Behörden bilde­ ten. Nahezu zwingend war darüber hinaus, dass die mit der Einziehung der finanziellen Mittel betrauten Beamten bei ihrer Tätigkeit zentral unterstützt und beaufsichtigt wurden, um Korruption zu verhindern. Im Einzelnen: • Soweit Landentwicklungsmaßnahmen prästaatlich erforderlich waren, wurden sie gemeinschaftlich durchgeführt. In den Häuptlingsschaften geschah das auf über­ wiegend freiwilliger und spontaner Grundlage. Das Vorbild dürfte die Organisation von Jagd und Krieg abgegeben haben. In den Königreichen wurden größere Aufga­ ben der Landentwicklung von einer Regionalverwaltung (von great chiefs oder Beauftragten des Königs) organisiert und beaufsichtigt. Der König selbst bzw. sein Hof hatten lediglich die Oberaufsicht, ließen sich aber über die Fortschritte laufend unterrichten und gaben den Beschwerden derer Gehör, die sich unrechtmäßig zu 306  Vgl. dazu aus ethnologischer Sicht St. H. Stanley Jr. (1959). Siehe ferner R. Naroll (1970), p. 1243 ff., 1256.



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I467 Arbeitsleistungen oder Abgaben herangezogen fühlten. Über die Beteiligung eines Frührechts an diesen Landentwicklungsmaßnahmen sind wir mangels schriftlicher Zeugnisse nicht informiert. Vergleiche mit den heutigen afrikanischen Königrei­ chen stehen auf schwachen Beinen, da inzwischen viele neuartige Einflüsse auf die Organisation eingewirkt haben und diese nur vage Rückschlüsse auf die Zeit des Altertums gestatten.

• Besser unterrichtet sind wir erst über die Landentwicklung in den antiken Staaten. Ägypten wurde auf dem Schwemmland des Nils gegründet, dessen Bearbeitung auch später seinen Bestand sicherte. Man rodete den Dschungel, den man zu bei­ den Seiten des Flusses vorfand. Man betrieb auf den gewonnenen Flächen Acker­ bau und Viehzucht. Man gewann Neuland, als die Flächen irgendwann nicht mehr ausreichten, um die nachwachsenden Generationen zu ernähren. Und man baute zu diesem Zweck Dämme, die das Wasser des Nils aufstauten, sowie Kanäle, die es samt dem mitgeführten Schwemmland in die umliegenden Ebenen hineintrugen. Zur Erhöhung der Ertragskraft des Bodens fertigten Handwerker neue Arbeitsgerä­ te und verbesserten die Funktion der alten; Wissenschaftler entwickelten neue Verfahren zur Meliorisierung des Bodens und erforschten Methoden, wie man die geernteten Früchte konservieren konnte, damit Mensch und Vieh in Trockenzeiten nicht darben mussten. Alles Bemühen hielt man indessen für vergeblich, wenn nicht die ägyptischen Götter dem Boden und seiner Bearbeitung ihren Segen ga­ ben. Um dies zu sichern, entstanden überall Tempel, in denen Priester den Göttern dienten und Opfer darbrachten, damit sie (do ut des) günstig gestimmt würden und für fruchtbare Witterung sorgten. Der Staat beteiligte sich an der wirtschaftlichen Entwicklung durch rechtsverbind­ liche Zuweisungen von Pachtland an die Bevölkerung, durch die Einrichtung von Nutzämtern für Staatsbedienstete, die die allgemeine Grundversorgung sicherstell­ ten, und durch die Münzung von Geld, damit das Marktgeschehen feste Maßstäbe erhielt. Über die Organisation von Damm- und Kanalarbeiten, Getreidegewinnung, -verwahrung und -transport besitzen wir Kenntnis aus königlichen Dekreten, worin nicht nur die Ausführung von Versorgungsmaßnahmen angeordnet, sondern auch ihre Überwachung geregelt ist. Gleichwohl ist Genaues nicht bekannt. Besser in­ formiert sind wir lediglich über Tempelgründungen in Verbindung mit der Zuwei­ sung von Land an ‚Feldinhaber‘. Diese hatten zum Ausgleich vor allem die Ver­ pflichtung, Bewässerungsaufgaben zu erfüllen und auch sonst regelmäßig für die Verbesserung des Bodens zu sorgen.307 • Auch in Mesopotamien stand der Kampf um das dringend benötigte Wasser an der Wiege des Staates.308 Wiederum organisierten die Herrscher den Ausbau eines Kanalsystems, das hier von Euphrat oder Tigris gespeist wurde und die bewirt­ schaftete Fläche vergrößerte. Handwerker verbesserten die zur Nahrungsgewinnung benutzten Werkzeuge (vor allem Hacke und Sichel) und schufen zusätzlich neue Geräte wie etwa den mit Rindern zu bespannenden Pflug. Ferner züchtete man Vieh zur Milch- und Fleischgewinnung. Für den Erfolg aller Bemühungen beteten dazu W. Helck (1975). Folgenden auch R. Herzog (1988), S. 39 ff., 76 f., der sich seinerseits auf H. J. Nissen (1987) stützt. 307  Genauer 308  Zum

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auch hier die Priester, und auf Bildwerken sehen wir sogar die Herrscher vor der zuständigen Gottheit stehen und sie um ihren Segen bitten. Das Eigentum am Land war wie in Ägypten verteilt auf Staat und Tempel, daneben in größerem Maße allerdings auch in privater Hand, wobei Mitglieder der königli­ chen Familie offenbar über die größten Flächen verfügten.309 Das Gros der Bevöl­ kerung arbeitete aber auf gepachteten Feldern, für deren Bewässerung und Melio­ risierung sie selber zu sorgen hatten. Sowohl das Grundeigentum als auch die Pachtverträge waren i. d. R. mit staatlichen Auflagen verbunden; deren Erfüllung wurde von einer staatlichen Verwaltung überprüft,310 die Nichterfüllung bestraft. Als die Bevölkerung weiterhin wuchs und – anders als in Ägypten – immer mehr Menschen in die Städte zogen, organisierte der Staat einerseits auf dem Lande größere Kanalisationsvorhaben zur Nahrungserzeugung, andererseits in den Städ­ ten den Bau von Speichern zur Vorratshaltung für Nahrung in Notzeiten. Frei von staatlicher Organisation und Beaufsichtigung blieben danach fast nur Handwerk, Kunst und Wissenschaft. Dennoch oder gerade deshalb erblühten sie umso freier. • In Indien brachte der Indus dem Land das Wasser. Seine segensreiche Wirkung musste allerdings abermals durch den Ausbau eines Kanalsystems verstärkt wer­ den. Die Organisation seines Baus oblag (seit ca. 700 v. u. Z.) ebenso wie in Ägyp­ ten und Mesopotamien der Obrigkeit, die dafür von den Anliegern Abgaben einfor­ derte.311 Auch für die Instandhaltung der Kanäle hatten die Anlieger zu sorgen.312 Einzelheiten der zentralen Organisation kennen wir nicht. Gleichwohl müssen wir eine straffe Herrschaft dahinter vermuten, weil die Dekrete und sonstigen Anord­ nungen gegen die Bodeninhaber überall zwangsweise durchgesetzt wurden. Weit­ gehend in Unkenntnis sind wir über Reglungen für den Anbau von Pflanzen und die Domestikation von Tieren. • Dass in China die Landwirtschaft schon in der Shāng-Zeit auf künstlicher Bewäs­ serung und Düngung des Bodens beruhte, ist lediglich Vermutung. Denn in dieser Zeit besaßen außerdem Jagd und Fischfang noch eine große Bedeutung. Für die Zhōu-Zeit können wir dagegen von einer künstlichen Bodenbewässerung ausge­ hen: im Norden wegen der Wasserdurchlässigkeit des Lößes, im Süden wegen des hohen Wasserbedarfs für den Reisanbau. Seit dem 7. Jh. sah sich deshalb eine auch hier erstarkende Staatsmacht in der Pflicht, für Flussregulierungen, Verbesserungen R. Herzog (1988), S. 45 f. Wie hier C. Wilcke (2003), p. 163. § 53 zeigt, dass den Grundeigentümern eine Pflicht zur Pflege der befestig­ ten Deiche oblag; denn im Falle eines Dammbruchs hatte die Pflichtigen das Ge­ treide, das durch die überflutenden Wassermassen vernichtet wurde, zu ersetzen. 311  Kautīlya, Arthaśāstra II 3. Gemäß dem Śukranīti, einem späteren staatsrecht­ lichen Lehrbuch, betrugen die Abgaben an den König für entweder an Flüssen gele­ genes oder aus Brunnen oder Tanks bewässertes Land bis zu 1/3 der dort produzierten Getreidemenge. Der genaue Prozentsatz wurde offenbar ähnlich wie in Ägypten auf­ grund einer Klassifikation des Bodens festgesetzt. Soweit Bewohner das Land selbst durch Wasserläufe oder Tanks bewässerten, waren sie allerdings von Abgaben freige­ stellt. Vgl. dazu U. N. Goshal (1929), p. 66 f. 312  Kautīlya, Arthaśāstra III 9: „Die den Gebrauch haben von Bewässerungsanla­ gen … sollen sie ausbessern und instand halten. Bessern sie sie nicht aus, dann haben sie zur Strafe das Doppelte zu zahlen, als der Schaden beträgt.“ 309  Anders 310  CH



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I469 der Arbeitsgeräte und für die Intensivierung der Landwirtschaft zu sorgen. Aller­ dings führten erst die Q’ín-Kaiser große Hydraulikprojekte durch; u. a. bauten sie den Cheng Kuo-Kanal entlang dem Wei-Fluss, der noch heute (wenn auch in ver­ änderter Gestalt) besteht. In Gang gesetzt und begleitet wurden diese Maßnahmen durch kaiserliche Dekrete. Viele auf uns überkommene Fragmente aus der Q’ínund der Hàn-Zeit enthalten darüber hinaus Gesetze zur Getreideeinlagerung, Marktkontrolle u. a. Sie zeigen das Bestreben der Kaiser zur effizienten Verwaltung und Kontrolle des wirtschaftlichen Lebens und zur sicheren Versorgung der Bevöl­ kerung mit Lebensmitteln und Gegenständen des hauswirtschaftlichen Gebrauchs.

Im Gegensatz zu den vorgenannten Staaten brauchten Palästina, Griechen­ land und Rom nicht wässernd und bessernd in die Natur einzugreifen. Hier fanden die Völker fruchtbares Land vor, konnten es allerdings teilweise erst in Besitz nehmen, nachdem sie andere Völker daraus verdrängt hatten. Dann aber genügten ihnen Anpassungen an die vorhandenen ökologischen Bedin­ gungen, um einen für die damaligen Ansprüche hinreichenden Ertrag zu er­ wirtschaften. • In Palästina siedelten seit dem 13 Jh. v. u. Z. semitische Nomadenstämme. Das Land war schon zuvor Kulturland; doch wurde es nicht aus seinen Flüssen oder durch Kanäle befruchtet, sondern vom subtropischen Klima des Mittelmeers mit winterlichen Regenfällen und sommerlichen Trockenzeiten. Besiedelt waren so­ wohl die Gebirgsausläufer wegen ihres Wasserreichtums als auch die Ebenen we­ gen ihres fruchtbaren Bodens sowie die Küstenregionen wegen ihrer natürlichen Buchten, die sich zu Häfen ausbauen ließen. Eine so zerklüftete Landschaft hatte das Entstehen vieler Zwergstaaten begünstigt,313 mit denen die semitischen Stäm­ me anfangs Brunnen- und Weiderechte aushandeln mussten.314 Diese Verträge hatten (Völker-)Rechtscharakter, galten faktisch aber nur solange, bis die Neuan­ kömmlinge die Bewohner der Zwergstaaten sich unterworfen und eigene staatliche Gebilde an ihre Stelle gesetzt hatten. Verteilt wurde der neu gewonnene Boden gleichmäßig in einem Losverfahren, das von einem sakralen Zentrum aus überwacht wurde. Den zugeteilten Anteil durften die Familien nicht veräußern, denn er war Gottesland, das sie nur zu Lehen erhiel­ ten. Der Gefahr einer ungerechten Veränderung der Eigentumsverteilung infolge von Miss­ernten begegnete man mit der Einrichtung eines Erlassjahres, das die Fa­ milien nach sieben Jahren von etwa aufgelaufenen Kreditschulden befreite.315 • Ebenso wie in Palästina reichten in Griechenland die Niederschläge aus, um den Boden nachhaltig zu bewässern. Nach der Zerstörung der mykenischen Kultur mit ihren beachtlichen wirtschaftlichen und administrativen Qualitäten um 1200 v. u. Z. bildeten sich dort kleinere geschlossene Wirtschaftseinheiten (οἴκοι). Sie bestanden aus einem Patriarchen, seiner Familie sowie Hörigen und Sklaven, welche Äcker, Gartenland, Viehweiden, Wälder und Gewässer bewirtschafteten und nicht nur 1. Mose 15 19 ff. Mose 26. 315  5. Mose 15 1 ff. 313  Vgl. 314  1.

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wirtschaftlich autark, sondern weitgehend auch sozial autonom waren. Ihre späte­ ren Zusammenschlüsse zu Stammes- und Sippenverbänden mit einem Heerkönig an der Spitze dienten hauptsächlich kriegerischen Unternehmungen. Wahrschein­ lich gab es darüber hinaus in den Städten eine ständische und berufliche Differen­ zierung und demzufolge vielleicht auch überörtliche wirtschaftliche Lenkungsmaß­ nahmen, über die jedoch so gut wie nichts bekannt ist. In der Homerischen Zeit (um 800) waren Kriege und Beutezüge feste aristokrati­ sche Erwerbszweige. Die bäuerliche Bevölkerung wurde jetzt unterdrückt und konnte sich auf ihren eigenen Feldern kaum mehr als ein Existenzminimum erar­ beiten. Die Geräte dafür schufen ihre Benutzer zunächst selbst, später wurden sie auch hier von Handwerkern hergestellt. Im 7. und 6. Jh. dynamisierten dann die Zunahme der Bevölkerung und die Einführung des (von den Lydern erfundenen) Münzgeldes das Wirtschaftsleben. Die Landwirtschaft wurde intensiviert, Händler wagten sich weit aufs Meer hinaus und tauschten rund ums Mittelmeer Rohstoffe (Metalle, Holz) sowie Sklaven gegen einheimische Produkte. In den Städten ent­ standen große Märkte, wo alles angeboten wurde, was früher einzeln nur schwer zu bekommen war. Relativ frühzeitig dürften auch rechtsverbindliche Marktord­ nungen gegolten haben, doch ist nur die der kretischen Stadt Gortyn überliefert. • Auch in Rom bildete die Landwirtschaft den Grundstock für die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Familien. Die Böden im unmittelbaren Umland der Stadt wa­ ren fruchtbar und ermöglichten einen intensiven Anbau; weiter abgelegene Flächen wurden für die Weidewirtschaft genutzt. Be- oder Entwässerungsmaßnahmen wa­ ren nicht nötig, insbesondere bedurfte es keiner Eingriffe in den Verlauf des Tibers. Erforderlich waren lediglich Trockenlegungen und Herrichtungen eines Forumge­ bietes und eines Comitiums (Platz der Volksversammlung), um dort Sakralbauten zu errichten. Organisiert wurden diese Arbeiten noch von den etruskischen Köni­ gen, Vorbilder waren die in Süditalien gegründeten Kolonialstädte der Griechen. Seit dem 4. Jh. führte die Ausweitung des römischen Herrschaftsgebietes zu einer erheblichen Vergrößerung der fruchtbaren Landflächen. Diese gehörten jetzt aus­ schließlich einer Oberschicht und wurden vwon ausländischen Sklaven unter der Aufsicht von Verwaltern (vilici) bewirtschaftet. Absatzmärkte für die landwirtschaft­ lichen Produkte gab es in den Städten, die in größerer Zahl entstanden waren. Das werdende Recht schützte vor allem das bäuerliche Eigentum und normierte den Verkehr mit Boden, Vieh und Sklaven als den wichtigsten Wirtschaftsgütern.

b) Soziologische und ökonomische Faktoren Während die anthropologischen Faktoren – gestiegener Nahrungs- und Sicherheitsbedarf – die Menschen veranlasst hatten, von Wildbeutern zu Nahrungsproduzenten zu werden, nämlich Land urbar machen, Nutzpflanzen anzubauen und Nutztiere zu domestizieren sowie zu diesem Zweck in festen Siedlungen sesshaft zu werden, bestimmten soziologische Faktoren die Fol­ gen: das immer dichtere Zusammenleben einer vergrößerten Bevölkerungs­ zahl, die hierarchische Struktur und die politische Organisation der Volksge­



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meinschaften und schließlich die Gründung von Staaten mit eigenem Staats­ haushalt und eigener Beamtenschaft zu ihrer Verwaltung.316 aa) Reaktionen auf die Bevölkerungsvermehrung Vor der Sesshaftigkeit waren die menschlichen Sozialbeziehungen noch überall nach dem Grad der Verwandtschaft organisiert, sodass hierfür nur wichtig war, wer per definitionem mit wem in welchem Grade verwandt war. Diese Art der Organisation erzeugte eine gradweise abgestufte „mechanische Solidarität“317. Mit der Sesshaftigkeit wurde es aufgrund der steigenden Bevölkerungszahl und -dichte unmöglich, die sozialen Beziehungen nur noch nach dem Grad der natürlichen Verwandtschaft zu differenzieren; zusätzlich mussten viel­ mehr Unterscheidungen nach Art der ausgeübten Funktionen hinzugefügt werden.318 Vor allem galt das für die neu gegründeten Städte, wo ökonomi­ sche, militärische und religiöse Funktionen an Bedeutung gewannen. Hier bildeten sich unterschiedliche sozialpolitische Landschaften heraus: Die ei­ nen erhielten eine starre hierarchische Schichtung, oft verbunden mit heftigen Machtkämpfen zwischen den oberen (Adels-)Schichten, jedoch großer Ge­ meinsamkeit in der Ausbeutung des niederen Volkes. Die anderen erhielten einen durchlässigen hierarchischen Aufbau, der es allen (idealerweise aber nur besonders Befähigten) erlaubte, eine politische, militärische, religiöse oder sonstige Karriereleiter zu erklimmen. In diesem Falle wurde die „me­ chanische Solidarität“ abgelöst durch eine ‚affektive Neutralität‘ und eine Konkurrenz um soziale Funktionen: Statt die Aufgaben ihrer Eltern oder an­ derer Verwandter zu übernehmen, lernten die Kinder, sich aus eigener Kraft in der zunehmend anonymen Gesellschaft zu behaupten und darin diejenige Position zu erlangen, die ihnen ihrer Meinung nach gebührte. Organisatorisch konnte diese Gesellschaft freilich nicht der Selbststeuerung überlassen blei­ ben; vielmehr fand die Bürokratie ein reiches Betätigungsfeld vor. Die Sesshaftigkeit spornte ferner zu Fortschritten in der Technik und der Wirtschaft an. Diese Fortschritte zeigten sich bereits einem oberflächlichen Blick; denn die Landschaft war durchzogen von Kanälen und Fahrwegen so­ wie Feldern und Gärten, die mittels Bewässerung und mechanische Bearbei­ tung kultiviert wurden, kleinen Dörfern mittendrin und von Schutzmauern umgebenen größeren Städte, die im Innern sowohl Tempel als auch Verwal­ tungsgebäude enthielten. Oft wurde das in den Städten zum Bauen verwendete R. L. Carneiro (1981). dazu É. Durkheim (1893/1992), S. 118 ff. 318  Dazu O. D. Lattimore (1968), p. 376. 316  Dazu

317  Näher

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Material schon nicht mehr nur der unmittelbaren Umgebung entnommen, son­ dern von Weitem herbeigeschafft, damit Architekten es in immer kühnere Ent­ würfe einfügen und Handwerker es für immer kunstvollere Ornamente ver­ wenden konnten. Und da in den Städten auch sonst ein reiches handwerkliches Leben blühte (Keramikproduktion, Holz-, Leder-, Stein- und Metallverarbei­ tung), sorgte ein reger Handel von hier aus für den Transport der Produktion teils ins Umland, teils ins Ausland, wo wiederum Rohstoffe eingekauft werden konnten.319 Alte Handelsstraßen sind dafür der Beleg. Aus der Fülle der Bauvorhaben ragten – neben dem schon erwähnten Ausbau von Bewässerungsanlagen – heraus: • der Bau von Häfen sowie von Straßen innerhalb und außerhalb der Städte und Ortschaften – wir wissen, dass den Herrschern Ägyptens, Mesopotamiens und Kretas diese Bauvorhaben besonders am Herzen lagen; • der Bau von gemeinschaftlichen Vorratsspeichern, um die bäuerlichen Betriebe mit Getreide für die nächste Aussaat zu versorgen, aber auch um Nahrungsmittel für Notzeiten vorrätig zu halten, falls der Himmel nicht genügend Regen spendete, die Flüsse austrockneten und das Land zu verdorren drohte; • der Bau von staatlichen Repräsentationsbauten und Tempeln sowie ggf. von Be­ gräbnisstätten für die Könige und Heerführer, sofern die soziale Differenzierung innerhalb der Bürgerschaft Sichtbarkeit auch nach dem Tode verlangte bzw. der Tod nur der Übergang in eine andere Welt war;320 • der Bau von Befestigungsanlagen (dazu noch unten bb); • der Abbau von Bodenschätzen, insbesondere von Salz und Erzen; • der Ausbau von Märkten, auf denen Bauern und Handwerker ihre Produkte feilbie­ ten konnten.

Alle größeren und daher nur in Gemeinschaftsarbeit zu bewältigenden Bauvorhaben – wie überhaupt die gesamte Organisation des sich immer mehr verdichtenden Zusammenlebens – mussten von Verwaltungsbehörden betreut werden.321 Deren Größe musste sich der Zahl und der Unterschiedlichkeit ihrer Aufgaben anpassen, weshalb sich in ihnen und zwischen ihnen allmäh­ lich eine hierarchische Kompetenzverteilung herausbildete. In den Verwal­ tungseinrichtungen der Häuptlingsschaften traf regelmäßig ein Oberhäuptling (meist zusammen mit einem Stammesrat) die für alle Stämme verbindlichen 319  Allerdings wurde ein großer Teil der handwerklichen Produkte – und zwar re­ gelmäßig der kunstvollste Teiln – auch vom königlichen Hof und von den heimischen Adelshäusern erworben. 320  Älteste ausgegrabene Grabstätten, die eine soziale Differenzierung deutlich dokumentieren, befinden sich in Eynan im nördlichen Palästina (um 7000 v. u. Z.). 321  Nicht überall gab es diese allerdings. H. Parzinger (2015), S. 720 ff., 725: „Bis heute bliebt rätselhaft, wie Ballungszentren ohne Schrift und Verwaltung organisiert werden konnten.“



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I473

Entscheidungen, die anschließend von den lokalen Verwaltungen der Stämme umgesetzt wurden.322 Fortentwickelt wurde diese Verwaltungsstruktur in den zentral regierten Königreichen, wofür ich als Beispiel auf das Königreich der Edo (Benin, Nigeria) verweise, von dem wir allerdings erst aus neuerer Zeit wissen.323 Deutlich stärker strukturiert war die Verwaltung in den Protostaa­ ten: • In Ägypten sehen wir bereits im AR ein Heer von Beamten ausschwärmen und die Bevölkerung zur Arbeit, insbesondere zum Ausbau der Kanäle und zur Bewirt­ schaftung der Staatsdomänen anhalten. Einen Teil der landwirtschaftlichen Erträge kassierten sie zugunsten des Königshofs oder eines Tempels ein, damit von dort aus das Land regiert, namentlich beschützt und verwaltet werden konnte. Als dann im MR der göttliche Glanz des Königs (Pharaos) verblasste, gewannen neben der zentralen Verwaltung des Landes auch regionale und kommunale Verwaltungen an Bedeutung; an der straffen Organisation änderte sich indes grundlegend nichts, zumal alle Beamten dem König oder einem seiner beiden Wesire324 nach wie vor rechenschaftspflichtig waren und jederzeit abgesetzt werden konnten, wenn sie sich als unfähig oder untreu erwiesen. Auch das Rechtswesen blieb nach wie vor zentralisiert: Oberste Instanz war der König, den allerdings regelmäßig einer seiner Wesire vertrat, indem er die Prozesse leitete, die Kataster verwaltete sowie das Aktenwesen überwachte. Beide Wesire waren allerdings verpflichtet, dem König regelmäßig Bericht zu erstatten, sodass man trotz der Doppelköpfigkeit des Wesi­ rats Einheitlichkeit nicht nur innerhalb der Verwaltung, sondern auch innerhalb der Rechtsprechung vermuten darf. • Eine leicht abweichende Situation finden wir in Mesopotamien vor: Auch hier wurde zwar die soziale Organisation von einer Beamtenschaft getragen, die einer­ seits für die Einkünfte der Königshöfe und Tempel, andererseits für das Wohl des Volkes zuständig war. Da jedoch – im Gegensatz zu Ägypten – lange Zeit mehrere Stadtstaaten nebeneinander bestanden, bedurfte es wiederholter Bemühungen, um Rechtseinheit und Rechtssicherheit herzustellen bzw. zu erhalten. Den gewaltigsten Versuch in dieser Hinsicht machte Hammurapi, indem er, gestützt auf die Normen­ sammlungen seiner sumerischen Vorläufer und eigene richterliche Entscheidungen, einen Gesetzeskodex schuf, der trotz vieler Mängel alles Vorangegangene an Um­ 322  Wir finden solche Verwaltungseinrichtungen dagegen noch nicht oder allenfalls in ersten Ansätzen in den segmentären Gesellschaften. Beispielsweise lebte das Volk der Nuer (zu ihm oben F 2 b Zusatz) trotz seiner hohen Zahl von 430.000 Mitglie­ dern ohne eine wie immer geartete politische Organisation zusammen. Seine größten politischen Einheiten waren die Stämme, seine kleinsten die Dörfer. Dazwischen be­ standen weitere Einheiten, die jeweils unterschiedliche Namen trugen und sich oft, aber nicht immer, mit der Aufteilung in Clans deckten. Innerhalb sowohl der Stämme als auch der untergeordneten Segmente gab es weder Häuptlinge noch Ältestenräte mit feststehenden organisatorischen Aufgaben. Es bestand lediglich eine „geordnete Anarchie“ (E. E. Evans-Pritchard, 1940, p. 296): Den Zusammenhalt stiftete allein der allgemeine Sinn für Solidarität. 323  Einzelheiten dazu oben F 2 d Zusatz. 324  Im MR wurde das Wesirat wegen Überlastung geteilt, nördliche und südliche Landeshälfte erhielten je einen eigenen Wesir.

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fang, Klarheit und Publizität in den Schatten stellte. Bemerkenswert drückte sich darin ein Streben auch nach sozialer Gleichgerechtigkeit aus: Den sozial Schwa­ chen sollte Schutz gewährt, die ‚kleinen Leute‘ sollten vor Überschuldung bewahrt und den Handwerkern und Tagelöhnern sollte ihr verdienter Lohn zuteil werden. • In Indien ist für die Zeit der Harappa-Kultur ebenfalls mit einer differenzierten sozialen Organisation und einer sie tragenden Beamtenschaft zu rechnen; aller­ dings besitzen wir insoweit keinerlei Zeugnisse. Auch dass es eine rudimentäre Frührechtsordnung mit einem gerichtlichen Instanzenzug gab, lässt sich nur ver­ muten. Etwas klarer erkennen wir die organisatorischen Verhältnisse nach der Einwanderung der Ārya. Kleine Stammesgruppen unter Führung von Fürsten übernahmen damals die Herrschaft; es bildete sich eine ständisch und beruflich gegliederte Gesellschaft heraus, worin Adel und Priesterschaft einen besonderen Einfluss ausübten. In den Städten gab es daneben Zunftmeister, die die Handwerk­ erschaft organisierten. Aus dem Maurya-Reich wissen wir, dass staatliche Beamte auch für die Schlichtung von Streitigkeiten und für die Ahndung von Delikten zu­ ständig waren. Über weitere Einzelheiten der Organisation sind wir dagegen nur schlecht oder gar nicht informiert. Lediglich von regem Handel und von reichen Kaufleuten (aber auch von Wucherern) wird öfters berichtet. • Besser als in Indien ist der schriftliche Befund zu den frühen Verhältnissen in China. In der Shāng-Zeit sorgten Hofbeamte für die Organisation der Landwirtschaft in den Dörfern, in den Städten war für die Organisation des Gewerbes der Adel zuständig. Das stark vergrößerte Zhōu-Reich benötigte zur Verwaltung bereits ein ganzes Heer von Beamten. Die Sicherheit des Reiches etwa lag beim Justizminister und sechzig Justizbeamten: einem Unterminister für Kriminalfälle, je einem Ober­ richter für einzelne Verwaltungsgebiete und einer Reihe von Beamten für spezielle Aufgaben (Scharfrichter, Kerkermeister u. a.). Seit der Mitte des 4. Jh.s wurde dieses System allmählich durch ein dreistufiges Verwaltungssystem abgelöst: mit einer königlichen Zentralverwaltung an der Spitze, mit Kommandanturen (besetzt mit königlichen Beamten) auf der Provinzialebene und mit Präfekturen auf der Distriktebene. Innerhalb des ständisch und beruflich gegliederten Gesellschaftssys­ tems gewannen der Adel sowie die gildenartig zusammengeschlossenen Kaufleute und Handwerker an Bedeutung. Die wesentlichen Einheiten der Gesellschaftsord­ nung waren und blieben indessen die Kernfamilien und Sippen, deren Oberhäupter jeweils auch Rechtsprechungskompetenz besaßen. Im Reich der Q’ín schließlich wurde die Verwaltung nochmals stärker zentralisiert sowie in den Provinzen und in den kleinen Gemeinden mit abhängigen Verwaltungsbeamten ergänzt. • In Israel führte die Reichsgründung durch König David zur Vereinigung der zuvor nur lose verbundenen Stämme und zu einer zentralistischen Ordnung. Umsiedlun­ gen größeren Ausmaßes entvölkerten die Dörfer, ließen dafür aber die Städte erblü­ hen. Eine nach Funktionen und Rängen gegliederte Beamtenschaft unterstützte die Regierung. Schreiber wurden in eigens eingerichteten Schulen ausgebildet; ihr Amt war erblich, sodass sie eine eigene soziale Schicht mit hohem Sozialprestige bilde­ ten. • In Griechenland wurde in mykenischer Zeit die Wirtschaft von den Palästen der Könige und Fürsten aus verwaltet. Es gab riesige Vorratsräume mit Fässern und sonstigen Vorratsgefäßen, die davon zeugten, wem das Land gehörte, wer es als



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I475 Pächter zu bewirtschaften hatte und worin der Pachtzins bestand. Auch in der nachmykenischen Zeit verblieb es dabei: Das Land gehörte dem Adel, die Bevöl­ kerung hatte die Äcker zu bestellen und einen Teil der Ernte abzuliefern. Neben den οἴκοι der adligen Familien und den von ihnen Abhängigen hoben sich jetzt auch bestimmte Berufsgruppen heraus, deren Mitglieder selbstständig waren. Dich­ tere Besiedlung führte dann zur Entstehung von Städten, worin der Adel seine führende Stellung zunächst behaupten konnte, weil seine Macht mehr Rechtssi­ cherheit verhieß als der Gemeinsinn der Bürger. Die weitere Entwicklung verlief gleichwohl zweigeteilt: einerseits zu Oligarchien, worin die Macht den adligen Familien zukam, andererseits zu Demokratien, worin der Gemeinsinn der Bürger die Vorherrschaft hatte, freilich auch mit Verantwortung belastet war.

• Rom: Auf der Apenninhalbinsel siedelten seit dem 8 Jh. v. u. Z. regionale Volks­ gruppen, unter denen die etruskischen infolge ihrer fortgeschrittenen Sozialstruktur und ihrer urbanen Lebensweise hervorragten. Ihre stark familiale Ordnung, die den Sippen wenig Bedeutung beließ, wurde auch in Rom bestimmend, nachdem die Etrusker die Stadt besetzt hatten und hier als Könige, militärische Befehlshaber, höchste Priester und oberste Richter herrschten. U. a. ist die Gliederung der Stadt in drei Verwaltungsbezirke (tribus) auf sie zurückzuführen. Aus früherer Zeit blieb lediglich die Institution eines Adelsrates (Senats) erhalten, auf den nach der Ver­ treibung der alten Könige die weltliche Macht überging, während die sakrale einem pontifex maximus zustand. Ausgeübt wurde die weltliche Macht allerdings nicht vom Adelsrat selbst, sondern in seinem Auftrag jeweils auf Zeit von einem Feld­ herrn (praetor) und einem obersten Gerichtsherrn (iudex) als Leitern der entspre­ chenden Verwaltungen.

Zusatz: Jedes antike Volk hat starke Verwaltungsinstitutionen gebraucht, um innerhalb einer immer enger zusammenrückenden Völkergemeinschaft zu bestehen. Starke Institutionen aber haben einerseits starke Persönlichkeiten gebraucht, die sie leiteten, andererseits eine Bürgerschaft, die sich ihrer Mit­ verantwortung bewusst war.325 Dennoch geben uns die geschichtlichen Quellen nur über die leitenden Persönlichkeiten Auskunft; von der Mitver­ antwortung der Bürger ist kaum jemals die Rede. Deshalb seien abschließend Worte zitiert, die Thukydides326 zum Lob für die Athenische Demokratie327 zur Zeit des Perikles gefunden hat und die weit über Athen hinaus zeitlos gültig sind: „Frei leben wir miteinander im Staat und frei vom gegenseitigen Misstrauen …, doch im Gehorsam gegen die Gesetze, vornehmlich die, welche zu Nutz und Frommen der Verfolgten bestehn. […] Nur wir entscheiden in den Staatsgeschäften selber oder durchdenken sie zumindest richtig. Denn wir sehen nicht im Wort eine Gefahr für die Tat, wohl aber darin, sich nicht durch Reden zu belehren, bevor man zur Tat schreitet. Denn auch dadurch heben wir uns vor den anderen heraus, dass 325  H. Müller-Karpe

(1998), Bd. III, S. 280; Bd. IV, S. 244 f., 386 f. Peloponnesischer Krieg II 37, 40 f. 327  Vgl. dazu auch oben G 3 (δ). Einen demokratischenr Charakter hatten in der klassischen Zeit jedoch nicht nur Athen, sondern auch andere griechische Städte. 326  Thukydides,

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wir am meisten wagen und dennoch, was wir wagen, zuvor erwägen, während die andern Unverstand verwegen und Vernunft bedenklich macht. […] Zusammenfas­ send sage ich, dass unsre Stadt die Schule von Hellas sei und jeder ihrer Bürger seine Persönlichkeit hier am vielseitigsten entfalten kann.“

bb) Erfordernisse der Außenverteidigung Eine der ältesten, wenn nicht gar die älteste Funktion aller Staaten bzw. ihrer Vorläufer ist der Schutz gegen äußere Feinde. Schutz brauchten die Menschen im Altertum sowohl gegen die nomadisierenden Völker der Step­ pen und Berge als auch gegen benachbarte Fürsten und ihre Heere, denn ein etwa angesammelter Reichtum weckte sofort deren Begehrlichkeit und ließ sie hoffen, daran durch einen kühnen Raubzug teilzuhaben. Nur eine fest zusammenstehende und auf Verteidigung ausgerichtete Bevölkerung war dann in der Lage, solchen Attacken standzuhalten. Überall folgten die wehr­ haften Männer deshalb dem Ruf, an der Vorbereitung von Verteidigungsmaß­ nahmen und an präventiven kriegerischen Schlägen gegen drohende Feinde teilzunehmen. Sie bauten Befestigungen,328 ließen sich Waffen schmieden, stellten sich verteidigungsbereit hinter den Befestigungsmauern auf oder zo­ gen unter der Führung eines Kriegshäuptlings oder fürstlichen Kommandan­ ten dem Feinde entgegen – selbst wenn dies eine lange Trennung von der Familie bedeutete und fraglich war, ob sie je wieder nach Hause zurückkeh­ ren würden. Die Genese zeigt überall gleichartige Züge: • Die Horden kannten zwar noch keine politische Regierungsgewalt, doch hatten die wehrhaften und besonders die kampfeslüsternen unter ihnen – wie etwa die Komantschen329  – nicht nur einen Friedenshäuptling (peace chief), sondern auch ei­ nen Kriegshäuptling (war chief), unter dessen Leitung sie jederzeit in den Kampf ziehen konnten. Entsprechend waren auch die kleineren Stammesgesellschaften organisiert, z. B. hatte der Stamm der Wemale auf den (heute indonesischen) Mo­ lukken außer einem Friedens- auch einen Kriegskapitan. In den Häuptlingsschaften war es oft sogar eine Pflicht des Häuptlings (speziell des Kriegshäuptlings), wirk­ liche oder vermeintliche Feinde zu bekämpfen oder schlicht Raubzüge durchzufüh­ ren, sodass oft ein Kampfeinsatz den anderen ablöste. In den Königreichen schützten dann schon schlagkräftige Armeen ausgebildeter Soldaten die Macht. Bei den Aschanti, einem (bis zur britischen Besetzung um 1900) besonders kriegerischen Volk in Ghana, gab es sogar eine allgemeine Wehr­ pflicht: Jeder körperlich taugliche Mann gehörte mit derselben Selbstverständlich­ keit wie einem Clan auch einem Militärkorps an. Das Korps wurde vom Clanchef angeführt, während der Stammeshäuptling die aus sämtlichen Clan-Mannschaften 328  Außer den nachstehend genannten weisen auch Jericho in Palästina (8. bis 6. Jt. v. u. Z.), Hacilar (um 5000) und Mersin (um 4000) in Anatolien befestigte Ver­ teidigungsanlagen auf. 329  Vgl. F 2 a, 1. Zusatz.



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I477 zusammengesetzte Stammesarmee befehligte. Noch moderner ging es beim Stamm der Kumasi zu: Dort traten an die Stelle der Clan-Mannschaften Kompanien, die aus Angehörigen verschiedener Clans gebildet und von Captains befehligt wurden. Diese Organisation bewährte sich so gut, dass sie auch von anderen Völkern über­ nommen und schließlich zum Vorbild für die meisten afrikanischen Heere wur­ de.330

• Ägypten war durch seine geographische Lage vor kriegerischen Einfällen weitge­ hend geschützt. Gleichwohl legte die Naturlandschaft im Niltal auch einen wehr­ haften Zusammenschluss der Bevölkerung nahe; denn eine Bedrohung durch no­ madisierende Libyer und Nubier aus den angrenzenden Wüstengebieten sowie durch nomadische Stämme aus Syrien und Arabien ließ sich niemals vollständig ausschließen − man musste also auf der Hut sein. Allerdings gab es selbst im MR noch kein zentrales Heer, weil sich aktuell kein gefährlicher Feind zeigte. Erst als von Norden her Fremdvölker unter der Führung der Hyksos (Hirtenkönige) in Ägypten einrückten, rächte sich die Sorglosigkeit. Die staatliche Macht war so weit verfallen, dass sich die einrückenden Völker binnen kurzem im Fruchtland festsetzen und dieses hundert Jahre lang beherrschen konnten. Das MR war damit am Ende, und die Ägypter brauchten abermals fast hundert Jahre, um sich von dem Schrecken zu erholen. • Mesopotamien war im Gegensatz zu Ägypten von jeher nomadischen Einfällen ausgesetzt. Das Land lag offen da, zudem fehlte es häufig an einer Zentralregie­ rung, die eine einheitliche Verteidigungspolitik hätte organisieren können. Lange Zeit blieb man dennoch verschont: Die angrenzenden semitischen Stämme ver­ weilten in den landwirtschaftlich nicht nutzbaren Landesteilen und ließen die Su­ merer in ihren Städten und Ländern gewähren. Derweil ging im Innern allerdings die Macht von Ur auf Sumer, von Sumer auf Assur, von Assur auf Ninive und von Ninive auf Babylon über, ohne dass wir von einem kraftvollen Aufrüsten einer der Mächte etwas erfahren. Deshalb begann die eigentliche Geschichte genau wie in Ägypten, als plötzlich von Norden her assyrische Truppen unter Tiglat-Pileser I. gegen Babylon vorrückten, es besiegten und in das erste Großreich der Geschichte eingliederten. • In Indien weisen Befestigungsanlagen seit dem 7. Jt. auf eine städtische Kultur hin, die den Schutz vor äußeren Feinden zu einem ihrer Hauptanliegen gemacht hatte (älteste Beispiele sind Mehrgarh in Beludschistan und Amri am Eingang zum Industal). Nach dem Untergang der Harappa-Kultur scheint die Besiedlung des Landes durch die Ārya indessen friedlich verlaufen zu sein. Dennoch entstanden jetzt zusätzlich zur dörflichen Besiedlung durch die Eindringlinge einige Residenz­ städte, die hinter Wällen und Gräben Schutz vor feindlichen Angriffen suchten. Auch scheint es eine Armee gegeben zu haben, die das Land vor feindlichen An­ griffen schützen sollte – und dies offenbar so lange mit Erfolg tat, bis die Perser unter Dareios I. erschienen und das Land eroberten (ca. 516 − 513 v. u. Z.). 330  Sämtliche Aussagen beziehen sich, das sei an dieser Stelle ausdrücklich noch einmal betont, auf neuzeitliche indigene Völker. Rückschlüsse auf deren Vorfahren in der Antike oder auf andere antike Völker sind daher allenfalls nur mit groößter Vor­ sicht möglich.

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

• In China waren seit dem 7. Jh. mächtige Mauern unverzichtbare Bestandteile der zahlreichen städtischen Siedlungen. Ursprünglich schützte man nur deren inneren Kern. Doch die ständig stärkere politische Unsicherheit zwang dazu, auch die um den Kern herum wohnende Bevölkerung in den Schutz der Mauern einzubeziehen. Vollends unverzichtbar wurde solcher Schutz nach dem Ende der Zhōu-Dynastie in der Zeit der ‚kämpfenden Reiche‘ (seit etwa 450 v. u. Z.). Die Q’ín-Dynastie baute schließlich eine noch heute in Teilen erhaltene Große Mauer, die sämtliche beste­ henden Schutz- und Trutzmauern zu einem einzigen riesigen Schutzwall gegen Eindringlinge vereinigte und bis heute das größte Bauwerk der Erde geblieben ist. • In Israel diente die Institution des ‚Heiligen Krieges‘ zur Außenverteidigung. Hei­ lig war der Krieg deshalb, weil Jahwe sich stets schützend vor sein Volk stellte und mit ihm gegen den Feind ins Feld zog. Stand ein Kampf bevor, dann ertönten Hornsignale durch das gesamte Land und riefen alle wehrfähigen Männer zu den Waffen. Man versammelte sich am Ort der Gefahr, befragte die Orakel und stürm­ te, wenn sie günstig waren, mit großem Kriegsgeschrei auf die Angreifer los, so­ dass diese der Gottesschrecken befiel und sie bezwungen werden konnten. Aller­ dings erwies sich mit der Zeit, dass dieser Ablauf mehr der Theorie als der Praxis entsprach. Der Partikularismus der zwölf Stämme Israels war nämlich inzwischen immer stärker geworden, weshalb sie einander die erforderliche Hilfe oft versagten und alsdann auch Jahwe gegen die Übermacht der Feinde nichts mehr ausrichten konnte. • In Griechenland waren die Herren der οἴκοι gleichzeitig militärische Führer, die nach einem erfolgreichen Verteidigungsfeldzug oder Raubzug die Beute unter sich und ihre Anhänger aufteilten. Zu größeren kriegerischen Unternehmungen waren sie allerdings außerstande, und auch die späteren Stadtstaaten mussten stets Zu­ sammenschlüsse bilden, um militärisch etwas ausrichten zu können (etwa im Krieg gegen Troja). Trotzdem blieb eine kriegerische Haltung auf dem Festland auch weiterhin bestehen. Befestigungsanlagen mussten daher die wichtigsten Städte si­ chern; Waffenproduktion und -technik hatten einen hohen Stellenwert. − Anders war es von jeher auf Kreta: Dort schützten die Insel nach außen das Meer und eine starke Flotte, und im Innern ging es seit jeher friedlich zu, weshalb weder die Städte noch die Paläste eine Befestigung brauchten. • Ähnlich den Gründungen von Stadtstaaten auf dem griechischen Festland hatten die Italiker auf der Apenninhalbinsel eine Reihe politisch straff organisierter Staa­ ten gebildet, deren Mittelpunkt jeweils eine mit Mauern befestigte Burg war. Eine befestigte Stadt war am Ende des 7. Jh. auch Rom. Sein Burgberg, das Kapitol, lag allerdings außerhalb des seinerzeit umgrenzten Stadtgebiets. Die rings umgrenzen­ de Befestigungsmauer wurde erst gebaut, nachdem die Gallier die Stadt im 4. Jh. niedergebrannt hatten. Bereits während der etruskischen Königszeit und erst recht während der Zeit der Republik war die Hauptstütze der Staatsmacht ein Heer, in das jeder wehrfähige Bürger, unabhängig von seiner gentilen Verankerung, aufge­ boten wurde. Es diente freilich weniger der Verteidigung als vielmehr der ständi­ gen Ausdehnung des Staatsgebiets und der Unterwerfung der angrenzenden Völker. Seine Macht beruhte auf der Erfindung einer nach verschiedenen Waffengattungen tief gegliederten und geschlossenen Schlachtordnung (Phalanx). Und als diese um 315 v. u. Z. durch eine noch beweglichere, weil in selbstständige kleinere Einheiten



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I479 aufgegliederte sogenannte ‚Manipular‘-Schlachtordnung ersetzt wurde,331 war Roms Heer schließlich jeder anderen Streitmacht überlegen. Rom wurde zur be­ herrschenden Macht in der damaligen Welt.

cc) Erfordernisse einer breiten Ausbildung Was kriegerisch geschützt werden sollte, war die von vielen Generationen aufgebaute Welt, die Heimat. Welches Bild von ihr entstand und wie es sich anschließend wandelte, können wir heute historisch nur schwer nachvollzie­ hen, weil uns aus vorschriftlicher Zeit wenig bildliches oder steinernes Ma­ terial dafür zur Verfügung steht. Angeboren war lediglich die Unterscheidung zwischen belebter und unbelebter Umwelt.332 Die Jäger- und Sammlerkultu­ ren tradierten wahrscheinlich ferner, dass Götter und Geister alle Naturerschei­ nungen in Bewegung hielten. Die Kulturen der sesshaften Völker akkumu­ lierten dann bereits so viel an Erfahrungswissen und Regelkenntnissen, dass sie auf die Annahme von subjektiven Agenten für die Naturerscheinungen verzichten konnten. Für sie war in der Natur handelnd tätig allein der Mensch: indem er den Boden durch Bewässerung und Düngung fruchtbarer machte; indem er Nutztiere domestizierte, um sich von ihnen zu ernähren; indem er technische Geräte herstellte, um sich die Arbeit am und im Erdbo­ den zu erleichtern; und indem er bei allem zwar die Hilfe von Göttern und Geistern in Anspruch nahm, ohne jedoch zu erwarten, dass diese in die kon­ kreten Arbeitsprozesse eingreifen. Die Macht des Menschen über die Natur war nicht nur mit dem Wissen verbunden, wie sich diese Macht nützen lässt, sondern auch, dass man diese Macht nicht selber nutzen muss, sondern andere damit beauftragen kann. Weitsichtige Regenten schufen deshalb von dem, was unter ihrer Herrschaft entstand, kaum etwas selber, sondern gaben Aufträge dafür an ausgewiesene Fachleute. Sie ließen Architekten und Ingenieure, die sich einen Ruf als Meister ihres Fachs erworben hatten, monumentale Bauten und umfangrei­ che Befestigungsanlagen errichten, und sie ließen die finanziellen Mittel für die Bautätigkeit von der Bevölkerung durch ebenfalls dafür ausgebildete Beamte einsammeln. Eine technische und administrative Bildung bestimmter Bevölkerungsgruppen erwies sich also als das A und O einer erfolgreichen Regierungstätigkeit. Und damit sie gelehrt und gelernt werden konnte, war der Aufbau öffentlicher Lehranstalten vordringlich. Ihre Orte waren deshalb die Höfe der Regenten und die Tempel der Götter, Stätten also höchster irdi­ scher und überirdischer Macht. Als Lehrer standen die Besten zur Verfügung, 331  Ein Manipel war der dreißigste Teil der römischen Legion und bestand aus zwei Zenturien von je 80 Mann. 332  J. Piaget (1926/1988), S. 157 ff.

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versorgt mit allem Lebensnotwendigen, damit ihre ganze Kraft in die Lehr­ aufgaben fließen konnte, während als Schüler nur junge Männer in Betracht kamen, die überdurchschnittlich begabt waren und dies in einer Vorprüfung bewiesen hatten. Werfen wir daher einen Blick auf das Schulungssystem, welches im Neoli­ thikum erfunden und seither perfekt ausgebaut wurde. Denn ohne ein solches System lässt sich die kulturelle Evolution und das, was sie der Menschheit als Erbe hinterlassen hat, nicht erklären. • Außerhalb der häuslichen Erziehung dürfte es selbständige Lehrbetriebe bereits in den Königreichen bei Hofe und in den Tempeln gegeben haben, weil überall Archi­ tekten am Werke waren und von der Hauptstadt aus Beamte zur Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben in den einzelnen Provinzen geschickt wurden. Einzelheiten sind uns jedoch erst aus den Staaten bekannt. • In Ägypten war die Primärerziehung Sache des Vaters.333 „Lehre deinen Sohn Schreiben, Ackern, Jagen und Fallenstellen entsprechend dem Zyklus des Jahres“, heißt es bereits in der ältesten erhaltenen Lebenslehre.334 Zur Primärerziehung gehörte u. a. die Einweisung in die Normen der ägyptischen Gesellschaft, die der Vater unter Berufung auf die Tradition vermittelte. Dabei war „höchst bedeutsam, dass die ägyptische Kultur und Gesellschaft nicht durch den Mund von Göttern, Priester, Königen, Gesetzgebern, sondern durch den vertrauten Mund der Väter zu ihren Söhnen spricht… Der Vater weist den Sohn in diese Ordnungen ein, nicht indem er sich ihm gebieterisch gegenüberstellt, sondern in­ dem er, gleichsam hinter ihm stehend und in dieselbe Richtung blickend, von der Warte seines Überblicks aus die Ordnungen am einzelnen Fall veranschaulicht.“335 Jede Generation legte in die Ordnungsnormen etwas Neues hinein. Deshalb erstarr­ ten sie nicht, sondern entwickelten sich mit der Gesamtheit der Kultur. Denn „ein guter Sohn ist nur der, der noch etwas hinzufügt zu dem, was ihm sein Meis­ ter gesagt hat.“336 In den Städten gab es seit dem 22. Jh. v. u. Z. ferner Schulen, in die die Kinder mit etwa fünf Jahren geschickt und in denen sie vier Jahre lang ganztägig unterrichtet wurden.337 Im Anschluss an die Schule konnten die Söhne dann noch von Spezia­ listen unterwiesen werden, falls sie nicht nur den Titel des Vaters erhalten sollten. Sie arbeiteten dann als Lehrlinge in den Werkstätten für Architektur, lernten in den Stuben der Schreiber die Kunst des Verfertigens von Formularen, wurden von Priestern in den Tempeldienst eingeführt und in jener Rede geübt, die bis zu Göt­ tern dringt und zur Zwiesprache einlädt. Auch Ärzte und Richter erhielten ihre dazu H. Brunner (1957; 1975; 1977). Assmann (2003), S. 104. 335  J. Assmann (2003), S. 107. 336  Ptahhotep 628–634 (F. Žába, 1956). Siehe auch J. Assmann (1976), S. 23; G. Wirz (1982), S. 17 ff. 337  Für Beamtenanwärter schloss sich daran noch eine mindestens zwölfjährige Lehre (H. Schöneberg, 1981, S. 14 ff.). 333  Eingehend 334  J.



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I481 Ausbildung in den Tempeln, da sowohl der Erfolg von Heilungen als auch die Richtigkeit von Rechtssprüchen regelmäßig auf göttliche Hilfe angewiesen waren.

• Die Ausbildung in Mesopotamien fand bis zum Ende des 3. Jt.s wahrscheinlich ebenfalls zunächst in den Familien statt. Daneben gab es spätestens seit der Ur III-Zeit (um 2100) staatliche Schulen, in denen Lesen und Schreiben (vermutlich auch Rechnen) gelehrt wurden. Im Anschluss an diese Grundausbildung hatten die Eltern die Wahl, ihre Söhne entweder auf einen praktischen Beruf vorbereiten oder sie im Schreiben anspruchsvoller Texte ausbilden zu lassen. Je nach dem Erfolg der Ausbildung wurden sie dann entweder Handwerker (z. B. Schreiner, Gerber, Sattler oder Schuster) oder nahmen einen Platz innerhalb der Tempelverwaltung, im königlichen Apparat oder in einem unteren Dienstverhältnis ein. Ärzte und Richter wurden in Mesopotamien ebenso wie in Ägypten meistens in einem der Tempel ausgebildet, wo erfahrene Vertreter ihres Faches sie unterrichteten; berühmt dafür war der Gula-Tempel von Isin. • Für Indien ist über die Kinder- und Jugenderziehung kaum etwas bekannt. Immer­ hin wissen wir, dass es zur Zeit Buddhas (6. Jh. v. u. Z.) Hochschulen gab. Aller­ dings wurden die Studierenden dort ausschließlich in den heiligen Schriften unter­ richtet. Eine berühmte Hochschule ausschließlich für die Söhne der drei oberen Kasten stand in Taxila im Westen Indiens. • Einen mehr dem irdischen Leben zugewandten Zug hatte die Ausbildung in China. Im Gegensatz zu Indien war die Gesellschaft hier zwar vertikal durchlässig, doch war der Gegensatz zwischen Gebildeten und Ungebildeten zu stark ausgeprägt, als dass das soziale Leben ihn hätte ignorieren können.338 Zur Schicht der Gebildeten gehörte, wer schreiben konnte; denn angesichts der Kompliziertheit der chinesi­ schen Schrift erforderte das eine längere schulische Ausbildung, die sich nicht jede Familie leisten konnte und die sie deshalb auf die Söhne beschränkte. Da die Herrscher seit der Hàn-Dynastie (ab 200 v. u. Z.) sowohl die schulische Ausbildung als auch die Abnahme der Examina monopolisiert hatten, wähnten sie sich im Be­ sitz einer vollständigen Kontrolle über die gebildete Bevölkerung. Das war aller­ dings ein kompletter Irrtum, denn in Wahrheit wurden sie selbst von der gebildeten Schicht weitgehend kontrolliert, da diese sich aller hohen Staatsposten bemächtig­ te339 und damit die Verwaltung des Reiches in den Händen hielt. Das System hatte allerdings einen Nachteil: Mit einem Staatsposten wurde nur betraut, wer die Exa­ mina in Philosophie, Geschichte und Literatur bestanden hatte;340 der Schwerpunkt der Ausbildung lag also auf den Geistes- und Verwaltungswissenschaften. Deshalb

C. C. Müller (1980), S. 48 f. Posten mussten sie allerdings fern von der Heimat antreten, weil sonst ihre Verwandten sich ihrer bedient hätten, um die unteren Posten zu besetzen. War kein entsprechender Posten frei, erhielten sie eine zwischenzeitlich eine Pension. 340  Die klassischen Werke, deren Kenntnis als Voraussetzung für den erfolgreichen Einstieg in eine Beamtenkarriere galt, waren: das ‚Buch der Wandlungen‘, das ‚Buch der Urkunden‘ (ein Kompendium mit Reden und Ansprachen von Herrschern der früheren chinesischen Dynastien), das ‚Buch der Lieder‘, die ‚Aufzeichnungen über die Riten‘ und die ‚Frühlings- und Herbstannalen‘ (eine angeblich von Konfuzius verfasste Chronik des Staates Lu). 338  Vgl.

339  Ihren

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

blieb China in der technischen Entwicklung lange Zeit hinter der anderen Völkern zurück. • Auf einem intensiven Schulwesen341 beruhte die Ausbildung der Kinder auch in den kulturellen Hochburgen Griechenlands. Ihre demokratische Struktur erwies sich u. a. darin, dass Sokrates, „das mächtigste erzieherische Phänomen in der Ge­ schichte des Abendlandes“342, im Hause eines Perikles und im Salon einer Aspasia verkehrte, obwohl er der Sohn eines Steinmetzen und einer Hebamme war, und dass zu seinen Schülern Staatsmänner wie Alkibiades und Kritias gehörten. Sein Denken baute auf den exakten Wissenschaften auf, insbesondere auf den anwen­ dungsbezogenen Untersuchungen der Mediziner. Konsequent lehrte er im atheni­ schen Gymnasium, wo die Athleten vor ihrem Kampf von Ärzten untersucht wur­ den und wo auch sonst Jung und Alt sich täglich zum Körpertraining trafen. Im Gegensatz zu den Ärzten galt Sokrates’ Sorge allerdings nicht der Gesundheit des Körpers, sondern der Tugendhaftigkeit (ἀρετή) der Seele. Darin kam jener ent­ scheidende pädagogische Zug zur Geltung, der auch künftig die Entwicklung be­ stimmen sollte:343 die des Menschen von einem durch körperlich-vitale Bedürfnis­ se zwar angetriebenen, aber seine höchsten Ziele im geistig-sittlichen Bereich su­ chenden Wesen. Seine Hinwendung zur inneren Sittlichkeit hob Sokrates von den Sophisten ab, die in etwa gleichzeitig mit ihm lehrten und ebenfalls die Erziehung der Jugend zu angesehenen Bürgern und zu erfolgreichen Politikern zum Ziel hat­ ten. Aber während Sokrates sich an alle wandte, die ihm zuhören wollten, be­ schränkte sich ihr Hörerkreis auf die Söhne der reichen Bürger. Und während So­ krates allen die Wahrheit vermitteln wollte, wollten sie den Besitzenden vor allem den Willen zur Macht vermitteln, u. a. indem sie sie – sehr zum Ärger von Sokra­ tes – zu geschickten Rednern und Demagogen ausbildeten.344 • In Rom lag die Erziehung der Kinder bis zum 7. Jahr in den Händen der Mutter, die darin ggf. von einer Amme unterstützt wurde. In den Bauernfamilien übernahm danach der Vater die Erziehung der Söhne, um sie in allem, was die Landwirtschaft betraf, aber auch in den Grundlagen des Lesens und Schreibens zu unterrichten. Die Mutter lehrte derweil ihre Töchter das Weben und Spinnen, ferner alles, was 341  Herodot (1977) berichtet (VI 27), dass in Chios, einer Insel nahe der heute türkischen Küste, die Decke „auf [Buchstaben] lernende Kinder [παισὶ γράμματα διδασκοιμένοισι] einer Schule stürzte, sodass von 120 Jungen nur einer mit dem Le­ ben davonkam“. 342  W. Jaeger (1944), S. 74. 343  Vgl. oben 2 a. 344  Für die Sophisten waren die empirischen Menschen das Maß aller Dinge (Protagoras). Die einen sagten, dass sie je nach Ort und Zeit verschieden seien, weshalb zwar alle unterschiedslos am Recht teilhätten, der Maßstab ihres Rechts aber je nach ihrer Natur unterschiedlich sei. Maßstab dafür sei entweder, wozu geschickte Redner die Menschen überreden (Gorgias), oder was Mächtige ihnen aufzwingen (Trasymachos). Andere hielten dagegen, dass von Natur aus die Menschen auch unterschied­ lich weise seien; die Weisen unter ihnen aber stimmten darin überein, dass man die Gerechtigkeit nicht aus den unterschiedlichen Gesetzen der Menschen (den ἔγγραφοι νόμοι), sondern nur aus den unveränderlichen Gesetzen der Götter (den ἄγραφοι νόμοι) erkennen könne (Hippias).



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I483 eine gute Hausfrau können muss – darüber hinaus vielleicht ein Instrument zu spielen, weil dessen Beherrschung als vornehm galt. Hatten die Eltern Geld genug für die Ausbildung ihrer Söhne, konnten sie diese statt der häuslichen Unterwei­ sung auf eine der öffentlichen Schulen schicken, wo sie vor allem Lesen, Schreiben und Rechnen lernten. Sehr reiche Familien hielten sich sogar einen Hauslehrer. Erwiesen die Söhne sich als gelehrig, konnten sie anschließend noch eine der hö­ heren Schulen besuchen: zunächst die Grammatikschule, wo sie mit den Schriften der römischen und griechischen Autoren bekannt gemacht wurden und im Zusam­ menhang mit deren Lektüre Philosophie, Mythologie, Geschichte und Geographie studierten; sodann die Rhetorikschule, wo sie auf eine politische, juristische oder militärische Laufbahn vorbereitet und in der Redekunst, Philosophie oder Jurispru­ denz unterrichtet wurden.345 Zusätzlich mussten sie aber auch einen Militärdienst ableisten, damit sie frühzeitig sowohl zu befehlen als auch zu gehorchen lernten. Insgesamt war ihre Ausbildung also einerseits auf den Erwerb einer guten Allge­ meinbildung, andererseits auf die Aneignung wichtiger Tugenden ausgerichtet: auf Bescheidenheit, Beständigkeit, Disziplin und Tapferkeit.

c) Religiöse Faktoren Religiosität346 gehörte zu den (spätestens) dem homo sapiens sapiens an­ geborenen Eigenschaften und findet sich deshalb bei allen uns bekannten Menschenarten der letzten 100.000 Jahre. Ihr Ursprung war vermutlich die Furcht vor den unbeherrschbaren Mächten der Natur, deren Wirken sich in Himmelsbewegungen, Vulkanausbrüchen, vom Himmel kommenden Blitzen u. ä. bekundete und als deren Urheber der Mensch jenseitige Kräfte vermu­ tete. Verbunden war sie mit dem Wunsch, auf diese Kräfte Einfluss zu neh­ men und sie günstig zu stimmen.347 Denn selbstverständlich nahm man an, dass sie nicht nur Unheil bringen, sondern auch wohltuend („heilig“) wirken konnten.348 Da physischer Einfluss unmöglich war, erschien ein psychischer 345  Zum

Studium des Rechts reisten selbst aus dem Ausland viele junge Leute an. das Wesen von Religionen überhaupt und der Naturreligionen primitiver Völker insbesondere kann ich nicht eingehen (vgl. dazu etwa J. F. Thiel, 1984). Des­ halb lediglich drei Stichworte: Religion bezeichnet in der modernen Philosophie „die Beziehung des Menschen zur übersinnlichen und ewigen Welt“ (F. Heiler, 1984, S. 17), Religiosität „die erlebnishafte Begegnung mit heiligen Mächten und das da­ raus erwachende antwortende Handeln des vom Heiligen bestimmten Menschen“ (G. Mensching, 1959, S. 18 f.), das Heilige wird als eine rationaler Erkenntnis unzu­ gängliche, der psychischen Begegnung jedoch zugängliche Macht begriffen: als ein Mysterium, Faszinosum und Augustum (dazu R. Otto, 1979). 347  Darin liegt der Unterschied zum Märchenglauben, der das Wirken überirdi­ scher Kräfte ebenfalls bejaht, aber annimmt, dass es vom Menschen nicht (etwa im Sinne einer Reziprozität des Gebens und Nehmens) beeinflusst werden kann. 348  Beispiel: Die Polynesier glaubten an ein mana, das gewissen Menschen, aber auch Dingen ungewöhnliche Qualitäten verleiht, sodass sie eine nahezu unwidersteh­ liche Wirkung (z. B. Anziehungskraft auf andere Menschen) ausüben. 346  Auf

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Kontakt als einzig möglicher Zugang. Man postulierte also, dass hinter die­ sen Kräften höhere Wesen stehen (: „Dein ist die Kraft“ heißt es von Gott in der Bibel349) und dass diese menschliche Züge tragen, die einen Kontakt er­ möglichen (: Bewusstsein, Willen). Man erhob zu ihnen die Stimme, betete zu ihnen, flehte sie an, dankte ihnen, brachte ihnen zur Verstärkung des Kontakts Opfer dar. Viele glaubten, dass gerade das eigene Volk von ihnen ausgegangen sei, dass sie also zu ihren Ahnen gehörten, oder dass wenigs­ tens ein spezielles Schutzverhältnis zu ihnen bestehe. Sie galten ihnen dann als eigene Götter, ihr Volk als dasjenige, dem es aufgegeben sei, die von ih­ nen geschaffene Ordnung zu bewahren: ihre Tabus zu achten, ihre Riten zu befolgen und ihrem Willen demütig zu dienen (: „Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel“350). Zeugnisse für Religiosität liegen uns vor in der Art der Bestattungen, aber auch in der Form von Schädelverletzungen, die auf rituelle Praktiken hindeuten. Von einigen Forschern werden auch manche Felszeichnungen in vorzeitlichen Höhlen mit religiö­ sen Vorstellungen in Verbindung gebracht. Sehr alt scheint ferner der Glaube zu sein, dass einzelne Menschen einen besonderen Zugang zu den überirdischen Wesen haben oder gar selbst mit spirituellen Fähigkeiten ausgestattet sind.

Was das Verhältnis zwischen Recht und Religion anbelangt, werden heute zwei gegenteilige Ansichten vertreten: einerseits, dass das Recht seine Wur­ zeln vollständig im Boden der Religion habe, andrerseits, dass Religion und Recht von Anfang an streng geschieden worden seien. Die pansakrale Ansicht vertrat, gestützt auf alte Rechtsbücher, Henry Maine. Die Trennung zwischen Religion und Recht ordnete er folglich einem „späteren Stadium fortgeschrittenen Denkens“ zu.351 Den Gegenstandpunkt nahm, 75 Jahre später, Bro­ nislaw Malinowski ein: Nach seiner Meinung gab es von Anfang an innerhalb der moralischen und der rechtlichen Regeln Bereiche, die nicht durch Mythos und Kultus bestimmt wurden – als Beispiel nannte er die Regel der Reziprozität, des Gebens und Nehmens.352 Und da seinen Standpunkt wenig später mit ausführlicher Begründung auch Marcel Maus und Claude Lévi-Strauss unterstützten,353 ist er heute vor­ herrschend,354 wenngleich nicht unbestritten. Wolfgang Pannenberg hat ihm entge­ gengesetzt, dass man aus der universellen Geltung des Reziprozitätsgrundsatzes nicht auf die vollständige Unabhängigkeit des Rechts von der Religion schließen dürfe. In zweierlei Hinsicht sei das Recht vielmehr von Anfang an auf religiöse Legitimation 6 13. 6 10. 351  H. Maine (1874), p. 6: „Men, grouped together …, are bound to celebrate practically common rites and to offer common sacrifices.“ Neuestens z. B. H. Barta (2008), S.  14 ff. 352  B. Malinowski (1926/1949), S.  40 ff. 353  M. Mauss (1924/1990), S. 17 und passim; C. Lévi-Strauss (1955/1974), p. 36 ff.; idem (1962/1968); siehe dazu auch noch unten J 5 b γ. 354  Vgl. etwa die Nachw. bei St. Wesche (2001), S. 48 f. 349  Matthäus 350  Matthäus



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angewiesen gewesen: „erstens im Hinblick auf die konkrete Gestalt der Verhältnisse, in denen Gegenseitigkeit stattfinden soll, und zweitens für die Motiva­tion der Indivi­ duen dazu, dass sie in ihrem Verhalten die Regeln der Gegenseitigkeit tatsächlich befolgen.“355 Insoweit habe es außerrechtlicher Begründungen bedurft, und deshalb sei es kein Zufall, dass die archaischen Gesetzgeber sich übereinstimmend auf eine überirdische Legitimation beriefen, um ihre Rechtsnormen als für das soziale Leben verbindlich zu begründen.

Mir scheint die vermittelnde Ansicht, dass Religion und Recht zwei sich überschneidenden Bereichen zugehören, als zumindest für die frührechtliche Vergangenheit belegbar: Erstens waren Rechtssetzer in alter Zeit privilegierte Personen, die mit den Göttern kommunizieren konnten (oder es jedenfalls behaupteten). Das war wichtig, weil nach damaliger Auffassung die Götter es waren, die den Men­ schen das Recht gaben, es hüteten und seine Einhaltung überwachten.356 Zudem waren es nicht irgendwelche Götter, von den Menschen das Recht erhielten, sondern stets die höchsten unter ihnen. • In Ägypten wurde der Pharao als Horos, als falkengestaltiger Himmels- und Son­ nengott, tituliert. Er war ursprünglich Gott und König zugleich, mit Lebens- und Schöpferkraft (ka) begabt, um den Menschen die gottgewollte, das gesamte gesell­ schaftliche Leben durchdringende Ordnung (ma`at) zu bringen. Das Recht, das er sprach, war gleichzeitig göttliches und weltliches Recht. Seine Priester, die in den Tempeln Recht sprachen, waren Vertreter sowohl des Gottes als auch des Pharaos. Und da sie ihrem Gott täglich neu begegneten und von ihm Weisungen empfingen, konnte sich keine auf Dauer gültige Kodifikation des weltlichen Rechts entwickeln. • In Mesopotamien nahmen die Könige – im Unterschied zu den Pharaonen Ägyp­ tens – keine Göttlichkeit für sich in Anspruch. Stattdessen beriefen sie sich auf einen Auftrag des Himmels, dem Reich Gesetze vorzuschreiben. „Anu, der König der Anunnaku, und Enlil, der Herr des Himmels und der Erde, … haben mich … mit meinem Namen genannt, damit ich für das Wohlergehen der Menschen Sorge trage“, lässt Hammurapi im Prolog zu seinem Gesetzeskodex verkünden. Und „auf Befehl des [Sonnengottes] Šamaš soll dies Gesetz in meinem Lande erstrahlen“, heißt es auf der Stele, die den Text seines Gesetzes enthält und auf einem Relief den König selbst in huldigender Stellung vor dem Sonnengott, dem „großen Rich­ ter von Himmel und Erde“, zeigt. Der Text der Gesetzesnormen enthält allerdings weder religiöse Gebote noch religiöse Sanktionen. Nur im Epilog fordert Ham­ murapi „Anu, den Vater der Götter“ auf, denjenigen zu verfluchen, der die Geset­ zesnormen übertritt. Eine Ausübung der herrscherlichen Funktionen auf dem Ge­ biete der Rechtspflege lässt sich kaum nachweisen. Als Gesetzgeber sind die Herrscher offenbar vor allem in Erlassen zum Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsrecht tätig geworden. Ihre Tätigkeit als Richter lässt sich dagegen nur innerhalb der Halsgerichtsbarkeit belegen.357 355  W.

Pannenberg (1985), S. 49. Schilling (1957), S.  15 ff. 357  So etwa in § 48 LE. 356  W.

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• In Israel war es der Überlieferung nach Jahwe, der – religionsgeschichtlich neu – einen Bund mit ‚seinem‘ Volk schloss: es aus der Knechtschaft Ägyptens befreite, ihm dafür aber seine Gesetze nach Art der Vasallenverträge diktierte. Israels Reli­ gion war infolgedessen eine Gesetzesreligion, und die Beziehung zu Jahwe war (buchstäblicher) Gehorsam gegenüber seinem Gesetz: Sowohl das Bundesgesetz als auch das Deuteronomium enthalten Gesetzesnormen mit religiösem Charakter. Trotzdem war die Beziehung zwischen Religion und Recht im Laufe der Zeit Schwankungen unterworfen. Die Normen des Bundesgesetzes (12. oder 11. Jh.) trugen stärker rechtliche Züge als die des Deuteronomiums, die einer etwa zwei­ hundert Jahre jüngeren Quelle entstammen und weder im Stil zu den älteren Nor­ men des Bundesgesetzes passen noch immer richtig interpoliert sind.358 Auffallend ist u. a., dass nur das Deuteronomium die religiöse Sanktion des Fluches kennt, falls seine Normen übertreten werden.359 Hier wird ein verstärkter Einfluss der Priesterschaft auf die Gesetzgebung erkennbar – wohl als Folge eines stärkeren religiösen Legitimationsbedarfs. Noch genauer als in den Gesetzen spiegeln sich die Schwankungen im Verhältnis zwischen Religion und Recht aber in der Recht­ sprechung wider: Ursprünglich ging diese von den Priestern aus,360 später wurde sie regelmäßig von den Stadtältesten unter Beteiligung der übrigen Bevölkerung ausgeübt,361 und noch später wuchs der priesterliche Einfluss wieder.362 • Die indische Lehre stützte sich von Anbeginn auf die Verbindung des Rechts mit Religion und Moral. Zusammen, hieß es, bildeten sie das Weltgesetz und seien deshalb mit einem Wort zu begreifen: dharma. Die Rechtslehre unterschied dann genauer noch zwischen der Legitimation (pramāna) und den Quellen rechtlicher Normen (vidhi). Ihre Legitimation bezogen die Normen vom kristallinen Wissen der Vergangenheit, von den smṛtis, in denen noch die Autorität des Veda zum Aus­ druck komme. Die fluiden Quellen der Rechtssätze dagegen seien die Herrscher, die weise Personen mit der Formulierung der smṛtis betrauten. Das Verhältnis zwischen Religion und Recht war indessen nicht das von Ursache und Wirkung, sondern von Form und Substanz. Daraus erklärt sich, dass religiös begründete Regeln oft ohne öffentliches Aufbegehren vernachlässigt wurden, während nicht religiös begründete mit dem Argument aufrechterhalten wurden, sie seien durch die Religion sanktioniert. 358  Ein Beispiel ist 2. Mose 21 22‒25: Dort wird zunächst dem Ehemann das Recht gewährt, eine Geldstrafe zu bestimmen, wenn streitende Männer gegen seine schwangere Frau stoßen, so dass ihr die Frucht abgeht. Sodann aber fährt das Gesetz fort: „Entsteht [darüber hinaus] ein dauernder Schaden, so sollst du [!] geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Beule um Beule, Wunde um Wunde.“ Hierzu und zu den Versuchen, offenbar fehlerhafte Interpolationen zu reparieren, vgl. W. Seagle (1967), S. 170 ff. 359  Vgl. 5. Mose 27 15 ff.; ferner Sacharja 5 3 f. Siehe dazu auch ferner unten 3 d und J 6 c β. 360  Richter 4 4 f.; 1. Samuel 7 15 ff. 361  Vgl. oben G 4 i γ. 362  5. Mose 17 8 ff.; 2. Chronik 19 5 ff. Die Funktion des Zentralgerichts in Jeru­ salem, das mit Priestern und Beamten besetzt war, lässt sich nicht eindeutig klären: Es hatte entweder eine die untere Instanz nur beratende oder (wahrscheinlicher) eine den Rechtsfall entscheidende Kompetenz.



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• In China hatte der König die Aufgabe, das göttliche dào auf Erden zu verwirkli­ chen, wozu nicht nur Sittlichkeit und Frömmigkeit gehörten, sondern auch das Recht. Rechtliche Verfehlungen verstießen infolgedessen nicht nur gegen den Wil­ len der Herrscher auf Erden, sondern auch gegen den Willen des Herrschers im Himmel; sie belasteten als Lebensschuld das Heil der Seele und mussten außer Strafen auch Bittgebete um Vergebung zur Folge haben. • In Griechenland galt Zeus als Urheber des Rechts.363 Nach der Überlieferung soll er Minos von Kreta sowie andere Könige mit der Gesetzgebung beauftragt haben. Lykurg dagegen berief sich auf das delphische Orakel und damit auf die Autorität des Gottes Apollon. Im original auf uns überkommenen Gesetz von Gortyn findet sich keinerlei Legitimationsbezug mehr auf eine himmlische Macht, weder als Gesetzesurheber noch als Verpflichtungsgrund für den Gesetzesgehorsam – wenn­ gleich col. I mit der Anrufung der Götter (Θιοί) beginnt. Das deutet auf eine Tren­ nung von Religion und Recht im Laufe der griechischen Geschichte hin, begründet wahrscheinlich durch die religiöse Verehrung von Göttern, die sich alles andere als sittlich untadelig benahmen, während das Recht das sittlich Tadellose beinhaltete und bestimmt war, dass man ihm im Alltagsleben die gebührende Achtung entge­ genbrachte.364 • Einzig in Rom war die Entwicklung nahezu von vornherein auf die Trennung von Recht und Religion (ius und fas) ausgerichtet.365 Außer in seinen Anfängen waren sämtliche Rechtsgesetze für die Römer nicht Emanationen eines göttlichen Wil­ lens, vermittelt von privilegierten, mit den Göttern kommunizierenden Personen, sondern Produkte entweder einer politischen Macht oder eines philosophisch ge­ schulten menschlichen Geistes. Insbesondere war das grundlegende XII-Tafelgesetz ein Werk ausschließlich jener zehn Männer, die das Volk mit der Gesetzgebung beauftragt und denen es zu diesem Zweck die politische Macht übertragen hatte. Nur in wenigen Bestimmungen weist daher ihr Gesetz noch auf den älteren Zu­ sammenhang des Rechts mit der Religion hin: so etwa in 8 21, wo es den Fluch als Unrechtsfolge androht („sacer esto“), und bei der sponsio als einem feierlichen Gelöbnis, worin die Verschränkung zwischen zivilem Versprechen und religiö­ sem366 Gelübde zutage tritt.

Zweitens bezeugt auch die private Rechtsetzung mittels Vertrags die ur­ sprünglich enge und im Laufe der frühantiken Entwicklung kaum infrage Hesiod, WuT 273 ff. 36 18 ff. Dazu auch Ch. Wülke (2002). 365  Die Römer waren zwar ein juristisch hervorragend begabtes Volk, das logisch dachte und handelte, aber religiös unproduktiv war. Ihre Götter und Kulte übernahmen sie vor allem aus fremden Religionen, zunächst von den Etruskern, später von den Griechen. Ihre wenigen eigenen Götter personifizierten häufig abstrakte Begriffe wie Tugend (virtus) oder Hoffnung (spes). Wenn dennoch das XII-Tafelgesetz noch die religiöse Rechtsfolge der Verfluchung kennt (siehe im folgenden Text), so deutet das auf einden sehr alten Ursprung einiger der darin aufgenommen Rechtssätze hin. Cha­ rakteristisch für das römische Recht ist stattdessen das ängstliche Haften an festgeleg­ ten Ritualen, also an den Äußerlichkeiten der Religion (dazu unten J 5 f aa a. E.). 366  Weil früher mit einem Eid bekräftigt. 363  Vgl.

364  Solon

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gestellte Verbindung zwischen Religion und Recht. Denn wo immer der Vertrag nicht als schlichter Realkontrakt daherkam, bediente er sich religiö­ ser Rituale,367 um dem Leistungsversprechen dieselbe rechtliche Wirkung beizulegen wie dem Leistungsaustausch. In besonderem Maße geschah das im Rahmen der ehelichen Verbindung: Mann und Frau traten feierlich ‚vor die Gottheit‘ um zu bezeugen, dass sie nicht einen freien, jederzeit lösbaren Liebesbund (‚Konkubinat‘), sondern einen festen, unlösbaren ‚Bund fürs Leben‘ (‚matrimonium‘) knüpfen wollten. Bis heute hat sich diese Verbin­ dung von Recht und Religion, von amtlichem Akt und kirchlicher Segnung, bei den meisten Völkern erhalten, und zwar selbst dort, wo sich die recht­ liche Wirkung von der Einhaltung des rituellen religiösen Aktes inzwischen vollständig gelöst hat. • Aus Mesopotamien sind uns die religiösen Bräuche anlässlich einer Heirat nicht näher bekannt. Dass es sie gleichwohl gab, ist anzunehmen, weil die Ehen dort nicht nur vertraglich geschlossen, sondern auch durch einen Versprechenseid be­ kräftigt und entweder durch die Übersiedlung der Braut in das Haus des Bräuti­ gams zwecks Defloration oder durch die feierliche Erklärung beider, nunmehr Mann und Frau zu sein, vollzogen wurden.368 • Ähnlich ging es offenbar in Ägypten zu. Dort kann der Ausdruck ‚anpflocken, landen‘ (mnj) für ‚heiraten‘ als Hinweis auf einen Umzug zu Schiff mit der Aus­ stattung für ein neu zu bewohnendes Haus verstanden werden.369 Und zusätzlich lässt sich vermuten, dass dieser Umzug in feierlicher Form stattfand und von Pries­ tern begleitet wurde, die das Wohlwollen der himmlischen Götter auf das junge Paar und ihr Haus herab beschworen.370

367  Universelle Funktion von Ritualen war es, die Gebundenheit an Normen und Werte öffentlich zu bezeugen sowie Mitglieder von Gruppen zu vereinen (vgl. E. Dissanayke, 1992, p. 48; P. Boyer, 1994, p. 5; R. A. Rappaport, 1999, passim). Dass so­ wohl Religion als auch Recht sich ihrer bedienten, ist daher nahezu selbstverständ­ lich. Soweit die private Rechtssetzung wesentlich auf der Einhaltung von Ritualen beruhte, wie z. B. bei Verträgen, war ihre Trennung von der Religion leichter als dort, wo die religiöse Weihe des Gesetzgebers im Vordergrund stand und die rituelle Ge­ setzgebung diese nochmals versinnbildlichen sollte. 368  Vgl. CH §§ 151 f., 155 f.; MAL A § 34, 41. 369  T. Mrsich (2005) § 67. 370  Nachweise gibt es allerdings nicht. Vgl. S. Morenz (1965), S. 50: „Man mag sich wundern, dass in einer so weitgehend religiös gebundenen Welt eine sakrale Weihe dieses Aktes [i. e. der Eheschließung] fehlt – oder sagen wir vorsichtiger: trotz fleißigem Suchen nicht entdeckt wurde. Aber das Rätsel löst sich mühelos, wenn man sich gegenwärtig hält, dass Rechtsakte aus der Maat fließen, vom König gedeckt wer­ den und damit auch eo ipso in der Gottheit verankert sind.“ S. ferner S. Allam (2003), S. 45: „Das säkulare Wesen und die außerrechtliche Herkunft der Ehe lassen uns be­ greifen, dass die Ägypter für die Eheschließung trotz ihrer Wichtigkeit keinen Formal­akt entwickelt haben. Für diesen Vorgang wird sich freilich ein buntes, mit sakralen Elementen durchsetztes Brauchtum gebildet haben.“



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• Genauer bekannt sind uns die religiösen Hochzeitsbräuche für Indien.371 Hier be­ gab sich der Bräutigam zum Hause der Braut, wo sie ihm übergeben wurde, indem man ihre Hand in die seine legte und die Enden ihrer beider Kleidung miteinander verknüpfte. Das Paar umwandelte sodann den Altar, auf dem ein Opfer bereitet war, und vollzog Hand in Hand die Saptapādi, die sieben Schritte, wobei der Bräu­ tigam die Worte sprach: „Einen zum Saft, zwei zur Kraft, drei zur Mehrung des Reichtums, vier zum Wohlsein, fünf zum Viehe, sechs zu den Jahreszeiten, sieben zur beständigen Treue.“ Alsdann goss man Wasser über beide Hände, betrachtete den Polarstern als Bild der Beständigkeit, genoss das Hochzeitsmahl, bis schließ­ lich der Bräutigam die Braut mit feierlichem Geleit in sein Haus führte. Begleitet wurde die gesamte Zeremonie von den Gebeten und Segenssprüchen der Anwesen­ den. • In China372 waren als Vertragsparteien die beiderseitigen Eltern des zukünftigen Paares wichtiger als das Paar selbst. Denn deren Heirat diente hauptsächlich der Fortsetzung der Familientradition sowie der Verbindung der beiderseitigen Famili­ en, und beides waren zu wichtige Dinge, als dass man sie der ungestümen Jugend hätte überlassen können. Den Beginn machten drei Briefe der Familie des Bräuti­ gams an die Familie der Braut: ein erster, worin die Heirat formell vorgeschlagen wurde, ein zweiter, der kurz vor der Hochzeit die Geschenke an die Familie beglei­ tete, und ein dritter, worin am Tag der Hochzeit die Bereitschaft zur Aufnahme der Braut in die Familie des Bräutigams nochmals bekräftigt wurde. Die Aufnahmeze­ remonie selbst begann dann mit dem Zug des Hochzeitspaares vom Haus der Braut zum Haus des Bräutigams, wo der Bräutigam den Schleier der Braut lüften und zum ersten Mal ihr Antlitz sehen durfte. Alsdann wurde das Paar zum Familien­ altar geführt, wo sie dem Himmel und der Erde, den Vorfahren und dem Küchen­ gott Tsao-Chün huldigten. Nach einer weiteren Tee-Zeremonie verbeugten sich Braut und Bräutigam nochmals voreinander und nahmen anschließend gemeinsam mit ihren Eltern, Verwandten und Freunden das Hochzeitsmahl ein. • Von Griechenland wissen wir, dass die Hochzeit eine drei Tage dauernde mit Op­ fern und Gebeten erfüllte Zeremonie war. Am Vortag opferte die Braut Artemis, der Göttin der Jungfräulichkeit, und Hera, der göttlichen Braut. Zusammen mit ihrem Bräutigam erflehte sie sodann von Aphrodite ein fruchtbares, mit Kindern reich gesegnetes Leben. Am Hochzeitstag selbst reinigte sie sich symbolisch durch ein Bad, das ihr gleichzeitig Fruchtbarkeit verleihen sollte, und ließ sich anschlie­ ßend zum Hochzeitsmahl geleiten, wo diesmal den Göttern der Ehe geopfert wur­ de. Der Abend stand schließlich im Zeichen des wichtigsten Teils der Zeremonie, der Entschleierung und Übergabe der Braut an den Bräutigam sowie der Prozession vom Hause der Braut in das seine.373 Dort hießen die Eltern des Bräutigams sie als 371  Zum Folgenden J. Kohler (1880b), S.  347 ff.; ders. (1892), S. 113 ff.; J. D. Mayne (1986), no. 130. 372  Zum Folgenden J. L. Dull (1978). 373  Homer beschreibt eine solche Prozession in einer Szene auf dem Schild des Achill (Ilias XVIII 490 ff): „Ferner schuf er darauf zwei Städte von sterblichen Menschen, Schöne; die eine von Hochzeitsfesten erfüllt und Gelagen. Bräute führten sie fort aus den Kammern beim Scheine der Fackeln,

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Schwiegertochter willkommen und erflehten gemeinsam mit dem jungen Paar von den Göttern Wohlstand und Fruchtbarkeit. Am Tag danach weckten Lieder das Brautpaar. Man verteilte Geschenke an die Braut und feierte zeremoniell den Über­ gang in ihren neuen Stand. • Feierlich vollzog sich die Hochzeit eines Paares auch in Rom: Der Ritus begann mit einer Vereinigung der Hände (dextrarum coniunctio). Es folgten das Hochzeits­ opfer – Kuh, Schaf oder Schwein – unter Mitwirkung eines Knaben als Symbol der Unschuld sowie das Umwandeln des Altars (domum deductio), wobei Feuer und Wasser vorangetragen wurden, sodann das Niedersitzen der Braut auf einem Schafvlies. Den gemeinsamen Abschluss der Feierlichkeit bildete das große Hoch­ zeitsmahl (cena nuptialis).374 • Erwähnt sei noch, dass Ähnliches auch bei den Germanen Sitte war. Die Hochzeit begann mit einem Opfer, gefolgt von einer dreimaligen Umwandlung des brennen­ den Herdes seitens der Braut, die hierbei ein Glas frisches Wasser trug. Dann schritt das Brautpaar zum Zeichen religiöser Reinigung durch einen Feuerbrand. Den Abschluss bildeten der Brautlauf 375 sowie das Hochzeitsmahl mit Musik und Tanz.

Außer bei der ehelichen Verbindung verzichtete man beim Vertragsab­ schluss zwar schon frühzeitig auf religiöse Beschwörungsformeln, doch se­ hen wir stattdessen überall die Geschäftspartner – Ägypter, Chinesen, Römer, Germanen – sich weltlicher Bekräftigungsmittel bedienen, die einer Be­ schwörung nahe kamen und ihrer bloß ideell bindenden Abmachung dieselbe Festigkeit geben sollten, wie sie einem realen Machtwechsel am Vertragsge­ genstand eigen ist. Selbst heute noch bekräftigen wir eine vertragliche Bin­ dung symbolisch mit einem Handschlag,376 übergeben sinnbildlich den Schlüssel zum Haus und veranstalten bei bedeutenden Vertragsschlüssen ein Gastmahl, auf dem wir in Reden die Abmachung preisen und sie damit ideell nochmals bekräftigen. Kein Zweifel also, dass wenigstens das Bedürfnis nach einer Verbindung zwischen Recht und Ritual noch immer lebendig, mithin lediglich der religiöse Ursprung des Rituals in den Hintergrund getre­ ten ist (unbewusst aber noch mitwirkt). • In Griechenland bekräftigten die Götter ihre Worte zusätzlich noch durch einen Schwur: bei der Erde, beim Himmel darüber und tief darunter beim strömenden Wasser des Styx.377  Rings durch die Stadt; aus vielen Kehlen ertönte das Brautlied. Jünglinge drehten sich tanzend im Kreise, begleitet vom Schalle Klingender Flöten und Harfen inmitten von ihnen; die Weiber  Standen alle bewundernd indes vor den Türen der Häuser.“

374  Diese sakrale Art der Eheschließung (confarreatio) war allerdings den Patri­ ziern vorbehalten. 375  D. i. die feierliche Heimholung der Braut in das Haus des Bräutigams. 376  Der Handschlag scheint eine bereits früh-indogermanische Sitte gewesen zu sein. Vgl. die Nachweise bei K. Friedrichs (1896), S. 14. 377  Homer, Il. XV 36 ff.; Od. V 184 ff.



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• In Israel schwor Gott bei sich selber378 und bekräftigte mit einem solchen Schwur u. a. seinen Bund mit Abraham.379 Die Menschen wiederum schworen bei Gott einander redliches Verhalten zu380 – besonders anlässlich eines so wichtigen Ver­ trages, wie Esau ihn schloss, als er sein Erstgeburtsrecht an Jakob verkaufte.381 Dagegen schildert der Prophet Jeremias den Kauf eines Ackers: dass er dem Ver­ käufer lediglich vor Zeugen das Geld auf einer Waage „nach Recht und Gewohn­ heit“ abwog, ferner ihm einen Kaufbrief schrieb, diesen von Zeugen unterschreiben ließ, ihn sodann versiegelte und nebst einer offenen Abschrift in ein irdenes Gefäß legen ließ, „damit beide lange erhalten bleiben“.382 Religiöse Bezüge scheinen also bei diesem Anlass keine Rolle mehr gespielt zu haben. • Auch in Rom verzichtete man schon frühzeitig auf die religiöse Bekräftigung rein wirtschaftlicher Vorgänge, nicht allerdings auf die rituellen Mittel und Gesten, die ursprünglich der Religion zueigen waren. So deutet (nach einer allerdings umstrit­ tenen Auffassung) der Begriff stipulatio noch darauf hin, dass in älterer Zeit sinn­ bildlich ein Halm (stipula) übergeben wurde, um rituell den Eigentumsübergang zu bekräftigen.383 Auch der Begriff mancipatio verweist noch sinnbildlich auf den früheren Eigentumsübergang durch das Ergreifen einer Ware seitens des Käufers (anlässlich des Abwiegens des an den Verkäufer zu zahlenden Preises auf einer ehernen Waage vor Zeugen).384 • Bei den Germanen wurde – ähnlich wie in Rom – ein Zweig oder eine Erdscholle überreicht, um den abstrakten Rechtsvorgang einer Grundstücksveräußerung kon­ kret begreiflich zu machen.385 Zwar wurden dabei auch beschwörende Formeln verwendet, doch waren sie wohl eher zauberischen Vorstellungen als göttlicher Satzung entlehnt.386 Wurde das gesprochene Wort allerdings mit einem Eid bekräf­ tigt, kamen wiederum religiöse Elemente ins Spiel.

Drittens waren in alter Zeit Religion und Recht im Rahmen von gerichtli­ chen Prozessen eng verbunden. Zeugnisse dafür sind die Teilnahme von Priestern an den Prozessen und die Anrufung einer Gottheit im Beweisver­ fahren, falls die Tatsachen nicht klar zutage lagen und folglich eine höhere Macht entscheiden musste, auf wessen Seite das Recht zu finden sei.387 • In Mesopotamien erwähnt der Kodex des Hammurapi das Flussordal in § 2 zwecks Reinigung vom Vorwurf der Zauberei und in § 132 zwecks Reinigung vom Vor­ 45 23; Jeremia 44 26. Mose 26 3. 380  Vgl. etwa 1. Mose 21 23; 24 3; 1. Samuel 24 22; 30 15; 2. Samuel 19 8. 381  1. Mose 25 31 ff. 382  Jeremia 32 9 ff. 383  Zu den unterschiedlichen Versuchen, die Herkunft des Begriffs zu deuten, vgl. die Nachweise bei M. Kaser/R. Knütel (2008), § 40 I. Im Unterschied zur sponsio war mit der stipulatio kein Eid verbunden. 384  Vgl. oben G 4 f α und H 2 c dd ε αα. 385  F. Beyerle (1938), S. 238 (10); K. Kroeschell (1992), S. 64. 386  Vgl. etwa K. von See (1964), S.  103 ff. 387  Vgl. dazu auch oben F 3 θ und G 4 k. 378  Jesaja 379  1.

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wurf des Ehebruchs seitens der Frau. Häufig wird darüber hinaus auf den Eid als prozessuales Beweismittel Bezug genommen. • Dagegen finden wir in Ägypten weder für das AR noch für das MR Belege für ein Ordalverfahren. Die Abnahme von Eiden zur Bestätigung von tatsächlichen Be­ hauptungen können wir für das AR lediglich vermuten, für das MR ist sie dagegen nachgewiesen.388 • In Indien dienten zur Entscheidung größerer Streitigkeiten Ordale, von denen uns, soweit unsere Quellen zurückreichen, Waage-, Feuer-, Wasser- und Giftordal über­ liefert sind.389 Daneben wurden generell, d. h. auch bei Streitigkeiten von geringe­ rer Bedeutung, die Ordale der Reiskörner und des kośa (Trinken von Wasser, wor­ in ein Idol gewaschen wurde) angewandt.390 Zur Wahrheitsfindung wurden ferner Zeugen befragt, die vom Richter zur Wahrheit ermahnt391 und anschließend verei­ digt wurden. • In China konnte der Richter allenfalls in frühester Zeit die Entscheidung des Pro­ zesses einer Art Gottesurteil überlassen.392 Die Abnahme von Eiden war jedoch auch hier bekannt. • In Griechenland erwähnt Homer einen vor Gericht anhängigen Streit,393 der wahr­ scheinlich damit endete, dass der Beklagte eine strittige Zahlung beschwören 388  P.

Kaplony, Art. „Eid“ in: LÄ, Bd. I Sp. 1188 ff., 1189. II 102–123. 390  N. C. Sen-Gupta (1953), p. 63 ff. 391  Dabei pflegte der Richter darauf hinzuweisen, dass der Zeuge mit einem Mein­ eid seine Ahnen in die Hölle stürze – eine uralte Drohung, die von den brāhmanischen Rechtslehrern aufgenommen wurde, als sie das gerichtliche Verfahren auf eine feste Grundlage stellen wollten (vgl. W. Ruben, 1968, S. 103). 392  W. Vogel (1923), S. 78. 393  Homers Schilderung (Ilias XVIII 497  ff.) lautet in der Übersetzung von J. H. Voss: „… es hatte ein Hader Dort [auf dem Marktplatz] sich erhoben, zwei Männer lagen im Streit um die Süh­ nung Eines getöteten Manns. Es beteuerte dieser dem Volke, Alles hab‘ er bezahlt, doch leugnete jener die Zahlung. Beide heischten, den Streit vor dem kundigen Richter (ίἵστωρ) zu enden. Beiden lärmte die Menge, geteilt sie begünstigend, Beifall. Herolde hielten indessen das Volk in Ordnung. Die Greise Saßen umher im heiligen Kreis auf geglätteten Steinen, Hatten in Händen die Stäbe der heilig tönenden Boten, Sprangen mit ihnen dann auf und redeten wechselnd ihr Urteil. Zwei Talente Gold aber lagen inmitten des Kreises, Dem von den Männern bestimmt, der das Recht am geradesten spräche.“ Bei den „zwei Talenten Gold“ scheint es sich um die Summe zu handeln, welche die unterlegene Partei an den Richter zu zahlen hatte. Diese Auslegung würde ihr Pendant in einer Vorschrift des hinduistischen Rechts finden, wonach der im Rechts­ streit vor dem König Unterlegene einen Betrag zu zahlen hatte, welche der Streit­ summe entsprach. 389  Yājñavalkya



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I493 musste.394 Daneben akzeptierte das älteste Recht wahrscheinlich auch den Zwei­ kampf als Beweismittel, bei dem Zeus dem im Recht Befindlichen unsichtbar bei­ stand.395 Und in der Antigone des Sophokles erbieten sich die Wächter, „glühendes Eisen mit Händen aufzunehmen, durch Feuer zu schreiten und Eide bei den Göttern zu leisten“, dass nicht sie den Polyneikes, den Bruder der Antigone, entgegen dem königlichen Verbot bestattet hätten.396 In geringeren Streitfällen waren, wie man annimmt, auch lokale Gottheiten imstande, die Gerechtigkeit herzustellen.397 Aus­ kunft über das später übliche gerichtliche Verfahren erhalten wir aus dem Stadt­ recht von Gortyn. Dort ist von einem ‚Beweisurteil‘ die Rede, dem offenbar ein Überzeugungseid zugrunde lag, daneben von Urteilen, die lediglich auf Zeugen­ aussagen gestützt sind, wenngleich unklar bleibt, ob schon die Zahl der Zeugen den Richter ‚überzeugen‘ konnte oder erst der von ihnen geleistete Eid.398 Etwa gleichzeitig verbot das attische Recht, das Urteil allein auf den Eid einer Partei oder den ihrer Zeugen zu stützen und die Sanktion gegen den Meineidigen der Gottheit zu überlassen. Stattdessen stellte es beiden Parteien anheim, ob sie selbst einen Eid leisten oder (auch) die Gegenpartei zum Eid auffordern wollten. Schwo­ ren beide Parteien, oblag es einem Gremium von 51 Bürgern (Epheten) zu befin­ den, wessen Eid der bessere sei.399 Noch später wurde die Eidesleistung überhaupt nur als eine das Verfahren einleitende Formalität betrachtet.

• In Rom wurde die Ableistung eines Eides für unabdingbar nur beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge gehalten und dann mit einer Opferhandlung und einer Verfluchungsformel für den Fall des Vertragsbruchs verbunden. Daneben konnte der Eid vor Gericht u. U. eine – manchmal sogar streitentscheidende – Rolle spie­ len.400 Für eine ehemalige Verschränkung zwischen Recht und Religion spricht, dass ein Oberpriester lange Zeit Schiedsrichter nicht nur in göttlichen, sondern 394  Dies freilich nur, wenn man der Übersetzung von J. H. Voss folgt. Bedenken dagegen bei A. Hofmeister (1880), der mit guten Gründen der folgenden Übersetzung den Vorzug gibt: „… Der eine gelobte, alles zu geben, zum Volk sich wendend, der andere aber weigerte sich, irgendetwas zu nehmen.“ Danach handelt es sich um die Sühnung eines Mordes, welche der eine durch Zahlung zu begleichen wünscht, wäh­ rend der andere dies ablehnt, um sich das Recht zur auf Blutrache zu wahren. In diesem Sinne auch J. H. Lipsius (1905), S. 4 Fn. 7. 395  Eine Andeutung findet sich bei Homer, Il. XXIII 553 f. 396  Sophokles, Antigone, v. 264 ff. 397  Hesiod, WuT 248 ff.: „Denn nah sind unter den Menschen die Götter, um zu schauen, wer alles auf krummen Wegen des Rechtes auftreibt einer den andern, die Vorsicht der Götter missachtend. Dreißigtausend sind es auf reichlich nährender Erde, Wächter des Zeus, unsterbliche, über die sterblichen Menschen.“ Insbesondere meldet Dike jede Rechtsbeugung durch bestochene Richter ihrem Vater Zeus, damit dieser das ganze Volk den Frevel büßen lässt. 398  Vgl. col. I und III. Ferner G. Thür (1996). 399  Antiphon VI 16. Über das auch bei den Griechen vorkommende Gottesurteil vgl. R. Hirzel (1902), S. 176 f. Warum sollten dem Gremium 51 Bürger angehören? Weil die krumme Zahl eine Stimmengleichheit bei der Auszählung ausschließen sollte oder weil sie die Mitwirkung des Königs beim Blutgericht berücksichtigte (J. H. Lipsius, 1905, S. 18)? 400  Vgl. oben G 4 k.

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neben dem König auch in menschlichen Angelegenheiten war. Die Pontifices hat­ ten nämlich parallel zum Rechtsgesetz ein Moralgesetz entwickelt, wonach (auch) sittliche Verfehlungen mit religiöser Strafe zu belegen seien.401

Insgesamt weist somit die vorstehende Übersicht einerseits auf die enge Verbindung zwischen Recht und Religion in der frühen Antike hin, andrer­ seits aber auch auf Anzeichen, dass die Verbindung nicht von Dauer sein werde. Vor allem in Griechenland können wir bereits die allmähliche Lösung des Rechts aus der Religion als Übergang von θέμις (ἱερὰ καὶ ὅσια) zum δίκαιον beobachten. Und ab dem 6. Jh. v. u. Z. wuchs hier die Bedeutung des Menschen so weit, dass er selber zum Maß aller weltlichen Dinge wurde und von nun an das Verhältnis nicht mehr zu den Göttern, sondern zu Seinesglei­ chen das Hauptproblem war. Das Mittel zur Lösung des Problems blieb dann das (staatliche) Recht − jedoch nicht mehr als göttliche Stiftung, sondern als menschliches Willenswerk. d) Politische Faktoren Sobald das Recht sich aus der Herrschaft der Religion befreit hatte, geriet es in den Bann der Politik. Zunächst begriff auch diese das Recht noch als Teil der göttlichen Weltordnung und erwartete folglich, dass die Götter seine Verletzung mit Fluch und Strafe ahnden werden. Denn in einer Welt, worin alles nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung verläuft, musste denjenigen Fluch und Strafe treffen, der durch den Bruch einer verbindlichen Norm die Weltordnung aus dem Lot gebracht hatte. Kleinere, weniger stark differenzie­ rende Gruppen sahen darin allerdings die Gefahr, dass die Götter die Voll­ streckung der Strafe nicht auf den Missetäter beschränken, sondern es auf die Gruppe, der er angehört, ausweiten könnten. Deshalb grenzten sie den Mis­ setäter von sich aus, verstießen ihn oder verlangten, dass er ebenso eigen­ mächtig, wie er Unrecht getan, nunmehr durch Buße die Götter versöhnen solle. Doch je größer die Gruppen und je differenzierter ihre inneren Verhält­ nisse wurden, desto mehr taten sie diese Auffassung als obsolet ab. Wenn unter tausend Mitgliedern einer Gemeinschaft ein einziges Mitglied Unrecht verübt hatte, warum sollte dann die Strafe dafür auch die übrigen treffen (es sei denn, dass ausgerechnet der Herrscher ein Übeltäter war)? Infolgedessen entzog man den Göttern die Zuständigkeit für die Sanktion des Bruchs irdi­ scher Rechtsnormen und unterstellte diese der Gestaltungshoheit der Politik. Normenerlass wie Normensanktion wurden zu Aufgaben des Herrschers, und nur die Erfüllung der Aufgaben war eine Pflicht, über die die Götter wach­ ten. Die Herrscher akzeptierten das umso lieber, als die eigene Bestrafung des Unrechts ihrem persönlichen Ansehen zugutekam: Sie waren es, welche 401  Strittig,

vgl. M. Kaser (1996), § 3 III 1 (S. 32).



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I495

die Dornen aus dem Fleisch der Gesellschaft rissen, die Verbrecher züchtig­ ten und für Gerechtigkeit sorgten, indem sie die Schwachen vor den Starken und die Demut der Armen vor dem Übermut der Reichen bewahrten.402 Indes lag das rechtspolitische Problem weniger im Vollzug der geltenden Normen, für den lediglich ein gut funktionierender Staatsapparat erforderlich war, als vielmehr in deren rechtsethischer Legitimation. Solange die Götter dieses Geschäft übernommen hatten, waren die Herrscher davon freigestellt. Doch sobald den Normen die religiöse Wurzel abhanden kam, bedurften ihre Setzung weltlicher Legitimation, und um sie wurde im Folgenden gerungen. In Athen fand man, nachdem man die Existenz einer transzendenten Götter­ welt und von ihr gesetzter Maßstäbe für eine menschliche Ordnung aus dem Repertoire gestrichen hatte, keinen allgemein anerkannten Ersatz.403 In Rom unterschied man zwar sehr genau zwischen ius und fas, suchte aber nicht nur hinter fas, sondern auch hinter ius nach einer transzendenten Macht, der man die Legitimation zuschreiben konnte. Man fand sie schließlich in der iustitia (‚Gerechtigkeit‘) und personifizierte sie, wie in Rom üblich, als Göttin, hatte damit jedoch kaum mehr als das erlösende Wort gefunden, während die Göt­ tin selbst fleisch- und blutlos blieb. In die Praxis führte man denn auch lieber die bona fides (‚Treu und Glauben‘) ein. Doch erweckte man so nur die ‚guten Sitten‘ des römischen Volkes zu neuem Leben,404 auf die man die Legitimation des Rechts gerade nicht stützen wollte, weil die Sitten auf die Bewahrung des Alten angelegt waren,405 während das Recht vor allem das Neue gestalten und folglich dort ordnend tätig werden sollte, wo das mensch­ liche Treiben mangels religiöser oder sittlicher Weisungen in den Strudel offen ausgetragener Gegensätze geraten war. Das von der Politik gesetzte Recht bedurfte also einer neuen Legitimationsbasis. Und eben hier lag in der Folgezeit das Problem. Weil naheliegend, versuchte man, die Legitimation der Staatstätigkeit ins­ gesamt und damit auch die der Rechtssetzung aus der Natur des Menschen als eines politischen Wesens herzuleiten. Zentralbegriff war alsdann zwar wiederum die Gerechtigkeit, doch fand diese ihren Sitz jetzt nicht mehr in der Seele eines individuellen Herrschers, sondern in der politischen Verfas­ sung des Staates als ihrem vergrößerten Abbild. Beiden, Mensch und Staat, so hieß es, sei für ihr Handeln die Gerechtigkeit als höchstes sittliches Ziel vorgegeben, und deshalb müssten beide einander beistehen, damit es erreich­ 402  Vgl.

oben bei Fn. 35 und 68. oben G 3 ε. 404  Im deutschen Recht kommt das genetische Verhältnis noch in der Formulie­ rung des § 242 BGB zum Ausdruck, wonach vertragliche Leistungen gemäß „Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte“ zu bewirken sind. 405  Im Englischen wird ‚Sitte‘ deshalb gern mit ‚tradition‘ übersetzt. 403  Vgl.

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bar sein soll. Die Führungsaufgabe hatte Platon, der den ersten Entwurf einer gerechten politischen Ordnung vorlegte, eindeutig beim Staat gesehen: Die­ ser solle die allmächtige Erziehungsanstalt seiner Bürger sein, geleitet von den vollkommensten seiner Mitglieder, den Philosophen. Denn „solange nicht entweder die Philosophen Könige werden in den Staaten oder die jetzt so genannten Könige und Gewalthaber wahrhaft und gründlich philosophie­ ren und also dieses beides zusammenfällt, die Staatsgewalt und die Philoso­ phie, … eher gibt es keine Erholung von dem Übel für die Staaten, und ich denke auch nicht für das menschliche Geschlecht.“406 Aber bereits Aristoteles hatte sich von so hohen Worten nicht blenden lassen. Als Realist erkannte er den unauslöschlichen Widerstreit der von unterschiedlichen Interessen getrie­ benen politischen Kräfte. Deshalb versuchte er, diese Kräfte miteinander in jenes natürliche Gleichgewicht zu bringen, das überall auf der Welt für Be­ stand sorgt oder zumindest verhindert, dass offener Kampf zwischen ihnen entbrennt. Als beste Staatsformen erschienen ihm diejenigen, die auf das „gemeine Beste“ zielen: die Monarchie des königlichen Mannes, die Aristo­ kratie der Besten aus dem Volke und die Volksherrschaft der gemäßigten Bürger. Als Entartungen sah er dagegen die Staatsformen an, die den Sonder­ interessen Einzelner oder Gruppen Vorschub leisteten: die Tyrannis, die Oli­ garchie und die extreme Volksherrschaft (Demokratie, Pöbelherrschaft).407 Das Königtum hielt Aristoteles dort für die beste Herrschaft, wo eine vollkommene Persönlichkeit zur Verfügung steht und bereit ist, den Staat zu lenken. Andernfalls sei die Aristokratie die bessere Staatsform, wo einige herausragende Bürger sich die Er­ füllung der Staatsaufgaben teilen. Das Volk schließlich solle nur dort die Herrschaft übernehmen oder jedenfalls an ihr beteiligt werden, wo es mehrheitlich aus tugend­ haften Bürgern besteht. Solche Tugendhaftigkeit könne man vermuten, wo die meis­ ten Bürger weder sehr reich noch sehr arm sind; denn dann „begehren sie nicht fremden Besitz, wie die Armen, noch begehren andere den ihrigen, wie dies den Reichen gegenüber geschieht“408. In der Regel sei mithin diejenige staatliche Ge­ meinschaft die beste, worin der bürgerliche Mittelstand das Sagen hat und den Kampf aller gegen alle verhindert.409

Aber kann wirklich eine überragende Persönlichkeit (Monarchie), eine kleine Elite (Aristokratie) oder die bürgerliche Mittelschicht eines Volkes (gemäßigte Demokratie) die Gesetze legitimieren, die ein Staat seinem Volke gibt? Wodurch ist denn gesichert, dass die staatlichen Gesetze dem „gemei­ 406  Platon,

Der Staat 473 c/d (Übersetzung von F. Schleiermacher). Politik III 7: 1279a. 408  Aristoteles, Politik IV 11: 1295b. 409  Aristoteles, Politik IV 11: 1295b/1296a: „Denn je nachdem, auf welche Seite er sich wirft, gibt er den Ausschlag und verhindert so das Übergewicht des Extrems. … Denn wo die einen sehr viel besitzen, die anderen aber nichts, entsteht entweder die äußerste Demokratie oder maßlose Oligarchie oder auch auf dem Wege dieser beiden Extreme die Tyrannis.“ 407  Aristoteles,



H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts I497

nen Besten“ dienen? Und was ist überhaupt das „gemeine Beste“? Darf man dessen Definition dem Willen eines genialen Einzigen, einer Minderheit Auserwählter oder der ökonomisch gesunden Mittelschicht eines Volkes überlassen? Aristoteles beantwortete diese Fragen aus den Wertvorstellungen seiner Zeit und seines Landes heraus und rechtfertigte als Herrschaft der Besseren über die Schlechteren die Versklavung des besiegten Volkes durch das siegreiche,410 die Auslöschung der niederen barbarischen Kultur durch die zivilisatorisch höherstehende und die Beherrschung der Frauen durch die Männer.411 Aber nicht einmal seine Zeitgenossen hielten diese Antworten für überzeugend, und vollends die Nachwelt brach über sie den Stab. Stattdessen suchte man weiterhin nach zeit- und raumentbundenen Werten und gab der Suche deshalb eine Chance, weil man glaubte, dass dem Lauf der Welt von ihrem Schöpfer deren Gewinnung zumindest als Richtung vorgegeben sei. Denn auf dieser Grundlage ließ sich manches derzeit Wirkliche zumindest als das in itinere Vernünftige rechtfertigen,412 und die Verwirklichung eines noch vernünftigeren Zustands ließ sich dann als Aufgabe künftiger Generati­ onen begreifen.413 Gleichwohl blieb die Antwort auf die Frage, ob eine hy­ postasierte Weltvernunft die Entwicklung lenke, letzthin dem Glauben vorbe­ halten; denn die Ungewissheit hierüber konnten die Wissenschaftler nicht beseitigen. Und erst recht blieben sie die Antwort auf die Frage schuldig: ob es das „gemeine Beste“ überhaupt gibt, wo doch so viele Meinungen darüber im Umlauf sind? Auch heute noch wird diese Frage kontrovers diskutiert. Doch die inzwischen ge­ machten geschichtlichen Erfahrungen liefern allenfalls Gründe für Resignation. Nicht nur der deutsche Nationalsozialismus, der im Innern diejenigen mordete, die nicht seinem Menschenbild entsprachen, und der nach außen einen Weltkrieg entfesselte, der mehr als 60 Millionen Menschen das Leben kostete, sondern auch die russische und die chinesische Revolution haben Schreckensherrschaften hervorgebracht: die eine ein System, worin man Millionen Menschen „konterrevolutionärer“ Absichten verdächtigte und entweder hinrichtete oder in Sklavenlager verschleppte;414 die ande­ re ein Regime, das jeden, der im Verdacht „bürgerlicher“ Gesinnung stand, einsperrte oder liquidierte, zumindest aber unter Polizeiaufsicht stellte.415 In liberalen Staaten wird die Findung (oder Erfindung) des „gemeinen Besten“ zwar dem Meinungskampf 410  Siehe auch Euripides, Iphigenie in Aulis, 1400 f.: „Griechen diene stets der Fremde; wir sind Freie, Knechte sie.“ 411  Aristoteles, Politik I 5: 1254b. 412  Sowohl für den Kaiser Marc Aurel als auch für den Sklaven Epiktet hieß es daher, sich mit der ihnen zugewiesenen Lage als der seinerzeit dem göttlichen Willen entsprechenden abzufinden. Vgl. A. Verdross (1963), S. 47, 66 f. 413  M. T. Cicero, De officiis I, 7. Cicero sah diese Aufgabe allerdings als vom rö­ mischen Staat und seiner Rechtsordnung bereits aufs Vollkommenste gelöst an. 414  A. I. Scholzenizyn (1974). 415  R. Bao/J. Pasqualini (1975); Z. Zhao (2009).

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der politischen Parteien überlassen – aber mit dem Ergebnis, dass jede Partei, da sie eine besondere Vorstellung davon hat, nur auf genügend Macht wartet, um ihre Vor­ stellung per Gesetz umzusetzen.416 Die Philosophen und Soziologen wollen, weil von Natur aus machtlos, stattdessen seine Findung einem machtlosen Verfahren überlas­ sen und erkennen darin eine „Selbstlegitimation des Systems“417. Ob dabei aber mehr herausspringt als eine Selbstlegitimation der Philosophen und Soziologen, bleibt skeptisch zu beurteilen.

Erforderlich ist dennoch eine politische Antwort, welche sich auf die Be­ dingungen der Möglichkeit einlässt, wie man zu einem wenigstens zeit- und raumgebundenen „gemeinen Besten“ gelangen kann. Weil größere Men­ schenmengen ohne die ständige Zufuhr kultureller Ordnungsnormen letzthin zur Anarchie verdammt sind – denn sie tragen den Trend zur Erhöhung von Unordnung (2. Entropiegesetz) in sich418 –, muss man eine Macht bestim­ men, welche dem Volk bzw. Staat einen ‚größtmöglichen Nutzen‘ bringt, der nicht durch einen entsprechenden oder gar noch größeren Schaden an anderer Stelle aufgewogen wird. Und diese Ordnung muss die Macht dem Volk in dem Maße auferlegen, wie sie sich mit seinen ‚guten Sitten‘ verträgt, sowie in einer Rechtsordnung so weit festschreiben, wie diese sie zum ‚gemeinen Besten‘ durchsetzen soll. In Deutschland hat sich dafür gegenwärtig ein Zu­ sammenspiel zwischen den ordnenden Kräften eines politischen Regimes, den beratenden von Wirtschaftsinstitutionen und den kontrollierenden der Verfassungsgerichte mit einigem Erfolg durchgesetzt, allerdings ohne dass deshalb dieser Weg zum ‚gemeinen Besten‘ als der einzige und schon des­ halb beste für gesichert gelten kann. Aber ein Mehr ist gegenwärtig nicht in Sicht und steht zumindest nicht auf der ‚Tagesordnung‘. e) Zusammenfassung aller Faktoren, die zur Rechtsgenese beigetragen haben Blickt man auf die Gesamtheit der Faktoren, die zur Genese von Recht als oberstem sozialem Steuerungssystem beigetragen haben, so heben sich psy­ chogene und exogene Faktoren als zwei große Gruppen heraus, von denen allerdings die exogenen die weitaus unterschiedlicher zusammengesetzte Gruppe bilden. Sie können deshalb nochmals die Untergruppen der soziolo­ gischen, politologischen, ökologischen und religiösen Faktoren unterteilt werden, ohne dass damit freilich bereits eine abschließende Einteilung er­ reicht wäre. Indessen ist eine solche Einteilung auch nicht besonders wichtig,

C. Schmitt (1934a), S. 228. Luhmann (1969), S. 155 ff., Zitat S. 173. 418  Zum Entropiegesetz vgl. unten J 5 f bb. 416  Vgl. 417  N.



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da bei der Entstehung und Entwicklung von Recht regelmäßig Faktoren aus mehreren Untergruppen zusammengewirkt haben. (α) Den psychogenen Faktoren verdankt das Recht insbesondere seine Entstehung und seine weitere Entwicklung. Die übrigen Faktoren bildeten hierfür lediglich die Randbedingungen. Zentraler Faktor für die Entwicklung von Recht war das Streben nach ei­ ner gerechten Welt. Dieses Streben betraf die optimal gerechte Befriedigung sowohl der individuellen als auch der gemeinschaftlichen Bedürfnisse. Die Art der Bedürfnisse und ihrer Befriedigung wandelte sich freilich im Laufe der Zeit. Wir können deshalb auch drei Phasen der Rechtsentwicklung unter­ scheiden: •• In der ersten Phase, die noch durch das Vorherrschen vital-organischer Lebens- und Überlebensbedürfnisse geprägt wurde, lebten die Menschen in kleinen nomadischen Horden als Wildbeuter zusammen. Hier regelte ein pränormatives Brauchtum den Umgang miteinander und auch die Be­ friedigung der Bedürfnisse. Die Art des Brauchtums wurde allerdings schon nicht mehr genetisch, sondern kulturell übermittelt, weshalb die Bräuche sich überall ein wenig unterschieden. Übereinstimmend wurden sie jedoch überall auf Anordnungen von Göttern oder (Ahnen-)Geistern zurückgeführt und hierdurch in ihrer Geltung legitimiert. Götter und Ah­ nengeister überwachten auch danach noch ihre Beachtung im Umgang miteinander, zürnten, wenn man auf sie vergaß, und sandten notfalls Un­ heil vom Himmel herab, damit man ihrer gedachte und diejenigen bestraf­ te, die ihren Bräuchen zuwidergehandelt hatten. •• In der zweiten Phase wurde die tiergleich aneignende Nahrungssuche ab­ gelöst durch die produzierende und das nomadische Umherziehen durch die sesshafte Lebensform als Ackerbauern und Viehzüchter. Man siedelte jetzt in festen Dörfern, verwandtschaftlich aufgeteilt in Familien und Sip­ pen. Größere Einheiten waren die Clans, noch größere die Stämme. Auf­ grund ihrer produktiven Arbeit und engen Nachbarschaft entwickelten die Menschen zwar individuell unterschiedliche, aber der Gemeinsamkeit der natürlichen Umgebung und des sozialen Umfelds angepasste vitale und soziale Bedürfnisse, aber darüber hinaus auch erste spezifisch kulturelle Interessen. Normen betrafen nunmehr zum einen die Verteilung von Grund und Boden sowie deren Schutz gegen fremde Eindringlinge, die Arbeits­ teilung innerhalb der Familien und der Hausgenossenschaften sowie den Einsatz von Techniken zur Erleichterung der Arbeit im Haus und auf den Feldern; zum anderen das soziale Zusammenleben in der Sippe und im Dorf, das nachbarschaftliche Verhältnis zueinander und die Ausübung der Rechte und Pflichten, die im größeren Raum mit bestimmten sozialen Rollen verbunden waren. Dabei schälte sich erstmals eine klare Unter­

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scheidung zwischen Seins- und Sollensnormen heraus: Beide Arten von Normen zielten zwar auf den Nutzen für den, der ihnen gehorchte; aber nur den Seinsnormen waren Sanktionen gegen ein Zuwiderhandeln imma­ nent: Wer sein Vieh nicht pflegte, dem starb es weg; wer seine Äcker nicht wässerte und düngte, dem verdorrte das Getreide. Den Sollensnor­ men fehlte diese immanente Sanktionierung; ihre Verletzung konnte bis­ weilen für den Verletzer sogar vorteilhaft sein. Daher mussten für Zuwi­ derhandlungen Sanktionen festgesetzt werden. Vor den Göttern und Ahnen, von denen jetzt auch die Sollensnormen stammten, war die Gemeinschaft verpflichtet, solche Sanktionen zu bestimmen und sie bei Zuwiderhand­ lungen auch zu vollstrecken. Erfüllte sie diese Pflichten nicht, dann traf nicht nur den Täter, sondern auch die Gemeinschaft die Verantwortung sowie die Strafe, welche die Himmlischen herabsandten: etwa eine Dürre, welche die Natur vertrocknen ließ, oder eine Epidemie, an der die Men­ schen reihenweise starben. Innerhalb der Clans und der Stämme wurde die Einhaltung der Sollensnormen von Anführern überwacht, Vergehen gegen die politische Ordnung darüber hinaus von den Regenten (Häuptlingen oder Königen) bestraft. Beratend tätig waren regelmä­ ßig die Priester, die spezielle Beziehungen nicht nur zu den Fruchtbarkeitsgotthei­ ten pflegten, von deren Gunst die jährlichen Ernten abhingen, sondern auch zu den Göttern, die über die soziale Sittenordnung wachten. Gab es einen höchsten Gott, so war dieser auch der Wächter über die höchsten Ordnungsnormen: diejenigen des (Proto-)Rechts, die neben die der Sitte traten und alsbald zur beherrschenden Ordnungsmacht aufstiegen.

•• In einer dritten Phase wurde aufgrund der ständig steigenden Bevölke­ rungszahl vor allem das Zusammenleben in Städten vorangetrieben. Die größte Stadt war zumeist die Hauptstadt eines (Proto-)Staates. Sie um­ schloss eine Bevölkerung, die außer dem Herrscherhaus und einer treu ergebenen Beamtenschaft u. a. reiche Kaufleute und hoch spezialisierte Handwerker umfasste. Nahrung für sie alle kam aus dem Umland, von wo die Bauern ihre Ernteprodukte lieferten und sie gegen städtische Erzeug­ nisse eintauschten. Gehandelt wurde auf Märkten, auf denen auch berufs­ mäßige Händler von nah und fern ihre Waren feilhielten. Das allgemeine Norm- und das spezielle Rechtsbewusstsein nahmen jetzt einen raschen Aufschwung; es entstand sogar eine Vielzahl juristischer Berufe (Beamte, Richter, Anwälte, Schreiber). Das Recht löste sich infolgedessen von sei­ nem heiligen Ursprung und wandte sich zum einen den Gefährdungen in der anonymen Welt der Städte und zum anderen dem hier blühenden Han­ del zu: Es strafte jetzt vor allem die heimlich begangenen Delikte, deren Täter in der Menschenmasse der Städte untertauchten; und es sicherte die Gerechtigkeit im wirtschaftlichen Handel mittels abstrakter Normen ent­ sprechend der Anonymität der Beteiligten.



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Soziologische Faktoren beeinflussten zunächst den Übergang von der no­ madischen Lebensweise zur Sesshaftigkeit: Während die Ruheplätze der Wildbeuter von denen der Tiere sich noch nicht wesentlich unterschieden, spiegelten die stabilen Siedlungen der bäuerlichen Bevölkerung bereits eine typisch menschliche, eben bäuerliche Lebensweise wider sowie die Entwick­ lung zu größeren sozialen Einheiten bei gleichzeitiger Differenzierung ihrer Struktur. Die Gründung von Städten trennte dann erstmals Nahrung produ­ zierende von Nahrung verbrauchenden Bevölkerungsgruppen und erwies zu­ sätzlich die Notwendigkeit einer Vermittlung zwischen beiden Teilen durch den neuen Stand der Händler. Gleichzeitig bildeten die Stadtgründungen aber auch die Grundlage für eine immer stärkere Stratifizierung der Gesellschaft sowie für eine immer stärker zentrale politische Ordnung anstelle der gleich­ mäßig übers Land verteilten verwandtschaftlichen. Das Recht trug insbeson­ dere der stärkeren Anonymität der sozialen Beziehungen Rechnung, indem es sowohl vom sozialen Status der Adressaten seiner Normen als auch von den Besonderheiten der sozialen Situationen ihrer Anwendung abstrahierte. Gleichzeitig entstand freilich auch das Bedürfnis, das Gesetzesrecht um der individuellen Gerechtigkeit willen durch eine an die überkommenen Sitten gebundene Billigkeit zu ergänzen. Deshalb war es insgesamt konsequent, dass die legitimatorische Bindung des Rechts an die Götter zunächst beibe­ halten wurde und man annahm, dass die Götter bereit sind, dort helfend in die Rechtsverwirklichung einzugreifen, wo dem menschlichen Erkenntnis­ vermögen die Kraft versagt. Der Stratifizierung der Bevölkerung in den dicht besiedelten Ländern und Städten trugen auch politische Faktoren durch eine zentralisierte (proto-) staatliche Organisation Rechnung. Alternativ konnte diese durch eine (in unterschiedlichen Variationen mögliche) Autokratie, eine Aristokratie oder eine Demokratie als Herrschaftsformen gestützt werden. Das Recht bemäch­ tigte sich alsdann der politischen Anstöße: teils beförderte es ihre Wirkung, teils stellte es sich ihnen ausgleichend entgegen – beides mittels machtge­ stützter Ansprüche und Pflichten, die dann durch soziale, religiöse oder staatliche Sanktionen, teilweise mit Zwangsfolgen, verstärkt werden konnten. (β) Endogene Faktoren: Aus sich heraus hatte, wie die Geschichte lehrt, das Recht Kraft genug, •• um sich auf immer neue Gebiete zu erstrecken, •• um sich auszudifferenzieren und damit die Komplexität seiner Strukturen zu erhöhen, •• um Prinzipien zur Integration seiner Normen in höhere Einheiten zu ent­ wickeln, •• um mittelbar die Komplexität einer sozialen Umwelt entweder zu erhöhen oder zu reduzieren.

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Quellen seiner Kraft waren angeborene sowie kulturell entwickelte Orga­ nisationskräfte. Mit ihrer Hilfe gelang es dem Recht selbst innerhalb von Großgesellschaften, die zu seiner Genese führenden externen Faktoren in eine allgemeine Ordnung einzubinden: Herrschaftsformen durchzusetzen, individuelle Eigen- und Vertragsbereiche abzusichern, Verfügungs- und Ab­ wehrrechte zuzuteilen, staatliche Zugriffsbefugnisse auf bürgerliche Rechts­ positionen einerseits zu begründen, andererseits auszuschließen oder zu be­ schränken, intrasozialen Gefahren für Rechtsgüter und rechtliche Institutio­ nen mittels Strafandrohungen zu wehren, einem intersozialen Warenverkehr und Dienstleistungen eine verbindliche Grundlage zu geben, u. a. m. Dass die (quantitative) Erstreckung des Rechts auf neue Gebiete mit einer (qualitativen) Erhöhung der Komplexität einherging, war dann nicht nur die Folge der sich ständig verstärkenden Fähigkeit des Rechts, sein Umfeld an leitende Grundsätze anzupassen, sondern teilweise auch umgekehrt die Folge von Anstößen aus einem Umfeld, dessen augenscheinliche Gleichheit zu gleichen rechtlichen Regelungen einlud. So erließ einerseits Hammurapi in Mesopotamien detailreiche Rechtsregeln, um die sozialen Verhältnisse der Kleinbauern an seine als gerecht empfundenen sozialen Grundsätze anzupassen,419 andererseits band der ägyptische Staat seine Rechtsnormen an Veränderungen der Umwelt, indem er die bäuerliche Abgabenpflicht für Teile der Ernte von den Pegelständen des Nils abhängig machte. Akzeptanz für die Rechtsnormen ließ sich in beiden Fällen schon deshalb erwarten, weil ihnen Gleichheitsvorstellungen zugrunde lagen. Denn die endogene Kraft des Rechts lag nicht zuletzt darin, dass es Gleichheit herstellte und dass deshalb selbst Unrechtsgleichheit leichter ertragen wurde als pure Willkür. Denn: „Ist es auch Unrecht, hat es doch Methode!“ 4. Autochthone Veränderungen Vorbemerkungen: Rechtsordnungen sind offene normative Systeme. Ihre Adressaten sind rechtsfähige Personen und Institutionen, denen unter gewis­ sen (in Normsätzen zusammengefassten) Bedingungen die Veränderung von realen Zuständen geboten (‚du sollst deine Verträge erfüllen‘), verboten (‚du darfst dich niemals vertragswidrig verhalten‘) oder gestattet (‚du darfst einen auf Dauer geschlossenen Vertrag kündigen‘) wird. Die ‚Internalisierung‘ ei­ nes Gebots erzeugt in Personen normalerweise einen Handlungsentschluss (Erfüllung des Vertrags), die ‚Internalisierung‘ eines Verbots das Aufgeben eines Handlungsentschlusses (gegen den Vertrag zu verstoßen), die ‚Interna­ lisierung‘ einer Erlaubnis die Aufgabe von Bedenken gegen einen Hand­ lungsentschluss (Kündigung des Vertrages). Psychologisch gesehen, verän­ 419  Vgl.

z. B. CH §§ 257 f., 261, 273 f.



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dern somit die Normen zuvor bestehende Neigungen oder Bedenken von Mitgliedern eines sozialen Systems und wirken dadurch auf deren Verhalten ein. Sie verändern dadurch aber nicht notwendig die Komplexität des sozia­ len Systems. Vielmehr bleibt diese erhalten, solange sich weder die Zahl der Beziehungen noch die Intensität ihrer rechtlichen Normierung verändert. Jede Veränderung der Zahl der Rechtsbeziehungen oder der Intensität ihrer Normierung beeinflusst dagegen die Soziogenese des Rechts. Zahlenmäßige Veränderungen innerhalb der Weltbevölkerung haben darauf dagegen keinen unmittelbaren Einfluss. Denn einerseits kann dieselbe Zahl von Menschen einmal unter sehr einfachen rechtlichen Verhältnissen leben, ein andermal unter sehr viel komplexeren und intensiveren. Und andererseits kann sowohl eine Erhöhung als auch eine Verminderung des rechtlichen Komplexitätsoder Intensitätsgrads soziogenetisch auch dann wirksam sein, wenn die Be­ völkerungszahl sich nicht verändert. Büßt beispielsweise eine gleichbleibende Bevölkerungszahl innerhalb eines sozialen Systems die ihnen innewohnende (prärechtliche) Organisationskraft ein, dann muss, was zuvor natürlich geord­ net war, nunmehr vom Recht geordnet werden, und es kommt dann zu einem soziogenetischen Fortschritt im Recht. Im Folgenden wird es nicht um die (schwer messbare, dennoch leicht ab­ schätzbare) quantitative Entwicklung von Rechtsbeziehungen im frühen Al­ tertum gehen, sondern um die Veränderung ihrer Intensität. Diese Verände­ rung fand vor allem im Innern der Menschen statt: in ihrem Gefühl für das Ausmaß rechtlicher Gebundenheit und in ihrem Bewusstsein der Ursachen dafür. Sie verlief soziogenetisch von (prä-)normativen Zuordnungen (‚a ge­ hört zu b‘)420 über normative Verbindungen (‚sowohl a gehört zu b als auch b zu a‘) zu Verschmelzungen in normativen Einheiten (‚a und b gehören zu ab‘), und sie kam darüber hinaus in der Entstehung von rechtlichen Instituti­ onen zum Ausdruck: beginnend mit (prä-)normativen Zuordnungen (‚Adjunktionen‘), z. B. der Erteilung von Aufgaben an eine Gruppe von Individuen (etwa an die Ältesten eines Stammes), sich fortsetzend in normativen Verbin­ dungen (‚Konjunktionen‘), z. B. von gleichen Aufgaben an gleiche Individuen (etwa ‚Aufgabenbereich der Ältesten‘), und endend in Verschmelzungen zu normativen Einheiten (‚Interpenetrationen‘), z. B. zu rechtlichen Institutio­ nen (etwa ‚Ältestenrat‘), die, sofern im Rechtsleben als selbstständig hand­ lungsfähig anerkannt, zusätzlich eine eigenständige Bedeutung als ‚juristische Einheiten‘ (z. B. als ‚Juristische Personen‘) erhielten.

420  Die Buchstaben können sowohl Personen als auch Sachen, sowohl Handlun­ gen als auch (reale oder ideale) Zustände bezeichnen.

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Anhand von einigen Beispielen will ich solche Entwicklungen belegen, wobei ich in Bezug auf die älteste Zeit freilich weitgehend auf Vermutungen angewiesen bin. a) Adjunktionen Soziale Beziehungen zwischen Personen sowie zwischen Personen und Sachen wurden anfangs vermutlich nur durch die Anerkennung von fakti­ scher Zugehörigkeit begründet. Beipielsweise erschöpfte sich die Beziehung zwischen einer Person und einer Sache, die wir heute als ‚Besitz‘ oder ‚Ei­ gentum‘ bezeichnen, vermutlich in der Anerkennung einer Machtbeziehung, die es einer Person gestattete, „mit einer Sache nach Belieben [zu] verfahren und andere von jeder Einwirkung aus[zu]schließen“ (ἄσσα μοί ἐστιν, meum esse, heute z. B. § 903 BGB). Entsprechend erschöpfte sich die Zusammen­ gehörigkeit von zwei Personen beiderlei Geschlechts, die wir heute als ‚Ehe‘ bezeichnen, anfangs vermutlich nur in der Anerkennung der sozialen Zuge­ hörigkeit eines Weibs zu einem Mann,421 weshalb er sich ihrer ebenfalls (fast) nach Belieben bedienen und andere vom Verkehr mit ihr ausschließen durfte. Ob die starke Anbindung der (schwächeren) Frau an den (stärkeren) Mann die Antwort auf eine im Vergehen begriffene Promiskuität innerhalb der Horden war, ist umstritten.422 Möglicherweise setzte sie sich durch, weil einzig auf diese Weise die grundsätzliche Gleichheit aller Männer innerhalb einer Horde ermöglicht und damit die Konkurrenz um Frauen beendet werden konnte – was insgesamt der Vitalität der Horde zugutekam. Genaueres ist aber nicht bekannt.

Der Charakter der Ehe als Zugehörigkeit der Frau zu einem Mann, die der Zugehörigkeit einer Sache zu ihrem Eigentümer vergleichbar war, wurde bis weit in die historische Zeit hinein beibehalten – in ihrer ursprünglichen (‚ro­ hen‘) Form allerdings hauptsächlich bei einigen ‚Naturvölkern‘, etwa den Komantschen,423 aber auch noch als matrimonium in Rom, praktiziert später jedoch nur noch in abgeschwächter Form. In Rom beispielsweise gehörte die Frau ihrem Mann nur noch zu gemäß allgemeinem Brauch, und der Brauch mäßigte das Herrschaftsverhältnis so weit, dass der Mann mit seiner Frau nicht mehr „nach Belieben verfahren“ durfte, sondern gemäß jenem Respekt, den er ihr als einem ihm anvertrauten Menschen schuldete.424 Verstieß er 421  Das neutrale Genus des Wortes ‚Weib‘ deutet möglicherweise noch auf die untergeordnete Geschlechtsrolle der Frau hin. 422  Vgl. oben F 3 β. 423  Vgl. oben F 2 a Zusatz 1. 424  So auch in Griechenland, wo ein Mann, der die Würde seiner Frau missach­ tete, sich der Rache ihrer Sippengenossen aussetzte und überdies riskierte, dass die Frau, ohne dass ihm ein Widerspruchsrecht zustand, in ihren alten Familienverband



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dagegen, schadete dies seinem Ansehen in der Gemeinschaft und brachte überdies die Brüder der Frau gegen ihn auf. Die soziale Horde war in frühester Zeit ebenfalls eine eher organisch als normativ geschlossene Einheit. Die Ursprünge ihrer Bildung liegen im Dun­ keln. Familien gehörten jedenfalls von Anfang an geschlossen zu ihr und waren faktisch, solange sie ihr zugehörten, fest an sie gebunden. Verließen einzelne Personen die Horde – sobald sie erwachsen waren, konnten sie das jederzeit –, verloren sie die Bindung, gleichzeitig aber auch die daraus flie­ ßende Sicherheit. Deshalb geschah das gewöhnlich nur, wenn sie in eine andere Horde wechselten; denn ohne Schutz hätten sie in der Wildnis nicht überlebt.425 Gingen einer Horde mehrere Mitglieder verloren, musste sie al­ lerdings versuchen, neue Mitglieder zu gewinnen, die sich zu ihren Bräuchen bekannten – was eine Art Gelöbnis erforderte; denn die Bräuche, die inner­ halb der Horden das Zusammenleben bestimmten, galten fast so unabänder­ lich wie Naturgesetze,426 und sie waren niemals mit den Bräuchen anderer Horden völlig identisch. Die Aufnahme neuer Mitglieder in eine Horde erfor­ derte daher, wenn nicht durch die Eingehung einer Ehe vermittelt, einen Beschluss, der i. d. R. zeremoniell gefasst werden musste und den man aus heutiger Sicht als einen normativen Vorgang begreifen kann.427 Innerhalb von Stammesgesellschaften bestand wahrscheinlich ebenfalls zuerst ein gleichrangiges Nebeneinander von Segmenten (hier: der Sippen und Clans), die sich in Urzeiten gebildet hatten und die später vor allem durch die Besiedlung eines einheitlichen Territoriums (quasi-)normativ zu­ sammengehalten wurden. Ein Ausscheren von Segmenten aus dem Stamm war zwar möglich, jedoch weitaus schwieriger als das Ausscheiden von Ein­ zelnen oder Familien aus einer Horde, weil es innerhalb des trennungswilli­ und unter die Rechte ihres vormaligen κύριος zurückkehrte, ohne dass dem Mann ein Widerspruchsrecht zustand. 425  Dagegen war der individuelle Wechsel von einer Horde in eine andere an der Tagesordnung. Hauptgrund war die Verheiratung von der Mädchen mit den jungen Burschen anderer Horden. Aber auch die jungen Burschen wechselten oft die Horde, um dort ein Mädchen zu heiraten. 426  J. Piaget (1954/1983), S. 212 ff., bezeichnet diese Einstellung als „moralischen Realismus“. Die im Brauchtum bewahrten Wertüberzeugungen erschienen dem Ein­ zelnen als so selbstverständlich, dass sich keiner Alternativen auch nur vorzustellen sich nicht einmal zu denken vermochte. 427  Man kann sich diesen Mitgliederwechsel auch wie den innerhalb eines Streichquartetts vorstellen. Scheidet dort ein Mitglied aus, verliert er ein für alle Male die Anbindung an das Fluidum dieses Quartetts. Umgekehrt müssen die verbliebenen Mitglieder versuchen, als Ersatz für den Ausscheidenden jemanden zu finden, dessen Instrument und Art, es zu spielen, dem vorgestellten Klangbild des Quartetts ent­ spricht. Darüber entscheiden sie gemeinsam und nehmen den Auserwählten dann ze­ remoniell in ihr Quartett auf.

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gen Segments eines einheitlichen Beschlusses bedurfte, der für alle bindend war und deshalb oft nur schwer zustande kam. Gleichwohl gab es keine Norm, die eine Trennung vom Stamm verbot, wie auch umgekehrt keine, die der Aufnahme weiterer Sippen oder Clans in den Stamm entgegenstand, wenn sich darüber Einigkeit herstellen ließ. Meistens aber war es aufgrund der teils normativen teils natürlichen Bindungen innerhalb eines Stammes schwierig, die Einigkeit aller Segmente herzustellen. Spontane Entscheidun­ gen gab es selten, Mehrheitsentscheidungen waren nicht vorgesehen. Deshalb war man sich vor allem dann einig, wenn die Not dazu zwang, etwa wenn es galt, einen andrängenden Feind abzuwehren oder zu einem Beutezug gegen einen Nachbarstamm aufzubrechen, um die Versorgungslage zu verbessern. b) Konjunktionen Die Entwicklung zu Konjunktionen lässt sich am besten am Beispiel der Familie darstellen. Hier wurde der Erwerb einer Braut durch den bindungswil­ ligen Jüngling mittels Kaufes von ihrem Vater mit der Zeit durch die gemein­ same Begründung eines partnerschaftlichen Bundes (coniugium; metonym ‚Gatte‘ und ‚Gattin‘) abgelöst. Dadurch wurde die männliche Herrschaft in­ nerhalb dieses Bundes zwar nicht gebrochen, jedoch in ein stärker auf Gleich­ heit ausgerichtetes Rechte- und Pflichtenverhältnis umgewandelt, das sich dann manchmal (etwa bei den Ägyptern und den Etruskern) sogar dem Zu­ stand der Gleichberechtigung annähern konnte. Teilweise verrechtlicht wurde darüber hinaus das Kindschaftsverhältnis, indem sowohl die im Levirat ge­ zeugten als auch die adoptierten Kinder den leiblichen gleichgestellt wurden. Entsprechend wurde im Erbrecht die natürliche Erbfolge der Familienangehö­ rigen bei einigen Völkern um die rechtliche kraft Testaments erweitert. Ebenfalls wurden allmählich die Segmente innerhalb der Stammesverbände stärker normativ verknüpft: Die Clans erwählten einen gemeinsamen Häuptling, die Stämme darüber hinaus einen Oberhäuptling (meist den An­ führer des größten Clans bzw. Stammes). Dessen Führungsposition verstärkte sich, wenn sie innerhalb seiner lineage erblich wurde, und nochmals, wenn ihm das Recht zur Ernennung von Unterhäuptlingen zustand. Diese Befugnis war deshalb besonders wichtig, weil sie ökonomisch mit der Anwartschaft auf einen Teil der Einnahmen und Dienstleistungen der Unterhäuptlinge von den Stammesmitgliedern verbunden war sowie mit dem Recht, sämtliche Stämme bei kriegerischen Beutezügen anzuführen, was wiederum im Falle eines Sieges das Recht umfasste, den größten Teil der Beute – einschließlich Sklaven und Sklavinnen – einzuheimsen.428 428  Oft war die Führerschaft bei erfolgreichen Beutezügen der Grund für die Wahl zum Häuptling oder Oberhäuptling. Vgl. dazu etwa A. H. Post (1894), S. 388 f.



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Bereits erwähnt wurde (oben F 3 ε), dass das Recht bei Verträgen eine stärkere Bedeutung erhielt, weil an die Stelle des Austauschs von materiellen Gütern mittels zweier einseitiger Akte die Zusammenfassung der Akte zu einem einzigen wechselseitigen Tausch treten konnte, bei dem der konsensu­ elle Teil allmählich die Führung übernahm und anschließend zum Rechts­ grund für das dingliche Geschäft der Eigentumsübertragung wurde.429 c) Interpenetrationen Scheinbar nur ein kleiner, in Wahrheit aber ein großer Schritt war es schließlich, als Gegenstände, die bisher nur eine konjunktive Verbindung miteinander ‚hatten‘, rechtlich zu einer Einheit verschmolzen und dadurch den Charakter eines neuen ‚Seins‘ erhielten. Geradezu ein Prototyp für die Entwicklung von einer Adjunktion zur Kon­ junktion und von dieser zur Interpenetration war der Vertrag: Seine Ur­ sprünge steckten im Angebot und in der Annahme von Leistungen, die beide noch als unverbunden gedacht wurden. Eine Frühform war dann der Realver­ trag, d. i. die Konjunktion von realer Leistung und realer Gegenleistung, de­ ren rechtliche Verklammerung allerdings zunächst nur schwach war und deshalb bis zum vollständigen Vollzug jederzeit gelöst werden konnte. Später bereitete der Konsensualvertrag den Leistungsaustausch vor, beließ es aber immer noch bei dessen Unverbindlichkeit bis zur Erfüllung. Erst als das ge­ sprochene Wort die handhafte Tat vollständig vertrat, erlangte der Vertrag jene obligatorische Wirkung, die auch seine Realisation einbezog: Er konnte jetzt nicht mehr einseitig aufgekündigt, sondern nur noch partnerschaftlich aufgehoben werden. Als weiteres Beispiel für eine Interpenetration ist die Ehe zu nennen: als etwas ideell Anderes und gegenüber der bloßen Konjunktion von Mann und Frau Neues: als eine kulturelle Institution mit abstrakt festgelegten sittlichen Rechten und Pflichten von Mann und Frau, die weit über das rechtlich gere­ gelte, ja über das dem Recht überhaupt zugängliche Maß hinausging. ‚Ehe‘ bedeutete im Deutschen ursprünglich lediglich ‚Sitte‘ (althochdeutsch ēwa, ēwi, mittelhochdeutsch ē[we]). Diese Bedeutung stellt (bei Annahme einer Grund­ form *ajeu- = lenken, verbinden) die Verbindung zum lateinischen Wort ius her, welches ursprünglich ebenfalls die Sitte als das ‚ewig‘ Geltende bezeichnete (aus *[a]jewes-, *aiw[i]-, davon abgeleitet aevum)430. Mithin waren es von der Sprache her Sitte und Recht, welche die ‚ewig‘ bindende ‚Ehe‘ von Mann und Frau schufen – allerdings unter gewissen Bedingungen sie auch wieder zu lösen gestatteten. dazu oben 2 c. „Ehe“, „ewig“ siehe F. Kluge (1989); zu ‚ius‘ siehe auch oben G 3 γ mit Fn. 493, ferner H 2 b aa mit Fn. 97. 429  Vgl. 430  Zu

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Nicht immer vollzog die Sprache jedoch eine solche Entwicklung mit. Von den hier genannten antiken Völkern kannte keines ein Wort für ‚Ehe‘: Aus Ägypten ist nur überliefert, dass „Y an X zur Frau gegeben“ wurde, ohne dass wir über das Wie und die Folgen weitere Informationen erhalten.431 In Sumer gab es zwar ein Wort für ‚Heirat‘ (tuku) sowie für die ‚Partner‘ (dam),432 nicht aber für den Bund der Ehe. Ebenso sprachen auch die Römer noch lediglich von conubium bzw. von coniugium und die Griechen von συνοίκησις, was lediglich die dauernde Konjunktion von Mann und Frau, nicht aber ihre ‚ewige‘ Verschmelzung zu ‚Ehe‘leuten bezeichnete. Entsprechend der Ehe machte die Familie eine begriffliche Wandlung durch. Unser deutsches Wort leitet sich vom lateinischen Wort familia ab, das wiederum das Kol­ lektivum zu lat. famulus (‚Diener‘, ‚Gehilfe‘) ist und einst die gesamte Hausgenos­ senschaft bezeichnete. Sitte bzw. Recht formten daraus jedoch eine ideelle Einheit der Verwandten samt ihren Rechten und Pflichten.

Schwieriger miteinander zu verschmelzen waren Personen mit Sachen. Der Begriff ‚Eigentum‘ bezeichnet lediglich die Eigenschaft einer Sache: dass sie einer Person gehört und für diese einen Wert hat. Dagegen enthält der Begriff keinen Hinweis darauf, dass auch die Person durch die Sache im Wert steigt (genauer: steigen kann) ‒ nämlich durch eine Erhöhung ihres ‚kulturellen Selbst‘. Das Konzept des ‚kulturellen Selbst‘ haben erst Ende des vorigen Jahrhunderts der Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi und der Soziologe Eugene Rochberg-Halton entwickelt.433 In betontem Widerspruch zu allen Theorien, die Natur und Kultur ein­ ander gegenüberstellen – die Natur als ein mechanisches System ohne Sinn und Ziel, die Kultur als ein System, worin alle Sinn- und Bedeutungsinhalte kognitiv gewonnen werden –, betrachteten sie Natur und Kultur als ein Kontinuum, worin „Kultur die Vollendung von Natur darstellt“.434 An Beispielen verdeutlicht: Der Mensch verbes­ sert durch die Kultivierung des Bodens nicht nur dessen Qualität, sondern auch seine eigene als Grundherr; seine Behausung dient ihm durch ihre Kultivierung nicht nur zur Befriedigung vitaler Bedürfnisse, sondern auch zur Entfaltung von Werten und Traditionen, die seinem ästhetischen und religiösen Wollen entspringen; bestimmte Dinge symbolisieren zentrale Bestandteile seines Lebens und seiner Würde, Zepter und Krone etwa seine Würde als König; andere Dinge (Wappen, Fahne u. ä.) erwe­ cken in ihm auf magisch-mystische Weise das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe oder zu einem Geschlecht.435 431  S. Allam

(1983), S. 117 ff.; ders., in: LÄ 1 cols. 1162–81. Akkad bezeichnete ahāzu die Heirat, āhizānu den Bräutigam, mutu den Ehe­ mann und aššatu die Ehefrau. Sowohl im Sumerischen als auch im Akkadischen hatten die Wörter für ‚heiraten‘ außerjuristisch die Bedeutung von ‚nehmen‘. 433  M. Csikszentmihalyi/E. Rochberg-Halton (1989), S. 23 ff., 28: „Persönlichkeits­ entfaltung beruht auf der Möglichkeit zu freigewähltem Einsatz psychischer Energie. Ein Individuum kann nur durch Kultivation seiner Zielorientiertheit eine Persönlich­ keit – und somit ein Selbstkonzept – entwickeln.“ 434  M. Csikszentmihalyi/E. Rochberg-Halton (1989), S.  185 f. 435  M. Csikszentmihalyi/E. Rochberg-Halton (1989) führen dazu (auf S. 35) aus: Wenn heute manche Propagandisten der Einwirkung von Dingen auf die Kultur des 432  In



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Eigentum an einer Sache ist also ein Teil des ‚kulturellen Selbst‘ einer Person. Es erschöpft sich nicht in der rechtlichen Zuordnung einer Sache zu einer Person, wodurch die Sache außer einem ökonomischen auch einen persönlichen Wert erhält, sondern es verändert auch den Wert der Person selbst, was sich u. a. in ihrem ‚Selbstgefühl‘ ausdrückt: Als Herrscher(in) über Grund und Boden ist sie selber ‚Herr(in)‘, der Wert ihres Eigentums prägt ihre Lebensführung, ihr Auftreten in der Gesellschaft, ihr soziales Pres­ tige, ihre politische Bedeutung. Es verlockt sogar zur Schaustellung: der Ländereien, der Häuser, der Zahl der Bediensteten (Sklaven), der Fabriken, der Wettkampftrophäen. Allerdings spaltet der persönliche Wert des Eigen­ tums auch die Gesellschaft: in Besitzer und Besitzlose, Herren und Knechte, Reiche und Arme. Denn die Zugehörigkeit zu einer dieser Schichten schafft ein spezifisches Gemeinschaftsgefühl, das gegenüber Menschen, die einer anderen Schicht zugehören, trennend wirkt.436 Völker (bzw. Populationen) konnten den Weg von der bloßen Adjunktion zur Konjunktion und von dieser zur Interpenetration ebenfalls beschreiten, indem sie nicht nur kulturelle Kontakte zueinander unterhielten, sondern durch ständigen kulturellen Austausch und wechselseitiger Übernahme kultu­ reller Neuerungen fast bis zur Unkenntlichkeit verschmolzen.437 Bestanden sie aus mehreren Volksgruppen, konnten sie sich ferner intern von segmentä­ rer Herrschaftsfreiheit zu abstrakt-staatlicher Herrschaft entwickeln, wodurch ihre Unterschiede schließlich in einem zentralen, Identität stiftenden Macht­ apparat aufgingen, der innerhalb seines Bereichs zwar noch unterschiedliche Kulturen – unterschiedliche Sprachen, unterschiedliche Sozialstrukturen, un­ terschiedliche Lebensweisen u.dgl. – zuließ, aber auf der Priorität einer Zen­ tralkultur bestand: politisch repräsentiert durch seine höchsten Funktionäre, seine Bauten, seine Feste, Empfänge u. dgl. Menschen immer noch Neutralität zuschreiben, dann geschieht das i. d. R. zu Unrecht. Wenn beispielsweise die Propagandisten der Waffenindustrie die Neutralität des Waf­ fengebrauchs behaupten (‚Schusswaffen töten nicht – Menschen tun es‘), setzten sie sich in Widerspruch zu den tatsächlichen Verhältnissen; denn „jemand, der eine Schusswaffe zu Hause hat, [ist] ipso facto ein anderer Mensch als jemand, der keine Waffe besitzt“. 436  Ein merkwürdiges, aber wohl ebenfalls hier einzuordnendes Phänomen ist die neuerdings mehrfach beobachtete Verschmelzung von Online-Spielern mit ihren Figu­ ren aus der virtuellen Welt. 437  Dazu U. Bitterli (1991), S. 161: „Akkulturation und Kulturverflechtung … be­ reiten sich bereits in der Phase der Kulturberührung durch den Austausch gewisser Verhaltensformen unter den Beteiligten vor, erreichen aber ihre historische Eigenstän­ digkeit erst, wenn sich aus der engen und ständigen Begegnung der Kulturen eine neue Mischkultur ergibt, die alle Bereiche des wirtschaftlichen, sozialen und religiö­ sen Lebens der Partner enthält und die Widersprüchlichkeiten der ursprünglichen kulturellen Situation zunehmend in sich aufhebt.“

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Vergleichbar aufeinander aufbauende Entwicklungsstadien wiederholen sich heute vor allem noch innerhalb großer Wirtschaftsunternehmen. Beispielsweise können or­ ganisatorische Verbesserungen im An- und Verkauf, im Produktionsablauf und im Buchungs- und Kostenrechnungswesen von den Unternehmen dadurch erzielt werden, dass sie ihr bisher stark fragmentiertes operatives Geschäft zuerst durch eine Kon­ junktion des Kommunikationsflusses vereinfachen und sodann durch eine Verschmel­ zung von Unternehmensteilen vereinheitlichen. Zusatz: Ein Pendant hat die Entwicklung von der Adjunktion zur Konjunktion und weiterhin zur Penetration ontogenetisch im kindlichen Spielverhalten. Sie verläuft dort kulturell überall gleichartig vom Alleinspiel über das Parallelspiel zum koopera­ tiven Spiel und von diesem zum Regelspiel: Vor dem 3. Lebensjahr lässt sich bei Kindern außer Zuschauen nur Alleinspiel (Einzelspiel), Parallelspiel und assoziatives Gruppenspiel beobachten.438 Notwendig ist dafür ein durch die Sprache hergestellter Gegenstandsbezug, der zuvor geübt werden muss. Spiele mit institutionalisierten ­Regeln, d. h. mit zusätzlichem Normbezug (meist Ballspiele), können Kinder erst ab dem Schulalter korrekt ausführen.

J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts (II: Gesetzmäßigkeiten) Aus der Vielzahl der Faktoren, die dem Recht zugrunde lagen, haben ge­ wisse Gesetzmäßigkeiten das Recht entstehen und sich fortentwickeln lassen. Ihnen werde ich mich im Folgenden zuwenden. 1. Das Recht als hyperzyklisches System Grundlegend bereits für die Entstehung von Recht waren zwei Faktoren, welche die Ursache allen menschlichen Geschehens sind: nämlich Bedürfnisse und Interessen. Ohne ein menschliches Bedürfnis nach Recht wäre dieses nicht entstanden, und ohne ein Interesse an seiner Entwicklung hätte dieses sich nicht entwickelt. Allerdings waren beide Faktoren nur notwendige Ursachen für die Entwicklung zum Ziel. Den Weg zur Entstehung und Ent­ wicklung von Recht musste dem Menschen ein dritter Faktor weisen: das Denken. Das Denken war nämlich für homo sapiens ein Wegweiser par excellence geworden, und deshalb wurde es auch eingesetzt, um die Verbin­ dung zwischen den Bedürfnissen und Interessen und ihrer Befriedigung durch das Recht zu finden. Doch selbst als der Weg gefunden war, wurde die Problemlösung nur sichtbar, aber noch nicht sofort erreichbar; denn nunmehr bedurfte es noch eines vierten Faktors, damit der Mensch sich für den Weg

438  D.

Gottschaldt/C. Frauhauf-Ziegler (1958).



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entscheiden und ihn anschließend begehen konnte: des Willens als motori­ schen Faktors, um den Begehungsentschluss zu erzeugen und umzusetzen. Allerdings war weder das Denken frei bei seiner Suche nach dem rechten Weg zum Recht noch der Wille bei seiner Entscheidung, den Weg zu be­ schreiten. Es gab Randbedingungen, die zum einen bedacht und zum anderen vom Willen eingehalten werden mussten. Diese Randbedingungen waren die Mitmenschen, mit deren immer größer werdender Zahl der Mensch zusam­ menleben musste. Sein Denken musste für seine soziale Eingebundenheit in ihre Gemeinschaft nach einer kulturellen Ergänzung suchen und überlegen, wie er zu den Normen kommen kann, die seine Natur ihm vorenthalten hat. Nun hatte seine Natur den Menschen freilich nicht völlig im Stich gelas­ sen. Als heuristische Regel hatte sie ihm empfohlen: Triffst du auf Freunde, behandle sie freundlich; triffst du auf Feinde, zeige dich ebenfalls feindlich und bereit, notfalls Böses mit Bösem zu vergelten. Das darin enthaltene Prin­ zip, das englisch mit ‚tit for tat‘439, deutsch mit ‚wie du mir, so ich dir‘ oder ‚Wurst wider Wurst‘, wissenschaftlich als ‚Talion‘ wiedergegeben wird, hatte sich im Laufe der Entwicklung zwar empirisch bewährt, normativ aber schon deshalb keine verpflichtende Kraft erlangt, weil allein aus einer Erfahrungs­ regel noch keine Verpflichtungsregel folgt. Deshalb konnte man der Regel lediglich entnehmen, dass einerseits Freundlichkeit eine innere ‚Willensge­ meinschaft‘ zur Grundlage und eine soziale Gemeinsamkeit zur Folge, an­ derseits Feindlichkeit eine innere ‚Willensgegnerschaft‘ zur Grundlage und soziale Differenzen zur Folge hat. Solche Feindseligkeit, gar ein „Kampf al­ ler gegen alle“, kommt als Grundlage für ein soziales Zusammenleben aber auch dort nicht in Betracht, wo durchaus ein sozialer Wettbewerb (wie unter höheren Wirbeltieren üblich) angesagt ist; denn der Wille zur Gemeinsamkeit und zur Einhaltung grundlegender Fairnessregeln bleibt auch unter Wettbe­ werbsbedingungen erhalten. Daher war auf dem Wege zur Bildung von Recht die Erzeugung einer Willensgemeinschaft das nächstliegende Ziel und die Verschmelzung der Willen zu einem einzigen kollektiven Willen für ein ver­ pflichtendes ‚objektives Recht‘ (wie er als Grundlage für die Staatsgründung angenommen worden ist) zumindest als Möglichkeit vorhanden. Um diese Verpflichtungskraft zu erzeugen, bedurfte es indessen noch eines weiteren psychischen Faktors, nämlich der sozialen Neigung. Dieser Faktor war zwar in allen Menschen enthalten; denn der Mensch ist (wie die meisten höheren Wirbeltiere) ein animal sociale, d. h. ein Wesen, das der Anlehnung an andere Menschen auch dann bedarf, wenn er sie ablehnt. Doch erst die soziale Neigung ermöglichte es, dass die subjektiv übereinstimmenden Wil­ len zu einem einzigen ‚objektiven‘ Gesamtwillen („volonté générale“) ver­ 439  Zu

Tit for Tat und seine Grenzen vgl. E.-J. Lampe (1999), S. 58 f.

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schmolzen und damit Verpflichtungskraft für die Einzelwillen erlangten. Denn die Energie der sozialen Neigung wirkte zyklisch, und so ergaben sich durch ihre Interpenetration mit dem ebenfalls zyklisch wirkenden menschli­ chen Willen zwei ineinandergreifende zyklische Systeme, die in einem ge­ meinsamen Hyperzyklus etwas Neues, nämlich das soziale Sollen erzeugen konnten.440 Dazu im Einzelnen: • Für den Willen des Menschen ist charakteristisch, dass er von sich weiß und das, was in seinem Vorsatze liegt, auch verwirklichen will. Er ist also ein selbstbewuss­ tes und selbstgesetzliches, mithin zyklisches, System. Darüber hinaus besitzt er die Fähigkeit, sich mit den gleichen zyklischen Systemen anderer zusammenzuschlie­ ßen und dadurch ein hyperzyklisches System einfacher Ordnung, eine Willensge­ meinschaft, zu bilden. • Für die soziale Neigung des Menschen ist charakteristisch, dass sie als emotionale Tendenz zur Gesellung Ansteckungskraft auf die Mitmenschen ausübt. Sie erzeugt also im Verein mit denselben Neigungen anderer sowohl ein Wir-Gefühl als auch den Trieb zu gemeinsamem Handeln (z. B. den ‚Herdentrieb‘). Dadurch wirkt sie ebenfalls zyklisch. • Beide Substanzen, der zyklisch wirkende individuale Wille und die ebenfalls zyk­ lisch wirkende soziale Neigung, trafen im sozial lebenden Menschen aufeinander (Adjunktion) und ließen aus der Konkurrenz der Einzelwillen und der Koopera­ tionsbereitschaft441 aufgrund der sozialen Neigungen etwas entstehen, was man – leicht verkürzt – als ‚kooperative Konkurrenz‘ oder ‚konkurrierende Kooperation‘ bezeichnen kann (Übergang von der Adjunktion zur Konjunktion). Deren Organi­ sation erforderte eine über sie hinausgehende neue Organisationsform (Hyperzyk­ lus höherer Ordnung), worin die individualen Willen und sozialen Neigungen sich wechselseitig verstärkten (Übergang von der Konjunktion zur Interpenetration) und schließlich einen Gemeinwillen erzeugten, in dem die individualen Willen und sozialen Neigungen zwar nicht untergingen, wohl aber zu Einheiten wurden, worin das Wollen dem Sollen und die Neigung der Pflicht untergeordnet waren.442

Folgenden aAusführlicher dazu E.-J. Lampe (1987), S. 69 ff. Entstehung, Evolution und Stabilisation der Kooperationsbereitschaft vgl. G. Schurz (2011), S. 358 ff. 442  Vgl. als Anschauungsmaterial dazu die Entwicklung des vordynastischen Ägyptens in der Darstellung von J. A. Wilson (1961), S. 342: „Es ist so, als ob Trop­ fen einer chemischen Flüssigkeit lange Zeit einer Lösung hinzugefügt würden, ohne deren Zusammensetzung feststellbar zu verändern. Dann plötzlich erfolgt die Reak­ tion, und wir haben in der Lösung eine strukturell andere Substanz vor uns. Nur wissen wir nicht, ob die Veränderung quantitativ oder qualitativ war. Ging es nur um den Sättigungsgrad, so dass plötzlich genug Tropfen zusammengekommen waren, um die Reaktion herbeizuführen? Oder war da zum genau richtigen Zeitpunkt eine neue Substanz hinzugetreten, die als Katalysator das Zustandskommen einer anderen che­ mischen Verbindung bewirkte? Wahrscheinlich war der eigentliche Entwicklungsvor­ gang im vordynastischen Ägypten quantitativ und hatte das Land bis zu einem Punkt 440  Zum 441  Zur



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II513

Dieser genetischen Erklärung des Sollens und der Pflicht als dem Willen und der sozialen Neigung wird von sozialphilosophischer Seite die Verpflichtung aus Ge­ wohnheiten und Erwartungen gegenübergestellt: Soziale Normen seien innerhalb ei­ ner sozialen Einheit „kontrafaktisch stabilisierte Erwartungen gewohnheitsmäßigen Verhaltens“443. Sofern damit nicht nur eine andere Terminologie benutzt, sondern auch die Genese sozialer Normen beschrieben werden soll, bleibt zu bemängeln, dass diese nicht von „Erwartungen gewohnheitsmäßigen Verhaltens“ abhängt. Denn nun­ mehr muss die Verpflichtungskraft der Erwartungen begründet und „kontrafaktisch stabilisiert“ werden.444

Als hyperzyklisches System höherer Ordnung war das Recht von Anfang an eine metaphysische (genauer: metapsychische) Instanz; denn seine Nor­ men transzendierten den Bereich der natürlichen Ordnung, waren rationalgeistig und wandten sich an den Menschen als rationales Subjekt (als ‚Rechtsperson‘). Sie unterschieden sich dadurch von den psychisch-expressi­ ven Verhaltensschablonen der nichtmenschlichen Primaten. Gleichwohl gal­ ten alle Normen in einem ersten Stadium nur für konkrete Situationen und vergrößerten erst in weiteren Stadien ihren Geltungsbereich auf eine über­ summative Menge – wodurch sie abstrakt gültig wurden und künftig ihre Adressaten nicht mehr als konkrete Individuen ansprachen, sondern als ano­ nyme Splitter einer Großgesellschaft. Um auf die Realität konkreter Sachver­ halte anwendbar zu sein, bedurften sie daher eines weiteren Grundes, der statt von der Idee abstrakter Gleichheit von der Wahrnehmung konkreter Verschiedenheit (‚Individualität‘) ausging und dem Willen aufgab zu ent­ scheiden, wie der konkrete Adressat einer abstrakten Norm sich in einer konkreten Situation zu verhalten hat.445 Und erst wenn dem Willen dann gelang, die abstrakte Norm auf ein konkretes Ziel zu reduzieren, durfte das Rechtsgefühl das Ergebnis bewerten, ob es auch „recht und billig“ ist. Später hat der Gemeinwille in den staatlichen Rechtsnormen einen auch politi­ schen Ausdruck und überall dort Spitzenpositionen erlangt, wo sich eine Gesellschaft aufgrund ihrer Größe hierarchisch stratifiziert hatte und von der Spitze her geschützt werden musste. Von der staatlichen Gewalt forderten die Rechtsnormen dann, dass sie das „gemeine Wohl“ als zentralen Wert der Gemeinschaft schützten (Integrationsleis­ tung) und dass sie den hierauf gerichteten Gemeinwillen gegenüber jedem abwei­ chenden individualen Willen notfalls mittels Zwang verteidigten (Zentralisationsleis­ tung).

gebracht, an dem die Häufung kleiner Veränderungen die Kultur wahrnehmbar anders erscheinen ließ …“. 443  N. Luhmann (1993), S. 130. 444  Aufgrund dieser und anderer Mängel hält D. Lucke (2014, S. 340) die Frage nach der konkreten Genese von Normentstehung innerhalb der Soziologie noch für „theoretisch und empirisch weithin unbeantwortet“. 445  Vgl. dazu O. Ewert (2000), S. 410 ff.

514

Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

2. Gesetzmäßigkeiten in der Genese von Rechtsbewusstsein Sowohl das Rechtsbewusstsein als auch das moralische Bewusstsein sind Spezialfälle eines normativen Bewusstseins: des Bewusstseins, an kulturelle Gesetze gebunden zu sein. Diese einheitliche Basis könnte man außer Acht lassen, wenn die Entwicklung des Rechtsbewusstseins ebenso gut erforscht wäre wie die des moralischen Bewusstseins. Dies aber ist nicht der Fall. Deshalb müssen das moralische Bewusstsein und seine Entwicklung in die Untersuchung des Rechtsbewusstseins einbezogen werden, um aus der ein­ heitlichen Basis beider – auf welche vor allem die noch heute bestehenden Übereinstimmungen des strafrechtlichen und des moralischen446 Unrechts hindeuten – einen homologen Entwicklungsprozess ablesen zu können. Wenig überraschend ist, dass phylogenetische (anthropogenetische) Unter­ suchungen auch in Bezug auf die Moral fehlen und stattdessen nur ontogenetische Untersuchungen reichlich vorhanden sind. Zur Anknüpfung für die anthropogenetische Untersuchung von Rechtsbewusstsein müssen wir daher mit ihnen vorlieb nehmen in der doppelten Hoffnung, dass sich aus dem Verlauf der Ontogenese Erkenntnisse auch auf den Verlauf der Anthropoge­ nese und speziell aus dem Verlauf der moralischen Entwicklung Erkenntnisse auch auf den Verlauf der rechtlichen Entwicklung ergeben werden. Diese Erkenntnisse können sich ergeben: aus dem Heranreifen von individual-mo­ ralischen Strukturen (unten a), aus der Ausprägung sozial-moralischer Inhalte (unten b) und aus der Entwicklung moralischen Handelns (unten c). Für die Untersuchung einer Entwicklung des Rechtsbewusstseins empfiehlt es sich, zumindest diese Differenzierung beizubehalten. a) Gesetzmäßigkeiten in der individualen Ontogenese Die meisten Untersuchungen zu einer strukturellen447 Entwicklung des moralischen Bewusstseins, die sich auf die Entwicklung des Rechtsbewusst­ seins möglicherweise übertragen lassen, sehen den Ort der Entwicklung im Subjekt. Sie unterscheiden sich lediglich darin, ob sie das Hauptgewicht der ‚Endogenese‘ auf die Gefühle oder auf die begleitenden rationalen Erwägun­ gen legen. Je nachdem sind sie primär emotivistisch (unten aa) oder kogniti­ vistisch (unten bb) ausgerichtet.

E.-J. Lampe (1999), S.  230 f.; F. Lösel/M. Schmucker (2004), S. 906. Theorien behandeln die Frage, wie Teile im Verhältnis zum Ganzen organisiert sind und welche Veränderungsmuster sich abstrahieren lassen. 446  Vgl.

447  Strukturalistische



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II515

aa) Emotivistische Theorien zur moralischen Ontogenese (α) Darstellung: Vorherrschend ist die Ansicht, dass die innere Moralität mehr auf Gefühlen als auf rationalen Erwägungen ruht.448 Begründet wurde der emotivistische Theorieansatz durch den philosophischen Em­ pirismus – in England durch Shaftesbury, in Schottland durch David Hume und Adam Smith,449 in Deutschland durch Friedrich Eduard Beneke.450 Unter den Psychologen benutzten den Theorieansatz insbesondere Sigmund Freud und seine Nachfolger.

Welche Gefühle sind es, die moralisches Verhalten bedingen? M. L. Hoffman nahm als grundlegend Empathie451 und affektive Perspektiven- bzw. Rollenübernahme an.452 Für moralisches Verhalten, meinte er, sorgten sie jedoch nur dann, wenn sie sich mit den moralischen Normen und Werten einer Gesellschaft verbinden.453 Und für das Bewusstsein von Moralität sei darüber hinaus ein Bewusstsein normativer Gebundenheit an das Wohl ande­ rer erforderlich.454 (β) Diskussion: Empirisch ist weitestgehend gesichert, dass zwischen Empathie und prosozialem Verhalten eine Verbindung besteht.455 Empirisch ist indes auch weitestgehend gesichert, dass zwischen Empathie und aggressi­ vem Verhalten eine Verbindung besteht.456 Deshalb besteht keine eindeutig positive Verbindung zwischen Empathie und prosozialem Verhalten. Prosozi­ ales Verhalten erfordert vielmehr ein gewisses Maß an Sympathie mit dem­ jenigen, dem das Verhalten zugutekommen soll.457 Zwischen prosozialem und moralischem Verhalten besteht darüber hinaus ein Unterschied: Pro­ sozial ist ein Verhalten, das zum Wohl anderer beiträgt,458 moralisch gut ist

448  R. C. Solomon (1976); J. Oakley (1992), p.  38 ff.; L. Montada (1993), S.  259 ff. m. Nachw. 449  Shaftesbury (1711); D. Hume (1751); A. Smith (1759). 450  F. E. Beneke (1837) u. ö. 451  Empathie ist die Fähigkeit, sich in den Seelenzustand eines anderen hineinzu­ versetzen, seine Gefühle zu teilen, ihn zu beruhigen, ihn zu trösten, ihm zu helfen. Diese Fähigkeit ist angeboren. 452  M. L. Hoffman (1970, 1975a, 1975b, 1991a u. ö.). 453  Vgl. M. L. Hoffman (1991b), p. 109. 454  J. Oakley (1992), p.  74 f., 114 ff. 455  Anders lediglich R. F. Marcus/S. Telleen/E. J. Roke (1973). Aufgrund ihrer Untersuchungen korrelieren zwar Empathie und kooperatives Verhalten positiv, nicht jedoch Empathie und prosoziales Verhalten. 456  Vgl. J. Dunn (1988); E. M. Cummings et al. (1986); M. L. Hoffman (1970, 1975a, 1975b, 1991a u. ö.). 457  N. Eisenberg/R. A. Fabes (1991). 458  E. Staub (1981), S. 1.

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

dagegen ein Verhalten, bei dem es dem Agenten auf das Wohl anderer an­ kommt.459 Lockerer als von Hoffman vermutet dürfte ferner das Verhältnis zwischen der Fähigkeit zu affektiver Perspektiven- und Rollenübernahme und morali­ schem Verhalten sein. Empirisch ist lediglich gesichert, dass die genannte Fähigkeit für moralisches Verhalten notwendig ist, nicht aber, dass sie bereits moralisches Verhalten sichert. N. Buckley et al.460 fanden zwar, dass Kinder, die anderen halfen und mit ihnen teilten, leichter die Perspektive des anderen übernehmen konnten.461 Dasselbe Er­ gebnis bestätigte D. W. Johnson462 auch für das Verhältnis von prosozialem Verhalten und der Fähigkeit zur Rollenübernahme. Dagegen fehlt es nach C. Zahn-Waxler et al.463 an einer positiven Korrelation zwischen der Perspektivenübernahme und prosozialem Verhalten. Sp. Kagan & K. A. M. Knudson464 widersprachen darüber hinaus den Schlussfolgerungen Johnsons; denn ihre Untersuchungen an anglo-ameri­ kanischen und mexiko-amerikanischen Kindern zeigten zwar eine wachsende Fähig­ keit zu affektiver Rollenübernahme, gleichzeitig aber auch eine abnehmende Neigung zu prosozialem Verhalten. Zusatz: Prosoziales Verhalten können wir auch bei vielen Tieren beobachten, die miteinander das Futter teilen oder sich in Notsituationen helfen.465 Dagegen findet man eine uneigennützig auf das Wohl eines anderen gerichtete Absicht nur beim Menschen.466 Allerdings behaupten manche Philosophen und Ethnologen, auch der 459  Es geht bei der psychologischen Untersuchung, wohlgemerkt, um die Rück­ führbarkeit moralischen Verhaltens auf empirisch feststellbare äußere und innere Faktoren, nicht dagegen um auf seine Bewertung anhand metaphysischer Maßstäbe für innere ‚Moralität‘. Anders F. E. Beneke (1837), S. 13: „Moralisch gut nennen wir eine Handlung nicht deshalb, weil daraus etwas Gutes, sondern weil sie selbst aus einem inneren Guten hervorgegangen ist; oder, weil der Handelnde das Gute gewollt hat. Die Prädikate ‚moralisch gut‘ und ‚moralisch schlecht‘ sind nicht gebildet in Bezug auf ein Geschehen, sondern sind Prädikate … für die innere Beschaffenheit desjenigen, von welchem ein Tun ausgeht oder aufgehen könnte.“ 460  N. Buckley/L. S. Siegel/S. Ness (1979). 461  Ebenso N. Eisenberg/R. A. Fabes (1990, 1991). 462  D. W. Johnson (1975). 463  C. Zahn-Waxler/M. Radke-Yarros/J. Brady-Smith (1977). 464  Sp. Kagan/K. A. M. Knudson (1983). 465  Das Teilen (sharing) und die Hilfe in Notsituationen sind dem Menschen eben­ falls angeborene Handlungsweisen. Sie sind ursprünglicher als das Verlangen nach ausgleichender Gerechtigkeit (Reziprozität) und folglich damit nicht verbunden. Vgl. dazu J. Woodburn (1998) m. Nachw. 466  Die Uneigennützigkeit der Tiere wird dagegen durch ‚Egoismus‘ begründet. R. L. Trivers (dem wir u. a. die genauere Entwicklung der These eines „reziproken Altruismus“ verdanken: vgl. 1971, S. 35 ff.), nennt drei Gründe dafür, weshalb dass altruistisches Verhalten bei Tieren durch den „Egoismus der Gene“ bedingt ist: (1) die große Anzahl von Situationen, in denen altruistische Handlungen möglich sind; (2) die große Anzahl von Interaktionen, die eine relativ kleine Gruppe von Individuen



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II517

Mensch handle nur in letzthin egoistischer Abwsicht uneigennützig.467 Doch ist eine Diskussion hierüber wenig fruchtbar, da sie letzthin auf einen Streit über die termino­ logische Abgrenzung zwischen Fremd- und Eigennützigkeit hinausläuft.

(γ) Die Relevanz des emotiven Theorieansatzes für die Rechtsentwicklung (einschließlich seiner weiteren Diskussion) wird vor allem aus zwei Gründen verringert: Zum einen fällt die anthropogenetische Entwicklung des morali­ schen Gefühls ganz überwiegend in einen Zeitabschnitt, der der Entwicklung eines speziellen Rechtsgefühls vorausgeht, während die spätere Gefühlsent­ wicklung weitgehend unter dem Einfluss vermehrter rationaler Fähigkeiten steht. Das zeigt sich u. a. darin, dass diejenigen Teile des menschlichen Ge­ hirns, denen die Gefühle hauptsächlich zugeordnet werden, d.s. Amygdala und Hypothalamus, sich in neuerer Zeit eher zurückentwickelt haben, wäh­ rend das Gewicht des Neokortex, der die rationalen Fähigkeiten in sich ver­ sammelt, zugenommen hat468 ‒ die Gefühle treten heute vor allem dann (als Emotionen469) klar in Erscheinung, wenn die Befriedigung existenzieller menschlicher Grundbedürfnisse auf dem Spiel steht. Zum anderen verwehrt der vom moralischen Gefühl am stärksten besetzte Sozialbereich, nämlich die Zuneigung zwischen Verwandten und Freunden, dem Recht bis heute weitestgehend den Zugang,470 sodass auch nur für diesen Bereich die frühe Entwicklung des moralischen Gefühls nebst seinen Fähigkeiten zur Empathie und zur affektiven Perspektiven- bzw. Rollenübernahme bedeutsam ist, nicht aber die spätere Entwicklung des Bewusstseins (rechts-)normativer Gebun­ denheit.

betreffen; (3) die Verbreitung symmetrischer Situationen, in denen die Beteiligten ungefähr ebenso häufig Ausführende wie Nutznießer altruistischer Handlungen sind. 467  Beispielsweise behauptet D. T. Campbell (1965, 1975), dass der Mensch in­ folge seiner genetischen Fundierung in einem dem Eigennutz dienenden Opportunis­ mus nicht moralisch handeln könne. Darüber hinaus überwiegt diese Meinung offen­ bar auch bei vielen indigenen Völkern; denn dort nimmt man (nach R. Cohen, 1972) als selbstverständlich an, dass derjenige, der etwas zugunsten anderer tut, eigennüt­ zige Zwecke verfolgt, und man hält denjenigen, der das leugnet, für nicht vertrauens­ würdig. Jedes Geben diene einzig der Erlangung von Prestige; denn wer am meisten gibt, gewinne das höchste Ansehen und damit die höchste Macht. Somit handle er eigennützig. 468  Vgl. E.-J. Lampe (2008), S. 322 f. m. Nachw. 469  Die Unterschiede zwischen ‚Gefühl‘ (feeling) und ‚Emotion‘ (emotion) werden im englischen Sprachraum schärfer gesehen als im deutschen. Im Rahmen der vorlie­ genden Arbeit sehe ich das Abgrenzungsmerkmal in der stärkeren Beteiligung von Willensbestandteilen an den Emotionen zwecks Ausrichtung der Gefühle auf ‚etwas Gegebenes‘, das gedanklich freilich relativ unbestimmt sein kann. 470  Vgl. oben H 2 b bb ε.

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

bb) Kognitivistische Theorien zur moralischen Ontogenese (α) Darstellung: Die Untersuchungen zur Entwicklung einer rationalen Bewusstseinsgrundlage der Moral sind weitaus mannigfaltiger und für eine entsprechende Entwicklung des Rechtsbewusstseins auch wichtiger als dieje­ nigen zur Gefühlsgrundlage. Schon deshalb sollen die Untersuchungen von Jean Piaget, Robert L. Selman und Lawrence Kohlberg hier etwas eingehen­ der dargestellt werden. (αα) Nach Jean Piaget reifen die allgemeinen Strukturen der Erkenntnis – die Kant als a priori im Menschen angelegt sah – erst im Laufe der ersten Lebensjahre (sogen. „genetische Erkenntnistheorie“471). Diese Reifung durchläuft eine invariante Folge von Stadien, die durch wechselnde Organi­ sationsprinzipien charakterisiert werden: Am Beginn eines jeden Stadiums steht eine instabile Periode der Vorbereitung, am Ende eine stabile Periode der Vervollkommnung; den Übergang von einem Stadium zum nächsten be­ wirkt ein Prozess, der auf den Strukturen des vorangehenden Stadiums auf­ baut, diese Strukturen jedoch so vollständig absorbiert, dass sie nicht einmal mehr latent bedeutsam sind. Angewandt auf die Entwicklung der speziell moralischen472 Erkenntnis bedeutet das: •• Im ersten Stadium (prä-moralische Phase) unterscheidet das Kind noch nicht zwischen Sein und Sollen. Es übernimmt vielmehr die Regeln als Teil einer allgemeinen (natürlichen) Ordnung, in die es sich vollständig eingebunden fühlt.473 471  Es sei an dieser Stelle nochmals betont, dass ‚genetisch‘ nicht nur ‚angeboren‘, sondern auch ‚sich (aufgrund angeborener Veranlagung) entwickelnd‘ bedeutet. 472  Unter Moral versteht J. Piaget ein „System von Regeln“, unter Sittlichkeit die „Achtung, welche das Individuum für diese Regeln empfindet“ (1983, S. 23). Diese ungewöhnlich weite Definition erlaubt es ihm, die Anfänge der moralischen Entwick­ lung des Kindes am Beispiel des Murmelspiels zu studieren. Er schreibt: „Ob uns, ihrem Inhalt nach, diese Regeln [scil. des Murmelspiels] als ‚moralisch‘ erscheinen oder nicht, ist hier belanglos. … Auch wenn es sich hier nicht um Moral handelt, so doch zumindest um die Beachtung der Regeln …“ (S. 24). In Wahrheit untersucht Piaget beim Murmelspiel also vor allem notwendige Bedingungen für Moral, nämlich die Entwicklungen des Regel- bzw. Normbewusstseins undsowie des Regel- bzw. Normgehorsams. Nur anlässlich von Normabweichungen konstatiert er (ab dem 11. Lebensjahr) darüber hinaus Interesse „an prinzipiellen Erörterungen“ (S. 61) und „an juristischen Auseinandersetzungen grundsätzlicher oder lediglich methodischer Art“ (S. 56). Er erwähnt in diesem Zusammenhang das Verhalten einiger Knaben zwischen 10 und 11 Jahren, „die, um sich mit Schneebällen zu bewerfen, zuerst eine gute Vier­ telstunde damit verlieren, einen Präsidenten zu wählen und die Regeln für die Wahl festzulegen, sich dann in zwei Lager zu teilen, den Wurfabstand bestimmen und schließlich Sanktionen für den Fall von Gesetzesübertretungen vorzusehen“ (S. 65). 473  J. Piaget (1983), S. 67.



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II519

•• Im zweiten Stadium (heteronom-moralische Phase) trennt das Kind zwar zwischen Sein und Sollen, doch wähnt es die Sollensregeln mit derselben Determinationskraft ausgestattet wie die Seinsgesetze: Das Kind „betrach­ tet … die Regeln … als heilig und unantastbar: … jede Abweichung, selbst wenn sie allgemein anerkannt wurde, wäre ein Fehler.“474 Moralisch richtig ist für das Kind diejenige Handlung, welche vom Respekt gegen­ über den Erwachsenen getragen wird und die von ihnen gesetzten Normen befolgt. Ob die Regeln befolgt wurden, erweist sich an den Konsequenzen der Handlung; denn ihre Befolgung führt zu genau den Ergebnissen, die die Erwachsenen für richtig halten. •• Im dritten Stadium (autonom-moralische Phase) sieht das Kind die sozia­ len Normen als nicht mehr so feststehend an wie bisher, sondern als durch sozialen Konsens begründet und veränderbar. Auch selber gründet es schließlich die Geltung von Sollensregeln auf ein freies wechselseitiges Übereinkommen475– es „folgt auf die Heteronomie die Autonomie“.476 Das kindliche Regelbewusstsein unterscheidet sich nunmehr nicht mehr von dem der Erwachsenen. Wie die Moral insgesamt, so verläuft speziell die Anschauung, was gerecht ist, nach Piaget477 in drei Stadien „von Heteronomie zu Autonomie“, wobei Heteronomie im Bereich des Rechts Unterwerfung unter eine Zwangsord­ nung, Autonomie dagegen wechselseitige Anerkennung von Rechten und Pflichten bedeutet.478 Die folgende Tafel skizziert die Stadien dieser Entwick­lung:

474  J.

Piaget (1983), S. 70. Piaget (1983), S. 88. Hier rächt sich, dass Piaget nicht die hinreichenden, sondern nur die notwendigen Bedingungen moralischer Normen untersucht. 476  J. Piaget (1983), S. 82. 477  Vgl. J. Piaget (1973). 478  In seinen späteren und eher soziologischen Studien hat Piaget Interaktionen unter dem Aspekt des Austauschs von Werten im Bereich der Ökonomie, der Moral und des Rechts betrachtet. Er unterscheidet: Beim ökonomischen Austausch verfolgt jeder Beteiligte nur sein eigenes Interesse; er handelt egoistisch. Beim moralischen Austausch verfolgt jeder Beteiligte das Interesse seines Partners; er handelt altruis­ tisch und sein Partner bewertet ihn nach dieser Absicht. Beim juristischen Austausch beziehen sich alle Beteiligten auf die transpersonale Werteskala des Rechts; sie han­ deln mit Rücksicht auf ihre soziale Gemeinschaft, welche die Werteskala aufgestellt hat und sie garantiert (vgl. insbesondere J. Piaget, 1965). 475  J.

520

Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts Stadien der Gerechtigkeit

Stadium 1: Heteronome Gerechtigkeit

Stadium 2: Übergang zum Gleichheitsbegriff

Stadium 3: Gleichheit und Billigkeit

Die Gerechtigkeit ist der Autorität der Erwachsenen unterstellt. Die Begriffe gerecht/ungerecht und Pflicht/Ungehorsam werden nicht unterschieden. Das Kind betrachtet alle Weisungen einder Autorität als ‚Recht‘, vorausgesetzt, diese hält sich selber an die von ihr aufgestellten Regeln. Im Konfliktfall zwischen Autorität und Gleichheit wird der Autorität der Vorrang gegeben. Austeilende Gerechtigkeit:

Ausgleichende Gerechtigkeit:

Austeilungen erfolgen nach äußeren Regeln. Auch ungleiche Aufteilungen werden – sofern sie von der Autorität vorgenom­ men werden – als gerecht bezeichnet.

Gerechte Strafen werden als durch den Mechanismus einer Regel, die Regel wiederum als durch eine Autorität begründet verstanden.

Zunehmendes Auftreten von Autonomie und des Primats der Gleichheit vor der Autorität. Allerdings bleibt die Gleichheit starr. Festen moralischen Regeln entsprechende Handlungen werden um ihrer selbst willen unabhängig von der Autorität angestrebt. Austeilende Gerechtigkeit:

Ausgleichende Gerechtigkeit:

Das Moment der Gleichheit bleibt äußerlich und dominiert alle Elemente; dies äußert sich u. a. in einem starren Egalitaris­ mus bei der Interessenberech­ nung. Gleichheit bedeutet Identität.

Beginnende Dominanz einer Strafgerechtigkeit, die vom sozialen Unrecht ihr Maß erhält. Beginnendes Verständnis vom sozialen Band, das alle Rechtsgenossen umschlingt.

Eine nur noch relative Gleichheit berücksichtigt auf der Basis von Autonomie und Gegenseitigkeit die besondere Lage jedes einzelnen. Handlungsleitend ist die wechselseitige Achtung des anderen sowie das Bewusstsein, dass alle durch ein soziales Band zusammengehalten werden. Austeilende Gerechtigkeit:

Ausgleichende Gerechtigkeit:

Die persönliche Situation des einzelnen wird als Zuteilungs­ grund für Leistungen mitberück­ sichtigt. Gleichheit bedeutet auch Billigkeit.

Gerechte Strafen erhalten auch vom personalen Unrecht ihr Maß. Die Berücksichtigung der individuellen Umstände führt zum Verständnis oder gar zur Verzeihung (Gnade).



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II521

Diskussion: Die Untersuchungen Piagets sind nur skizzenhaft und fragmentarisch. Sie haben daher viele Forscher veranlasst, sich um ihre Präzisierung und Erweiterung zu bemühen. Soweit sie dabei auf Piagets Theorie aufbauen, werden sie als ‚Neo-­ Piagetianer‘ bezeichnet. C. F. Surber479 hat innerhalb der Stadientheorie Piagets lediglich die Charakteri­ sierung des zweiten Stadiums korrigiert. Nach seinen Untersuchungen wird das Ge­ wicht von den Konsequenzen schon sehr frühzeitig zu den Intentionen hin verscho­ ben, sodass sich bereits im zweiten Stadium die Richtigkeit von Handlungen nicht nur aus ihren Konsequenzen, sondern auch aus den Intentionen des Handelnden er­ gibt. Seien die Konsequenzen einer Handlung unbekannt, dann bewerteten sogar alle Altersklassen die Handlung ausschließlich nach der Intention des Handelnden. R. Case480 hat an die Stelle von Piagets Stadienmodell ein ähnliches (mit starken Anklängen an das kritisierte Vorbild) gesetzt: • Sensumotorisches Verarbeitungsstadium (bis 1 ½ Jahre). • Interrelationales Verarbeitungsstadium (bis 5 Jahre): Die Kinder lernen, komplexe­ re soziale Strukturen zu verstehen und zu kontrollieren. Sie übernehmen spielerisch soziale Rollen und gehen darin auf das Rollenverhalten anderer ein (z. B. DoktorPatient-Spiel). Am Ende können sie aus relationalen Strukturen höherrangige inter­ relationale aufbauen. • Dimensionales Verarbeitungsstadium (bis 11 Jahre): Kinder lernen u. a., die Di­ mension der Bedeutung aus Zuständen und Prozessen der realen und der sozialen Umwelt abzuleiten. • Abstraktes Verarbeitungsstadium (bis 18  ½ Jahre): Kinder erwerben abstrakte Denksysteme, mit deren Hilfe sie u. a. rein verbale und Analogieprobleme lösen und Rückschlüsse auf psychische Merkmale bei anderen Personen ziehen können.

Auch W. Damon481 hat das Stadienkonzept Piagets grundsätzlich übernom­ men.482 Er hat jedoch ergänzt, dass Autoritätspersonen (Eltern) zwar anfangs ein absolutes Recht auf Herrschaft haben − zunächst aufgrund ihrer größeren Kraft oder ihres Mehr an Macht, später aufgrund ihrer geistigen Überlegenheit aufgrund von Übung und Erfahrung −, dass sie aber zu keinem Zeitpunkt höchste Instanz in Sachen der Moral sind. Denn Damon fand bei den von ihm untersuchten Kindern – unabhängig von ihrem Alter – eindeutigen Wider­ spruch, als er sie fragte, ob ihre Eltern ihnen erlauben dürften zu stehlen.483 (ββ) In eigenständiger Weise hat R. L. Selman die Forschungsansätze von Piaget weitergeführt. Ausgehend von Piagets Untersuchung zur Entwicklung 479  C. F.

Surber (1977) und (1982). Case (1999), S. 87 ff. 481  W. Damon (1975). 482  Damon schließt sich in der Benennung der Stadien allerdings an B. Inhelder/ J. Piaget (1964) an, wonach einem intuitiven Stadium ein präoperationales Durch­ gangsstadium folgt, das in ein konkret-operationales Stadium einmündet. 483  W. Damon (1984), S. 212. 480  R.

522

Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

der räumlich-visuellen Perspektivenübernahme484 untersuchte er aber nicht nur, ob sich die sozialmoralische Perspektivenübernahme bei Kindern eben­ falls stufenweise herausbildet,485 sondern bündelte er auch – was auch für die Entwicklung von Rechtsbewusstsein wichtig ist – die Strategien, deren Kinder und Jugendliche sich zur Lösung ihrer Konflikte untereinander bedie­ nen.486 Insgesamt bildete er daraus fünf aufeinander aufbauende Stufen: •• Stufe 0: Zwischen 4 und 6 Jahren dominiert ein einseitiges Verständnis von Konflikten und ihrer Lösung. Strategie ist die einseitige Rücknahme der Handlung oder ihre Kompensation. •• Stufe 1: Zwischen 6 und 8 Jahren erkennen Kinder, dass zwei Personen nicht nur an einem Konflikt beteiligt sind, sondern auch an seiner Lösung mitwirken müssen. Die Strategie ist aber noch stark von den Interessenla­ gen und äußeren Umständen abhängig. •• Stufe 2: Zwischen 8 und 10 Jahren lernen Kinder darüber hinaus, dass Konflikte in der Beziehung mehrerer Personen zueinander ihren Ursprung haben und dass sie deshalb im gegenseitigen Einverständnis gelöst werden müssen. Die Strategie besteht allemal im gemeinsamen Durcharbeiten des Konflikts und der Möglichkeiten zu seiner Lösung. •• Stufe 3: Zwischen 10 und 12 Jahren wird zusätzlich vom Standpunkt einer dritten Person aus geprüft, welche Lösung des Konflikts die allgemeine Billigung findet. Danach wird dann die Strategie ausgerichtet.487 •• Stufe 4: Ab 12 Jahren spielen weiterhin Freundschaft und spezielle inner­ psychische Verarbeitungsprobleme bei der Konfliktlösung eine Rolle. Strategisch werden Akte zur „symbolischen Wiederherstellung der Bezie­ hung“ eingesetzt.488 484  J. Piaget/B. Inhelder (1982), S. 76: „Die Perspektive setzt die Herstellung ei­ ner Beziehung zwischen dem Gegenstand und dem Blickwinkel der Person, die sich dieses Blickwinkels bewusst geworden ist, voraus, und hier wie anderswo besteht das Erkennen des eigenen Blickwinkels im Differenzieren desselben von den übrigen und folglich in einer Koordinierung mit ihnen.“ 485  Zur Ermittlung, in welchem Ausmaß Kinder zur sozialmoralischen Perspekti­ venübernahme in der Lage sind, bediente sich Selman ebenso wie Piaget sogen. ‚kli­ nischer‘ Interviews, d. h. er leitete sie mit der Erzählung kleiner Geschichten ein, die in ein moralisches Dilemma führen. Beispiel: Die Katze eines kleinen Mädchens ist auf einen Baum geklettert und traut sich nicht mehr herunter. Allein ihre Freundin Holly ist so gut im Klettern, dass sie die Katze aus ihrer Lage befreien kann. Doch ihr Vater hat Holly das Klettern verbo­ ten, weil sie kürzlich einmal abgestürzt ist. Was soll Holly tun? 486  R. L. Selman (1984), S.  101 ff.; S. Brion-Meisels/R. L. Selman (1986). 487  R. L. Selman (1984), S. 111 ff. Die Einbeziehung eines „mächtigen Dritten“ zur Konfliktlösung wird von Selman nicht untersucht. 488  R. L. Selman (1984), S. 125.



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II523

Untersuchungen zur Gerechtigkeit von Konfliktlösungen bzw. der hierzu angestellten Überlegungen hat Selman allerdings entweder nicht durchge­ führt oder nicht veröffentlicht. (γγ) Lawrence Kohlberg und seine Mitarbeiter haben in der jüngsten Ver­ gangenheit den wohl größten Einfluss auf die moralpsychologische Diskus­ sion ausgeübt, u. a. weil sie von vornherein die Gerechtigkeitsfrage ins Zen­ trum ihrer Untersuchungen stellten. Sie gingen von der Frage aus: Zu wel­ chem moralischen Urteil kommen Kinder je nach ihrem Alter und ihrer Entwicklung der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme? Die bedeutendsten Neuerungen gegenüber den Untersuchungen von Piaget waren: Kohlberg und seine Mitarbeiter definierten erstens Moral durch „Gerechtigkeit“ (in Form deontologischer Urteile über die Zuteilung von Rechten und Pflichten);489 sie verschoben zweitens das Gewicht ihrer Untersuchungen auf die Entwick­ lung der moralischen Urteilsbegründungen; und sie nahmen drittens erhebli­ che Veränderungen am Konzept der moralischen Entwicklungsstadien vor. Zwei Thesen lagen ihren Untersuchungen zugrunde: (1) Kognitive und mo­ ralische Strukturen entwickeln sich synchron, weshalb differenziertere Fähig­ keiten zur kognitiven Beurteilung einer Situation differenziertere moralische Bewertungen zur Folge haben. (2) Das Maß der Differenzierung schlägt sich nicht im Inhalt einer moralischen Bewertung nieder, sondern lediglich in deren Begründung. Zu Untersuchungsergebnissen kamen sie aufgrund der Auswertung moralischer Urteile in Fällen, worin gegenläufige Interessen bzw. Werte von Personen oder Gruppen in einem Konflikt miteinander stan­ den. Dazu wählten sie gemäß der Aristotelischen Einteilung der Gerechtig­ keit in iustitia distributiva, iustitia commutativa und iustitia correctiva drei Fälle aus nebst einem vierten, worin die prozedurale Gerechtigkeit mit zu berücksichtigen war. Als Ergebnis aus ihren Untersuchungen postulierten sie, dass sich die Struktur der moralischen Urteile universalgenetisch in dersel­ ben Stufenfolge entwickle. Aufgrund von Untersuchungen an älteren Kindern als den von Piaget un­ tersuchten und aufgrund komplexerer Dilemmata, als sie den von Piaget studierten Situationen zugrunde lagen, kamen Kohlberg und seine Mitarbei­ ter zur Annahme von sechs qualitativ eigenständig strukturierte Stufen der Begründung moralischer Urteile. Deren Reihenfolge ist nach ihrer Meinung invariant; die folgenden Tafeln 2–4 geben sie inhaltlich verkürzt wieder: 489  Dies mit irrtümlicher Berufung auf Piaget – vgl. A. Colby/L. Kohlberg (1987), S. 329: „Piaget considers the domain of morality as justice to be the focus of his ty­ pology. He claims that the most fundamental form of justice is distributive justice.“ Gerechtigkeit operalisieren Kohlberg und seine Mitarbeiter als Gleichheit (equality), Billigkeit (equity) und Gegenseitigkeit (reciprocity). Die Gerechtigkeitsoperationen fassen sie analog logischen Operationen auf und wenden sie auf die soziale Perspek­ tive an (vgl. L. Kohlberg/C. Levine/A. Hewer, 1983, p. 43).

524

Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts Stufen der moralischen Entwicklung nach Kohlberg (1985, S. 488 ff.)490 A: Präkonventionelles Niveau bis etwa 11 Jahre

Stufe I: Heteronome Moralität Inhalt: Richtig ist eine Handlung, die eine Regel einhält, für deren Bruch man bestraft wird. Insbesondere soll man vermeiden, anderen physisch zu schaden. Gründe für Verhalten sind: die überlegene Macht von Autoritä­ ten („might makes right“), die Vermeidung von Bestrafung. Struktur:  Egozentrischer Standpunkt (weder Berücksichtigung anderer Standpunkte noch Realisierung, dass diese vom eigenen Standpunkt abweichen, erst recht keine Inbeziehungsetzung von Standpunkten zueinander). Handlun­ gen werden allein in Bezug auf ihre tatsächlichen Folgen, nicht jedoch in ihrer Bedeutung für die Interessen anderer und auch nicht nach den dahinterstehenden Intentionen beurteilt. Normen: Konkrete Regeln, die richtiges und falsches Verhalten kategorisieren.

GOp: Unkoordinierter Gebrauch von Gleichheit und Reziprozität.



Gdistr: Strikte Gleichheit ohne Berücksichtigung der besonderen Umstände des Falles entsprechend den Vorgaben einer Autorität.



Gcor: Retribution auf der Basis strikter Reziprozität („Auge um Auge“).



Gcom: „Du sollst Versprechen halten. Sonst bist du ein Lügner (und wirst bestraft).“

Struktur:  Egozentrischer Standpunkt (weder Berücksichtigung anderer Standpunkte noch Realisierung, dass diese vom eigenen Standpunkt abweichen, erst recht keine Inbeziehungsetzung von Standpunkten zueinander). Handlun­ gen werden allein in Bezug auf ihre tatsächlichen Folgen, nicht jedoch in ihrer Bedeutung für die Interessen anderer und auch nicht nach den dahinterstehenden Intentionen beurteilt. Normen: Konkrete Regeln, die richtiges und falsches Verhalten kategorisieren.

GOp: Unkoordinierter Gebrauch von Gleichheit und Reziprozität.



Gdistr: Strikte Gleichheit ohne Berücksichtigung der besonderen Umstände des Falles entsprechend den Vorgaben einer Autorität.



Gcor: Retribution auf der Basis strikter Reziprozität („Auge um Auge“).



Gcom: „Du sollst Versprechen halten. Sonst bist du ein Lügner (und wirst bestraft).“

490  Es

werden folgende Abkürzungen verwendet: GOP = Gerechtigkeitsoperationen Gcor = correktive Gerechtigkeit Gdistr = distributive Gerechtigkeit Gcom = commutative Gerechtigkeit Gproc = procedurale Gerechtigkeit



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II525 Stufe II: Individualistisch-instrumentelle Moralität Inhalt: Richtig ist eine Handlung, die den eigenen Bedürfnissen dient und anderen gestattet, ebenso bedürfnisorientiert zu handeln; die zu einem „fair deal“ auf der Ebene des Austauschs führt. Gründe für Verhalten sind: der unmittelbare Eigennutz und der mittelbare bei fremdnützigem Handeln. Struktur:  Konkret-individualistischer Standpunkt (alle Personen verfolgen ihre eigenen Interessen; dabei kann es jedoch zu Konflikten kommen). Das Richtige ist relativ. Jede Situation kann aus mehr als einer Perspektive betrachtet werden und je nach der Perspektive wechselt auch die moralische Richtigkeit eines Verhaltens. Normen: Es gibt Standards, welche die Handlungen zur individuellen Bedürfnis­ befriedigung regulieren. Sie unterliegen keiner anderen Wertung als der, dass beim Austausch von Leistungen eine Balance gewahrt werden muss.

GOp: Gleichheit und Reziprozität werden auf entgegengesetzte Interessen bezogen und koordiniert.



Gdistr: Die Umstände des besonderen Falles werden berücksichtigt.



Gcor: Bedürfnisse und Intentionen der involvierten Personen werden berücksichtigt.



Gcom: „Du sollst Versprechen halten, damit auch andere es dir gegenüber tun.“ B: Konventionelles Niveau

Stufe III: Interpersonal-normative Moralität Inhalt: Richtig ist eine Handlung, die den Erwartungen entspricht, die andere mit der ‚sozialen Rolle‘, die man ausfüllen soll, verbinden: sich um andere kümmern, loyal mit anderen umgehen, Vertrauen, Respekt, Dankbarkeit erwerben und empfinden usw. Gründe für richtiges Handeln sind: eigene und fremde Wertschätzung („good boy, nice girl“); Sorge für andere; Glaube an die ‚goldene Regel‘. Struktur:  Interindividueller Standpunkt. Das Gemeinschaftliche dominiert gegenüber dem Individuellen, die gegensätzlichen Perspektiven werden mittels der ‚goldenen Regel‘ vereint. Normen: Schutz der gemeinsamen Erwartungen von Personen, die zueinander in Beziehung stehen und ihre Beziehung aufrechterhalten wollen.

GOp ‚Goldene Regel‘: Behandle andere, wie du selbst behandelt werden willst.



Gdistr: Koordination von Gleichheit, Reziprozität und Verdienst.



Gcor und Gcom: Motive und moralischer Wert werden berücksichtigt. (Fortsetzung nächste Seite)

526

Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

(Fortsetzung Tafeln 2–4) Stufe IV: Moralität des sozialen Systems Inhalt: Richtig ist eine Handlung, wenn sie eine Pflicht erfüllt, die generell bejaht wird. Nur in extremen Ausnahmefällen darf man davon abwei­ chen: etwa wenn man mit einem Gesetz in Konflikt kommt oder eine andere soziale Pflichten verletzt. Gründe für richtiges Handeln: Funk­ tionserhaltung der sozialen Ordnung, die zusammenbrechen würde, ‚wenn jeder das täte‘; Appell des Gewissens, einer sozial definierten Pflichten nachzukommen). Struktur:  Allgemein-gesellschaftlicher Standpunkt (d. h. Standpunkt des Systems, das die sozialen Rollen und Regeln definiert). Die eigene Rolle wird durch den Platz innerhalb des sozialen Systems definiert. Individuelle Interessen sind nur legitim, wenn sie systemverträglich sind. Normen: Allgemeine Regeln, welche die soziale Kooperation stützen und der Vermeidung von Streit und Unordnung dienen.

GOp: Es geht um die Balance zwischen individueller Freiheit und sozialen Notwendigkeiten.



Gdistr: Koordination von Gleichheit, Reziprozität und Verdienst unter dem übergreifenden Gesichtspunkt des sozialen Nutzens.



Gcor: Im Zentrum stehen Unparteilichkeit der Gesetzesanwendung und Gefahrabwehr von der Gemeinschaft.



Gcom: Vertragliche Vereinbarungen müssen erfüllt werden, damit das Gemeinschaftsleben reibungslos verläuft bzw. jedermann seinen sozialen Ruf behält. C: Postkonventionelles oder prinzipienorientiertes Niveau

Stufe V: Moralität der Menschenrechte und der sozialen Wohlfahrt Inhalt: Es ist richtig, einerseits von einem Pluralismus derjenigen Werte und Meinungen auszugehen, die normalerweise gleiche Geltung beanspru­ chen können, andrerseitsandererseits aber grundlegende Normen und Werte auch dann aufrecht zu erhalten, wenn sie mit den Werten und Meinungen einer Gruppe konfligieren. Gründe für richtiges Handeln sind: Achtung für ein Gesetz, das dem Schutz und der Wohlfahrt aller dient; Übereinstimmung mit Rechten und Pflichten, die dazu dienen, ‚das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl‘ zu befördern; Bindung an Verträge, die man aus freien Stücken eingegangen ist; Solidarität mit einer Gemeinschaft, der man von Geburt an oder durch freiwilligen Beitritt angehört. Struktur:  Transkultureller Standpunkt (Standpunkt rational handelnder Individuen, die sich der moralischen Werte einer Gesellschaft bewusst sind): Gewisse Werte werden für unverletzlich gehalten, sie dürfen weder vertraglich noch durch Mehrheitsbeschluss eingeschränkt werden; fremde Standpunkte werden nur akzeptiert, wenn sie mittels formaler Mechanis­ men wie vertragliche Übereinkunft, prozessuale Unparteilichkeit usf. sozial integriert werden können; die Möglichkeit moralischer und rechtlicher Konflikte wird berücksichtigt.



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II527 Normen: Sie werden von freien Personen in einem auf Akzeptanz ausgerichteten Verfahren geschaffen und dienen der Maximierung und dem Schutz individueller Rechte sowie der sozialen Wohlfahrt. GOp: Sie müssen die Wahrung der Menschenrechte und die Teilhabe eines jeden an der sozialen Wohlfahrt gewährleisten. Gdistr: Im Zentrum steht der Respekt vor den fundamentalen Men­ schenrechten oder der Prozess sozialer Zusammenarbeit und Verständigung. Gcor: Menschenrechte und soziale Wohlfahrt dominieren. Die Gesetzesauslegung ist an ihnen zu orientieren. Strafe wird nicht mehr retributiv begriffen. Gproc: Sie tritt hier erstmals in Erscheinung. Verfahren führen, gerecht durchgeführt, zu mehr materieller Gerechtigkeit als individuelle Entscheidungen auf einer ad hoc-Basis. Gcom: Die gesamte Gemeinschaft muss als vertraglich begründet angesehen werden. Nur so kann sie zur Quelle moralischer Verbindlichkeit werden. Stufe VI: Moralität universaler ethischer Prinzipien Inhalt: Man soll universellen ethischen Prinzipien der Gerechtigkeit um ihrer selbst willen folgen. Solche Prinzipien sind die Rechtsgleichheit und die Würde aller Menschen. Wenn Gesetze diese Prinzipien verletzen, soll man den Prinzipien den Vorzug geben. Gründe für moralisches Verhalten sind: der Glaube an universelle moralische Werte und das Gefühl, diesen Werten Gehorsam zu schulden. Struktur:  Eigentlich moralischer Standpunkt. Jeder Mensch muss als ‚Zweck an sich selbst‘ betrachtet und behandelt werden. Die Rollenverteilung innerhalb der Gesellschaft hat unter dem ‚Schleier des Nicht­wissens‘ (Rawls) zu erfolgen. Konflikte sind so zu regeln, dass jeder der Beteiligten sie auch mit den Augen des oder der anderen betrach­ten und danach seine Sicht modifizieren kann. Regeln sind aufgrund eines herrschaftsfreien Dialogs aller Betroffenen (Habermas) zu vereinbaren. Prinzipien: Sie treten auf dieser Stufe an die Stelle von Normen. Sie gelten den Verfahren, in denen Verständigung über Normen erreicht wird, und sind Garantie dafür, dass die Verfahren fair sind. Vertrauen und Gemeinsinn werden zur Voraussetzung eines jede Dialogs über menschliche Rechte und allgemeine Wohlfahrt. GOp: Sie werden vom Grundsatz der Fairness beherrscht. Gistr: Für die Verteilung bilden nicht mehr Verdienste oder Talente den Grund, sondern der unterschiedliche Bedarf, der auch noch beim schwächsten Glied der Gemeinschaft gedeckt sein muss. Bei Knappheit lebenswichtiger Güter muss eine Lotterie entscheiden, wer sie erhält. Gcor: Strafe soll nicht in Leidzufügung bestehen; die Menschenwürde des Straftäters ist zu achten. Gcom: Die Verletzung von Versprechen schadet dem wechselseitigen Vertrauen und der gegenseitigen Wertschätzung von Verspre­ chendem und Versprechensempfänger. Nur soweit beide erhalten bleiben, können Versprechen abgeändert werden.

528

Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

(β) Diskussion: Kognitivistische Entwicklungstheorien bestimmen ‚Moral‘ als gedankliche Erkenntnis und Verarbeitung von handlungsleitenden Re­ geln. Daraus folgt für ihre Vertreter, dass für die Entwicklung von Moral die Entwicklung von Intelligenz und intelligentem Verhalten in Bezug auf mora­ lische Entscheidungssituationen ausschlaggebend ist, während die Gefühle, die für die emotivistischen Theorien im Zentrum stehen, ausgeblendet wer­ den. Folgt man zunächst Piaget, dann entwickelt sich die kindliche Moral von einer egozentrischen Perspektive aus, die eingezwängt ist zwischen die Ach­ tung autoritativer Weisungen von Mächtigen und deren heteronome Folgen und die erst im Kontakt mit Gleichaltrigen die Achtung allmählich verblassen und die Autonomie der eigenen Persönlichkeit reifen lässt. Dieses Szenarium hat sich nur bedingt als zutreffend erwiesen. Nach neueren Untersuchungen richten Kinder ihre moralischen Anschauungen zwar anfangs ohne Altersbe­ grenzung auch nach der überlegenen Autorität anderer aus, insbesondere nach der Autorität ihrer Eltern und Lehrer.491 Daneben entwickeln sie jedoch frühzeitig eigene moralische Anschauungen, und zwar selbst solche, die den Anschauungen der Erwachsenen widersprechen.492 Nur konventionellen So­ zialnormen beugen sie sich unumschränkt,493 trennen diese jedoch streng von moralischen Normen.494 Beispiel: Kinder sahen ohne Altersbegrenzung Erwachsene – gleichgültig wie hoch sie deren Autorität veranschlagten – nicht als berechtigt an, Handlungen zu gebieten, die sie als eindeutig amoralisch bewerteten, z. B. anderen Schmerz zuzufügen oder sie unfair zu behandeln.495 Wenn sie dennoch derartige Anordnungen ihrer Eltern befolg­ ten, dann aufgrund ihrer pragmatischen Neigung, demjenigen zu gehorchen, der die Strafgewalt über sie hat.496

Selmans Theorie der moralischen Entwicklung von Kindern teilt die ge­ nannte Schwäche der Theorie Piagets, indem er ebenfalls von jener Egozen­ trik ausgeht, die Piaget für das präoperationale Stadium annimmt. Dagegen überzeugt seine Theorie, was die spätere Entwicklung der strategischen Lö­ sung sozialer Konflikte anbelangt. Das ist umso wichtiger, weil seine Theo­ 491  Ohne dass eine Entwicklung erkennbar wurde, beurteilten Schulkinder von der 1. bis zur 12. Klasse sowohl in den USA als auch in Süd-Korea die Legitimation Erwachsener zur moralischen Normsetzung nach sozialem Status (z. B. jetziger vs. früherer Lehrer), Wissen (z. B. kompetent vs. inkompetent) und Lebensalter (z. B. äl­ ter vs. gleichaltrig). 492  Überblick bei J. H. Flavell (1975); s. ferner J. G. Smetana (1995), p. 230. 493  J. G. Smetana (1985); M. Tisak (1986); K. Kreppner (1997), S. 359 ff. 494  Nachweise bei E. Turiel/M. Killen/C. C. Helwig (1987); C. C. Helwig/M. S. Tisak/ E. Turiel (1990). 495  Nachweise bei J. G. Smetana (1995), p. 233. 496  Dazu E. Turiel (1994); M. Laupa/E. Turiel/P. A. Cowan (1995), p. 146 ff.



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II529

rie, wie leicht erkennbar, auch auf die Strategien zur rechtsförmlichen Beile­ gung von Konflikten anwendbar ist. Bei Kohlberg verschiebt sich der Fokus der Moralentwicklung dann ganz auf die intellektuelle Ebene, indem er zum Gegenstand seiner Untersuchung nicht die Struktur des moralischen Urteils macht, sondern die Struktur der Urteilsbegründung. Deshalb betreffen seine Untersuchungen nicht eigentlich die Entwicklung der Moralität als vielmehr die zunehmende Differenziertheit des Verständnisses von moralischen Normen. Erheblichen Zweifeln unterliegt allerdings Kohlbergs Behauptung, dass zwar die Struktur des moralischen Urteils sich universell nach demselben Schema entwickelt, sein Inhalt aber in unterschiedliche Richtungen auseinanderdriften kann. Der erste Teil dieser Behauptung ist zwar noch halbwegs plausibel, wenngleich zweifelhaft ist, ob die Entwicklung exakt dem Kohlbergschen Schema folgt – verschiedentlich wurde der Verdacht geäußert, dass das Schema einseitig auf der westlichen moralphilosophi­ schen Tradition fuße.497 Dagegen fehlt es dem zweiten Teil der Behauptung vollstän­ dig an Plausibilität: Der Inhalt vieler moralischer Normen mag zwar von Kultur zu Kultur variieren; trotzdem ist er nirgends schlechthin beliebig. Und wahrscheinlich glaubt Kohlberg noch nicht einmal selber daran;498 legt er doch Inhaltskategorien fest, die nach seiner Auffassung universell in moralischen Urteilen angesprochen werden499 und deren Konkurrenz überhaupt erst zu den von ihm getesteten Dilem­ mata führt. Einem kulturellen Relativismus widerspricht auch Kohlbergs Annahme, dass es Menschenrechte gibt, deren Schutz von Rechtsordnungen ubiquitär verbürgt werden müsse.

(γ) Relevanz für die Rechtsentwicklung. Die dargestellten Untersuchungen besitzen für die Historiogenese des Rechtsbewusstseins (und seiner Vorläu­ 497  E. L.

Simpson (1974). daher bei E. L. Simpson (1974), p. 81 ff. Simpson wirft Kohlberg vor, seine Studien zur moralischen Entwicklung auf die Anschauungen seiner eigenen Kultur gegründet zu haben. Andere Kulturen kännten jedoch andere Formen der Mo­ ralität. Westliche Ethik unterscheide sich beispielsweise wesentlich von östlicher. Und jeder Versuch, eine einheitliche Entwicklung in der moralischen Urteilsfähigkeit des Menschen aufzuzeigen, „would be a difficult task … without major assimilation of one general system by another and the destruction of its integrity“ (p. 84). Dieser Kritik kann man allerdings entgegenhalten, dass sie ebenfalls von einem bestimmten kulturellen Standard ausgehe, der Toleranz gegenüber anderen kulturellen Praktiken verlange – und zwar aus dem keineswegs gesicherten Grunde, dass diese genauso berechtigt seien wie die eigenen. Im Gegensatz dazu zieht die Theorie universeller Menschenrechte letzte Grenzen, jenseits derer international keine Toleranz mehr ge­ übt werden darf, und sie verlangt eine Verstärkung dieser Grenzen durch empfindli­ che Sanktionen. 499  Diese Kategorien sind (1) Leben, (2) Eigentum, (3) Wahrheit, (4) soziale Zuge­ hörigkeit („affiliation“), (5) Autorität, (6) Gesetz, (7) Vertrag, (8) Gewissen und (9) Strafe. Wie Kohlberg zu seinen Inhaltskategorien kommt, bleibt unklar. Scheinbar wurden sie empirisch gewonnen; doch über das Ob und Wie ihrer Gewinnung schweigt sich Kohlberg aus. 498  Kritik

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

fer) nur dann Bedeutung, sofern sich die beiden schon einleitend zu 2 aufge­ stellten Hürden überwinden lassen: dass sie weder ausschließlich die Moral noch ausschließlich die Ontogenese betreffen. Beide Hürden lassen sich im Rahmen der Untersuchungen von Kohlberg relativ leicht überwinden. Sein Stufenschema ist deshalb auch bereits aus juristischer Sicht interpretiert worden.500 • Aus der präkonventionellen (egoistischen) Sicht von Kohlbergs 1. Entwicklungsstufe beurteilen nicht nur Kinder soziale Beziehungen. Auch das werdende Rechts­ bewusstsein teilte einst diese eindimensionale Auffassung; denn das Bedürfnis je­ des Einzelnen nach Selbsterhaltung, Selbstbehauptung, Selbstbewahrung und Selbstsicherung war Inhalt seines frühesten Schutzes. • Die 2. Entwicklungsstufe ist nach Kohlberg deshalb die höhere, weil auf ihr ein Perspektivenwechsel möglich wird, aufgrund dessen der Egoismus des einen mit dem Egoismus des anderen in ein für die Abwägung offenes Verhältnis gesetzt wird. Auf einen solchen Perspektivenwechsel stoßen wir auch im Rechtsbewusst­ sein: Die Entwicklung des Vertragsgedankens etwa bestand in einer allmählichen Angleichung der unterschiedlichen Perspektiven, wodurch der Austausch einer fremden Leistung gegen eine eigene ermöglicht wurde.501 • Während die ersten beiden Entwicklungsstufen Ansätze nicht nur für das morali­ sche, sondern auch für das Rechtsbewusstsein aufweisen, handelt Kohlbergs 3. Entwicklungsstufe von den Erwartungen, die generell im sozialen Leben Beach­ tung verlangen502 – die also weder für das moralische noch für das Rechtsbewusst­ sein spezifisch sind. • Auch auf Kohlbergs 4. Entwicklungsstufe geht es allgemein um die Respektierung einer Gemeinschaftsordnung und um Maßstäbe, nach denen sich jeder „anständige Mensch“ verhalten soll. Sofern diese Maßstäbe auch innerhalb des Rechtsbewusst­ seins Bedeutung erlangen, geschieht dies, weil das Recht wiederholt auf sie als außerrechtliche Maßstäbe verweist: etwa wenn es vom „Kaufmann“ verlangt, als „ordentlicher“ Kaufmann zu handeln, oder vom „Teilnehmer am Straßenverkehr“, sein Fahrzeug als „sorgfältiger Verkehrsteilnehmer“ zu führen. Daneben gibt es allerdings auch Maßstäbe für spezifisch juristische Rollen, die bereits dem antiken Recht nicht fremd waren. Denn innerhalb einer hierarchisch vorstrukturierten Sozi­ alordnung knüpfte es beispielsweise an die Rolle eines Fürsten oder die eines Be­ amten spezifische normativ abgesicherte Verhaltenserwartungen. • Auf dem postkonventionellen Niveau der 5. und 6. Entwicklungsstufe schließlich werden Kohlberg zufolge die beiden bisher eingenommenen Standpunkte – der 500  P. Burgard (1991, S. 93) meint sogar, „dass Kohlbergs Stufen weniger eine Entwicklungsskala der Moral als eine Entwicklungsskala des rechtlichen Urteils dar­ stellt, wobei auf Stufe 5 die gesellschafts- und rechtssystemschaffende Perspektive eingenommen und auf der Stufe 6 von einem moralischen Standpunkt aus reflektiert wird“. 501  Vgl. oben F 3 ε. 502  Der Grund liegt darin, dass Kohlberg die Entwicklungslogik des Übergangs von der präkonventionellen zur konventionellen Ebene nicht herausarbeitet.



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II531 egozentrische und der normativistische – vereinigt. Kohlberg verweist einerseits auf die (modernen) Menschenrechte und damit auf ein Mindestniveau an Recht, das niemals unterschritten werden darf, andererseits auf die soziale Wohlfahrt bzw. das Gemeinwohl, das zu befördern oberstes Gebot eines Staates und seiner Rechts­ ordnung ist („Salus populi suprema lex esto!“). Er verweist ferner auf die sich ebenfalls schon im Altertum durchsetzende Auffassung, dass abstrakte Rechtsge­ setze Setzungen eines generalisierenden Willens sind, während deren konkretisie­ rende Anwendung dem Richter obliegt – weshalb die Gesetzesnormen nur in theoria abstrakt gleich, in praxi aber konkret ungleich (nämlich gemäß ‚Billigkeit‘) gelten.

Fazit: Auch die Entwicklung des Rechtsbewusstseins lässt sich an den moralischen Entwicklungsstufen des Kohlbergschen Schemas orientieren. Sie setzt auf einem prä-normativen Niveau ein, wo individuelle Primärbedürf­ nisse beispielsweise einen sozialen Schutzbedarf bestimmen. Sie setzt sich danach normativ fort: Bei einem Konflikt individueller Bedürfnisse müssen die Parteien nach einem gerechten Ausgleich suchen. Später wird auch dar­ auf geachtet, dass der Ausgleich mit dem allgemeinen Interesse an einer einheitlichen Sozialordnung verträglich ist. Und auf der Grundlage einer noch späteren Bewusstseinserweiterung erkennen die Menschen, dass sie in eine Sozialordnung eingebunden sind, deren Inhalt der Vernunft gehorcht und sowohl die Achtung als auch den Schutz universeller Menschenrechte umfasst. Eine weitaus geringere Affinität zum Recht besitzt die Entwicklung der Gerechtigkeit demgegenüber innerhalb des Piagetschen Stadienschemas. ‚Gerechtigkeit‘ wird in diesem Schema primär als ein moralischer Begriff verstanden. Dessen Annäherung an das Recht findet erst im 3. Stadium statt, wo Piaget das Eindringen der ‚Billigkeit‘ (i. S. von Individualgerechtigkeit) in das zuvor abstrakt-gleiche Recht (Piagets 2. Stadium) anspricht. Das abs­ trakt-gleiche Recht ist jedoch, historisch gesehen, kein Stadium, das einem autoritativ gesetzten Willkürrecht (Piagets 1. Stadium) folgte, sondern das infolge der Verschriftlichung des zuvor geltenden konkret-individuellen (Prä-)Rechts entstand und der herrscherlichen Willkür Grenzen setzte. Daher lief die historische Entwicklung der Stadientheorie Piagets eher entgegen, anstatt sie nachzuzeichnen. Etwas besser lässt sich Selmans Stufenschema auf die Rechtsentwicklung übertragen – jedenfalls sofern man diese einseitig aus der Perspektive der Regulation von Streit betrachtet, wie das einige Ethnologen tun.503 Die Stufe 0 seines Schemas scheidet als Parallele zur Vorstufe der Rechtsent­ wicklung allerdings aus, da sie lediglich die frühkindliche Entwicklung be­ trifft. Die Stufen 1 und 2 dagegen entsprechen in etwa den ersten beiden 503  Vgl.

dazu oben E 2 b.

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

Entwicklungsstufen bei Kohlberg, die den allmählichen Weg zur rechtsförm­ lich geordneten Streitbeilegung nachzeichnen. Auf Stufe 3 wird der Rechts­ standpunkt dann auch tatsächlich erreicht, weil der Interessenstreit aus der persönlichen Beziehung herausgelöst und auf die allgemeine Ebene einer auch sozial vernünftigen Lösung gestellt wird. Allerdings öffnet Selman auf der 4. Stufe sogleich das Tor zum Bereich der Billigkeit, also zur Berück­ sichtigung der besonderen Umstände des ‚Falles‘ und der persönlichen Be­ lange der Beteiligten – offenbar weil dies den Beteiligten im normalen Leben meistens wichtiger ist als der Sieg des abstrakten Rechts. cc) Volitivistische (‚personalistische‘) Theorien zur moralischen Ontogenese (α) Darstellung: Rein volitivistische Theorien der moralischen Entwick­ lung gibt es nicht. Am nächsten kommt ihnen die Theorie Erik H. Eriksons zur Identitätsentwicklung bzw. zum Aufbau einer Ich-Identität. Daher soll seine Theorie hier stellvertretend für ähnliche, für die Entwicklung von Rechtsbewusstsein irrelevante, Ansätze stehen. Erikson schließt sich den Theorien von Piaget und Kohlberg insoweit an, als auch er davon ausgeht, dass sich die psychische Entwicklung des Men­ schen in einzelne Stadien (bzw. Phasen) aufteilen lässt, dass die Stadien strikt aufeinanderfolgen und jeweils von einer spezifischen Thematik be­ herrscht werden. Bemerkenswert und für Erikson charakteristisch ist dann jedoch, dass er zusätzlich soziale Komponenten in den Entwicklungsprozess einbezieht, weil, wie er schreibt, jeder individuelle Lebenszyklus sich „in einer Gemeinschaft von Lebenszyklen“ vollzieht.504 Nicht nur der einzelne Mensch reife körperlich und geistig heran, sondern auch die Gesellschaft gehe darauf ein und erbringe für ihn entsprechende Leistungen der Fürsorge. Zum Ausgleich fordere sie von ihm – nach dem Motto „fördern und for­ dern“505 – eine altersgemäß wachsende Leistungsbereitschaft, die schließlich auf einem den persönlichen Fähigkeiten angemessenen Niveau verharrt, bis sie gemäß den im Alter nachlassenden Kräften abnimmt. Beherrschend für alle Phasen der menschlichen Entwicklung ist nach Erik­ son die Frage „Wer bin ich?“ sowie das Ringen um „Ich-Identität“ bzw. um das „unbewusste Streben nach einer Kontinuität des persönlichen Charak­ ters“, aber auch das „Festhalten an einer inneren Solidarität mit den Idealen 504  E. H. Erikson (1973), S. 152. In der Entwicklung von sozialen Institutionen, die das physische Überleben und psychische Wohlergehen der Spezies enthalten, kommt das Darwinsche Modell der Evolution zur Geltung. 505  Ein Beispiel ist die Forderung an ein Kind, dass es nicht weinen, sondern spre­ chen soll, wenn es Kummer hat oder wenn es etwas bekommen will.



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II533

und der Identität einer Gruppe“.506 Infrage gestellt sieht er die Identität durch immer wieder heraufziehende Krisen, bedingt durch körperliche Veränderun­ gen und hierauf zugeschnittene Reaktionen der Gesellschaft. Erikson unter­ scheidet zwischen einem Ich-Ideal, das der Mensch gleichsam als Leitbild vor sich herträgt, und einem Über-Ich als der Summe der sozialmoralischen Anforderungen an seinen Lebensstil. Und er meint, dass beide, Ich-Ideal und Über-Ich, „sich durch ihre unterschiedliche Beziehung zur phylogenetischen bzw. ontogenetischen Geschichte unterscheiden“ lassen.507 Das Über-Ich sei der archaische Vertreter eines evolutionären Moralprinzips, welches unwan­ delbar das (angeborene) Gewissen besetzt hält, während das Ich-Ideal wäh­ rend der Lebensgeschichte wandelbar sei und sich mit den Veränderungen der gesellschaftlichen Realität wandle. Das Selbst schließlich sei der vom Ich geformte Teil des Subjekts, gleichsam sein Abbild, welches das Ich der Au­ ßenwelt zukehrt und im Austausch mit der Außenwelt aufrecht erhält. (β) Diskussion: Wie erwähnt, handelt es sich bei der Entwicklungstheorie Eriksons nicht eigentlich um eine ‚voluntaristische‘, sondern um eine psy­ choanalytische Theorie in der Nachfolge Sigmund Freuds. Ihre Einordnung als ‚voluntaristisch‘ rechtfertigt sich lediglich, weil Erikson die Prozesse des Ichs und speziell das Wachsen eines Selbstkonzepts (der „Ich-Identität“) in den Mittelpunkt seiner Forschung stellt. Dieses Selbstkonzept sieht er ab etwa dem 2. Lebensjahr aufgrund von autonomen Willensentscheidungen sich heranbilden. Dadurch sowie durch die Hinzufügung des Psychosozialen erweitert er die Theorie Freuds in einer Weise, die für die vorliegende Unter­ suchung interessant ist – und die sicherlich noch interessanter wäre, wenn Erikson seine vielfältigen Ideen zu einer in sich konsistenten Zusammen­ schau verdichtet hätte.508 (γ) Relevanz für die Rechtsentwicklung. Rechtsgenetisch bedeutsam an Eriksons Theorie ist vor allem allerdings ein Problem, das er nicht ausdrück­ lich anspricht, das aber allenthalben in seinen Ausführungen durchscheint: das Problem der Verantwortung sowohl für das subjektive als auch für das soziale Selbst. Die Untersuchung dieses Problems ist hauptsächlich innerhalb der Jurisprudenz weitergeführt worden, wo auch genügend Fallmaterial zur Verfügung stand. Allerdings wurden dabei immer wieder Fragen der indivi­ duellen Verantwortung mit solchen der sozialen Zurechnung vermischt,509 weshalb die Diskussion bis heute nicht vom Fleck gekommen ist. Bedauer­ lich ist auch, dass ständig zwei unterschiedliche Konzepte von ‚Willensfrei­ 506  E. H. Erikson

(1973), S. 124 f. (1973), S. 190. 508  Darunter leident u. a. sein Willenskonzept und dessen Entwicklung durch Lern­ prozesse: zu wollen, was sein kann, zu verzichten auf das, was nicht sein kann. 509  Vgl. dazu E.-J. Lampe (2009), S. 692 ff. 507  E. H. Erikson

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

heit‘ in die Diskussion eingebracht wurden: Willensfreiheit als Freiheit des Wollens (die es nicht gibt) und als Freiheit des Ichs (bzw. Selbst), zu wollen oder nicht zu wollen (die es gibt).510 Zu einer Darstellung des z. T. völlig diffusen Diskussionsstands besteht im vorliegenden Zusammenhang indes kein Anlass. b) Gesetzmäßigkeiten in der sozialen Ontogenese Im Gegensatz zu den strukturellen Theorien haben die im Folgenden dar­ zustellenden Theorien die inhaltliche Entwicklung der Moralität zum Gegen­ stand. Ihr gemeinsamer Ausgangspunkt ist allerdings derjenige, zu dem uns die Thesen Eriksons hingeführt haben: dass der Mensch von der Natur auf ein Leben in sozialer Gemeinschaft ausgerichtet (‚prä-adaptiert‘) ist und dass er deshalb die Verpflichtung in sich trägt, sich durch das Erlernen sozialer Normen kulturspezifisch weiterzuentwickeln. Die auch juristische Relevanz ist insoweit klar ersichtlich. Endogenetische (nativistische) und exogeneti­ sche (Konditionierungs- und Lern-)Theorien haben insoweit unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt. aa) Nativistische Theorien zur moralischen Ontogenese (α) Darstellung: Als ‚nativistisch‘ lassen sich diejenigen Theorien be­ zeichnen, die gewisse Konzepte von Moralität als angeboren annehmen. Diese Konzepte können teils unabhängig, teils abhängig von den spezifischen soziokulturellen Gegebenheiten ausreifen, ferner durch Lernen ergänzt und an die jeweilige Kultur angepasst werden. Als angeboren kann etwa die Norm gelten, niemanden zu schädigen (neminem laede!); mittels Reifung kann diese Norm auf Güter, die allen Menschen von Natur aus als wertvoll erscheinen, erstreckt werden, mittels Lernen zusätzlich auf Güter, die nur für die Angehörigen einer bestimmten Kultur oder Kulturgruppe Wert besitzen. Während der erste Bereich dann regelmäßig durch moralische bzw. recht­ liche Normen vor Verletzungen geschützt wird,511 kann der zweite Bereich auch konventionelle Normen umfassen.

510  Die Bedeutung des Unterschieds beider Konzepte zeigt sich etwa bei der unbe­ wussten Fahrlässigkeit von Unterlassungstaten, wo es an der Willensfreiheit zwar im erstgenannten, nicht aber im letztgenannten Sinne fehlt. Vgl. dazu aus juristischer Sicht E.-J. Lampe (2009), S. 693 ff. Zur Begriffsentwicklung aus psychologischer Sicht siehe T. Krettenauer/L. Montada (2005), S. 159 ff. 511  Vertreter der Auffassung, dass moralisches Verhalten angeborener emotionaler Neigung entspricht, sind J. Fodor (2002) und St. Pinker (2003).



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II535

Die Unterscheidung zwischen moralischen und konventionellen Normen scheint angeboren zu sein. Bereits Kleinkinder reagieren heftig, wenn sie körperlich verletzt werden oder wenn ihnen etwas weggenommen wird. Auch sind sie der Auffassung, dass ein solches Verhalten in keinem Land der Erde in Ordnung ist, selbst wenn nie­ mand es ausdrücklich verboten hat. Bei sonstigem normwidrigem Verhalten reagieren sie dagegen schwächer oder überhaupt nicht und sehen, wenn man sie befragt, das Verhalten nur dann als schwerwiegend an, wenn eine Autorität es zuvor ausdrücklich verboten hatte.512 Dass die Übertretung von Schädigungsverboten Sanktionen nach sich ziehen soll, ist schon bei Kleinkindern allgemeine Meinung. Machten Forscher 2- und 3-jährige Kinder glauben, sie hätten einen Schaden verursacht, dann reagierten die Kinder u. a. mit Unbehagen, Sorge und Unsicherheit; sie zeigten Schuld- und Schamgefühle, be­ mühten sich, den Schaden zu beheben, oder baten den Versuchsleiter, dies zu tun.513

Typisch für nativistische Auffassungen ist die Annahme gewisser Entwick­ lungsprinzipien, von denen am bedeutsamsten das von Heinz Werner aufge­ stellte Prinzip der Orthogenese ist. Danach verläuft innerhalb sowohl der Anthropogenese als auch der Ontogenese die psychische Entwicklung des Menschen ‚gerichtet‘ und gesetzmäßig ‚gesteuert‘. Die steuernden Gesetze erzeugen die ‚Anagenese‘ i. S. einer permanenten Differenzierung, Spezifi­ zierung, Zentralisierung und hierarchischen Integration.514 Es lasse sich er­ weisen, schreibt Werner,515 „dass die Entwicklung der biologischen Gestalten in einer zunehmenden Differen­ zierung von Teilen geschieht. Diese Differenzierung aber würde zur Ausbildung von immer absonderlicher werdenden bizarren Gestalten führen, … wenn dieser Differenzierung nicht eine Vereinheitlichung durch Subordination der Teile gegen­ überstände. Bei Zunahme der Kompliziertheit und Differenzierung werden die Naturgestalten dank der Zentralisation eher ausgeglichener als bizarrer. Die Zentra­ lisation bedeutet für jedes organische Gebilde: Organisation der differenzierten Teile zum Zwecke einer totalen Geschlossenheit, einer Ordnung und Gruppierung der Teile von dem Ganzen des Geschöpfes aus.“

512  Siehe insbesondere J. G. Smetana (1981, 1984, 1989); J. G. Smetana/J. L. Braeges (1990); M. S. Tisak (1993, 1995). 513  Forschungen liegen vor u.  a. von P. M. Cole/K. C. Barrett/C. Zahn-Waxler (1992); K. C. Barrett/C. Zahn-Wxler/P. M. Cole (1993); G. Kochanska/R. J. Casey/ A. Fukumoto (1995). 514  Hierfür beruft Werner sich u. a. auf J. W. von Goethe, der eine höhere Differen­ ziertheit zum Kriterium für vollkommenere Geschöpfe gemacht hatte. Er schreibt (1817/1955, S. 56): „Je unvollkommener das Geschöpf ist, desto mehr sind [seine] Teile einander gleich oder ähnlich, und desto mehr gleichen sie dem Ganzen. Je voll­ kommener das Geschöpf wird, desto unähnlicher werden die Teile einander. In jenem Falle ist das Ganze den Teilen mehr oder weniger gleich, in diesem das Ganze den Teilen unähnlich. Je ähnlicher die Teile einander sind, desto weniger sind sie einander subordiniert. Die Subordination der Teile deutet auf ein vollkommneres Geschöpf.“ 515  H. Werner (1959), S. 29.

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

(β) Diskussion: Die nativistischen Theorien erkennen m. E. richtig, dass dem Menschen nicht nur einige sensorische Reflexe, sondern auch ein be­ trächtliches Wissen angeboren ist: ein Wissen um seine Eingebundenheit in Zeit und Raum, um die Gestalthaftigkeit aller darin befindlichen Objekte, um das Aussehen der eigenen Spezies, um das Verhältnis von Grund und Folge und vieles andere mehr. Darüber hinaus besitzt der Mensch angeborene spe­ zies-spezifische Lernfähigkeiten wie etwa die des Sprechens, Zählens, Ver­ gleichens, Schlussfolgerns. Und vermutlich hat er darüber hinaus als einziges Lebewesen die Fähigkeit mitbekommen, über sich nachzudenken und sich für sein Verhalten verantwortlich zu fühlen. Dieses inhaltliche Wissen ist bei der Geburt selbstverständlich noch nicht vollständig vorhanden; es entwickelt sich jedoch durch Übung, sobald die von der Natur dafür vorgesehene Zeit gekommen ist und die endogenen Fä­ higkeiten dafür nicht nur die starting points, sondern auch den Rahmen für die weitere Entwicklung liefern. Dieser Rahmen ist dann einerseits weit ge­ nug, um alle Eindrücke aufzunehmen, die der Mensch für das Leben und Überleben in seiner spezifischen Umwelt braucht, er ist andererseits aber auch eng genug, um alle Eindrücke auszublenden, die dem Menschen die Orientierung in seiner Umwelt unnötig erschweren würden. Im Laufe seiner Lebensspanne entwickelt er sich so weit, dass er allen generell vorhersehba­ ren Aufgaben gerecht werden kann: den biologischen Aufgaben etwa der Reproduktion, den psychologischen Aufgaben etwa der kulturellen Bildung und der eigenschöpferischen Bereicherung des sozialen Milieus, den geisti­ gen Aufgaben etwa der ständigen Wissenserweiterung durch Forschung und Lernen. Welcher Art der jeweilige Wissensstand ist, belegen beispielhaft Kinderzeichnun­ gen. Sie geben zunächst als ‚wichtig‘ diejenigen Repräsentationen groß wieder, die angeboren sind, während die aufgrund von individueller Erfahrung auszufüllenden weniger ‚wichtig‘ sind und daher im Bild nur klein oder gar nicht erscheinen. Später gleicht sich das Größenverhältnis mehr und mehr den tatsächlichen Gegebenheiten an und nimmt schließlich auch die Perspektive des Beobachters als zusätzliches Kriteri­ um für eine realistische Wiedergabe in sich auf. Daher sind Kinderzeichnungen ein relativ getreues Spiegelbild der Persönlichkeitsentwicklung.

Was die Orthogenese anbelangt, sind viele der Postulate, die Heinz Werner mit diesem Prinzip verbunden hat, unmittelbar einleuchtend. Gleichwohl fragt es sich, ob das Prinzip mehr ist als die Benennung oder allenfalls Be­ schreibung eines genetischen Trends, dessen Gründe bisher unerforscht sind.516 Gleichviel – würde man auf das Prinzip der Orthogenese verzichten, dann müsste man auch den Entwicklungsgedanken insgesamt aufgeben und

516  L.

Plate (1913), S. 507.



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II537

an seine Stelle das Konzept einer randomisierten Veränderung setzen, die man bloß konstatieren, deren Richtung man aber nicht vorhersagen kann.517 Was speziell die Anthropogenese anbelangt, ist die Situation noch etwas komplizierter. Grosso modo ist die Menschheit zweifellos differenzierter, spezifizierter, zentralisierter und hierarchisch integrierter geworden. Ihre Anagenese ist also schwerlich zu leugnen. Allerdings haben sich nicht alle Völker anagenetisch gleich entwickelt, sodass sich Abweichungen vom or­ thogenetischen Trend ergeben haben: Viele Völker sind ausgestorben, andere haben den ersten Schwung der Entwicklung eingebüßt oder sich gar kulturell rückentwickelt, während ihre kulturellen Errungenschaften von anderen Völ­ kern aufgenommen und weitergetragen wurden. Der Mensch stellt jedoch insofern keine Ausnahmeerscheinung dar, denn bei anderen lebenden Spezies ist dies nicht anders gewesen. Eine Ausnahmeerscheinung ist der Mensch lediglich insoweit, als sowohl seine Anpassung an die Umwelt als auch die Einpassung seiner Umwelt in die Befriedigung seiner Bedürfnisse bei ihm eine Perfektion (i. S. einer kulturellen Verfeinerung) angenommen hat, die einzigartig ist. (γ) Relevanz für die Rechtsentwicklung. Unbestritten ist ein spezielles Rechtsbewusstsein dem Menschen nicht einmal keimhaft angeboren, sodass es unter günstigen kulturellen Bedingungen lediglich auszureifen bräuchte. Angeboren sind dem Menschen lediglich gewisse normative Grundregeln ohne spezifisch juristische Relevanz wie das schon genannte Verbot, andere zu schädigen, und das Gebot, anderen in Notlagen zu helfen. Angeboren sind ihm ferner – wahrscheinlich nicht vom Anbeginn seiner Entwicklungs­ geschichte, wohl aber spätestens seit 15.000 Jahren ‒ die Fähigkeiten, Ver­ haltensnormen auszubilden und sich nach ihnen auszurichten. Zusätzlich zu den angeborenen Grundregeln kann er insbesondere diejenigen Verhaltens­ normen erlernen, die in seiner Gemeinschaft speziell gelten. Zur Vervoll­ kommnung dieser Fähigkeiten bedarf er freilich einer umfangreichen Ein­ arbeitung in die Kultur seiner Gemeinschaft, die er aber schon in frühester Kindheit beginnt und ab dem Zeitalter der Pubertät verstärken und kritisch hinterfragen kann. bb) Konditionierungs- und Lerntheorien zur moralischen Ontogenese (α) Darstellung: Nach der älteren behavioristischen Lerntheorie wird die Kulturierung des Menschen, gleich auf welchem Gebiet, durch Konditionie­ rung bewirkt. Der Ort der Entwicklungsdynamik liegt nach ihr also – im 517  Ich werde hierauf im Rahmen meiner vergleichenden Zusammenfassung der Ergebnisse (unten d) zurückkommen.

538

Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

Gegensatz zu den strukturalistischen Theorien – in der Außenwelt.518 Gene­ riert wird sie durch Einflüsse, die teils über kognitive, hauptsächlich aber über emotionale Mittler (wie z. B. Angst vor Bestrafung) sein Verhalten trai­ nieren. Entwicklung findet m. a. W. statt durch Anpassung an Verbote und Gebote, die entweder bejaht und befolgt werden, oder zunächst zwar verneint, dann aber doch befolgt werden, weil andernfalls Strafen zu erwarten sind. Nach Grazyna Kochanska verbinden sich dabei zwei Komponenten miteinander: die Fähigkeit, Impulsen zur Übertretung von Regeln zu widerstehen, und die Fähig­ keit, bei einer Übertretung von Regeln Angst vor Strafe, Scham oder Schuldgefühle zu erleben.519 In einer späteren Arbeit fügt sie als dritte Komponente noch die posi­ tive Beziehung zu einer Bezugsperson als Grund für regelkonformes Verhalten hinzu,520 sodass sie insgesamt die bereits von S. Freud genannten Gründe für morali­ sches Verhalten bestätigt.

Moderner als die behavioristische ist die sozial-kognitive Lerntheorie.521 Ihre Anhänger betonen insbesondere den Unterschied zwischen dem bloßen Lernen von moralischem Verhalten und der Ausführung von gelerntem mora­ lischem Verhalten. Das Lernen sei abhängig von der eigenen Erfahrung oder von der Beobachtung eines Modells. Die Ausführung dagegen werde – außer durch angeborene Neigungen und Tendenzen522 – durch die Erwartung einer Belohnung oder Bestrafung konditioniert.523 Gleichwohl begründeten weder die Beobachtung eines Modells noch die Erwartung einer Belohnung oder Bestrafung hinreichend die Bereitschaft, ein moralisches Urteil zur Hand­ lungsmaxime zu machen. Den Ausschlag gebe erst die Erwartung einer Selbstreaktion: etwa von Reue, Selbstbestrafung u. ä. Diese Erwartung sei motivierend, weil sie keiner Autorität zur Verstärkung bedürfe. Somit be­ trachten die Lerntheoretiker die Entwicklung zwar als Verarbeitung von exogenen Einwirkungen auf den Organismus aus der Umwelt. Doch erken­ nen sie auch an, dass diese Einwirkungen nach endogenen Programmen verarbeitet werden und dass deshalb die menschliche Entwicklung nicht etwa ausschließlich von außen gesteuert wird. Nur stehe die Bedeutung der inne­ ren Entwicklung hinter derjenigen der exogenen Faktoren zurück. 518  B. F. Skinner (1971), S. 211: „Nicht der Mensch wirkt auf die Umwelt ein, sondern die Welt auf den Menschen.“ 519  G. Kochanska (1991, 1993). 520  G. Kochanska (1995). 521  Wichtigster Vertreter ist A. Bandura (1977/1979; 1986 u. ö.). 522  So neigen beispielsweise Mädchen weniger zur Ausübung von Gewalt als Jun­ gen, wenngleich sie den Einsatz von Gewalt durchschnittlich nicht weniger billigen als diese. 523  Die konditionierende Erwartung kann ihrerseits wiederum durch die Beobach­ tung induziert sein, was einem Modell als Folge seines Verhaltens widerfährt. Vgl. dazu außer den Arbeiten von A. Bandura (1965; 1969; 1971; 1977/1979; 1986) auch diejenigen von J. Aronfreed (1968 und 1976) und L. Kohlberg (1976).



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II539

Die Anerkennung einer auch inneren Entwicklung geht auf die Begegnung der Lerntheoretiker mit der kognitiven Entwicklungstheorie Piagets zurück. Ursprünglich hatten sie die Auffassung vertreten, dass entweder Konditionierungsformen („Behavi­ orismus“) oder Informationsverarbeitungsprozesse („soziale Lerntheorie“) die Ent­ wicklung allein bestimmten − Entwicklung sei Anhäufung von Erfahrungen, die im Gedächtnis gespeichert werden und von nun an verfügbar seien. Nach ihrer Begeg­ nung mit der Theorie Piagets gingen sie mehr und mehr dazu über, die methodischen Unterschiede zwischen beiden Theorien zu verdeutlichen: Die Theorie Piagets unter­ suche primär die Veränderung der Wissensstrukturen, ihre eigene Lerntheorie dagegen deren Anwendung auf konkrete Situationen. Die Theorie Piagets mache primär die Ontogenese zum Gegenstand der Untersuchung, ihre eigene Theorie dagegen die Aktualgenese − in der Ontogenese erkenne sie lediglich das Ergebnis einer kohären­ ten Folge von aktualgenetischen Akten. Die Theorie Piagets berücksichtige die Be­ deutung sozial-emotionaler Aspekte der Entwicklung nur am Rande, ihre eigene Theorie betone dagegen die richtungweisende Bedeutung auch der Emotionalität („hot cognition“)524 für das konkrete soziale Verhalten.

(β) Diskussion: Infolge der Einbeziehung der Aktualgenese in die Untersu­ chung stellt die soziale Lerntheorie die Erforschung der Ontogenese auf eine breitere Grundlage als die kognitive Stadientheorie Piagets und seiner An­ hänger. Ferner erweitert sie durch die Einbeziehung der Emotionalität das Forschungsspektrum um eine wichtige Verhaltensgrundlage. Allerdings kommt ihr über der Schau auf die Fülle der aktualgenetischen Besonderhei­ ten das Gleichbleibende bzw. ‚Genidentische‘ innerhalb der Ontogenese weitgehend abhanden. Nur deshalb erscheint ihr Entwicklung als Zunahme von Erfahrung und als Verbesserung der gedächtnismäßigen Organisation, nicht aber als Zunahme immer höherer Formen der Erkenntnis (als ‚Reifung‘ bzw. ‚Anagenese‘). Dies betrifft auch und insbesondere die Entwicklung der Moralität. Während die Kognitivisten nicht vorhersagen können, ob und wie sich innerhalb einer konkreten Situation die moralische Ansicht einer Person im Verhalten niederschlagen wird, richten Lerntheoretiker gerade hierauf ihre Aufmerksamkeit. Und während die Kognitivisten die emotionale Betroffen­ heit als Einflussgröße auf das Verhalten in einer konkreten Situation vernach­ lässigen, ziehen die Lerntheoretiker gerade sie zur Vorhersage mit heran. Umgekehrt geraten die Lerntheoretiker in Schwierigkeiten, wenn sie die Funktion des Alters für die zunehmende Berücksichtigung situativer Merk­ male erklären sollen: Warum ist ein Kind kaum in der Lage, mildernde Um­ stände in Betracht zu ziehen, owohl es bereits Gelegenheit hatte, die hierfür nötigen Erfahrungen zu sammeln? Weil es erst im fortgeschrittenen Alter die Fähigkeit erwirbt, die Fülle der relevanten Situationsmerkmale zu assimilie­ ren.525 524  R. B.

Zajonc (1980), S. 152, mit Bezug auf R. P. Abelson (1963). sei noch, dass die Lerntheoretiker auch angesichts der Frage in Schwierigkeiten geraten, wodurch Vp.en aufgrund einer nur begrenzten Anzahl von 525  Erwähnt

540

Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

Ergebnis: Da die Lerntheorie sich vor allem dem Augenblick verschrieben hat, fehlt ihr der Zugang zur Ontogenese des moralischen Bewusstseins. Al­ lerdings ist die Vermutung nicht von der Hand zu weisen, dass die Mechanis­ men, die bei reifen Menschen anlässlich der Aktualgenese einer Wertent­ scheidung wirksam werden, eben jene sind, welche – wenngleich in verkürz­ ter Form – die Ontogenese und darüber hinaus die Historiogenese rekapitu­ lieren. Doch dazu fehlen, soweit ich sehe, derzeit noch Forschungsarbeiten. (γ) Relevanz für die Rechtsentwicklung. Für die Historiogenese des Rechts­ bewusstseins und für die Erklärung der Rechtsgenese besitzt die Lerntheorie derzeit nur geringe Bedeutung. Lernprozesse sind zwar in jedem Prozess enthalten, der sich auf den Mechanismus von Versuch, Irrtum und Stabilisa­ tion stützt. Doch damit eine historische Aufwärtsentwicklung entsteht, bedarf es auch innerer Reifungsprozesse, die der Menschheit nur aufgrund einer viele Generationen übergreifenden Serie von Lernerfahrungen zuwachsen können. Zu ihnen bietet die Lerntheorie keinen Zugang. Soweit erkennbar, ist derzeit das Bewusstsein selbst der zivilisatorisch am weitesten fortgeschritte­ nen Völker noch immer nicht hoch genug entwickelt, um die Achtung und den Schutz von Menschenrechten als immanentes Gebot nicht nur zu erleben, sondern es auch an die nachfolgende Generation genetisch (!) weiterzugeben. Deshalb haben wir es noch und immer wieder mit Grausamkeiten, Massen­ morden, Verstümmlungen und Quälereien zu tun, deren sich nur diejenigen Menschen schämen, die an humanitären Idealen geschult wurden. Sie halten diese Taten für ‚unmenschlich‘, obwohl sie es leider immer noch nicht sind. cc) Identifikationstheorie zur moralischen Ontogenese (α) Darstellung: Diese Theorie526 ergänzt die vorige, indem sie annimmt, dass Kinder auch durch Identifikation mit natürlichen Personen oder sozialen Rollen moralisches Verhalten erlernen können. Sie unterscheidet also zwi­ schen Lernen durch (äußere) Imitation und Lernen durch die (innere) Bereit­ schaft, einen anderen Menschen als Vorbild anzusehen und seinem Verhalten zu folgen. Warum sich Kinder mit Vorbildern identifizieren, ist allerdings

Beobachtungen werthaften Handelns in die Lage versetzt werden, auch neue Situa­ tionen, Konflikte u. ä. angemessen zu bewerten. Auch geben Beobachtungen längst nicht in allen Fällen über die innere Einstellung der Handelnden Auskunft, obwohl für die moralische und rechtliche Bewertung einer Tat gerade die Einstellung bedeut­ sam ist, aus der heraus sie begangen wurde. 526  Vertreter sind u. a. R. N. Emde (1992); R. N. Emde/Z. Biringen/R. B. Clyman/ D. Oppenheim (1991); H. K. Buchsbaum/R. N. Emde (1990). Da die Identifikations­ theorie der Lerntheorie nahesteht, ist auch die hierzu vorhandene Literatur teilweise einschlägig, so insbesondere A. Bandura/R. H. Walters (1963).



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II541

bisher ungeklärt; die Annahme liegt nahe, dass es sich um eine angeborene Neigung handelt.527 Wichtigstes Mittel zur Identifikation mit Personen sowie zur Einübung von Rollen ist das Spiel. Das Kind ahmt im Spiel eine bedeutsame Person nach, etwa die Mutter, die Krankenschwester oder den Feuerwehrmann, und übernimmt damit deren Rolle. Häufig wechselt es aber auch während des Spiels die Rolle: Es „spielt zum Beispiel, dass es sich etwas anbietet, und kauft es; es gibt sich selbst einen Brief und trägt ihn fort; es spricht sich selbst an – als Elternteil, als Lehrer; es verhaftet sich selbst – als Polizist“528. Später übernimmt es nicht nur die Rolle jeweils einer Person, sondern versetzt sich auch in die Lage mehrerer zugleich. Es spielt Fußball als Stürmer und realisiert dabei, wie der gegnerische Torwart reagieren wird. Es lernt somit die Re­ geln, nach welchen fremde Reaktionen ablaufen. Es universalisiert schließlich seine Fähigkeit zur Perspektivenübernahme und ermöglicht sich dadurch die Aneignung jener abstrakten Regeln, deren Einhaltung ‚man‘ von ihm erwartet. „Insoweit das Kind die Haltungen anderer übernimmt und diesen Haltungen erlaubt, seine Tätigkeit im Hinblick auf das gemeinsame Ziel zu bestimmen, wird es zu einem organischen Glied der Gesellschaft. Es übernimmt die Moral dieser Gesellschaft und wird zu ih­ rem Mitglied.“529 Vor allem Jungen machen sich darüber hinaus abstrakte Gedanken über das sozialmoralisch richtige Verhalten und erziehen sich, es als für sich verbind­ lich anzusehen.530

(β) Diskussion: Dass Kinder nicht nur aufgrund der Einwirkung äußerer Kräfte, sondern auch aufgrund von Eigeninitiative sich sozialisieren und auf diese Weise moralisches Verhalten (und natürlich auch amoralisches Verhal­ ten) einüben, ist die wohl wichtigste Erkenntnis der Identifikationstheorie. Mit Recht schenkt sie daher dem eigenpersönlichen Anteil an der normativen Entwicklung mehr Aufmerksamkeit als andere Theorien. (γ) Relevanz für die Rechtsentwicklung. Dass auch Rechtsbewusstsein und rechtstreues Verhalten durch Imitation fremden Verhaltens gelernt werden können, ist heute gängige Ansicht. Dass darüber hinaus die soziale Reaktion auf abweichendes Verhalten, insbesondere die Bestrafung, Grund für Lern­ prozesse ist, ist eine Erfahrung, auf der insbesondere die generalpräventiven Straftheorien basieren, ohne sie indessen − aus hier nicht zu erörternden Gründen − in soziale Praxis umsetzen zu können. Inwieweit die Erfahrung auf die Entwicklung des Rechtsbewusstsein Einfluss hatte, lässt sich heute allerdings nicht mehr feststellen. Man wird aber annehmen dürfen, dass der Einfluss vor allem dort besonders groß gewesen ist, wo zusätzlich die Reli­

527  Welche äußeren Bedingungen erfüllt sein müssen, damit es zur Identifikation kommt, ist verschiedentlich untersucht worden, jedoch im vorliegenden Zusammen­ hang belanglos. 528  G. H. Mead (1978), S. 193. 529  G. H. Mead (1978), S. 202. 530  K. Bott (2008), S. 72 ff., 235.

542

Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

gion den Menschen auf sich selbst und auf die Verantwortung für das eigene Schicksal hingewiesen hat.531 c) Gesetzmäßigkeiten in der aktional- und interaktional-moralischen Genese (α) Hierzu vertretene Theorien: Allgemeiner noch als die Identifikations­ theorie beziehen die Handlungstheorien „die Individuen als Produzenten ih­ rer eigenen Entwicklung“532 ein. Von ihren verschiedenen Versionen533 sei hier nur diejenige von Lutz H. Eckensberger genannt, weil sie explizit auf die Entwicklung auch des Rechtsbewusstseins Bezug nimmt. Eckensberger verteilt die moralische Entwicklung des Menschen genau wie Kohlberg auf sechs Stufen. Und weil nach seiner Definition ‚handeln‘ bedeutet, dass zur Erreichung von Zielen Machtmittel eingesetzt werden,534 benennt er auf je­ der Stufe nicht nur Zielwerte, sondern auch die instrumentellen Werte, die eine Rolle spielen. Tabellarisch sieht das so aus (Tafel 5): Stufe

Intrumentelle Werte

Zielwerte

1

Macht, Gehorsam

individuelles Wohlergehen

2

materielle Werte

Wohlergehen aller Konfliktpartner

3

Verzicht, Einigung

interpersonale Werte, Zuneigung, Anerkennung

4

Gesetze

Wohlergehen für die Gruppe, soziale Ordnung

Freiheit & Autonomie des einzelnen

Wohlergehen aller535

5

Kontrakte

Gleichheit und Bürgerrechte

6

(Es werden keine instrumentellen Werte benannt)

(Es werden keine Zielwerte benannt)



dazu oben H 3 c. der Titel eines von R. M. Lerner/N. A. Busch-Rossnagel (1981) herausgege­ benen Buches. 533  Übersicht bei L. H. Eckensberger (2001). 534  Genauer L. H. Eckensberger (1986), S. 419 ff. u. ö. 535  Diese Stufe wird von Eckensberger im Anschluss an das Ergebnis einer Längs­ schnittstudie von Kohlberg eingefügt, wonach High-School-Absolventen wieder auf das moralische Urteilsniveau der Stufe 2 zurückfallen. 531  Siehe 532  So



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II543

Nach Eckensberger eignen sich spezifisch handlungstheoretische Kon­ zepte dazu, „den historischen Wandel in psychologische Theorien hereinzu­ holen“; denn „sie enthalten auch die Veränderungen im Außen, d. h. die materiellen und historischen Handlungsergebnisse“536, insbesondere also auch die Entwicklung des soziokulturellen Kontextes von Handlungen. Um­ so überraschender ist es freilich, dass Eckensberger die Koevolution zwi­ schen individuellen Handlungen und ihrer soziokulturellen Umwelt keiner genaueren Untersuchung unterzieht. Vielmehr begrenzt er seine Untersu­ chung537 auf die Jugendphase der Ontogenese innerhalb von zwei als unver­ ändert gedachten kulturellen Umwelten: Er unterscheidet lediglich zwischen der einheitlich vorgestellten westlichen hoch segregierten Kultur, wie sie sich in den modernen Instustriestaaten herausgebildet hat, und der nichtwestlichen Kultur, die er als überall dort vorhanden annimmt, wo noch Sub­ sistenzwirtschaft betrieben wird und Handwerkertraditionen die Ergänzung bilden. In der nicht-westlichen Kultur bestehe zwischen dem Neugeborenen und vor allem seiner Mutter eine symbiotische Beziehung, die das ‚Selbst‘ des Kindes nach etwa 2–3 Jahren als ‚relationales Co-Agens‘ hervorgehen lässt. Bis zum Eintritt in die Pubertät durchlaufe die Entwicklung dann eine eigenverantwortliche Lernphase, wäh­ rend deren das Gelernte der Kultur entnommen und inhaltlich danach kanalisiert werde, ob es als Beitrag zum Familieneinkommen umgemünzt werden kann. Die weitere Entwicklung des Selbstkonzepts bestehe in der Ko-Konstruktion tradierter kultureller Werte und Normen, die im Falle des Gelingens eine in die Gruppe einge­ passte Identität erzeugen. ‒ In den Industrienationen durchlaufe die Ontogenese zwar entsprechende Phasen, sie sei aber von Anfang an weitaus stärker auf die Erzeugung einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit ausgerichtet. So befinde sich bereits der Säugling im Verhältnis zu seiner Mutter in einer Phase der Dezentrierung. Daran schließe sich eine von Lehrern und Erziehern verantwortete Lernphase an, die den jungen Menschen noch in vollständiger ökonomischer Abhängigkeit von seinen El­ tern belässt. Und erst in der dritten Phase werde dem Jugendlichen die Aufgabe zuge­ teilt, seinen eigenen Platz in der Gesellschaft zu suchen und zu finden.

Versucht man, die fehlende Berücksichtigung der Koevolution von Onto­ genese und Soziogenese aufgrund von Veränderungen innerhalb der kulturel­ len Umwelt nachzuholen, tritt einesteils zunächst die Bedeutung des Anderen hervor, der dem Ich gegenübertritt, auf dessen Verhalten das Ich reagiert und der beispielsweise in der Familie, wo die ersten Erfahrungen gesammelt wer­ den, eine zwar klare, aber jeweils unter kulturellem Einfluss stehende und sich folglich verändernde Kontur besitzt; andernteils gewinnt aber auch die fortschreitende Anonymisierung der Gesellschaft ihre prägende Kraft, weil ständig mehr Regelmäßigkeiten beobachtet und nachgeahmt werden müssen 536  L. H. Eckensberger

(1985), S. 100. H. Keller/L. H. Eckenberger (1998), S. 67 ff., Zusammenfassung und Cha­ rakterisierung der beiden Entwicklungspfade S. 87 f. 537  In

544

Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

und daraus schließlich das Bewusstsein einer ungeheuren Fülle allgemeingül­ tiger Regeln entsteht, die noch über der Herrschaft mächtiger Einzelner ran­ gieren.538 Drittens führt die Ausweitung der Städte gegenüber den ländlichen Bezirken zu Wahrnehmungsveränderungen, mit denen sich schon der Ju­ gendliche innerlich auseinandersetzen muss − und das nicht nur in der west­ lichen Welt! (β) Diskussion: Kohlbergs Stufenschema hatte, wie erwähnt, nur die Ent­ wicklung des moralischen Urteils aufgezeigt, nicht auch die des moralischen Verhaltens. Schon bisher klang aber an, dass moralisches Bewusstsein sozial nur dann etwas wert ist, wenn es zu moralischem Verhalten führt.539 Daher bieten Handlungstheorien eine wichtige Ergänzung zu den kognitivistischen Theorien. Allerdings haben die Handlungstheoretiker bisher nur wenige em­ pirische Belege zur Unterstützung ihrer Theorie vorgelegt, und die Enge so­ wohl ihres Handlungskonzepts540 als auch ihres Bewertungsrahmens541 setzt einer Analyse, welche Bedeutung Handlungen für die sozialmoralische Ent­ wicklung zukommt, enge Grenzen. Legte man der Theorie ein weiteres Handlungskonzept und einen weiteren Bewertungsrahmen zugrunde, käme m. E. insbesondere die Wechselwirkung zwischen individueller Handlung und sozialer Rückwirkung genauer in den Blick, sodass ein Fortschritt ge­ genüber der Identifikationstheorie erreicht würde. Allerdings entstünde dann die Gefahr, dass die Subjekt-Umwelt-Beziehungen so vielgestaltig werden, dass sie sich zu einer Entwicklungstheorie nicht mehr zusammenfügen las­ sen. Zur Lösung dieses Problems sehe ich keine Ansätze.542 (γ) Relevanz für die Rechtsentwicklung. Anders als die Moral fordert das Recht weniger die lautere Gesinnung als das lautere Verhalten. Und im Ge­ gensatz zur Moral reagiert es nicht schon auf die Gesinnung, sondern erst auf das Verhalten. Die innerlich gebliebene Absicht, Gutes zu tun, genügt ihm nicht als Anknüpfungspunkt für eine Rechtsfolge (etwa eine steuerrechtliche O. Höffe (1982), S. 239 ff. F. Oser/W. Althof u. a. (1994), S. 236 ff. Zutreffend bemerkt A. Blasi (1980, 1983), dass das moralische Urteil sich von einer kognitivistischen Position erklären lässt, während das moralische Handeln sozialpsychologisch erklärt werden muss. Allerdings bestehe zwischen Urteil und Verhalten ein überzufälliger Zusam­ menhang. 540  Erfasst werden weder die fahrlässigen Handlungen noch die Unterlassungen, die z. B. auf einem Vergessen beruhen. 541  L. H. Eckensberger (1986, S. 422) meint, lediglich die Zielauswahl moralisch bewerten zu können; die Mittelauswahl dagegen stehe unter dem Wertgesichtspunkt der Zweckrationalität. Ein Blick ins Strafgesetzbuch belehrt jedoch eines Besseren. 542  R. M. Lerner/M. B. Kauffman (1985, p. 321) schlagen die Einführung eines Konzepts der „probabilistic epigenesis“ vor, geben damit aber dem Problem, Ordnung in die Vielgestaltigkeit der Entwicklungsdeterminanten zu bringen, lediglich einen Namen. 538  Dazu 539  Vgl.



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II545

Vergünstigung); der innerlich gebliebene Vorsatz, Böses zu vollbringen, löst keine Unrechtsfolge (etwa eine Kriminalstrafe) aus. Auch der Motivations­ prozess, der das äußere Verhalten in Gang setzt, ist dem Recht meistens gleichgültig. Lediglich das von der Moralität des Handelnden am stärksten beeinflusste Rechtsgebiet, das Strafrecht, gründet seine Rechtsfolgen auch auf die Verhaltensmotive des Täters – das moderne Strafrecht stets aus An­ lass einer Schuldfeststellung, das antike Strafrecht nur, wenn es sich aus­ nahmsweise vom Erfolgsstrafrecht bereits gelöst hatte. Dagegen stellte die Handlung für die Entwicklung des Rechts von Anfang an einen wichtigen Baustein dar:543 zum einen als Ursache für einen Erfolg und zum anderen als Ausdruck des Ungehorsams gegenüber einem Ge- oder Verbot. Als Ursache für einen Erfolg zog sie Rechtsfolgen nach sich, wenn sie einen rechtswidri­ gen Erfolg herbeigeführt hatte, gleichgültig aus welchen Gründen und mit welcher Absicht das geschah.544 Als Ausdruck des Ungehorsams gegenüber einem Ge- oder Verbot zog eine Handlung Rechtsfolgen nach sich, wenn man dem Handelnden hierfür die Verantwortung zuschreiben konnte. Hierfür war in alter Zeit entscheidend, ob entweder der Handelnde dem Einfluss ei­ ner höheren Macht unterlag oder ob er zwar autonom, aber rechtsfeindlich handelte. Allerdings musste er für beides geradestehen und entweder sein Verhältnis zur höheren Macht bzw. seine Willensmacht geraderücken lassen. d) Zusammenfassende Stellungnahme zur Bedeutung der vorgenannten Theorien für die Rechtsentwicklung Meine Untersuchung zur Normgenese (oben C 1) war zu dem Ergebnis gekommen, dass die Natur ihre Lebewesen mit einer hinreichenden Zahl von Fähigkeiten ausgestattet hat, die ihnen das Überleben in einer artspezifischen Umwelt gestatten. Auch der Mensch bildet hiervon keine Ausnahme. Nur hat er seine artspezifische Umwelt im Laufe der Zeit in jeder Hinsicht verwan­ delt: Er hat sie immer weniger natürlich, stattdessen immer kulturspezifischer gemacht. Deshalb lebt er heute nur noch mithilfe unterschiedlicher kulturel­ ler Mittel in unterschiedlichen natürlichen Umwelten, doch deren ursprüngli­ che Art spielt für ihn kaum noch eine Rolle. Psychisch braucht er unberührte Natur um sich − oder was er dafür hält. Doch da er selber im Laufe seines Lebens vom Naturprodukt zum Kulturprodukt geworden ist, hat sich auch insoweit ein Wandel vollzogen, als er mit fast jedem Ersatz für ‚unberührte Natur‘ zufrieden ist. Verlangt er doch auch von seinen Mitmenschen, dass sie zum Folgenden auch G. R. Semin/A. S. R. Manstead (1983), p. 143 ff. gab es Ausnahmen. So spielte für das jüdische Recht eine Rolle, ob der Täter, dem man eine Tötungsabsicht nicht nachweisen konnte, sein Opfer gehasst hatte − dann nämlich vermutete man seine Absicht. Vgl. oben Teil II Fn. 717. 543  Vgl.

544  Allerdings

546

Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

ihm natürlich gegenübertreten, doch bitte schön in kultivierter Form. Allen­ falls in stark emotionalen Situationen gestattet er ihnen noch, tatsächlich ‚ganz natürlich‘ zu sein.545 Dessen eingedenk sollen die vorstehend dargestellten Untersuchungsergeb­ nisse darauf überprüft werden, ob und inwieweit sie, bezogen auf das Rechts­ bewusstsein als ihrem Kernthema, eine Anagenese (Höherentwicklung) er­ kennen lassen, die orthogenetisch auf die Entwicklung einiger in ihrem na­ türlichen Kern vielleicht noch universell gleicher, außerhalb des Kerns aber schon kulturell überformter Eigenschaften ausgerichtet ist. (α) Bedeutung für die Anagenese von Rechtsbewusstsein. Die Behauptung einer Anagenese des Rechtsbewusstseins schließt ein, dass die menschliche Psyche – Fühlen (emotion), Denken (cognition) und/oder Wollen (volition) – quantitativ reichere und qualitativ höhere (rationalere) Strukturen ausgebildet und sie zu einer wohlgeformten Einheit verbunden hat. Für das moralische Gefühl546 hat M. L. Hoffman (oben 2 a aa) eine solche Höherentwicklung zwar angenommen, sie im Wesentlichen aber nur behaup­ tet. Selbst wenn sie sich nachweisen lässt,547 ist sie für das Rechtsbewusst­ sein nur so weit bedeutsam geworden, wie sie zeitlich mit dessen Entwick­ lung zusammenfällt. Und das kann nur sehr eingeschränkt der Fall gewesen sein. Denn die Fähigkeit etwa zur Empathie war längst ausgebildet, bevor sich ein Rechtsbewusstsein entwickelte, und auch die Fähigkeit zur Perspek­ tiven- und Rollenübernahme hatte innerhalb wie außerhalb des engen Fami­ lien- und Freundeskreises ihre Bewährungsprobe bereits bestanden. Noch entwickelt werden musste lediglich das Bewusstsein einer spezifisch rechtsnormativen Gebundenheit. Dafür aber mussten vor allem die kognitiven und rationalen Anteile an der Empathie verstärkt werden, weil nur auf sie sich die erlernbaren Funktionen des Rechts erstreckt haben. Ob und inwieweit sonst eine Steigerung emotiver Fähigkeiten der Entwicklung des Rechtsbewusst­ seins zugute kam oder ob die Entwicklung des Rechtsbewusstseins umge­ kehrt zur Steigerung der emotiven Fähigkeiten geführt hat, ist heute nicht mehr feststellbar. Wahrscheinlich ist lediglich, dass das Bewusstsein rechts­ normativer Gebundenheit sich entsprechend dem Verrechtlichungsgrad des sozialen Umfelds gesteigert und rational verfeinert hat, sobald der Einzelne häufiger in rechtlich geordnete Situationen geriet. Deshalb dürfte insoweit 545  Vgl. F. Petermann/K. Niebank/H. Scheithauer (2004), S. 102 ff., 258 f. m. Nachw.

546  Dass dieses, metaphysisch gesehen, kein höheres Gefühl, sondern ein Gefühl mit größerer Tiefe ist (vgl. dazu noch unten K 7 c), kann hier unberücksichtigt blei­ ben, weil für seine Untersuchung lediglich psychologische Kriterien maßgeblich sind. 547  Dazu U. Kunzmann/M. von Salisch (2009), S. 532 ff., speziell zur Entwicklung von Empathie S. 541 ff.: zunehmende Differenziertheit und Komplexität. Siehe ferner U. Rudolph (2009), S. 467 ff.



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II547

vorantreibend beispielsweise das kulturelle Klima in den relativ kleinen grie­ chischen Stadtstaaten gewesen sein, weil dort jeder Bürger gehalten war, an der Vervollkommnung des lokalen Rechts mitzuwirken und hierfür Argu­ mente zu entwickeln. Nachträglich messen lässt sich allerdings die zu ver­ mutende Rechtsbewusstseinsentwicklung nicht. Die Bedeutung der moralischen Kognition für die Höherentwicklung auch des Rechtsbewusstseins steht dagegen außer Frage. Zunächst hatten die Un­ tersuchungen von J. Piaget u. a. (oben 2 a bb) ontogenetisch nachgewiesen, dass, ausgehend von der genetisch übermittelten Annahme einer gesetzmäßig geordneten Welt, die analytische Trennung zwischen einer Seinsordnung und einer Sollensordnung ermöglicht wurde; dass diese zweitens die egozentri­ sche Perspektive überwunden und den Heranwachsenden mehr und mehr befähigt hat, auch fremde Perspektiven einzunehmen; und dass sie sich drit­ tens von der Vorstellung, Normen seien unabänderlich, entfernt und der An­ nahme ihrer Kontingenz angenähert hat – wobei das erwachende Gewissen freilich einen Schatz unabänderlicher Norminhalte bewahrte. Diese ontoge­ netische Entwicklung lässt sich auch historisch (phylogenetisch) belegen. Der weitere Ausbau der Kognitionstheorie durch L. Kohlberg erlaubte da­ rüber hinaus, von gewissen Phasen in der Ontogenese des moralischen Ur­ teils auf entsprechende Phasen in der menschlichen Historiogenese zu schlie­ ßen und diese genauer zu analysieren. Dabei traten allerdings einige Mängel des Modells ins Licht. • Das Kohlbergsche Modell will vor allem die Erhöhung des moralischen Differenzierungsgrades dokumentieren: einerseits die Entfernung von einer primitiven Form der Moralität, worin als richtig oder falsch gilt, was Autoritätspersonen so definieren, andererseits die Annäherung an eine höhere Form der Moralität, worin (auch) metaphysische Prinzipien dem moralischen Urteil zugrundeliegen. Dieses Ziel hat der Mensch m. E. heute durchschnittlich erreicht. Zumindest das blinde Vertrauen an die moralische Autorität einer Führerpersönlichkeit und eine von ihr verbreitete Ideologie kann der Durchschnittsmensch von heute überwinden. • Was die Art und Abgrenzung der aufeinander folgenden Normen anbelangt, bleibt das Kohlbergsche Modell allerdings unklar. Kohlberg unterscheidet zwar verschie­ dene Argumentationsniveaus, gibt uns aber über die darin jeweils verwendeten Normen (i. w. S.) keine Auskunft. Untersuchungen von E. Turiel und anderen For­ schern548 legen zwar eine Mehrzahl von Normenarten zugrunde, die sich parallel zueinander entwickelt haben,549 unterrichten uns aber ebenfalls weder über ihre Zahl noch ihr Verhältnis zueinander – obwohl die Behauptung nicht allzu gewagt 548  E.

S. 91.  • •

Turiel (1983), passim; weitere Nachweise bei L. H. Eckensberger (1985),

549  Genannt

werden ethisch-moralische Regeln (z. B. Versprechen müssen gehalten werden); konventionale Regeln (z. B. einen Gruß soll man erwidern);

548

Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

ist, dass deren Zahl angestiegen und die Abgrenzung gegeneinander schärfer ge­ worden ist. Ferner unterscheiden die Forscher die Normenarten nicht nach den Folgen, die ihr Bruch zeitigt. Selbst wenn sie die Strafe als Folge eines Norm­ bruchs erwähnen, bleibt unklar, was sie darunter verstehen: Ist inhaltlich der Um­ stand, dass man künftig nicht mehr gegrüßt wird, schon Strafe dafür, dass man ei­ nen früheren Gruß nicht erwidert hat? Hängt funktional Strafe davon ab, ob der Strafende sie als Übelszufügung beabsichtigt, oder davon, ob sie vom Bestraften als Übel empfunden wird? Oder entscheidet die gesellschaftliche Meinung darüber, was Strafe ist? • Anagenetisch ist die moralische Entwicklung überdies nur, wenn die Ausdifferen­ zierung von Normen mit der Ausbildung von ‚unselbstständigen‘ Metanormen verbunden ist, die die ausdifferenzierten Normen in die Einheit eines hierarchischen Systems einfügen. Denn ohne die Ausbildung einer Normenhierarchie sind Normenkonflikte (wie etwa das Heinz-Dilemma)550 unlösbar. Wie und wann es zur Ausbildung eines solchen Systems kommt, kann im Rahmen des Kohlbergschen Modells jedoch nicht entschieden werden. Dass es dazu kommt, wird aber voraus­ gesetzt. • Kein Gegenstand von Kohlbergs Untersuchungen ist ferner die Ausbildung von Wertkonzepten, die für die Einordnung unterschiedlicher Normenarten (z. B. Treue, Liebe, Höflichkeit) in ein Wertesystem sowie für Handlungsplanung und -gestal­ tung aber erforderlich ist. Da es im Kohlbergschen Modell dafür keinen Ort gibt, lässt sich lediglich vermuten, dass es irgendwann zur Ausbildung von Wertkonzep­ ten gekommen ist und dass die Ausbildung einem relativ späten Entwicklungs­ stadium zugehört.

• zweckrationale

Regeln (z. B. scharfe Gegenstände sollte man vorsichtig behan­ deln); • „persönliche Konzepte“ (z. B. welche Kleidung ich trage, ist meine Sache). 550  Vgl. etwa A. Colby/L. Kohlberg et.al. (1987), vol. I, p. 1; L. Kohlberg (1995), S. 495: „In einem fernen Land lag eine Frau, die an einer besonderen Krebsart er­ krankt war, im Sterben. Es gab eine Medizin, von der die Ärzte glaubten, sie könne die Frau retten. Es handelte sich um eine besondere Form von Radium, die ein Apo­ theker in derselben Stadt erst kürzlich entdeckt hatte. Die Herstellung war zwar teuer, doch der Apotheker verlangte zehnmal mehr, als ihn die Herstellung gekostet hatte. Er hatte 200 $ für das Radium bezahlt und verlangte 2000 $ für eine kleine Dosis des Medikaments. Heinz, der Ehemann der kranken Frau, suchte alle seine Bekannten auf, um sich das Geld auszuleihen, und er bemühte sich auch um die Unterstützung seitens der Behörden. Doch er bekam nur 1000 $ zusammen, also nur die Hälfte des verlangten Preises. Er erzählte dem Apotheker, dass seine Frau im Sterben liege, und bat ihn, ihm die Medizin doch billiger zu verkaufen bzw. ihn den Rest später bezah­ len zu lassen. Doch der Apotheker sagte: ‚Nein! Ich habe das Mittel entdeckt, und ich will damit viel Geld verdienen.‘ Heinz hat nun alle legalen Möglichkeiten erschöpft; er ist ganz verzweifelt und überlegt, ob er in die Apotheke einbrechen und das Medi­ kament für seine Frau stehlen soll.“



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II549

Abgesehen von diesen Mängeln551 weisen die Untersuchungen Kohlbergs allerdings überzeugend nach, dass die ontogenetische Entwicklung des mora­ lischen Bewusstseins mehrere Phasen durchlaufen hat: dass sie von einem prä-normativen Niveau ausgegangen ist; dass sie ein normatives Niveau er­ reichte, als man angesichts der Unvereinbarkeit individueller Interessen nach einem verbindlichen Ausgleich suchte, den die Parteien zunächst allein, spä­ ter mithilfe eines unparteiischen Dritten finden wollten; dass die Entschei­ dungsvorschläge eines zugezogenen Dritten im weiteren Fortgang um so mehr überzeugten, je stärker sie in ein gemeinschaftliches Richtigkeitsbe­ wusstsein integriert werden konnten; und dass schließlich bei einer morali­ schen Elite sich die metaphysische Auffassung durchsetzte, dass es morali­ sche Grundsätze gibt, die von keiner Gemeinschaft angezweifelt werden dürfen, weil sie der Menschheit insgesamt angehören. 551  Während Kohlbergs Modell einerseits die Struktur-Probleme des moralischen Urteils nicht hinreichend berücksichtigt, bringt das Modell andererseits Probleme der Entwicklung von Freiheitsbewusstsein mit sich. Auch insofern bleibt jedoch vieles unklar. Auf einem ersten Niveau der moralischen Entwicklung, das Kohlberg als „präkonventionell“ bezeichnet, betrachtet das Individuum die soziale Umwelt aus ei­ ner konkret-individuellen Perspektive, also egozentrisch. Auf einem zweiten, von Kohlberg als „konventionell“ bezeichneten Niveau wechselt es den Standpunkt: Es betrachtet das soziale Geschehen nunmehr aus der Perspektive eines Mitglieds seiner sozialen Gemeinschaft, also soziozentrisch. Auf einem dritten, als „postkonventio­ nell“ bezeichneten, Niveau vereint es beide Standpunkte auf einer höheren Ebene: Es geht von seiner Perspektive als Mitglied einer sozialen Gemeinschaft zwar aus, hin­ terfragt die Perspektive dann aber auf ihre (metaphysische) Richtigkeit. Dies ge­ schieht in der Weise, dass es nunmehr die Perspektive eines vernünftigen Subjekts einnimmt, d. h. eines Subjekts, das sich den Standards einer gerechten Gesellschaft verpflichtet fühlt. Akzeptiert man dies, stellt sich die Frage nach dem Übergang von einem Niveau zum nächsten. Nach Kohlberg soll dies jeweils ein qualitativer Schritt zu einer höheren Organisationsform sein. Für den Übergang vom zweiten zum dritten Niveau ist das einsichtig und wird von Kohlberg auch wiederholt begründet (vgl. etwa L. Kohlberg/A. Colby, 1978, S. 358 ff.). Dagegen findet sich bei Kohlberg keine Begründung für den höheren Rang des zweiten Niveaus gegenüber dem ersten. Eine solche Begründung lässt sich auch nicht geben: „Der Gesichtspunkt wechselt nämlich bloß vom konkreten Individuum zum Mitglied der Gruppe, und zwar derart, dass die 1. Perspektive nun völlig verloren geht, keineswegs also in der 2. Perspektive aufge­ hoben ist. Die 2. Perspektive ist somit eine völlig andere als die 1. und keineswegs die höhere.“ (W. Schild, 1985, S. 107). Stattdessen dürfte daher der Übergang vom ersten zum zweiten Niveau die Entwicklung der moralischen Freiheit dokumentieren: Das zweite Niveau ist freiheitlicher als das erste, weil es an die Stelle des Egozen­ trismus die Allgemeingültigkeit sittlicher Regeln, d. i. den Legalismus, setzt (vgl. L. Kohlberg, 1978, S. 361.) Der Legalismus bleibt dann allerdings hinter dem Niveau metaphysischer Moralität noch zurück, weil er die moralischen sozialen Regeln schon wegen ihrer Existenz anerkennt, ohne nach ihrer Legitimität zu fragen. Dies geschieht erst auf dem dritten Niveau, das Kohlberg als „postkonventionell“ bezeichnet, das jedoch erst wahrhaft ‚moralisch‘ im metaphysischen Sinne genannt zu werden ver­ dient.

550

Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

Werfen wir abschließend noch einen kurzen Blick auf die gedanklichen Inhalte, die sowohl dem moralischen als auch dem Rechtsbewusstsein ty­ pisch sind. Denn obwohl vorstehend nicht eigens thematisiert, lassen sich aus den strukturellen Veränderungen des moralischen Bewusstseins (oben 2 b) auch insoweit Auswirkungen auf das Rechtsbewusstsein vermuten. Ontogenetisch reifen einesteils (wie innerhalb der nativistischen Theorien richtig erkannt wird) einige Inhalte naturhaft heran, andernteils prägt eine ständig wachsende Lebenserfahrung (den Lerntheorien entsprechend) die Gestalten­ vielfalt der rechtlichen Denkinhalte. Beide Entwicklungsstränge verlaufen grundsätzlich parallel, doch übernehmen am Anfang die Reifungsprozesse, später die Lernprozesse die Führung. Eine Einteilung der Entwicklung in mehrere Phasen lässt sich damit freilich nicht verbinden, wohl aber die An­ nahme einer Höherentwicklung aufgrund von Reifung und Lernen. Der Schwerpunkt verlagert sich dabei vom Beobachtungslernen auf das verbale Memorieren und anschließend auf die Integration des Memorierten in ein gedankliches System mithilfe übergeordneter Konzepte. Historiogenetisch gibt es in der frühen Antike dafür viele Belege: Man verließ den Weg der individuellen Rechtssetzung durch die Gerichte und betrat den Weg der staat­ lichen Gesetzgebung zunächst für konkrete Rechtsbereiche, später für den Rechtsbereich insgesamt. Es entstanden der Kodex des Hammurapi, die Ge­ setzgebuung der chinesischen Legisten, die griechischen Stadtrechte, das rö­ mische Zwölftafelgesetz und schließlich der Codex Justinianus. Bezüglich des moralischen Wollens nimmt die von mir als ‚volitivistisch‘ bezeichnete Theorie E. H. Eriksons (oben 2 a cc) ebenfalls eine ontogeneti­ sche Höherentwicklung an und legt dafür endogene Reifungs- und kulturelle Prägungsprozesse zugrunde.552 Als integrative Leistung baue sich eine IchIdentität der Gesamtpersönlichkeit auf, die einerseits in das immer umfassen­ der wahrgenommene soziale Umfeld eingebunden, andererseits immer mehr dem Willen zur Selbstverwirklichung unterstellt wird. Kontrollierte Experi­ mente zur Verifikation des Entwicklungsverlaufs gibt es allerdings nicht; sie scheiden auch deshalb aus, weil die von Erikson verwendete Terminologie vielfältige Interpretationsmöglichkeiten zulässt. Intuitiv sind Eriksons Ergeb­ nisse dennoch einleuchtend. (β) Bedeutung für die Orthogenese von Rechtsbewusstsein. Heikler als die Frage nach einer Anagenese des Rechtsbewusstseins ist angesichts des vor­ 552  E. H. Erikson (1968), p. 93: „The healthy child, given a reasonable amount of proper guidance, can be trusted to obey inner laws of development, laws which create a succession of potentialities for significant interaction with those persons who tend and respond to him and those institutions which are ready for him. While such inter­ action varies from culture to culture, it must remain within ‚the proper rate and the proper sequence‘ which governs all epigenesis.“



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II551

liegenden Untersuchungsmaterials diejenige nach einer Orthogenese des Rechtsbewusstseins zu beantworten. ‚Orthogenese‘ kann bedeuten, dass sämtliche Bestandteile des Rechtsbewusstseins – Fühlen, Denken und Wol­ len – sich ständig in gerader Linie auf quantitativ reichere und qualitativ höhere Strukturen hin entwickeln.553 Eine solche Begriffsdeutung setzt eine der Entwicklung ein Ziel setzende Instanz voraus und erscheint im Hinblick auf die Historiogenese des Rechtsbewusstseins schon deshalb nicht am Platz. Denn vieles spricht zwar für ein immerwährendes Bemühen des Menschen um die Höherentwicklung auch seines Rechtsbewusstseins; dennoch ist, wie in allen Bereichen der menschlichen Kultur, ein gesetzmäßiges Gelingen le­ diglich ein Wunschbild, dem die historische Realität niemals entsprochen hat. Doch selbst wenn man sich mit einem steten Trend zur Höherentwick­ lung begnügt, ändert sich an diesem Ergebnis nichts. Denn dann können zwar kleinere Abweichungen unberücksichtigt bleiben, weil nur längere Peri­ oden den Trend bestimmen (vergleichbar etwa der Entwicklung von Wertpa­ pieren an einer Börse, wo kleinere Schwankungen innerhalb einer Hausseoder Baisse-Periode normal sind und den Trend nicht brechen). Doch ist in der Vergangenheit die Zahl der Abweichungen vom Trend größer gewesen, als es ein beständiger Trend verträgt. Deshalb müssen wir den Bereich, für den wir eine geradlinige Höherentwicklung des Rechtsbewusstseins bejahen wollen, anders definieren. Zu diesem Zweck gehen wir zunächst auf die ‚Orthogenese‘ innerhalb der bioti­ schen und der psychischen Evolution zurück. In der biotischen Evolution lässt sich ein orthogenetischer Fortschritt innerhalb ei­ ner und derselben Gattung oder Art i. d. R. nur feststellen, wenn man gleichzeitig ausklammert, dass die Gattung oder Art sich ständig verzweigte. • Beispielsweise begannen die Pferde vor ca. 60 Millionen Jahren ihre Evolution als fünfzehige Tiere von der Größe heutiger Füchse; anschließend durchliefen sie Sta­ dien, in denen immer größere Exemplare mit immer weniger Zehen entstanden. Das bedeutet jedoch nicht notwendig, dass eine einzige orthogenetische Entwick­ lung bis hin zu den heute auf Turnieren vorgeführten Prachtexemplaren stattfand. Vielmehr müssen wir annehmen, dass die Natur, ohne uns Belege zu hinterlassen, auf Seitenwegen viele Varianten in Körpergröße und Zehenanzahl ausprobiert, aber verworfen hat. • Gut belegt sind solche Seitenwege für Rüsseltiere. Deren erste Vertreter erschienen ebenfalls vor ca. 60 Millionen Jahren, verzweigten sich dann aber derart oft und erfolgreich, dass ihre unterschiedlichen Gattungen und Arten ganz unterschiedliche ökologische Nischen sowohl auf dem Land als auch im Wasser besetzen konnten. Hier gab es also nicht nur eine, sondern eine Menge ‚orthogenetischer‘ Entwick­ lungen, die allesamt zu mehr oder weniger Aufsehen erregenden Erscheinungsfor­ men führten.

553  Vgl.

dazu oben 2 b aa β.

552

Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

• Nicht ganz so vielseitig war dagegen die Evolution der Hominiden. Sie begann erst vor ca. 5 Millionen Jahren und spezialisierte sich nicht etwa sofort auf die ‚ortho­ genetische‘ Erzeugung von Homo sapiens sapiens, sondern brachte u. a. Australopithecus aethiopicus und als dessen Abkömmlinge Australopithecus robustus und Australopithecus boisei hervor, die später nebst weiteren Seitenlinien ausstarben. Dasselbe Schicksal ereilte in neuerer Zeit Homo sapiens neanderthalensis, der uns immerhin noch einige DNA-Spuren hinterlassen hat. Generell kann man daher lediglich sagen, dass die Natur zwar immer wieder inno­ vative Wege ausprobiert hat, wenn es ihr unter ökologischen Bedingungen als oppor­ tun erschien; dass sich die meisten Wege aber letztendlich als Sackgassen und die darin erzeugten Exemplare als ‚Irrtümer‘ innerhalb einer als einzig richtig vorgestell­ ten ‚orthogenetischen‘ Evolution erwiesen, die hinweggerafft wurden, sobald die ökologischen Verhältnisse, unter denen sie entstanden, sich änderten. ‚Variation und Selektion‘ − das war in Kurzfassung die Art und Weise, wie die Natur sich tastend vorwärts bewegte und ihre ‚Irrtümer‘ immer wieder korrigierte. Den Rückwärtsgang (back to the roots) einschalten, um an den Zustand zurückzukehren, wo die Weiche ‚falsch‘ gestellt wurde, konnte sie dagegen nicht; das verbot ihr das Gesetz der Ir­ reversibilität. Einen Rückwärtsgang brauchte sie aber auch nicht, weil ihre immanen­ te Energie groß genug war, um sich ein ständiges Vorwärtsgehen leisten zu können. Doch mangelnde Finalität in Richtung auf das einzig ‚richtige‘ Ziel bedeutet ja nicht, dass die Natur sich in einer blind tastenden Bewegung befunden hat und dass folglich jede Anagenese eine blinde Abfolge glücklicher Zufälle war. Sie war auch das Ergeb­ nis einer gerichteten Orthogenese ‒ allerdings einer Orthogenese mit der Ahnung ih­ rer Kraft zur Anagenese.554 Rückschauend und im Wissen, wie es jeweils weiterging, liegt es daher an uns, die vergangene Entwicklung in eine Kette von geahnten (und orthogenetisch herbeigeführten) Erfolgen und von eliminierten Fehlversuchen einzu­ teilen. Und nur für uns stellt sich auch die Frage: War seinerzeit Homo sapiens neanderthalensis ein Fehlversuch der Natur, oder war er die genetisch einzig richtige Konsequenz aus den seinerzeit in Europa vorherrschenden Umweltbedingungen? Denn nur vom heutigen Standpunkt aus lässt sich diese Frage mit Überzeugung be­ antworten: Endgültig war Homo sapiens sapiens jedenfalls die auf Dauer bessere, weil höhere, Entwicklungschance für das Dasein des Menschen. Was die psychische Evolution anbelangt, gilt für ihre neuronalen Substrate grund­ sätzlich dasselbe: Soweit deren Evolution anagenetisch verlief, verlief sie auch ortho­ genetisch, gleichgültig ob und wie viele Seitenlinien von ihr abzweigten und elimi­ niert wurden. Orthogenetisch verlief insbesondere die Verlagerung von psychischen Funktionen aus den älteren in neu ausgebildete Hirnareale, sodass sich dort während der letzten eineinhalb bis zwei Millionen Jahre ein ganz neues, nämlich abstrakt-logi­ sches Denken etablieren konnte, das Homo sapiens sapiens die Macht über fast alle anderen Lebewesen gab. Gegenüber der biotischen Evolution besteht allerdings inso­ 554  Sichtbar wird eine Ausrichtung im Falle einer Verzweigung, wenn sich Zweige von unterschiedlicher Stabilität herausbildeten. Schwache Zweige haben dann keine lange Lebensdauer, sondern werden alsbald eliminiert, sofern sie ökologischen Verän­ derungen nicht ausnahmsweise mittels Einnischung entgehen können. Starke Zweige hingegen überstehen ökologische Veränderungen durch Anpassung – oder (im Falle des Menschen) solange sie die Umweltveränderungen beherrschen können.



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II553

weit ein grundsätzlicher Unterschied, als der neuronale Neubau nicht aus, sondern auf dem Material der Vergangenheit errichtet wurde, nämlich durch die Erzeugung neuen Materials, welches sich über das alte schob. Beim Umbau der biotischen Kör­ per für den Gang vom Wasser aufs Land war das seinerzeit noch anders: Da verwand­ te die Natur künftig funktionslos werdendes Material, damit die Tiere den Anforde­ rungen der neuen Umwelt gerecht werden konnten − etwa die Flossen der Fische, um den Reptilien zu vier Beinen zu verhelfen. Doch angesichts der Fülle neuronaler Möglichkeiten im neuen Großhirn war solche Sparsamkeit unnötig; die alten Nerven­ verbindungen konnten weitgehend erhalten und durch neue ergänzt werden. Viele der alten blieben sogar einsatzbereit für den Fall, dass Reaktionen blitzschnell erfolgen mussten – indem sie die kürzeste Entscheidungsstrecke bildeten, welche die langen Bahnen des Hin-und-her-Überlegens vermied.

Somit ist das Ergebnis, dass außer dem Begriff ‚Anagenese‘ auch der Be­ griff ‚Orthogenese‘ sowohl biogenetisch als auch psychogenetisch sinnvoll bleibt und auf die Entwicklung von Rechtsbewusstsein angewendet werden kann. Einzuräumen ist lediglich, dass der Begriff ‚Orthogenese‘ neben dem Begriff ‚Anagenese‘ nur einen beschränkten Erklärungswert besitzt, da jede Anagenese eine Orthogenese im Sinne einer gerichteten Folge von Entwick­ lungsschritten umfasst, sodass die Orthogenese nur ihr traditionelles Wachs­ tum hervorhebt – auf das Rechtsbewusstsein angewandt: dass sein Wachstum aus der Entwicklung des Normbewusstseins als bisher ‚wirksamstes‘ Mittel zur Erzeugung von Verhaltenssteuerung hervorgegangen ist. Ich fasse zusammen: Im biologischen Bereich kommt ‚Evolution‘ in ana­ genetischen Veränderungen von Organismen zum Ausdruck, die diese als komplexer zusammengesetzt, rationaler strukturiert und funktionaler aufge­ baut erscheinen lassen. ‚Evolution‘ kommt ferner in orthogenetischen Verän­ derungsverläufen zum Ausdruck, worin (retrospektiv gesehen) qualitativ niedere Zustände qualitativ höhere vorbereitet und bedingt haben.555 Im psychologischen Bereich ist die Situation ähnlich, aber aufgrund von möglichen Überlagerungen differenzierter: ‚Evolution‘ kommt auch hier in anagenetischen Veränderungen der Psyche zum Ausdruck, wodurch diese orthogenetisch instand gesetzt wird, höhere Ordnungsstrukturen zur Situati­ onserkennung und -verarbeitung sowie feinere Möglichkeiten zur Reaktion einzusetzen. Im Unterschied zum biologischen Bereich ersetzen diese Verän­ derungen die vorigen Zustände aber nicht, sondern bauen auf ihnen auf, weshalb beispielsweise eine sehr genaue rationale Erfassung der Umwelt, der in ihr vorkommenden Stoffe und der sie bewegenden Kräfte mit einem (ur­ tümlicheren) gefühlsmäßigen Gesamteindruck ihrer Schönheit und Harmonie einhergehen kann.

555  I. H. Gerassimow (1966), S. 144. Sprachlich genauer: ‚qualitativ komplizierte Zustände von einfacheren vorbereitet und bedingt werden‘.

554

Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

Im Bereich des (psychischen) Normbewusstseins ist in der zweiten Hälfte des 1. Jt.s v. u. Z. das Rechtsbewusstsein anagenetisch zur (bisher) höchsten Form sozialen Ordnungsgewinns ausdifferenziert worden. Die auf seiner Grundlage entstandenen Rechtsnormen lösten die älteren Sittennormen ab, ersetzten sie aber nicht, sondern überlagerten sie, sodass die Sittennormen nach wie vor dort entscheidungserheblich werden konnten, wo Lücken oder Unsicherheiten bei der Anwendung von Rechtsnormen zutage traten. Deshalb definierte in Rom Ulpian die Jurisprudenz von vornherein nicht nur als ­scientia iuris, sondern auch (Celsus folgend) als ars boni et aequi,556 und Gaius ging als selbstverständlich davon aus, dass alle Völker nicht nur legibus, sondern auch moribus regiert werden.557 Wo immer das antike Recht galt, stand es also bewusstseinsmäßig zwar an der Spitze einer Ordnungs­ pyramide; doch wiesen bei seiner praktischen Anwendung auch die überkom­ menen Sitten den Weg. Und geht man historisch noch weiter zurück, war es keinem der hier behandelten Völker dringlich, überhaupt einen Begriff für das neue ‚Recht‘ auszubilden, der dessen Ausschließlichkeit oder auch nur Eigenständigkeit gegenüber ma`at, me, lĭ, dharma, θέμις oder fas betont hätte, weil man sich in dem aus mehreren unterschiedlichen, älteren sowie neueren Schichten bestehenden Normengefüge bestens aufgehoben fühlte. Das war auch gut so, denn eine Rückkehr aus diesem Normengefüge zur Alleingeltung der Sitten wäre vom Gesetz der Irreversibilität ja versperrt gewesen. (γ) Bedeutung für die Konditionierung von Rechtsverhalten. Schließlich vollzog sich am Ende des 1. Jt.s v. u. Z. noch eine Entwicklung, die diesmal nicht von außen induziert wurde, sondern allein der psychischen Entwick­ lung des antiken Menschen entsprang: Der individuelle Wille übernahm mehr und mehr die Führung im menschlichen Leben, sodass ihm auch die Verant­ wortung für alle sozialen und politischen Akte und Kontakte zufiel. In Rom kam diese Entwicklung besonders konsequent zum Ausdruck, weil man hier das Privatrecht von der individuellen Willenserklärung aus entwickelte. Und am Ende der Antike wurde schließlich das Strafrecht vom Zivilrecht vor al­ lem dadurch getrennt, dass man es mit einem eigenen Schuldbegriff ausstat­ tete, an dessen Spitze der dolus malus als innerlich böser Wille stand, der in jeder Gewalttat steckt (in vi dolus malus inest) und darin die Strafbarkeit begründet. Es gab also ein spezifisch strafrechtliches Unrechtsbewusstsein, das von einem amoralischen Willen begründet und dadurch vom zivilrecht­ lichen Unrechtsbewusstsein, etwa der exceptio doli558, abgehoben war. 1,1,1 und dazu M. Kaser/K. Hackl (1996), § 32 IV 3. Inst. I 1. 558  Beispiel: Hat jemand das Eigentum an einer entliehenen Sache erworben, kann er sich dem Rückgabeverlangen des Verleihers widersetzen: dolo facit, qui petit, quod statim redditurus est. 556  Dig.

557  Gaius,



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II555

Den Weg dahin hatte bereits Aristoteles vorbereitet. Er hatte das Recht als Summe von schriftlich in Gesetzen (den γεγραμμένοι νόμοι) niedergelegten Befehlen eines politischen Machthabers verstanden, aber noch nicht gefragt, warum der Einzelne den Befehlen des Machthabers gehorchen soll. Dennoch hatte er die Antwort auf die Fra­ ge vorbereitet, indem er den Menschen als ein rechtschaffenes Wesen begriff und damit der späteren Auffassung vom Rechtsunterworfenen als ens morale Nahrung gab. Und wahrscheinlich hätte er, genauer befragt, den Gesetzesgehorsam sogar schon als ein Tugendgebot begriffen, weil er für das Wohlergehen der staatlichen Gemeinschaft unerlässlich ist.559 Gleichwohl vollendete sich die Entwicklung erst mit dem Sieg des Christentums, das zwischen der moralischen Verantwortung, für die das Gewissen die alleinige Instanz ist, und der sozialen Verantwortung, die von der Ob­ rigkeit eingefordert wird, klar trennte.560 Die Zuwiderhandlung gegen die Befehle der Obrigkeit hatten obrigkeitliche Bestrafung zur Folge, die Zuwiderhandlung gegen Forderungen der Moral dagegen Gewissensbisse und soziale Verachtung.

Nicht alles, was die Gesetze gebieten oder verbieten, findet in der Seele des Menschen einen vorbereiteten Boden für den Gehorsam vor. Vielmehr setzt die Befolgung der Gesetze sowohl eine Bereitschaft zum Erlernen ihres Inhalts als auch ein Motiv zur Befolgung des Gelernten voraus. Daraus ergibt sich: Dem Erlernen müssen soziale Medien den Stoff zuführen, und dem Befolgen müssen pädagogische Methoden auf die Beine helfen. Im Altertum standen dafür genau wie heute zum einen die mündliche oder schriftliche Unterrichtung und zum anderen das Inaussichtstellen von Belohnung oder Bestrafung zur Verfügung. Was die Belehrung anbelangt, sind wir aus dem Altertum informiert, dass vor allem an drei Orten junge Menschen die im Volke geltenden Gesetze (und die dahinterstehenden moralischen Absichten) kennenlernten: im Haus der Familie, im Tempel der zuständigen Gottheit und in den örtlichen – ent­ weder öffentlichen oder privaten – Schulen.561 In Ägypten war es zum einen der Vater, der seine Söhne zu gesellschaftlichem Wohlverhalten erzog: indem er sie anhielt, den Normen zu folgen, die den Beifall der Menge gefunden hatten.562 Zum anderen gab es in den Städten staatliche Schulen, in die die Kinder mit etwa fünf Jahren geschickt und in denen sie vier Jahre lang ganz­ tägig unterrichtet wurden.563 In Mesopotamien waren es ebenfalls staatliche Schulen, die den Kindern im Anschluss an die häusliche Ausbildung nicht nur das nötige be­ rufliche Wissen, sondern auch die gesellschaftlichen Normen und Werte vermittel­ ten.564 In Indien hatten, soweit wir wissen, vor allem die Eltern die Vermittlung der dazu Aristoteles, NE V 10: 1135a/b. auch Matthäus 16 26 sowie oben Fn. 269. 561  Dazu und zum Folgenden schon oben H 2 bb δ und 3 b cc. 562  J. Assmann (2003), S. 104 ff. 563  Für Beamtenanwärter schloss sich daran noch eine mindestens zwölfjährige Lehre (H. Schöneberg, 1981, S. 14 ff.). 564  A. Nunn (2012), S. 137 ff. 559  Vgl. 560  Vgl.

556

Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

örtlich geltenden Sittennormen zu übernehmen. Damit sie leichter erlernt werden konnten, waren sie teilweise in Versen abgefasst.565 In China fand die Erziehung zwar ebenfalls privat, überwiegend jedoch in Schulen statt, die mit den Großfamilien eng verbunden waren. Daneben unterhielt während der längsten Zeit auch der Staat Schulen für die moralische und rechtliche Erziehung der Kinder.566 In Israel war wiederum der Vater die wichtigste Instanz, um die Kinder in der Tora (den fünf Bü­ chern Mose) zu unterrichten und sie und die darin enthaltenen Normen lernen zu lassen.567 Was Griechenland anbelangt, gab es in Athen und den meisten anderen Städten die häusliche Erziehung, die aber (spätestens seit dem 2. Jh. v. u. Z.) ergänzt wurde durch staatliche Schulen sowie durch ein privat finanziertes Bildungssystem für Knaben. Eine staatsbürgerliche Gesinnung und ein Gehorsam gegenüber den Ge­ setzen wurde überall gelehrt.568 Sparta pflegte darüber hinaus eine Staatserziehung; für das übrige Griechenland forderte Platon sie vergeblich.569 In Rom stellte dann das Ideal der klassischen Bildung das Bindeglied zur griechischen Kultur her; die griechi­ sche Paideia (παιδεία) wurde je nach Bedeutungsschwerpunkt als educatio, formatio, cultura oder humanitas gepflegt. Zum Dienst im Staat verliehen intensive Studien in Geschichte, Rechtswissenschaft und Philosophie die Grundlagen.570

Welche Wirkung die allenthalben erfolgten Belehrungen der Bevölkerung über die staatlichen Gesetze auf ihre Befolgung hatten, wissen wir nicht. Wissenschaftlich gesehen hing dies wesentlich davon ab, ob und inwieweit die Belehrungen auf einen genetisch erworbenen und/oder durch Lernen vor­ bereiteten Boden fielen. Die Erfahrungen mit einer Belohnung für vorbild­ liches Verhalten und mit einer Bestrafung für verwerfliches Verhalten hatten Einfluss, zumal sie öffentlich diskutiert wurden. Die von der modernen psychologischen Forschung erarbeiteten Konditionierungs-, Lern- und Internalisierungsmodelle571 haben je für sich nur eine begrenzte Erklä­ rungskraft; doch in ihrer Gesamtheit bieten sie ein relativ geschlossenes Deutungsmo­ dell. Denn eines war seinerzeit so sicher wie heute: Ohne äußere Einflüsse kam und kommt weder eine moralische noch eine rechtliche Bewusstseinsentwicklung, ohne eigenes Zutun keine eusoziale Persönlichkeitsentwicklung zustande.572

565  D. F.

Mulla (1966), p. 12 f. (1981), S. 23. 567  Dazu H. Graetz (1906), S. 708 f.: „Zuerst, d. h. wohl in der biblischen Zeit, war der Unterricht der Jugend dem Vater überlassen, wobei diejenigen Knaben vernach­ lässigt wurden, die verwaist waren oder deren Vater ungelehrt war. Später war eine Art Hochschule in Jerusalem eingerichtet, noch später sind Schulen in jeder größeren Stadt, welche den Mittelpunkt eines kleinen Kreises bildete, eingeführt worden.“ 568  Aristoteles, NE X 10: 1180a. 569  Platon, Nomoi, Buch VII; siehe auch W. Jaeger (1944), S. 281 ff., 284. 570  Vgl. H. Schöneberg (1981), S. 46 f. 571  Vgl. dazu oben J 2 b. 572  P. L. Berger/Th. Luckmann (2004), S. 142, sprechen von einer „Dialektik … zwischen objektiv zugewiesener und subjektiv angeeigneter Identität“. 566  H. Schöneberg



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3. Gesetzmäßigkeiten in der Genese von Verrechtlichungsprozessen a) Überblick Soweit keine äußeren Umstände entgegenstanden, verlief •• die Entwicklung sozialer Einheiten (1) quantitativ infolge der hohen ge­ burtlichen Reproduktion und des Zusammenschlusses sozialer Einheiten von einer Mehrzahl kleiner zu einer Minderzahl vergrößerter und verdichteter Einheiten (in neolithischer Zeit geschätzt von mehr als 100.000 auf weniger als 1.000); (2) qualitativ infolge der stärkeren Individualisierung der psychischen sowie der Ausdrucks- bzw. Handlungsfähigkeiten von einer lediglich geschlechtlichen und altersmäßigen Teilung der Arbeit zu einer komplexeren sozialen Rollenverteilung und einer differenzierteren organisatorischen Abstimmung der Rollen auf die sozialen Bedürfnisse, ferner damit verbunden von einer egalitären zu einer hierarchischen Glie­ derung der Gesellschaft und zur Ausbildung einer kulturellen Elite. •• die Entwicklung politischer Einheiten (1) quantitativ von der Bildung kleiner Siedlungen seitens verwandtschaftlich miteinander nicht verbunde­ ner Familien zu größeren, mehrere Sippen und Clans umfassenden (länd­ lichen oder städtischen) Ortschaften, (2) qualitativ aufeinander aufbauend von (a) einer Interessenwahrnehmung durch Dorfschulzen zu (b) einer Interessenbündelung durch Stammeshäuptlinge und zu (c) einer institutio­ nalisierten Herrschaft von Königen.573 •• die Entwicklung der Normen (1) quantitativ von der Regelung einiger weniger gemeinsamer Stammessitten zu einer größeren Anzahl von Re­ geln, die der Komplexität der Gesellschaft angepasst waren, (2) qualitativ von allgemeinen ‚Ur‘- oder ‚Grundnormen‘ zur Ausdifferenzierung in verschiedene Arten konventioneller, religiöser, sozial-moralischer und rechtlicher Normen. Diese Entwicklungen sollen im Folgenden − entsprechend der kontinuier­ lichen Ontogenetise − auf teilweise diskontinuierlich aufeinander folgende historiogenetische Phasen (oder Stufen) verteilt werden, auf denen unter­ scheidbare Niveaus der Verrechtlichung erreicht wurden. Dazu nenne ich im Folgenden zunächst sechs Phasen und beschreibe die sozialen Beziehungen, die sie kennzeichnen (unten b); anschließend benenne ich die Gründe, wel­ che den Übergang von einer Phase zur nächsten bewirkt haben (unten c).

573  Vgl.

oben F 1 δ.

558

Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

b) Sechs Phasen innerhalb der historischen Genese Die bisherigen Ausführungen haben zweifelsfrei ergeben, dass die sozialen Beziehungen vorrangig aus der Notwendigkeit heraus verrechtlicht wurden, das immer dichtere Zusammenleben von Menschen in immer größeren sozi­ alen Einheiten überschaubar zu organisieren. Diese Aufgabe brauchte und konnte nicht mit einem Schlag gelöst werden, sondern musste eine Entwick­ lungsreihe durchlaufen. Zur Strukturierung dieser Entwicklungsreihe in ein­ zelne Phasen bietet sich m. E. hypothetisch die epigenetische Entwicklung sozialer Beziehungen in Kleingruppen seitens des US-amerikanischen Psy­ chologen Lyman C. Wynne an. Dafür, dass innerhalb der Weltgeschichte die größeren sozialen Einheiten in derselben Art geordnet wurden, wie man sie von kleineren Einheiten her kannte, spricht u. a., dass ein Fürst innerhalb seiner Untertanen eine entsprechende religiöse und weltliche Stellung ein­ nahm wie ein Hausherr innerhalb seiner Familie. Allerdings lassen sich die Phasen der historiogenetischen Entwicklung nur mit allgemeineren als den für Kleingruppenbeziehungen verwendeten Begriffen bezeichnen. Ich über­ nehme Wynnes Benenung der Entwicklungsphasen mit „Bindung/Fürsorge“, „Kommunikation“, „gemeinsames Problemlösen“ und „Gegenseitigkeit“574 deshalb zwar als prototypisch,575 ersetze sie aber, soweit nötig, durch Be­ griffe, die sich stärker an der historiogenetischen Abfolge orientieren und den Fokus auf das Größerwerden, die Teilung und die verbesserte Binnen­ organisation von Populationen legen. Die Wahl meiner Begriffe rechtfertige ich aus dem Datenmaterial, das ich teils vorgestellt habe, teils neueren anthro­pologischen und soziologischen Untersuchungen entnehmen werde.576 •• Die erste Phase der menschlichen Historiogenese war im Wesentlichen familiär bestimmt und lässt sich daher gleich der von Wynne untersuchten als „Bindung/Fürsorge“ bezeichneten. Sie war charakterisiert durch die wechselseitige emotionale Verbundenheit von Personen – eindeutig etwa zwischen Eltern und Kindern, aber auch zwischen sonstigen Verwandten sowie zwischen Freunden, Verliebten sowie Arbeits- und Kampfkamera­ den von kleinen Gruppen. Anthropogenetisch dürfte sie allerdings nicht den Anfang gebildet haben, sondern sich aus der allgemeinen biopsychi­ schen Verbundenheit innerhalb von Urhorden entwickelt haben. Aber auch phylogenetisch ist richtig, dass die ersten Gemeinschaften, die sich inner­ halb der Urhorden bildeten und darin als Segmente existierten, hauptsäch­ 574  L. C. Wynne (1984), p.  300: „attachment/caregiving, communicating, joint problem-solving, and mutuality.“ 575  Bereits Wynne selber sieht in der Entwicklung von intrafamiliären Beziehungen den Prototyp der Epigenese aller auf Dauer ausgerichteter Beziehungssysteme. 576  Ich stütze mich insbesondere auf A. W. Johnson/T. K. Earle (2000) und P. J. Richerson et al. (2003).



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II559

lich Gefühlsgemeinschaften waren: dass sie vor allem mehr durch emo­ tionale Bande als durch geistige und sprachliche Kommunikation zusam­ mengehalten wurden. •• Die zweite Phase der Historiogenese – nach Wynne die der „Kommunika­ tion“ – wurde erreicht, als die Mitglieder von Populationen gleichen Din­ gen Beachtung schenkten sowie Meinungen und Botschaften darüber austauschten. Diese Entwicklung setzt phylogenetisch den Menschen als ein mit schon differenzierter Sprache ausgestattetes Wesen voraus, das in der Lage ist, wie R. M. Blakar es ausgedrückt hat, sich eine „gemeinsame soziale Realität“ bzw. ein gemeinsames „Hier-und-Jetzt“ zu schaffen und darüber miteinander – unter Berücksichtigung der Perspektive des ande­ ren577 – zu kommunizieren.578 Typisch für diese Phase waren die Arbeits­ teilung innerhalb der Familien zwischen Mann und Frau, ferner gelegent­ liche bewusste Zusammenschlüsse zu gemeinsamen Aktivitäten wie etwa Jagd oder Krieg nebst ephemerer Führerschaft bei solchen Anlässen. Ontogenetisch setzt das Erreichen dieser Stufe das erfolgreiche Durchlaufen der ersten Phase nicht in allen Fällen voraus.579 Deshalb war auch phylogenetisch die Kommunikation etwa bei der gemeinschaftlichen Jagd ohne vorangehende emotio­ nale Verbundenheit der Teilnehmer möglich. Gleichwohl musste das Gefühl emoti­ onaler Verbundenheit zuvor erlernt worden sein, um es als Muster einer solchen Beziehung auf die neue Situation anzuwenden.

•• Eine dritte Phase sozialer Verbundenheit („gemeinsames Problemlösen“) wird gemäß Wynne erreicht, wenn es gelingt, auf intellektuellem Level gemeinsame Aufgaben zu bewältigen und gemeinsame Probleme zu lösen. Historiogenetisch fällt in diese Phase die Geburt größerer sozialer Einhei­ ten zur Verfolgung gemeinsamer Interessen wie etwa die Verteidigung ei­ nes Lebensraums und die Bevorratung mit Lebensmitteln. Nur Unterein­ heiten bestanden jetzt noch aus verwandtschaftlich oder nachbarschaftlich verbundenen Personen. Ihre Zusammenfassung dagegen konnte bereits durch einen big man hergestellt werden, der auch den Austausch zwischen ihnen vermittelte und überdies als Schlichter in Streitigkeiten auftrat. Wei­ terhin wurde in dieser Phase der spezifische Nutzen des Einzelnen zur Bewältigung sozialer Aufgaben mittels gleichgeschlechtlicher Arbeitstei­ lung wichtig. Es entstanden daher zwar informelle, aber rational geprägte Rollenstrukturen, die ihren Umriss von soziokulturell vorgegebenen Er­ wartungen und Normen erhielten.580

Perspektivenübernahme vgl. oben J 21 a aa. Blakar (1984), p. 38; idem (1985). 579  L. C. Wynne (1984), p. 306 f. 580  L. C. Wynne (1984), p. 307. 577  Zur

578  R. M.

560

Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

Eine Rollenverteilung konnte gemäß Wynne nur gelingen, wenn die zweite Phase der Gemeinschaftsentwicklung erfolgreich durchlaufen war, weshalb die dritte Phase auf der zweiten aufbauen musste. Diese Voraussetzung ist m. E. auch aus historiogenetischer Sicht notwendig.

•• Die Benennung der vierten Phase als „Gegenseitigkeit“ (mutuality) durch Wynne (wir haben es mit „Prozessen langfristiger Beziehungserneuerung und Neueinsatz“ zu tun)581 kennzeichnet den historiogenetischen Charak­ ter sozialer Gemeinschaften auf diesem Entwicklungsstand erstmals nur ungenau. Denn die Gegenseitigkeit (reciprocity) hatte schon den Charakter der dritten Phase mitbestimmt, war dort freilich noch eher unterbewusst wirksam gewesen. In der vierten Phase trat sie lediglich deutlicher hervor, prägte die nicht-verwandtschaftlichen und weitgehend auch die nichtnachbarschaftlichen Sozialbeziehungen und erhielt zusätzlich zu ihrer ho­ rizontalen auch noch eine vertikale Ausrichtung. Charakteristisch für die vierte Phase war daher nicht zuletzt die Entwicklung politischer Struktu­ ren, die es gestatteten, dass einesteils sich große, komplexe Einheiten über kleinere, weniger komplexe Einheiten schoben und dass andernteils sich politische Herrschaftsformen herausbildeten, die zwar einstweilen noch hauptsächlich auf die Zusammenfassung von Sippen und Clans zuge­ schnitten waren, mehr und mehr aber auch schon nicht-verwandtschaftlich gemischte Siedlungen sowie geschlossene Dörfer und offene Gemeinden umfassten. Daneben nahmen jetzt die bisher informellen sozialen Rollen­ charaktere einen schärferen Umriss an, weil man sie mit stärker spezifi­ zierten Aufgaben sowie genauer festgelegten Kenntnissen und Fähigkeiten verband und überdies ihr Verhältnis dort, wo sie sich überschnitten, regel­ mäßig hierarchisch organisierte. Die prominenteste Rolle war die des Häuptlings, dem man außer den Funktionen eines big man auch die des militärischen Führers und obersten Richters bei Streitigkeiten zuwies. Ich kennzeichne diese Phase daher abweichend von Wynne als die der „regio­ nal-politischen Organisation“. •• Der Charakter der fünften Phase, für den Wynne innerhalb familiärer Ge­ meinschaften das Vordringen von „Intimität“ (intimacy) hervorhebt (diese gleichzeitig aber als Luxus bezeichnet582), verändert sich außerhalb fami­ liärer Gemeinschaften ins Gegenteil. Nicht Intimität, nicht ein Zurückzie­ hen in die ‚Privatheit‘, sondern die Öffnung hin zur ‚Öffentlichkeit‘ und das Eindringen politischer Strukturen bis tief in das soziale Leben hinein kennzeichnen diese Phase. Durch Zusammenschlüsse von Volksstämmen und Eroberungen entstanden Reiche, die zum einen nur noch aufgrund der zentralen Erhebung von Steuern und Abgaben und zum anderen nur noch 581  L. C. 582  L. C.

Wynne (1984), p. 307. Wynne (1984), p. 309 f.



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II561

mittels einer umfangreichen Planungs- und Aufsichtsverwaltung regiert werden konnten. Um darin die Spitze der Herrschaft zu bilden, reichten die Potentiale der verwandtschaftlichen Gruppen zwar im Allgemeinen noch aus – der Nepotismus wurde zu diesem Zweck ausgiebig gepflegt. Für spezielle Aufgaben aber wurden Heerführer und Verwaltungsfachleute benötigt und aufgrund ihrer persönlichen Fähigkeiten ausgewählt oder zuvor bewusst ausgebildet. Größere ökonomische Vorhaben − etwa die Kanalisation von Flüssen zwecks Wässerung des Bodens und Verbesse­ rung des Nahrungsangebots, der Bau großer Speicher zwecks Sicherung von Nahrungsreserven sowie der Bau von Befestigungsanlagen zwecks Abwehr feindlicher Angriffe – wurden zentral geplant und unter fachkun­ diger Lei­tung durchgeführt. Ferner nahm das Gewicht des Handels sowohl innerhalb als auch zwischen den Populationen zu, sodass er auf eigens geschaffenen Märkten betrieben und gegen kriminellen Zugriff abge­ schirmt werden musste – gesetzlich gegen interne Unlauterkeit, polizeilich gegen g ­ ewaltsame Übergriffe (etwa von Räuberbanden). Ich charakterisie­ re diese Phase als die der „zentral-politischen Administration“. •• Die sechste Phase schließlich brachte die Herrschaft der Institutionen mit sich, deren wichtigste die bürokratisch (d. h. auf der Grundlage schriftli­ cher Dokumente) ausgeübte von (Proto-)Staaten war. Noch freilich wur­ den diese Staaten an der Spitze von Herrschern geformt und von deren Gefolgsleuten verwaltet. Noch also waren sie durchgehend personalistisch strukturiert. Doch in Athen und Rom ergriff bereits das Volk die Herr­ schaft und regierte sich selber durch die Wahl von Repräsentanten, sodass die personalistische Regierung der Staaten sich bereits aufspaltete in eine monarchische, oligarchische und demokratische Variante. Ihre Macht be­ zogen die Staaten freilich nach wie vor einheitlich aus den wirtschaftli­ chen Ressourcen, über die sie entweder unmittelbar als Eigentum verfüg­ ten oder die ihnen ihre Bürger als Steuern oder Abgaben (freiwillig oder erzwungen) zur Verfügung stellten. Das Volk und sein in öffentlichen Ze­ remonien gefeiertes Bekenntnis zum Herrscher markierten also die inneren Grenzen des Staates, und diese lagen folglich dort, wo die Herrscher sich der Ressourcen nicht mehr sicher sein konnten bzw. wo sie nicht mehr die Macht hatten, sich diese durch Militär, Polizei oder Bürokratie bzw. durch Rechtsnormen (nebst drohendem Rechtszwang) zu verschaffen. (Erst spä­ ter waren diese inneren Grenzen nicht mehr entscheidend: Der Staat ver­ selbstständigte sich dann als Institution und wurde zum Territorialstaat, dessen Grenzen wesentlich von deren äußerer Anerkennung seitens der Nachbarn abhingen.) Ich bezeichne die Phase als die der „inneren Ver­ staatlichung“. Ich fasse zusammen: Für die Historiogenese von sozialen Gemeinschaften war charakteristisch, dass von quantitativen Veränderungen ausgelöste quali­

562

Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

tative Veränderungen mit neuartigen Elementen zu einer Abfolge von Phasen führten, deren spätere jeweils auf einem höheren Niveau standen als die früheren. Für den Übergang von der ersten zur zweiten Phase war bestim­ mend der Verlust an verbindender Emotionalität und ihre Ersetzung durch überwiegend geistig-sprachliche Bande, welche Menschengruppen in die Lage versetzten, sich eine gemeinsame soziale Realität zu schaffen und da­ rüber miteinander zu kommunizieren. Von der zweiten zur dritten Phase wurde der Übergang durch das Anwachsen der Bevölkerung in größeren Verwandtschaftsverbänden (Clans) und Siedlungsgemeinschaften (Dörfern) geprägt, ferner durch die Institutionalisierung von gleichgeschlechtlicher Ar­ beitsteilung und durch die Ausbildung nicht verwandtschaftlich begründeter Leitungspositionen. Den Übergang von der dritten zur vierten Phase begrün­ deten das immer weitere Anwachsen und die Verdichtung der Bevölkerung zu sowohl sozialen als auch politischen Verbänden (Stammesgesellschaften bzw. Häuptlingsschaften) sowie die immer deutlichere Ausprägung sozialer und politischer Rollen, die durch spezifische Rechte und Pflichten gekenn­ zeichnet waren. Innerhalb der fünften Phase entstanden durch Zusammen­ schlüsse von Stammesgesellschaften und Häuptlingsschaften erstmals große Reiche (pan-tribal societies und kingdoms), deren Regierung und Verwaltung sich nicht mehr allein auf die persönliche Mitarbeit und Leistungen ihrer Mitglieder stützen konnten, sondern vor allem auch auf normativ abgesi­ cherte Steuern und Abgaben. Ferner reichten zur Leitung der Verwaltung und der Kriegführung die Potentiale allein der Herrscherfamilie nicht mehr aus; sie mussten deshalb durch von außen zugezogene Verwaltungsfachleute und Heerführer ergänzt werden. Den Übergang zur sechsten Phase schließlich erbrachte der Aufbau einer auf schriftliche Dokumente gestützten Bürokratie, deren Bedeutung sich mehr und mehr verselbstständigte und schließlich die politische Wahl zwischen einer monarchischen, oligarchischen oder demo­ kratischen Variante der Regierung ermöglichte. Auch kam es zur Zweiteilung der Bevölkerung in Gebildete und Ungebildete, deren wesentliches Kriterium das Ausmaß einer (wesentlich durch Schriftkenntnis und Belesenheit begrün­ deten) geistigen Herrschaft war. c) Quantitative Ursachen und qualitative Folgen Eine genauere Untersuchung, wie und warum sich die sozialen Beziehun­ gen in der vorstehend bezeichneten Phasenfolge entwickelten, führt auf je­ weils quantitative Ursachen zurück, die qualitative Folgen hervorbrachten. (α) Erste und zweite Phase („Bindung/Fürsorge“ und „Kommunikation“). Quantitativ fing alles klein an: Die Familien waren klein, weil die Menschen früh starben und deshalb selten in Gemeinschaften mit mehr als zwei Gene­



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rationen zusammenlebten; die sozialen Gruppen (Horden, band societies) waren ebenfalls klein, weil die Natur für größere Einheiten keine Nahrung bereithielt. Qualitativ war der Beginn infolgedessen einfach: Basis der sozi­ alen Organisation war die physische Kraft, ihr Zweck war die materielle Si­ cherung der Familien und sozialen Gruppen. Intrafamilial kam dem Manne die Herrschaft über die übrigen Familienmitglieder – Frau(en) und Kinder – zu, weil vor allem er die Kraft hatte, die Familie zu ernähren und sie gegen Bedrohungen zu schützen. Die Frau hatte dagegen die Aufgaben, Nachwuchs zu gebären und aufzuziehen sowie für den Zusammenhalt der Familie zu sorgen. Die intrafamiliale Organisation ließ die physische Kraft des Mannes allerdings nur so weit zur Geltung kommen, wie sie sich im Zugang zu den natürlichen Ressourcen (einschließlich den dafür eingesetzten Techniken) niederschlug. Und weil insoweit die Potentiale grundsätzlich gleich verteilt waren, standen auch die Familien untereinander im Range gleich.583 Den weiteren Zusammenhalt der Familien innerhalb einer Horde stiftete dann das alle beherrschende Gefühl, einer Schicksalsgemeinschaft anzugehören und die Mitverantwortung für das gemeinsame Wohl zu tragen. Einer darüber hinausgehenden festeren Organisation mittels sprachlicher Kommunikation bedurfte es hauptsächlich für das Jagen nach Großwild sowie für das Umher­ ziehen, ferner für die Verteidigung der eigenen Gruppe gegen äußere Feinde und dort, wo Kriegslust herrschte, für den Angriff auf fremde Gruppen. Bei derartigen Gelegenheiten konnten dann durch Tatkraft oder Organisationsge­ schick ausgezeichnete Männer Führungspositionen übernehmen. Diese Posi­ tionen waren aber zeitlich begrenzt und gingen verloren, sobald die Gründe für sie wegfielen. Organisatorisch übergeordnet war den Horden lediglich die Bindung an eine Stammeskultur, deren Bedeutung sich jedoch meistens in gelegentlichen Zusammenkünften erschöpfte: Man veranstaltete von Zeit zu Zeit zeremoni­ elle Feste, die zur Initiation des Nachwuchses, zum Austausch von Frauen und zu rituellen Spielen genutzt wurden. Darüber hinaus fühlte man sich gemeinsamen Göttern und Ahnengeistern verbunden, weil diese über die Einhaltung von Bräuchen und Tabus sowie über die gemeinsamen Sitten des Stammes wachten. Man fürchtete sie, weil sie Unheil auf den herabsandten, der sich gegen sie auflehnte, und man verehrte sie und brachte ihnen Opfer, weil man von ihnen (reziprok) Hilfe in Notlagen erwartete.

583  Über Grenzen dieser Gleichheit vgl. die Beiträge in F. Kramer/Ch. Sigrist (1983). Dass die Gleichheit mit dem Beginn der Vorratshaltung auch innerhalb von Jäger- und Sammlerpopulationen die Gleichheit schwindet, zeigt A. Testari (1982). Einige Indianerhorden, die an der Nordwestküste Amerikas in einer reichen Umge­ bung lebten, waren bereits im Wesentlichen sesshaft und wiesen alsdann ähnliche Sozialstrukturen auf wie die späteren Pflanzergesellschaften.

564

Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

(β) Dritte Phase („gemeinsames Poblemlösen“). In nuce kannten bereits die urtümlichen Horden sämtliche Merkmale der später am weitesten entwi­ ckelten sozialen Formationen: Volk, Gebiet und Herrschaft. Sie konnten sich deshalb weiterentwickeln, ohne diese strukturellen Eigenschaften aufzuge­ ben. Dennoch erzeugte die quantitative Zunahme der Bevölkerung qualitative Veränderungen – wenn auch nicht gesetzmäßig, sondern aufgrund schöpferi­ scher Akte, die sich freilich übereinstimmend auf die drei genannten Merk­ male (Volk, Gebiet und Herrschaft) erstreckten: Das in Horden zusammengefasste Volk vermehrte sich, weil allmählich aufgrund verbesserter Hygiene und besserer Krankenversorgung sich die allgemeine Lebensdauer verlängerte, sodass jede Familie bald eine größere Zahl von Mitgliedern – sowohl von Erwachsenen als auch von Kindern – umfasste. Auf der verwandtschaftlichen Ebene führte diese Entwicklung zu Verbänden, die erstmals nicht nur zwei, sondern drei Generationen umfass­ ten: Sippen (lineages) mit über 50 Mitgliedern und (mehrere Sippen umfas­ sende) Clans mit bis zu 250 Mitgliedern.584 Da deren interne Ordnung nicht mehr allein dem natürlichen Zusammengehörigkeitsgefühl überlassen werden konnte, musste sie zusätzlich durch originär erzeugte Normen – Inzestver­ bote, Exogamiegebote, Tabuvorschriften u. a. m. – stabilisiert werden. Gleichzeitig vermehrten sich durch den allmählichen Übergang von der aneignenden zur produzierenden Wirtschaft auch die Lebensmittelreserven: Sie bestanden künftig nicht nur aus der Nahrung, die die Natur feilbot, son­ dern auch aus Produkten, die die Menschen selber erzeugten. Dies gab der Vermehrung der Menschen einen weiteren Schub. Viele Horden brachen aus ihrer natürlichen Begrenzung auf 20 bis 50 Individuen aus, teilten sich und bevölkerten fortan benachbarte Gebiete. Ihre Verbindung untereinander riss dadurch nicht vollständig ab; man traf sich zu gemeinsamen Festen, half ei­ nander in Notzeiten und tauschte vor allem die Frauen aus, um durch Heirat die verwandtschaftlichen Beziehungen aufrecht zu erhalten. Manche Horden schlossen sich nach ihrer Teilung auch mit anderen Horden enger zusammen, bildeten Hordengemeinschaften (composite bands) oder, auf einer qualitativ höheren Stufe, Stammesgesellschaften (tribal societies). Deren Aufbauschema wurde dann erweitert, aber in den Grundzügen nicht verändert: Die Verbin­ dung der Sippen und Clans im Stamm entsprach derjenigen der Familien und Sippen in der Horde. Lediglich die Mitgliederzahl eines Stammes übertraf nunmehr die einer Horde um ein Vielfaches: Sie erreichte je nach der Anzahl der verbundenen Sippen und Clans oft mehrere Tausend Mitglieder. Bei den Stämmen der Nuer beispielsweise lag sie zwischen einigen Hundert und 40.000 Personen. Gleichwohl änderte das nichts daran, dass die Gründe für den Zusammenhalt innerhalb des Stammes verwandtschaftlicher Natur waren 584  Zur

Unterscheidung vgl. oben F 2 b Fn. 157.



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II565

oder zumindest von den Mitgliedern so erklärt wurden.585 Die Zahl der Nor­ men, die die sozialen Probleme der von Natur aus lockerer organisierten Stämme regelten, musste allerdings um ein Vielfaches vermehrt, die Normen selbst strenger gefasst werden, damit die durchschnittliche Verlässlichkeit erhalten blieb.586 Das Gebiet, das eine Horde bevölkerte, war klein, wenn pflanzliche Kost die Hauptnahrungsgrundlage bot; notfalls wurde es häufiger gewechselt. Das Gebiet musste größer sein, wenn die Jagd nach Großwild die Ernährung si­ cherte. Zwar vergrößerten sich parallel dazu dann auch die Horden, doch entsprach deren Vergrößerung nicht der des lebensnotwendigen Raums. Und da ohnehin das Großwild sich nicht beliebig vermehren ließ, während Pflan­ zen gezüchtet und kleinere Tiere (etwa Ziegen und Schafe, aber auch Rinder) domestiziert werden konnten, war generell der Übergang von der Großwild­ jagd zu Ackerbau und Weidewirtschaft vorgezeichnet. Freilich musste man jetzt auch darauf achten, dass die produzierten Früchte denjenigen Familien zugutekamen, die die Saat dafür ausgebracht hatten, und dass das domesti­ zierte Vieh Milch und Fleisch denjenigen lieferte, die es hüteten. Einerseits verbrauchte man daher weniger Raum, andererseits musste man den Raum abgrenzen, um die Nutznießung an die Nahrungsquellen zu binden, und die Grenzen sichern, um ungebetene Gäste fernzuhalten. Das klappte gut, so­ lange genügend fruchtbarer Boden zur Verfügung stand. Wurde der Boden dagegen knapp, kam es zu Verteilungskämpfen. Diese Kämpfe waren, wie immer sie ausgingen, verlustreich. Deshalb wurde für viele sesshafte Popula­ tionen der Schutz ihres Territoriums durch befestigte Grenzen unausweich­ lich, und im Neolithikum wurde er sogar zum Normalzustand: Das besessene Gebiet verschmolz mit dem Volk, das es besiedelte; es ‚gehörte‘ ihm, weil sagenhafte Ahnen (oft angeblich auf Geheiß der Götter) es in Besitz genom­ men und kultiviert hatten, und es war das ‚Reich‘587, das dereinst seinen Kindern und Enkeln gehören sollte. 585  J. Maquet (1971), S. 42 ff. Dass die verwandtschaftlichen Beziehungen inner­ halb von Stämmen nicht mehr blutsmäßig oder kollateral, sondern nur noch termino­ logisch begründet waren, hinderte reisende Stammesmitglieder allerdings nicht, zu­ nächst ihre Verwandtschaft zu definieren, wenn sie bei ihnen unbekannten Personen zu Gast waren (L. Lévy-Bruhl, 1930, S. 78). Dasselbe galt, wenn sich zwei Unbe­ kannte in einem afrikanischen Dorf trafen; denn je nach der Rolle, die ihnen das Verwandtschaftssystem zuteilte, richtete sich ihr Verhalten zueinander. „Stellt sich z. B. heraus, dass sie ‚Brüder‘ sind, so betrachten sie sich als ebenbürtig bzw. als äl­ teren oder jüngeren Bruder. Sind sie aber ‚Onkel‘ und ‚Neffe‘, so wird der Neffe wahrscheinlich dem ‚Onkel‘ mit größtem Respekt begegnen, falls die in der betref­ fenden Gesellschaft geltenden Normen es verlangen“ (J. S. Mbiti, 1974, S. 131). 586  Vgl. oben 2 d β a. E. 587  Der vieldeutige Begriff ‚Reich‘ wird hier und im Folgenden zur Bezeichnung des Territoriums einer politisch organisierten Gemeinschaft sowie des von ihr ver­

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

Die Größe des Gebiets, die ein Stamm beanspruchte, richtete sich zum einen nach seiner Mitgliederzahl, zum anderen nach der Art des Zusammenlebens. War der Stamm vollständig sesshaft, dann brauchte er ein Territorium, worin alle Mitglieder genügend Platz und Nahrung fanden. War er dagegen seminomadisch588 und hatte er keine unmittelbaren Nachbarn, dann lebte er auf einem nur vage abgegrenzten Ge­ biet, innerhalb dessen die Verwandtengruppen sich locker verteilten – entweder jede an einem festen Platz oder ein Teil davon lediglich als Platzhalter, während der ande­ re Teil das eigene Vieh weidend oder nach Beute jagend umherzog.

Herrschaft i. S. von Führerschaft gab es während dieser Entwicklungs­ phase sowohl innerhalb der Familien als auch der Sippen und Clans: Sie hatten jeweils ein Oberhaupt, meistens den ältesten Mann der Familie, der Verwandtengruppe (lineage) oder derjenigen Familie, von der die anderen Familien – der Sage nach – abstammten. Im Übrigen bestand Gleichheit: Die Verwandtengruppen waren wirtschaftlich autonom und sozial einander gleichgestellt. Sittliche Normen dehnten die Fürsorgepflicht des familiären Oberhaupts während dieser Phase erstmals auch auf außerfamiliäre Mitarbeiter aus: auf Hausgenossen, Hörige und Sklaven. Das führte in größeren Wirtschaftsbetrieben zu Problemen, weil sich die Herrschaftskompetenz von der physischen auf die kognitive und organisato­ rische Kraft verlagerte, welche die Familienoberhäupter zwar ebenfalls für sich bean­ spruchten, aber oft nicht in hinreichendem Maße besaßen. Die Probleme machten sich u. a. beim bisher in den Familien geübten Brauch des Teilens bemerkbar. Um den Brauch auch auf größere Hausgenossenschaften und Verwandtschaftsgruppen auszu­ dehnen, reichten die emotionalen Bande nicht mehr aus, sodass zwar das Teilen in­ nerhalb der Kernfamilie nach wie vor dem natürlichen Antrieb überlassen bleiben konnte, die Zuteilungen an andere Hausgenossen und Verwandte aber sozialen Regeln unterstellt werden mussten. Darüber hinaus blieben Transaktionen zwischen den Ver­ wandtengruppen (Sippen und Clans) aufgrund der oft völlig unterschiedlichen Inte­ ressenlagen vertraglichen Vereinbarungen vorbehalten (z. B. über den Austausch von heiratsfähigen Frauen, über die Leihe von Sklaven oder über die wechselnde Zustän­ digkeit für die Pflege von Rindern), sodass sich hier erstmals Normen über Tausch, Kauf, Darlehen, Miete, Pacht u. ä. entwickeln konnten, die jedoch noch keinen Recht­ scharakter hatten. Den nicht verwandtschaftlich verbundenen Stammesmitgliedern gegenüber, insbesondere den Bewohnern anderer Dörfer, gebot die Sitte nur eine ge­ wisse Solidarität, die aber an der Wahrung der eigenen Interessen endete. Solidari­ sches und konkurrierendes Verhalten wechselten daher ebenso oft wie die Interessen­ lage: Das eine Mal wurden Bündnisse geschlossen, das andere Mal kam es zu verba­ len oder tätlichen Auseinandersetzungen.

Außerhalb der Verwandtengruppen entwickelten sich neue Formen der Herrschaft aufgrund von ökonomischen Unterschieden. Während die noma­ walteten Gemeinschaftsvermögens verwendet. Er ist nicht mit dem des Staates iden­ tisch. 588  Einzelheiten zu einem seminomadischen Volk (hier: der Machiguenga) etwa bei A. W. Johnson/T. Earle (2000), p. 103 ff.



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disierenden Horden u. a. deshalb sozial gleich waren, weil dort die Segmen­ tierung in Familien aufgrund des gleichen Zugangs aller zu den natürlichen Ressourcen wirtschaftlich unbedeutend war, war seit der Sesshaftigkeit der gleiche Zugang nicht mehr gewährleistet. Denn selbst wenn jedem Haushalt ein gleicher Anteil am Land zugeteilt war, ergaben sich Unterschiede: Der eine Boden erschöpfte sich schneller als der andere, die zur Bewirtschaftung eingesetzten technischen Mittel besaßen nicht immer die gleiche Qualität oder erzielten mangels gleicher technischer Kompetenz nicht immer den gleichen Effekt, usf. Auch spielte verstärkt eine Rolle, über wie viele Pro­ duktivkräfte ein Haushalt verfügte und mit welcher Regeneration er rechnen konnte. All diese Ungleichheiten konnte man nicht ausschalten, sondern nur beschränken – und man versuchte es daher auch nur solange, wie der Wunsch nach einem kompossiblen Maximum an sozialer Gleichheit (Harmonie) im Zusammenleben bestimmend war589 – und eine Chance auf Erfüllung hatte. Eine besondere Qualität erhielten Ungleichheiten im Reichtum, wenn ein­ zelne Persönlichkeiten, die sogen. big men, ihn in Sozialprestige ummünzten. Sie hatten ihren Reichtum meistens dadurch erlangt, dass sie andere Haus­ halte in ihren ökonomischen Wirkungskreis einbezogen und sie schließlich so weit abhängig machten, dass sie Abgaben von ihnen fordern konnten. Ihr Sozialprestige erhöhten sie dann teils dadurch, dass sie nicht nur gegenüber den im engeren, sondern auch gegenüber den im weiteren Umkreis Wohnen­ den sich freigebig zeigten,590 dass sie freundschaftliche Beziehungen zu wichtigen Persönlichkeiten des eigenen Stammes und denen anderer Stämme unterhielten und dass sie im Kriegsfall Kämpfer stellten, um das eigene Land zu schützen oder um das des Gegners zu plündern – was ihnen dann noch­ mals reiche Beute einbrachte. Sie waren deshalb diejenigen Persönlichkeiten, die die weitere Entwicklung bestimmten. (γ) Vierte Phase („regional-politische Organisation“). Macht und Herr­ schaft hatten sich in der dritten Phase von der physischen Arbeitskraft teil­ weise gelöst und auf die kognitive und organisatorische Kompetenz als zu­ 589  Sehr deutlich machen das u. a. die Sozialkritiken der jüdischen Propheten und die hierauf eingehenden Sozialnormen des Alten Testaments. Ursprünglich hatte die Sozialgesetzgebung in Israel nur die Einhaltung eines Sabbatjahres gefordert, wäh­ rend dessen die Felder brachliegen und die Ernte unberührt bleiben sollten. Das Hei­ ligkeitsgesetz (3. Mose 25 10 ff.) fügte dem noch das sogen. Jobeljahr (50. Jahr) hinzu, worin alles Land seinem vorigen Eigentümer zurückgegeben werden sollte. Vor allem aber wurde zwei Jahrhunderte später das Sabbatjahr zum Anlass für einen generellen Schuldenerlass genommen (5. Mose 15 1 ff.), um nicht nur die kleinen Bauern, sondern die Bevölkerung insgesamt vor Überschuldung und Knechtschaft zu bewahren (vgl. oben H 2 a α). 590  Über die Feste, die sie regelmäßig zu veranstalten hatten, habe ich oben H 2 c dd ζ ββ berichtet.

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sätzliche Basis verlagert. In der vierten Phase verdrängte dann die Bedeutung der sozialen Produktivkraft überhaupt die der individuellen Arbeitskraft und die soziale Kompetenz zu ihrer Organisation die individuelle. Die Gemein­ schaft als Ganze sicherte sich die Arbeits- und Organisationskraft ihrer Mit­ glieder und schrieb allen Mitgliedern soziale Rollen zu, die sie auszufüllen hatten. Überall finden wir deshalb Initiationsriten für Knaben, die die Ge­ meinschaft u. a. für die Rolle des männlichen (kriegerischen) Schützers in Anspruch nahm,591 und für Mädchen, für die der Beginn des Menstruations­ zyklus den Schritt von der Kindheit in die Rolle der Frau als Erzeugerin neuer Produktivkräfte darstellte. Überall finden wir ferner Tendenzen zu ei­ ner Aufteilung der Arbeit, welche den produktiven Nutzen jedes Einzelnen für die Gemeinschaft erhöhte: Man unterschied Nahrung produzierende Bauern und Fischer, Gebrauchsgüter oder technische Geräte herstellende Handwerker, von Krankheiten heilende Ärzte und Schamanen, Beziehungen zu den Göttern pflegende Priester, u. a. m. Auch die eigenen Götter und Ah­ nengeister begriff man vor allem als Nutzenbringer und veranstaltete Zere­ monien, damit sie die Bitten und Opfer der unter ihrem Schutz Lebenden mit Segen und Wohlstand belohnten. Die Sittennormen und das werdende Recht passten sich dieser Tendenz an und verstärkten sie noch, indem sie das Schwergewicht ihrer Regelung auf den ökonomischen Bereich legten: Sie förderten gemeinnützige und sie ver­ boten sozialen Schaden bringende Tätigkeiten, und sie belegten ferner jede messbare Schädigung mit einer Wiedergutmachungspflicht. Keinen Schutz gewährten sie Angehörigen derjenigen Völker, von denen man sich keinen Nutzen versprach. Man sprach ihnen manchmal sogar die Qualität vollwerti­ ger Menschen ab – weshalb wir überall einer starken Neigung zum Ethno­ zentrismus, d. h. zur Erhöhung der eigenen Kultur verbunden mit der Abwer­ tung der fremden, begegnen.592 Händler, die nützliche Waren ins Land brachten, schützte man dagegen nicht nur persönlich, sondern samt ihren Waren gegen Raub, Untreue und Betrug. Mit der Aufteilung der Bevölkerung in Träger sozial nützlicher Rollen ging die Aufteilung des bewohnten Gebietes in politische Einheiten einher, 591  Vgl. dazu V. Sommer (1992), S. 233 ff. Die meisten Pubertätszeremonien prüf­ ten nicht etwa die Zeugungsfähigkeit der Knaben, sondern ob sie fähig waren, die sozialen Funktionen eines Mannes zu erfüllen und dafür den nötigen Mut und die nötigen Kenntnisse aufbrachten. Falls Anwärter die Prüfung nicht bestanden, mussten sie in ihrer Knabenrolle verbleiben. Bestanden sie sie, wurden ihnen allerdings Ge­ heimnisse mitgeteilt, welche die Frauen und Kinder niemals erfahren durften. A. Schlegel/H. Barry III (1979) geben hierzu Informationen aus 186 bekannten vor­ industriellen Gesellschaften. 592  E. Dissayanake (1992), p. 16: „Virtually all human social groups find it easy to consider other human social groups to be inferior or not quite human.“



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wobei ebenfalls ökonomische Gründe mit entscheidend waren. Es gab künf­ tig Wohnsiedlungen (Dörfer), wo nicht nur die Angehörigen einer einzigen, sondern auch die anderer Sippen lebten, weil entweder Heirat oder ökonomi­ sche Gründe sie dorthin gezogen hatten. Sobald diese gemischten Wohnsied­ lungen eine genügende Größe erlangt hatten, um als selbstständige Einheiten wahrgenommen zu werden, traten sie neben die verwandtschaftlichen Einhei­ ten und brachten ihr Gewicht in die Zusammensetzung der Stammesgremien und in deren Beratungen ein. Zu diesem Zweck besaßen jetzt nicht nur die Verwandtengruppen ein Oberhaupt, sondern auch die Dörfer einen ‚Schul­ zen‘, der sich nicht nur um den Zusammenhalt der Dorfbewohner kümmerte, sondern auch deren Interessen nach außen vertrat. Ein solcher ‚Dorfschulze‘ konnte auch Sippenoberhaupt oder Clanchef sein und alsdann beide Funktionen auf sich vereinigen. Als Regel galt, dass er derjenigen Ver­ wandtschaftsgruppe angehören musste, die den hierarchisch höchsten Rang im Dorf hatte oder den größten Teil seiner Bewohner stellte.

Ebenso wie zwischen den Verwandtengruppen bestand zwischen den Dör­ fern grundsätzlich Gleichheit. Größen- und Bedeutungsverhältnisse spielten lediglich dann eine Rolle, wenn überörtliche, insbesondere den gesamten Stamm betreffende Entscheidungen zu fällen waren. Dann gab das Oberhaupt des größten oder des bedeutendsten Dorfes im Stammesrat das erste Votum ab, und die anderen Dorfoberhäupter schlossen sich ihm an – entweder auf­ grund einer zuvor getroffenen Vereinbarung oder aus Solidarität und um sich bei einer künftigen Beratung (reziprok) auch der Unterstützung ihrer Interes­ sen zu versichern. Manchmal indessen behinderten Prestigedenken, Animosi­ täten zwischen den Clanchefs bzw. den Dorfschulzen und ein daraus folgen­ des langes Palaver die Entscheidung. Den Nachteil hatte dann der Stamm, z. B. wenn ein Nachbarstamm bereits auf seine Nahrungsvorräte oder seine Frauen zielte oder sogar schon das Kriegsbeil ausgegraben hatte. Deshalb setzten sich auch innerhalb der Stämme schließlich jene Hierarchisierungs­ tendenzen durch, die es innerhalb der Verwandtengruppen und der Dörfer bereits gab: Einer der Clanchefs oder der Dorfschulzen übernahm die Füh­ rung, hatte in den Beratungen die entscheidende Stimme und war anschlie­ ßend Anführer des gesamten Stammes, wenn es zum Kampfe ging. Wie es im Einzelnen zu solcher Führerschaft kam, wissen wir nicht. Wahrschein­ lich kamen verschiedene Gründe zusammen, die nicht nur das Bedürfnis nach einer Führerpersönlichkeit erzeugten, sondern jemanden auch dafür prädestinierten: weil er bereits bei früherer Gelegenheit Führungsqualitäten bewiesen hatte; weil infolge sei­ nes Reichtums vor allem sein eigener Wohlstand bei einem Krieg auf dem Spiel stand; weil er gute Beziehungen zu anderen wohlhabenden Stammesmitgliedern (Clanchefs) unterhielt, damit sie ihn notfalls mit ihren sachlichen und persönlichen Mitteln unterstützten; weil er durch Generosität verstanden hatte, sich eine große Anzahl von Parteigängern zu schaffen, usf. Ideelle persönliche Qualitäten – magi­ sche, oratorische oder charismatische – spielten zwar ebenfalls eine Rolle, traten aber

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hinter den wirtschaftlichen Einfluss zurück, wenn es auf Dauer Macht zu verteilen galt. Denn wirtschaftliche Macht war vererblich, persönliche Qualitäten zumindest nicht im selben Maße. Und da allen klar war, dass derjenige, der einmal eine politi­ sche Machtposition erlangt hatte, unter allen Umständen versuchen werde, diese in seiner Familie zu halten, war der ideale Führer eines Stammes folglich der Chef eines großen und angesehenen Clans, der erfolgreiche Kriegszüge angeführt, reiche Beute heimgebracht und sich viele Freunde gemacht hatte, weil generös und klug genug war, andere an seinem Reichtum teilhaben zu lassen.

Es war ziemlich selbstverständlich, dass die personale Frage nach dem Anführer des Stammes nicht ohne die territoriale nach seiner Residenz ent­ schieden werden konnte. Denn politische Macht bedurfte nicht nur einer ökonomischen Grundlage und eines persönlichen Nimbus, sondern auch ei­ nes örtlichen Zentrums. Befanden sich schon bisher wichtige Stammesinsti­ tutionen an einem Ort, dann sprach vieles dafür, diesen zum Zentrum des gesamten Stammes zu machen. Und meistens fügte es sich auch, dass dieser Ort sich im Bereich des reichsten und mächtigsten Clans befand und dass dessen Chef genügend Charisma besaß, um als ‚Häuptling‘ (chief) den Stamm anzuführen. Deshalb wurde dieser Ort künftig zum ‚Stammsitz‘.593 Und gab der neue Häuptling dort anschließend jene großen Feste, die man von ihm erwartete und an denen alle teilhaben durften, dann konnte er mit allgemeiner Zufriedenheit rechnen und bald nicht nur seinen eigenen Stamm anführen, sondern auch noch weitere Stämme, die er zu einem einzigen Stammesverband (pan-tribal society) vereinte. Gemeinsam bildeten diese Stämme dann eine politische Einheit, deren hierarchischer Aufbau sich vor allem im Notfall bewährte. Denn während die egalitär organisierten Stam­ mesgesellschaften oft Mühe hatten, ein gemeinsames Heer zur Verteidigung gegen einen plötzlichen Angriff aufzustellen und folglich in kriegerischen Auseinandersetzungen oft den Kürzeren zogen, erlaubte die hierarchische Organisation des aus mehreren Stämmen gebildeten Verbandes die Aufstel­ lung einer ständigen Eingreiftruppe, welche die militärische Sicherheit unab­ hängig vom Wandel der Bedrohungskulisse garantieren konnte. In allen hie­ rarchisch aufgebauten Gemeinwesen wurde deshalb eine solche Truppe bald zur Regel und schließlich zum Vorbild und zur Vorläuferin der staatlichen Berufsheere. An den sozialen Beziehungen zwischen den Stämmen änderte sich durch ihre Ein­ gliederung in eine einzige Häuptlingsschaft grundsätzlich nichts, d. h. sie blieben so lose miteinander verbunden wie zuvor. Man war sich lediglich einig, ein Volk zu sein, oft sogar das einzig menschliche („Inuit“, „Nemene“, „Naadh“).594 Und dieses Ge­ weiteren Gründen vgl. unten c. unterschiedliche Bewertung der Menschqualität von Mitgliedern unter­ schiedlicher Stämme schildert sehr anschaulich R. Linton (1979), S. 135: „Die Mit­ glieder eines Marquesa-Stammes waren untereinander mehr als freundlich und rück­ 593  Zu

594  Die



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fühl hielt einen Stamm nur selten davon ab, seine Interessen gegenüber den anderen energisch zu vertreten und sie notfalls mit Gewalt durchzusetzen.595 Lediglich bei Gefahren, die gleichzeitig allen Stämmen galten, besann man sich auf die innere Verbundenheit: Dann zogen die Stämme gemeinsam unter der Leitung eines Kriegs­ häuptlings in den Kampf und fochten geeint Seite an Seite und auf Gedeih oder Verderb.

Im vorliegenden Zusammenhang wichtiger als die äußere ist indes eine innere Sicherheit der Stämme, weil sie eine Macht gewährte, die nicht mit Waffen verteidigt werden konnte, sondern nur mit Argumenten: das Frührecht, welches in etwa unserem mittelalterlichen Landrecht entsprach, jedoch in den Häuptlingsschaften aufgrund seiner ausschließlich mündlichen Über­ lieferung noch keine feste Form annahm. Zu seinem Inhalt verweise ich auf meine Ausführungen oben F 3. (δ) Fünfte Phase („zentral-politische Administration“). Nochmals gestärkt wurde der hierarchische Aufbau der Häuptlingsschaften dort, wo es den Häuptlingen gelang, ihr persönliches Charisma auf das Herrscheramt zu übertragen und außer den Verwaltungsfunktionen an ihrem Amtssitz auch die militärischen und die religiösen Funktionen zu monopolisieren. Damit ­schufen sie den Übergang zu den Königreichen (kingdoms), die sich überall dort durchsetzten, wo es gelang, örtlich verbundene Stammesverbände und Häupt­lingsschaften unter eine gemeinsame Regierungsgewalt zu stellen und aus der Quantität der damit verbundenen administrativen, militärischen, öko­ nomischen, politischen und religiösen Machtquellen ein qualitativ neues Machtsystem zu schaffen. Wie es im frühen Altertum zu solchen Königreichen kam, ist angesichts der oralen Kultur in Afrika, wo die meisten von ihnen entstanden, nicht be­ kannt. Ein Grund war sicherlich das starke Bevölkerungswachstum ohne die Möglichkeit zur Besiedlung benachbarter Gebiete. Es erlaubte den Häuptlin­ gen, die Verpflichtungen zu Militär- und Arbeitsdienst, die Zahlung von Steuern und den Gehorsam aller gegenüber den (freilich noch wenigen) Ge­ setzen durchzusetzen. Mit der Zeit erhöhte sich infolgedessen ihre Macht derart, dass ihnen die umliegenden Stämme botmäßig wurden und sie sich sichtsvoll und betrachteten das Essen eines Stammesmitglieds wie wir als Kanniba­ lismus. … Gleichzeitig aßen sie die Mitglieder anderer Stämme ohne jeden Gewissensbiss. Das Essen feindlicher Krieger enthielt gewisse Elemente von Zeremo­ niell und Rache, aber fremde Frauen und Kinder wurden gegessen, weil man ganz einfach ihr Fleisch mochte. Mitglieder anderer Stämme wurden ähnlich wie Schweine gejagt und Gefangene mit unerhörter Grausamkeit behandelt. Wenn sie mehr Gefan­ gene hatten, als für ein Fest nötig war, brachen sie ihnen die Beine, um ihre Flucht zu verhindern, und hielten sie gefangen bis sie gebraucht wurden.“ 595  So hielt die kriegerischen Komantschen ihr Gefühl für Identität nicht davon ab, gegeneinander Kriege anzuzetteln (Th. W. Kavanagh, 1996, p. 29 ff.).

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als deren Könige ausrufen lassen konnten. Bisweilen aber vereinigten sich mehrere Häuptlingsschaften auch freiwillig unter der Oberhoheit des mäch­ tigsten unter ihnen zu einer Konföderation, wodurch dann ein für damalige Zeiten gewaltiges Gebilde mit komplexen Strukturen entstand: Der älteste oder mächtigste Stamm übernahm die Führung, sein Chef erklärte sich zum gemeinsamen Herrscher, seinen Stammsitz zur Hauptstadt und die übrigen Stammesführer zu Distrikthäuptlingen. Die einzelnen Distrikte waren dann zu Abgaben und Dienstleistungen verpflichtet und konnten als Gegenleistung Hilfe beim Aufbau einer Infrastruktur und königlichen Schutz erwarten. Re­ giert wurden sie von der Hauptstadt aus durch eine dem König treu ergebene Beamtenschaft nach einheitlichen Rechtsnormen; geschützt vor äußeren Feinden wurden sie durch ein schlagkräftiges königliches Heer. Die König­ reiche der Aschanti und der Zulu sind dafür − neben dem bereits besproche­ nen Königreich der Edo − wichtige Beispiele.596 Längeren Bestand hatten die Königreiche allerdings nur dann, wenn es ihren Herrschern gelang, alle Mitglieder der Konföderation nicht nur von ihrer Macht, sondern auch von ihrer Weisheit zu überzeugen: indem sie es vermochten, die nach wie vor unterschiedlichen Interessen der Stämme auszugleichen und ihnen darüber hinaus das Gefühl einer sie umfassenden Identität zu vermitteln.597 Das war schon deshalb nicht einfach, weil es fast immer Distrikthäuptlinge gab, die geheime Verschwörungen anzettelten, um selber die zentrale Macht zu erlan­ gen. Einzelheiten: Um eine Konföderation entstehen zu lassen, bedurfte es sowohl (a) zentripetaler Kräfte als auch (b) einer überragenden Persönlichkeit, die es ver­ stand, sich diese Kräfte im rechten Augenblick nutzbar zu machen.

596  Zum Königreich der Edo vgl. oben F 2 d Zusatz. Die Aschanti in Ghana (zu ihnen u. a. R. S. Rattray, 1927; E. A. Hoebel, 1968, S. 265–319) waren ein Volk von Jägern und Sammlern, bevor sie ein Volk von Ackerbauern wurden. Ihr Königreich ging aus kleinen primitiven Häuptlingsschaften hervor. Die Zulu (zu ihnen u. a. A. T. Bryant, 1970) waren ein in zahlreiche kleinere Stämme untergliedertes Volk im Süd­ osten Afrikas (Republik Südafrika), das als Stamm der Nguni Anfang des 19. Jh.s geeint wurde. Als weitere afrikanische Königreiche lassen sich neben Ägypten als dem in jeder Hinsicht bedeutendsten (Proto-)Staat u. a. Agisymba, Aksum, Da‘amot, Karthago, Kerma, Kusch, Kyrene, Mauretanien, Nubien, Numidien („Reich des Mas­ sinissa“), Punt (Goldland) und das Vandalenreich (in Nordafrika) nennen. Auch noch später war Afrika über Jahrhunderte hinweg von mächtigen Königreichen mit weitrei­ chenden Handelsbeziehungen bis hin nach China und Rom übersät. Arabische und europäische Reisende schilderten ihren staunenden Zeitgenossen Pracht und Glanz der Königsresidenzen. Der König des alten Reiches Ghana galt als der Erde reichster Mann mit unermesslichen Goldschätzen. 597  Bezweckte eine Konföderation dagegen lediglich gemeinsame Kriegszüge oder eine ad-hoc-Aufteilung von wirtschaftlichen Interessensphären, dann überdauerte sie selten die Erreichung dieser Zwecke.



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(a) Zentripetale Kräfte speisten sich598 zum einen aus dem stetigen Bevölkerungs­ wachstum in den fruchtbaren Weide- und Ackerlandbezirken. Waren diese überfüllt, mussten weitere siedlungswillige Familien in die ärmeren Randbezirke und schließ­ lich in das weitere Umland bis zur Grenze des nächsten Stammes oder der nächsten Häuptlingsschaft ausweichen. Wurde der Druck an der Grenze dann zu groß, entstand zunächst Instabilität, bis man sich anschließend entweder friedlich auf eine Konföde­ ration der Volksgruppen einigte und einer der Häuptlinge die Führung übernahm, oder bis es zum Krieg kam und zur Unterwerfung und Einverleibung der schwäche­ ren Volksgruppe.599 Eine zweite zentripetale Kraft war der Handel zwischen benach­ barten Volksgruppen, deren Lebensweise sich einesteils grundlegend unterschied, an­ dernteils glücklich ergänzte, sodass regelmäßig Produkte ausgetauscht wurden. Oft war das bei nomadisierenden Wildbeutern oder Viehhirten einerseits und sesshaften Ackerbauern andererseits der Fall: Als Folge eines ständigen Handelsaustauschs ent­ wickelten sich zwischen ihnen Konföderationen, die, wenn sie genügend groß und stark waren, die Gestalt eines Königreiches annehmen konnten.600 Eine dritte zentri­ petale Kraft war die Erkenntnis innerhalb eines Stammesverbandes oder einer Häupt­ lingsschaft, dass man einer andauernden feindlichen Bedrohung von außen nur standhalten könne, wenn man sich mit weiteren Verbänden unter einheitlicher Füh­ rung zusammenschloss601 oder vor einem Angriff des mächtigen Nachbarn durch

598  Versuche, eine einzige Quelle für das Entstehen von Königreichen und Staaten auszumachen, sind m. E. gescheitert. Einen knappen Überblick über die verschiede­ nen Theorien zur Entstehung von Staaten gibt R. Zippelius (2010), § 15. 599  Die letztgenannte Alternative stellt die ökologische Theorie der Staatsentste­ hung in den Vordergrund: Nach ihr ist die Konkurrenz um knappe Ressourcen ein allgemeines Merkmal der sozialen Evolution. Sie habe universell zu Kriegen zwi­ schen den Menschengruppen geführt. Die politisch gut organisierten und zentrali­ sierten Gruppen hätten dabei einen Überlebensvorteil gegenüber den weniger gut ­organisierten und ohne Zentralgewalt regierten Nachbargruppen gehabt. Sie hätten sich daher sich durchgesetzt und sich schließlich als Staaten konsolidiert (vgl. dazu R. L. Carneiro, 1981). 600  Beispiele werden uns aus Mesopotamien, Indien und China berichtet. Die Ver­ einigung von so unterschiedlichen Populationen konnte allerdings auch gewaltsam verlaufen und tat dies wohl auch häufig. Vgl. F. Oppenheimer (1954), S. 48: Primi­ tive Staaten seien generell durch Eroberung und Überlagerung sesshafter Ackerbau­ ern durch nomadisierende Viehzüchterstämme entstanden. 601  Für das Königreich der Aschanti beispielsweise war der unmittelbare Grün­ dungsanlass, dass einer ihrer Stämme namens Kumasi einem neu gegründeten Staat namens Denkyira tributpflichtig wurde und dies auf Dauer nicht hinnehmen wollte. Sämtliche Stämme der Aschanti schlossen sich deshalb zum Sturze der Machthaber von Denkyira zusammen; es kam zum Krieg und in der Schlacht von Feyiase zum glorreichen Sieg. Von nun an übernahm der Kumasi-Stamm die Führung auch in Frie­ denszeiten; die anderen Stämme behielten innerhalb ihrer Territorien zwar weitge­ hend ihre Eigenständigkeit, erkannten aber seine Oberhoheit an. Versinnbildlicht wurde die Hierarchie in den Stühlen der einzelnen Herrscher: Der Häuptling des Kumasi-Stammes besaß den Goldenen Stuhl, den ein geistlicher Führer angeblich vom Himmel herabgeholt hatte, die übrigen Häuptlinge besaßen Herrscherstühle, die nicht aus Gold waren. Der Goldene Stuhl berechtigte seinen Besitzer zur Gesetzge­

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Tribute sicherte.602 Eine vierte Kraft bildeten schließlich klimatische oder sonstige ökologische Veränderungen, etwa ein längerer Ausfall der sonst üblichen Nieder­ schläge, sodass ursprünglich sesshafte Völker in bereits bewohnte Gebiete auswan­ dern mussten und entweder die eingesessene Bevölkerung unterjochen, vernichten oder sich mit ihr vermischen mussten. Im letzten Falle kam es meistens zu einer umfassenden Neuorganisation der sozialen Beziehungen zwischen der eingesessenen und der neu hinzugezogenen Bevölkerung, und deren Ergebnis war dann das Entste­ hen eines neuen Reiches. Ein solcher Ablauf wird u. a. für die Völkerwanderung der germanischen Stämme im 4. bis 6. Jh. u. Z. vermutet. (b) Überragende Persönlichkeiten, die sich die zentripetalen Kräfte zur Gründung eines Königreiches zunutze machten, sind aus alter Zeit nicht bekannt. Der ägypti­ sche Reichseiniger Menes ist eine Sagengestalt geblieben; ebenfalls sagenumwoben ist die machtvolle Gestalt des Sargon von Akkade603. Aus dem Innern Afrikas verlau­ tet zwar, dass es dort eine Reihe machtvoller Persönlichkeiten gegeben habe, doch sind ihre Namen und ihre Lebensdaten unbekannt. Oft es lässt sich auch nicht fest­ stellen, ob die wenigen, deren Namen wir kennen und an deren geschichtliche Bedeu­ tung wir glauben, wie z. B. an die Führerpersönlichkeit des Mose, Könige (d. h. Herrscher über ein Königreich) waren oder ob sie die Gründung eines solchen Rei­ ches (etwa Israels) nur vorbereitet haben. Und oft erfährt man lediglich aufgrund ei­ ner lange dauernden Volkstrauer nach ihrem Tode von ihrer einstigen Bedeutung. „Alle Feuer mussten gelöscht, das Schmieden und Gießen von Metallen, die Arbeiten in den Pflanzungen eingestellt werden. Verboten war … jede Lustbarkeit, Heiraten, Liebelei, Benamsen von Kindern, Lachen, lautes Reden, Niesen, Husten, Klopfen, Trommeln, überhaupt jeglicher Lärm …“604

Man darf sich die so entstandenen Königreiche nicht als totalitäre Institu­ tionen vorstellen, mochten einige von ihnen es auch gewesen sein. Die Macht eines Königs war zwar groß. Oft beruhte sie auf einer sagenhaften Verbin­ dung mit überirdischen Mächten und einer genealogischen Nachfolgerege­ lung, die keine Unterbrechung dieser Verbindung zuließ, ferner auf einer politischen und rechtlichen Ordnung ebenfalls sagenhaften Ursprungs, die dem König erlaubte, seine getreuesten Gefolgsleute zu regionalen Herrschern einzusetzen und sie notfalls auch wieder abzusetzen, wenn sie seine Erwar­ tungen enttäuschten. Doch wurde die Macht i. d. R. durch weltliche und geistliche Räte begrenzt,605 die über die Einhaltung der überkommenen Sit­ ten wachten und widrigenfalls die regionalen Herrscher zum Aufstand oder das gesamte Volk zum Aufruhr auffordern und damit den Machtmissbrauch bung über alle Aschanti-Stämme; den übrigen Stühlen kam lediglich die örtliche Zu­ ständigkeit zur ergänzenden Gesetzgebung zu. 602  Eine Mischform war, dass ein Stamm nach einem Krieg dem Sieger tribut­ pflichtig wurde. 603  Zu ihm vgl. oben H 2 c dd γ αα. 604  E. Pechuël-Loesche (1907), S. 155. 605  So gab es im sumerischen Staat eine Ratsversammlung (unken), die einen ge­ wissen Entscheidungsraum hatte und dadurch die Macht des Königs beschränkte (vgl. Gilgamesch-Epos, Tafel XI Vers 35).



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beenden konnten. Die regionalen Häuptlinge waren ja keineswegs nur Hand­ langer des Königs. Sie waren zwar einerseits ihrem König dienstbar, indem sie wesentliche Vorfälle innerhalb ihres Distrikts an den Königshof meldeten, finanzielle Mittel für den Hofstaat und Soldaten für die königlichen Kriege zur Verfügung stellten sowie bei Festen erschienen und für den nötigen Glanz sorgten. Aber sie waren andererseits auch Vertreter ihrer Gebietsinteressen, Beauftragte für soziale und individuelle Gerechtigkeit in ihrem Distrikt und im Verein mit den Priestern Hüter der ortsüblichen Riten und Rituale. Aus all dem resultierte ein gewisses Machtgleichgewicht, das gelegentlich zwar er­ schüttert, aber selten ganz außer Kraft gesetzt wurde. In unserem Zusammenhang ist vor allem der Aufschwung des Frührechts bedeutsam, das sich auf eine einheitliche Religion als Legitimations- und auf eine einheitliche Verwaltung als Machtquelle stützen konnte und infolgedes­ sen Garant war für inneren Frieden. Es erlaubte die Herstellung einer fest gefügten politischen Ordnung, die wiederum Voraussetzung war für das ei­ gentliche Ziel: die wirtschaftliche Prosperität des Landes auf der Grundlage seiner ständig weitergetriebenen Kultivierung mittels neuester Techniken und Methoden. Dem Königshof kam die Prosperität des Landes vor allem in Form von Steuern und Abgaben zugute, deren Höhe infolge des hierarchi­ schen Aufbaus der Verwaltung von oben nach unten verfügt wurde und von unten nach oben floss, wo sie auch kontrolliert werden konnte. Ebenfalls ihre Spitze beim Königshof hatte die Rechtsprechung, die sich u. a. individueller Beschwerden über Beamte annahm, wenn diese Steuern mit unzulässigen Mitteln oder in unzumutbarer Höhe (etwa angesichts von Missernten oder plötzlichen Schadensfällen) erpresst hatten. Insgesamt förderten eine hohe Mobilität sowie ein starker und schneller Nachrichtenfluss ein hohes Maß an Gleichgerechtigkeit, während die Bedeutung der örtlichen Sitten und Bräu­ che sich verminderte, sodass sie nicht mehr im selben Maße wie früher zur Rechtfertigung von Ungleichheiten gebraucht werden konnten. Auch tat die wachsende Bedeutung des Binnen- wie des Außenhandels ein Übriges, um nicht nur überall die einheitliche Geltung, sondern auch die einheitliche An­ wendung von Normen durchzusetzen. Der Weg zur rechtlichen Ordnung künftiger Staaten war also vorbereitet. Eine stärkere Ausbildung und Ausbreitung des Rechts wäre freilich nicht möglich gewesen ohne eine stärkere Ausbildung und Ausbreitung des allgemeinen Kultur­ niveaus. Und da die Tempel zu Zentren der Kultur geworden waren und dort nicht nur Priester und Ärzte, sondern auch Verwaltungsbeamte und Richter geschult wurden, ergab sich als Folge, dass sich über eine weitgehend übereinstimmende kulturelle Grundlage eine gebildete Bevölkerungsschicht schob, die u. a. auch spezielle Rechts­ prinzipien ausbildete und sie durch ihre Autorität dem gemeinen Volk vermittelte.606 606  Malo, ein Hawaiischer Fürst, formulierte es bildhaft so (zitiert nach A. W. John­ son/T. Earle, 2000, p. 302): „The government was supposed to have one body (kino).

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(ε) Sechste Phase („Verstaatlichung“). Die örtliche Zentralisierung der zuvor ausdifferenzierten administrativen, politischen, judiziellen und religiö­ sen Funktionen reichte allerdings noch nicht aus, um einen Staat zu erschaf­ fen. Erforderlich war auch noch die interne Stabilisierung dieser Funktionen. Dazu bedurfte es einer kulturellen Errungenschaft, welche die Funktionen auf eine substanziell dauerhafte und vom menschlichen Erinnerungsvermö­ gen unabhängige Grundlage stellte: der Erfindung einer landesweit üblichen Schrift. Verbunden mit einem festen Substrat bewahrte sie (als Lautschrift) einen Gedanken so, dass jedermann sich auf ihn berufen konnte. Allerdings verfremdete sie ihn auch so weit, dass er eine von der ihn äußernden Person unabhängige ‚objektive‘ Bedeutung erlangte. Dem Recht kam diese Eigen­ schaft freilich zugute. Denn indem sie dem Gedanken eine ‚objektive‘ Qua­ lität verlieh, wurde er im sozialen Leben allgemein verbindlich.607 Und da überdies die rechtlichen Sollensnormen in die Zukunft wiesen, die Schrift die Zukunft aber als schon seiend darzustellen vermochte,608 erging von den schriftlichen Normen aus gleichzeitig der Impuls an den Adressaten, die sei­ ende Realität so umzugestalten,609 dass sie der objektiv gesollten glich.610 Sobald die Schrift sich verbreitete, gab es in jedem Staat große und kleine Rechtstexte. Die kleinen waren in der Überzahl: In den Palästen und Tem­ peln bezogen sie sich meistens auf Wirtschaftsvorgänge und gaben diese in abgekürzter Form wieder. Darüber hinaus stellte man Vertragsurkunden her − sie enthielten schon größere Textmengen, und die verwendeten Schriftzei­ chen bedeuteten dann (im Rahmen der Lautschrift) Wörter, die sich zu Sät­ zen verbanden. Mit großen Textmengen hielt man sich indes lange Zeit zu­ rück. Sie erforderten nicht nur eine vollständig ausgebildete Buchstaben­ schrift, sondern auch deren Anerkennung seitens des Staates als ‚amtlich‘ und damit rechtsverbindlich. Wichtig war diese Anerkennung insbesondere dort, wo infolge der Vielzahl der unter staatlicher Herrschaft zusammenge­ fassten Völker ein buntes Gemisch an Sprachen (oder Dialekten) bestand. Hier musste man entweder eine Sprache als Amtssprache festlegen, deren As the body of a man is one, provided with a head, with hands, feet and numerous smaller members, so the government has many parts, but one organization. The cor­ porate body of the government was the whole nation, including the common people and chiefs under the king. The king was the real head of the government, the chiefs below the king [were] the shoulders and the chest.“ 607  Vgl. dazu auch N. Luhmann (1993), S. 245 ff. 608  Das beweist u. a. auch unsere heutige Formulierung strafrechtlicher Normen: Wer eine Straftat „begeht“, „wird bestraft“ – statt: Wer (künftig) eine Straftat „bege­ hen wird“, „soll bestraft werden“. 609  J. Assmann (1990, S. 44) meint sogar: „Ohne die Schrift hätte es so etwas wie eine achsenzeitliche Wende nie geben können.“ 610  Das gilt jedenfalls für die phonographische Schrift, die außer in China und ei­ nigen anderen Staaten zur allgemein gebräuchlichen wurde.



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Laute dann in der Schrift zum Ausdruck kamen, oder man musste den schriftlichen Zeichen, wie es in China geschah, den Vorrang einräumen und es den miteinander konkurrierenden Sprachen (Dialekten) überlassen, wie sie die Zeichen verlautbarten (ideographische Schrift). Mesopotamien machte in der Entwicklung einer Lautschrift den Vorreiter und be­ nutzte sie zunächst für kürzere Erlasse, die fast überall an den Herrscherhöfen ent­ standen und entweder auf herrscherlichen Befehlen beruhten oder Regelungen für Handelsmärkte darstellten.611 Eine bedeutende Textmenge enthielt der Kodex des Hammurapi, der weit über die Markterfordernisse hinausging und auch nicht nur vom Herrscher gefällte Urteile umfasste, sondern darüber hinaus eine systematische Nor­ mierung einzelner Rechtsgebiete erstrebte. In Ägypten hätte Ähnliches geschehen können, denn die Schrift war hier ähnlich entwickelt. Dass man sich dennoch mit Weisheitslehren begnügte (: Lehre des Wesirs Pthahotep, Lehre für Merikaré, Aufzeichnung der Klagen des Oasenmannes612), liegt daran, dass man den Zentralbegriff des Rechts, die Ma`at, als ein kosmopolitisches Prinzip verstand, das ‚sich selbst‘ gleich dem Licht der Sonne über die Erde ergießt, weshalb es unsinnig gewesen wäre, ihr eine menschliche Rechtsordnung zur Seite zu stellen, die mehr als ihr Spiegelbild ist. In China dagegen war nicht nur klar, dass ein starker Staat über starke technische Mittel (shu) verfügen muss, sondern auch, dass das wichtigste Mittel die vom Herr­ scher schriftlich erlassenen Rechtsgesetze (fa) sind. Denn ihre Allgemeinverbindlich­ keit verhinderte alle Ausnahmepositionen besonders privilegierter Gruppen und si­ cherte so die volle Machtentfaltung des Herrschers. Die chinesische Rechtsschule ging sogar weiter, indem sie vornehmlich ein Strafrecht, das alle Verfehlungen gegen­ über anderen Normen streng ahndet, dem Herrscher als Instrument seiner Macht an die Hand gab. Erlaubt seien, hieß es, zwar auch Belohnungen, jedoch genüge es, wenn auf je zehn Strafen eine Belohnung kommt. Am Ende solle ein Zustand entste­ hen, worin es wegen der Strenge der Strafen kein Unrecht mehr gibt und sich der Herrscher dem taoistischen Ideal der Tatenlosigkeit hingeben kann. In Indien fehlte es dagegen lange Zeit an einer einheitlichen Schriftkultur und da­ her auch an einer reichseinheitlichen Gesetzgebung; stattdessen gab es örtliche Sat­ zungen, die jeweils im Gedächtnis des gebildeten Teils der Bevölkerung lebten und weitergetragen wurden. Ganz anders war der Entwicklungsstand in Griechenland: Dort gab es in den Stadtstaaten eine Fülle schriftlich aufgezeichneter Satzungen − nur leider ist uns von ihnen allein diejenige aus dem kretischen Gortyn teilweise überliefert. Ähnlich sah es wahrscheinlich in den römischen Provinzen aus. Doch ist auf uns abermals nur aus Rom selber das auf zwölf Tafeln aufgezeichnete und auf dem Forum ausgestellte Stadtgesetz in Bruchstücken überkommen, während die vorrömischen 611  Daneben sind einige verfassungsrechtliche Regelungen und verwaltungsrechtli­ che Anweisungen an Beamte oder staatliche Institutionen überliefert. 612  Beide Lehren finden sich sind auswahlweise abgedruckt im Internet unter http://www.land-der-pharaonen.de/Literatur/Lehren_fur_das_Leben/body_lehren_fur_ das_leben.html. Zu den „Klagen des Oasenmannes“ vgl. J. Assmann (2003), S. 58 ff.

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(etruskischen, latinischen) Volksrechte, soweit sie ebenfalls aufgezeichnet waren, verloren gegangen sind.

So wie das in den Staaten geltende Recht zur Geltung an den menschli­ chen Willen und zur Verkündung an die Verbreitung der Schrift gebunden war, so war auch die in den Staaten ausgeübte Herrschaft an die Willensbil­ dung einer höchsten politischen Instanz und an die Verkündung ihres Willens mittels einer Schrift gebunden. Staaten waren also personalistische Gebilde selbst da, wo nicht ein einziger Monarch, sondern eine Gruppe von Archon­ ten die Regierungsgeschäfte führte. Die Herrschaft des Volkes über sein Recht ging infolge der Erfindung der Schrift allerdings verloren. Und noch viel später, zu Beginn der Neuzeit, verloren Staat und Recht auch ihre perso­ nalistische Grundlage und erhoben sich über die Menschen als Institutionen, die von einer Minderheit von Personen erschaffen waren und von einer Mehrheit anerkannt werden mussten. Davon wird erst im letzten Teil meiner Untersuchung (unten K) die Rede sein. 4. Ergebnisse der historischen Genese Auf drei Ebenen lässt sich die Historiogenese des frühantiken Rechts ver­ dichtet zusammenfassen: auf der politischen Ebene als Ausdifferenzierung einer spezifisch machtgestützten Herrschaft, die sich über die natürliche Hi­ erarchie des verwandtschaftlichen Miteinanders schob (unten a) und in den Städten ein landesweit geltendes abstrakt-schriftliches Recht schuf (unten b); auf der weltanschaulichen Ebene als Ausdifferenzierung eines Weltbilds, worin sich die Menschen ein ihrem Abbild ähnliches Vorbild als verbindlich anzustrebendes Ziel entwarfen (unten c); und auf der soziokulturellen Ebene als ein immer komplexeres Geflecht von Normen, die das menschliche Chaos ordneten und unterschiedliche politische Systeme gegeneinander abgrenzten (unten d). a) Die Entwicklung einer machtgestützten Herrschaft (α) Die Entwicklung einer machtpolitischen Grundlage. Als ‚personale Herrschaftsbeziehungen‘ werde ich im Folgenden diejenigen auf Befehl und Gehorsam beruhenden Beziehungen zwischen Personen bezeichnen, die sich nicht schon aus der natürlichen Hierarchie zwischen Verwandten ergeben, sondern die erst durch soziokulturelle Normen geschaffen wurden. Zu sol­ chen Herrschaftsbeziehungen kam es, als verwandtschaftlich unverbundene Menschen in einem abgegrenzten Raum siedelten und (a) ihre gemeinsamen Anliegen anstatt einzeln durch einen gemeinsamen Sprecher vertreten ließen, (b) anstatt im ungeordneten Haufen zu einer gemeinsamen Unternehmung



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aufzubrechen, sich einem Anführer unterordneten, (c) anstatt ihre Streitigkei­ ten in Rede und Gegenrede oder gewaltsam auszutragen, sich der Autorität eines Vermittlers („mächtigen Dritten“613) unterwarfen. Bewährten sich Ver­ tretung, Unterordnung und Unterwerfung, dann entschied man sich wohl auch, sie in sozialen Rollen zu vertypen und jeweils besonders geeignete Person mit der Wahrnehmung zu betrauen: also etwa (a1) einen ‚Sprecher‘ für die Verhandlungen im Stammesrat, (b1) einen ‚Anführer‘ für eine Großwild­ jagd oder für einen Krieg gegen ein Nachbarvolk, (c1) einen ‚Mediator‘ für einen Ausgleich von Streitigkeiten. Zusätzlich gefestigt wurden diese Betreu­ ungen, wenn man besonders geeignete Personen dafür fand: (a2) einen ‚Spre­ cher‘ mit der Gabe besonderer Beredsamkeit; (b2) einen ‚Anführer‘, auf des­ sen besonderes Engagement man vertrauen konnte, z. B. weil er und die Sei­ nen vom Erfolg einer Unternehmung besonders betroffen waren; (c2) einen Vermittler, der einer Sippe angehörte, die aufgrund der Zahl ihrer Mitglieder, ihres Reichtums sowie ihrer sozialen Vernetzung zu einer unparteiischen, von beiden Parteien als gerecht anerkannten Streitschlichtung in der Lage war. War es nun überdies so, dass man bei der Auswahl des ‚Sprechers‘, des ‚Anführers‘ und des ‚Vermittlers‘ stets dieselbe Person im Auge hatte und dass diese Person zudem einer Sippe angehörte, die aus den anderen Sippen hervorragte, sodass man annehmen konnte, sie werde ihre Stellung auf Dauer behalten oder gar befestigen, dann stand nichts im Wege, sie überhaupt mit der Führerschaft innerhalb eines Clans zu beauftragen. Dabei schielte man oft schon über auf das Verhältnis des e­ igenen Clans zu den anderen Clans des Stammes hinaus, ob nicht der gewählte Anführer etwa auch innerhalb des Stammes eine herausragende Stellung beanspruchen könne, sodass er in der Lage sein werde, dem Stamm als ‚Häuptling‘ vorzustehen. Diese Über­ legung lag jedenfalls in einer Zeit nahe, als man noch versuchte, verwandt­ schaftliche und politische Strukturen einigermaßen zur Deckung zu bringen. Je mehr jedoch die Bevölkerung wuchs und nicht mehr vor allem ver­ wandtschaftlich verbunden auf dem Lande, sondern anonym in Städten sie­ delte, desto stärker überlagerten politische Strukturen die verwandtschaft­ lichen und desto weniger dachte man in verwandtschaft­lichen, sondern in politischen Kategorien. Aus diesem Denken heraus bildeten sich schließlich aus Häuptlingsschaften die Königreiche und in ihnen ganze ‚Klassen‘ (bzw. ‚Schichten‘614) von Menschen, die einzig von einer auf politischem Denken 613  Vgl.

oben Fn. 129. oben G 4 b γ mit Fn. 558. Soziale Schichten gab es zwar auch schon in früheren Zeiten, doch waren sie nicht formal, sondern durch persönliche Eigenschaf­ ten abgegrenzt: Alter, Geschlecht, Mut, Kraft, Größe, Fertilität u. ä. Von den „sozialen Klassen“ im marxistischen Sinne unterschieden sie sich dadurch, dass ihre Macht nicht auf ihrer Stellung im Rahmen des Produktionsprozesses beruhte, sondern von der Spitze her religiös, im Übrigen durch Treuegelöbnisse begründet waren. 614  Siehe

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und Wollen beruhenden Machtteilung zusammengehalten wurden. Die ge­ danklichen Wurzeln hierfür reichten zwar ins Ende des 4. Jt.s. zurück und waren im Wesentlichen gleichgeblieben. Dagegen hatte sich der Herrschafts­ wille seither hochgeschaukelt. Nach außen hin hatte er die ‚Schichten‘ gefes­ tigt und war dabei vor kriegerischen Auseinandersetzungen nicht zurückge­ schreckt; nach innen aber hatte er die Basis für eine friedliche, wohlgeordnete und kulturell hoch entwickelte Gesellschaft gelegt. Diese Gesellschaft war zwar teilweise noch immer ein Konglomerat aus Sippen bzw. Clans. Doch allmählich konzentrierte sie sich mehr und mehr auf die Macht und damit auf die Festigung einer Monarchie: auf einen Bereich, der nicht nur den Monar­ chen selbst, seine Familie und denjenigen Teil der Verwandtschaft einschloss, auf den er glaubte, sich verlassen zu können, sondern der auch eine durch spezielle Treueverpflichtungen mit seinem Haus verbundene Klientel um­ fasste − die später in den Staaten die sogen. ‚Gefolgschaft‘ bildete. Ein wesentlicher Teil der Klientel war in den Königreichen identisch mit den Leitern einer politischen Verwaltung, die sich parallel zur Entwicklung des politischen Denkens gebildet und mehr und mehr die verwandtschaft­ liche Organisation ersetzt hatte. Dabei ging die Tendenz überall zur Dreistu­ figkeit: Auf der unteren Stufe der Dörfer übernahm anstelle des Sippenältes­ ten oder Clanchefs ein Ortsvorsteher (‚Dorfschulze‘) die Verwaltung; auf der mittleren Stufe der Distrikte waren anstelle des Stammesfürsten deputierte Beamte (‚Captains‘) aus dem Umkreis des Herrscherhauses oder des Militärs tätig; und auf der oberen Stufe der Landesverwaltung führten dem Herrscher­ haus ergebene Beamte (‚Minister‘) die Regierungsgeschäfte. Die Oberauf­ sicht über die Beamten der mittleren Stufe hatte grundsätzlich (d. h. außer in Vasallenstaaten) die Regierung. Die Beamten der Unterstufe unterlagen da­ gegen lediglich einer Rechtsaufsicht seitens der mittleren Stufe; im Übrigen besaßen sie eine stärkere Selbstständigkeit, die sie insbesondere zur Rege­ lung lokaler Angelegenheiten nutzten. Seit dem 6. Jh. v. u. Z. drang das machtpolitische Denken und die auf Macht gestützte politische Organisation schließlich so tief ins allgemeine Bewusstsein ein, dass sie in großen, politisch festgefügten Einheiten Früchte tragen konnten: in der Geburt von Staaten. In China verlor das Zhōu-Reich zwar an Glanz; doch an seiner Stelle erhoben sich mehrere Einzelstaaten zu wirtschaftlichem Wohlstand und kultureller Blüte. In Indien entstand parallel dazu das Großreich von Magadha. Zwei weitere Großreiche, das babylonische und das medische, füllten anschließend den Raum zu Europa. In Europa selbst fehlte es zwar noch an Entsprechungen. Doch kolonisierten stattdessen in dieser Zeit die Griechen weite Gebiete vom Schwarzen Meer bis nach Spanien, und die Phönizier stießen durch die Straße von Gibraltar bis zum Atlantischen Ozean vor und unterwarfen sich weite Gebiete von der iberi­ schen bis hinunter zur westafrikanischen Küste. Eine breite machtpolitische



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Basis war also gelegt. Gleichzeitig blieben die Entwicklungen allerdings auf ihr machtpolitisches Element nicht beschränkt, sondern dienten der Verbrei­ tung technischer Erfindungen und kunsthandwerklicher Schöpfungen, inter­ kulturellen Traditionen also, die von den politischen unabhängig waren. Sie hoben sich infolgedessen als Kulturbereich sowohl von dem der politischen Machtentfaltung dienenden staatlichen Bereich, als auch dem der individuel­ len Willkür dienenden Privatbereich ab – was u. a. auch in der kulturellen Überlappung des juristischen sowohl über den privaten als auch den hoheit­ lichen Bereich zum Ausdruck kam (vgl. dazu unten γ). (β) Die Entwicklung eines machtpolitisch gestützten Rechts. In den kleinen Menschengruppen der Frühzeit waren normative Ordnungsstrukturen schwach ausgeprägt. Man lebte, wie es seit Menschengedenken der Brauch war und ohne auch nur darüber nachzudenken, ob man daran etwas ändern sollte. Erst die ständige Vergrößerung der Gruppen und der höhere Grad an Anonymität ihrer Mitglieder nötigten zur schärferen Abgrenzung des sozial Erlaubten vom Ge- oder Verbotenen. Sein und Sollen mussten daher ausein­ andertreten, Sollensstrukturen das soziale Sein durchziehen, Sanktionen sie vor Verletzung schützen. Solche Sanktionen konnte man für leichte Verlet­ zungen den privat davon Betroffenen überlassen, schwere und insbesondere solche gegen Strukturen, auf deren Bestand die Gemeinschaft vertraute, mussten dagegen gemeinschaftliches und später hoheitliches Eingreifen zur Folge haben. Die politische Macht wurde zur Geburtshelferin rechtlicher Zwangsnormen, die den Übergang zum Frührecht einläuteten. Bräuche und Sitten gingen darüber zwar nicht verloren, zogen sich aber ins zweite Glied zurück. Die inhaltliche Ordnungsenergie des Rechts erstand jedoch nach wie vor auch aus ihnen. Die wichtigste Aufgabe des hoheitlichen, machtgestützten Frührechts war der Schutz des sozialen Friedens. Wer sich gegen ihn ‚verging‘, musste zu­ rück auf den rechten Weg gezwungen werden, wer ihn ‚zerbrach‘, über den brach ein Richter den Stab − er wurde aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, verbannt, gar getötet. Herausgehoben unter den ‚Vergehen‘ und ‚Verbrechen‘ war überall der Totschlag, seine Bedeutung jedoch abgestuft danach, ob er Ausdruck der asozialen Gefährlichkeit des Täters war oder lediglich Resultat einer persönlichen Familienfehde. Schlimmer als der Totschlag waren nur Taten, die sich entweder gegen die natürlichen Lebensgrundlagen der Ge­ meinschaft richteten, etwa die Nahrungsquellen615 oder gemeindliche Sicher­ heit aufs Spiel setzten oder militärische Planungen verrieten.

615  Beispiele: Bei den Inuit bestand die Gefährdung im Verscheuchen der See­ hunde, bei amerikanischen Indianerstämmen im Vergraulen der Büffel, bei javani­ schen Eingeborenenstämmen im Diebstahl von Kokosnüssen aus Gemeindebesitz.

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Rechtlich nicht verbürgt werden konnte der Schutz vor feindlichen Überfällen, denn gegen Gewalt konnte nur Gewalt etwas ausrichten. Vorsorge davor konnte jedoch auch das Recht stiften, etwa die Bürger zum Bau von Befestigungsanlagen und zur Verteidigung gegen andrängende Feinde ver­ pflichten, eine Wehrpflicht der männlichen Bürger einführen und die Waffen­ produktion zur Pflicht der befähigsten Handwerker machen. Darüber hinaus konnten Späher ins potenziell feindliche Umland entsandt werden, damit man sich gegen Überraschungen wappnen konnte. Vielerorts, aber nicht überall, gehörten Kriege zum Alltag. Die Gründe, weshalb Kriege in manchen Regionen häufig, in anderen dagegen selten stattfanden, sind gleichwohl bis heute ungeklärt. Dass Jägergesellschaften mehr zur Führung von An­ griffskriegen neigten als Pflanzergesellschaften, ist niemals nachgewiesen worden.616 Ebenso wenig lässt sich eine Neigung der Hirtenvölker zu kriegerischen Überfällen auf Pflanzergesellschaften belegen.617 Umgekehrt ist freilich auch das friedliche Zu­ sammenleben von Wildbeuterhorden nur eine Sage. Deren geringe Mitgliederzahl hielt sie zwar davon ab, sich in Kämpfe gegeneinander einzulassen, denn größere Verluste konnte sich keine von ihnen leisten. Doch machte Gemeinsamkeit sie häufig stark genug, um zu einem plötzlichen Überfall auf andere Horden loszuziehen – sei es um Beute zu machen, um ein größeres Nahrungsgebiet zu erobern oder um durch Frauenraub die Zahl ihrer Nachkommen zu vermehren und sich dadurch Kraft für weitere Überfälle zu verschaffen.

Ebenfalls nur vorsorgen konnte das Recht vor dem Unwillen der übernatürlichen Mächte. Eine derartige Vorsorge erschien nötig; denn den frühanti­ ken Völkern erlaubte die Art ihres Denkens nicht, das Walten der Natur an­ ders als auf den Willen dahinterstehender Götter und Geister zurückzuführen. Den plötzlichen Ausbruch von Naturgewalten deuteten sie daher als Strafe für Fehlverhalten;618 Missernten, Seuchen und anderen Heimsuchungen glaubten sie, einzig durch Wohlverhalten und Opfergaben entgehen zu kön­ nen. Selbst kulturell hochstehende Völker hielten an solchem Glauben fest, und noch in Rom war er so stark verwurzelt, dass derjenige mit dem Tod bestraft wurde, der mit bösen Geistern zusammenarbeitete619 oder zauberi­ sche Verwünschungsformeln ausbrachte, um einem anderen Schaden zuzufü­ gen.620

616  Für die Behauptung spricht, dass die Kriegführung der Jagd nahesteht; denn ein großer Teil der Ausrüstung, die man zur Tötung von Tieren verwendet, kann auch zum Töten von Menschen dienen. 617  So aber U. Wesel (1985), S. 242. 618  Interkulturelle Vergleiche zeigen insofern frappante Gleichheiten in den My­ then der Menschheit, was auf deren hohes Alter hinweist. 619  Vgl. Augustinus, De civitate Dei VIII 19 (unter Hinweis auf Vergil). 620  XII-Tafelgesetz 8 1, allerdings Herkunft wohl aus älterer Zeit.



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Was außer dem Schutz des inneren Friedens noch wichtig war und nur von einem machtgestützten Recht geleistet werden konnte, war der Schutz des intersozialen Warenhandels. Dieser hatte schon frühzeitig die antike Welt überzogen und selbst ferne Völker miteinander in Verbindung gebracht. Seit­ her zogen ganze Karawanen von Kaufleuten von Land zu Land und hielten Waren feil, die oft wegen ihrer Neuheit Aufsehen erregten und zumindest bei den höheren Schichten der Bevölkerung reißenden Absatz fanden. Anfangs waren diese Kaufleute im Ausland rechtlos und auf das Asyl durch einheimi­ sche Privatleute angewiesen. Später erhielten sie von Staats wegen einen Ort, von wo aus sie ihren Handel geschützt vom geltenden Recht ausüben konn­ ten. Ja, schließlich gestattete man ihnen sogar, permanente Vertretungen einzurichten und verbriefte Rechte in Anspruch zu nehmen, sodass aus dem Asylhandel ein Niederlassungshandel wurde.621 (γ) Hoheitliche und private Rechtsbereiche. Die Ausbreitung des rechtli­ chen Schutzes machte eine Trennung in einen hoheitlichen (öffentlichen) von einem privaten Bereich erforderlich – je nachdem, ob private oder öffentliche Interessen geschützt werden sollten. Die Trennung war zwar grundsätzlich und scharf, wies aber in zwei entgegengesetzte Richtungen: In den asiatischen Ländern und in Griechenland bekannte man sich zum Vorrang des öffentlichen vor dem privaten Bereich, weil dieser als rational geordneter und deshalb auch sozial wichtiger galt als der private. In Rom dagegen ent­ schied man sich für den Vorrang des privaten Bereichs. • In Indien priesen zwar noch die vedischen Texte die individuelle Intelligenz des Menschen sowie seine Fähigkeit, die Zukunft aus eigener Machtvollkommenheit zu gestalten;622 doch verflüchtigte sich diese Auffassung unter dharmischen Ein­ flüssen. Es hieß: Selbst wenn seine Intelligenz den Menschen erfolgreicher mache als andere Geschöpfe, sei er diesen doch nicht überlegen, sondern letzthin nur ein soziales Tier. Und um sein Endziel, die endgültige Befreiung (mokṣa) von Zeitlich­ keit, Weltlichkeit und diesseitigem Planen zu erreichen, müsse er sich dessen be­ wusst bleiben. • In China sah sich der Einzelne ebenfalls primär als Glied der Gemeinschaft und glaubte deshalb, dass jede Veränderung der Gemeinschaftsverhältnisse sich unmit­ telbar auf seine privaten Beziehungen und Bindungen auswirken müsse. Private Verträge stünden deshalb unter dem Vorbehalt unveränderter Gemeinschaftsver­ hältnisse und bräuchten nicht erfüllt zu werden, wenn die Gemeinschaftsverhältnis­ se sich wesentlich veränderten. Auch die ideographische Schrift wirkte in dieser Richtung auf das Rechtsverständnis ein.623 • In Israel (und im babylonischen Exil) betonten insbesondere die Propheten Jeremia und Ezechiel sowie ein anonymer, als Deuterojesaja bekannter Prophet die Verant­ 621  J.

Kohler (1914), S.  31 f. vor allem das Aitareya-Âranyaka des Ṛigveda. 623  Vgl. dazu oben G 2 ε und H 2 e bb a. E. 622  So

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wortung des Einzelnen für das Wohl der Gemeinschaft, hinter der das private Schicksal zurückzustehen habe.624 • In Griechenland schließlich waren öffentliches und privates Leben nicht nur streng getrennt, sondern auch unterschiedlich strukturiert. Im öffentlichen Leben herrsch­ te unter den Teilnehmern Gleichheit vor, im privaten Leben dagegen bestand eine strenge Hierarchie: Mann – Weib, Eltern – Kinder, Herren – Sklaven. Vom öffent­ lichen Leben waren Frauen, Kinder und Sklaven ausgeschlossen. Nur männliche Bürger besaßen gemeinschaftliche Rechte, hatten dafür allerdings gemeinschaft­ liche Pflichten zu erfüllen: die staatlichen Gesetze zu beachten, die heimischen Kulte zu pflegen, das traditionelle Brauchtum zu bewahren und den Staat gegen äußere Feinde zu verteidigen. Folglich waren sie zwar im Hause frei, in der Öf­ fentlichkeit aber durch Brauch und Recht normativ gebunden, gleichzeitig aller­ dings auch berechtigt, aktive Politik zu betreiben.625 • In Rom dagegen entschied man sich für den Vorrang des privaten vor dem öffent­ lichen Bereich. Insbesondere das Recht der XII-Tafeln beruhte auf dem Privat­ eigentum, war in erster Linie Privatrecht626 und entwickelte sich in den folgenden Jahrhunderten (etwa bis zum Lehrbuch des Gaius, ca. 176 u. Z.) allein auf dieser Grundlage. Das führte zu tiefgreifenden machtpolitischen Konsequenzen, die sich bis in unsere Tage hinein auswirken – etwa in der Vorrangstellung des Einzelnen vor der Allgemeinheit in der staatlichen Verfassung.

Gleichwohl konnte die römische Entwicklung in doppelter Weise an die griechische Philosophie anknüpfen: zum einen an die Philosophie der So­ phisten, indem sie die soziale Natur des Menschen zur Grundlage des Rechts machte; zum anderen an die Philosophie der Rationalisten, indem sie das Rechtssystem auf der Grundlage allgemeiner Rationalität erbaute. Quellen des Rechts waren dann wie bei den Griechen die Götter; doch während in Griechenland Gesetz und Recht, δίκη und θέμις, Gottheiten waren, hatte ius und lex die menschliche Vernunft zur Grundlage.627 Infolgedessen konnte das Recht nur in Rom wissenschaftlich bearbeitet werden.

etwa Jesaja 49–55. „Oikos und polis“ in Griechenland siehe S. C. Humphreys (1983), p. 1 ff. 626  G. Dulckeit/F. Schwarz/W. Waldstein (l995), § 9 III: „Es scheint, dass sich der Begriff des ius überhaupt zunächst an dieser Vorstellung eines privaten Rechts entwi­ ckelt hat und dann erst auf das ius publicum ausgedehnt und zu diesem in Gegensatz gebracht worden ist. … Ein solcher historischer Entwicklungsgang würde auch voll der logischen Entfaltung des Rechtsbegriffs entsprechen.“ Das Konzept eines ius publicum („quod ad statum rei Romanae spectat“) geht wahrscheinlich auf griechisches Gedankengut zurück, weil es darauf abstellt, ob eine Regelung dem öffentlichen (im Gegensatz zum privaten) Nutzen dient (vgl. Dig. l,l,1,2). 627  Zu den entsprechenden Begriffen ius und lex, vgl. oben H 2 b aa (Fn. 96). 624  Vgl. 625  Zu



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b) Die Entwicklung eines abstrakt-schriftlichen Gesetzesrechts (α) Städte als territoriale Zentren der Rechtsentwicklung. Die Verwaltung und Versorgung einer sich ständig vergrößernden Bevölkerung erforderten auch eine ständige Ergänzung der normativen Ordnung. Die Bevölkerung bedurfte sowohl fortlaufender Maßnahmen, etwa für die Erhaltung und Ver­ besserung der Infrastruktur, als auch vorsorglicher Maßnahmen, etwa für den Fall feindlicher Überfälle oder plötzlicher Naturkatastrophen. Und sie be­ durfte für die Durchführung dieser Maßnahmen einer zentralen Regierung und Verwaltung, die gleichzeitig ein organisatorisches Zentrum auch für die Wirtschaft war, damit an sie Aufträge erteilt werden konnten. Von einer ge­ wissen Größe an sprechen wir von diesem Zentrum als einer Stadt. Die Gründe für die Entstehung von Städten waren vielfältig. Wirtschaftliche Grün­ de standen regelmäßig an erster Stelle. Am wichtigsten war ein Überschuss an Agrar­ produkten, der am Ort seiner Entstehung nicht mehr gespeichert werden konnte, sondern nach einem zentralen Absatzmarkt verlangte. Hierfür kam nur ein Platz infra­ ge, der von allen Seiten gute Zugänge hatte und sich folglich vor allem dort anbot, wo Handelsstraßen sich dort kreuzten oder wenn der Zugang zum Meer oder zu ei­ nem der sonst schiffbaren Gewässer nicht weit war. Doch um nicht nur zum Handels-, sondern auch zum Wirtschaftsmittelpunkt einer ganzen Region zu werden, musste die Umgebung des Platzes auch genügend Boden für eine intensive Feldwirtschaft und Viehhaltung vorweisen und vielleicht sogar ein gut abbaubares Rohstofflager (Stein­ bruch) für größere Bauvorhaben haben. Kam dies alles zusammen und war überdies die Umgebung schon dicht genug besiedelt, um hohen kommunikativen Ansprüchen gerecht zu werden, dann war der weitere Prozess zur Stadtentstehung geradezu zwangsläufig vorgezeichnet: Für die Planung der zentralen Bereiche der Stadt und für die Errichtung der Palast- und Tempelanlagen brauchte man dann nur noch eine ein­ heitliche Leitung sowie Handwerker, die man aber notfalls von weither holen musste. Handwerker brauchte man auch, um Wohnungen und Arbeitsstätten für die künftigen Stadtbewohner, insbesondere für die in der Palastverwaltung und in den Tempeln Beschäftigten, herzustellen. Wichtig für die Versorgung der Stadtbewohner war ferner die Einrichtung eines Be- und Entwässerungssystems sowie die Nahrungsorganisation mit Produkten aus dem umgebenden Land. Für die ebenfalls dringend gebrauchten Ärzte musste eine Schulungsstätte zur Verfügung stehen; meistens wurde sie in einem der Tempel eingerichtet. Ihrer Bedeutung entsprechend musste die Stadt schließlich noch mit Befestigungsmauern und turmbewehrten Toren umgeben und ihre Verteidi­ gung darauf vorbereitet werden, dass sie nicht nur den eigenen Bürgern, sondern auch den Dörflern aus dem Umland Schutz bot.

Erste Städte entstanden in Südmesopotamien während der Urukzeit im 4. und 3. Jt. am Rande von Euphrat oder Tigris. Sie wuchsen zu stattlicher Größe und beherbergten vor allem Menschen, denen es auf dem von Kanälen durchzogenen Lande zu eng geworden war oder denen aus Mangel an eige­ nem Grund und Boden dort die Nahrungsgrundlage fehlte. Aber auch Men­ schen, die statt als Bauern lieber als Verwaltungsangestellte, Handwerker, Priester oder Ärzte ihren Lebensunterhalt verdienen wollten, zog es in die

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Städte. Denn Nachwuchs wurde dort ständig gebraucht, zum einen weil sich schnell ausbreitende Krankheiten die Einwohnerschaft ständig dezimierte und deren eigene Reproduktionsrate zu niedrig war, zum anderen weil fami­ liäre Armut die Jugend zwang, sich beim Militär zu verdingen oder sich umherziehenden Händlern oder kriminellen Banden anzuschließen. Wer gleichwohl blieb oder zuzog und aufgrund von Tüchtigkeit oder Protektion hier Fuß fassen konnte, profitierte allerdings von Fortkommens- und Auf­ stiegschancen, die ihm aus dem Schoße seiner bäuerlichen Sippe niemals zugewachsen wären. Spätestens seit dem 1. Jt. verbreitete sich die Organisationsform der Stadt über die gesamte antike Welt. Als Hauptstadt eines Staates beherbergte sie politische, religiöse, wirtschaftliche und wissenschaftliche Institutionen und war Sitz des Herrscherhauses und der Zentralverwaltung. In den übrigen Städten waren meistens größere Distriktbehörden ansässig, auch gab es min­ destens einen großen, zusätzlich oft viele kleinere Tempel, die allesamt mit Personal reich ausgestattet waren und davon lebten, dass sie von den Gläubi­ gen Spenden einsammelten und dafür Gebete zum Himmel schickten. Die religiösen Grundlagen des Volksglaubens im Lande wurden hier gelegt und gepflegt; große Tempel unterhielten außerdem Schulen für Berufe, die wir heute als ‚akademisch‘ bezeichnen würden, nämlich für Mediziner sowie Richter und Verwaltungsbeamte. Ferner gab es in den Städten wichtige wirt­ schaftliche Institutionen und Betriebe, die sowohl die insässige als auch die im Umland ansässige Bevölkerung mit Gebrauchsgütern sowie mit jenen Luxusgütern versorgten, die von reisenden Händlern angeliefert und hier gesammelt wurden. Seltene Mineralien und wertvolle Stoffe waren fast im­ mer darunter; sie wurden gewöhnlich vor dem Verkauf an Ort und Stelle noch verarbeitet, weil sie dann hohe Preise erzielten und auch den örtlichen Handwerkern und Kaufleuten zu Reichtum verhalfen.628 Reich wurden indes nicht nur die Handwerker und Kaufleute, sondern auch aufgrund von Steuern der Staat. Und dessen Wohlstand war wiederum der Humus für Kunst und Wissenschaft, sodass er es sich leisten konnte, dass in ihm auch viele Künst­ ler lebten, die miteinander wetteiferten, schöne Gegenstände herzustellen, Naturwissenschaftler, die den Kosmos erforschten, Techniker, die die Mecha­ nik der irdischen Dinge ergründeten, und Philosophen, die die metaphysi­ schen Kräfte begriffen, die die Welt im Innersten zusammenhalten. (β) Die Entstehung eines Rechts „ohne Ansehen der Person“. Ein notwen­ diges Nebenprodukt aller großen Städte war die Anonymität der meisten ih­ rer Bewohner. Während in den Dörfern des Umlands jeder jeden kannte und wusste, was er von ihm zu halten hatte, waren die Städte gefüllt mit Gestal­ ten, die ihre Schicksale hinter Masken bargen. Nur wenige Gestalten hatten 628  Vgl.

dazu G. Algaze (1993).



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ein offenes Gesicht und einen Namen, weil sie Persönlichkeiten gehörten, die durch fachliches Können, durch ihre Bedeutung innerhalb eines Metiers oder aufgrund ihrer sozialen oder politischen Rolle sich aus der Masse heraus­ hoben. Die Anonymität der anderen dagegen schuf Probleme, mit denen man sich bisweilen nur ungern konfrontiert sah. Denn ein wesentliches Dunkel­ feld war die Kriminalität: Während in den Dörfern des Landes es kaum einer wagte, gegen die dort geltenden Bräuche und Tabus zu verstoßen, und diese Wenigen schnell zur Rechenschaft gezogen werden konnten, war es in den Städten kaum ein Wagnis, selbst elementare Grundsätze des Zusammenle­ bens zu verletzen – zu morden, zu rauben, zu betrügen oder, was sehr beliebt war, Rache zu üben. Es war deshalb verständlich, dass in den Städten ein neues System der sozialen Kontrolle errichtet werden musste, das den anony­ men Verhältnissen angepasst und mit Zwangsbefugnissen ausgestattet war, die innerhalb der persönlichen Verhältnisse in den Dörfern unbekannt, ja kaum denkbar waren. Was dort Strafe war: öffentliche Schande für ein Ver­ gehen und Ausstoßung aus der Gemeinschaft für ein Verbrechen, schied hier aus, weil die meisten Delinquenten ohnehin mit dem Makel der Schande lebten oder Ausgestoßene waren. Und bis es zu einer Schuldzuweisung und Verurteilung für ein Vergehen oder Verbrechen kam, bedurfte es überdies anderer Untersuchungsmethoden und -verfahren als auf dem Lande, wo das Vorgefallene meistens schon allgemeines Gesprächsthema war, bevor ein Prozess begann, wo alle die Beteiligten kannten, die Schuldigen überdies längst erkannt und das Urteil über sie gesprochen war. Gefragt waren hier abstrakte Normen und formelle Verfahren, angepasst an das Ordnungsbedürf­ nis der Städter und Antworten darauf, dass hier nicht alte Bräuche das Ver­ halten festigten, sondern moderne Ansichten über das Erlaubte in Umlauf waren, und dass über das, was verboten und strafbar war, der Wind der Meinungen wehte. Deshalb war auch das Wissen der Richter über das in concreto Richtige und Falsche der jeweiligen politischen Windrichtung aus­ gesetzt. Und da am Ende einer Beweisaufnahme die Wahrheit oft nur auf den unbeschriebenen Blättern stand, bedurfte es oft eines Urteils ohne Ansehen jener Unperson, deren Untat verhandelt und obwohl sie nicht vollständig aufgeklärt werden konnte, abgeurteilt werden sollte. Doch nicht nur in den Gerichtsverfahren schlug sich die Anonymität der sozialen Verhältnisse nieder, auch dem Handel diente sie zur Legitimation für den Ernst und Eifer, mit dem er die Einhaltung der abgeschlossenen Verträge forderte und notfalls klagbar machte. Abermals waren die Städte hierfür die richtigen, weil richtungweisenden Orte. Sie dienten ja nicht nur dem Binnen­ handel als Märkte für den Austausch von Handwerksprodukten aus der Stadt gegen Nahrungsmittel aus dem Umland, sondern stellten auch für den Fern­ handel Plattformen dar. Ausgebildete Schreiber standen hier zur Verfügung, versiert genug, um über jeden Abschluss ein Dokument aufzusetzen, das

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selbst komplizierteste Abmachungen gegen nach­trägliche Anfechtungen si­ cherte. Häufig vorkommende Vereinbarungen flossen hier allmählich auch in das (Gewohnheits-)Recht ein und wurden zum Standard für künftige Fälle. Vor allem das Kauf-, Darlehens- und Sicherungsrecht profitierte davon. Am Ende wäre es freilich ein Wunder gewesen, wenn nicht auch die staat­ liche Verwaltung die auf den Märkten erprobten Vorteile für sich entdeckt und genutzthätte. In den Königreichen war die Regierung noch darauf ange­ wiesen, ihre Beamten mit mündlichen Instruktionen auszustatten, die sie im Gedächtnis behalten und möglichst authentisch an die Adressaten weiterge­ ben sollten. Die (proto-)staatliche Verwaltung hingegen konnte die inzwi­ schen erfundene Schrift benutzen, um die rechtliche Macht des Herrschers und seines Hofes unverfälscht selbst in die entlegensten Gebiete seines Rei­ ches hineinzutragen und dort zur Geltung zu bringen. Sowohl die allgemei­ nen Normen als auch die konkreten Instruktionen erhielten durch solche hö­ fische Authentizität ihre Autorität, während der übermittelnde Beamte als bloßer Mittler (‚Interpret‘) an Bedeutung verlor. Gerade in Bezug auf die Verwaltung kann man daher von einer ‚Geburt authentischen Rechts aus dem Geiste der Schrift‘ sprechen. Dem Vorteil eines verschrifteten Rechts standen allerdings Nachteile ge­ genüber. Auf der Hand lag der Vorteil: Die Administration des Hofes ließ sich räumlich und zeitlich ohne Geltungsverlust bis an die Grenze des Rei­ ches erstrecken. Die Nachteile machten sich erst danach bemerkbar: Inhalt­ lich war die Geltung ihrer Normen auf den schriftlichen Text begrenzt, und dessen Sinn ließ ein Eindringen in den dahinter stehenden Motivationspro­ zess oft nicht zu. Infolgedessen konnte zwar die Einhaltung der rechtlichen Grenzen des herrscherlichen Auftrags kontrolliert und, was besonders wichtig war, zur Grundlage einer Revision gemacht werden, wenn Beschwerden etwa über die Höhe der erhobenen Abgaben bei Hofe eingingen: Dann entfiel für die Beamten die Verantwortung, wenn sie sich auf den Text berufen konnten, während sich für die Betroffenen Restitutionsansprüche ergaben, wenn sich herausstellte, dass sie gemäß dem Text zu hoch veranlagt worden waren. Dagegen konnte eine Überprüfung, ob die textgetreue Umsetzung der Nor­ men im konkreten Fall ‚gerecht und billig‘ war, nicht stattfinden, ohne die Bedeutung des Textes herabzusetzen. Während daher früher die vom Herr­ scherhaus erlassenen mündlichen Normen an die Situation, die die Beamten vor Ort vorfanden, ohne Geltungsverlust angepasst werden konnten, war das bei den schriftlichen Normen nicht mehr möglich. Es obsiegte nicht mehr der verlautbarte Wille des Herrschers, sondern der buchstäbliche Ausdruck, den er in der schriftlichen Anweisung gefunden hatte.629 Erst viel später versuchte 629  So schrieb Shu-xiang, der ein hoher chinesischer Würdenträger war, 534 v. u. Z. in in einem berühmt gewordenen Brief: „Die Alten kodifizierten das Strafgesetz



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man, diesen Nachteil durch Einräumung eines ‚billigen Ermessens‘ an die ausführenden Beamten zu beseitigen. Nur stieß man dadurch die zuvor zuge­ schlagene Tür zu Willkür und Korruption wieder auf. c) Die Entwicklung eines den Rechtsnormen zugrunde liegenden Menschenbildes (α) Kultur, Zivilisation und Recht. Es mag zwar auf den ersten Blick ein­ leuchten, wenn man sagt: ‚Das Recht ist ein Teil der menschlichen Kultur; folglich gehen die Entwicklungen von Rechtsordnungen und von Kulturin­ halten Hand in Hand.‘ Gleichwohl birgt die Folgerung aus der Aussage Pro­ bleme. Denn ‚menschliche Kultur‘ ist ein völkerübergreifendes Phänomen, während ‚Rechtsordnungen‘ jeweils an einzelne Völker gebunden sind. Deshalb kann sich die menschliche Kultur verändern, ohne dass das Recht eines Volkes die Veränderung teilt, und umgekehrt kann das Recht eines Volkes sich wandeln, ohne dass die menschliche Kultur die Wandlung mit­ vollzieht. Diese Erkenntnisse sind eigentlich trivial. Dennoch hat man sie erst vor einigen Jahrzehnten wiederentdeckt. Grund dafür war die Zunahme von Globalisierungspro­ zessen, die zwar Brüche in den nationalen Kulturen erzeugten, jedoch die nationalen Rechtsordnungen unberührt ließen. So hat z. B. aufgrund geschickter Vermarktung die Popmusik in den Industriegesellschaften ihren Siegeszug angetreten und ist durch die Aufnahme relativ primitiver, aber global wirksamer Elemente in die Rhythmik und in nicht; denn sie fürchteten, der Geist der Streitsucht werde sich dann im Volke erhe­ ben. Unter den alten Herrschern beriet man den einzelnen Streitfall und entschied danach. Da aber Übeltaten selbst auf diese Weise nicht ganz aus der Welt zu schaffen sind, setzten sie dem Volk durch Rechtlichkeit Schranken, einten es durch eine rechte Regierung, leiteten es durch Riten und hegten es in treuer Gesinnung… Das ist der Weg, um ein Volk erfolgreich zu beherrschen und Unglück und Aufruhr im Keim zu ersticken. Wenn aber ein Volk ein geschriebenes Gesetz über sich weiß, dann fürchtet es keine Obrigkeit mehr; der Geist der Zanksucht erhebt sich, und indem man sich an den Gesetzestext hält, sucht man sich vom Geist des Gesetzes zu befreien. So aber kann nicht gedeihlich regiert werden …“ – Zweieinhalb Jahrtausende später lautet das bei W. Seagle (1967, S. 165) immer noch ähnlich: „Das Vertrauen in das geschrie­ bene Wort erwies sich als eine der großen Enttäuschungen der Menschheit. Während das Frührecht sich lebendig in den alltäglichen Geschäften und im Verhalten der Menschen im Rahmen der Gesellschaftsordnung objektivierte, rückte die Interpreta­ tion des geschriebenen Gesetzeswortlauts mehr und mehr vom Hintergrund des Brauchtums ab und ging in wachsendem Maße zu einer rein logischen und linguisti­ schen Betrachtung des Gesetzeswortlauts selber über. Das Wort stellte sich als ein ungewöhnlich elastisches Symbol heraus, das, einmal von der Gewohnheit gelöst, fast allen Zwecken dienstbar gemacht werden konnte einschließlich Gewalt und Betrug.“ Einige Staaten Völker schreckten deshalb vor der Einführung eines einheitlich gelten­ den von Rechts und schon gar vor dessen seiner Verschriftung zurück. Das Hauptbei­ spiel ist Indien; doch gab es auch in China erhebliche Bedenken.

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

die melodische Erfindung zum Element einer weltweiten Massenkultur geworden, die sowohl die Kunstmusik als auch die Volksmusik aus dem allgemeinen Bewusstsein weitgehend verdrängen konnte. Doch hat sie weder die besondere soziale Struktur einer Nation noch die ihres nationalen Rechts verändert.

Zusätzlich hat allerdings das Verhältnis zwischen Kultur und Recht sich dadurch kompliziert, dass in den letzten Jahrzehnten die Bedeutung des Kul­ turbegriffs und sein Verhältnis zum Begriff der ‚Zivilisation‘ sich mehrfach verändert hat. Während sowohl Johann Gottfried Herder am Ende des 18. Jh.s als auch Edward Burnett Tylor am Ende des 19. Jh.s unter ‚Kultur‘ noch die Gesamtheit der Lebensverhältnisse eines Volkes verstanden,630 verengten kritische Soziologen den Begriff in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s auf die immateriellen Produktionen der Menschen und stellten ihnen die materiellen (und insbesondere die technisch-industriellen) Produktionen als Gegenstände der ‚Zivilisation‘ gegenüber.631 Diese Phase ist inzwischen zwar überwun­ den; ‚Kultur‘ wird heute wieder als ein „soziales Totalphänomen“632 verstan­ den, das außer den immateriellen auch die materiellen Produktionen der Menschheit umfasst und unzweifelhaft auch das Recht samt seinen Instituti­ onen einschließt.633 Doch wird auch der Zivilisationsbegriff heute nicht mehr auf die materiellen Produktionen beschränkt und negativ als Entfremdung 630  J. G. Herder (1784–1791/1906), S. 157: „Die Kultur eines Volkes ist die Blüte seines Daseins, mit welcher es sich … offenbart.“ E. B. Tylor (1871/1994), p. 1: „Culture or Civilization, taken in its wide ethnographic sense, is that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society.“ 631  Vgl. zum Begriffspaar Kultur – Zivilisation siehe I. Kant (1784), S. 402: „Wir sind im hohen Grade durch Kunst und Wissenschaft kultiviert. Wir sind zivilisiert bis zum Überlästigen zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit.“ Zur ­Zivilisation gehören nach ihm also alle konventionellen Normen, zur Kultur dagegen insbesondere die Normen der Moral. Den darin liegenden Gegensatz hat später W. von Humboldt im Sinne von ‚äußerlich‘ (Zivilisation: „äußere Einrichtungen und Gebräuche“) und ‚innerlich‘ (Kultur: „Kunst und Wissenschaft“) verschärft (1907, S. 30). Latent ist dieser Gegensatz auch noch im heutigen Sprachgebrauch lebendig, wo als ‚Kultur‘ die historisch gewachsene Bildung einer Person, einer Gesellschafts­ schicht, eines Volkes usw., als ‚Zivilisation‘ dagegen die Summe technisch-industriel­ ler Hervorbringungen von aller ‚zivilisierten‘ Staaten begriffen werden. Zum Begriff ‚Zivilisation‘ und zu seiner Entwicklung neuerdings auch N. Elias (1976), S. 1 ff. 632  Dazu F. Farrugia (2006), S. 234: „Das ‚soziale Totalphänomen‘ ist mehr als die ‚Struktur‘; es überschreitet sie, es annulliert sie, da sie die Kristallisation einer Bewegung ist, und da sie nur das erfasst, was bereits vergangen und vollendet ist.“ S. 239: Der Begriff „hebt die rückläufige Dimension des sozialen Lebens sowie die fortwährende Bewegung sozialer und politischer Transformation hervor“. 633  In Art. 7 II EMRK hat dieser positive Sinn auch rechtsgesetzlich seinen Aus­ druck gefunden. Es heißt dort (in der deutschen Übersetzung), dass eine Handlung oder Unterlassung ohne formelles Gesetz nur bestraft werden darf, wenn sie „zur Zeit ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war“.



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des Menschen von seinem ‚natürlichen‘ Wesen gebraucht, sondern im positi­ ven Sinne als Humanisierung der menschlichen Lebenswelt durch Einsichten in die Lösung gesellschaftlicher Probleme mithilfe ‚kultureller‘, d. h. vom Menschen geschaffener, Mittel. Kultur und Zivilisation ergänzen somit heute einander, eine scharfe inhaltliche Abgrenzung wird nicht mehr intendiert. Wenn gleichwohl nationale Besonderheiten einer Rechtsordnung zwar den Beson­ derheiten der nationalen Zivilisation zugerechnet werden, nicht aber den Besonder­ heiten der nationalen Kultur, dann hängt das mit dem kulturellen Wert der Besonder­ heiten zusammen. Wird beispielsweise die Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung an das Finanzamt per Gesetz um einen Monat verlängert, dann mag diese Verände­ rung zwar von vielen Steuerpflichtigen als positiv empfunden werden, doch ist sie zu banal, als dass sie dem kulturellen Wert einer Rechtsordnung zuzuschlagen wäre. Als Bestandteil der nationalen Zivilisation kann sie dagegen nicht ausgeklammert wer­ den; denn für diese kommt es nur auf das Ob des Dazugehörens, nicht auf den Wert des Dazugehörigen an.

(β) Kultur, Sozialstruktur und Recht. Eng mit den Veränderungen der menschlichen Kultur verbunden ist hingegen die Sozialstruktur der Völker. Im frühen Altertum entwickelten beide sich parallel zeinander: (a) die Ernährungskultur von der Nah­ rungsbeschaffung von Nahrung mittels Jagd auf Wild und Sammeln von Früchten hin zur Nahrungserzeugung mittels Do­ mestizieren von Vieh und Anbau von fruchttragenden Pflanzen;

(a’) die Sozialstruktur von durch natür­ liches Brauchtum geordnetenen kleinen (meist umherziehenden) Horden hin zu durch normative Sitten geordneten größe­ ren (meist sesshaften) Stämmen.

(b) die technische Kultur vom handhaften Grabstock zum tiergezogenen Pflug und von der Trage zum tiergezogenen Wagen;

(b’) die Sozialstruktur von der Addition segmentärer sozialer Einheiten zum hier­ archischen Aufbau sozialer Gebilde.

(c) die aus Selbstversorgern bestehende Kultur zur arbeitsteiligen von Bauern, Handwerkern und Geistesarbeitern;

(c’) die einheitlich bäuerliche Sozialstruk­ tur zu einer auf Stadt und Land verteilten, organisatorisch hochgradig vernetzten Gesellschaft.

Eine parallele Entwicklung wird man deshalb auch zwischen dem Kultur­ faktor ‚Recht‘ und der Sozialstruktur annehmen dürfen – freilich erst seit der Achsenzeit, weil erst damals Normen mit Rechtscharakter entstanden. Cha­ rakteristisch für die Sozialstruktur war zu dieser Zeit die immer größer wer­ dende Zahl der Menschen, die in Städten siedelten, wo mangels persönlicher Vertrautheit anonyme Verhältnisse nur noch ein unpersönliches (‚abstraktes‘) Vertrauen die Menschen aneinanderband. Deshalb wurde parallel die kon­ krete Kultur der ‚guten Sitten‘ durch die abstrakte, aber strengere Kultur des Rechts überlagert. Das förderte zwar die soziale Sicherheit, schuf aber das Problem, welche konkreten Maßstäbe der ‚guten Sitten‘ nichtsdestoweniger weiterhin gelten sollten; denn die kulturelle Sicherheit der ‚guten Sitten‘ war

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zwar geringer, aber sie war auch umfassender, weil sie auf einer gewachse­ nen Tradition beruhte, und die hatte das abstrakte Recht nun einmal nicht vorzuweisen. In neuer Zeit hat man versucht, die dem Recht fehlenden Verhaltensmaßstäbe an­ stelle durch ‚guten Sitten‘ zeitlos durch reine Vernunftwahl zu ergänzen. Man hat ei­ nen „Urzustand“ freier Menschen fingiert, die sich in einem irrealen Raum befinden und über die für sie geltenden Verhaltensnormen abstimmen sollen.634 Was herausge­ kommen ist, ist gleichgültig. Denn das Gedankenexperiment – mehr war es nicht – ging am Kern des Problems vorbei. Die reine Vernunft freier Wesen in einem irrealen Raum ist unfähig, irgendwelche Maßstäbe zu erschaffen, die für soziale Wesen in einer realen Welt verbindlich sein sollen. Real geltende Normen müssen auf ein der Realität entnommenes Menschenbild in einem bildhaft vorgestellten realen Raum ausgerichtet sein und können daher nur von realen und dieser Umwelt bewussten Menschen erdacht und umgesetzt werden. Das Problem der Wahl von (Recht ergän­ zenden) Sittennormen ist also nur orts- und zeitbezogen lösbar.

(γ) Sozialstruktur und Weltbild635. Muss real bei der Wahl von zusätzlich gültigen Rechtsnormen ein reales Weltbild die Grundlagen bilden, dann kommt für das Ende des Neolitikums, als das Problem der Wahl von Rechts­ normen erstmals auftrat, nur ein Weltbild in Betracht, das sich aus drei Be­ reichen zusammensetzt: der obere Bereich bevölkert mit Göttern und Geis­ tern, der untere Bereich angefüllt mit teils toter, teils lebendiger, jedoch un­ geistiger Materie, und der mittlere Bereich bewohnt von Menschen, die ei­ nerseits der Macht der Götter und Geister unterworfen sind, andererseits durch ihren eigenen Geist Macht über die ungeistige Materie haben. Diese Bereiche sind gegeneinander durchlässig: Die Götter und Geister haben nicht nur Macht über die Menschen, sondern die Menschen können deren Verhal­ ten auch zweckrational durch Bitten und Gebete sowie durch Opfer und Gaben beeinflussen; die Menschen ihrerseits haben nicht nur Macht über die ungeistige Materie, sondern müssen sich ihr auch zweckrational anpassen, um von ihr am Leben erhalten zu werden. Die Einheit des Weltbilds ergibt sich alsdann aus der Zusammenfassung der Bereiche im Bewusstsein zu ­einem dreiteiligen Kosmos, den der Mensch als sein mittleres Glied zwar erkennen kann, in den er aber nicht eingreifen darf, ohne unabsehbare und unbeherrschbare und meist schlimme Folgen herbeizuführen.636

Rawls (1975), dazu noch unten K 7 c β ββ. dazu auch genauer auch oben H 2 c dd α–γ. 636  Dieses Weltbild hat bis heute nur wenige Modifikationen erfahren: Die ars sacra ist in den schönen Künsten lebendig geblieben, die Medizin sieht sich nach wie vor durch den hippokratischen Eid auf die Regeln der ärztlichen Wissenschaft, das Recht durch den Richtereid auf die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit verpflich­ tet, und die Politik wird als eine vor Gott und den Menschen zu verantwortende Tä­ tigkeit ausgeübt. Darüber hinaus ging die Vorstellung von der Einheit der Dreiheit im 634  J.

635  Vgl.



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Die damaligen Kulturinhalte der Völker entsprachen diesem Weltbild: Zum einen bestanden sie aus schöpferischen Leistungen, die der Mensch zur Anpassung der ungeistigen Materie an seine Lebensbedürfnisse sowie zur Einpassung seines Lebens in die vorgefundene Materie erbrachte. Diesen Zwecken dienten etwa die Verbesserung der Bodenbeschaffenheit, die Er­ richtung von Wohnbauten, die Herstellung technischer Geräte, ferner der Anbau von Pflanzen, die Domestizierung von Tieren u. a. m. Zum anderen bestanden sie aus schöpferischen Leistungen, die der Mensch erbrachte, um den höheren Wesen seine Ehrfurcht und Ergebenheit zu bezeugen. Diesem Zweck dienten u. a. Gegenstände, die durch ihre Form, Farbe oder sonstige Beschaffenheit zu erkennen gaben, dass sie nicht allein dieser Welt angehör­ ten, sondern Reaktionen auf das mystische Erleben eines Heiligen waren. Zu solchem mystisch Erlebten gehörte auch, was innerhalb der menschlichen Gemeinschaft mehr war als das äußerlich Erscheinende: etwa die Verbindung von Mann und Frau in der Geschlechtsgemeinschaft der Ehe, da diese Ge­ fühle auslöste, denen keine äußere Anschauung oder Vorstellung entsprach; oder das Zusammenleben der Menschen in Sippen, Clans und Stämmen, da diesen Gemeinschaften eine Ordnung innewohnte, die das Gegenteil vom gefürchteten Chaos war, sondern worin sich eine der kosmischen gleiche Harmonie offenbarte. Die kosmische Harmonie (die harmonia mundi), die den Himmel einbezog und folglich unter dem Schutz der Götter stand, zeigte sich im Bereich der Natur u. a. in der gesetzmäßigen Wiederkehr der Jahres­ zeiten, im Wechsel von Tag und Nacht, von Regen und Sonnenschein, im Wachsen und Vergehen von Pflanzen und in Geburt und Tod allen Lebens. Im mittleren Bereich war sie daher das Maß für die menschliche Ordnung und kam u. a. in der Zufriedenheit zum Ausdruck, die sie im menschlichen Gemüt erzeugte. Was ihr nicht entsprach, was Unzufriedenheit in das menschliche Leben brachte, weil es den segensreichen Schirm beschädigte, den der Himmel über die Gemeinschaft gespannt hatte, das erzürnte nicht nur die Götter, sondern ließ auch die Natur verdorren und führte unter den Menschen zu Seuchen, Hunger und Elend, wenn es nicht angemessen be­ kämpft und gesühnt wurde. Die prärechtlichen Sittennormen entsprachen diesem Weltbild: Sie waren an die natürliche Umwelt angepasst, gültig für die darin lebenden Menschen und legitimiert durch ihren mythischen Ursprung von Göttern oder anderen jenseitigen Wesen. Und da jede ethnische Gruppe ihre eigenen Götter hatte, größere Gruppen (Stammesge­ sellschaften, Häuptlingsschaften) in der Regel mehrere (die Sumerer vorgeblich 3.600), waren die Normen ebenso vielfältig wie ihr Ursprung und die Normen größe­ rer Gruppen u. U. andere als die der kleineren Gruppen, aus denen die größeren sich

Kosmos niemals verloren; sie wird bis in die Gegenwart hinein als ‚Panpsychismus‘ (vgl. etwa B. Rensch, 1991, S, 214 ff.) vertreten.

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zusammensetzten.637 Übereinstimmend war lediglich ihre Funktion: Sie dienten dem Zusammenhalt der Gruppen, sie reglementierten das Verhalten ihrer Mitglieder und sie verhinderten Meinungsverschiedenheiten darüber, welches Verhalten dem Grup­ peninteresse am besten gerecht wird. Allemal handelte es sich dabei um konkrete Normen, welche eine differenzierte Bewertung eines jeden konkreten Verhaltens zu­ ließen – und zulassen mussten, weil, was unterschiedlich war, nach feststehender Meinung auch unterschiedlich bewertet werden musste.

Ebenso wie die prärechtlichen mussten daher auch die rechtlichen Normen individuelle Gerechtigkeit für sich beanspruchen. Denn zwischen einer abs­ trakten Normgerechtigkeit und einer konkreten Individualgerechtigkeit (‚Bil­ ligkeit‘) zu unterscheiden, wie man es später tat, erschien nach feststehender Meinung unmöglich – Rechtsnormen waren entweder individualgerecht (‚billig‘), oder sie waren kein Recht. Und weil die Gemeinschaft für das, was billigerweise Recht ist, das feinste Gespür besaß, war sie auch die oberste Instanz in allen Rechtsfindungsprozessen.638 Sie fand ihr Recht in der ver­ nünftigen Überlegung, was unter den jeweils obwaltenden Umständen wohl als Norm richtig ist und welche konkreten Folgen man daraus herzuleiten habe. Befolgt wurde das so gefundene Recht dann meistens freiwillig. Denn jeder fürchtete den Unwillen und die Macht der Götter, unter deren Schutz die Normen standen. Und da die Götter bei den Gerichtsverhandlungen stets zugegen waren und beobachteten, ob das gesprochene Recht auch ihren In­ tentionen entsprach, war es ausgeschlossen, dass man das Recht einseitig von der Seite der individuellen Berechtigungen aus betrachtete statt aus der Sicht der Götter. Denn diese schützten die Normen nicht, um den Menschen Rechte zu verleihen, sondern um ihnen Verpflichtungen aufzuerlegen, denen sie aus Ehrfurcht und um des sozialen Friedens willen zu folgen hatten. (δ) Recht und Menschenbild. Die weitere Entwicklung des Weltbilds kam gegen Ende des Neolithikums aufgrund einer Veränderung des menschli­ chen Bewusstseins und damit auch des Menschenbilds zustande. Erkennbar war diese Veränderung sowohl an einem neuen Geschichtsbewusstsein639 als auch an einer neuen Art von Religiosität. Geschichte hatte man ur­ sprünglich als unendlichen Kreislauf begriffen, vergleichbar dem der Jahres­ zeiten in der Natur. Jetzt begriff man sie als geraden, zielgerichteten Ablauf und interpretierte sie im Bereich der morgenländischen Religionen als eine (orthogenetische) Entwicklung von der Weltschöpfung und dem Sündenfall J. Vanderlinden (1983), p. 8 ff. Rouland (1988), p. 189: „La loi mythique diffère de la loi moderne princi­ palement en ce qu’elle appartient non à un homme ou à un organe, mais à la société tout entière à travers la diversité des groupes qui la constituent.“ 639  Geschichtsbewusstsein wird allgemein als Bewusstsein von der Geschichtlich­ keit der menschlichen Existenz, der menschlichen Kultur und der menschlichen Erkenntnis verstanden. 637  Vgl. 638  N.



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des Menschen bis zur – von Gott geplanten, vom Menschen erhofften – Welterlösung und zur Bestrafung der Sünder am Tage des Totengerichts.640 Religion hatte ursprünglich641 im naiven Glauben an unveränderliche kos­ mische Gesetze bestanden, von denen zwischen Himmel und Erde alles be­ herrscht und nach einem unerforschlichen Plan gelenkt wird. Jetzt setzte man an ihre Stelle einesteils dem Menschen geoffenbarte Gesetze eines Gottes und andernteils dem Menschen offenbare Gesetze der Natur. Und den menschlichen Geist, der sich von beiden Arten von Gesetzen einge­ kreist sah, bewertete man jetzt einesteils nach dem äußeren Erfolg, den er kraft seines Wissens um die natürlichen Gesetze verursachte, und andern­ teils nach der darin zum Ausdruck kommenden inneren Gesinnung gegen­ über den göttlichen Gesetzen sowie nach den guten oder bösen Absichten, die seine Handlungen leiteten. Diese Entwicklung betraf auch das Recht. Es hatte aus den ‚guten Sitten‘ heraus nicht entstehen können, solange der Mensch in eine magisch-mysti­ sche Verbindung von irdischer und überirdischer Welt eingeschlossen war und überirdische Mächte seinen Willen, irdische sein Handeln lenkten. Erst nach der Trennung beider Welten, als dem Menschen bewusst wurde, dass er auf beide unterschiedlich einwirken konnte: durch eigenmächtige Handlungs­ steuerung (mentale Zielsetzung und Mittelwahl zur Zielerreichung) auf die irdische, durch Bekundungen der Ergebenheit (Bittgebete und Opfer) auf die überirdische, konnte es seine verhaltensleitende Funktion erfüllen. Denn in beiden Welten stieß es auf Gesetzmäßigkeiten, die es sich zunutze machen konnte: in der irdischen Welt auf natürliche Erwartungen, wie man sich zweckmäßig zu verhalten hat, in der überirdischen Welt auf sakrale Erwar­ tungen, wie man sich Gott wohlgefällig verhalten soll. Fortschritte in der ir­ dischen Erkenntnis betrafen dann die Techniken, mit denen man in der Um­ welt gute wie böse Folgen am zweckmäßigsten herbeiführen kann. Fort­ schritte im religiösen Glauben betrafen die Innerlichkeit des Menschen und seinen Anspruch, nicht nur als Objekt von Normen, sondern zugleich als ihr Subjekt anerkannt und mit dem Anspruch auf Respektierung einer spezifi­ schen Würde als ihr Urheber ausgestattet zu sein, welcher den göttlichen Weisungen aus freier Überzeugung folgt. Keime zu dieser letztgenannten Entwicklung gab es schon in sehr früher Zeit. Noch kaum in der altindischen Philosophie, wo die Menschen noch als domestizierte Tiere galten, deren Seele im Körper anderer Tiere wiedergeboren werden kann und die sich über die anderen Wesen lediglich dadurch heraushoben, dass sie sich vom 640  Zur Entwicklung dieser Vorstellung von einem Toten- bzw. Jüngsten Gericht vgl. oben G β. 641  Vgl. oben 2 c dd. Bedenken dagegen die Einbeziehung prähistorischer Perio­ den bei K. Goldammer (1984), S. 39.

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ewigen Kreislauf der Wiedergeburt befreien konnten.642 Die altgriechischen Philoso­ phen sahen die Menschen dagegen bereits den Göttern näher und den Unterschied zu ihnen hauptsächlich darin, dass jene unsterblich sind, während sie selber sich durch Sterben und Geborenwerden stetig erneuern müssen: „Sie die Unsterblichen im Him­ mel, wir die Sterblichen auf Erden.“643 Als ihnen später auch der Unterschied zwi­ schen Mensch und Tier zum Problem wurde, benannte Alkmaion von Kroton (Aus­ gang des 6. Jh.s v. u. Z.) hierfür (als Erster?) eine Eigenschaft, die auch nach heutiger Auffassung den Menschen aus dem Kreis der Tiere heraushebt: dass er begreifen (= in Begriffen denken) kann, während Tiere auf die Wahrnehmungen ihrer Sinne beschränkt sind.644 Solange das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zwischen Mensch und Tier aller­ dings nur die (begriffliche) Sprache war, neigte man dazu, die Menschen des eigenen Stammes höher einzustufen als die Menschen anderer Stämme mit fremden Sprachen. Und waren die Fremden überdies Feinde, dann sanken sie in der Achtung noch tiefer herab und durften gleich den Tieren jeder Misshandlung ausgesetzt, bei einigen Völ­ kern sogar verspeist werden. Dies änderte sich grundsätzlich erst innerhalb der Proto­ staaten. Hier durfte ein Mensch zu Lebzeiten nicht mehr beliebig gequält, roh miss­ handelt oder zum Verspeisen geschlachtet werden, selbst wenn er als Sklave rechtlich immer noch den Sachen gleichstand.645 Und auch seinem Leichnam stand jetzt bereits eine pietätvolle Behandlung zu, die sich allerdings nicht sogleich überall durchsetz­ te.646

642  Zur Seelenwanderungslehre vgl. A. Dierauer (1977), S. 18 ff. m. w. Nachw. Die Lehre, die nur in wenigen Kulturen hat Bedeutung gewinnen können, erscheint mir soweit gut vertretbar, als sie eine Unverlierbarkeit der immateriellen seelischen Sub­ stanz postuliert, die zwar in allen höheren Lebewesen individuiert auftritt, jedoch mit deren Tod ihr konkretes Dasein wieder verliert ‒ die m. a. W. genau wie jede materi­ elle Substanz zwar umgewandelt, nicht aber verbraucht oder vernichtet werden kann. 643  Vgl. Homer, IliasIl. V 442: ἀθανάτων τε θεῶν χαμαὶ ἐρχομένων τ‘ ἀνθρώπωνa). Dagegen stand nach Meinung von U. Dierauer (1977, S. 25) „einer stolzen Abgren­ zung vom Tier das menschliche Unterlegenheitsgefühl gegenüber den Göttern ent­ scheidend im Wege“. 644  Vgl. dazu näher Theophrast, Von den Sinneswahrnehmungen 25 = fr. 1 a; fer­ ner U. Dierauer (1977), S. 39 ff. und passim. Auch von späteren Philosophen wird der Topos verwendet: Der Mensch seist ζῶον λόγον ἔχονz, animal rationale, homo sapiens. 645  Zum Verbot, eine Sklavin sexuell zu missbrauchen, vgl. oben G 4 b γ. 646  Beispielsweise stieß während des Trojanischen Kriegs gemäß dem Bericht Ho­ mers ein griechischer Krieger nach dem anderen seinen Speer in die Leiche des so­ eben getöteten Hektors, ohne dass dies als respektlos und schimpflich empfunden wurde (Homer, Il. XXII 371: „Keiner nahte sich, ohne nach der Leiche zu stoßen.“). Doch als anschließend Achilleus die Leiche Hektors an seinen Wagen band und durch den Staub schleifte, erschien dies allen als ein „schmählicher Frevel“ (Homer, Il. XXII 395: „Ἓκτορα δῖον ἀεικέα μήδετο ἔργα.“). Rückfälle waren freilich nicht ausgeschlossen: Noch Jahrhunderte später mussten in Rom Kriegsgefangene zur allgemeinen Belustigung auf Leben oder Tod miteinan­ der um die Freiheit kämpfen. Und einen zum Tode verurteilten Verbrecher ließ man,



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Aufgrund der Aufwertung des Menschen erhielten einerseits die Götter immer mehr vom Menschenbild geprägte Züge. Andererseits reduzierte man deren Zahl, um die Differenz zwischen ihrer selbstherrlichen und der sozial­ gebundenen menschlichen Seinsweise zu verstärken. Und am Ende der anti­ ken Entwicklung stand dann einesteils ein Monotheismus, d. h. die Herrschaft eines allmächtigen, weil ein von allen (auch allen sozialen) Bindungen be­ freiten Gottes,647 andernteils die vollständige Absonderung des Profanen vom Göttlichen bzw. des Diesseits vom Jenseits. Die früher alles bestim­ mende Harmonie des Kosmos ging dadurch zwar verloren, und selbst die Begriffe dafür (me, ma`at, lĭ, dharma u. a.m) verschwanden aus dem Sprach­ gebrauch. Bereits den Griechen fehlte ein das gesamte Universum umfassen­ der Begriff; stattdessen unterschieden sie zwischen κόσμος und θέμις je nachdem, ob sie entweder die materielle Weltordnung oder die ideelle menschliche Ordnung meinten. Und die Römer trennten strikt zwischen fas und ius, um auch dem Unterschied zwischen göttlicher und menschlicher Ordnung Namen zu geben – wenngleich sie keine Bedenken hatten, dass im Formalismus der Rechtsgeschäfte und der Rechtsverfolgung zwischen der magisch-religiösen und der rechtlichen Sphäre noch gewisse äußere Zusam­ menhänge bestehen blieben.648 Die Möglichkeit einer vollständig diesseitigen Bestimmung des menschlichen Zusammenlebens trat jedoch nunmehr als eine Notwendigkeit hervor. Und das Recht konnte folglich nicht nur, sondern musste sogar die diesseitige Herrschaft übernehmen. (ε) Zusammenfassung: Die Entwicklung der Inhalte von Rechtsnormen hing – auch als universelles Geschehen649 – vom Wandel des Welt- und des Menschenbildes innerhalb des menschlichen Bewusstseins ab und ist daher der reinen Vernunft nicht zugänglich. •• Den Anfang der Entwicklung hatte noch ein magisch-holistisches Weltbild gebildet: Der Mensch sah sich eingebunden in einen ganzheitlichen Kos­ mos teils toter, weil ruhender, teils lebender, weil bewegter Materie. So­ weit Normen sich keimhaft entwickelten, waren sie Teile der den Kosmos durchziehenden Ordnung, die eine deutliche Trennung der menschlich-

als König Pentheus verkleidet, vor den Augen der Zuschauer von wilden Tieren in Stücke reißen, ohne dass dies die Schaulust verdarb. 647  Warum letzthin der Monotheismus den Sieg davontrug, ist umstritten. Als Gründe werden angeführt, dass ein einziger und allmächtiger Gott ein höheres Beloh­ nungspotential in sich vereint und dass die persönliche Beziehung an ihn als ‚Vater‘ und Autoritätsperson stärkere Bindung erzeugt und stärkere Sicherheit verspricht als an eine Mehrzahl untereinander oft zerstrittener Götter. 648  H. Honsell/Th. Mayer-Maly/W. Selb (1987), S. 22 f. 649  Ich beziehe hier die Ausführungen oben H 2 c dd ein. Zu partikularen Beson­ derheiten vgl. den folgenden Abschnitt.

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geistigen Sphäre von der himmlisch-göttlichen Sphäre und der materiellungeistigen Sphäre der Natur nicht zuließ. •• Erst auf einer zweiten Stufe zerteilte sich dieses Weltbild. Der Mensch erschaute sich im Zentrum eines dreigeteilten Kosmos mit teils lebender, teils toter Materie. Er erblickte über sich ausgebreitet einen Himmel, wo ewiges Leben war; und er sah unter sich eine Natur, die ewig tot war. Dazwischen erschaute er das irdische Leben, das zwar ein Leben zum Tode war, doch durch Fortpflanzung sich immer wieder neu erschaffen konnte. An diesem Leben und Sterben hatte er selbst Anteil. Gleichzeitig aber war er herausgehoben, weil allein ihn Herrschaftsbeziehungen sowohl mit dem Himmel als auch mit der Erde verbanden: Macht übten über ihn die ewig lebenden Götter aus, denn sie bestimmten sein Schicksal. Macht übte er selbst sowohl über die ewig tote Natur aus, denn er konnte sie formen, als auch über die lebende, denn er konnte sie töten, ohne dasselbe Schicksal von ihr zu erleiden. Allerdings waren alle Machtverhältnisse auch Reziprozitätsverhältnisse: Die Menschen konnten das Verhalten der Götter durch Bitten und Gebete sowie durch Opfer und Gaben beeinflus­ sen. Und die Natur konnte sich am Menschen rächen, wenn sie von ihm nicht respektvoll behandelt wurde. Es gab also ein reziprokes Sollen, wenngleich noch kein gesetztes Recht. •• Auf einer dritten Bewusstseinsstufe zerfiel dann das dreiteilige Weltbild, das sich dem anschauenden Bewusstsein dargeboten hatte. Die Menschen ersetzten es durch ein ganzheitliches Weltbild, das sie diesmal auf einer höheren Ebene aktiv durch ihr Bewusstsein selber erzeugten. In diesem Bild standen sie selber im Mittelpunkt, die Herrschaft des Himmels über ihr irdisches Dasein war geschwunden, sie hatten die Erkenntnis gewon­ nen, Freigelassene der Schöpfung, ja sogar „zur Freiheit verurteilt“650 zu sein und allein durch Einsicht ihr Schicksal bestimmen zu können. Umge­ kehrt war ihnen ihre Unterlegenheit gegenüber der toten Natur deutlicher bewusst geworden: dass kein Mittel gegen deren Gesetze etwas ausrichten kann und dass ihnen von daher das Chaos droht, wenn nicht die Formkräf­ te des Lebens sich dagegenstemmen. d) Partikulare Themen in der Historiogenese des Rechts (Auswahl) Während die vorgeschichtlichen Phasen der Entstehung und Entwicklung von Rechtsbewusstsein als Grundlage rechtlicher Ordnungen noch weitge­ hend dem Bereich philosophischer Spekulation angehören, lässt sich die ge­ schichtliche Phase der Entwicklung aus den partikularen Normenordnungen 650  Ausführlich

dazu J.-P. Sartre (1943/1993), S. 764.



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frühantiker Völker belegen. Danach behielt das Recht seine Entwicklungs­ grundlage in den übereinstimmenden vitalen und sozialen Bedürfnissen der Menschen, die unter ähnlichen Umweltbedingungen sich nur auf ähnliche Art und Weise äußern konnten. Seine Entwicklungsdynamik dagegen rührte aus den sozialen und politischen Verhältnissen her, die langzeitig zwar struk­ turell übereinstimmten, aber komplexer wurden und, um überschaubar zu bleiben, parallel zueinander mittels ebenfalls komplexerer sozialer und recht­ licher Normen geordnet werden mussten. Was die vorliegend untersuchte Zeit des frühen Altertums anbelangt, blieben die Bedürfnisse der ‚einfachen Leute‘ im Wesentlichen gleich; sie richteten sich nach den Befriedungsmöglichkeiten, welche die nähere Umwelt bot. Dagegen vermehrten die Bedürfnisse der upper classes sich rasch, sobald die Umwelt sich weitete: Man war begierig auf Gegenstände des Luxus, etwa seltene Metalle (z. B. Gold) und auf selte­ ne Stoffe (z. B. indische Seide). Die Männer begehrten nach den neuesten technischen Produkten, etwa aus dem in Mesopotamien aufgekommenen Metallgussverfahren oder aus der sich schnell verbreitenden Granulations- und Glasurtechnik; ihre Frauen begehrten insbesondere nach den mithilfe dieser Neuentwicklungen hergestellten Schmuckgegenständen. Daneben wurden die sozialen und politischen Verhältnisse bereits immer komple­ xer und die Regeln zu ihrer Ordnung differenzierter, und zwar u. a. (a) infolge der quantitativen Vermehrung und qualitativen Stratifizierung der Bevölkerung; (b) infol­ ge der Anonymisierung der sozialen Beziehungen; (c) infolge der Schwierigkeiten, die Begehung von Rechtsverletzungen (insbesondere durch Fremde) zu verhindern und, wenn sie geschehen waren, vor Gericht nachzuweisen; (d) infolge der Aufblä­ hung des Handels mit dem Ausland; (e) infolge der vielen Kriege, die man jeweils durch langwierige Verhandlungen und umfangreiche Vereinbarungen beenden musste.

Aus den vielen Themenbereichen des werdenden Rechts hebe ich im Fol­ genden drei heraus, die mir besonders wichtig erscheinen: (α) die intrasozia­ len Beziehungen zwischen den Menschen, (β) die internationalen Handelsbe­ ziehungen zwischen den Völkern und (γ) die außenpolitischen, sich vor allem aus kriegerischen Aktivitäten ergebenden, Schutz- und Trutzmaßnahmen. (α) Innerhalb der intrasozialen Beziehungen lassen sich verwandtschaft­ liche (familien- und erbrechtliche), sachenrechtliche, deliktsrechtliche und vertragsrechtliche unterscheiden. Das antike Recht hat sie u. a. geregelt, in­ dem es den persönlichen, sozialen und politischen Status der Beteiligten be­ rücksichtigte. •• Der persönliche Status richtete sich überall nach dem Geschlecht und dem Alter. Diese Differenzierung unterlag, da biotisch begründet, seit Urzeiten keiner Veränderung. Unterschiedlich waren jedoch die Konsequenzen, die das Recht hieraus zog. Meistens stärkte es die Position des körperlich stärkeren und geistig besser ausgebildeten Mannes, indem es ihm den Status eines Familienoberhaupts und damit die Vornahme aller ihn selbst

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und seine Familie betreffenden prärechtlichen und rechtlichen Geschäfte zuwies. Als nahezu einzige Einschränkung galt für ihn, dass seine Ge­ schäfte den Fortbestand seiner Familie (auch nach seinem Tode) nicht gefährden durften. Die Frau hatte ihm gegenüber einen untergeordneten Status, der zwischen völliger Machtlosigkeit und einer Rechtsposition schwankte, die der des Mannes ebenbürtig war. Von den Kindern er­warben vor allem die Söhne während ihrer Zugehörigkeit zur Familie beschränkte Statusrechte, wobei dem ältesten in der Regel Vorrechte gegenüber den jüngeren zustanden. •• Neben dem persönlichen hatte jeder Mensch einen sozialen Status, der ihm lediglich anlässlich einer Versklavung abhandenkam. Innerhalb der Verwandtschaft richtete sich der Status grundsätzlich nach dem Grad der blutmäßigen Abstammung. Darüber hinaus konnte ein kultureller Status durch Adoption begründet werden, insbesondere wenn es an einem männ­ lichen Stammhalter fehlte – man versuchte auf diese Weise, die lineages vor dem Aussterben und die verwandtschaftlichen Beziehungen vor ihrer Auflösung in Fremdbeziehungen zu bewahren. Durch Heirat konnte dem verwandtschaftlichen Stand der Ehestand als Status zugefügt werden; Sitte und Recht bestimmten dann Anfang und Ende der Ehe und legten fest, ob Polygamie erlaubt war oder nicht. Sozial war darüber hinaus bedeutsam, dass in allen fortgeschrittenen Gesellschaften ein angesehener Beruf sowie herausragende (soziale oder kulturelle) Leistungen sowohl den eigenen Status als auch den der Familie anhoben und dass dies in den Berufs- oder Tätigkeitsbezeichnungen zum Ausdruck gebracht wurde. Gewürdigt wur­ de damit die zunehmende Bedeutung und Wertschätzung der persönlichen Leistung.651 •• Schließlich erwarb der Einzelne innerhalb der sich neu entwickelnden politischen Verbände auch einen politischen Status, der ihm entweder von Geburt oder durch Erwerb einer Verbandsbeteiligung zukam. Der Status sicherte ihm einerseits den Schutz des Verbandes, verpflichtete ihn andrer­ seits zur Loyalität mit dem Verband und zu Leistungen an ihn. Die intrasozialen Beziehungen zueinander zerfielen überall in freiwillige und in normativ feststehende. Normativ feststehend waren insbesondere die sich aus der Verwandtschaft ergebenden familien- und erbrechtlichen Bezie­ hungen, unabhängig davon die sachenrechtlichen und deliktischen Beziehun­ gen. Freiwillig waren dagegen die durch Versprechen oder Vertrag begrün­ deten Beziehungen, die entweder nach dem Reziprozitätsgrundsatz auf ­Ausgleich gerichtet waren oder kraft Vertrauens zu einem Ausgleich ver­ pflichteten. 651  Näheres

oben G 4 b γ.



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• Die familienrechtlichen Beziehungen ergaben sich, wie schon erwähnt, aus Geburt und Heirat, konnten aber auch durch personenrechtliche Verträge begründet oder verändert werden. • Eines eigentlichen Erbrechts bedurfte es nur, wo nennenswertes Vermögen vorhan­ den und die Sitte nicht streng genug war, um der Willkür des Erblassers Einhalt zu gebieten. Die kulturellen Unterschiede waren insoweit groß. Überall erbberechtigt waren die Kinder, von ihnen aber bei den meisten Völkern nur die Söhne, welche die lineage fortsetzten, und nur bei relativ wenigen auch die Töchter; in manchen Völkern besaß der Erstgeborene eine privilegierte Stellung, in anderen galt zwi­ schen den Kindern (oder jedenfalls zwischen den Söhnen) Gleichheit als Norm.652 Die Stellung der Ehefrau war kulturell sehr unterschiedlich: Mal fiel sie in die Erbmasse, mal war sie neben den Abkömmlingen erbberechtigt. Freunde und Fremde waren dagegen von der Erbfolge regelmäßig ausgeschlossen. Wollte der Erblasser ihnen etwas zukommen lassen, musste es zu Lebzeiten geschehen.653

•• Die sachenrechtlichen Beziehungen mussten überwiegend originär gere­ gelt werden, da psychogenetische Wurzeln insofern nicht vorhanden wa­ ren. Einzig dass Arbeit Eigentum begründet und dass, wer eine Sache zu­ erst ergreift, das bessere Recht an ihr hat, beruhte auf einer ererbten psy­ chischen Grundlage, deren Vorformen wir schon bei tierischen Primaten und sehr jungen Kindern beobachten können.654 Darüber hinaus ist ein Besitzverlangen sowohl beim Menschen als auch bei vielen Tieren ver­ breitet. Bei den Tieren wird es einem Nutzzweck als Mittel untergeordnet. Beim Menschen hat es dagegen seit der Sesshaftigkeit funktionale Auto­ nomie erlangt: Eigentum wird regelmäßig als Selbstzweck erlebt und ­untersteht auch dort (prä)rechtlichem Schutz, wo es dem Inhaber keinen Nutzen bringt. Allerdings war es deshalb wichtig, dass sein Gebrauch frühzeitig sozialen Beschränkungen unterworfen wurde. Dabei wurde überall zwischen Immobiliar- und Mobiliarvermögen unterschieden. Das Immobiliarvermögen war zu Beginn der Sesshaftigkeit meistens Gemein­ schaftseigentum; einzelnen Familien wurde es lediglich zur Nutzung überlassen. Später gehörte es vielfach einer politischen oder religiösen Institution, etwa als Staatseigentum dem Monarchen und seiner Familie (evt. auch seiner Gefolgschaft) oder als Tempeleigentum den Göttern (und in deren Vertretung den Priestern); an einfache Familien wurde es dann gegen einen Zins verpachtet. War es dagegen primär Familieneigentum, wurde es regelmäßig mit einem Veräußerungs- und Ver­ pfändungsverbot belegt, damit es der Familie erhalten blieb. Daraus ergaben sich freilich Probleme; denn die Familien vergrößerten sich, das Land, das sie zu eigen hatten, vergrößerte sich nicht, sodass im Erbfall fast immer einige Familienmitglie­ der leer ausgehen mussten, damit es für die anderen als Existenzgrundlage reichte. 652  Näheres oben G 4 c und e. Eine ähnliche Fülle gewohnheitsrechtlicher Erbfol­ genregelungen finden wir später fast nur noch im Frankreich des 16. Jh.s – vgl. dazu E. Le Roy Laduric (1976). 653  Näher dazu J. Goody (1969). 654  Zu „Objektbesitz, Nahrung, Teilen“ vgl. I. Eibl-Eibesfeldt (2004), S. 483 ff.

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Die leer Ausgehenden verdingten sich dann wohl oder übel bei den Begüterten als Landarbeiter, wanderten in die Städte oder ins Ausland ab, dienten dem Staat als Soldaten oder wurden Seeräuber.655 Im Gegensatz zum Immobiliarvermögen war das Mobiliarvermögen eng an denje­ nigen gebunden, der es besaß und nutzte. Erworben werden konnte es durch Arbeit, durch Vereinbarung oder, solange der Staat für sich kein Gewaltmonopol bean­ spruchte, durch Raub oder Plünderung. Die Verfügungsberechtigung war somit in alter Zeit an die Verfügungsmacht gebunden, und die stand demjenigen zu, der es besaß und seinen Besitz zu verteidigen wusste. Darüber hinaus gab es sowohl Er­ weiterungen als auch Einschränkungen. Erweiternd gehörten zum Mobiliarvermö­ gen in vielen Staaten die Sklaven, die Kriegsgefangenen und die minderjährigen Kinder, die auf dem Markt feilgeboten werden konnten. Einschränkend sah man manche Sachen allerdings auch als Teil der Persönlichkeit an (typisch: der Speer des Mannes, der Schmuck der Frau); die Folge war dann, dass sie nicht Gegenstän­ de eines fremden Eigentums werden konnten.

•• Der Ausbau des deliktsrechtlichen Beziehungen litt unter der Schwierig­ keit, Zivildelikte von Strafdelikten zu trennen. Man überwand die Schwie­ rigkeit so, wie auch noch heute, nämlich mithilfe der Rechtsfolgen: Be­ standen diese in der Restitution des früheren Zustands oder bei Unmög­ lichkeit im Schadensersatz, dann galten sie als Zivildelikte; bestanden sie dagegen in der Zufügung eines Übels gleich dem erlittenen, dann hatte man es mit Strafdelikten zu tun.656 Die rechtliche Vorhut bildete überall das Strafrecht. Denn solange die Bestrafung des Täters Sache der Familie oder der Hausgenossenschaft war, wurden noch keine klaren Unterschei­ dungen zwischen zivilrechtlichem und strafrechtlichem Unrecht getroffen, geschweige denn klar definierte Deliktstypen herausgebildet; der durch die Tat erregte Zorn entschied dann über die Art des Delikts und das Maß seiner Vergeltung. Wo dagegen die Gemeinschaft in die Strafverfolgung einbezogen wurde, bildeten sich sowohl Deliktstypen als auch rechtsför­ mige Verfahren heraus, in denen man meistens außer über das Delikt auch über den Defekt innerhalb der zugrunde liegenden Sozialbeziehung (und somit über die Schuld des Täters) verhandelte. Anfangs nahm sich die Gemeinschaft der Bestrafung lediglich derjenigen Verbrechen an, von de­ nen sie selbst betroffen war, weil sie gegen ihren inneren Frieden verstie­ ßen. (Dazu gehörten auch sämtliche sakralen Verbrechen, weil sie die Rache oder wenigstens den Unwillen höherer Mächte heraufbeschworen.) Mit der Vermehrung der anonymen Beziehungen und der Ausbildung ei­ ner obrigkeitlichen Herrschaft ging das Strafverfahren jedoch immer mehr auf die Gemeinschaft über, weil dadurch dauernde Unruhe vermieden oben G 4 d und 3 β. oben G 4 h. Ziviles und strafbares Unrecht wurden erst allmählich klar unterschieden. 655  Näheres 656  Vgl.



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wurde. Geregelt wurde allgemein, wann eine verfolgbare Tat vorliegt, wer durch sie verletzt wurde und wer der Verletzer ist; denn je nach der Orga­ nisation eines sozialen Verbandes wurden diese Fragen unterschiedlich beantwortet. In ältester Zeit waren die Sippen sowohl die Verletzten als auch die für die Bege­ hung einer Straftat Verantwortlichen; Verantwortlich wurden sie durch äußerlich erkennbare Kausalität, ohne dass nach einem Verschulden gefragt wurde.657 Doch auch noch, als das Strafrecht staatlich organisiert war und sich gegen einen konkre­ ten Täter richtete, hielt sich lange Zeit die Zufallshaftung, schon weil ein Verschul­ densbeweis schwer zu führen war. Erst allmählich wurden vorsätzliche Schädigun­ gen von unvorsätzlichen getrennt und nur der vorsätzlich Handelnde mit einer Strafe belegt, während im Übrigen deliktsrechtlicher Schadensersatz und Bußen an die Stelle der Strafe traten.

•• Der Ausbau der vertragsrechtlichen Beziehungen richtete sich grosso modo nach der Zahl und Bedeutung der unpersönlichen Kontakte. Zahlenmä­ ßig standen überall die Kaufverträge voran; Dienst- und Werkverträge, Miete, Pacht, Leihe und Darlehen folgten. Von Leihe und Darlehen abge­ sehen, mussten alle Verträge sofort (‚Zug um Zug‘) erfüllt werden; das ergab sich aus ihrer Herkunft von den einverständlich vorgenommenen Veränderungen der Machtverhältnisse, die früher den Warentausch charak­ terisiert hatten.658 Konnte jetzt die vereinbarte Gegenleistung nicht sofort erbracht werden, durfte die Verzögerung allerdings regelmäßig durch die Gestellung einer Sicherheit aufgewogen werden.659 (β) Zu internationalen Handelsbeziehungen kam es, nachdem die Men­ schen in fruchtbaren Gebieten sesshaft geworden waren und ihnen dort die Nahrungsproduktion einen beträchtlichen Überschuss brachte. War dieser zur Vorratshaltung ungeeignet oder wurde er dazu nicht verwandt, stand er als Tauschobjekt für Waren zur Verfügung, die man – aus Gründen welcher Art auch immer – nicht selber produzieren konnte, aber entweder brauchte oder einfach nur mochte. Beispielsweise verfügte man im nordafrikanischen Karthago zwar über Obstplanta­ gen sowie in Spanien über eine Bergbauindustrie; Getreide jedoch musste man aus Italien einführen. Dazu konnten die Überschüsse aus der Obsternte und dem Bergbau als Ausgleich verwendet werden. Darüber hinaus reichten die Überschüsse aus der Eigenproduktion vielfach aus, um aus dem Inneren Afrikas Sklaven sowie von überall

657  Beispiel: Wer einen Dritten verletzte, weil er von einem anderen die Treppe hinunter gestoßen wurde, dessen Familie wurde haftbar gemacht und konnte sich nur im Wege des Regresses an denjenigen halten, der den Stoß getan hatte. 658  Vgl. oben F 3 ε. 659  Näheres oben G 4 f. Bürgschaft und Pfandrecht waren als Sicherungsmittel weitgehend bekannt und gebräuchlich.

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her Luxuswaren – etwa Gewürze aus Indien, Seidenwaren aus China – zu importie­ ren.

Der Handel war Treibstoff für sowohl intrasoziale als auch intersoziale Beziehungen und für deren rechtliche Absicherung. Aus dem Tierreich gab es für ihn keine Parallele, weil er eine Zweckrationalität voraussetzte, zu der nur der Mensch fähig ist. Lediglich der Grundsatz, nach dem er sowohl bin­ nen- als auch außenwirtschaftlich betrieben wurde, war schon den tierischen Primaten geläufig: die Reziprozität. Sie bedeutete ursprünglich, dass beide Partner eines Vertrages den gleichen subjektiven Nutzen aus einem Aus­ tauschverhältnis ziehen sollen; denn angewandt wurde der Grundsatz ur­ sprünglich vor allem auf den Austausch von Naturalien, und die Art dieses Austauschs war das Geben von Hand zu Hand. Doch ab dem 3. Jt. traten als Bestandteile des Austauschs neben die Naturalien und Gebrauchsgegenstände auch Geldmünzen in Form von metallenen (kupfernen, silbernen oder gol­ denen) Täfelchen. Diesem Tausch lag alsdann nicht mehr das Prinzip des partnerschaftlich gleichen Nutzens zugrunde, sondern das Prinzip des objek­ tiv gleichen Wertes – während die Nutzenberechnung lediglich zum Motiv wurde. Die Entwicklung des Handels wurde von einer Tendenz getragen, die of­ fenbar die gesamte Natur bestimmt, auch wenn sie nicht alle Lebewesen einschließt: nämlich von der Tendenz zur Ausbreitung in immer weitere Räume. Erstaunlich schnell reichten deshalb die Handelsbeziehungen Meso­ potamiens bis zur Ostsee und zum Indusdelta, durchfuhren griechische Han­ delsschiffe das gesamte Mittelmeer und erreichten die Phönizier durch die Straße von Gibraltar den Atlantik und den Westen Nordafrikas. Verbunden damit waren kulturelle Entwicklungen zum einen in der Technik, die vor al­ lem dem Seehandel zugutekamen, zum anderen im Recht, die sowohl zur Sicherung gegen die Risiken des Handelsverkehrs als auch zur Absicherung ausgehandelter Verträge eingesetzt werden konnten.660 Zusammen nährten sie die Überzeugung, dass nicht nur technische, sondern auch rechtliche Nor­ men universell gelten, folglich der ganzen Menschheit zugehören und uni­ versell eingesetzt werden können. So diente dem persönlichen Schutz der Händler überall nicht nur die Einrichtung von bewachten Unterkünften in Karawansereien, sondern auch ein schneidiges Straf­ recht, das auf Überfälle und andere kriminelle Handlungen mit scharfen und schnell vollstreckbaren Sanktionen reagierte. Dem Schutz des Tauschhandels dienten nicht nur bewachte Märkte, sondern auch Marktordnungen und amtliche Überprüfungen der angebotenen Waren und des als Geld verwendeten Materials (außer Metallmün­ zen auch Öl und Getreide). Und der Durchsetzung der Leistungsverpflichtungen und 660  U. a. zur Sicherung der sogen. Seedarlehen, mit denen der kostenintensive See­ handel vorfinanziert wurde und durch deren Vergabe Athen zum Finanzzentrum der damaligen Welt wurde.



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der Sicherungsrechte dienten überall Gerichte, die bei Streitigkeiten rasch und effek­ tiv tätig wurden.

(γ) Außenpolitische Schutz- und Trutzmaßnahmen. Hand in Hand mit dem Ausbau und dem Schutz der außenwirtschaftlichen Handelsbeziehungen gin­ gen der Ausbau und Schutz der außenpolitischen Beziehungen zwischen den Völkern. Friedliche außenpolitische Beziehungen konnten entweder auf der Unter­ werfung (Submission) eines Volkes unter die Herrschaft eines anderen oder auf rechtlich gesicherter oder faktischer Gleichheit beruhen. Auf Unterwer­ fung beruhte u. a. das Verhältnis der Nachbarvölker Roms zum römischen Reich, auf faktischer Gleichheit das Verhältnis der griechischen Stadtstaaten zueinander, auf vereinbarten (und teilweise durch formelle Koalitionsverträge abgesicherten) Beziehungen das Verhältnis vieler Städte in Mesopotamien, vor allem derer, die sich von stärkeren Völkern bedroht sahen und im Zu­ sammenschluss die einzige Möglichkeit zur Abwehr erblickten.661 Kriegerische Beziehungen zwischen den Völkern wurden im Altertum als einerseits unerfreulich, andererseits unvermeidbar angesehen. Von den hier näher untersuchten Staaten hat keiner auf die Kriegsführung vollständig ver­ zichtet. Darüber hinaus sind auch, soweit ersichtlich, weder Königreiche noch Häuptlingsschaften jemals ohne Kriegsführung ausgekommen. Offen­ bar hat also der Krieg die Menschheit von Anfang an begleitet, ohne dass man dafür ein spezifisch menschliches Gen hat finden können. Stattdessen wurde die kriegerische Neigung der Menschen seit jeher hingenommen und im Altertum mit der römischen Lehre von der naturalis ratio bzw. mit dem indischen „rita, der ewigen Ordnung des Varuna“ erklärt. Allerdings wird wenigstens von einigen Horden behauptet, dass ihre Friedensliebe sie davon abgehalten habe, Kriege anzuzetteln, und genannt werden in diesem Zu­ sammenhang immer wieder die Buschleute im Süden Afrikas. Die Behauptung trifft jedoch nur bedingt zu. Untereinander bekriegten die Buschleute sich zwar nicht. Ge­ genüber anderen Völkern, insbesondere denjenigen, die eine andere Sprache sprachen, entwickeln sie jedoch sehr schnell Aggressionen, die wahrscheinlich auch in Kriegen geendet hätten, wenn die Machtpotentiale dafür vorhanden gewesen wären.662 661  Kriege zwischen den rivalisierenden Stadtstaaten waren Mitte des 3. Jt.s an der Tagesordnung und es war wichtig, sie entweder zu einen oder durch Eroberungen zu vergrößern, damit genügend Soldaten gegen die andrängenden ‚Fremdländer‘ zur Verfügung standen. 662  M. Konner (1982), p. 204 (zitiert aus I. Eibl-Eibesfeldt, 2004, S. 574): „While the !Kung, like most hunter-gatherers, do not have war or other organized group conflicts, their explicitly stated contempt for non-San people, for San people speaking languages other than !Kung, and even for !Kung in other village-camps, who are not relatives, makes it perfectly clear that if they had the technological opportunity and the ecological necessity to make war, they would probably be capable of the requisite

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Für kleinere Populationen war die Fähigkeit zur Kriegsführung meistens eine Frage des Überlebens. Deshalb wurde von ihnen viel Zeit darauf ver­ wandt, sich auf Angriffs- und Verteidigungskriege vorzubereiten. So dienten etwa die aufwändigen Initiationsrituale dazu, die heranwachsenden Knaben von ihren Eltern zu trennen und sie durch Verwandlung in ein kriegerisches Aussehen auf die Härte kriegerischer Kämpfe vorzubereiten. Die wehrhaften Männer verwandten ihrerseits viel Zeit darauf, die jeweilige militärische Lage zu besprechen, um anschließend je nach Opportunität die Nachbarvöl­ ker entweder mit einem Krieg zu überziehen oder mit einem Freundschafts­ vertrag an sich zu binden. Häufig schmiedete man auch Koalitionen, um die Chancen eines Angriffs auf Nachbarvölker oder einer Verteidigung gegen sie zu verbessern. Zu diesem Zweck besuchte man einander regelmäßig und tauschte Freundschaftsgaben aus. Für größere Populationen kam es ebenfalls darauf an, über eine Vielzahl wehrhafter und kampferprobter Männer zu verfügen. Wichtiger noch war indessen ihre Zusammenfassung in Kampfeinheiten, welche die stammesmä­ ßige Verbundenheit der Männer berücksichtigten, sowie ihre Bewaffnung, die stets auf dem neuesten Stand sein musste (weshalb ein Teil der heimi­ schen Handwerker auf die Waffenproduktion spezialisiert wurde). Oft ent­ scheidend war außerdem die schnelle Einsatzbereitschaft des gesamten Hee­ res. Allerdings konnten nur sehr reiche Staaten sich erlauben, ein gut bewaff­ netes Heer ständig parat zu halten; und auch für sie amortisierten sich die Ausgaben dafür nur, wenn sie das Heer wiederholt zu erfolgreichen Beutezü­ gen gegen andere Völker einsetzen konnten. Die Rechtsentwicklung ging auf Krieg und Frieden gleichermaßen ein. Sie bildete einerseits ein Beuterecht aus, welches sich schnell auch auf kleinere Privatfehden sowie Raubüberfälle ausweitete, andererseits ein Friedensver­ tragsrecht, welches nach erfolgreicher Beendigung einer Feindseligkeit das Vertrauen in das Wohlverhalten des besiegten Gegners sicherte und ebenfalls auf die kleineren Privatfehden der Menschen untereinander abfärbte ‒ weil auch im Alltag die Tapferkeit eines Mannes und seine Treue zu eingegange­ nen Verpflichtungen hoch angesehene Tugenden waren.663

emotions, despite of their oft-stated opposition to and fear of war.“ Archäologische Funde beweisen überdies, dass auch schon steinzeitliche Menschen unfriedlich mitei­ nander umgingen, falls sie sich – was damals allerdings selten zutraf – mit konkurrie­ renden Absichten ins Gehege kamen. Gewandelt hat sich also nicht so sehr die Be­ reitschaft zum Führen von Kriegen, als vielmehr Art und Ausmaß, wie sie geführt werden. 663  Weitere Einzelheiten oben G 4 k.



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5. Abschluss: Soziogenese, Anagenese, Orthogenese und Irreversibilität in der frühantiken Rechtskultur a) Rechtsordnungen als evolutionäre Systeme664 Rom stieg hinauf und blühte, Rom sank hernieder und verfiel. Auch Rechtsordnungen kamen und gingen. Darf man gleichwohl von ‚Evolution‘ sprechen? Der Biologe hätte keine Bedenken. Er begreift Evolution als Ent­ stehung und Untergang von Arten.665 Der Anthropologe denkt anders. Er begreift den Menschen nicht nur als eine besondere biologische Art, sondern auch als Schöpfer und Geschöpf von Kultur. Und er definiert kulturelle ‚Evolution‘ nicht nur, Darwin folgend, als ‚Veränderung‘, sondern auch, Spencer folgend, als Veränderung durch spontan schöpferische, eigendyna­ mische666 Kräfte, die ihn ‚orthogenetisch‘ bzw. unumkehrbar (‚irreversibel‘) vervollkommnen, indem sie ihm die Entfaltung immer reicherer Möglichkei­ ten (die ‚Anagenese‘) eröffnen. Kulturverfall und Zusammenbruch fallen daher nicht unter seinen Evolutionsbegriff; sie sind Devolutionserscheinun­ gen.667 Die Frage verändert sich also: Kann man dennoch von ‚Anagenese‘, ‚Orthogenese‘ und ‚Irreversibilität‘ innerhalb der kulturellen Historiogenese des frühen Rechts sprechen? Zur Beantwortung der Frage wird die Unterscheidung zwischen universa­ ler Kultur bzw. Recht und ethnischen Kulturen bzw. Rechten wichtig. Im Bereich von ethnischen Kulturen bzw. Rechten hat es eine ununterbrochene Evolution i. S. einer geradlinig verlaufenen Anagenese niemals und nirgends gegeben668 − auch in der Antike nicht. Damals sind die Entwicklungen selbst so hochstehender Kulturen wie der ägyptischen und der griechischen abge­ 664  Vgl. dazu zunächst oben A 5. Ergänzend verweise ich auch auf meine Untersu­ chung zur „anthropologischen Struktur und Geschichtlichkeit des Rechts“ (1993). 665  Ch. Darwin (1871), ch. 2: „descent with modification“ bedeutet, dass es keine stete Fortentwicklung gibt, sondern nur einen Wechsel von Werden und Vergehen. 666  Vgl. oben I A 3. 667  Wohl aber können Entartungserscheinungen und Perversionserscheinungen in der Kultur unter den Evolutionsbegriff fallen, sofern sie mit Differenzierung und In­ tegration verbunden sind. Der Begriff der „ ‚kulturellen Evolution‘ “ ist, wie schon Spencer betont hat, wertfrei. 668  Das betont auch A. J. Toynbee (1970), indem er vier Schritte unterscheidet: Entstehung, Wachstum, Niedergang, Zerfall. Das Wachstum manifestiere sich in Fort­ schritten zur Selbstbestimmung und Selbstartikulation (S. 275 ff.) sowie in der Aus­ differenzierung und der Vielheit an Formen (S. 327 ff.), der Verfall manifestiere sich dagegen im Verlust an Selbstbestimmung und Selbstartikulation (S. 367 ff.) und in der Erschöpfung kreativer und innovatorischer Potenzen (S. 409 ff.) sowie in der Span­ nung zwischen neuen Situationsanforderungen und veralteten Reaktionsmustern, Ins­ titutionen (S. 421 ff.) und Techniken (S. 433 ff.).

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brochen und nicht wiederaufgenommen worden. Was dagegen die Gesamt­ heit von Kultur und Recht betrifft, hat die Menschheit nicht nur innerhalb der Antike, sondern auch später und bis hin zum heutigen Tag einen bisher nie­ mals völlig abgebrochenen Fortschritt erzielt. Denn wenn es auch immer wieder zu Devolutionserscheinungen in einzelnen Völkern gekommen ist, hat die Menschheit insgesamt doch niemals den Faden ihrer Entwicklung so völlig verloren, dass es ihr unmöglich wurde, ihn wiederaufzunehmen und an den früher erreichten Entwicklungshöchststand anzuknüpfen. Und was gar den hier untersuchten frühantiken Zeitabschnitt anbelangt, hat sich klar ge­ zeigt, dass die Menschheit zu Beginn nur eine geringe Kultur und keinerlei Recht besaß, dass sie den Stand ihrer Kultur aber mit bewundernswerter Geschwindigkeit erhöht und durch die Neuausbildung eines das soziale und politische Leben ordnenden Rechts bereichert hat. Als Jäger und Sammler standen die Menschen des Mesolithikums bereits auf einer höheren sozialen Kulturstufe als ihre paläolithischen Vorfahren vor 4–500.000 Jahren, weil sie gruppenintern immerhin schon keimende Sittenordnungen besaßen. Als sie dann in der neolithischen Epoche sesshafte Bauern und Städter im fruchtbaren Halb­ mond, in Südasien und am Rand des europäischen Mittelmeers wurden, entwickelten sie die ersten Rechtsordnungen und beschleunigten diese Entwicklung nochmals in­ nerhalb von politisch ausgeformten Königreichen und Protostaaten während der ­sogen. Achsenzeit im 1. Jt. v. u. Z. Aus lediglich lokal bzw. in kleinen sozialen Ein­ heiten geltenden konkreten Rechten und Pflichten wurden damals abstrakte allge­ meingültige Normen, wie sie für das soziale bzw. politische Leben in großen Einhei­ ten gebraucht wurden. Gewiss gab es hin und wieder Verzögerungen und gar Verfalls­ zeiten, die die Entwicklung aufhielten, unterbrachen, in einzelnen Völkern gar ab­ brachen; insgesamt aber kam die Evolution zum Recht und im Recht niemals zu einem Ende − weder im Altertum noch danach.669

Dass die Menschheit den Weg zu höheren Formen von Kultur und Recht niemals verlassen, sondern ihn zwar nicht überall gleich schnell, aber letzthin mit Erfolg begangen hat, muss begründet gewesen sein. Zwei Gründe fallen denn auch sofort ins Auge: die nahezu andauernde Vermehrung und Verdich­ tung der Völker, welche ständige Neuerungen nicht nur in der Nahrungsge­ winnung, sondern auch in der Gewinnung von Organisationsmechanismen erforderte; und der immer härtere Konkurrenzkampf um Lebensraum, der die Völker zu ständigen Veränderungen ihrer Siedlungs- und Verteidigungspoli­ tik nötigte. Beide Gründe erzwangen soziokulturelle Entwicklungen. Dass diese erfolgreich waren, geht u. a. auf einen dritten Grund zurück: dass die Völker die Kraft zur Entwicklung von neuer Ordnungsenergie hatten und

669  Für die Kultur insgesamt übereinstimmend R. L. Carneiro (1996), p. 273: „Over the long run, evolution had greatly predominated over its opposite, devolu­ tion.“ Für die Rechtsentwicklung übereinstimmend G. del Vecchio (1951), S. 566 ff.; Ch. Henke (2010), S. 105 ff., u. a.



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dass sie diese Kraft sogar noch steigern konnten,670 indem sie den Ordnungs­ gewinn aus einer Vermehrung und Verstärkung ihrer Rechtsnormen herleite­ ten. Diesen Ordnungsgewinn konnten die Menschen auch über alle Rück­ schläge ihrer Entwicklung hinweg retten, obwohl Seuchen ganze Landstriche entleerten, Kriege mühsam aufgebaute Kulturen vernichteten. Manchem mag es daher als ein Wunder erscheinen, dass gleichwohl die Entwicklung ‚irreversibel‘ voranschritt, sodass es spätantiker671 wie mittelalterlicher672 Ansicht entsprach, dahinter ein Wirken Gottes zu erblicken. Einer säkularisierten, vornehmlich von den empirischen Wissenschaften getragenen Auffassung wie der heutigen entspricht es jedoch eher, die Menschheit selber als Subjekt in die Geschichte einzusetzen673 und ihr jenes Wunder zuzuschreiben. Einige Einzelheiten: Antike: Die Antike sah den Menschen noch als determiniert durch jenseitige Mäch­ te.674 Selbst Platon meinte noch, die Götter bekümmerten sich ständig um die menschlichen Angelegenheiten und richteten alles zum Besten.675 Die Stoa reduzierte dann zwar die Zahl der Götter, sah aber im Weltall immer noch himmlische Mächte am Werk und die göttliche Vorsehung als allgegenwärtig. Mittelalter: Prägend für das christliche Abendland war die Glaubensmeinung des Heiligen Augustinus, wonach die Weltgeschichte der civitas Dei, dem Gottesstaat, zustrebe.676 Deshalb sei in der heilsgeschichtlichen Auseinandersetzung mit dem Weltstaat der Sieg der himmlischen Mächte vorbestimmt. Dieses Weltbild war indes­ sen zu schön, um wahr zu sein, und es verblasste denn auch sehr schnell unter dem Eindruck der wissenschaftlichen Aufklärung. 670  Lebewesen haben grundsätzlich eine niedrigere Entropie als ihre Umgebung. Man hat daraus geschlossen, dass es neben dem Weltgesetz der Zunahme von Entropie noch ein gegenteiliges Weltgesetz geben muss, welches Leben mittels Verminderung von Entropie innerhalb der Natur ermöglicht. Vgl. dazu I. Prigogine/I. Stengers (1986), S. 135 ff. Näher dazu noch unten J 5 f bb und K 6 c α. 671  Zur altjüdischen Auffassung vgl. M. E. Stone (1987). 672  Dazu eingehend K. Löwith (1990). 673  So schon F. Petrarca, später G. Vico mit der Einschränkung, dass „eine geord­ nete geschichtliche Entwicklung wohl Resultat menschlichen Tuns, aber nicht menschlicher Absicht ist“ (F. Feldmann, S. 125), auch diese Einschränkung abschüt­ telnd dann wieder Voltaire und Condorcet, nach denen menschliche Voraussicht den zivilisatorischen Fortschritt schafft (K. Löwith, 1973, S. 101 f.). 674  Der sumerische Mythos berichtet von einer Übertragung der Königsherrschaft durch den Sturmgott Enlil. In Ägypten begründete der Sonnengott Re die staatliche Ordnung, die nach dem Niedergang des Alten Reiches durch die Taten der Köni­ gin Hatschepsut nicht etwa neu geschaffen, sondern wiederhergestellt wurde (vgl. J. B. Pritchard [ed.], Ancient Near Eastern Texts [ANET], 21955, p. 231a). 675  Platon, Nomoi X 899d ff. 676  A. Augustinus, De civitate Dei, 2. Teil (XI ff.). Von einer religiösen Grundüber­ zeugung wird auch noch Toynbee getragen, wenn er seine Vision der Welt als „Pro­ vinz im Reiche Gottes“ formuliert und von Augustinus das Bild der einstweiligen Wanderschaft in einer fremden Welt übernimmt (1954, S. 266, 251).

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Neuzeit: In der Neuzeit bezweifelte man weniger das Wirken Gottes in der Weltge­ schichte, als dass die menschliche Vernunft zu seiner Erkenntnis imstande ist. Der menschlichen Vernunft sei allein die Vernunft zugänglich, weshalb man diese als immanentes Prinzip in die Weltgeschichte einzusetzen und aus ihr heraus deren Gang zu bestimmen habe.677 G. W. F. Hegel behauptete, ein Weltgeist entfalte sich sowohl in der Natur als auch in der menschlichen Geschichte:678 in der Natur, indem er durch gesetzmäßige Entwicklung des keimhaft Vorhandenen einen ständigen Kreislauf ­produziere; in der menschlichen Geschichte, indem er ständig Neues hervorbringe, das zwar keimhaft bereits angelegt sei, jedoch durch das Bewusstsein und den Willen des Menschen erst herausgearbeitet werde. Es sei somit ein „Gedanke der Vernunft, dass … es in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei“679, weshalb sie „die Darstellung des Geistes sei, wie er sich das Wissen dessen, was er an sich ist, erar­ beitet“, und weshalb ihr Fortschritt „der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit [ist] – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben“680. Moderne: Hegels Fortschrittsoptimismus verfiel im vergangenen Jahrhundert. Gründe waren nicht zuletzt die Erfahrungen aus zwei Weltkriegen und die Gräuel von Nationalsozialismus, Faschismus und Bolschewismus, die weder in Gott noch im Weltgeist ihren Urheber haben konnten. Was übrig blieb, war allein das Prinzip ‚Hoffnung‘ – Hoffnung auf einen „Trieb zur Perfektibilität“, der wie überall so auch in der Menschheit waltet. Hegel hatte den Trieb nicht der menschlichen Natur, son­ dern dem Weltgeist zur Verwirklichung überlassen.681 Immanuel Kant dagegen hatte seine Verwirklichung als „die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur“ postu­ liert682 und geglaubt, diesen Plan zumindest als eine Hypothese setzen zu dürfen. Doch blieb zweifelhaft, ob es eines Planes für den erhofften Fortschritt überhaupt bedurfte. Konnte nicht vielmehr das naturhaft indeterminierte schöpferische Wirken sei es einzelner Persönlichkeiten, sei es ganzer Völker den kulturellen Evolutions­ prozess vorangetrieben haben und weiter vorantreiben? Wir sind bis heute über Ver­ mutungen nicht hinausgekommen und müssen uns mit einem ignoramus, wenn nicht gar einem ignorabimus zufriedengeben. Sicher ist lediglich, dass die Menschheit sich zwar bisher in keinem kontinuierlichen, von metahistorischen Determinanten be­ stimmten Prozess entwickelt hat, dass es ihr aber an ihren Höhe- und Wendepunkten niemals an freien, historisch indeterminierten und somit ‚schöpferischen‘ Entschei­ dungen einzelner Persönlichkeiten oder ganzer Völker gemangelt hat, um den Weg in die Zukunft zu finden. 677  Vgl. insbesondere I. Kant (1787) S. 612  ff.; ferner W. Dilthey (1910/1970), S. 180: „Nur was der Geist geschaffen hat, versteht er.“ 678  Zu Hegels Gleichsetzung von „Geist Gottes und Weltgeist“ vgl. K. Löwith (1962), S. 182. 679  G. W. F. Hegel (1840/1970), S. 20, ferner S. 73 f.: „Die Weltgeschichte zeigt nur, wie der Geist allmählich zum Bewusstsein und zum Wollen der Wahrheit kommt; es dämmert in ihm, er findet Hauptpunkte, am Ende gelangt er zum vollen Bewusst­ sein.“ Dazu schon oben I A 1. 680  G. W. F. Hegel (1840/1970), S.  31 f. 681  G. W. F. Hegel (1840/1970), S. 74. 682  I. Kant (1874), S. 45: Ziel des Planes sei es, „eine vollkommene Staatsverfas­ sung zu Stande zu bringen“.



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II611

Gegenwart: Heutige Forscher begreifen den Menschen als ein Wesen, in dessen ‚Biogramm‘683 die Natur eine schöpferische Ordnungskraft eingeschlossen hat, mit­ tels derer er seine Umwelt kulturell gestalten und sein eigenes Dasein nach kulturellen Normen ordnen kann.684 Dieses ‚Biogramm‘ gibt ihm die Möglichkeit, sich und seine Umwelt jederzeit kulturell weiterzuentwickeln, doch bleibt die konkrete Art der Ent­ wicklung seinem ‚Psychogramm‘685 vorbehalten, das er nur teilweise ererbt hat, wäh­ rend es großenteils epigenetisch geprägt wird. Kulturelle Entwicklungen können des­ halb aufgrund des Psychogramms ohne Veränderungen des Biogramms stattfinden und viel schneller und viel variabler ablaufen, als es aufgrund organischer Veränderungen möglich wäre. Deshalb stellt sich die ‚Kulturgeschichte‘ der Völker umso weniger einheitlich dar, je weiter die biotische Entwicklung des Menschen fortgeschritten ist und der psychischen Entwicklung umso größeren Freiraum gelassen hat.686

Was für die Kultur gilt, gilt auch für das Recht. Alle völkischen Rechtsord­ nungen haben sich zwar auf der Grundlage eines überwiegend einheitlichen menschlichen Biogramms entwickelt; aber alle haben auch aufgrund von völkischen Unterschieden in den menschlichen Psychogrammen unterschied­ liche Ordnungen hervorgebracht. So führten etwa eine starke Religiosität, ein Verlangen nach künstlerischem Ausdruck, ein Streben nach Weltoffenheit zu jeweils unterschiedlichen Reaktionen auf Veränderungen gleicher Randbe­ dingungen: Die Rechtsordnungen entwickelten sich umso religiöser, je mehr Religion, Kultus und Riten das gesellschaftliche Leben bestimmten; umso differenzierter und komplexer, je differenzierter und komplexer die völki­ schen Kulturen und ihre Mitglieder waren; und umso internationaler, je weiter die Kontakte eines Volkes sich über die Landesgrenzen hinaus er­ streckten und je internationaler das völkische Leben wurde.687 Und wenn 683  Zu diesem Begriff, der die Summe aller ererbten Verhaltensweisen einer Tierart oder des Menschen bezeichnet, vgl. E. W. Count (1958 und 1973). 684  Zu diesem ‚Lebensmechanismus‘, der im Gegensatz zum ‚Entropiegesetz‘ der unbelebten Natur steht vgl. oben Fn. 670 und unten J 5 f bb (2). 685  Der Begriff wird innerhalb der Psychologie in mehreren Bedeutungen verwen­ det und hat bisher keinen klaren Umriss erhalten. Ich verwende ihn parallel zum Begriff ‚‚Biogramm‘ als Summe aller ererbten oder durch soziale Prägung erworbe­ nen Verhaltensmöglichkeiten des (individuellen !)) Menschen. 686  Dazu A. W. Johnson/T. K. Earle (2000), p. 29 ff. und passim; P. Bohannan/ R. French (1996), p. 697 f.; R. E. Lenkeit (2012), p. 96 ff. 687  E. A. Hoebel (1968), S. 412: Die kennzeichnenden Momente der Entwicklung des Rechts „waren sein wachsender Umfang und seine zunehmende Komplexität“. G. del Vecchio (1962) S. 10: „Die bisher erreichten Forschungsergebnisse gestatten die Behauptung, dass, wie der menschliche Geist seine Kräfte und Anlagen stufen­ weise fortschreitend offenbart, wobei er nur bisweilen Verfallszeiten und Krisen aus­ gesetzt ist, ebenso das positive Recht, in seiner Allgemeinheit betrachtet, die Tendenz zeigt, immer mehr wesentliche Vorrechte der menschlichen Personen anzuerkennen. Es gibt wirklich eine Konvergenz in den Entwicklungen der Systeme der verschiede­ nen Völker, die von Natur, auch durch eigene Kraft, zur Erfassung gleichförmiger Vernunftprinzipien gelangen, während diese Tendenz erleichtert und beschleunigt

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

trotz Unterschieden in den Psychogrammen die Rechtsordnungen sich gleich entwickelten,688 dann kann man sicher sein, dass die Probleme, die mithilfe des Rechts zu lösen waren, sich aus den gleichen Randbedingungen ergaben und unumgänglich die gleichen Maßnahmen zu ihrer Lösung erforderten. Traten beispielsweise die gleichen Knappheitsprobleme auf, weil weltweit die Menge eines bestimmten Rohmaterials erschöpft war, und gab es zu die­ sem Material nur eine kleine Zahl von Alternativen, dann wichen alle Völker trotz ungleicher psychischer Veranlagung übereinstimmend auf eine dieser Alternativen aus. b) Die Soziogenese der Rechtskultur Im Folgenden werde ich versuchen, diejenigen Faktoren herauszufiltern, die übereinstimmend die Rechtsentwicklung aller frühantiken Völker voran­ getrieben haben. Insoweit stelle ich als These voran, dass die Historiogenese des Rechts zwar historisch verschieden beginnen und verlaufen konnte, ge­ netisch übereinstimmend aber von jeweils einer Sozialkultur oder einer klei­ nen Zahl angeführt wurde, der die anderen Kulturen lediglich folgten – so­ dass sie sich uns insgesamt als eine ‚orthogenetisch‘ und ‚irreversibel‘ ver­ laufene ‚Anagenese‘ darstellt. Als Folge ergibt sich, dass die den jeweils am stärksten fortgeschrittenen Kulturen folgenden Kulturen deren Entwicklungs­ schritte nur noch modifizieren, ihre Spur aber nicht verlassen konnten689 ‒ weshalb z. B. die ursprünglichen familiären, verwandtschaftlichen und Klein­ gruppen-Bindungen in allen späteren Phasen des Entwicklungsprozesses als Basis überall erhalten blieben und bis in die höchsten politischen Ämter hin­ ein als gefühlte Verpflichtung zur Meistbegünstigung der nächsten Angehöri­ gen (‚Nepotismus‘) fortwirkten.690

wird durch die wechselseitigen Einflüsse und die internationalen Vereinbarungen, die sich in immer wirksamerem Maße verwirklichen.“ Für die Neuzeit vgl. auch die Nachweise bei Ch. Henke (2010), S. 120 ff. 688  Einerseits konnten sich in einem Volk mehrere Kulturen nebeneinander und mit unterschiedlicher Geschwindigkeit entwickeln, obwohl seine Rechtsordnung identisch war und blieb. Andererseits konnten in ihm mehrere Rechtsordnungen gelten, obwohl seine Kultur identisch war und blieb – sie galten dann als Beispiele für die kulturelle Toleranz. Ein erstes Beispiel ist Indien, wo sich auf der Grundlage des Buddhismus ein zweites Rechtssystem entwickelte, das nur für Mönche und Nonnen (Vinayapiṭaka) galt und den Mitgliedern ihrer Gemeinschaften gleiche Rechte, den lokalen Gemein­ schaften Autonomie gewährte. Es war somit „fortgeschrittener als alles, was die üb­ rige Rechtsliteratur des alten und mittelalterlichen Indien, soweit sie uns erhalten ist, hervorgebracht hat“ (H. Bechert, 1997, S. 53). Ein zweites Beispiel ist Rom, wo eben­ falls mehrere Rechtsordnungen nebeneinander galten (dazu näher unten K 4 a β). 689  Dazu schon oben H 2 c dd ε und J 2 d.



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II613

(α) Der Ausgangspunkt. Dem oben B 2 aufgestellten Prüfungsschema fol­ gend werde ich die Überprüfung meiner These mit den prärechtlichen Nor­ mensystemen als frühest möglichen Anfängen einer quasi embryonalen Rechtsentwicklung eröffnen. Die weitere Überprüfung folgt dann der Ent­ wicklung des Rechts von seiner Geburt in den frühantiken Staaten bis zum ersten voll entwickelten Rechtssystem in Rom am Ende der Achsenzeit und umfasst damit sowohl die Entwicklung normativer Ordnungen zum Recht als innerhalb des Rechts – jene in den prästaatlichen antiken Gesellschaften (Epo­ chen des ‚Prärechts‘ und eines ‚Frührechts‘ innerhalb antiker Häuptlings­ schaften und Königtümer), diese innerhalb der antiken (Proto-)Staaten (Epo­ che des eigentlichen ‚Rechts‘ von Mesopotamien bis Rom). Der dabei not­ wendige Wechsel des Blicks von einer empirischen Normenordnung zur ande­ ren lässt eine geradlinig-historische Darstellung der Entwicklung zum Recht bzw. im Recht allerdings nicht zu. Gegenstand kann mithin nur eine gerad­ linig-genetische Entwicklung derjenigen historischen Normenordnungen sein, die jeweils eine ‚führende Rolle‘ gespielt haben. Deshalb habe ich in Teil II die sich zur Untersuchung anbietenden Normenordnungen historisch schon so gereiht, wie es einer wahrscheinlichen genetischen Entwicklung entspricht, und dabei nur die fortschrittlichsten Normenordnungen berücksichtigt, von denen zu vermuten war, dass die Soziogenese des Rechts gerade in ihnen eine orthogenetische Entwicklung abbildet. Lässt sich derart meine These bestätigen, dann steht allerdings die sozioge­ netische Entwicklung des Rechts der biogenetischen Entwicklung von homo an Bedeutung nicht nach,691 und wir können ebenso wie mit der einen auch mit der anderen in Zukunft rechnen. Deshalb werde ich die Frage nach dem neuzeitlichen Zwischenstand der soziogenetischen Rechtsentwicklung im letzten Abschnitt meiner Untersuchung nochmals aufgreifen (unten K 7).692 (β) Die Soziogenese eines mündlichen Prärechts und Frührechts. Am An­ fang des bisher zugrunde gelegten Zeitrahmens war homo das Mitglied klei­ ner, vom Sozialtrieb egalitär geordneter Gemeinschaften (‚Horden‘ von etwa 10 bis 80 Mitgliedern) mit lediglich ersten kulturellen Ansätzen zu einer so­ zialen Ordnung. Eine eigentlich ‚kulturelle Ordnung‘ kam erst in Gang, als 690  J. Beatty (1960, p. 36) schreibt in Bezug auf die afrikanischen Verhältnisse: „Traditionally, political office was not thought of hereditary, though it often tended to become so.“ 691  G. del Vecchio (1962), S. 14: „In seinem Ganzen statt in einzelnen Momenten betrachtet, [gibt] die Entwicklung der historischen Fakten jenem eigentlichen Sinn, der den tiefsten Grund und den letzten Zweck der Entwicklung selbst darstellt, eine gewisse, wenn auch langsame und unvollkommene Bestätigung.“ 692  Dabei wird allerdings die Warnung von J. W. Raum (1995, S. 268 f.) vor einem Übermaß an ins Kraut schießenden sozialwissenschaftlichen Evolutionstheorien zu berücksichtigen sein.

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

die Menschen aufgrund veränderter klimatischer Randbedingungen sesshaft wurden und von der aneignenden zur produzierenden Wirtschaft übergin­ gen.693 Von nun an vergrößerten sich die Gemeinschaften rapide. Zwecks Zusammenhalts organisierten sie ihren Aufbau hierarchisch, sodass Häuptlingsschaften mit manchmal weit über tausend Mitgliedern entstanden. Als auch danach die Bevölkerung noch wuchs und die Häuptlingsschaften immer enger zusammenrücken mussten, bildeten sich Königreiche, die anfangs noch in viele Untereinheiten aufgeteilt waren, nach und nach aber ein zentrales, bürokratisch verwaltetes Gefüge erhielten, sodass aus ihnen schließlich Protostaaten entstanden. Somit wies die Entwicklung insgesamt zwei Stränge auf: einen, worin aus zahlenmäßig kleinen immer größere Einheiten hervor­ gingen, und einen anderen, der aus egalitären Einheiten hierarchische Einhei­ ten und aus hierarchisch geordneten bürokratisch verwaltete Einheiten entste­ hen ließ. Dabei zeigte sich, dass nicht nur die größeren Einheiten gegenüber den kleineren mehr Anziehungskraft ausübten als umgekehrt, sondern dass auch die hierarchisch organisierten Einheiten gegenüber den egalitären eine stärkere Zentripetalkraft entfalteten.694 Vollends bürokratisch verwaltete Ein­ heiten waren für die Menschen per se attraktiv, weil sie versprachen, was ihnen damals vor allem wesentlich war: ein optimales Maß an Ordnung und Schutz. Zur Verstärkung der Ordnung wurden deshalb bei Bedarf zusätzliche soziale und politische Institutionen ins Leben gerufen: • zum einen soziale Arbeitsgruppen unter einheitlicher Leitung: zum Bau und zur Pflege von Kanälen zwecks Bewässerung des Bodens (neben oder anstelle der in­ dividuellen Zuleitung von Wasser zu einzelnen Grundstücken); zum Bau und Un­ terhaltung von Lagerhäusern zwecks Vorratsspeicherung von Lebensmitteln und Saatgut (neben oder anstelle der Anlage privater Vorräte); zum Bau und zur ständi­ gen Verbesserung von Befestigungsanlagen zwecks Schutzes gegen äußere Feinde; zum Bau und Betrieb von gemeindlichen oder religiösen Schulen zwecks Ausbil­ dung des jugendlichen Nachwuchses (neben oder anstelle der Unterweisung seitens der Eltern)695; u. a. m. • zum anderen politische Verwaltungseinheiten: zur einheitlichen Steuer- und Abga­ benerhebung; zur Aufstellung eines in der Waffentechnik geschulten und unter einheitlichem Oberbefehl stehenden Heeres zwecks Landesverteidigung oder dazu oben F 2 b. Tendenzen sind aus den Naturwissenschaften bekannt: Die Tendenz grö­ ßerer Einheiten, kleinere anzuziehen, findet sich dort als Gravitationsgesetz, wonach größere Körpermassen kleinere mehr anziehen als umgekehrt. Die Tendenz weniger gut organisierter Zustände, in besser organisierte überzugehen, findet sich dort als Gegentendenz der lebendigen Körper gegen die von physikalischen Molekülen, sich einem Zustand maximaler Gleichverteilung anzunähern (Entropiegesetz der Thermo­ physik). 695  Vgl. dazu Ch. Hallpike (1984), S. 132 f. 693  Vgl.

694  Beide



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II615 Durchführung von Beutezügen gegen Nachbarvölker (anstelle eines bewaffneten Haufens kampfesmutiger Männer); zur Ausführung von hoheitlich geleiteten Ge­ meinschaftsprojekten (z. B. zum Bau von Verteidigungsmauern oder eines Tem­ pels); zur Durchführung rechtlich geordneter Verfahren zwecks Streitbeilegung oder Streitentscheidung; zur Förderung eines geregelten Handelsverkehrs auf öf­ fentlichen Märkten; u. a. m.

Gleichzeitig mit diesen sozialen und politischen Entwicklungen vollzog sich an der Basis eine weitere, deren Ursprung im biologischen Bereich lag, nämlich in der längeren Sorge für den Nachwuchs. Schon vor homo oder jedenfalls bald nach seiner Abspaltung von den übrigen Hominiden hatten sich dafür zwei alternative Formen herausgebildet: einerseits die generelle Sorge der sozialen Gruppe für den gemeinsamen Nachwuchs, andererseits die spezielle Sorge der Eltern für ihre Kinder. Bei den Menschen verlief die Entwicklung in Richtung der zweiten Form: Aus einem möglicherweise zu­ nächst noch promiskuösen Zusammenleben696 bildeten sich einheitlich struk­ turierte Familien aus Eltern und Kindern heraus, die sich aufgrund der länge­ ren Lebensdauer der Erwachsenen und der geringeren Sterblichkeitsquote der Kinder allmählich zu mehrere Generationen umfassenden lineages entwi­ ckelten. Diese lineages verbanden sich dann ihrerseits zu weiteren blutsver­ wandtschaftlichen Verbänden: zunächst zu Sippen, die zusätzlich dem Exoga­ miegebot als einer neuen Ordnungsnorm gehorchten, und schließlich zu Clans. Der Zusammenhalt der kleineren Einheiten blieb dabei stets erhal­ ten – er war biotisch und psychisch gefestigt. Weniger gefestigt waren dage­ gen die Zusammenschlüsse zu den größeren Gentilgemeinschaften; sie be­ durften daher weiterer Festigung, um sich den zentripetalen Kräften, die von den kleineren Einheiten ausgingen, entgegenstemmen zu können. Diese Fes­ tigung erstand ihnen – kulturschöpferisch, aber noch prärechtlich – in einem alle Mitglieder beseelenden Geist, dem Totem. Man stellte es sich entweder als Tier oder als Pflanze vor, manchmal auch als unbelebten Gegenstand; man trug es in sich, identifizierte sich mit ihm oder war sogar auf eine mys­ tische Weise dieser Gegenstand. Sippen und Clans waren infolgedessen ebenfalls Tiergeschlechter o. ä., d. h. sie leiteten ihre Herkunft naturalistisch von einem Ahn ab, der seinerseits in mythischer Zeit auf mystische Weise von einem Totem abstammte, jenseitig noch fortlebte und von den Lebenden kultisch verehrt werden musste. ‚Ahn‘ war meistens, wer bereits zu Lebzeiten einen hohen Status innehatte (z. B. als Häuptling oder Priester), nach seinem Tode aber einen noch höheren erreichte. ‚Urahn‘ war der Begründer einer Gentilgemeinschaft. Seine Persönlichkeit war umso mythischer, je länger er tot war, seine Macht umso größer, je näher er dem Ursprung allen Lebens war, sein Prestige umso höher, je reicher er einst war und je mehr Nach­ kommen er hatte, auf die er seinen Reichtum vererben konnte. Denn „individuals that 696  Siehe

dazu oben F 3 β.

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

expend time and energy to accumulate property, social status, knowledge, and so forth will leave greater genetic representation in future generations if such wealth can be left to individuals with close genetic relationships and used to increase the repro­ ductive success of those relatives“697. Schließlich konnte er auf diese Weise sogar zum ‚Gott‘ werden. Der ihm geschuldete Kult erweiterte dann den Zusammenhalt der Sippen- und Clanangehörigen in die übernatürliche Sphäre und diente gleichzeitig als dessen Legitimation.698

Mit diesen sozialen, politischen und verwandtschaftlichen Entwicklungen war anfangs eine pränormative und später eine zwar normative, aber immer noch prärechtliche Entwicklung verbunden. Sie resultierte aus den energeti­ schen Kräften, die das soziale Zusammenleben ordneten und sich mit der Zahl interagierender Mitglieder verstärkten: Anfangs agierte eine kleine An­ zahl von Mitgliedern noch auf eine nahezu beliebige Weise miteinander. Später bildeten sich aus einer größeren Zahl interagierender Mitglieder ge­ wisse ‚patterns‘ heraus. Diese durchzogen schließlich das Gesamtsystem ei­ ner Gemeinschaft, bestimmten als ‚Brauchtum‘ ihre Ordnung und wurden als verpflichtende Informationen an hinzukommende Mitglieder weitergegeben. Ferner entwickelten sich infolge der weiteren Vergrößerung der Gemein­ schaften und nunmehr gesteuert durch erkenntnisleitende psychologische Gesetze (‚Gestaltgesetze‘) rollentypische Verhaltensformen heraus, die all­ mählich als ‚gute Sitten‘ zu Normen für ‚richtiges‘, d. h. Ordnung bewahren­ des, Verhalten verstärkt wurden, wobei man sich zur Begründung meistens auf metaphysische Quellen berief. Diese Quellen waren etwa im indischen Raum das kosmische (hinduistische) dharma, im griechischen Raum die auf göttlichen Ursprung hinweisenden699 θέμιστες, im römischen Raum schließ­ lich das der menschlichen Vernunft entstammende (und daher vom fas streng geschiedene) ius. Daraus ergaben sich nacheinander unterschiedliche Vorstel­ lungen erstens von einer traditionell übermittelten kosmischen Ordnung, zweitens von einer göttlich offenbarten Sollensordnung und drittens von ei­ ner originär menschlich erzeugten Rechtsordnung. Die erste (kosmische) Ordnung war prärechtlich. Die zweite (göttlich offenbarte) Sollensordnung setzte bereits den Menschen als gläubigen Empfänger und daher Miturheber eines Frührechts voraus. Die dritte aus menschlicher Vernunft hergeleitete Ordnung schied die Mitwirkung höherer Mächte am Recht aus und stellte das Recht stattdessen als vom (als vernünftig vorgestellten) Willen eines Volkes oder vom Befehl eines (Vernunft für sich in Anspruch nehmenden) Imperators geschaffen dar. Sein äußerer Schöpfungsakt konnte entweder eine Schrifturkunde oder eine Verkündung sein (ius scriptum oder non scriptum) bzw. geschriebene oder verlautbarte Gesetze (ἔγγραφοι oder ἄγραφοι νόμοι), 697  D. S. Judge

(1996), p. 650. M. Fortes (1965); ferner R. Feustel (1986), S. 255. 699  Homer, Od. 2 68. 698  Vgl.



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II617

wobei in früherer Zeit die vom Volk herrührenden ungeschriebenen Gesetze als Gewohnheitsrecht das soziale Leben bestimmten, während später die staatlich proklamierten Gesetze in den Vordergrund traten.700 Wiederum war es aber so, dass die älteren Möglichkeiten aufgrund der neueren niemals aufgegeben oder auch nur vollständig verdrängt wurden; sie traten vielmehr im Bewusstsein lediglich zurück, begründeten die Richtigkeit eines ‚vernünf­ tigen‘ Rechts aber dort, wo dieses sich zur Stützung seiner Verbindlichkeit auf legitimierende Quellen berufen musste. (γ) Die Soziogenese eines verschrifteten Rechts können wir historisch ziemlich genau verfolgen. Studienobjekt kann allerdings nicht eine konkrete Rechtsordnung sein; denn das Recht entwickelte sich aus unterschiedlichen Sittenordnungen, seine Ordnung wurde deshalb überall unterschiedlich auf­ geschrieben. Studienobjekt muss ein aus den hier untersuchten Rechtsord­ nungen abstrahierter Kerninhalt sein: als überpositive Ordnung der sozialen Lebensverhältnisse (materielles Recht) und als überpositive Regelung des Streits über deren Inhalt (formelles Recht). Die meisten Protostaaten haben noch ausschließlich oder fast ausschließlich unter der Herrschaft eines mündlich tradierten Gewohnheitsrechts gelebt. Dieses konnte dem Wechsel der ökologischen und sozialen Verhältnisse leicht angepasst werden und war deshalb ein flexibles Instrument. Schon deshalb war die Vorherrschaft eines ge­ schriebenen Rechts das Ergebnis einer relativ späten Entwicklung, wo es mehr auf die Sicherheit als auf die Beweglichkeit der rechtlichen Ordnung ankam.

(αα) Ich betrachte zunächst die Soziogenese des materiellen Rechts, und zwar jeweils getrennt nach dessen Bewertungs- und Bestimmungsfunktion. (1) Die Bewertungsfunktion des Rechts (rechtmäßig vs. rechtswidrig) weist in allen hier untersuchten frühantiken Sozialordnungen eine stetige Vermeh­ rung ihres äußeren Umfangs und regelmäßig auch eine Verfeinerung ihres Differenzierungsgrades auf. Allerdings bedeuten Umfangsvermehrung und Differenzierungsgrad für sich allein noch nicht, dass die Rechtsordnungen im Gleichschritt mit den Sozialordnungen sich (‚anagenetisch‘) höher entwickelt haben; denn sowohl ihr Umfang als auch ihr Differenzierungsgrad können damit zusammenhängen, dass man einen immer größeren Anteil der bisher mündlich tradierten Normen aufschrieb, weil andernfalls ‒ z. B. infolge der Größe der Staaten oder der Häufigkeit gerichtlicher Verfahren ‒ eine Rechts­ zersplitterung gedroht hätte. Soziogenetisch entscheidend ist vielmehr dreier­ lei: (a) ob das geschriebene Recht die Geltung des ungeschriebenen Rechts allmählich überlagerte (und somit verdrängte): (b) ob es sich auf bisher 700  Dies war in Rom schon allein bedingt durch die Größe des Reiches, die zu­ nächst die eroberten Provinzen, später auch die Comitien des römischen Volkes von der Gesetzgebung ausschloss und diese auf den Senat bzw. auf den Princeps überge­ hen ließ.

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

recht­lich nicht erfasste Bereiche des sozialen Lebens ausdehnte; (c) ob es eine gegenüber dem mündlichen Recht einerseits stärker typisierte, anderer­ seits präzisere inhaltliche Fassung erhielt – kurz: ob es das soziale Leben nicht nur stärker, sondern auch exakter ‚in die Zange‘ nahm. •• Nachweisen lässt sich eine solche Entwicklung in Mesopotamien. Die geschriebenen Gesetze, angefangen von den (sumerischen) Leges Urnam­ ma (21. Jh.) über die (akkadischen) Leges von Ešnunna (19. Jh) bis hin zum (babylonischen) Kodex Hammurapi (18. Jh.), entwickelten immer exaktere Regelungen für immer weitere soziale Bereiche und bewiesen somit das Vordringen der schriftlichen Rechtskultur zulasten der mündli­ chen. Die Leges Urnamma behandelten beispielsweise in den §§18–22 zusammenhän­ gend als Körperverletzung nur (l) das Abschneiden eines Fußes mit einem Messer, (2) das Brechen eines Knochens mit einer Keule, (3) das Brechen der Nase mit einem Ringer-Haken, (4) das Brechen eines Knochens mit [?], (5) das Schlagen einer Tochter, sodass deren Leibesfrucht abgeht und (5) das Schlagen einer Skla­ vin, sodass deren Leibesfrucht abgeht. Die Leges Ešnunna erweiterten in §§ 42–47 diesen Regelungsbereich u. a. durch ihre Abstraktion vom Tatmittel. Körperverlet­ zung war für sie (1) das Abbeißen von Nase oder Ohr sowie das Ausschlagen eines Auges oder eines Zahnes und der Backenstreich, (2) das Abtrennen eines Fingers, (3) das Niederschlagen eines Bürgers auf der Straße, wenn diesem die Hand bricht, (4) das Brechen eines Fußes, (5) das Schlagen und Brechen von [?], (6) das Ab­ schürfen der Haut bei einem Streit. Der Kodex Hammurapi schließlich behandelte die Körperverletzung in §§ 195–214 noch eingehender und vor allem hinsichtlich des sozialen und des personalen Unrechts detaillierter und differenzierter: (l) der Sohn schlägt den Vater; (2) ein Bürger zerstört das Auge eines anderen, (3) ein Bürger bricht einem anderen (irgend)einen Knochen, (4) ein Palastangehöriger ist das Opfer von 2 oder 3, (5) ein Sklave ist das Opfer von 2 oder 3; (6) ein Bürger schlägt einem Gleichgestellten einen Zahn aus, (7) ein Palastangehöriger ist das Opfer von 6; (8) ein Bürger versetzt einem Höhergestellten einen Backenstreich, (9) ein Gleichgestellter ist das Opfer von 8, (10) ein Palastangehöriger ist Täter, ein anderer Opfer von 8; (l1) ein Sklave ist Täter von 8; (l2) ein Bürger verwundet einen anderen versehentlich701 bei einer Rauferei, (13) das Opfer von 12 stirbt, (14) das sterbende Opfer ist ein Palastangehöriger; (15) ein Bürger verursacht durch Schläge bei einer Bürgerstochter eine Fehlgeburt, (l6) die Tochter stirbt, (17 und 18) die Sterbende ist die Tochter eines Palastangehörigen, (19 und 20) die Sterbende ist eine Sklavin.702 Der Unterschied des Kodex Hammurapi gegenüber den Leges Urnamma liegt demnach erstens in der sorgfältigen Beachtung der Stan­ desunterschiede und zweitens (insoweit auch gegenüber den Leges Ešnunna) in der 701  Vgl. CH § 206: „Der Bürger soll schwören: ‚Ich habe nicht mit Absicht ge­ schlagen‘.“ 702  Es folgen noch Vorschriften über die ärztliche Heilbehandlung sowie über die Verursachung des Todes oder des Verlustes eines Auges durch den operierenden Arzt (CH §§ 215–223).



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II619 deutlicheren Unterscheidung von Situationen, welche Unvorsätzlichkeit hinsicht­ lich des qualifizierenden Erfolges vermuten lassen

•• Der Entwicklung in Mesopotamien entsprach diejenige in Israel. Die Nor­ men des 2. Buches Mose (‚Exodus‘) enthielten noch knappe apodiktische oder kasuistische Normen ohne jede Begründung. Die etwa 200 Jahre jüngeren Normen des 5. Buches Mose (‚Deuteronomium‘) gaben sich da­ gegen weitschweifig und waren mit Erklärungen oder Begründungen ver­ sehen, um auch rationalen Überlegungen standzuhalten.703 •• Aus Ägypten ist von Gesetzen weder zur Zeit des AR noch des MR etwas bekannt. Dagegen entwickelten sich schon bald nach der Erfindung der Schrift704 verschiedene Typen von Urkunden mit rechtlichem Inhalt: kö­ nigliche Dekrete (wḏ-njswt), völkerrechtliche Verträge, private Verfügun­ gen seitens hochstehender Persönlichkeiten (etwa staatlicher Funktionäre). Während der Inhalt der ersten Urkunden, abgefasst in Hieroglyphenschrift, schon wegen des verwendeten Substrats (Stein oder Ton) äußerst knapp gehalten war, äußerten sich die auf Papyrus in hieratischer Kursivschrift mit Tinte geschriebenen Dokumente ausführlicher. Ein besonders reiches Formularwesen erblühte dann nach der Entwicklung der demotischen Ge­ brauchsschrift (1. Jt.), deren bequeme Verwendung zur Weitschweifigkeit geradezu verleitete. Inhaltlich handelten die jetzt in Umlauf gesetzten Ur­ kunden von Kauf, Pacht, Darlehen und von anderen Rechtsgeschäften, die man klar voneinander abgrenzte, ohne sie deshalb einem numerus clausus zu unterwerfen. Die aufgefundenen Privaturkunden enthalten meist Verfügungen über Vermögens­ gesamtheiten, doch kommen auch sonstige Verfügungen oder vertragliche Abma­ chungen vor.705 Eine Entwicklung des materiellen Rechts lässt sich daraus aller­ dings mehr vermuten als erkennen. Die älteste Form war offenbar die einseitige Verfügung von Standespersonen über Teile ihres Vermögens (wdt-mdw). Die Ver­ fügung bestand in einer vor Zeugen abgegebenen, auswendig vorgetragenen feier­ lichen Erklärung. Die Beurkundung war für die Rechtsänderung nicht konstitutiv, sondern diente lediglich dem Beweis; eine Überlagerung des mündlichen Rechts­ akts durch dessen schriftliche Dokumentation ergibt sich hieraus also nicht. Die mündliche Erklärung stand auch später noch im Vordergrund, als sie von einem 703  Vgl. zu den verschiedenen Stilgattungen in der Thora A. Jirku (1927), S. 22 ff. und passim. 704  Man nahm bis vor Kurzem an, dass die Schrift Ende des 4. Jt.s in Sumer er­ funden wurde und dass die Erfindung von dort nach Ägypten gewandert sei. Neueste Entdeckungen in Abydos lassen indessen den Schluss zu, dass die Ägypter schon vor den Sumerern ein ausgebildetes Schriftsystem besaßen und dass sie dieses ziemlich gleichzeitig mit der Staatsgründung entwickelt haben. 705  Außerhalb des privatgeschäftlichen Beurkundungswesens wurden Steuerzahlungen urkundlich erfasst sowie Register angelegt, aus denen man u. a. die Verteilung des Grundbesitzes ersehen konnte.

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

staatlichen Schreiber beurkundet wurde – was wahrscheinlich nur geschah, wenn eine Person hohen Ranges über ihr Vermögen verfügte. Erst als eine größere An­ zahl von Schreibern zur Verfügung stand, wurde die feierliche Beurkundung durch ‚Hausurkunden‘ (jmjt-pr) verdrängt, die einseitige, jedoch ohne formelle Zeremo­ nie vor einer Behörde mündlich erklärte und formularmäßig erfasste Verfügungen enthielten. Frühestens von jetzt an überlagerte also das schriftliche Recht das mündliche. Verfügen konnte jeder Hausherr und jede Hausherrin, ohne dass es auf ihren Stand ankam; durch die Verfügung begünstigt werden konnten allerdings nur (rangniedere) Sippenangehörige.706

•• Das frühe Indien scheidet für die Entwicklung materiellen Rechts mithilfe der Schrift weitestgehend aus, da das Land keine Schriftkultur entwickelte und sich Teile der kulturell führenden Schicht, die Brāhmanen, sogar de­ ren Einführung widersetzten. Deshalb konnte sich die Entwicklung nur im Bereich mündlicher Rechtsakte vollziehen. Das erste auf uns überkomme­ ne, vermutlich im 2. Jh. v. u. Z. geschaffene Rechtsbuch (dharmaśāstra) des Manu Svāyambhuva enthielt nicht etwa eine urkundliche Sammlung von Rechtstexten, sondern eine – teilweise in sich widersprüchliche – Kompilation von zwar auch rechtlichen, vor allem aber religiösen und moralischen Regeln, die wahrscheinlich aus älteren brāhmanischen Samm­ lungen stammten.707 Letzthin verhinderten daher die vedische Religion und der Mangel einer einheitlichen Schrift (Einführung frühestens im 2. Jh. v. u. Z.) jede zusammenfassende Rechtsgesetzgebung.708 Die Annahme gleichwohl vorhandener frühester indischer Einflüsse bis hin zum in Rom vollendeten Recht muss sich daher auf einige übereinstimmende linguistische Beziehungen für rechtsrelevante Institutionen stützen. Insbesondere fehlt es an ­einer nachweislichen oder nur zu vermutenden phylogenetischen Verkettung des ­indischen Rechts mit den altägyptischen und altmesopotanischen Rechten.

•• Im Gegensatz zu Indien schufen in China die Legalisten im 1. Jt. v. u. Z. ein umfangreiches Rechtssystem. Es wies einen hohen Differenzierungs­

706  Beispiel einer Schenkung unter Lebenden: „Hausurkunde, die gemacht hat der Phylenobmann,

des Intef Sohn Meri, zu dem man Kebi sagt, für seinen Sohn, des Meri Sohn Intef, zu dem man Iuseneb sagt: Ich gebe hiermit meine Phylenobmanns(position) an meinen Sohn, … da ich alt gewor­ den bin. Veranlasse, dass er sofort eingesetzt wird! … Hinsichtlich meines Hauses, das im dƷtt-Bezirk … gelegen ist: Es sei mit allem, was darin ist, für meine Kinder, die mir geboren sind von der Tochter des … Nebet-Neninisut.“ Es folgt eine Liste von drei Zeugen, welche die Verfügung vernommen haben. 707  Siehe dazu G 2 ε bei Fn.  439 f. 708  Selbst noch, als im 18. Jh. u. Z. die Briten das genuine Hindu-Recht aufzeich­ nen wollten, stießen sie nur auf eine amorphe Masse von Sitten- und Rechtsnormen, sodass ihnen deren Aufnahme in ein einheitliches Gesetzbuch unmöglich erschien. Sie führten daher ihr eigenes Recht in Indien ein. Vgl. dazu B. S. Cohn (1989).



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II621

grad auf, infolge der verwendeten ideographischen Schrift709 aber nur ein geringes Abstraktionsniveau, weshalb es insgesamt einer riesigen Samm­ lung von gerichtlichen Einzelentscheidungen ähnlicher sah als einem Ge­ setzbuch. Beispielsweise wurden im Eherecht unzählige Ehehindernisse ausführlich darge­ stellt, ohne dass leitende Prinzipien für die Anordnung sichtbar sind.710 Innerhalb des Strafrechts gab es ebenfalls eine Unzahl von Delikten, die nicht nach übergrei­ fenden Kriterien geordnet waren und sich großenteils untereinander kaum unter­ schieden.

Fazit: Trotz der Lückenhaftigkeit des schriftlichen Materials kann man m. E. festhalten: (1) dass die Bewertungsfunktion des Rechts sich in den frühantiken Staaten zwar auf immer weitere soziale Bereiche erstreckte und dass diese Entwicklung vor allem durch die Schrift vorangetrieben wurde, weil vor allem sie eine allgemeine Gesetzgebung über Land und Leute er­ möglichte; (2) dass es jedoch keinem der antiken Staaten vor den griechi­ schen und dem römischen gelang, das rechtliche Material in die Bewertung leitende Systembegriffe zu fassen und es nach spezifisch juristischen Ge­ sichtspunkten zu gliedern oder gar einer wissenschaftlichen Bearbeitung zu unterwerfen. All dies wurde erst in Griechenland möglich und verstärkt erst in Rom verwirklicht. (2) Ich komme zur Bestimmungsfunktion des Rechts. Sicher ist, dass die Stärkung der rechtlichen Bewertung durch ihre Verschriftung auch die sozi­ ale Ordnung stärkt und dem Recht infolgedessen Leben einhaucht, es ‚leben­ dig‘ macht.711 Doch während die rechtliche Bewertung in geschriebenen Gesetzen und Urkunden Gegenstand rechtsgeschichtlicher Forschung werden kann, schlägt sich das Ausmaß der Bestimmung des sozialen Lebens durch das Recht kaum irgendwo dauerhaft nieder ‒ und das hat zur Folge, dass sie, was die ferne Vergangenheit anbetrifft, der soziologischen (bzw. sozialpsy­ chologischen) Erforschung weitestgehend entzogen bleibt. Will man sich deshalb nicht einfach mit der Vermutung begnügen, dass die Bewertung des sozialen Lebens durch geschriebenes Recht Maßstab auch für dessen Bestim­ mung durch das Recht ist, wird man sich entweder an die Menge der Urkun­ den halten müssen, die von der Bestimmungswirkung des Rechts Zeugnis

oben H 2 d aa. dazu H. Engelmann (1928), S. 207 ff. 711  Schon bei R. von Jhering (1907/1993), S. 49), heißt es: „Was sich nicht reali­ siert, ist kein Recht… Die Wirklichkeit beglaubigt erst den Text, den das Gesetz oder eine andere Formulierung des Rechts aufstellt, als wahrhaftes Recht, sie ist mithin das einzige sichere Erkenntnismittel desselben.“ Später hat E. Ehrlich (1913) diese Erkenntnis zur Lehre vom „lebenden Recht“ (im Gegensatz zum „geltenden Recht“) ausgebaut. Vgl. auch H. Kelsen (1960), S. 215 ff. 709  Vgl. 710  Vgl.

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

ablegen, oder an zeitgenössische Berichte, die über die Rechtstreue der Be­ völkerung Auskunft geben. Urkunden über Verträge und sonstige Rechtsgeschäfte, deren Beurkundung entweder vom Recht vorgeschrieben war oder von den Vertragschließenden wegen ihrer besonderen Bedeutung veranlasst wurde, gibt es in Fülle, ebenso in den Schreibstuben hierfür entwickelte Formulare: Ehe- und Erbschaftsver­ träge, Verträge über den Kauf von Gebäuden, Grundstücken, Sklaven, grö­ ßere Mengen von Feldfrüchten etc., ferner über die Pacht von Grundstücken, Aufnahme von Darlehen u. a. m. Mittelbar ist ihre Zahl somit ein gutes Indiz für die Bedeutung des Rechts. Eine Zusammenstellung sieht in etwa so aus: • Aus Mesopotamien sind viele Rechtsurkunden auf uns überkommen. Die ältesten stammen aus altsumerischer Zeit (bis ca. 2350 v. u. Z.), vermehrt liegen sie uns vor aus neusumerischer (bis ca. 1950 v. u. Z.) und aus Babylonischer Zeit. Die meisten Rechtsurkunden aus altsumerischer Zeit beinhalten Darlehensverträge, eine weitere große Gruppe bilden Kaufurkunden über Sklaven, Tiere, Grundstücke und Dattel­ palmen, seltener sind dagegen Urkunden über Miete und Pacht. Was die Bewertung des Materials anbelangt, bleibt zu bedenken, dass im täglichen Leben infolge der hohen Bedeutung der Haus-, Tempel- und Palastwirtschaft Verträge insgesamt nur eine geringe Rolle spielen konnten. Gerade deshalb rechtfertigt das Material aber die Vermutung, dass das Recht, ob in Gesetze gegossen oder nicht, sowohl in Su­ mer als auch in Babylon eine erhebliche Rolle spielte und dass der Wille der Herrscher, soweit er in Gesetzen oder Urteilen Ausdruck fand, im Alltag auch umgesetzt wurde.712 • In Ägypten verhinderten die vorherrschende Hauswirtschaft und der geringe Um­ fang des Handels von vornherein die Ausbreitung eines regen über den unmittelba­ ren Leistungsaustausch hinausgehenden Rechtsverkehrs. Auch spielte eine Rolle, dass es ägyptischem Rechtsdenken widersprach, einen Leistungsaustausch als rechtswirksam zu betrachten, ohne dass beide Parteien geleistet hatten, sodass an die Stelle von Urkunden über obligatorische Verträge allenfalls Scheinprozesse ei­ ne rechtliche Bindung herbeiführen konnten – weil dann die wechselseitigen Leis­ tungen vom Gericht urkundlich festgestellt wurden. Hierüber sind zwar einige Urkunden vorhanden, deren Zahl lässt aber keinen Schluss auf die Häufigkeit von Verfügungen mit sachenrechtlicher Bindung zu. Nun waren rechtlich bindende Verfügungen allerdings außerdem aufgrund der schon erwähnten ‚Hausurkunden‘ möglich, die von einer Behörde formularmäßig aufgenommen wurden. Doch auch insoweit ist die Zahl der frühen Urkunden erst nach der Erfindung der hieratischen Kursivschrift etwas größer und nochmals größer nach der Entwicklung der demo­ tischen Gebrauchsschrift (1. Jt.). Der Schluss, dass außer der erleichterten Mög­ lichkeit der Beurkundung auch die Zahl der Rechtsgeschäfte kontinuierlich anstieg, ist daher zwar möglich, aber weder als wahrscheinlich nachweisbar noch gar zwingend. • Für Indien fehlt es uns schon deshalb an Rechtsurkunden aus der Frühzeit bis ca. 200 v. u. Z., weil das kulturelle Leben sich, um Geltungswirkungen zu erzeu­ 712  Vgl.

auch W. Preiser (1969), S. 33 ff. m. Nachw.



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II623 gen, nicht der Schrift, sondern festgelegter Rituale bediente. Zutreffend meint da­ her R. W. Lariviere, „that there are no contemporaneous references which can help us to establish the chronology of these ideas, nor is there admission that custom and practice changes and evolved over time“713.

• In China gehörte der Abschluss rechtlich bindender Verträge dagegen bereits in der West-Zhou-Zeit offenbar zum Alltag. Urkundlich bestätigt sind Tausch- und Kauf­ verträge über bewegliche Sachen (Vieh, Seide, Holz, etc.) und Sklaven, ferner Kauf- und Pachtverträge über Grundstücke714 sowie Dienst-, Miet- und Darlehens­ verträge. Zahlreiche Vertragsdokumente wurden in Gräbern aus der Hàn-Zeit ge­ funden. Die damaligen Landveräußerungsverträge715 weisen ungeachtet ihrer Her­ kunft aus weit auseinanderliegenden Regionen einen weitgehend übereinstimmen­ den Aufbau auf, der auf eine feststehende Rechtstradition hindeutet. Mit ein Grund für die Beurkundung war sicherlich auch, dass alle Verträge mit ihrem Abschluss rechtlich bindend waren und dass mit ihrer Durchsetzung in der West-Zhou-Zeit königliche Beamte,716 zur Hàn-Zeit staatliche Behörden befasst waren,717 die sich dabei naturgemäß auf schriftliche Beweise für den Vertragsschluss stützen muss­ ten. • Für Griechenland fehlt es erstaunlicherweise an zeitgenössischen Berichten über das Rechtsleben, und weder anthropologische Theorien noch empirische Studien geben Auskunft oder bilden einen Ersatz.718 Lediglich die umfassende Bürgerbe­ teiligung an der Rechtsprechung in Athen deutet darauf hin, dass das Recht im Volke (zumindest in seinem männlichen Teil) verankert war. Im Übrigen waren die Gesetze der Stadtstaaten, soweit wir sie kennen, „betont volksnah, für jedermann einsehbar, eindeutig, unmissverständlich“ gehalten.719 Und da Schreiben und Le­ sen in den Schulen gelehrt wurden, wird man annehmen dürfen, dass eine Bevöl­ kerung, die die Rechtsgesetze lesen konnte, sie auch las. Urkunden stehen uns aus dem 5. und 4. Jh. v. u. Z. zur Verfügung. Sie wurden meistens in Schreiberstuben formularmäßig erstellt, was auf ihre weite Verbreitung hindeutet.720 Eheverträge sind nicht darunter, wahrscheinlich weil die Rechtslage innerhalb der einzelnen Stadtstaaten allen Bürgern geläufig war. Häufig kommen dagegen Kauf-, Pachtund Darlehensverträge sowie Testamente vor. Dennoch gibt die Zahl der überkom­ menen Urkunden keinen eindeutigen Hinweis auf eine Entwicklung innerhalb eines ‚lebendigen Rechts‘. • Aus dem antiken Rom wissen wir, dass man im Rechtsleben die aus Hellas stam­ mende721 Schrift nur selten gebrauchte, weil die Gültigkeit von Rechtsgeschäften 713  R. W.

Lariviere (1997), S. 98. und Verkäufe von Land waren während der West-Zhou-Zeit wegen feh­ lenden privaten Grundeigentums noch nicht möglich (vgl. R. Felber, 1973, S. 101 ff.). 715  H. T. Scogin (1990), p. 1341 ff. 716  H. G. Creel (1970), p. 193. 717  A. F. P. Hulsewé (1978), p. 16. 718  L. Foxhale (1996), p. 140; ferner J. Bleicken (1994), S. 351 ff. 719  H.-J. Gehrke (1995), S. 25 ff., 29. 720  H. J. Wolff (1953), S. 47 ff. 721  Zur Entwicklung vgl. L. Wenger (1953), §§  38 f. (S.  102 ff.). 714  Käufe

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kaum jemals davon abhing, und wenn, dann hauptsächlich bei Rechtsgeschäften hellenistischen Ursprungs.722 Ursprünglich war daher fast alles Recht mündliches Spruchrecht, gebunden an das Sprechen fester (von den patrizischen Priestern auf­ bewahrter und weitergegebener) Formeln. Dieser Formalismus verhinderte das tiefere Eindringen des Rechts in das soziale Leben. Selbstverständlich litten unter der allgemeinen Rechtsunsicherheit insbesondere die Plebejer. Als daher ihre Rechtsunkenntnis in den Zeiten politischer Wirren dem Rechtsmissbrauch der Pat­ rizier Vorschub leistete, setzten sie dessen Aufzeichnung und Veröffentlichung auf den XII-Tafeln durch und erreichten damit, dass auch jedes weitere neue Recht schriftlich niedergelegt wurde. Allerdings blieb auch danach die Rechtskunde noch über ein Jahrhundert das Vorrecht der patrizischen Priesterschaft. Erst als es den Plebejern gelang, in das Pontifikalamt einzudringen, konnten sie das Recht zur Angelegenheit des ganzen Volkes machen. Die Klageformeln wurden nunmehr in Buchform veröffentlicht (ius Flavianum), und der erste plebejische Vorsteher des Pontifikalkollegiums erklärte sich darüber hinaus bereit, jedermann Auskunft auf rechtliche Fragen zu erteilen. Das war gleichzeitig der Anfang eines öffentlichen Rechtsunterrichts, der sich danach in der Gründung von Rechtsschulen fortsetzte und dort auch der Rechtswissenschaft als theoretischer Durchformung des Rechts eine Heimstatt gab.

Fazit: Zwar ist in keinem der hier untersuchten Protostaaten (außer viel­ leicht in Rom) das Recht zu einem dominierenden Faktor im sozialen und politischen Leben geworden. Doch hat überall, wo wir Umschau halten, das Recht im sozialen Leben eine Rolle gespielt. Die Belege über das Ausmaß dieser Rolle sind freilich spärlich, und es ist kaum zu hoffen, dass zukünftige Forschungsarbeit viel daran ändern kann. Heute treten uns am ehesten Ver­ mögens- und sonstige Verkehrsgeschäfte als vom Recht geprägte antike Le­ bensbereiche vor Augen, vor allem weil der inner- und zwischenstaatliche Handel deren Entwicklung forderte und förderte. Und es galt offenbar damals wie heute auch das psychologische Gesetz, dass, je anonymer die sozialen Begegnungen sind, sie desto weniger von der natürlichen Neigung zur kom­ mutativen Gerechtigkeit und desto mehr von der Rechtssicherheit rechtlicher Normen profitieren. Deshalb förderte überall der Bau großer Städte nicht nur die Verschriftlichung des Rechts, sondern auch seine Bedeutung im täglichen Leben. Genaueres wissen wir allerdings nicht. (ββ) Die Soziogenese des formellen Rechts. Im Gegensatz zur Entwicklung des materiellen Rechts weist die des formellen Rechts Übereinstimmungen weniger mit den sozialen als mit den politischen Verhältnissen auf. So ging überall, wo Protostaaten entstanden, die Zuständigkeit nicht nur zur Gesetz­ gebung, sondern auch zur Rechtsprechung auf staatliche Organe über. Das änderte in der Praxis allerdings noch wenig; denn auch im Protostaat blieb 722  So etwa beim Litteralkontrakt (dazu M. Kaser, 1971, § 129). Das ‚chirographum‘, das aufgrund der Handschrift beweiskräftig war, diente dagegen nur zum Zeugnis der Abgabe einer Erklärung.



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II625

der Herrscher persönlich der oberste Gerichtsherr, und die Gerichte wurden in seinem Auftrag tätig. Doch ergab sich ein Unterschied immerhin daraus, dass der gesamte Gerichtsaufbau nunmehr zentral organisiert war.723 Ledig­ lich wo die Priester zuvor an der Rechtsfindung beteiligt waren, blieb das auch künftig so – es gab weiterhin eigene Tempelgerichte, und zumindest die Ableistung von Eiden (in Ausnahmefällen auch die Fällung von Urteilen) fand unter der Schirmherrschaft eines Gottes im Tempel statt. Eine Ausnahme machten die Athenische Demokratie und die römische Republik: In Athen wurde die Rechtsprechung zur Sache des Volkes und von Gerichtshöfen aus­ geübt, die mit Volksrichtern besetzt waren, in Athen (der Überlieferung nach) mit 501 oder 1501 Richtern in Strafsachen, mit 201 oder 401 in Zivilsachen. In Rom urteilten, solange der Staat vollständig in seinen Bürgern verkörpert war, ebenfalls Volksversammlungen (‚Komitien‘) bzw. Volksgerichtshöfe; erst später, als der Staat zur Sache des Volkes geworden war, wurde die Rechtsfindung staatlich organisiert. Ebenfalls im Gegensatz zur Entwicklung des materiellen Rechts wurde für die Entwicklung des prozessualen Rechts die Erfindung der Schrift heraus­ ragend wichtig. Das zuvor weitgehend formlose Verfahren erhielt dadurch einen wesentlich strengeren Charakter, weil seine Feierlichkeit nunmehr durch Amtlichkeit ersetzt werden konnte, was vor allem bedeutete, dass man alle wesentlichen Vorgänge (Vorträge der Parteien, Vorlage von Urkunden, Zeugenaussagen, Gerichtsurteile usw.) urkundlich festhielt. Diese Dokumen­ tationen konnten dann höheren Ortes vorgelegt und zum Gegenstand einer Überprüfung gemacht werden, sei es zwecks Kassation des Urteils, sei es zwecks Durchführung eines Verfahrens gegen einen Zeugen wegen Meineids oder gegen einen der urteilenden Richter wegen Bestechlichkeit und Rechts­ beugung. Darüber hinaus spielten von nun an auch die Beschaffung, Siche­ rung und Aufbewahrung der Urkunden eine immer größere Rolle. Zur Siche­ rung ihrer Echtheit wurden ständig neue Methoden erfunden, zur Aufbewah­ rung ganze Häuser erbaut. Das Recht erlangte dadurch, optimistisch gesehen, nicht nur in den Köpfen, sondern auch in den Archiven Bestand724 ‒ pessi­ mistisch gesehen in den Archiven statt in den Köpfen.

723  Der Gerichtsaufbau war in Zivil- und in Strafsachen gewöhnlich gleich. Er ist bereits oben G 4 i dargestellt worden. Aber während der Königshof grundsätzlich nur oberste Instanz, die Untergerichte dagegen lokale Institutionen waren, zogen die Staa­ ten grundsätzlich die gesamte Rechtsprechung an sich. 724  Für Einzelheiten sei auf die frühere Darstellung (oben H 2 d bb) verwiesen.

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

c) Die Anagenese der Rechtskultur Für die Höherentwicklung (‚Anagenese‘) des Rechts war indes nicht seine quantitative Verbreitung entscheidend, sondern seine qualitative Rückbeziehung auf die vom Rechtsdenken erzeugten Systembegriffe und auf das vom Rechtsgefühl erzeugte Gerechtigkeitsbewusstsein. Ererbte Entwicklungsträ­ ger dafür waren: in materieller Hinsicht das Bedürfnis nach reziproker Gerechtigkeit – diese beherrschte das soziale Miteinander (das ‚Geben und Nehmen‘)725, und in formeller Hinsicht das Bedürfnis nach symmetrischer Gerechtigkeit – diese beherrschte das soziale Gegeneinander (das streitige ‚Verlangen und Verweigern‘)726. Hinzuerworben werden musste ferner das Gefühl für Rechtssicherheit als höchste Steigerung des Gefühls von Ord­ nungssicherheit. (α) Rückbeziehung auf Systembegriffe. Den Beginn der Entwicklung bil­ dete demnach überall das Streben in die Breite. Vor allem das chinesische Recht zeigte den dabei auftretenden Mangel auf, der, wenn auch nicht im selben Maße, den Rechten Mesopotamiens, Ägyptens und Israels ebenfalls eigen war: Sie entwickelten sich nicht höher, weil sie den immer größer wer­ denden Rechtsstoff lediglich ‚additiv‘ sammelten, anstand ihn durch System­ begriffe ‚integrativ‘ zu erfassen. Einer der wenigen, die aus dieser Tendenz ausscherten, war der Babylonier Hammurapi. Dennoch verschmähte auch er es – sei es aus Unfähigkeit, sei es mangels Interesses –, die Mannigfaltigkeit des Konkreten der integrativen Kraft des Abstrakten unterzuordnen. Eine ei­ gentliche Rechtswissenschaft entstand dadurch nicht, vielmehr kam die Rechtsentwicklung hier wie überall schnell zum Erliegen. Die qualitative Höherentwicklung begann daher erst etwa tausend Jahre später, und zwar in denjenigen Staaten, welche die Ausbildung integrativer Zentraleinheiten bewusst vorantrieben – teils in Form von zusammenfassen­ den Rechtsinstituten, teils in Form von übergeordneten Rechtswerten. Das geschah in den griechischen Stadtstaaten und in Rom. Die Entwicklung begann in der klassischen Zeit Griechenlands. Dort ga­ ben die Stadtstaaten sich Normen (νόμοι), deren exakte Formulierung von der Rationalität der griechischen Philosophen und Naturwissenschaftler pro­ 725  Es gibt keine menschliche Gesellschaft ohne reziprokes Tauschverhalten. H. Thurnwald (1934, S. 6) bezeichnete die Reziprozität deshalb als „sozialpsycholo­ gische Grundlage allen Rechts“ (siehe auch ders., 1936). Ebenfalls sah C. LéviStrauss (1967; 1974) die soziale Sphäre des Menschen als überall durch spezifische Arten des reziproken Austausches strukturiert an. Vgl. ferner M. Mauss (1924/1990); St. Wesche (2001). 726  Es gibt auch keine menschliche Gesellschaft ohne symmetrisches Streitverhält­ nis. Wir sehen deshalb die soziale Sphäre des Menschen durch eine zwar unterschied­ liche, überall aber symmetrische Verteilung von Rechten und Pflichten strukturiert.



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II627

fitierte. Da die Normen zunächst nur grundlegende soziale Probleme betra­ fen, war ihre Zahl gering, und da die Probleme überall ziemlich gleich waren, kehrten die Normen vermutlich so oder ähnlich in allen Stadtstaaten wieder. Genaues wissen wir nicht, da uns nur wenige Bruchstücke des Rechts selbst so bedeutender Städte wie Sparta, Teben und Mykene überliefert sind. Statt­ dessen sind Ende des 19. Jh.s Teile von einem Kodex aus der kleinen kreti­ schen Stadt Gortyn aufgefunden worden,727 sodass wir wenigstens ahnen können, wie auch in anderen griechischen Städten die Gesetze aussahen. Was Athen als die kulturell wichtigste Stadt Griechenlands anbelangt, erlauben uns darüber hinaus die Schriften der damaligen Philosophen und die aufge­ zeichneten Gerichtsreden der Advokaten, das dort geltende Gesetzesrecht annäherungsweise zu rekonstruieren.728 Offenbar hatte es ein ziemlich dich­ tes Normengefüge, doch fehlten wissenschaftliche Bemühungen, seine tra­ genden Prinzipien herauszuarbeiten und zu einer in sich konsistenten Einheit zusammenzusetzen. Selbst Athen war also erst auf dem Wege zu einer Rechtskodifikation. Stattdessen nahmen sich, wie schon innerhalb der geschichtlichen Darstellung erwähnt,729 die athenischen Philosophen und Dichter des Wesens der Gerechtigkeit an. Vor allem die Schriften des Aristoteles enthalten noch heute gültige Einsichten sowohl in die abstrakte Gerechtigkeit der Rechtsgesetze als auch erste Überlegungen zur konkreten Billigkeit der (strafrechtlichen) Richtersprüche.730

In Rom sah es vor dem Justinianischen Corpus Iuris aus dem 6. Jh. u. Z. nicht viel besser aus. Dort enthielten die XII-Tafeln aus der Mitte des 5. Jh.s v. u. Z. für ein ganzes Jahrtausend fast die einzigen aufgezeichneten Gesetzesnormen. Die darin verwendeten Begriffe waren ursprünglich offen­ bar konkret verstanden worden, weil man sie zur Entscheidung individueller Rechtsfälle verwendet hatte.731 Abstrakt wurden sie erst später verstanden, und dann gestatteten sie den Gerichten, ihre Bedeutung durch (teilweise spitzfindige) Interpretation auch auf neue wirtschaftliche und soziale Gege­ 727  Vom gortynischen Recht ist auf den aufgefundenen zwölf Säulen nur etwa ein Viertel des seinerzeit geltenden Rechts (mit Normen u. a. aus den Gebieten des Fami­ lienrechts, Erbrechts, Strafrechts und Prozessrechts) erhalten. 728  Vgl. dazu oben G 3. 729  Vgl. oben G 3 ε. 730  Vgl. dazu Aristoteles, NE V 2: 1129a ff.; Rhetorik I 13: 1374a; Poetik V 103: 1137. 731  Offensichtlich entstammt ein Teil der Normen den ‚Leitsätzen‘ gerichtlicher Entscheidungen über konkrete Streitfälle, so z. B. 1 3: Weigert sich ein Beklagter wegen Krankheit oder hohen Alters, vor Gericht zu erscheinen, so „soll der Kläger ihm einen einfachen Wagen stellen. Lehnt der Beklagte dies ab, so braucht der Kläger einen gedeckten Wagen nicht zurechtzumachen.“ Die überlieferte Meinung, welche die Herkunft der Gesetze insgesamt aus Griechenland und da insbesondere von der Gesetzgebung Solons herleitet, kann demgegenüber nicht überzeugen.

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

benheiten anzuwenden.732 Doch der eigentliche Treibsatz für die Rechtsent­ wicklung waren sie nicht. Dieser lag vielmehr in den Entscheidungen der Gerichtsmagistrate,733 die nach und nach eine eigene, auf den aktuellen Be­ darf zugeschnittene Amtsrechtsordnung (ius honorarium) ausbildeten. Erstmals im 2. Jh. v. u. Z. erhoben sich hierüber auch die Anfänge einer Rechtswissenschaft, die bewusst abstrakt-generelle Rechtssätze (regulae iuris) entwickelte: Ihre Vertreter gingen zwar bei der Beurteilung eines jeden Rechtsfalles „von der lebendigsten Anschauung desselben aus, … als ob dieser Fall der Anfangspunkt der ganzen Wissenschaft wäre, welche von hier aus erfunden werden sollte“. Doch sahen sie „in jedem Rechtsfall zugleich die Regel, wodurch er bestimmt wird“734. Und damit stießen sie das Tor zu einem modernen, dem heutigen vergleichbaren Rechtsdenken auf. (β) Rückbeziehung auf die reziproke Gerechtigkeit. Stärker sinnlich als geistig geprägt war der Zugang zur reziproken Gerechtigkeit, deren Grundla­ gen schon in vorgeschichtlicher Zeit gelegt worden waren. Prärechtlich do­ minierte sie den Austausch von Gaben zwischen Verwandten und zwischen Angehörigen einer Stammesgruppe. Frührechtlich trat der Austausch von vertraglichen Leistungen zwischen nicht verwandtschaftlich verbundenen Personen hinzu; dabei verlagerte sich das geforderte Gleichgewicht von den Akten des Austauschs auf die ausgetauschten Objekte: Sie mussten in einem reziproken Wertverhältnis zueinander stehen, wobei man dieses zunächst nach dem (ökonomischen oder ideellen) Nutzen für die Beteiligten bemaß, später, innerhalb anonymer werdender Beziehungen, nach dem Marktwert.735 Für das Recht erlangte insbesondere dieses letzte Stadium Bedeutung:736 Güter und Dienstleistungen erhielten durch Angebot und Nachfrage nicht nur ihren Wert, sondern auch ihren Preis. Der alte Austausch von Gaben blieb 732  Beispiele sind die analog ‚nachgeformten‘ Rechtsgeschäfte: etwa die Entlas­ sung aus der väterlichen Gewalt (e-mancipatio), die Annahme an Sohnes Statt (adoptio), die Bestellung eines Wahlvormundes durch die gewaltfreie Frau (fiduziarische co-emptio). 733  Vgl. dazu noch unten J 6 b. Eine vollständige Neubildung war das ius gentium, das aber hauptsächlich für den Handelsverkehr mit dem Ausland gebraucht wurde. 734  F. C. von Savigny (1814), S. 30 f. 735  Vgl. dazu die Beiträge im Sammelband von K. Polanyi/C. Arensberg/H.  Pearson (1957). 736  Vgl. R. Thurnwald (1934), S. 5: „Wenn man aus allen Regelungen zwischen­ menschlicher Verhaltensweisen und deren Umrankung mit religiös-magischen Phanta­ sien den innersten Kern herauszuschälen sucht, so gelangt man zu der Erkenntnis, dass Reziprozität das ist, was die Waage des Rechts einspielen lässt, sei es als Vergel­ tung … oder (auf wirtschaftlichem Gebiet) als Erwiderung eines Geschenkes, als angemessene Bezahlung, oder (auf dem Gebiete der persönlichen Beziehungen) als Töchtertausch unter Gemeinden, als Heiratsordnung unter Gruppen, als Brautkauf … oder (im Obligationsrecht) in der Bezahlung von Kreditierungen usw.“.



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zwar daneben erhalten, hatte aber fast nur noch außerhalb rechtlich geregel­ ter Beziehungen Bedeutung.737 Im Einzelnen:738 • Die Forderung nach reziproker Gerechtigkeit hatte instinktoid für den Leistungs­ austausch innerhalb der Familie sowie der Hausgenossenschaft gegolten. Diese Gemeinschaften lebten vom ständigen Austausch unter- und miteinander, dessen Gerechtigkeit sich einerseits nach dem persönlichen Leistungsvermögen, anderer­ seits nach dem persönlichen Bedarf bemaß: Wer mehr besaß oder mehr leisten konnte, gab oder leistete mehr, wer weniger besaß oder weniger leisten konnte, gab oder leistete weniger. Umgekehrt erhielt, wer bedürftiger war, ein Mehr an Gaben und Leistungen, wer weniger Bedarf hatte, ein Weniger. Reziproke Gerechtigkeit bestand im Ausgleich von Leistungs- und Bedarfsunterschieden. Und weil sie eine Angelegenheit des Herzens, nicht kühler Berechnung war, widersetzte sie sich auch später der rechtlichen Normung.739 • Die Forderung nach reziproker Gerechtigkeit hatte ferner auch schon früher für das Verhalten im sozialen Nahbereich gegolten, etwa im Leistungsaustausch zwischen Horden- oder Stammesmitgliedern, darüber hinaus zur Begründung und Pflege (gast-)freundschaftlicher Beziehungen zu Horden- oder Stammesfremden. Wer zu Besuch kam, brachte eine kleine Gabe mit (‚Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft‘), die aber nicht als ökonomische Leistung verstanden wurde (und deshalb auch niemals in Geld bestehen durfte), sondern bei einem Gegenbesuch durch eine Gegengabe ‚vergolten‘ werden musste. Dieser Brauch beherrschte nicht nur (obwohl vor allem) die afrikanischen, sondern auch die europäischen Völker, z. B. Griechenland (Homerische Epen), Germanien (Tacitus), Island,740 und galt nicht nur für den Austausch von Sachen, sondern auch von Leistungen, z. B. für die Hilfe bei der Feldarbeit.741 Große Gaben (Geschenke) verboten sich, weil sie den 737  K.

Bücher (1926), S. 22, 61 ff., 128 f. Folgenden vgl. auch G. Vowinckel (1995), S.  113 ff. 739  Selbst unsere heutige Rechtsordnung, welche fast jedes sozialbezogene Verhal­ ten in ihre Gesetze zwingt, kommt insoweit über generalklauselartige Normierungen nicht hinaus: etwa dass „die Ehegatten einander zur ehelichen Lebensgemeinschaft verpflichtet sind“ (§ 1353 I 2 BGB) – die Rechtsprechung hat hieraus die rechtlichen Verpflichtungen zum ehelichen Verkehr, zum Zusammenleben und zur Mitarbeit in einer häuslichen Gemeinschaft hergeleitet (vgl. BGHZ in: NJW 1967, S. 1079; RGZ 53 340; BGHZ in: JZ 1960, S. 371). Der Reziprozitätsgrundsatz wird insoweit zwar mitgedacht, aber nicht ausdrücklich an- und schon gar nicht ausgesprochen. Ferner sollen die Eltern eigenverantwortlich für das Wohl ihrer Kinder sorgen (§ 1627 BGB), sie insbesondere „pflegen, erziehen, beaufsichtigen und ihren Aufenthalt bestimmen“ (§ 1631 I BGB) – auch dies indessen, ohne dass die zugehörigen Pflichten normiert werden. 740  Vgl. C. Tacitus, Germania cap. XXI, auch cap. XVIII („in vicem“); Edda, Há­ vamál, Str. 40. 741  Für das solidarische Verhalten können wir sogar mit einer subhumanen Grund­ lage rechnen. Schimpansen etwa benutzen ausgesprochen raffinierte soziale Strate­ gien der Koalitionsbildung, um persönliche Macht- oder Rangvorteile innerhalb ihrer Gruppe zu erlangen. Diese Koalitionen werden einheitlich vom Gedanken der Rezi­ 738  Zum

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

anderen in Verlegenheit gebracht hätten – insofern spielte der Wert einer Gabe unterschwellig doch eine Rolle. Auch war ein allzu freizügiges Verschenken von Familienvermögen an gute Freunde nicht erlaubt – es war unvereinbar mit der (religiös untermauerten) Pflicht, das Familiengut zusammenzuhalten. • Die Forderung nach reziproker Gerechtigkeit galt von Anfang an in den anonymen Beziehungen größerer Gesellschaften. Hier verlagerte sich der Ausgleich vom Akt­ wert des Gebens vollständig auf den Objektwert des Gegebenen, sodass eine Geld­ zahlung den Gegenwert jederzeit aufwog. Gleichzeitig entstand freilich das Pro­ blem, welche Leistung den Gegenwert gerecht aufwiegt; denn insoweit fehlte es an instinktoiden Mechanismen. Lösen konnte das Problem nur die jeweilige kulturelle Ordnung: Sie musste festsetzen, welchen Wert eine Sache oder Dienstleistung be­ saß und welcher Gegenwert erforderlich war, um sie auszugleichen. Das Maß dafür konnte dann entweder im Nutzen liegen, den der Ge- oder Verbrauch der ausge­ tauschten Sachen hatte, oder im Wert, der den ausgetauschten Sachen innewohnte, etwa aufgrund des Arbeitsaufwands, den ihre Herstellung erforderte, oder aufgrund der besonderen Geschicklichkeit, die darin zum Ausdruck kam.742 Beide Methoden versagten allerdings, wenn Angebot und Nachfrage sich nicht in etwa die Waage hielten und der Anbieter oder der Nachfrager dem Tausch zustimmte, weil er sich in einer Notsituation befand. In solchen Fällen galt ‚Not kennt kein Gebot‘: sofern die Obrigkeit nicht einschritt, konnten Anbieter oder Konsument fast jedes Gegen­ gebot durchsetzen.743 • Schließlich galt die Forderung nach reziproker Gerechtigkeit auch innerhalb von ‚abstrakten‘, d. h. aller konkret materiellen (ökonomischen) Inhalte entleerten, Verhältnissen. An die Stelle der Sachgerechtigkeit trat alsdann die formelle Gleich­ gerechtigkeit, die auf beiden Seiten des Austauschverhältnisses entweder sachlich Identisches oder persönlich Beliebiges einforderte. Da Identisches selten ausge­ tauscht zu werden pflegte – Leihe und Verwahrung sind die Hauptbeispiele –, be­ herrschte das Belieben den gerechten Ausgleich: Gerecht war, was die Beteiligten als wertgleichen Ausgleich ansahen und was sie veranlasste, den Leistungsaus­ tausch so und nicht anders vorzunehmen. Dieses ‚formelle Konsensprinzip‘ galt zum einen, wenn keine ausreichenden Anhaltspunkte für den (ökonomischen) Wert einer Leistung (beispielsweise für ein Kunstwerk) zu ermitteln waren und die Ver­ tragspartner daher ‚willkürlich‘ einen ‚Liebhaberpreis‘ festsetzen mussten; es galt zum anderen, wenn psychische Empfindungen wie Freude oder Leid zu ‚vergelten‘ prozität beherrscht: Wenn Individuum A Individuum B unterstützt, dann erwartet es, auch seinerseits von B unterstützt zu werden. Wenn Individuum C gegen Individuum D koaliert, dann muss es erwarten, dass D sich seinerseits an einer gegnerischen Koalition beteiligt (vgl. F. B. M. De Waal, 1982; idem/L. M. Lutrell, 1988). 742  K. Bücher (1926), S. 151: Am Anfang war der Gebrauchswert bestimmend, am Ende gelangte dagegen der Tauschwert immer entschiedener zur Herrschaft. 743  Der erste Fall trat ein, wenn ein eng begrenztes Nahrungsmittelangebot auf eine dem Hungertod nahe Bevölkerung traf. In diesem Fall konnten die Händler die Preise festsetzen, wie und in welcher Höhe sie wollten – sofern nicht, wie in Notzei­ ten üblich, eine höhere Macht, beispielsweise eine staatliche Behörde, in die Bresche sprang und stellvertretend entschied, was im konkreten Fall noch als ‚fairer Preis‘ gelten durfte.



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II631 waren. Solche Empfindungen ließen sich nicht mit materiellen Leistungen aufwie­ gen: Für Freude war Dankbarkeit der schönste Lohn, während Leid vor allem Mitleid herausforderte sowie die Reue dessen, der es zugefügt hatte. Falls gleich­ wohl ein Preis, z. B. ein Schmerzensgeld, gezahlt wurde, war (und ist) das für das Gefühl zwar unbefriedigend, dennoch der Folgenlosigkeit der Schmerzzufügung vorzuziehen.744

Besonderheiten galten für die Gerechtigkeit der Kriminalstrafe. Um ihre Höhe zu bestimmen, ging man dreistufig vor: Auf einer ersten Stufe stellte man fest, ob überhaupt ein Unrecht geschehen war, das nach Ausgleichung verlangte. Hierfür gab die Goldene Regel einen ersten Hinweis: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“745 Ihre Geltung als (intrasozietäre) Grundlage für den Unrechtsvorwurf wird in den ältesten Moral- und Rechtsordnungen zwar noch nicht bezeugt – wir können ihre Formulierung erst seit dem 8. Jh. u. Z. nachweisen –, dem Sinne nach wird sie jedoch vorausgesetzt. Ich nenne einige Beispiele: • Konfuzius sprach: „Tu anderen nicht, was du nicht willst, dass sie es dir tun.“ • Bei Homer schwört die Göttin Kalypso dem Odysseus: „Ich will für dich sorgen wie für mich selbst, käme ich jemals in solche Not, „καὶ γὰρ ἐμοὶ νόος ἐστὶν ἐναίσιμος …“746 • Ben Sia (Ecclesiasticus) fragt: „Wenn man dem anderen gegenüber nicht so viel Barmherzigkeit bezeugt wie gegenüber den eigenen Sünden, wie sollen diese dann vergeben werden?“747 • In Israel befahl Gott: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“748 Und in Tobias 4 16 heißt es: „Was du nicht willst, dass man dir tue, das tue einem an­ deren auch nicht.“749

744  Vgl. dazu auch G. Simmel (1907/1989), S. 482 ff. In unsrem heutigen deut­ schen Recht kommt die Verlegenheit in der Regelung des § 253 BGB zum Ausdruck, wonach eine Geldentschädigung für immateriellen Schaden „nur in den durch das Gesetz bestimmten Fällen gefordert werden kann“, ein solches Verlangen aber nur dann berechtigt und nach Billigkeitsgrundsätzen zu befriedigen ist, wenn ihm „eine Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestim­ mung“ zugrunde liegt. 745  Lateinische Fassung: „Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris!“ Ausgewählte Literaturangaben bei O. Höffe (1992). Zur neuronalen Grundlage vgl. D. W. Pfaff (2007). 746  Homer Od. 5 180 ff., 190 (J. H. Voss übersetzt den original zitierten Text: „Denn ich denke gewiss nicht ganz unbillig.“ (Genauere Übersetzung: ἐναίσιμος = vom Schicksal bestimmt, gebührend). 747  Zu den Zitaten ausführlich J. Wattles (1996), p. 15 ff., 18, 28, 45. 748  3. Mose 19 18; ähnlich 19 34. Vgl. auch Lukas 10 25 ff.; ferner Buch Tobit 4 5. 749  Vgl. auch Matthäus 7 12; Lukas 6 31.

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

• In Indien sagte Vṛhaspati: „Wer alle Kreaturen als sich selbst gleich betrachtet und sich zu ihnen wie zu sich selbst verhält, … wird Glückseligkeit gewinnen.“750 • In China übernahm der Buddhismus die Goldene Regel aus dem Hinduismus.751 Prominente gesetzliche oder gesetzesgleiche Formulierungen lassen sich jedoch dort nicht nachweisen. • In Griechenland scheint die Goldene Regel einen allgemeinen Bekanntheitsgrad erreicht zu haben. Sowohl Historiker, Philosophen, Rhetoren als auch Dichter er­ wähnen sie. So berichtet etwa Herodot von Maiandrios, den Polykrates als Verwe­ ser über Samos eingesetzt hatte, dass er nach dessen Tod auf die an sich ihm zu­ stehende Königswürde verzichtete und stattdessen die Herrschaft an die Bürger von Samos mit der Begründung übergab: „Ich will möglichst nicht tun, was ich am anderen tadle: Mir hat nicht gefallen, dass sich Polykrates als Herr aufspielte über Männer, die doch seinesgleichen waren; auch gefällt mir kein anderer, der dies versucht.“752 Einen entsprechenden Ausspruch berichtet Diogenes Laërtius vom Philosophen und Naturwissenschafter Thales: „Vermeide zu tun, was du tadeln würdest, wenn andere es täten.“753 Und Demosthenes erwähnt die Goldene Regel in einem seiner Vorworte.754 • Aus Rom schließlich ist die lateinische Fassung der Goldenen Regel überliefert: „Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris.“755 Sie warnt u. a. auf einem Grabstein den Grabschänder.756

Auf einer zweiten Stufe bemaß man die Schwere des Unrechts und ent­ schied, ob diese eine Kriminalstrafe als ausgleichende Sanktion erforderte. Dieser Vorgang setzte bereits eine klare Unterscheidung zwischen privatem und sozialem (öffentlichem) Unrecht voraus und wurde daher erst durch die Monopolisierung der Strafgewalt beim Staat, mithin in einem fortgeschritte­ nen Stadium der Rechtsentwicklung, möglich. Der Beginn dieser Entwicklung lässt sich allerdings schon in Mesopotamien und dann noch in Rom erkennen. In Mesopotamien bedeutete in ältester Zeit Buße sowohl Strafe als auch Schadensersatz. Die Leges Urnamma (21. Jh. v. u. Z.) sahen beispiels­ weise die Zahlung abgestufter Geldbußen für bestimmte Arten von (vorsätzlichen?) Körperverletzungen vor, und die etwa hundert Jahre späteren Leges von Ešnunna enthielten in §§ 42 ff. sogar ein ganzes Bußgeldverzeichnis. Wo ein Schadensersatz unmöglich oder offenbar unangemessen war, griff man auf das Talionsprinzip zurück: 750  Mahabhārata, Buch 13 (Anusasana Parva), CXIII 8: „That man who regards all creatures as his own self, and behaves towards them as towards his own self, … succeeds in attaining to happiness.“ 751  K.-J. Notz (1998), Bd. I S. 117. 752  Herodot, Historien III 142: „ἐγὼ δὲ τὰ τῷ πέλας ἐπιπλήσσω, αὐτὸς κατὰ δύναμιν οὐ ποιήσω· Οὔτε γάρ μοι Πολυκράτης ἤρεσκε δεσπόζων ἀνδρῶν ὁμοίων ἑαυτῷ οὔτε ἄλλος ὅστις τοιαῦτα ποιέει.“ 753  Diogenes Laërtius, Leben und Meinung berühmter Philosophen I, 36. 754  Demosthenes (1974), Prooemion XXII 3 (p. 102). 755  Sextus (Pythagoreus), Sent. 90: „ἃ ψέγεις, μηδὲ ποίει.“ 756  Vgl. Carmina lat. epigr. 192 (Hg. F. Bücheler 1, [1895,] 93).



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II633

so in § 1 der Leges Urnamma bei Mord, später exzessiv im Kodex Hammurapi (§§ 176 ff., 229 ff.), während die Leges von Ešnunna solche Fälle dem „Halsgericht“ des Königs zuwiesen (§§ 48, 58). ‒ In Rom enthielt das XII-Tafelgesetz Bußgeldvor­ schriften, die mal den Schadensersatz-, mal den Strafgedanken stärker betonten, ohne dass ein klarer Maßstab erkennbar wird: feste Bußgelder zugunsten des Verletzten für eine Körperverletzung (8 3), Talion dagegen bei der Verstümmelung eines Gliedes (8 2), doppelter Wertersatz für einen Diebstahl und für die Unterschlagung einer Mündelsache durch den Vormund (8 16 und 20b).

Auf einer dritten Stufe bestimmte man schließlich Art und Maß der Krimi­ nalstrafe. Das war dort nicht schwer, wo das Unrecht schon bisher durch Talion ausgeglichen worden war; denn wie die Goldene Regel war auch das Talionsprinzip Bestandteil der ältesten Moral- und Rechtsordnungen.757 Hier galt daher Leben um Leben, Auge um Auge, Knochen um Knochen, Zahn um Zahn.758 In anderen Fällen ergaben sich indes Probleme: beispielsweise wenn der Unrechtserfolg sich gleichartig nicht wiedergutmachen ließ oder wenn eine nur gleichartige Wiedergutmachung den Rechtsverletzer vor einer Wiederholung nicht zurückgeschreckt hätte. Hatte beispielsweise jemand eine Sache gestohlen, dann konnte es nicht damit ge­ tan sein, dass er, gefasst und überführt, die Sache dem Eigentümer rückerstatten muss­ te. Seine Hoffnung, das nächste Mal nicht gefasst oder nicht überführt zu werden, hätte ihn zu weiteren Diebstählen verleitet. Die meisten Rechtsordnungen drohten da­ her dem Dieb als Strafe ein Mehrfaches des Wertersatzes oder gar Schlimmeres an.759 Anders lag es, wenn jemand eine Körperverletzung, Freiheitsberaubung oder ein ande­ res Personendelikt begangen hatte. Soweit hier Talion ausschied,760 setzten die Geset­ ze entweder eine Lebens- oder Leibesstrafe oder eine Geldbuße, seltener eine Frei­ heitsstrafe, als Ausgleich fest.761 Annäherung an die Talion wurde indessen versucht: Verleumdern, Beleidigern und Gotteslästerern wurde die Zunge,762 Meineidigen wur­ den sowohl die Zunge als auch die Hand oder die Schwurfinger abgeschnitten.763

Soweit sich das Problem der gerechten Ausgleichung weder aus einem Wertvergleich zwischen Unrecht und Strafe noch durch mathematische Be­ rechnung befriedigend lösen ließ, bot sich eine gesetzliche Festlegung an. Allerdings konnte sie nur insoweit überzeugen, wie sie sich als verhältnismädazu oben G 4 h. um Leben: 2. Mose 21 23; 3. Mose 24 17, 21; 5. Mose 19 21; Auge um Auge: CH §§ 196, 198 f.; 3. Mose 24 19 u. ö.; Knochen um Knochen: CH §§ 197 ff.; 3. Mose 24 19 u. ö.; Zahn um Zahn: CH 200 ff.; 3. Mose 24 19 u. ö. 759  Z. B. dass er geblendet wird, den Arm oder die Hand verliert (vgl. A. H. Post, 1895, S. 242 Fn. 1 und 2). 760  Nicht bei Ehebruch oder Notzucht, der an der Frau des Täters vergolten wer­ den konnte (A. H. Post, 1895, S. 241 Fn. 2 und 3). 761  So etwa XII-Tafelgesetz 8 4: „Wenn jemand eine leichte Körperverletzung be­ ging, sollen für ihn 25 [As] Buße sein.“ 762  A. H. Post (1895), S. 242 Fn. 7 und 8. 763  A. H. Post (1895), S. 242 Fn. 5 und 6. 757  Siehe

758  Leben

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ßig richtig zu anderen Strafen darstellte. Man bezeichnete eine solche Strafe dann als „austeilend gerecht“764. Austeilende Gerechtigkeit setzte allerdings zumindest eine reziprok als gerecht anerkannte Strafe voraus, an deren Höhe dann das Verhältnis der anderen Strafen auszurichten war. Denn war diese eine Strafe ungerecht, d. h. entweder zu hoch oder zu niedrig, dann konnte es nicht ausbleiben, dass die anderen Strafen ebenfalls zu hoch oder zu niedrig ausfielen.765 Deshalb wählte man als Vergleichsmaßstab meistens eine nach dem Talionsprinzip bemessene Strafe. Allerdings war die für die Anwendung des Talionsprinzips maßgebliche Orientie­ rung der Strafe an der Höhe des zugefügten Schadens nicht immer ausreichend, um den Anforderungen an eine ausgleichend gerechte Strafe zu genügen. Die fortschrei­ tende Stratifizierung der Gesellschaft verlangte beispielsweise nach einer Differenzie­ rung auch entsprechend der Qualität des Opfers − weshalb es beispielsweise als aus­ teilend gerecht erschien, die Schmähung oder Verletzung eines höherrangigen Bürgers höher zu bestrafen als die eines gleichrangigen oder niederrangigen.766 Eine alle zeitlos überzeugende Lösung ließ sich trotzdem nicht finden. Deshalb sehen wir im Laufe der Geschichte in unterschiedlichen Kulturen für dieselben Taten unterschiedli­ che Rechtsfolgen sich entwickeln und wieder verschwinden.

(γ) Rückbeziehung auf die symmetrische Gerechtigkeit. Die symmetrische Gerechtigkeit beherrschte von Anbeginn die Verfahren zur Streitbeilegung; auch heute noch spielt sie weltweit eine unbestritten große Rolle.767 Im Al­ 764  Platon, Gorgias 508a; Aristoteles, NE V 5: 1130b–1131a. Bei der Bemessung stützte man sich auf eine Fähigkeit, die der Mensch im Laufe seiner Entwicklung in besonderem Maße ausgebildet hatte: auf die Fähigkeit, einen allgemeinen Bedarf aus einem begrenzten Vorrat individuell gerecht zu befriedigen. Bereits die Wildbeuter hatten sich darin geübt: die Männer, wenn sie von der gemeinsamen Jagd ins Lager zurückkehrten und mit ihrer Beute eine Vielzahl hungriger Mäuler zu stopfen hatten; die Frauen, wenn sie am Ende des Tages ihr Sammelgut zusammenschütteten und es anschließend unter die Familien nach Zahl und Alter der Angehörigen aufteilten. 765  Man denke an den Fall, dass zur Abschreckung oder aus anderen Gründen unschuldige Menschen hingerichtet werden – wie es oft in Kriegen zur Bekämpfung der Partisanentätigkeit geschieht. In Buganda geschah dies auch im Frieden anlässlich des Todes eines Königs: Man tötete dort nicht nur seine Frauen und Bediensteten, damit sie ihm auch im Jenseits zur Verfügung stehen, sondern ließ dort auch mehrere hundert Menschen anlässlich der Inthronisation eines neuen Königs öffentlich hin­ richten um zu beweisen, dass der neue König ebenfalls im Lande die Macht über Leben und Tod hat und deshalb für Recht und Ordnung sorgen kann. Denn „only the taking of human life could adequately ‚confirm‘ the king’s succession to his supreme status and show that he had ‚eaten the kingship‘ (kulya obwakabaka) and ‚eaten Bu­ ganda‘ (kuly obuganda)“ (B. C. Ray, 1991, p. 167 ff., 171 ff., Zitat p. 174). Gerechtig­ keitskriterien für die Auswahl der Todeskandidaten gab es so wenig wie für die Rin­ der, die man aus Anlass der Thronbesteigung schlachtete. 766  Deshalb finden sich beispielsweise im Kodex Hammurapi Strafdifferenzen, die den vorangehenden mesopotamischen Leges unbekannt waren. Vgl. oben 5 b γ αα. 767  Als Belege zum deutschen Recht seien zitiert: (a) zur Verfahrenssymmetrie im deutschen Strafprozess K. von Birkmeyer (1898), S. 143: „Grundsatz der Waffen­



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tertum wurde beispielsweise die Pflicht zur Anhörung beider Parteien (‚audiatur et altera pars‘) aus ihr abgeleitet.768 Vor der Einführung formalrecht­ licher Verfahren fühlte man sich allerdings nur dann an diese Pflicht gebun­ den, wenn die vorgeworfene Untat nicht allgemein bekannt war769 und man nicht befürchten musste, den Beschuldigten durch die Konfrontation mit seiner Tat vor einer drohenden Bestrafung zu warnen. Nach der Institutiona­ lisierung formalrechtlicher Verfahren galt die Anhörungspflicht dagegen ausnahmslos. Sie hatte dann auch den Zweck zu erfahren, ob der Beschul­ digte sich zu der ihm vorgeworfenen Tat bekannte und ob er ihre Begehung bedauerte. Verweigerte er die Mitwirkung, erschien das als Eingeständnis seiner Schuld, sodass er verurteilt werden konnte.770 (δ) Rückbeziehung auf das Gefühl von Rechtssicherheit. Formalrechtliche Streitverfahren setzten eine geordnete Rechtspflege voraus: Gerichte, die mit den erforderlichen Formalien vertraut waren; Parteien, die bereit waren (oder von der Obrigkeit gezwungen werden konnten), zur Durchsetzung ihrer Rechtsstandpunkte nicht zur Selbsthilfe zu greifen, sondern eine verfahrens­ rechtliche Lösung zu akzeptierten; Zeugen, die zur wahren Aussage ver­ gleichheit“; H.-H. Kühne (2010), Rn. 174: keine „mathematische oder logische Egali­ tät“, sondern „sachlogische Struktur [?] von Anklagevertretung und Verteidigung“; BVerfG in NJW 1975, S. 103, und 2006, S. 1579: Anspruch auf ein „faires Verfah­ ren“; C. Roxin/B. Schünemann (2014), „Verfahrensbalance“. (b) Zur Verfahrenssym­ metrie im deutschen Zivilprozess: M. Vollkommer (1990), S. 520: „gleichwertige Durchsetzungschance“; L. Rosenberg/K. H. Schwab/P. Gottwald (2010), § 1 Rn. 28: „soziale Chancengleichheit“; W. Jauernig/B. Hess (2011), § 29 Rn. 2: „faires Verfah­ ren“ durch rechtliches Gehör. 768  Dazu A. Wacke (1993), S. 372 f.: Der Rechtsgrundsatz ist vorrömisch, kommt bereits in der Bibel vor und war in Griechenland Teil des Richtereides. Seine lateini­ sche Formulierung stammt zwar erst aus dem Mittelalter, doch ist die Geltung des Satzes weder für den römischen Zivil- noch für den Strafprozess zweifelhaft. 769  Ein Beispiel sind die Beratschlagungen der Inuit. Selbst wenn sie zur Liqui­ dierung eines Gruppenmitglieds führen konnten, etwa weil jemand wiederholt zum Mörder geworden war, wurde dieser zuvor nicht gehört. Die Gemeinschaft sah in ihm eine allgemein bekannte Gefahr für den inneren Frieden und beauftragte eines ihrer Mitglieder, ihn zu beseitigen. An dem Beauftragten durfte keine Blutrache ge­ übt werden; denn seine Tat galt nicht als Mord, sondern als Vollstreckung des von der Gemeinschaft einmütig gefällten Urteils (F. Boas, 1884/85, p. 582; idem, 1901, p.  117 f. 770  Im Prozess gegen Jesus wandte Pontius Pilatus römisches Strafrecht an, weil Jesus sich als König der Juden ausgegeben und so die Herrschaft des Kaisers infrage gestellt hatte. Diese Anklage konnte somit auf die Staatsverbrechen des Hochverrats (perduellio) und der Majestätsbeleidigung (crimen maiestatis populi Romani imminutae) gestützt werden. Für beide Verbrechen konnten Täter, die nicht das römische Bürgerrecht besaßen, zum Tod am Kreuz verurteilt werden (das jüdische Recht kannte die Kreuzigung nicht). Da Jesus sich zu den Vorwürfen nicht äußerte, galt dies als Schuldeingeständnis, sodass die Voraussetzungen für eine Verurteilung erfüllt waren.

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pflichtet waren und wussten, dass sie sich strafbar machten, wenn sie nicht nach bestem Gewissen aussagten. Ursprünglich hatte man sich eines mächtigen (oder ermächtigten) Dritten zur Ent­ scheidung eines Streits und zur Durchsetzung des sich daraus ergebenden Anspruchs bedient. Doch als die Verhältnisse mit der Zeit anonymer wurden, war oft niemand bereit, die Rolle eines Schiedsmannes zu übernehmen. Bisweilen war auch das Miss­ trauen zu groß, ob der von einer Partei Vorgeschlagene die nötige Souveränität zu einem unparteiischen Urteil aufbringen werde. Deshalb lief innerhalb unpersönlich gewordener Verhältnisse alles darauf hinaus, Spruchkörper zu bilden, deren Mitglie­ der keine persönlichen Beziehungen zu einer der Parteien hatten und daher in der Lage waren, ein Streitverfahren gerecht zu steuern und abschließend ein gerechtes Urteil zu fällen.

Obwohl die Gerichtsorganisation der Staaten überall von ihrer Verwal­ tungsorganisation unabhängig war, wiesen beide von Staat zu Staat so viele Parallelen auf, dass ihre Gleichheit offenbar soziogenetisch bedingt war. So entwickelte sich, wo der Aufbau der Verwaltung zweistufig war, auch der Aufbau der Gerichte zur Zweistufigkeit, sodass eine Berufungsinstanz (meis­ ten am Regierungssitz) die Urteile der Instanzgerichte überprüfen konnte.771 Eingeleitet wurde ein gerichtliches Verfahren ursprünglich überall durch die Klage eines in seinem Recht Verletzten. Jeder Prozess war ursprünglich also ein Akkusationsprozess. Der Inquisitionsprozess trat erst später im Be­ reich des Strafprozesses hinzu, wenn das öffentliche Interesse an der Aburtei­ lung gemeingefährlicher Straftaten eine staatliche Untersuchung erforderte. Im Akkusationsprozess mussten stets beide Parteien, im Inquisitionspro­ zess nur der Beschuldigte zu Wort kommen und aus eigener Sicht eine Dar­ stellung des Prozessstoffs geben können. Klageberechtigt war ursprünglich (sowohl im Zivilprozess als auch im Strafprozess, soweit zwischen beiden Verfahrensarten überhaupt unterschieden wurde) ausschließlich der freie Mann als Oberhaupt einer Familie oder einer größeren Einheit (Sippe, Stamm o. ä.); allmählich erhielten aber auch andere Personen, u. a. auch die Frauen, das Recht zur Klage.772 Entsprechendes galt für die Beklagtenrolle, die ur­ sprünglich ausschließlich dem Ehemann zufiel, selbst wenn ausnahmsweise 771  Der Grund war, dass der Herrscher, der nicht alle Streitigkeiten selber entschei­ den konnte, sich doch regelmäßig vorbehielt, als falsch angefochtene Urteile der Gerichte zu kassieren (oder durch ein ihm unmittelbar unterstehendes Gericht kas­ sieren zu lassen). Dahinter stand der noch allgemeinere Grundsatz, dass gegen Ent­ scheidungen eines Delegierten an den Delegierenden appelliert werden kann. Dieser Grundsatz wurde lediglich eingeschränkt, wenn der Herrscher die rechtsprechende Gewalt an ein Geschworenengericht delegiert hatte. Der Herrscher behielt sich dann meistens nur das Begnadigungsrecht vor. Genaue Untersuchungen fehlen. 772  Ob sie sich dabei eines männlichen Beistands bedienen mussten, hing überall von der Stellung ab, die der Frau im Rechtsleben überhaupt zukam.



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seiner Frau (oder einem seiner Kinder)773 ein Unrecht vorgeworfen wurde. Völlig selbstverständlich galt ferner bei schriftlosen Völkern das Mündlich­ keitsprinzip, das aber wegen des größeren Eindrucks, das es vom ‚lebendigen Recht‘ vermittelte, auch nach der Erfindung der Schrift noch ganz überwie­ gend beibehalten wurde. Beweismittel für einen Sachverhalt waren überall das Geständnis des Beklagten,774 der Augenschein sowie Urkunden und Zeugen. Kläger, Beklagter und Zeugen konn­ ten ihre Behauptungen regelmäßig durch einen (assertorischen) Eid bekräftigen. Stand Eid gegen Eid, konnte in ältester Zeit ein Gottesurteil die Entscheidung bringen.775

Die Richter hatten auch da, wo es nicht ausdrücklich geregelt war, stets aufgrund ihrer Überzeugung zu entscheiden, wobei alle Völker darauf achte­ ten, dass diese von außerrechtlichen Erwägungen unbeeinflusst blieb, insbe­ sondere nicht durch finanzielle oder andere Vorteile erkauft werden konn­ te.776 Die richterliche Erforschung bezog sich zunächst auf das Vorliegen oder Nichtvorliegen des klägerisch behaupteten Sachverhalts. Soweit dieser sich nicht durch Augenschein feststellen ließ oder aus (als echt anerkannten) Urkunden ergab, mussten Zeugen gehört und ihre Aussagen richterlich ge­ würdigt werden. Dabei spielten die Zahl der Zeugen, ihr Ansehen und ihr Verhältnis zu einer der Parteien eine Rolle, weiterhin aber auch die Form der Bekräftigung, auf die sie sich hinsichtlich ihrer Aussage einließen. Was die Würdigung der Zeugenaussagen anbelangt, war man sich schon in ältester Zeit der Fehlsamkeit des menschlichen Wahrnehmungs- und Erinnerungsver­ mögens bewusst, weshalb die Richter versuchten, mittels Eides oder Ordals auch überirdische Erkenntnisquellen in das Verfahren einzubeziehen; denn von ihrer Einbeziehung erwarteten sie ein Höchstmaß an objektiver Wahr­ heit. War der vom Kläger behauptete Sachverhalt erwiesen, bezog sich die richterliche Arbeit anschließend auf die sich daraus ergebende Rechtsfolge. War diese einem Gesetz oder einer höchstrangigen Rechtsprechung zu ent­ nehmen, war selbstverständlich allen Beteiligten − Gericht und Parteien − klar, wie das Urteil lauten wird, und man ließ es dann i. d. R. auch gar nicht Rom gab es dafür die actio noxalis. erbrachte i. d. R. den vollen Beweis und konnte bei hinreichendem Verdacht mancherorts auch durch körperliche Folter herbeigeführt werden (A. H. Post, 1895, S. 539 f. m. Nachw.). In Mesopotamien und Ägypten war die Tortur zur Herbeifüh­ rung einer wahren Aussage jedoch unbekannt; man beschränkte sich auf Eide und Ordale. Im späteren Hethiterreich wurden dagegen Folterungen als Strafen eingesetzt (R. Haase, 2003, S. 147). Zu Griechenland vgl. Aristoteles, Rhetorik I 15 (kritisch M. T. Cicero, part. orat. 34, 113: „liberi cives torquentur“); zu Rom vgl. Th. Mommsen (1899), S. 405 f.: körperliche Folterungen zur Wahrheitsgewinnung waren in der republikanischen Periode ausgeschlossen, wurden jedoch seit dem Eintritt des Prinzi­ pats zugelassen. 775  Vgl. dazu oben F 3 θ, G 4 k, H 2 c bb β ββ u. ö. 776  Vgl. oben G 4 k. 773  In

774  Es

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erst zum Urteilsspruch kommen. War dagegen ein ähnlicher Fall weder ge­ setzlich geregelt noch bisher schon entschieden, dann oblag es der gericht­ lichen Beratung, aus der ermittelten Wahrheit die richtigen Folgen zu ziehen. Meistens erschien dann als richtig, was sich bei den mit dem Streitfall Ver­ trauten mutmaßlich des größten Beifalls erfreute. Deshalb konnten sehr un­ terschiedliche Rechtsmeinungen entstehen, sodass man das Bedürfnis starker Herrscher nachempfinden kann, innerhalb der Grenzen ihres Einflussbereichs entweder durch Gesetz oder durch die Leitung wichtiger Verfahren für Rechtseinheit zu sorgen. d) Die Orthogenese von Rechtskulturen Für sämtliche vorstehend erwähnten rechtlichen Entwicklungsprozesse stellt sich die Frage, ob ihnen eine langfristig ausgerichtete Tendenz zugrunde lag, die man als ‚orthogenetisch‘ bezeichnen kann. Erinnert sei dazu noch­ mals, dass der Begriff ‚Orthogenese‘ kein Evolutionsgesetz im strengen Sinne meint, sondern lediglich einen längerfristigen Entwicklungstrend, der neben einer geraden (nämlich der ‚orthogenetischen‘) Linie auch Abzwei­ gungen kennt, die sich anschließend teils zu eigenen Entwicklungen ausbil­ den, teils selegiert werden (oben A 3). Ob ein derart weit gefasster Begriff auf die Rechtsentwicklung angewandt werden kann, ist umstritten. Dafür spricht: (1) Das Recht ist ein Teil der menschlichen Kultur und diese wiede­ rum ein Teil der menschlichen Natur, die sich bis heute orthogenetisch zum homo sapiens sapiens entwickelt hat – ungeachtet gelegentlicher Abzweigun­ gen. (2) Die Entwicklung sowohl der Natur als auch der Kultur des Men­ schen schließt seine Psyche und deren Sehnsucht nach einer gerechten Welt ein. (3) Diese Gerechtigkeitssehnsucht hat sich spätestens während der letz­ ten ca. zehntausend Jahre entwickelt und sich aufgrund der permanenten Vermehrung der Weltbevölkerung in einer per saldo zunehmend stringenten Ordnung des sozialen und politischen Lebens niedergeschlagen. Die recht­ liche Ordnung und ihre Entwicklung können davon nicht ausgenommen werden. (α) Orthogenese als linearer Richtungstrend. Im Rückblick auf die letzten ca. zehntausend Jahre wird eine orthogenetische Tendenz des Voranschrei­ tens − mit einigen Verzweigungen (‚Kladogenesen‘), die sich teils erfolgreich weiterentwickelten, teils abstarben (‚selegiert‘ wurden) − sowohl innerhalb des menschlichen Bios, stärker noch innerhalb der menschlichen Psyche, am stärksten und klarsten aber innerhalb des menschlichen (logischen) Denkens sichtbar. Von dieser Tendenz wurden fast alle Kulturbereiche erfasst, weshalb sie bereits um die Zeitenwende von ihren archaischen Vorläufern so stark unterschieden waren, dass man als verbindend eine durchgängige, wenn auch nicht gleichbleibend schnelle, genetische Entwicklung annehmen muss. Zu



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den Kulturbereichen gehörte mit an vorderster Stelle die Ordnung des menschlichen Gemeinschaftslebens. Vor zehntausend Jahren beruhte sie noch auf weitestgehend ererbten Faktoren, die nur kleinteilige Sozialgebilde zu­ sammenhielten: Familien mit meistens nur zwei Generationen von Mitglie­ dern und lediglich geschlechtlicher Arbeitsteilung, Horden mit selten mehr als 80 Mitgliedern. Von dieser schmalen Basis aus veränderten sich die sozi­ alen und politischen Lebensbedingungen, bedingt durch Sesshaftigkeit und Übergang von der bloß aneignenden zur produzierenden Lebensweise, zu einem durchgehend normativ kontrollierten Zusammenleben von Hausge­ meinschaften. Vor allem in den neu gegründeten Städten veränderte sich dann auch der Lebensstil,777 welcher die Kultur in den Mittelpunkt stellte und in repräsentativen, künstlerisch ausgeschmückten Räumen ihr die gebüh­ rende Wertschätzung zukommen ließ. Von diesem Lebensstil aus gab es spätestens seit der Zeitenwende kein Zurück mehr, vielmehr blieb das zu seiner Entwicklung verwendete Material so weit erhalten, dass die Kultur noch weitere zwei Jahrtausende darauf aufbauen konnte. Dies letzte Bemerkung, dass das zum Aufbau von Kultur erzeugte Material erhal­ ten und wiederverwendbar blieb, bezeichnet einen wichtigen Unterschied zwischen der kulturellen und der biotischen Evolution: Bioorganismen erzeugen in ihrem Be­ streben, sich durch Konstruktionsänderungen an Veränderungen ihrer Umwelt anzu­ passen, zwar ebenfalls neue Mittel, doch verbrauchen sie dafür das vorhandene Ma­ terial, weshalb es ihnen z. B. für eine Rückentwicklung fehlt. In der Kultur- und Rechtsentwicklung verschwinden dagegen die zur Entwicklung gebrauchten Ideen und Produkte nicht; sie tauchen allenfalls ab, können aber aus dem Untergrund wie­ der hervorgeholt und neu belebt werden. Berühmtestes Beispiel einer solchen Neube­ lebung ist die Renaissance antiker Kunst und Wissenschaft am Ende des Mittelalters, die der Menschheit den Übertritt in die Neuzeit ermöglichte. Daneben gibt es eine Fülle anderer Neubelebungen, die weniger bedeutsam geworden sind: etwa diejenigen früherer Handwerkskunst, alter Spiele, alter Sprachen,778 alter Bräuche etc. Ihr Unter­ gang war einst ein ‚devolutiver‘ Vorgang, doch führte er nur ganz selten zum unwie­ derbringlichen Verlust. Im Untergrund blieben die untergegangenen Kulturformen erhalten, und von dort konnten sie in eine inzwischen weiterentwickelte Kultur em­ porgeholt und oft sogar reintegriert werden. Was speziell die Evolution des Rechts anbelangt, ist die Unterscheidung zwischen der Devolution einzelner Rechtsnormen oder ganzer Rechtsordnungen und der den­ noch weiterlaufenen Evolution des Rechts schon deshalb gerechtfertigt, weil die rechtliche Evolution niemals blind verlief, sondern rational geplant und zielgerichtet war. Fehlgeschlagene Versuche der Gesetzgebung mit anschließender Devolution ih­ rer Erzeugnisse konnten daher andere Gesetzgeber veranlassen, dieselben Fehlschläge gezielt zu vermeiden und somit evolutiv erfolgreicher zu sein; gelungene Versuche konnten dagegen von anderen Gesetzgebern kopiert werden – ein berühmtes Beispiel etwa H 3 b aa. Schätzungen wurden insgesamt etwa 500.000 Sprachen erfunden, von denen heute nur noch ca. 6.000 übrig sind. 777  Vgl.

778  Nach

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

ist die Restitution verloren gegangener Institutionen des römischen Rechts und ihre Integration in die neueren europäischen Rechtsordnungen.779 Solche Erneuerungen ehemals bewährter Restbestände beschleunigen einerseits die Evolution, haben ande­ rerseits den Nachteil, dass innerhalb einer stürmischen Entwicklung mögliche Ent­ wicklungsalternativen ungeprüft bleiben, obwohl sie vielleicht bessere Ergebnisse erbracht hätten. Ein Beispiel ist (nach meiner Ansicht) der Aufbau des deutschen Privatrechts auf der privaten Willenserklärung gemäß dem von der Pandektenwissen­ schaft geprägten römischen Vorbild, während dem in der Neuzeit mindestens ebenso wichtigen Grundsatz des sozialen Vertrauens bloß die Funktion einer Geltungsbegren­ zung des vom Willen geschaffenen Rechts zugestanden wurde.

Anders als in der biotischen Evolution, die keine Nachahmer, sondern nur Gewinner oder Verlierer kennt,780 gibt es in der rechtlichen Evolution erfolg­ reiche Veränderungen, die nachgeahmt werden können, und erfolglos geblie­ bene, die möglichen Nachahmern als Warnung dienen. Doch stellt sich oft erst allmählich heraus, welches Evolutionsrezept auf Dauer Erfolg hat und welchem die Funktion eines ‚Irrtums‘ zukommt. Der Natur würde die Er­ kenntnis eines Irrtums nichts nützen, denn sie besitzt kein Gedächtnis, wel­ ches ihr eine Planung in die Zukunft erlaubt; deshalb sind ‚Irrtümer‘ für sie irreversibel. Im Rechtsbereich dagegen sind sie reversibel, und deshalb kön­ nen sie von einsichtigen Gesetzgebern genutzt werden, um Versuche zu be­ enden und ihren Misserfolg als Lehre zu begreifen. In der Natur hat z. B. die Evolution sowohl Wölfe als auch Hunde aus der Gattung Canes ausdifferenziert. Anschließend sind deren Wege getrennt verlaufen, bis es kein Zurück mehr gab und beide von nun an getrennte Wege gehen müssen ‒ was man als Erfolg sehen kann. Im Verhältnis der Evolutionen von homo sapiens sapiens und homo sapiens neanderthalensis sah das ganz anders aus: Beide Arten differenzierten sich zwar von homo sapiens aus und gingen dann ebenfalls getrennte Wege, doch waren sie, als sie sich später wieder trafen, genetisch noch nicht weit genug vonein­ ander entfernt, als dass eine Vereinigung ihrer Wege unmöglich gewesen wäre. Dazu kam es denn auch, und die Folge war, dass homo sapiens sapiens als Sieger seinen Weg beibehalten konnte, während der Weg von homo sapiens neanderthalensis ende­ te und er ausstarb. Auf eine dritte Möglichkeit kann jederzeit das Recht zusteuern. Hier gibt es eine Fülle von Parallelentwicklungen, und oft steht lange Zeit nicht fest, welche davon die meisten Vorteile auf sich vereinigen. Oft kann dann der beste Er­ folg erreicht werden, indem man die Vorteile mehrerer Entwicklungen vereinigt. Man sieht m. a. W. mehrere als Sieger an und krönt ihre Entwicklung durch die Vereinigung ihrer Vorteile zu einem neuen Recht, das künftig die Orthogenese fortsetzt. Ein ge­ genwärtiges Beispiel ist vielleicht die parallele Entwicklung sowohl des kontinental­ europäischen Gesetzessystem als auch des angloamerikanische Systems der precedents bzw. des stare decisis. Beide Systeme haben ihre Vorteile, ihre Wege kreuzen 779  R. von Jhering (1907), S. 2: „Eine seltsame Erscheinung! Ein totes Recht zu neuem Leben erwachend … Es musste erst absterben, um seine volle Kraft zu entfal­ ten.“ 780  Vgl. das Beispiel oben H 3 a.



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sich im Rahmen der gegenwärtigen Tendenz zur Internationalisierung. Warum sollen deshalb nicht ihre Vorteile in einer besseren, international geltenden Form des Rechts vereinigt werden?

Eine letzte Alternative ist noch zu erörtern: nämlich dass eine Entwicklung einige Zeit lang relativ offen verläuft, bevor sich eine grade Linie heraus­ bildet, die vom Erfolg her als entweder orthogenetisch richtig oder in einer Sackgasse endend qualifiziert werden kann. Man spricht dann von einer ‚Pfadabhängigkeit‘ und fasst darunter jene Entwicklungen zusammen, die durch eine grundsätzliche Weichenstellung, biotisch etwa durch den Über­ gang von einem Lebensraum in einen anderen (z. B. vom Wasser aufs Land oder wieder zurück), eingeleitet und gleichsam probeweise in Gang gehalten werden. Ihr Verlauf beginnt typischerweise damit, dass die Weichenstellung in einer ersten Phase funktional vorbereitet (‚präadaptatiert‘) wird und dass in einer zweiten Phase mit dem funktionalen „Umbau ohne Schließung des Be­triebs“781 begonnen wird. Solche Weichenstellungen kommen auch für die sozialen und die Rechtsentwicklungen in Betracht: Hier allerdings werden sie typischerweise durch einen finalen Akt mit unbeabsichtigten Zusatzfolgen vorbereitet, deren weitere Entwicklung zunächst probeweise abgewartet wird. Lassen sich die Zusatzfolgen schließlich positiv bewerten, dann braucht die weitere Entwicklung nur noch justiert zu werden und kann dann ohne Unter­ brechung weiterlaufen. Beispiele: 1. Ein Beispiel aus dem sozialen Bereich ist die Entscheidung für einen bestimmten Beruf. Die Entscheidung selbst ist ein bewusst getroffener (finaler) Akt; seine Konsequenzen liegen jedoch sehr oft im Nebel der Zukunft. Gleichwohl zwingt die Entscheidung die weiteren Lebensumstände auf einen bestimmten Pfad, den zu verlassen später kaum noch möglich ist. – 2. Als Beispiel aus dem wirtschaftsoziolo­ gischen Bereich lässt sich die Entscheidung für eine öffentliche Pflichtversicherung anstelle der staatlich subventionierten Privatversicherung anführen. Der eingeschlage­ ne Pfad macht später einen Systemwechsel aufgrund der dafür ständig steigenden Kosten immer unwahrscheinlicher. ‒ 3. Ein Beispiel aus dem Bereich des Wissen­ schaftsbetriebs ist die Erhöhung der Reputation einer Institution aufgrund von priva­ ten Stiftungen: Je höher sie ansteigt, umso anziehender wirkt sie auf herausragende Persönlichkeiten, sich ihr anzuschließen,782 wodurch ihre Reputation dann nochmals verstärkt wird und die Chance konkurrierender Institutionen, eine vergleichbare Re­ putation zu erlangen, sich entsprechend verringert. – 4. In der Politikwissenschaft wird der Begriff ‚Pfadabhängigkeit‘ ebenfalls verwendet. Er bezeichnet hier „die ho­ he Wahrscheinlichkeit, dass die Lösung eines bestimmten Problems … nach den eingefahrenen Standardprozeduren [erfolgt], die in mehr oder minder vergleichbaren Problemfällen früher entwickelt wurden und somit einen ‚Pfad‘ geschaffen haben, der den Spielraum zukünftiger Problemlösungen festschreibt“783. 781  G.

Osche (1972), S. 27. „Wo Tauben sind, fliegen Tauben hin.“ 783  M. G. Schmidt (2004), S. 529. 782  Redensart:

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Innerhalb des Rechts finden wir Pfadabhängigkeiten784 vor allem auf der Grundlage einer Präadaptation durch Traditionen, die eine teils leitende, teils begrenzende Wirkung auf die zukünftige Entwicklung ausüben.785 Ein Bei­ spiel aus dem frühen Altertum ist das israelische Recht, dem der Entwick­ lungspfad u. a. vom babylonischen Recht gewiesen wurde. Ein weiteres Bei­ spiel ist die Entscheidung für einen Dualismus von öffentlichem und privatem Recht, die eine gewichtige Tradition begründete und lange Zeit auch sinn­ volle Auswirkungen hatte, bis sie es heute immer schwieriger macht, die häufigen Formen der Zusammenarbeit von staatlichen mit privaten Institutio­ nen juristisch in den Griff zu bekommen.786 Aus der deutschen Strafrechts­ geschichte im 19. Jh. sei als Beispiel eine Pfadabhängigkeit in der Gesetzge­ bung hinzugefügt: Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 adaptierte das Straf­ gesetzbuch des Norddeutschen Bundes von 1870; dieses adaptierte weitge­ hend das Preußische StGB von 1851; und in dieses waren die Grundgedanken einerseits des französischen Code Pénal von 1810 und andererseits des Bay­ erischen Strafgesetzbuchs von 1813 eingeflossen. Leitpfad der Strafgesetzge­ bung im 19. Jh. war somit eine Gedankenwelt, die sich aus der Tradition des liberalen Rechtsstaates herleitete: Sie gab der Strafe die generalpräventive Vergeltung als Maß vor, während sie die täterorientierte Spezialprävention kaum berücksichtigte, obwohl diese ebenfalls eine bis ins Altertum zurück­ reichende Tradition hat.787 Ein Ausbruch aus dem Gedankengut des liberalen Rechtsstaates fand erst Mitte des 20. Jh.s statt, als man das Gedankengut für überholt erklärte und das Reichsstrafge­ setzbuch dem Vorwurf aussetzte, es sei „bereits bei seiner Geburt veraltet“ gewe­ sen.788 Man verpasste dem Strafrecht infolgedessen einen Allgemeinen Teil, der nicht nur die – bereits in der Weimarer Republik vorbereitete, im Dritten Reich zum Gesetz erhobene – Zweispurigkeit von Strafen und Maßregeln übernahm, sondern durch di­ verse Änderungen auch der individualpräventiven Straffunktion (fälschlich als „Zweckstrafe“ bezeichnet) Raum zur Entfaltung gab. Gleichwohl ging die liberal­ staatliche Tradition nicht ganz verloren; denn sie stellte sich in der Folgezeit insbe­ 784  Zum Folgenden M. J. Roe (1996), p. 643 ff., sowie Ch. Henke (2009), S. 114 ff., jeweils m. w. Nachw. 785  H.-G. Gadamer (2010, S. 300) beschreibt dies am Beispiel des Verstehens so: Wer verstehen will, ist mit der Sache, die mit der Überlieferung zur Sprache kommt, verbunden und hat oder gewinnt Anschluss an die Tradition, aus der die Überliefe­ rung spricht. 786  A. Benz (2013), S. 74 f.: Aufgrund der Pfadabhängigkeit sei es „statt einer kon­ sistenten Verwirklichung eines neuen Verwaltungsmodells … zu partiellen Organisa­ tionsreformen [gekommen], welche nur Teile der Verwaltung erfassten, wobei sie durch reaktionäre Anpassungen teilweise wieder rückgängig gemacht wurden“. Aller­ dings räumt Benz auch ein, dass viele Verwaltungsstrukturen bereits der Verflechtung mit privaten Organisationen angepasst worden sind. Sie dazu noch unten K 5 c ζ. 787  Vgl. Platon, Protagoras 324b (oben Fn. 174). 788  Entwurf eines Strafgesetzbuches (E 1962), BT-Drucks. IV/650 (1962), S. 93.



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sondere dem wiederum einseitig am Resozialisierungsgedanken orientierten „Alterna­ tiv-Entwurf eines StGB – AE“ entgegen,789 sodass heute beide Theoriepfade neben­ einander bestehen und um den Sieg des einen oder anderen oder ihre Verbindung noch gerungen wird.

(β) Globale Orthogenese. Ich wende mich nunmehr der ausschließlich geradlinigen, wenngleich von unterschiedlichen Völkern getragenen, Höherentwicklung des Rechts zu. Basis war der menschliche Wunsch nach einem friedlichen und harmonischen Zusammenleben (unten αα); verwirklicht wurde sie durch eine ständige Verfeinerung der sozialen Ordnung mittels Aufnahme zusätzlicher sittlicher (Gerechtigkeits-)Maßstäbe (unten ββ). (αα) Grundlage. Der als Basis dienende menschliche Wunsch nach einem friedlichen und harmonischen Gemeinschaftsleben verlangte vom Recht Ord­ nungssicherheit und Ordnungsgerechtigkeit, damit (1) in einem natürlichen Siedlungsraum mehrere Generationen von Menschen zusammen leben und überleben und (2) kraft einer zentralen Organisation (3) in sozialer Harmonie (trotz Wettbewerb) (4) ihre individuellen Bedürfnisse und gemeinsamen Inte­ ressen befriedigen können. •• (1) Wichtig für die Siedlung in einem natürlichen Raum waren an erster Stelle dessen Bodenbeschaffenheit und die dort im Boden liegenden oder erreichbaren Nahrungs- und Wasserreserven sowie ein natürlicher Schutz gegen Witterungsunbilden und (menschliche und tierische) Feinde.790 Zu­ nächst konnten die Menschen nur in einem Raum siedeln, dessen Boden diese Potentiale enthielt (‚natürlicher Lebensraum‘). Das führte jedoch zu Problemen, wenn das vorhandene Nahrungsangebot verbraucht und nicht genügend Nachschub vorhanden war. Entweder suchte man dann nach ei­ nem neuen Siedlungsgebiet, das noch nicht besetzt und auch noch nicht abgeerntet war, oder man bemühte sich um eine Erweiterung des Nah­ rungsangebots, indem man zur Nahrungsproduktion überging. Der erste Ausweg war verbaut, als die Zahl der Horden, die nach neuem Raum suchten, zu groß wurde, als dass sie sich noch aus dem Wege gehen konn­ ten. Der zweite Ausweg verlangte dagegen einen grundsätzlichen Wechsel vom Wildbeuter- zum Bauerndasein, also die Aufgabe des nomadisieren­ den Lebens zugunsten von Sesshaftigkeit an einem Ort. Denn zur Erhö­ hung des Nahrungsangebots musste man den Boden bearbeiten, Kanäle graben, um ihn zu bewässern, Maßnahmen zum Schutz gegen die Widrig­ keiten des Klimas ergreifen, welche die Ernte bedrohten, Vorräte für die nächste Aussaat anlegen u. a. m. Um das Bedürfnis nach auch fleischlicher Nahrung zu befriedigen, musste man ferner Tiere domestizieren (‚kulturel789  Ihn hatten 14 deutsche und schweizerische Strafrechtsprofessoren vorgelegt, vgl. J. Baumann u. a. (1966). 790  Vgl. dazu A. Comfort (1970), S. 116 ff.

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ler Lebensraum‘). Das alles erforderte organisatorisch u. a. eine gleichge­ schlechtliche Arbeitsteilung, die Bildung von konkreten Zweckgemein­ schaften für die Durchführung größerer Projekte sowie die Anlage von Vorratsspeichern ‒ weil man nur so in guten Zeiten ein Surplus erwirt­ schaften konnte, das man in schlechten Zeiten verbrauchen konnte. Er­ folgreich betrieben führte die neue Wirtschaftsform allerdings zur weiteren Vermehrung der Bevölkerung: zur weiteren Vergrößerung der Haushalte, zur weiteren Verdichtung und Stratifizierung des Zusammenlebens und zur Aufteilung des Siedlungsraums in Städte und Dörfer.791 •• (2) Innerhalb dieser Entwicklung gab es kein Zurück. Die Menschen mussten angesichts der ständigen Vergrößerung ihrer Zahl nicht nur sess­ haft bleiben, sondern auch ihr Zusammenleben auf immer engerem Raum immer besser organisieren, um sowohl ihre individuellen Bedürfnisse als auch ihre gemeinsamen Interessen zu befriedigen. Dazu freilich bedurften sie neuer, nämlich hierarchisch aufgebauter Organisationsnormen, die sie auf der Grundlage hierarchischer Sozialstrukturen ausbilden mussten. Hat­ ten sie diese Sozialstrukturen erschaffen und die Normen darein imple­ mentiert, gab es freilich abermals kein Zurück. Denn sowohl die Struk­ turen als auch deren normative Festigkeit waren ihnen auch im wirtschaft­ lichen und im politischen Bereich unentbehrlich, weil sie ihnen ein höheres Maß an Macht gewährten. Ihr System konnte sich daher nicht nur durch­ setzen, sondern gegenüber jedem heterarchisch geordneten System die Oberhand gewinnen, wenn man seine Stärken bündelte und gegen einen darauf nicht vorbereiteten Konkurrenten einsetzte. Das galt etwa im militärischen Bereich, wo eine hierarchische aufgebaute schwä­ chere Armee eine stärkere besiegen konnte, indem sie ihre Kraft an einer einzigen Stelle verstärkte und ihre dort gewonnene Überlegenheit benutzte, um den Gegner zunächst zu schwächen und dann insgesamt zu schlagen (Beispiel: ‚schiefe Schlachtordnung‘792). Das gilt bis heute im politischen und im wirtschaftlichen Bereich, wo schwächere Wettbewerber stärkere Konkurrenten aus dem Felde schlagen können, wenn es ihnen gelingt, die Aufmerksamkeit des Publikums ein­ seitig auf bestimmte politische Themen oder auf bestimmte wirtschaftliche Produk­ te zu lenken, auf denen sie einen Schwerpunkt haben, während die breiter aufge­ dazu oben F 2 d. Art. „Schlachtordnung“: „Bei der Schiefen Schlachtordnung wird ein Zusammenprall der Gegner auf breiter Front vermieden. Der verstärkte Flügel wird nach vorne geschoben, während der andere, geschwächte, nur hinhaltend kämpft und die Feindberührung verzögert oder vermeidet. Durch die Massierung auf einer Seite wird im Erfolgsfall der Einbruch in die gegnerische Front erzwungen und diese dann durch Einschwenken nach innen von der Flanke her aufgerollt. Diesen takti­ schen Vorteil kann der Gegner auch durch zahlenmäßige Überlegenheit nicht mehr wettmachen … Entscheidend ist für einen Erfolg, dass der Gegner diese Absicht erst bemerkt, wenn es zu spät für Umgruppierungen ist.“ 791  Vgl.

792  Wikipedia



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II645 stellten Konkurrenten just an dieser Stelle kein entsprechendes Gegengewicht ein­ zusetzen haben.

Hierarchisch aufgebaute Systeme haben allerdings den Nachteil, dass sie eine Mehrheit eigenwilliger Elemente unter den einigenden Willen eines einzigen übergeordneten Elements in Gestalt einer Führerpersönlichkeit (oder eines Führungskollektivs) zwingen müssen und dadurch u. U. Wider­ stand hervorrufen. Sie müssen den äußeren Zwang zur Einigung auf diese Führerpersönlichkeit deshalb erstens so gering wie möglich halten und an seine Stelle einen inneren Zwang dadurch aufbauen, dass sie die Einigung auf diese Führerpersönlichkeit als notwendig zur optimalen Befriedigung vorherrschender individueller Bedürfnisse der Systemelemente (: der Ge­ meinschaftsmitglieder) und vorherrschender Interessen des Systemganzen (: der Gemeinschaft) propagieren. Dasselbe gilt für die Führerschaft eines Normensystems, z. B. einer Rechtsordnung. Das Brauchtum hatte noch die Befriedigung aller individuellen Bedürfnisse und aller Interessen des Sys­ temganzen zum Inhalt. Die Rechtsnormen mussten dies zwar ebenfalls tun, wenn sie zur Rechtsordnung eines Volkes werden wollten; aber zu­ nächst mussten sie bestimmte aktuelle Bedürfnisse und Interessen zur ih­ ren zentralen Anliegen erheben und den Normadressaten deutlich machen, dass diese nur durch den Einsatz rechtlichen Zwanges befriedigt werden können. Nur so lässt es sich m. E. genetisch erklären, dass Rechtsnormen historisch zu­ nächst ganz bewusst nur zur Befriedigung bestimmter Bedürfnisse eingesetzt wur­ den (in Athen etwa von Drakon und Solon, in Sparta von Lykurg), ohne dass man gleichzeitig eine Gesamtrechtsordnung auch nur in Erwägung zog. Sämtliche zu­ sammenfassenden Publikationen von geltendem Recht beschränkten sich in der Antike auf dem Volk besonders wichtig imponierende Materien, weil nur auf diese Weise die Erwartung bestand, dass sie im Volk angenommen wurden. Im Übrigen ließ man die Normierung im Graubereich zwischen Sitte und Recht und damit zwischen bloßer Weisung und strikter Geltung. Eine Gesamtrechtsordnung hätte dagegen wahrscheinlich ihren Nutzen verfehlt und viel eher die Gefahr heraufbe­ schworen, dass mit ihr unzufriedene Gemeinschaftsmitglieder sich zusammen­ schlossen, um einen Aufstand zu proben.

•• (3) Die organisatorische Ausrichtung der Rechtsnormen galt einem Zusammenleben in sozialer Harmonie und da vor allem der Ordnung dem internen Wettbewerbs um ökonomische, soziale oder politische Macht – also einem Problem, dessen Lösung mit zunehmender Größe der Popula­ tionen immer schwieriger, aber auch immer wichtiger wurde. Vor der Sesshaftigkeit hatten vor allem die Männer um soziales Ansehen konkur­ riert − im Frieden beispielsweise durch diplomatisches Geschick, im Krieg durch Tapferkeit oder auch durch Grausamkeit gegenüber Feinden.793 Ihre 793  Vgl.

oben F 2 a Zusatz 1.

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

nach außen wirkende Machtentfaltung bedurfte nur so weit normativer Korrektur, wie sie eine Gegenreaktion provozierte, die der Gemeinschaft schadete, etwa den Gegenschlag eines Nachbarvolkes auf einen Raubüber­ fall. Interne Agressivität dagegen musste von vornherein durch Normen besänftigt werden, weil sie zum Auseinanderbrechen der Gemeinschaft führen konnte: dass ein Teil künftig entweder eigene Wege ging oder den Wegen anderer Gruppen folgte. Nach der Sesshaftigkeit der Populationen änderte sich die Situation. Denn ein Auseinanderbrechen der Gemeinschaft wurde von jetzt an unwahrscheinlich; dafür nahm aber die Macht der in­ ternen Konkurrenz zu, weil sie nach außen kein Ventil mehr fand. Das Schwergewicht der Konkurrenz lag wiederum auf dem sozialen Ansehen, wurde aber jetzt vor allem auf die wirtschaftliche Macht der Familien gegründet. Diese Konkurrenz − sie beruhte meistens auf der Größe des Land- und Viehbesitzes − musste reduziert werden, soweit sie die Gesamt­ gemeinde schwächte; und das tat sie umso mehr, je begrenzter der Sied­ lungsraum war, den sie innehatte. Als Maßnahmen wurden deshalb ergrif­ fen: die gemeinsame Meliorisierung des insgesamt zur Verfügung stehen­ den Landes, etwa durch Bewässerung (Kanalisierung strömenden Wassers) und durch Düngung; die Vergemeinschaftung des Landes, indem jede Fa­ milie künftig prozentual gemäß ihrer Größe daran beteiligt war; die Ver­ teilung des Eigentums am Land gemäß einer gefestigten sozialen Hierar­ chie, indem etwa dem obersten Herrscher (Häuptling, König) alles Land gehörte und er es an seine Untergebenen als Untereigentum (je nach deren Position innerhalb der Hierarchie) vergab oder lediglich verpachtete.794 Doch auch danach bestanden oft noch starke soziale Spannungen, manch­ mal bis hin zur Schuldknechtschaft der einen Familien und zum übergro­ ßen Reichtum der anderen. Und alle wussten: Versagten die normativen Mittel, dann drohten Aufstände oder Zerfall.795 •• (4) Allein die Reduzierung der internen Konkurrenz reichte jedoch nicht aus, um eine Gemeinschaft zusammenzuhalten. Hinzutreten musste eine gemeinsame prosoziale Einstellung: ein empathisches Eingehen auf die individuellen Bedürfnisse der Mitglieder und auf die allen gemeinschaft­ oben G 2 a α. Aufstände der Bevölkerung gegen eine zwangsweise auferlegte Normenordnung werden aus der Antike nicht berichtet. Es gab sie offenbar nur von Sklaven, die in Kriegen gefangen genommen, verkauft und anschließend der Willkür ihrer Herren ausgeliefert wurden, sowie von ursprünglich freien Bauern, die als Schuldknechte arbeiten und die Früchte ihrer Arbeit fast vollständig an ihre Herren abliefern mussten, z. B. sowie von den Heloten (den Ureinwohnern Lakoniens), die nach ihrer Besiegung durch die Spartiaten dieses Schicksal ereilte. Zu einem weiteren Bauernaufstand kam es im 6. Jh. v. u. Z. rings um Athen, als die Stadt so schnell wuchs, dass zum Ausgleich die umliegenden Höfe der Bauern immer mehr schrump­ fen mussten und bald ihre Eigentümer nicht mehr ernähren konnten. 794  Vgl.

795  Allgemeine



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lichen Interessen. In kleinen Gemeinschaften hatte dafür der Sozialtrieb gesorgt, der sich in den Tausenden von Jahren gemeinsamen Umherzie­ hens herausgebildet und verstärkt hatte. In größeren Gemeinschaften ge­ nügte er nicht mehr; ihm zur Seite mussten normative (soziale bzw. recht­ liche) Pflichten treten. Sozialgenetisch bildeten daher konventionelle und sittliche Normen für kleine Gruppen einen frühesten Ordnungsrahmen: zunächst für das der persönlichen Gestaltung unterstellte Zusammenleben innerhalb von familiären, später für das durch Brauchtum ergänzte Zusam­ menleben von größeren verwandtschaftlichen Einheiten (Großfamilien, Sippen). Hierarchisch aufgebaute größere Gemeinschaften (Häuptlings­ schaften, Königreiche, Protostaaten) benötigten bereits frührechtliche bzw. rechtliche Normen zu ihrer Organisation. Individualgenetisch gewährten die Regeln für den Umgang innerhalb der Familie sowie für die Beziehungen zur weiteren Verwandtschaft dem Nachwuchs erste Si­ cherheit vor Anfeindungen und Hilfe beim Aufbau einer Vertrauensbasis. Später lernten die Jugendlichen, dass sie zwar zu den Mitgliedern seiner Familie ein un­ begrenztes und zur weiteren Verwandtschaft immerhin ein begrenztes Vertrauen haben durften, dass sie aber zu Gleichaltrigen in einem Konkurrenzverhältnis standen, das sie nur abbauen konnten, indem sie sie zu Freunden gewannen. Noch später traten immer mehr fremde Menschen in ihren Lebenskreis, die Bezugsgrup­ pen wurden größer und anonymer. Orientierung in dieser Welt der Fremden ge­ währten ihnen dann nur noch interaktionale Normen, welche Rechte und Pflichten im gemeinschaftlichen Umgang begründeten und die sie erlernen mussten, wenn sie sozial erfolgreich agieren wollten.

Sozialgenetisch traten neben die universell geltenden Normen fast überall spezielle Normen für neue Einheiten. Insbesondere wurden Arbeits- und Betriebsgemeinschaften, die hauptsächlich von Leitideen für eine wirt­ schaftliche Nutzenmaximierung zusammengehalten wurden,796 fast durch­ gängig durch rechtliche Normen organisiert, weil zum einen die Verwirk­ lichung ihrer Ideen nicht mehr der Selbststeuerung überlassen, sondern von den Vorgaben ihres Leiters bestimmt wurden, und weil zum anderen ihr Leiter für die Erreichung der überindividuellen Ziele verantwortlich war, sodass er sichergehen musste, dass sie erreicht werden. In größeren Gemeinschaften und zumal in den Protostaaten vergrößerte sich dann die Anzahl der Ziele, sodass rechtliche Normen i. d. R. weitere Aufgaben zu erfüllen hatten. Der ebenfalls durch Normen gesteuerte intrasoziale (z. B. ökonomische) Wettbewerb veränderte sich in größeren Gemeinschaften insofern, als erst­ 796  A. Heuss (1973), S. 168: „Der Bewusstseinszwang, nur in einer geordneten Welt handeln zu können, sitzt tief im Menschen und durchdringt ihn völlig. … Das ist der Reflex der Tatsache, dass [die menschliche] Existenz dimensional ist und in Bezug auf das Handeln in erster Linie sich in die Dimension der Ordnung erstreckt.“

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

mals auch betriebliche Einheiten (z. B. Handwerksbetriebe, landwirtschaft­ liche Betriebe, Handelsunternehmen) daran teilnahmen. Für die einzelnen Mitglieder betrieblicher Einheiten verminderte sich die Bedeutung des Wettbewerbs jedoch, weil die Verantwortung für das Erreichen der vorge­ gebenen Leitziele nur die Leitungsebene traf, während auf der Ebene der einfachen Mitglieder jeder allein für seine persönliche Leistung einzuste­ hen hatte. (ββ) Höherentwicklung. Konflikthaftigkeit ist ein nicht eliminerbarer Grundzug menschlicher Gesellschaften. Schwelen Konflikte aber zu lange und sind sie Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Spannungen oder Friktionen, geht eine Gesellschaft an ihnen zugrunde. Deshalb muss es das Ziel einer jeden Gesellschaft sein, der Entstehung notorischer Konflikt­situationen vor­ zubeugen und zur Lösung gleichwohl entstandener Konflikte Verfahren be­ reitzustellen. Einen wesentlichen Beitrag zur Vorbeugung leistete schon im Altertum die rechtzeitige Eingliederung des Nachwuchses in die Welt der Erwachsenen. Je früher sie begann, desto leichter war sie; denn der Nachwuchs erlebte diese Welt dann von vornherein als ‚natürlich‘ und für das eigene Verhalten ver­ bindlich. Anfangs, in den umherziehenden Horden, bestand daher die Auf­ gabe der Eltern im Vorleben des jeweils ‚richtigen‘ Verhaltens, die der Kinder im Abschauen; nur ein kleiner Teil blieb der münd­lichen Unterweisung vor­ behalten. Später, in den Stammesgesellschaften, wurde die Aufgabe der El­ tern zwar beibehalten, aber ergänzt durch das Senioritätsprinzip,797 wonach die Aufgabe der älteren Generation in der Leitung und Unterrichtung der jüngeren, die Aufgabe der Jugend in der Verinnerlichung ihrer Lehren be­ steht. Das Ausmaß der mündlichen Unterweisungen vermehrte sich also be­ trächtlich. In den hierarchisch aufgebauten Gesellschaften schließlich war die Situation noch komplizierter: Hier standen an der Spitze Persönlichkeiten, die idealerweise erstens über Klugheit, zweitens über organisatorische Fähig­ keiten und drittens über Machtmittel verfügten, um das, was sie als ‚richtig‘ ansahen, den anderen als Weisung vorzugeben und notfalls auch durchzuset­ zen. Auf sie mussten folglich auch Erwachsene hören, sodass die Jugend die Autoritätsstruktur als doppelstöckig erlebten und die mündlichen Anweisun­ gen so, dass erstmals ‚Sein‘ und ‚Sollen‘ klar auseinandertraten. Diejenigen, welche die Führereigenschaften auf sich vereinigten und sich in der Gemeinschaft ein unangefochtenes Ansehen erworben hatten, waren in den Clans die big men.798 Allerdings ist nichts von Dauer, auch nicht die 797  Es wird (alternierend mit dem Anciennitätsprinzip) auch heute noch überall angewandt, wo sich keine klaren Führungsstrukturen herausgebildet haben. 798  Vgl. näher etwa R. Gordon/M. J. Mervon (1985).



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Führungskompetenz eines big man. Sobald er alt wurde, sobald er anfing, Fehler zu machen, sobald es mit seiner Kunst der Menschenführung und mit seinem Reichtum bergab ging, witterten Jüngere die Chance, an seine Stelle zu wechseln. Oft ging ein solcher Wechsel nicht ohne Blessuren ab, oft er­ zeugte er Unruhe, oft auch schwächte er die Gemeinschaft, und nichts von all dem war gut. Man musste also auch eine ruhige Weitergabe des Zepters sichern, indem man die Macht zur Leitung einer Gemeinschaft auf Dauer stellte. Dies aber war nicht anders möglich als durch die Institutionalisierung eines politischen, d. h. mit Machtbesitz verbundenen, Amtes. Die Völker er­ fanden dieses Amt offenbar unabhängig voneinander, allein aufgrund einer allgemeinen orthogenetischen Tendenz. Sie erwählten z. B. den Chef des reichsten und mächtigsten Clans zum Leiter, weil sie von ihm annahmen, dass er so, wie bisher seinen Clan, in Zukunft als Häuptling den gesamten Stamm erfolgreich führen werde, und von dem sie zusätzlich erwarteten, dass seine Herrschaft mit dem Tode nicht enden, sondern sich in seiner Fa­ milie, etwa an seinen ältesten Sohn, fortpflanzen werde ‒ sodass die Ortho­ genese auch für künftige Zeiten gesichert war (und keine Unruhe mehr ent­ stand). ‚Macht‘ wird heute allgemein mit Max Weber799 definiert als „die Chance eines Menschen oder einer Mehrheit solcher, den eigenen Willen in einem Gemeinschafts­ handeln auch gegen Widerstand anderer daran Beteiligter durchzusetzen“. Die Offen­ heit dieser Definition gewährt vielen, sich unter ihr zu versammeln. Denn Macht kann danach nicht nur auf hohen physischen oder ökonomischen Durchsetzungschan­ cen, sondern auch psychischen oder intellektuellen beruhen. Auch Normen können Einfluss auf die Psyche gewinnen und Macht bzw., wie sie dann heißt, ‚Herrschaft‘ begründen.800 Und die politische Kunst besteht nicht zuletzt darin, dass eine einmal erworbene Macht normativ als Herrschaft legitimiert wird.

Ein entsprechender Wahlvorgang wie zur Einsetzung eines Häuptlings musste sich wiederholen, sobald der Zusammenschluss mehrerer Stämme im Raume stand. Als deren Oberhäuptling kam diesmal in erster Linie in Be­ tracht, wer Häuptling des größten und mächtigsten Stammes war, weshalb ihm z. B. die anderen Stämme schon bisher gefolgt waren, wenn es um Feld­ züge gegen die Nachbarstämme ging. Manche Autoren, etwa Robert L. Car­ neiro, sehen im Zusammenschluss zu einer solchen pan-tribalen Einheit schon die Schwelle zur Staatlichkeit überschritten.801 Doch damit vollziehen sie m. E. den zweiten Schritt vor dem ersten. Denn zwischengeschaltet gab es – insbesondere in Afrika und Südost-Asien – die Königreiche, die zwar gleich Staaten eine einheitliche Verwaltung, ein einheitliches Heer und einen 799  M.

Weber (1922/2001), S. 252 u. ö. wo Gewalt und Recht zusammen zieh’n, Wer sah wohl ein Gespann, das diesem gleich?“ (Aischylos). 801  Siehe R. L. Carneiro (1981). 800  „Denn

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

gemeinsamen Anführer hatten, anders als die Staaten aber noch keine ein­ heitliche Verwaltungs- und Rechtsordnung. Daher stand die politische Macht eines Königs der eines Staatsoberhaupts zwar nicht notwendig nach: Er herrschte von einer Hauptstadt aus über sein Land, und seine Residenz er­ strahlte in hellem Glanz. Aber seine Macht war doch von der Treue seiner Beamtenschaft abhängig (weshalb er diese regelmäßig aus seiner Verwandt­ schaft wählte), und der Glanz seiner Residenz beruhte auf den Steuereinnah­ men, welche die Beamten in den Provinzen des Reiches nicht nur einsam­ meln, sondern auch bei Hofe abliefern mussten. Aus diesen Gründen erlaub­ ten erst die Erfindungen der Schrift und des Aktenwesens eine zentral orga­ nisierte Herrschaft, worin die königlichen Anordnungen buchstabengetreu umgesetzt, die Steuereinnahmen aktenmäßig registriert und ihre Ablieferung bei Hofe zentral kontrolliert werden konnten. Ende und Höhepunkt der or­ thogenetischen Entwicklung bildeten somit erst jene auf Aktenführung beru­ henden Bürokratien, welche die Macht der Zentrale mit der Wacht über die Beamten verbanden. Sie erst waren erste Staaten (‚Proto-Staaten‘), die ihren Bürgern ein höchstmögliches Maß an Zusammenhalt, an Rechtssicherheit und manchmal auch an Wohlstand boten – und worin nur noch das Problem der sozialen Gleichheit (‚Sozialstaatlichkeit‘) ungelöst blieb: Vor allem in Rom wurde es virulent, und seither hat es die Völker regelmäßig beschäftigt. Parallel zur ontogenetischen Entwicklung im Staat vollzog sich auch eine Entwicklung zum Recht. Aber während die Staaten sich physischer Macht­ mittel zwecks Beherrschung des Verhaltens bedienen konnten, musste das Recht sich auf psychische Mittel zur Beherrschung des Willens beschränken: (a) Beginnend mit dem Bewusstsein als im Hirnstamm lokalisiertem, ener­ getisierendem System (b) über die Motivation als im Zwischenhirn und in Teilen des Neokortex lokalisiertem, Verhaltensakte initiierendem System802 erstreckte sich seine Herrschaft (c) bis in den im Frontalkortext lokalisierten, finales Verhalten steuernden Denk- und Willensprozess hinein, indem sie •• für den Bewusstseinsbereich einer Person Schutzrechte (beispielsweise in Gestalt von Besitzschutz) begründete, welche die dort vorhandene sensu­ motorische Leistungsfähigkeit zur Grundlage hatten; Die h. M. in Deutschland fordert für den Schutz eines Besitzes ‒ weil sie insge­ samt (im Anschluss an die Pandektenwissenschaft) das Willensdogma zur Grund­ lage des Privatrechts gemacht hat ‒ stattdessen einen Besitz‚willen‘. Sie lässt aber einen ‚natürlichen Willen‘ genügen, den jeder habe, der in der Lage ist, eine auf Dauer angelegte Beziehung zu einer Sache zu begründen. Dennoch würden dann Kleinkinder in den ersten Lebensjahren und hochgradig Geisteskranke keinen Be­ sitz begründen oder schützen können und müssten im Besitzwillen gesetzlich ver­ 802  Emotionen werden regelmäßig angeregt von Reizen, die auf die Sinnessysteme einströmen und von diesen weitergeleitet werden.



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II651 treten werden. Das würde jedoch zu künstlichen Konstruktionen fern jeder Realität führen.803 Deshalb erlaubt m. E. nur die Aufgabe des (ohnehin wissenschaftlich überholten) Willensdogmas eine saubere konstruktive Lösung.

•• für den Machtbereich einer Person einerseits Schutzrechte (beispielsweise in Gestalt von Eigentumsschutz) vorsah, welche soziale Veränderungen durch sogen. Realakte (z. B. die Verarbeitung einer Sache) zur Grundlage hatten, andererseits Rechtspflichten (beispielsweise zur Verkehrssiche­ rung) begründete, welche soziale Veränderungen durch Realakte (z. B. die Räumung von Schnee) zur Folge hatten; und •• für den Denk- und Willensbereich einer Person einerseits aktive Geltung (beispielsweise in Gestalt von Anspüchen) erzeugte, woraus sich reziprok Schuldverpflichtungen anderer Personen (z. B. zur Erbringung einer ver­ traglichen Leistung) ergaben, andererseits passive Geltung (beispielsweise in Gestalt von Schuld) erzeugte, welche zur Tilgung bzw. Sühnung (z. B. zum Erdulden einer Strafe) verpflichtete. Das von der Pandektenwissenschaft entwickelte Dogma von einer ‚Willenser­ klärung‘ verleitet zur falschen Auffassung, dass Rechtsherrschaft durch die Erklä­ rung eines Willens ausgeübt wird. Indessen beruht sie auf der Erklärung des Ge­ wollten, seines Inhalts bzw. eines Ziels, das verwirklicht werden soll.

Die Entwicklung zum Recht verlief soziogenetisch: Die bloße Machtent­ faltung bestimmte den frühzeitigen Eigentumserwerb, für den ein isolierter Akt (z. B. ein Raub) genügte. Die Finalität bestimmte den frühzeitigen Ga­ bentausch, dessen mentaler Zweck sich allerdings noch im Geben erschöpfte und der lediglich eine Festigung der sozialen Bande (Adjunktion) zwischen den Sozietätsangehörigen zur Folge hatte.804 Die nächsten Schritte zur Konjunktion waren für das Recht am wichtigsten. Ein erster Schritt im Über­ gangsbereich zwischen sozialer und rechtlicher Ordnung verknüpfte mit dem Geben die sozial begründete Erwartung einer reziproken Gegenleistung: Es kam zum stummen Warentausch ‚von Hand zu Hand‘.805 Ein zweiter Schritt erhöhte dann die soziale Erwartung zum rechtlich begründeten Anspruch: Der Gläubiger erhielt das Recht, die Gegenleistung im Wege einer Klage vor Gericht einzufordern. Gleichzeitig verlagerte sich die rechtliche Bedeu­ tung von der äußeren Form der Rechtsgeschäfte auf ihren inneren Gehalt dazu F. L. Schäfer in BGB MK (2020), § 868 Rn. 21. galt auch für die (noch heute üblichen) wechselseitigen Einladungen und wechselseitigen Hilfsdienste (etwa bei der Ernte) ‒ allemal überwog dabei der soziale Aspekt den kommerziellen. 805  Siehe dazu oben F 3 ε. Erfüllte sich die Erwartung nicht, dann lag darin keine Rechtsverletzung, wohl aber ein Verhalten, das den Vorleisteundgen entweder zur ei­ genmächtigen Rücknahme seiner Leistung (so in den Stammesgesellschaften) oder zu ihrer Rückforderung (so in Rom: causa data causa non secuta; ebenso im deutschen Recht: § 812 Abs. 1 S. 2, 2. Alt. BGB) berechtigte. 803  Vgl.

804  Gleiches

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

und ihre Bewertung von der realen Vornahme auf die willentlich gesetzte Ursache: Das Ergebnis war der beiderseits rechtsverbindliche ‚Vertrag‘. Beispielhaft ist die Entwicklung des Tauschvertrags im römischen Recht.806 Der Austausch von Sachen konnte dort ursprünglich nur von Hand zu Hand, also als Zugum-Zug-Geschäft, vollzogen werden. Er setzte sich folglich aus zwei selbstständigen Erwerbsakten zusammen, die lediglich als kausal verbunden gedacht wurden.807 Aufgrund der Ausbildung des juristischen Eigentumsbegriffs nahm der Austausch dann jedoch auch rechtliche Züge an, weil nunmehr nicht nur die Sachen ausgetauscht werden mussten, sondern auch die Berechtigung daran. Für die weitere Entwicklung war deshalb Wegbereiter das Darlehen in Form des nexum: Wer es gegeben hatte, konnte als creditor vom debitor, der es erhalten hatte, durch sein Wort die Verpflich­ tung zur künftigen Rückgabe begründen.808 Hieran schloss sich die Figur des Real­ kontrakts an, der halb gegenwärtig-gegenständlich, halb zukünftig-vorausschauend geschlossen wurde: do ut des – wobei sich das do auf die Gegenwart, das ut des auf die Zukunft bezog. Noch später gelangte man zur vollständig vergeistigten Form des Realkontrakts, indem man den Realakt des Gebens durch eine bloß gedachte Vorleis­ tung ersetzte. Und da die Vorleistung auch beiderseits als erbracht fingiert werden konnte, stand nunmehr der bilateralen Verpflichtung zur Rückgabe des (fiktiv) Erhal­ tenen nichts mehr im Wege. Der Rechte und Pflichten begründende Libralkontrakt hielt Einzug in das Rechtsleben. Und am Ende vertrat rechtlich das Leistungsverspre­ chen (ahd. fer = fort = lat. ob in obligatio) vollends die Stelle der Leistung, während die Leistung selbst die Funktion einer (das leere Wort ‚voll‘ machenden) Erfüllung des Versprechens erhielt. Dieser Schritt konnte vollzogen werden, weil die Gesell­ schaft bereits das verbale Versprechen als verbindlich und mittels Klage durchsetzbar anerkannte: Sozial galt die Rechtsänderung als vollzogen, obwohl sie es real noch nicht war.

Ein letzter Schritt blieb freilich immer noch zu tun. Er musste zur gedank­ lichen Verselbstständigung sowohl des Vertrages als auch weiterer Rechtsin­ stitute führen, damit sie als geistig eigenständige Entitäten samt ihren Vor­ aussetzungen und Folgen in den Gesetzen geregelt werden konnten. Diesen Schritt ging jedoch noch nicht der antike, sondern erst der neuzeitliche Mensch. Ich werde daher erst im letzten Teil meiner Untersuchung darauf eingehen.809 An dieser Stelle bleibt nur zu erwähnen, dass neben dem materiellen auch das formelle (prozessuale) Recht gewisse Gesetzmäßigkeiten ausbildete, etwa um die Folgenden E.-J. Lampe (1997b), S. 201 ff. das altrömische Erwerbsgeschäfte, das manicipium, wies Züge des hand­ haften Sichbemächtigens auf (manu capere = mit der Hand ergreifen). 808  Nach M. Kaser (1971, § 43 II 2a, S. 167) war auch das nexum zunächst ein reiner Tauschakt: Der Geldgeber wog dem anderen Teil eine effektive Geldsumme zu und erhielt von diesem dafür die Zugriffsgewalt auf seine Person eingeräumt; diese Zugriffsgewalt durfte er allerdings erst ausüben, wenn die Rückzahlung der Summe zur vereinbarten Zeit ausblieb. 809  Vgl. unten K 6 b ε δδ. 806  Zum

807  Noch



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II653

‚Waffengleichheit‘ beider Streitparteien in Tat und Rede (audiatur et altera pars) sowie die Unparteilichkeit des über einen Streit urteilenden Dritten – der regelmäßig ein Höherer sein musste – durchzusetzen. Insoweit war der Pfad der Entwicklung vorgegeben, und nur noch Details mussten ergänzt werden.

(γ) Ethnische Orthogenesen und Radiation. Eine globale Orthogenese des Rechts wäre nicht möglich gewesen, wenn ihre das Gemeinschaftswohl för­ dernde Wirkung nicht auch auf andere Völker ausgestrahlt hätte (sogen. ‚Radiation‘), und zwar unabhängig davon, ob die Strahlkraft sogleich wahr­ genommen wurde oder nicht. Dass vor mehr als zehntausend Jahren von den Völkern im Gebiet des sogen. ‚fruchtbaren Halbmonds‘ die höchste Strahlkraft ausging, weshalb sie die Führerschaft in der menschlichen Kulturentwicklung übernehmen konn­ ten, ist in den vor allem hier vorherrschenden klimatischen Bedingungen für die Schaffung eines ökonomischen Surplus begründet: Die Erde erlaubte den Ackerbau und ließ die für die menschliche Ernährung wichtigsten Gras- und Pflanzenarten, an ihrer Spitze Weizen und Gerste, gedeihen. Der Schritt von der aneignenden zur produzierenden Wirtschaft konnte hier also am besten gelingen.810 Und da mit diesem Schritt notwendig die Sesshaftigkeit verbun­ den war, haben beide sich von hier aus in einem „autokatalytischen Prozess“811 dorthin ausgebreitet, wo ähnliche Voraussetzungen vorhanden waren oder mit geringer Mühe geschaffen werden konnten. Weniger durch Diffusion als durch Migration812 wurden sie vor allem nach Europa und Nordafrika vermittelt, darüber hinaus weit hinaus nach Asien, wo statt Ge­ treide jedoch Reis angebaut wurde, weil der dort besser gedieh. Ob dann al­ lein die ökonomische Strahlkraft auch für die Entwicklung der sich allenthal­ ben ausbreitenden nicht-ökonomischen Hochkulturen der hinreichende Grund war, wissen wir nicht. Wir dürfen es aber vermuten, weil auch anderswo und zu anderen Zeiten sich von ökonomischen Grundlagen aus eine Tendenz zu künstlerischem Luxus emanzipiert hat – ein prominentes Beispiel ist die Entwicklung der holländisch-flämischen Malerei. Wir registrieren jedenfalls einen neuen Abschnitt in der Menschheitsentwicklung. Bedrängen bzw. unterwandern ließen sich die Hochkulturen künftig nur noch krie­ gerisch. Und dazu in der Lage waren fast nur noch Völker, denen ihre Kultur spezi­ fisch kämpferische Vorteile verschafft. Ein solcher Vorteil ergab sich beispielhaft aus der Erfindung der Trense: Sie erlaubte die Zähmung von Pferden und deren Einsatz beim Angriff auf zu Fuß kämpfende Gegner. Genutzt wurde der Vorteil vermutlich Mitte des 4. Jahrtausends v. u. Z., als klimatische Veränderungen in den Gegenden 810  J. Diamond (2012), S. 156 ff. Die genannten Getreidesorten ließen sich leicht züchten, weil sie schnell reproduzierend, leicht zu ernten und zwecks Vorratshaltung und neuer Aussaat gut zu lagern waren. 811  J. Diamond (2012), S. 126. 812  L. Cavalli-Sforza (1999), S.  118 ff.

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

nördlich des Schwarzen Meeres bzw. im Kaukasusgebiet die dort siedelnden und Pferde züchtenden Völker zum Auswandern in bereits besiedelte Gebiete zwangen. Offenbar in kleinen Trossen drangen sie damals zunächst in die Weiten Osteuropas und Vorderasiens vor, bis sie später auch den Südwesten Asiens (Indien) erreichten.813 Als Zeugnisse ihrer Anwesenheit und gleichzeitig als Hinweise auf ihre kulturelle Entwicklung und auf ihre soziale Lebensweise hinterließen sie diesmal keine stum­ men, wohl aber beredte Zeugnisse, nämlich Begriffe aus ihren später als ‚indoarisch‘ bezeichneten Sprachen. Ob und inwieweit sie darüber hinaus normative Strukturen ihres Zusammenlebens mitbrachten und gegenüber den vorgefundenen durchsetzten, wissen wir nicht. Daher können wir indoarische Einflüsse auf die spätere Rechtsent­ wicklung aufgrund der ohnehin schwer verfolgbaren sprachlichen Etymologie ledig­ lich vermuten.814

(δ) Der Schwerpunkt der Höherentwicklung. Auch zur kulturellen Ent­ wicklung in Südeuropa und da insbesondere der italienischen Halbinsel, wo, ex post gesehen, am Ende der Schwerpunkt der antiken Rechtsentwicklung lag,815 fehlen uns nähere Hinweise – und zwar nicht nur auf die ersten Sied­ ler, sondern auch auf die Volksgruppen, die später (in etwa seit dem 10. Jh. v. u. Z.) von Norden einwanderten. Immerhin wissen wir, dass es sich bei den Einwanderern abermals um Teile indogermanischer Völker aus dem Osten Europas handelte und dass sie hier teils auf indogermanische Vorläufer tra­ fen, die aus Griechenland (Mykene) eingewandert waren, teils auf fremde Völker, deren Herkunft bisher ungeklärt ist. Die von Norden einwandernden Volksgruppen (der Einfachheit halber ‚Italiker‘ genannt) breiteten sich in Etrurien (Villanova-Kultur) und im südlich davon gelegenen Latium aus, gewannen aber in beiden Gegenden offenbar nicht die kulturelle Oberhand, denn aus dem 7. Jh. v. u. Z. sind uns Inschriften überkommen, die nördlich in etruskischer, südlich in latinischer Sprache abgefasst sind. Während die Herkunft der Etrusker bis heute ungeklärt ist, nimmt man von den Latinern an, dass sie Indogermanen waren, die sich in Mittelitalien mit nicht-indoger­ manischen Ureinwohnern vermischt hatten, woraus dann als Sprachen das Sabellische und das Frühlateinische entstanden. Das Sabellische zerfiel allerdings schnell wieder Eindringen der Ārya in Indien vgl. oben G 2 α. ist dieser Vermutung Ende des 19. Jh.s der Jenaer Rechtsprofes­ sor B. W. Leist (1896, zusammenfassend S. 378 ff.). Er hat einige der indoarischen Einflüsse auf die Rechtsentwicklung, gestützt auf einige linguistische Evidenzen, be­ nannt und sich damit u. a. gegen v. Jhering gewandt, der zuvor dem ägyptisch-baby­ lonischen Einfluss eine stärkere Bedeutung zuerkannt hatte. Die weitere rechtswissen­ schaftliche Diskussion hat sich mit der Frage anschließend nicht befasst, sodass ihre Bedeutung bis heute ungeklärt ist. Deswegen werde ich dem Einsickern indoarischen Rechtsdenkens (genauer: prärechtlichen Denkens) in den indogermanischen Sprach­ raum und seine Rechtskultur ebenfalls nicht nachgehen und mich auf die jüngere, südlich von uns in Italien verlaufene und im römischen Recht kulminierende Rechts­ entwicklung beschränken. 815  Zum Folgenden L. Aigner-Foresti (2009). 813  Zum

814  Nachgegangen



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II655

in zahlreiche Dialekte, die hauptsächlich von den Hirtenvölkern in den Bergen Kam­ paniens gesprochen wurden; aus dem Frühlateinischen dagegen ging unter dem Ein­ fluss Roms das Spätlateinische hervor, das alsbald auch die Sprache der Gebildeten in den übrigen latinischen Städten wurde.

Wichtig für die weitere Entwicklung war, dass sowohl von Etrurien als auch von Latium aus viele Kontakte zu den griechischen Kaufleuten entstan­ den, die in Süditalien Handelsniederlassungen (u. a. auf der nahe dem Fest­ land gelegenen Insel Ischia) und Städte (u. a. auf dem Festland Κύμη, lat. Cumae) gegründet hatten. Die sprachlichen Barrieren zu ihnen blieben zwar in der Folgezeit erhalten, doch öffnete sich für die Gebildeten in den etruski­ schen und latinischen Städten816 der Zugang zur griechischen Kultur. Und da diese die überlieferte ländliche Kultur weit überragte, vertieften sich die so­ zialen Unterschiede zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung. An dieser Entwicklung änderte auch das Einsickern der nördlichen Völker kaum etwas; denn ihre Mitglieder siedelten hauptsächlich in den Städten und ver­ tieften dort allenfalls die bestehenden Differenzen in der Arbeits- und Aufga­ benverteilung. In der Folge entstand aus alldem jedenfalls ein hohes soziales Konfliktpotential, dessen Befriedung man zunächst noch glaubte, der priva­ ten Selbsthilfe der Familien überlassen zu können, das allmählich jedoch so viel an Härte (bis hin zur Blutrache) annahm, dass obrigkeitliches Eingreifen erforderlich wurde. Genaues wissen wir wiederum nicht, begründet vermuten können wir aber, dass das Eingreifen sich hauptsächlich gegen den ärmeren Teil der Bevölkerung richtete. Denn dass die Sitten rau waren, davon zeugen nicht nur manche Normen des in Rom im 5. Jh. aufgezeichneten XII-Tafel­ gesetzes, sondern auch die Insignien der in Rom tätigen Liktoren817, das Rutenbündel und das Beil. Diese Insignien der Amtsgewalt, die sie deutlich sichtbar vor deren Inhabern hertrugen, deuten darauf hin, dass man die pri­ vate Selbsthilfe einst dadurch eindämmte, dass man Verstöße gegen die öf­ fentliche Ordnung durch das Auspeitschen der Sünder und schwere Verbre­ chen durch Kapitalstrafen ahndete. Das römische Recht, das aus dieser geschichtlichen Entwicklung hervor­ ging (vgl. G 3) und das künftig die Fackel des Fortschritts in der Hand hielt, beruhte also einerseits auf dem gewachsenen Gewohnheitsrecht der Etrusker 816  Für die Städte kannte das Etruskische den Begriff spura, der dem lateinischen Begriff civitas und dem griechischen Begriff πόλις entspricht. Die unterschiedlichen Begriffe deuten auf selbstständige Entwicklungen hin, die sich aber übereinstimmend sowohl auf ein abgegrenztes Gebiet (Grenze = etruskisch tular), die Einwohnerschaft und die darin etablierte Herrschaftsorganisation beziehen. 817  Die Liktoren (lat. lictores) schützten ursprünglich den König als Leibwache. Später schritten sie den die Befehls- und Strafgewalt ausübenden Konsuln bei öffent­ lichen Auftritten als Amtsdiener (‚Büttel‘) mit den den Rutenbündeln (fasces) als Zeichen der Zwangs- und Befehlsgewalt voran.

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

und Latiner und andererseits auf jener nicht dem eigenen Boden entsprunge­ nen Kultur, die zu einem kleineren Teil von den eingewanderten Indoeuro­ päern mitgebracht, zum größeren Teil aber beeinflusst wurde durch die engen Kultur- und Handelsbeziehungen mit Griechenland − das wiederum enge Beziehungen zu den Phöniziern, Ägyptern und Babyloniern unterhielt. Letzt­ endlich war es somit das gesamte Mittelmeer, das an seinen Küsten eine in ständigem Austausch stehende Gemeinschaft der Kulturen bildete und keiner der Kulturen die Entwicklung allein überlassen hatte, aus dessen geistiger Grundlage das römische Recht hervorging. Daher „konnte es gar nicht feh­ len, dass [auch] die hohe Kultur der orientalischen Völker auf die zunächst niedriger stehenden Gräkoitaliker bestimmenden Einfluss übte. So besonders in den Handelsgeschäften, dem Münzwesen, den sich verfeinernden Lebens­ bedürfnissen, der anspruchsvolleren Wohnungsweise u.dgl.“ Dennoch: „Kul­ tur ist nicht mit Rechtsordnung identisch.“818 Die Rechtsordnung wurde auf der genannten Grundlage weitestgehend erst in Rom erschaffen. Und ledig­ lich dass sie die Kraft in sich trug, schließlich weltbeherrschend zu werden, verdankt sie dem weltoffenen Einfluss des griechischen Geistes ‒ sowie dem Umstand, dass ihre Entwicklungsbedingungen den auch anderswo bestehen­ den glichen, sodass sie in viele Richtungen hin weiterentwickelt werden konnte. Diese Weiterentwicklungen waren dann freilich nicht mehr Radiatio­ nen allein des römischen Rechts; sie waren schöpferische Ergänzungen ger­ manischer, keltischer, gallischer, slawischer, indo-iranischer und anderer Völker. Das römische Recht dagegen verfiel in der Folgezeit (seit dem 3. Jh. u. Z.), sodass die leges barbarorum an Einfluss gewinnen konnten und in der Folgezeit das römische Recht nirgends mehr zur alleinigen Herrschaft kom­ men ließen. Es blühte künftig nur noch an seinen ethnischen Zweigen. Bruchstücke des römischen Rechts wurden im 6. Jh. unter dem oströmischen Kai­ ser Justinian aufgesammelt und in einem Corpus iuris civilis zusammengefasst. Es kam zu einem kurzen, aber im Grunde trügerischen Aufschwung, der danach bald wieder verloren ging. Erst seit dem 11. Jh. wurde das römische Recht in den italieni­ schen Rechtsschulen von den Glossatoren, endgültig erst seit dem 13. Jh. von den Postglossatoren wiederbelebt. Zusammen mit dem Stoff weiterer überwiegend natur­ rechtlicher Quellen entstand aus ihnen das gemeine Recht für ganz Mitteleuropa und die Grundlage der heutigen nahezu globalen Rechtskultur: Es hat alle mitteleuropäi­ schen und die meisten außereuropäischen Rechtsordnungen befruchtet – und zwar so stark, dass manche römische Rechtsregel immer noch in ihrer lateinischen Fassung zitiert wird.819 Endgültig verloren gegangen oder allenfalls in Bruchstücken erhalten sind lediglich die Schriften der berühmten römischen Juristen. Ihre Benutzung wurde durch das Corpus iuris überflüssig gemacht, da ihr praktischer Gehalt darin eingegan­

818  B. W.

Leist (1896), S. 386. Sammlung „Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter“ hat D. Liebs (Darmstadt 72007) herausgegeben. 819  Eine



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II657

gen war. Und Kaiser Justinian tat ein Übriges, um ihr Verschwinden zu beschleuni­ gen: Er erließ ein Benutzungsverbot, das zu ihrer Vernichtung führte.

e) Die Irreversibilität der Rechtsentwicklung (α) Grundlagen. Mit der orthogenetischen Tendenz ist in der Natur eng verbunden das Gesetz der Irreversibilität. Als Beispiel werden regelmäßig die Flossen der Wale und der Pinguine erwähnt: Sie sind keine Rückentwicklungen zu den Flossen, die ihre Fischvorfahren einst be­ saßen, sondern Anpassungen an die Wiedereingliederung in jene Meeresumwelt, die sie einstmals verlassen hatten, um an Land ihr Glück zu suchen. Ihre ursprünglichen Flossen hatten sie dabei irreversibel verloren.

Dass die biotische Entwicklung des Menschen (die Anthropogenese) ir­ reversibel ist, gilt als gesichert.820 Genetische Rückzüchtungen sind bisher nicht versucht worden; ob sie überhaupt möglich sind, ist unbekannt, sittlich und rechtlich sind sie ohnehin verboten. Der Nachweis, dass auch die psychische und die noetische Entwicklungen des Menschen irreversibel sind, ist zwar nicht verboten, aber schwer zu führen. Es ginge dabei nicht etwa um die Unverlierbarkeit von Erkenntnisinhalten (z. B.: ‚Es gibt kein Zurück hin­ ter Kant!‘), sondern um die Unaufgebbarkeit der Differenziertheit im logi­ schen Denken, aber auch in der ästhetischen Empfindung, in der moralischen Überzeugung und vielem anderen mehr. Soweit wir wissen, ist alles, was in der Vergangenheit an logischen Differenzierungen entwickelt wurde, einer gebildeten Schicht auch heute noch nachvollziehbar, und manches lässt sich durch spezielle Schulung sogar noch übertreffen. Das menschliche Gefühlsleben hat sich gegenüber dem Altertum zwar ebenfalls verändert, steht ihm aber, wie zuletzt die romantische Bewegung des 19. Jh.s eindrucksvoll ge­ zeigt hat, an Feinheit und Tiefe keinesfalls nach, sondern übertrifft es eher. Darüber hinaus haben die moralischen Überzeugungen seit der Antike nicht gelitten, sondern sind gerade durch die Erfahrung historischer Gräueltaten eher noch geschärft und gekräftigt worden. Zumindest als Tendenz – und um mehr geht es hier nicht – lässt sich daher eine irreversible Höherentwicklung (‚Anagenese‘) der Menschheit im Denken, Fühlen und Handeln bejahen.821 Wissenschaftlich nachgewiesen ist Irreversibilität innerhalb der Ontogenese des Menschen: Der heranwachsende Mensch entwickelt logische Strukturen von immer größerer Komplexität und Beweglichkeit, hinter die sein Denken erst infolge von Altersabbau wieder zurückfällt; sein Gefühlsleben gewinnt an Reichtum und Tiefe,

Dollosches Gesetz – vgl. B. Rensch (1972), S. 215 ff., 131 ff. dazu insbes. auch B. Snell (1980); H. Schmitz (1980), S. 21 ff., 49 ff.; N. Elias (1939/1976). 820  Sog. 821  Vgl.

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

die er nur aufgrund pathologischer Veränderungen wieder verliert;822 und seine mora­ lischen Überzeugungen und Urteile steigen von Stufe zu Stufe an, Rückfälle sind (zumindest innerhalb kulturfreundlicher Lebensverhältnisse) ausgeschlossen.823 Zu unterscheiden von dieser Irreversibilität im Entwicklungsfortschritt ist jedoch die Fähigkeit des Menschen zur Regression auf ein früheres psychisches Entwick­ lungsstadium, wenn es beispielsweise statt auf ein differenziertes Verhalten auf eine schnelle Reaktion ankommt.824 Unwillkürliches (spontanes) Verhalten wurde im Laufe der Entwicklung zwar durch willkürliches (zielgerichtetes) Verhalten ersetzt, doch ist die ursprüngliche unwillkürliche (spontane) Reaktion (z. B. infolge von Er­ schrecken) nicht verloren gegangen; vielmehr wird sie aktiv, sobald sie gebraucht wird, und oft können dafür sogar die alten Nervenbahnen benutzt werden.825 Deshalb war die frühere Ansicht der Kognitionstheoretiker falsch, dass ein einmal überwunde­ nes Entwicklungsstadium nicht mehr existiere.826 Die neuen Lerntheoretiker sind flexibler vorgegangen und haben untersucht, ob es innerhalb der Entwicklung von Kognitionen nicht doch Regressionen gibt und, wenn ja, unter welchen Bedingungen sie auftreten.827 Und sie kamen zum – inzwischen wiederholt bestätigten – Ergebnis, dass die Anagenese sich im psychologischen Bereich zwar fortsetzt, dass sie aber frühere Entwicklungsstadien nicht ausmerzt, sondern sie latent bestehen828 und ihre Kraft wiedergewinnen lässt, falls die Neuentwicklungen situativen Anforderungen nicht gerecht werden können.

Psychisch hat auch das Rechtsbewusstsein von der Höherentwicklung pro­ fitiert. Zwar hat es häufig inhaltliche Veränderungen durchgemacht: Der Abbruch der Schwangerschaft war beispielsweise mal verboten worden, mal erlaubt, mal geboten; ebenfalls folgten die rechtlichen Regelungen der ehe­ lichen Beziehungen, der Namensgebung an die Kinder, der Besteuerung des Erbes und des wirtschaftlichen Wettbewerbs wechselnden und teilweise mit­ 822  Vgl. dazu im Einzelnen vor allem die Forschungen von J. Piaget (1929; 1933; 1946) und H. Aebli (1975). 823  Vgl. dazu die oben J 1 a bb α γγ referierten Untersuchungsergebnisse von L. Kohlberg. 824  Vgl. dazu und insbesondere zur sogen. Edingerschen Regel oben H 2 c dd ζ. 825  Darüber hinaus konnten unwillkürliche Reaktionen wie etwa das (natürliche, ‚freundliche‘) Lächeln anlässlich einer Kontaktaufnahme durch willkürliche Reaktio­ nen wie etwa das (erlernte, ‚höfliche‘) Lächeln innerhalb eines Gesprächs (für das eine andere Muskelgruppe benutzt wird) kulturübergreifend überlagert werden, ohne dass das eines das andere verdrängte. 826  Vgl. oben J 2 a bb α αα. 827  So etwa T. L. Rosenthal/B. J. Zimmerman (1978), p. 154 ff. Insbesondere frei­ lich haben die Tiefenpsychologen auf Regressionen hingewiesen – etwa wenn ein (z. B. ängstlicher) Mensch auf ein früheres Entwicklungsstadium zurückfällt, z. B. anfängt, sich kindisch zu verhalten, sich mit anderen schlägt, ihnen Streiche spielt oder dem Schiedsrichter eines Fußballspiels Obszönitäten zuruft. 828  Das gilt ausnahmsweise auch für den biotischen Bereich, wo gelegentlich so­ gen. ‚Atavismen‘ beobachtet worden sind: Vollbehaarung des Körpers, den Kiemen vergleichbare Halsfisteln, überzählige Brustwarzen.



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einander unvereinbaren Trends. Denn anders als in der Entwicklung der Le­ bewesen, wo die Natur, statt neue Organe auszubilden, auf die vorhandenen zurückgreift und ihnen lediglich neue Funktionen zuweist, und anders auch als in der Entwicklung der Kultur, wo Künstler Stilrichtungen semikonserva­ tiv replizieren829 und Wissenschaftler auf zuvor gewonnenen Erkenntnissen aufbauen können, treten Rechtsregeln außer Kraft, sobald widersprechende erlassen wurden: Lex posterior derogat legi priori.830 Doch die Veränderung seiner Inhalte hat der Differenziertheit des Rechtsbewusstseins nicht gescha­ det. Vielmehr hat diese im Laufe der letzten Jahrhunderte − den Ausdifferen­ zierungen der Rechtsordnungen entsprechend − nicht nur an Flexibilität, sondern auch an Genauigkeit dazugewonnen. Mit ziemlicher Sicherheit lässt sich daher behaupten: Aufgrund einer irreversiblen Verfeinerung des Rechts­ bewusstseins lässt sich die immer größere Detailbesessenheit, mit der die neueren Rechtsordnungen das soziale Leben ordnen, nicht mehr rückgängig machen. Reversibel sind zwar Teile von Rechtsordnungen, und insoweit kann es auch zu generellen Regressionen kommen. Irreversibel aber ist die allge­ meine Tendenz der Rechtsordnungen zur detailgetreuen Erfassung des sozia­ len Lebens. Versuche, diese Entwicklung anzuhalten oder gar umzukehren, müssten scheitern. Das Rad der Rechtsgeschichte lässt sich nicht zurückdre­ hen. (β) Strukturelle Relevanz. Die Geltung des Irreversibilitätsgesetzes inner­ halb des Rechts lässt sich in mehrerlei Hinsicht aufzeigen: (1) Der einmal erreichte genetische Entwicklungstand des Rechts lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Intern ist der jeweils erreichte Stand der menschlichen (biopsychischen sowie soziokulturellen) Entwicklung auch in das Recht eingegangen. Drei Beispiele: Weil Rechtsordnungen auf dem anth­ ropologischen Fundament der Sprache aufbauen, werden sie niemals ohne sprachliche Begriffe auskommen können. Weil sprachliche Begriffe Abstrak­ tionsvermögen, Gedächtnis und Intelligenz voraussetzen, werden sich Rechtsordnungen stets dieser Fähigkeiten bedienen, um für abstrakt wieder­ kehrende Probleme intelligente Lösungen bereitzustellen. Und weil Rechts­ 829  Vgl. dazu schon oben A 4. Ein Beispiel für die Irreversibilität in der Kultur sind die neogotischen Kirchen des 19. Jahrhunderts. Sie entsprechen zwar oberfläch­ lich denjenigen, welche die Gotik des Mittelalters einst baute, sind jedoch durch ihre Glätte unschwer von den mittelalterlichen Kirchen zu unterscheiden. 830  Allerdings muss sich das neue Gesetz in das System des alten einfügen. Inso­ weit besteht dann eine ‚Pfadabhängigkeit‘ entsprechend derjenigen, welche die bioti­ sche Evolution auszeichnet. Bedeutsam wird sie insbesondere im internationalen Recht, wenn normativ vorgegebene Ziele innerhalb von Rechtsordnungen mit unter­ schiedlicher Tradition umgesetzt werden müssen – dies muss dann i. d. R. auf eben­ falls unterschiedliche Weise geschehen. Ein Beispiel benennt Ch. Henke (2010), S. 115.

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ordnungen Ansprüche und Pflichten begründen, werden sie bei ihren Adres­ saten sowohl ein ‚Ego‘ als auch die Fähigkeiten zur Selbstobjektivation sowie zu nicht-egoistischem Verhalten voraussetzen; sie werden sich m. a. W. stets an sozial empathische und handlungsfähige Subjekte richten.  ‒ Ferner wird jede Rechtsordnung auf externe Informationen reagieren, worin nach psychi­ scher Zurückhaltung, Umleitung, Modifikation etc., kurzum danach verlangt wird, dass Menschen sich in Freiheitsbeschränkungen fügen sollen. Jede Rechtsordnung wird sich daher auch auf die Komplexität der Informationen einstellen, um das soziale Zusammenleben (einschließlich der darin einbezo­ genen domestikativen Momente) zu ordnen, weil andernfalls ihr Ende als Ordnungsmacht besiegelt wäre. (2) Jede Rechtsordnung kann sich aus ihren genetischen Wurzeln nur weiterentwickeln. Global gesehen wird sie sich daher irreversibel zu mehr Kom­ plexität entwickeln: zum einen, indem sie ihre Normen nicht nur auf immer neue soziale Lebensräume erstreckt, sondern sie dort auch den sozialen Ver­ hältnissen immer genauer anpasst; zum anderen, indem sie ihre Pflege vom einfachen Volk auf intellektuell immer spezieller geschulte Personen – im Altertum auf Priester und Schreiber, später (in Rom) auf eigens ausgebildete Juristen – übergehen lässt. (3) Jede Rechtsordnung muss sich immer abhängiger von der Gesamtkultur eines Volkes entwickeln, sie kann dies jedoch immer unabhängiger von Einzelentwicklungen innerhalb dieser Kultur.831 Immer abhängiger von der Gesamtkultur wird das Recht, wenn nationale Kulturen im Laufe der Zeit immer mehr Eigenheiten gewinnen, denen sich das Recht anpassen muss. Immer unabhängiger von Einzelentwicklungen innerhalb der Kultur kann die Entwicklung des Rechts dennoch verlaufen, soweit es selber ein stärkeres Eigenleben gewinnt.832 Deshalb kann eine hochstehende Rechtsordnung auch in einer im Übrigen dahinwelkenden ethnischen Kultur bestehen, innerhalb einer auf gleicher Höhe verbleibenden Kultur aber auch verfallen. Letzteres lässt sich vor allem in diktatorischen Regimen beobachten. (4) Die weitgehende Unabhängigkeit des rechtlichen von anderen Berei­ chen einer Kultur hat ihr Pendant in der Unabhängigkeit spezieller Bereiche einer Rechtsordnung voneinander: Je mehr einzelne Bereiche einer Rechts­ ordnung Autonomie erlangen, desto selbstständiger können sie sich fortent­ wickeln und desto schwieriger lassen sie sich wieder auf ihren Ursprung 831  Vgl. auch R. Thurnwald (1936/1966), S. 362, 368: Jeder einzelne zivilisatori­ sche Fortschritt beruht auf einer Akkumulation von Kenntnissen und Wissen. Kompli­ ziertere Leistungen in einem Bereich setzen daher die vorangegangenen einfacheren im selben Bereich voraus, machen dann aber die Akkumulation irreversibel. 832  Anderes gilt lediglich für das Verhältnis zwischen den Rechtsordnungen und den ihnen zugrunde liegenden Sozialstrukturen. Vgl. dazu oben J 3 b.



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zurückstufen. Als Beispiel sei aus dem gegenwärtig geltenden deutschen Recht das Arbeitsrecht angeführt, das sich aus dem Dienstvertragsrecht ent­ wickelt, inzwischen aber so viel an Autonomie erlangt hat, dass es sich künftig nie wieder wird vollständig zurückentwickeln lassen. Auch Versuche, wenigstens gewisse Grundsätze autonomer Teilsysteme des geltenden Rechts in einem ‚Allgemeinen Teil‘ aufzufangen, hatten bisher nur einen sehr be­ schränkten Erfolg. So hat beispielsweise der Allgemeine Teil des deutschen Verwaltungsrechts zwar gewisse Grundsätze des Zivilrechts (etwa §§ 119 ff., 134, 242 BGB) in sich bewahrt, doch sieht man in ihnen Ausnahmeerschei­ nungen, die nur so weit zur Geltung kommen, wie sie mit verwaltungsrecht­ lichen Grundgedanken vereinbar sind.833 Gescheitert sind dagegen alle Ver­ suche, Entwicklungsgemeinsamkeiten von öffentlichem und privatem Recht zu formulieren – obwohl es solche Grundsätze sicher gibt: Ein Beispiel ist das Institut der Funktionsnachfolge, das zwar schwerpunktmäßig im öffent­ lichen Recht entwickelt worden ist, dennoch im privaten Recht einen schwa­ chen Ableger erhalten hat.834 Gezeigt hat sich ferner, dass dort, wo man rechtliche Besonderheiten in übergeordnete allgemeine Regeln integriert hat, diese darin zwar auf-, aber nicht untergegangen sind. Das Besondere ist im Allgemeinen vielmehr stets erhalten geblieben – wie ja umgekehrt jedes Besondere zuvor etwas Allge­ meines enthalten hatte. Abermals am geltenden Recht exemplifiziert: Die allgemeinen Vertragsbestimmungen des Privatrechts gelten zwar auch für Dauerschuldverhältnisse, aber eben nur mit jenen Besonderheiten, die für Dauerschuldverhältnisse typisch sind. Und die für Dauerschuldverhältnisse entwickelten Normen gelten zwar auch für die auf Lebenszeit geschlossene Ehe, dies aber wiederum nur mit den Besonderheiten, die für Ehen typisch sind. Manche Ausgrenzungen des Allgemeinen aus dem Besonderen haben sich daher nur teilweise als geglückt erwiesen: So erweckt beispielsweise das deutsche Strafgesetzbuch den Anschein, als habe aus seinem Besonderen Teil heraus sich ein Allgemeiner Teil rückstandslos entwickeln lassen. Doch ei­ nerseits erscheinen noch heute im Allgemeinen Teil die versuchte Verbre­ chensanstiftung und die Verbrechensverabredung als besondere Tatbestände, und andererseits sind die öffentliche Aufforderung zur Begehung eines Ver­ brechens und die Bildung einer verbrecherischen Vereinigung trotz ihres 833  D.

Ehlers (2010), § 2 Rn. 12. Wieacker (1975), S. 52: Sie „ordnet heute in gewissen Fällen eine Rechtsbe­ ziehung (weit über die alten Ausnahmefälle der Vermögensübernahme und Firmen­ nachfolge hinaus) einem anderen Rechtssubjekt zu, wenn sie eine ausreichende Inte­ ressenbeziehung zwischen diesem und dem ursprünglich vertraglich verpflichteten Subjekt ermittelt: zugleich eine Antwort auf die heute immer mehr ausgenutzte Mög­ lichkeit, durch körperschaftlichen Organisationswandel den Träger eines Interesses aus der direkten Schusslinie der rechtlichen Beziehung herauszunehmen.“ 834  F.

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überwiegend allgemeinen Charakters Tatbestände des Besonderen Teils ge­ blieben. Deshalb verläuft jede Rechtsentwicklung zwar insgesamt orthogene­ tisch und irreversibel, doch bewahrt sie Restbestände aus vorangegangenen Epochen in sich auf – dies entsprechend der biotischen Evolution, die man­ che Restbestände aus früheren Zeiten in sich trägt und sie bisweilen sogar als ‚Atavismen‘ offen in Erscheinung treten lässt.835 (γ) Inhaltliche Irrelevanz. Im Gegensatz zu den Strukturen einer Rechts­ ordnung ist deren Inhalt weitgehend reversibel geblieben. Zwar waren Teile des Inhalts für die Altvordern heilig, weil sie aus unvordenklicher Zeit stammten und es eine Beleidigung der Gottheiten oder der Ahnen gewesen wäre, hätte man sie ohne zwingenden Grund beseitigt. Doch mit der Vergrö­ ßerung des zeitlichen Abstands bemerkte man, dass der Zahn der Zeit auch an früher für heilig gehaltenen Normen genagt hatte. Die Entwicklung war vorangeschritten und nicht nur das, sie war immer schneller geworden. Stän­ dig neue Inhalte verlangten nach rechtlicher Regelung: Das Gewehr trat an die Stelle von Pfeil und Boden, der Lastwagen an die Stelle des bespannten Fuhrwerks, die Computerdatei an die Stelle der schriftlichen Urkunde. Stän­ dig veränderte Aufgaben stellten dem Recht das Rechnungswesen und die Besteuerung von Wirtschaftsunternehmen u. a. m. Folglich musste man Wege ersinnen, den nicht mehr zeitgemäßen Inhalt der alten Normen den neuen Erfordernissen anzupassen. Als das Recht nur mündlich überliefert wurde, war das leicht gewesen; dann fiel ein inzwischen obsolet gewordener Teil einfach dem Vergessen anheim, ein anderer Teil wurde uminterpretiert, ein dritter so weit geändert, dass er in die Gegenwart passte. Doch seit das Recht verschriftlicht war, halfen solche informellen Verfahren nicht aus. Das schriftlich gesetzte Recht musste formell außer Kraft gesetzt werden – und das geschah, indem man es entweder von vorn herein mit einem Verfallda­ tum versah und als Zeitgesetz deklarierte, oder indem man der politischen Instanz, der es sein Dasein verdankte, die Befugnis zuerkannte, es aufzuhe­ ben oder abzuändern. f) Zusammenfassung: Phasen und Mechanismen der Rechtsentwicklung Die Historiogenese des Rechts kann in Phasen zusammengefasst werden,836 deren Abfolge durch Mechanismen bestimmt wurde.

835  U.

Kutschera (2015), S. 51, 53. weitgehend entsprechenden soziogenetischen Phasenfolge siehe oben J

836  Zur

3 c.



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aa) Phasen Fünf Phasen lassen sich im hier untersuchten historischen Abschnitt von den prärechtlichen Anfängen bis in etwa zur Zeitenwende hin unterscheiden: (1) In einer ersten prä-normativen Phase wurde das Gemeinschaftsleben kleiner und mittelgroßer Gruppen (Horden) durch ein hauptsächlich magischmythisch fundiertes Brauchtum geordnet. Das ‚Sollen‘ wurde darin vom ‚Sein‘ nicht klar unterschieden.837 Vielmehr wurde ein dem Brauchtum wi­ dersprechendes Verhalten als unnatürlich getadelt, folgenreiche Fehltritte mit gebräuchlichen Folgen (die allerdings bis zum Ausschluss aus der Horde gehen konnten) geahndet. Gab es unter den Mitgliedern Streit – meistens um die Verteilung von Nahrung oder um den Zugang zu Frauen –, dann wurde er aufgrund gemeinsamer Beratung geschlichtet. (2) Als infolge eines genetisch verstärkten Ich-Bewusstseins die Herrschaft des Brauchtums sich als zu schwach erwies, kontrollierte darüber hinaus in einer zweiten konkret-normativen Phase eine religiös-kultisch und/oder my­ thisch-historisch fundierte Sittenordnung das Gemeinschaftsleben – zunächst innerhalb von Sippen und Clans, später auch innerhalb von Dörfern, Distrikten (Kantonen) und Stammesbezirken. Darin wurde das Verhalten in typi­ schen Situationen Richtigkeitsnormen unterstellt, zwischen ‚Sein‘ und ‚Sol­ len‘ also unterschieden.838 Die Folgen waren: Konkret-individuelle Ansprü­ che konnten konkret-individuelle Verpflichtungen begründen, die von der Gemeinschaft als bindend anerkannt wurden. Entstand Streit, so wurden an­ gesehene Persönlichkeiten (Älteste oder politische Führer) zu Rate gezogen, die zwischen den Parteien standen und deshalb auch die Auswirkungen des Streits auf das Wohl der Gemeinschaft bedenken konnten. Erkannten sie den

837  Eine eindeutige Zuordnung des Brauchs zu den ‚rein‘ empirischen (im Gegen­ satz zu den ‚rein‘ normativen) Ordnungen verbietet sich m. E. Deshalb kann ich im ‚Brauchtum‘ nicht „die bloße Tatsache übereinstimmender Übung homogener Gesell­ schaften, von der dumpfen Gewöhnung über die stereoptype Eingeübtheit bis zur fraglosen Imitation“ erkennen (so aber J. Winckelmann im Vorbericht zu Max Webers ‚Rechtssoziologie‘ “, 1960, S. 23). 838  M. Weber versteht dagegen unter ‚Sitte‘ „den Fall eines typisch gleichmäßigen Verhaltens, welches lediglich durch seine ‚Gewohnheit‘ und unreflektierte ‚Nachah­ mung‘ in den überkommenen Gleisen gehalten wird, ein ‚Massenhandeln‘ also, des­ sen Fortsetzung dem einzelnen von niemandem in irgendeinem Sinn ‚zugemutet‘ wird“ (1925/1960), S. 63. Teilweise abweichend, aber bemüht, ebenfalls innerhalb des empirischen Bereichs zu bleiben, die Definition von J. Winckelmann (1960, S. 23): „Sitte ist die dem Herkommen entsprechende konforme Verhaltensweise mit dem Bewusstsein, dass Abstandnehmen von dieser Anpassung seitens der jeweiligen Umwelt als abständig beurteilt wird und unter Umständen Nachteile mit sich bringen kann.“

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strittigen Anspruch als berechtigt an, durfte ihn der Berechtigte − notfalls von Helfern unterstützt − gegenüber dem Verpflichteten durchsetzen. (3) In einer dritten Phase traten erstmals frührechtliche Normen an die Stelle eines Teils der Sittennormen. Sie waren sprachlich stärker konkreti­ siert, ihr Inhalt stärker intellektualisiert. Inhaltlich rechtfertigten sie sich so­ wohl aus einer neuen politischen Struktur der sozialen Systeme als Häuptlingstümer oder Königreiche als auch aus der Anerkennung von normativen Berechtigungen und Verpflichtungen der Gesellschaftsmitglieder gegeneinan­ der. Streitfälle wurden jetzt vor eigens eingerichteten Gerichten verhandelt; die Sieger im Streit mussten ihre Entscheidungen zwar wie schon zuvor sel­ ber durchsetzen, konnten jetzt aber u. U. auch hoheitliche Hilfe in Anspruch nehmen. (4) In einer vierten Phase bestimmten von Herrschern in den (Proto-)Staaten erlassene, erstmals schriftlich fixierten konkret-individuelle Rechtsnormen eine früh-rechtliche Ordnung: Als Entscheidungsnormen galten sie zwar nur für den jeweils konkret strittigen Sachverhalt, regelten diesen aber mit dem Anspruch auf Geltung auch in vergleichbaren Fällen ‒ entsprechend etwa den precedents im heutigen case law. Die Entscheidungen konnten daher auch in Gesetzesform ergehen und bildeten dann das Privatrecht. Darüber hinaus konnten Gesetze auch die Tätigkeit des bürokratisch organisierten Beamtenapparats regeln ‒ sie bildeten dann Ansätze zu einem Verwaltungs­ recht. Ergaben sich aus ihnen Berechtigungen oder Verpflichtungen, dann konnten sie mit staatlicher Unterstützung durchgesetzt werden. (5) In einer fünften Phase schließlich regelten verfassungsrechtlich legiti­ mierte Gesetzgebungsorgane die sozialen und politischen Verhältnisse mittels abstrakt-genereller Normen, die im Streitfall jeweils einer Seite abstrakte Ansprüche gewährten und der Gegenseite abstrakte Verpflichtungen aufer­ legten. Entstand eine solcher Streitfall, dann konnte das Gericht die Normen allerdings nicht einfach anwenden, sondern musste aus ihnen als dem abs­ trakten Gesetzesrecht ein konkretes (‚billiges‘) Urteilsrecht herleiten. Das bedingte allerdings erstmals auch eine gewisse Unabhängigkeit der gerichtli­ chen von der Entscheidungsgewalt des Gesetzgebers. Innerhalb aller Phasen waren treibende Faktoren der Rechtsentwicklung: zuvörderst eine Gewichtsverlagerung der kommunikativen Verhältnisse vom physischen auf den psychischen Bereich und innerhalb des psychischen Be­ reichs vom organisch-vitalen auf den personal-sozialen Bereich; ferner im personal-sozialen Bereich eine Vergrößerung der Gruppen und ihrer Lebens­ weise; ferner im Rahmen einer bäuerlichen Lebensweise eine allmähliche Verlagerung der egalitären zur hierarchischen Form des Zusammenlebens; ferner im Rahmen einer verdichteten städtischen Lebensweise eine Verlage­ rung von der sozialen zur politischen Hierarchie. Höchste Form der politi­



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schen Herrschaft über alle Mitglieder eines hierarchisch organisierten Ge­ meinwesens und gleichzeitig Herrschaftslegitimation war das abstrakte Ge­ setzesrecht. Zusatz: Dass die Verlagerung des Schwerpunkts der Entwicklung vom physischen auf den psychischen Bereich kein bloß historisches Faktum, sondern auch genetisch begründet war, offenbart sich beispielhaft in der Person des Sokrates. Dieser stellte einerseits die Sorge für die Seele in den Mittelpunkt seines Wirkens,839 tat anderer­ seits nichts, um deren höhere Bedeutung gegenüber dem Körper (sowie die höhere Bedeutung der seelisch-geistigen Qualitäten gegenüber den äußeren Gütern des Reichtums und des Ruhms) zu beweisen. Offenbar ging er davon aus, dass diese Rangänderung inzwischen allen einsichtig war,840 sich also ein allgemein-menschli­ cher Entwicklungsprozess vollzogen hatte.841 ‒ Entsprechend war es keine nur histo­ rische Tatsache, sondern auch eine genetisch begründete Veränderung, dass innerhalb der menschlichen Psyche der subjektive Wille die Führung über das eher instinktoide Gemeinschaftsgefühl übernahm. Dies hatte zur Folge, dass einerseits sozial nicht mehr Familien oder Sippen, sondern einzelne Persönlichkeiten die Leitung von Grup­ pen übernahmen und dass andrerseits nicht mehr Familien oder Sippen für das Ver­ halten von Gruppenmitgliedern zur Verantwortung gezogen wurden, sondern die Mitglieder selbst. Vor welcher Instanz die Verantwortung bestand, hatte sich ebenfalls verändert. Der ursprüngliche Bezug auf einen Kosmos, worin Erde und Himmel eine Einheit bilden, hatte einer klaren Trennung von Diesseits und Jenseits Platz gemacht, die u. a. auch Recht und Religion (ius und fas) einbezog. Nur zur Sicherheit nahm man einen Teil der religiösen Rituale in die Rechtsverfahren hinein – in der Hoff­ nung, dass höhere Mächte jene Gerechtigkeit offenbarten, deren Erkenntnis der menschlichen Natur versagt blieb.

bb) Mechanismen Die Kräfte, die dem Recht zur Entstehung und Entwicklung verhalfen, hatten die Menschen teils natürlich erworben, teils waren sie soziokulturell erzeugt worden. Ihr allgemeines Kennzeichen war eine Energie, welche die in der toten Natur wirksame Tendenz zur Gleichverteilung und Bewegungs­ 839  Platon, Apologie des Sokrates, 30a/b. Sokrates verteidigte sich damit gegen die Anschuldigung, ein Verderber der Jugend zu sein. 840  Allerdings behandelte Sokrates die Seele noch undifferenziert als ein gleicher­ maßen für Wahrheit und Wert zuständiges Erkenntnisorgan. Deshalb waren richtiges Erkennen und rechtes Tun für ihn noch eins. Erst Platon unterschied zwischen der auch vom Geist beherrschten Vernunft und der emotionalen rein psychischen Be­ gierde nach Lust und sah in deren Widerstreit den Grund, der uns mitunter am rech­ ten, weil vernünftigen Tun hindert. Doch obwohl er deshalb den Kosmos anrief, uns Kriterien für die richtige Erkenntnis zu geben, wollte er damit die Entwicklung nach innen nicht rückgängig machen. Denn er meinte, dass nur die Spiegelung des Kosmos in unserem Inneren uns offenbare, was wahr und was gut ist. 841  Später formuliert Matthäus 16, 26: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“

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losigkeit mit einer Tendenz zur Ungleichverteilung und zur Beweglichkeit überlagerte und à la longue die menschliche Soziogenese auf die Ausbildung hierarchisch geschichteter Systeme hintrieb. Ich nenne die mir am wichtigs­ ten erscheinenden Mechanismen, die hierbei eine Rolle spielten: (1) Entropiemechanismus. Im präkulturellen (vormenschlichen) Bereich herrschte eine Tendenz zur Gleichverteilung und damit zu einem Zustand der Unveränderlichkeit. Diese Tendenz kommt im Entropiegesetz zum Ausdruck, das zur Erklärung thermodynamischer Prozesse entwickelt wurde, inzwi­ schen aber eine allgemein-naturwissenschaftliche Bedeutung erlangt hat. Sein 1. Hauptsatz betrifft die Erhaltung von Energie: Energie kann nicht vernichtet (‚verbraucht‘), sondern nur anders verteilt und dadurch ‚entwertet‘ werden. Da der Satz für alle energetischen Prozesse in der Natur gilt, gilt er auch für die energetischen (physiologischen) Grundlagen der Psychologie und mittelbar auch für die psychologischen Grundlagen des Rechts: Rechts­ gehorsam entwickelt sich nicht von selbst, sondern beruht auf der Zuführung von normativer Energie aus einer vertikal höheren Schicht, welche die psy­ chischen Kräfte im Menschen zum Umsatz eines Sollens in ein Sein veran­ lassen. Der 2. Hauptsatz des Entropiegesetzes besagt, dass Wärme niemals von kälteren in wärmere Körper fließt, sondern wärmere Körper solange Energie an kältere abgeben, bis alle Körper dieselbe Temperatur erreicht ha­ ben. Dieser Satz gilt ebenfalls nicht nur für den physikalischen Wärmefluss, sondern auch innerhalb der mikroskopischen Natur als Tendenz zur Anglei­ chung bzw. Herstellung eines Gleichgewichtszustands, daher wiederum auch für die energetischen Grundlagen der Psychologie und mittelbar für die psy­ chologischen Grundlagen des Rechts. So werden beispielsweise ungleich verteilte psychische Energien solange abgebaut, bis sie sich an ihr energeti­ sches Umfeld angeglichen haben: Wut ‚verraucht‘; der Schwamm des ‚Ver­ gessens‘ tilgt zugefügte Schmach; selbst Blutrache für die Tötung eines na­ hen Verwandten erscheint nach Jahr und Tag nicht mehr dringlich. Weil diese Entwicklungen vorhersehbar sind, versuchen manchmal Erinnerungsrituale sie aufzuhalten, indem sie früher Empfundenes zu neuem Leben erwecken: die Freude und den Stolz über den einst glorreich errungenen Sieg, den Schmerz und die Pein über den einst tragisch erlittenen Verlust. Die recht­ liche Institution der Verjährung beruht darauf, dass es dennoch ‚der natür­ liche Verlauf der Dinge‘ ist, wenn Vergangenes allmählich dem Vergessen anheimfällt und selbst die Wunden, die eine Straftat schlug, mit der Zeit verheilen. Betrachtet man ausschließlich die Funktion des Rechts als psychisch wirkende Ordnungsmacht, und den Staat als ein abgeschlossenes System, dann kann man die Wirksamkeit des Rechts mittels einer Entropiebilanz erfassen. Bleibt das Recht wir­ kungslos, ist sein Wert gleich Null; bewirkt es eine absolut stabile soziale Ordnung, m. a. W. soziale Erstarrung, soll sein Wert gleich Eins sein. Will man weder Wirkungs­



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losigkeit noch Erstarrung, muss man versuchen, die Zufuhr von Rechtsnormen in das System so einzustellen, dass ein Wert zwischen Null und Eins erreicht wird. Liegt der Wert dann zu nahe an Null, besteht weiterer Normbedarf; liegt er zu nahe an Eins, ist das System ‚überreglementiert‘. Eine genaue Berechnung des ‚richtigen‘ Normie­ rungswertes, der etwa in der Mitte bei 0,5 liegen muss, ist allerdings unmöglich, da zum einen menschliche Sozialsysteme niemals völlig geschlossen sind und sie zum anderen intern bereits eine natürliche Ordnungsenergie aufweisen, die rechnerisch mit eingeschlossen werden müsste, für die aber keine exakten Werte bekannt sind.

(2) Lebensmechanismus. Lebende Wesen können innerhalb eines strikt abgeschlossenen Systems nicht existieren, da dieses der Ausgleichung allen Besonderen und damit der Auslöschung alles Individuellen, folglich dem Tod allen Lebens zustrebt. Weil Leben aber Aktivität ist, entsteht es nicht nur aus der Kraft zur Selbstorganisation, sondern es besteht auch aus nichts anderem. Beispiele: Neugeborene üben sich kraft der ihnen genetisch mitgegebenen Energie, damit an die Stelle ihrer angeborenen Reflexe gezielte Handlungen treten, sie zeigen durch Lächeln ihre Bereitschaft zur Aufnahme sozialer Kontakte an, sie bereiten sich durch Lallen auf die Artikulation sprachlicher Laute vor usw. Die Entwicklung der Jugendlichen zu sozial angepassten Bürgern dient ebenfalls einerseits der Selbstorga­ nisation und andrerseits der Positionierung ihres Ichs im sozialen Umfeld ‒ wobei von außen kommende Anregungen zwar den Weg weisen, eigenes Bemühen aber nicht ersetzen.842 Der Erwachsene schließlich organisiert seine Familie, seine Arbeit, seinen Freundes- und Bekanntenkreis, kurzum seine Lebenswelt ‒ und schließlich seinen Nachlass für die Erben. So besteht für ihn der Lebensfaden aus ständigen ‚Mutationen‘, die ihn zwar allmählich dünner werden, aber erst mit dem Tode reißen lassen.

Der sich selbst organisierende Lebensmechanismus zerstört den Entropie­ mechanismus nicht. Er kann es schon deshalb nicht, weil der Entropiemecha­ nismus als der grundlegende auch der stärkere ist. Wohl aber kann er als der höhere den Entropiemechanismus überlagern und sein Stoff ‚entwerten‘. Das geschieht denn auch regelmäßig, indem das Leben dem toten Stoff seine Nahrung und damit seine energetische Kraft entnimmt. Nur wenn die Le­ benskraft erlischt und die Geschichte des Lebens endet, wird, was übrig bleibt, zu Grabe getragen und dann wieder – und nun endgültig – dem Me­ chanismus der Entropie als dem des Zerfalls überlassen. (3) Sozialisationsmechanismus. Der Mensch ist nicht nur ein lebendes, sondern auch ein sozial geordnet lebendes Wesen. Soziale menschliche Gruppen sind geordnete Systeme, die für ihre innere Organisation Normen verwenden, die ihrerseits nicht etwa chaotisch, sondern vertikal geordnet sind und ihren Einfluss dann am stärksten entfalten, wenn sie ihn nicht nur auf metaphysische Legitimation, sondern auch auf physische Macht stützen 842  Und sie zumal dann nicht ersetzen, wenn die Umwelt vom Individuum ausge­ wählt und von ihm mitgeprägt wurde. Vgl. dazu u. a. R. M. Lerner (1988).

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können. Da die Systeme nach außen hin offen sind, können sie innerlich aufgestaute energetische Spannung in ‚Strömungen‘ umsetzen und ihnen eine programmatische Tendenz mit auf den Weg geben, die sich in rechtlichen Systembildungen (‚Parteiuungen‘, ‚Institutionen‘) niederschlagen können.843 Der hier nur angedeutete Vorgang der Institutionalisierung ist uns innerhalb der vorliegenden Untersuchung mehrfach begegnet und wird uns im Abschnitt K noch­ mals näher beschäftigen.844 An dieser Stelle soll lediglich ein kurzer Hinweis auf seinen soziogenetischen Mechanismus stehen: Ausgangsstadium ist, dass ‚isoliert‘ voneinander existierende Personen ‚parallele‘ Ziele verfolgen. Sie treten daher (zwei­ tes Stadium) ‚adjunktiv‘ in Kontakt zueinander und verbinden sich, nachdem sie eine Gleichheit in ihren Grundanschauungen oder in ihrem Leistungsvermögen festgestellt haben, darüber hinaus ‚konjunktiv‘ miteinander (drittes Stadium). Wird ihre Verbin­ dung im Laufe der Zeit noch enger, dann verschmelzen sie (viertes Stadium) ‚inter­ penetrativ‘ gemeinsam zu einem sozialen System,845 in dem sie jedoch ihre (z. B. juristische) Eigenständigkeit (evt. mit Sonderrechten) bewahren können.

(4) Stabilisierungsmechanismus. Alle offenen sozialen Systeme müssen ab einer gewissen Größe Subsysteme umfassen, worin spezielle Elemente mit der Aufgabe betraut werden, systemrelevante (innere oder äußere) Verände­ rungen zu beobachten und an die Zentrale des Systems melden, damit von dort etwa erforderliche Reaktionen eingeleitet werden können. Erforderlich sind solche Reaktionen insbesondere, wenn sie die Festigkeit des Systems bedrohen. Im biologischen Bereich spricht man dann von der Notwendigkeit einer ‚Stabilisation‘ des Verhältnisses zwischen den Lebewesen und ihrer Umwelt, im psychologischen Bereich von der Notwendigkeit einer ‚Lösung‘ problematisch gewordener Befindlichkeiten, im ökonomischen Bereich von der Notwendigkeit z. B. einer ‚Produktionsangleichung‘ an die veränderte Aufnahmebereitschaft des Marktes und im politischen Bereich von ‚diploma­ tischen oder militärischen Folgerungen‘, die aus einer veränderten internati­ onalen Lage zu ziehen sind. Für das Recht besteht ebenfalls die Tendenz, den Gleichgewichtszustand zwischen seinem Machtbereich und dessen Umge­ bung stabil zu halten und dafür beispielsweise ein Höchstmaß von ‚abwei­ chendem Verhalten‘ zu akzeptieren oder aber ein Mindestmaß vorauszuset­ zen. Häufen sich strafbare Handlungen, muss infolgedessen evt. das Strafmaß der Verbotsnorm verschärft werden, fehlt es an strafbarem Verhalten, kann die Verbotsnorm evt. aufgehoben werden. Am besten ist ein Pareto-optimaler Zustand zwischen Normen und sozialem Verhalten, der nicht verbessert wer­

843  Solche ‚Parteiungen‘ (ἑταιρίαι) bildeten sich in der Antike vor allem in den griechischen Städten, wo es zu Kämpfen um die Führungsstruktur kam. Oft waren sie gegen die Demokratie gerichtet. 844  Vgl. unten K 6 c θ. 845  Vgl. dazu auch L. v. Wiese (1933), S. 240 ff.



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den kann, ohne dass an anderer Stelle eine überwiegende Verschlechterung eintritt.846 Beispiel: In der Antike gab es keine politischen Vereinigungen, die einen anderen Zweck verfolgten, als politisch gleichgesinnte Bürger in sich aufzunehmen. Es gab allenfalls Vereinigungen, die wir heute als ‚Zusammenrottungen‘ bezeichnen würden, weil sie meistens der Vorbereitung von ‚Aufständen‘ dienten und sich rasch auflösten, wenn sie entweder ihr konkretes Ziel erreicht hatten oder zerschlagen wurden. Was in der Antike mithin fehlte, waren die politische Willensbildung stabilisierende Vereini­ gungen mit einer Bestand verheißenden Programmatik (etwa gleich unseren heutigen politischen Parteien).

(5) Entlastungsmechanismus. Welcher Zustand aber ist für ein rechtliches Machtsystem Pareto-optimal? Einen Hinweis darauf gibt das Gesetz des mi­ nimalen Energieaufwandes (‚Entlastungsgesetz‘), das nicht nur die kogni­ zierte Gestalt der Welt beherrscht („den Wahrnehmungsprozess, die Vorstel­ lung, die Assoziation, die Denkprozesse von den einfachen Vernunftakten bis zu den höchsten wissenschaftlichen Systemen“847), sondern auch ihre prakti­ zierte Gestaltung.848 Und da alle offenen Systeme nicht nur von außen beein­ flusst werden, sondern auch nach außen Wirkungen abstrahlen, sind diejeni­ gen Zustände für ein rechtliches Machtsystem Pareto-optimal, die (a) für ei­ nen Teil der Normadressaten die höchstmögliche Entlastung von eigenver­ antwortlicher Vorsorge bringen, ohne einem anderen Teil der Adressaten eine im Verhältnis dazu größere Vorsorgelast aufzuladen, und die (b) in die jewei­ lige Kulturordnung sich so nahtlos einfügen, dass sie sowohl deren allgemei­ ner Qualität als auch deren typischen Besonderheiten (Tradition, Religion, Sittenkodex u. ä.) entsprechen – also statt Spannungen in sie hineinzutragen, vorhandene Spannungen reduzieren.849 Jede Rechtsordnung wird daher auf einen solchen Zustand hinwirken. Aber welcher gelingt das? (6) Reziprozitäts- und Kausalmechanismen. Eine höchstmögliche Entspan­ nung auf der einen Seite in Verbindung mit einer geringstmöglichen Anspan­ nung auf der anderen Seite erzeugen Rechtsordnungen, welche innerhalb ei­ ner Gemeinschaft Gerechtigkeit verwirklichen und hierfür so weit wie mög­ lich die dem Menschen angeborenen Reziprozitäts- und Kausalmechanismen ausnutzen. Das geschieht, wenn sie diejenigen normativ belasten, (a) deren Machtbereich auf Kosten eines fremden Machtbereichs ohne rechtfertigen­ 846  Vgl. dazu Ch. Henke (2004), S. 96  f. m.  w.  Nachw. Siehe auch C. Schmitt (1934), S. 13: „Die Norm oder Regel schafft nicht die Ordnung; sie hat vielmehr nur auf dem Boden und im Rahmen einer gegebenen Ordnung eine gewisse regulierende Funktion mit einem relativ kleinen Maß in sich selbstständigen, von der Lage der Sache unabhängigen Geltens.“ 847  R. Hamburger (1927), S. 27. 848  G. K. Zipf (1972). 849  Dazu schon E.-J. Lampe (1988a), S. 171 f.

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den Grund begünstigt wurde,850 (b) aus deren Machtbereich heraus ein frem­ der Machtbereich rechtswidrig beschädigt wurde oder (c) aus deren Macht­ bereich heraus eine Leistung an eine gemeinsame Rechtsgemeinschaft er­ bracht werden soll.851 Dazu einige Einzelheiten: Für den Ausgleich spielt es eine Rolle, ob es sich um einen materiellen oder immateriellen Schaden handelt. Handelt es sich um einen ma­ teriellen Personen- oder Sachschaden, dann wird der gerechte Ausgleich in den meis­ ten Fällen in einer reziproken Übernahme der Kosten für die Beseitigung bestehen. Handelt es sich dagegen um einen immateriellen Schaden, scheidet eine Kostenüber­ nahme aus: Weder der Schmerz einer Körperverletzung noch das Leiden unter einer Rufschädigung kann vom Schädiger übernommen werden. Stattdessen entspricht es dem Gerechtigkeitsempfinden, wenn in diesem Fall eine reziproke Entschädigung entweder in Form einer Genugtuungs- oder einer Strafleistung gewährt wird. Als Genugtuung kam früher in höheren Kreisen eine im Duell zu erstreitende Leistung, heute kommt schlicht eine bei Gericht einzuklagende Leistung in Betracht, die frei­ lich nach wie vor nicht in Geld bestehen darf (also z. B. nur darin, dass das unbefugt aufgenommene Foto vernichtet wird). Als Strafleistung kommt ein Schmerzensgeld in Betracht – zum einen für das körperliche Weh einer Verletzung, zum anderen für das seelische Leiden an einer entstellenden Narbe.

(7) Schichten- und Stufenmechanismus. Innerhalb des Reziprozitätsmecha­ nismus erlangt endlich auch noch die sogen. Edingersche Regel Bedeutung852, wonach die ältere Form der Wiedergutmachung durch das Talionsprinzip ‚Auge um Auge‘, ‚Zahn um Zahn‘ von der jüngeren Form des Aushandelns von Schadensersatz abgelöst wird. Historiogenetisch schlägt sich diese Ent­ wicklung zum einen in der allgemeinen Tendenz zu einem Einsatz geistiger anstatt körperlicher Mittel nieder. Zum anderen bricht sich aber auch generell größere Milde Bahn. Ganz offensichtlich geschieht das parallel dazu in der Entwicklung von der jüdischen zur christlichen Religion: Der streng und oft grausam strafende Gott des Alten Testaments wandelt sich zum eher gütigen des Neuen Testaments. Nochmals geschieht es dann in der Entwicklung der Strafgesetze vom Mittelalter zur Neuzeit aufgrund der Abschaffung der To­ desstrafe und der Leibesstrafen und durch die Tendenz, psychische Defekte, die den Täter zur Tat getrieben haben, eher zu heilen als zu strafen. 850  Beispiel: Die „ungerechtfertigte Bereicherung“ (vgl. §§ 812 ff. BGB) ist auszu­ gleichen. Mittel ist die „Kondiktion“ entweder einer Leistung oder eines Vorteils aufgrund einer Nichtleistung (z. B. der unbefugten Nutzung ohne Zahlung eines Ent­ gelts). 851  Beispiel ist das Erdulden einer Strafe für eine begangene Tat. Der Reziprozi­ tätsmechanismus soll (gemäß der iustitia retributiva) das Maß der Sühne bestimmen und zusätzlich (gemäß der iustitia gubernative) das Vertrauen der Bevölkerung in die innerstaatliche Sicherheit stärken. Der Kausalmechanismus soll als Zuständigen für die Sühneleistung denjenigen bestimmen, von dem die Tat ihren Ausgang genommen hat – der sie begangen, zu ihr angestiftet oder zu ihr Beihilfe geleistet hat. 852  Vgl. dazu oben Fn. 238.



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6. Anhang: Die Entwicklung von Rechtswissenschaft und Jurisprudenz in den frühantiken Rechtskulturen a) Präzedenzien und Gesetze Das alte Recht war ursprünglich dazu bestimmt, diejenigen Probleme zu lösen, für welche die Sitten entweder keine, keine allgemein anerkannten oder keine hinreichend abgesicherten Lösungen bereit hielten. Solche unge­ lösten Probleme konnten in ganz unterschiedlichen Bereichen entstehen und mussten dann auch von ganz unterschiedlichen Personen gelöst werden: die politischen von Herrschern, die religiösen von Sehern und Priestern, die öko­ nomischen von Kämmerern, die moralischen von Weisen und die sozialen entweder von den Sitten oder eben vom Recht, von den Gesetzgebern und von den Richtern. Traten manche Probleme wiederholt auf, lag es nahe, auf die mit ihrer Hilfe gefundenen Lösungen zurückzugreifen. Das geschah im­ mer dann, wenn die Lösungen sich nach überwiegender Meinung bewährt hatten, ihre Bewährung im Gedächtnis geblieben bzw. mündlich von einer Generation an die nächste überliefert worden war. Die Lösungen wurden dann zu ‚nomologischem Wissen‘, ergänzten die Sitten und nahmen je nach dem Gefühl für ihre Verbindlichkeit den Charakter des Richtigen an. Selbst dann ordnete man sie freilich noch nicht als ‚Sitte‘ oder ‚Recht‘ ein, sondern merkte sich nur ihre nomologische Gültigkeit. Erst als später die Schrift er­ funden wurde, sah man klarer. Man war nicht mehr auf das Gedächtnis ange­ wiesen, konnte vielmehr bewährte soziale Problemlösungen urkundlich fest­ halten, sie auf Pergament oder eine öffentlich aufgestellte Tafel schreiben oder gar in Stein hauen. Dadurch verdichtete sich das Gefühl der Richtigkeit zum Wissen um die soziale Notwendigkeit, und in Rom fand man dafür das rechte Wort: ‚ius‘ 853. Der Vorzug der urkundlichen Sicherung kam vor allem den richterlichen Entscheidungen zugute, wenn deren Gerechtigkeit jedem einleuchtete und sich auch künftig bewährte. Eine solche Bewährungsprobe brauchten ledig­ lich die Entscheidungen des obersten Herrschers nicht zu bestehen; denn sein Wort galt, weil er es gesprochen hatte, und wenn er es aufzeichnete, galt es als Gesetz. Gleichwohl blieb mancher Herrscher sich bewusst, dass der Wan­ 853  Vgl. dazu oben G 3 γ Fn. 493. Ferner K.-J. Hölkeskamp (1999), S. 266, 278: „Das gemeinsame Grundmuster aller archaischen Gesetze … besteht in der äußeren Gestalt der Vorschriften, in ihrer sprachlichen Fassung und überhaupt in der Art und Weise, wie ein beliebiger Gegenstand durch die besondere Form der normativen Sat­ zung einer konkreten Regelung unterworfen wird. … Die Besonderheit der gesatzten Norm in einer oralen Kultur und ihre Absetzung vom ‚nomologischen Wissen‘ der frühen Polisgesellschaft manifestierte sich konkret darin, dass sie die sichtbare, greif­ bare, objektive Form des ‚Monuments‘ annahm.“

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del des sozialen Lebens auch vor seinen Gesetzen nicht Halt machen werde. Solon beispielsweise betonte geradezu emphatisch, dass seine Gesetze zwar geschriebene (und in Stein gehauene) Satzungen seien,854 aber nicht dazu bestimmt, den sich wandelnden νόμος Athens zu verdrängen. Und von König Minos von Kreta ging sogar die Sage, dass er alle neun Jahre Zeus befragte, ob seine Gesetze fortgelten oder neuen Regelungen Platz machen sollten.855 Indessen waren nicht alle Gesetzgeber so einsichtig. Hammurapi etwa meinte, seine Gesetze durch eine Ewigkeitsklausel dem zeitlichen Wandel entziehen zu können.856 Dennoch hielten sie dem Wandel der Zeit so wenig stand wie all die anderen, die man auf Tempelwände oder Stelen, Steine oder Tafeln schrieb und öffentlich ausstellte, um sie vor dem Vergessen zu bewahren; denn allein ihre Materialisierung bürgte nicht für ihre dauernde Geltung und allein ihr Ausstellungsort nicht für die sichere Sanktionierung. Und als man später zur Einsicht kam, dass alles geschriebene Recht dem Wandel der Zeit besonders sichtbar ausgesetzt war, mutzte man in stürmischen Zeiten ge­ schriebene Gesetze hauptsächlich dazu, um dem schnellen Wandel Rechnung zu tragen. Denn drei schriftliche Worte des Gesetzgebers veränderten eine Rechtslage schneller als ein mündliches Dekret, und nichts ließ anschließend so deutlich die Zeitgebundenheit des Rechts erkennen wie die Vernichtung des Dokuments, das die drei Worte enthielt. Da sich in alter Zeit die sozialen Verhältnisse meistens von allein nur träge wandelten, benutzte man die schriftlichen Rechtsgesetze vor allem zum Ab­ stellen oder Mildern bekannt gewordener Missstände. Dagegen war eine vollständige Rechtsordnung nirgends gefragt und deshalb auch nirgends vorhanden. Was dennoch vorhanden war und sich als Rechtsordnung deuten lässt, entsprach an Vollständigkeit und Präzision längst nicht demjenigen, was wir heute von einer Rechtsordnung erwarten.857 Deshalb waren die etwa seit Mitte des 18. Jh.s v. u. Z. unternommenen antiken Versuche, die gelten­ den Gesetzesnormen mehr oder weniger vollständig zu erfassen, kaum mehr als wohlgemeinte Prestigeunternehmen. 854  „Satzungen (θεσμούς) – gleichermaßen dem Niedrigen und dem Guten, gerade das Recht jedem angepasst  – habe ich geschrieben (ἔγγραφαe)“, in: B. Gentili/ C. Prato (1979), fr. 30 (S. 121 ff., 123). Siehe dazu auch oben H 2 b bb ε. 855  Vgl. Platon, Minos 319c, unter Bezug auf Homer, Od. XIX 178 f. 856  CH Epilog: „Bis zum Ende der Tage, für immerdar, bewahre der König, der im Lande ersteht, die Worte der Gerechtigkeit, die ich auf meinen Denkstein geschrieben habe. Das Recht des Landes, das ich gegeben habe, die Entscheidungen des Landes, die ich gefällt habe, soll er nicht ändern, meine Aufzeichnungen nicht beseitigen.“ 857  Dazu H. Sinzheimer (1948), S. 63: „Der Gesetzgeber [von heute] muss [nur] die Lebenswerte ermitteln, die eine gesellschaftliche Bewegung in sich schließt. Er muss diese Lebenswerte in ein soziales Ganzes einordnen. Er muss dieser Einordnung einen rechtlichen Ausdruck geben, der diesem Ganzen entspricht.“



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• In Mesopotamien regelte das Gesetzgebungswerk Hammurapis zwar im Bereich des Handwerks (Ärzte, Architekten bzw. Bauunternehmer) relativ umfassend so­ wohl die Lohnkosten als auch die Haftung, im Bereich des übrigen Schuldrechts jedoch nur die Gefahrtragung und den Schadensersatz und beide auch nur für ein­ zelne Mängel (nicht etwa für die wichtigen Viehmängel). Überhaupt nicht behan­ delte es den Kreditkauf, das Darlehen und die Bürgschaft. Im Bereich des Straf­ rechts setzte es für einige Delikte Strafen fest, wählte dabei aber nicht einmal die schwersten Delikte – vielleicht, weil insoweit kein schriftlicher Regelungsbedarf bestand. Soweit es ausführlich wurde, kam es über simple Variationen von im Kern gleichbleibenden Sachverhalten nicht hinaus. Deshalb ist bis heute umstritten ge­ blieben, inwieweit dem Werk überhaupt eine praktische Bedeutung (außerhalb der Schreiberschulen) zukam oder ob es hauptsächlich der Berühmung Hammurapis diente, er habe seinen ihm von den Göttern gegebenen Auftrag erfüllt, „die Men­ schen zu lenken und dem Lande Sitte [!] angedeihen zu lassen“.858 • Ägypten kannte im AR wahrscheinlich ein ausgebildetes (mündliches) Recht, das einer zentral verwalteten Rechtsprechung zur Grundlage diente und im MR in Anleitungsbüchern für Richter wohl auch teilweise aufgezeichnet wurde – denn wie sonst hätte die ägyptische Rechtspflege funktionieren können? Als Sammlung bekannt geworden ist jedoch erst der Kodex Hermopolis aus dem NR.859 • Keine Gesetzeskodifikation, sondern allenfalls Bruchstücke davon, sind uns auch aus Israel überliefert. Die Gesetzesnormen des 2. Buches Mose (Kap. 21 und 22) stammen vermutlich aus dem 9. Jh. v. u. Z., die des 5. Buches (ebenfalls vor allem Kap. 21 und 22) aus dem 7. Jh. Sie wurden – dies eine Besonderheit – als Gottes­ recht ausgegeben und konnten von Menschen aus diesem Grunde weder vermehrt noch den Zeitläufen angepasst werden. Auch wurden sie im Gegensatz zu anderen Kodizes in einer Lade aufbewahrt, die streng abgeschlossen war, damit Laien sie nicht anschauen konnten.860 • In China gab es erstmals in der Q‘ín-Dynastie (221–207 v. u. Z.) eine umfängliche Gesetzgebungstätigkeit seitens der „Legalisten“. Doch übernahmen sie hauptsäch­ lich Gesetze aus dem 4. Jh. und ergänzten sie nur dort, wo soziale Veränderungen es erforderten. Ob eine einheitliche Kodifikation des geltenden Rechts nach syste­ matischen Grundsätzen beabsichtigt war, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Zustande kam sie offenbar nicht. • In Indien waren die dharmaśāstras ebenfalls keine Gesetzeskodifikationen, sondern theoretische Reflektionen über das praktizierte (‚lebendige‘) Recht.861 Sie befruch­ teten einerseits die lokalen Rechte, ließen andererseits aber auch sich von ihnen befruchten. Deshalb kam es niemals zu einer vollständigen Übereinstimmung zwischen den śāstras und den lokalen Rechten ‒ mit der Folge, dass die śāstras nur angewandt wurden, wenn ihre Regelungen im konkreten Fall als angemessen er­ achtet wurden. Von ihrer praktischen Bedeutung können wir uns deshalb kein kla­ res Bild verschaffen. Autoren wie der legendäre Manu und später Yājñavalkya Prolog a. E. Siehe ferner J. Bottéro (1987/1992), p. 160 ff. Grunert/B. Rode (1982). 860  2. Mose 25 10 ff.; 1. Samuel 619; 2. Samuel 6 6 f. 861  L. Rocher (1993). 858  CH 859  St.

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haben das Bild zwar zu schärfen versucht, erreichten aber nur, dass die verbliebe­ nen Unschärfen noch deutlicher hervortraten. Die auf uns überkommenen smṛtis spiegeln vor allem die Vielzahl und Unterschiedlichkeit der regionalen dharmaPraktiken wider. • In Griechenland und Rom finden sich zwar Fragmente zusammenfassender Kodi­ fikationen. Doch blieb auch dort die eigentliche Rechtsordnung, wie schon in Ägypten, primär mündlich (Griechenland)862 oder lediglich auf ein kurzes (quasi verfassungsrechtliches) Dokument gestützt (Rom). Soweit einzelne Gegenstände durch schriftliche Rechtsnormen geregelt wurden – etwa durch Anordnungen der Gerichtsmagistrate, durch bindende Weisungen an untergeordnete Beamte, in Stif­ tungs- und Schenkungsurkunden, Testamenten, Verträgen u. dgl. –, standen die Regelungen in keinem systematischen Zusammenhang. Wahrscheinlich fehlte es für eine umfassende Kodifikation weniger an der Fähigkeit als am Bedürfnis, wes­ halb der gegen die römischen Pontifices erhobene Vorwurf, sie hätten das Recht durch geheim gehaltene Klageformeln, Interpretationen und an Rechtsuchende er­ teilte Auskünfte (responsa) beherrschen wollen, in dieser Schärfe nicht aufrechter­ halten werden kann. Vielmehr war die Konzentration des Rechts auf die Autorität weniger Fachleute damals der Preis, den man für seine Einschließung in abstrakte Begriffe zahlen musste, sofern man gleichzeitig seine Entwicklung am Leben hal­ ten wollte.

Was anstelle von Gesetzeskodifikationen fast überall entstand, waren mit­ hin nur Sammlungen gerichtlicher Entscheidungen. Als Aufbewahrungsorte für die wichtigsten, weil wegweisenden unter ihnen (denn selbstverständlich wurden nicht alle Entscheidungen gesammelt), standen staatliche Archive zur Verfügung, die von Priestern (z. B. in Rom) oder Beamten (z. B. in Mesopo­ tamien) gehütet wurden. Vergleichbar waren sie den heutigen Sammlungen von Gerichtsentscheidungen im anglo-amerikanischen Rechtsbereich, die al­ lerdings, anstatt in Archiven verschlossen, der Öffentlichkeit zugänglich sind. Genau wie diese neuzeitlichen begründeten die gesammelten Entscheidungen der Antike aber keine sklavische Bindung; vielmehr gaben sie den künftig über ähnliche Fälle entscheidenden Gerichten lediglich Wegweisungen an die Hand, wie sie das Recht in etwa fortbilden und neuzeitlichen Ansprüchen gerecht anpassen sollen. Denn trotz Archivierung hütete man ja lebendiges Recht. b) Die Rechtsordnung als Schöpfung der Rechtswissenschaft Zu einer eigentlichen Kodifikation des Rechts bedurfte es noch der Berüh­ rung des Rechts mit der Philosophie. Denn erst mit ihr begann die Unterwer­ fung des Rechts unter eine auf empirische Daten und auf gedankliche Logik gestützte Wissenschaft, als deren Vater man Aristoteles bezeichnen kann. 862  K.-J. Hölkeskamp (1999), S. 262 ff. Dies trotz der Veröffentlichung von Geset­ zestexten auf einigen Marktplätzen (Gortyn) oder an einigen Tempelwänden.



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Bisher nämlich hatte man zwar – protowissenschaftlich – juristisch zu den­ ken und das Recht in Kategorien zu ordnen gelernt. Doch dachte man die Kategorien noch konkret und fasste Rechtsnormen darin lediglich im Ver­ hältnis ihrer tatbestandlichen Ähnlichkeit zusammen. Eine Wissenschaft er­ wuchs daraus erst um die Wende vom 2. zum 1. Jh. v. u. Z., als die griechi­ sche Wissenschaftslehre und mit ihr eine dialektische, u. a. zwischen Sein und Sollen vermittelnde, Methode nach Rom vordrangen.863 Die hellenische Philosophie unterschied zwischen Einzel- und Allgemein­ vorstellungen auf der einen Seite und zwischen konkreten und abstrakten Begriffen auf der anderen Seite. Auf dieser Grundlage sah sie die Aufgabe des Rechts nicht mehr nur darin, konkreten Sachverhalten konkrete Folgen zuzuordnen und darauf zu achten, dass das Prinzip der Gleichgerechtigkeit nicht verletzt wird, wenn die Sachverhalte sich derart ähnelten, dass sie aus Gründen der (austeilenden) Gerechtigkeit eine ähnliche Rechtsfolge haben mussten. Sie erweiterte die Aufgabe des Rechts vielmehr auch dahin, ähnli­ chen Sachverhalten, die durch identische Begriffe erfasst werden konnten, begriffsidentische Rechtsfolgen zuzuordnen. Sachverhalte und Rechtsfolgen sollten also durch ihre begriffliche Erfassung nicht mehr unverändert bzw. nicht mehr so ‚konkret‘ bleiben, wie sie es von Natur aus waren (und wie sie durch ‚konkrete Begriffe‘ erfasst werden konnten), sondern so weit verändert werden, dass sie normativen Anforderungen genügen. Kurz gesagt: Alle ‚konkreten Begriffe‘, denen die Vorstellungen denkender Individuen zu­ grunde lagen, sollten entindividualisiert und zu ‚abstrakten Begriffen‘ wer­ den, denen allgemeingültige Vorstellungen zugrunde liegen und die deshalb auf ‚überindividuelle Bedeutung‘ Anspruch erheben können.864 863  Als eigentlicher Begründer der wissenschaftlichen Jurisprudenz gilt der im Jahre 43 v. u. Z. gestorbene Servius Sulpicius Rufus, ein Zeitgenosse Ciceros. 864  Der Begriff ‚abstrakt‘ ist in der Philosophie in unterschiedlichen Bedeutungen gebraucht worden. In der griechischen Philosophie ist zunächst noch keine klare Ab­ grenzung zwischen dem Abstrakten und dem Allgemeinen erkennbar. Später wird meistens das dem Naturforscher zugängliche Einzelne als das Konkrete, das dem Begriffsforscher zugängliche Einzelne als das Abstrakte bezeichnet. I. Kant hält daher jeden Begriff für abstrakt; man könne nur zwischen dem abstrakten und dem konkre­ ten Gebrauch eines Begriffes unterscheiden (1800, § 16). Unterscheidet man, wie es hier geschieht, zwischen der konkreten und abstrakten Vorstellungen und Begriffen, so wird man die individuelle Vorstellung von einem Gegenstand als die Summe sei­ ner ‚anschaulichen‘ (weil sinnlich wahrnehmbaren) Eigenschaften und den konkreten Begriff als sprachliche Erfassung dieser Summe von Eigenschaften bezeichnen kön­ nen. Dagegen wird man für die Bildung eines abstrakten Begriffs von der individua­ len Anschaulichkeit des Gegenstandes abstrahieren und an deren Stelle die sinn­liche oder geistige Anschauung eines homunculus normalis setzen mit der Folge, dass eine individuelle Vorstellung, wenn sie der Anschauung entspricht, als richtig und, wenn sie davon abweicht, als falsch bewertet werden kann. Abstrakte Begriffe besitzen demnach eine überindividuelle normative Bedeutung, die im juristischen Sinne allge-

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Allerdings ergab sich daraus für das Recht das Problem, wie zu verfahren sei, wenn eine rechtliche Bindung durch eine Willenserklärung hergestellt wird, die keinen juristischen Entindividualisierungsprozess durchlaufen hat. Sollte ihr Inhalt, um rechtliche Geltung zu erlangen, nunmehr zwangsweise entindividualisiert werden oder sollte es bei ihrer konkreten Begriffsbildung und ihrem konkreten Begriffsgebrauchs bleiben? Erzwang das Recht die Entindividualisierung, dann konnte es der privaten Rechtsbegründung durch die individuelle voluntas nicht Rechnung tragen. Das war in Rom, wo das private Recht gleichsam die Mutter allen Rechts war, schwer hinzunehmen. Verzichtete das Recht aber darauf, geriet sein Inhalt in eine Gemengelage, die schwer zu ordnen und folglich mit der ureignen Ordnungsaufgabe des Rechts kaum zu vereinbaren war. Die Ansichten prallten anlässlich eines Erbschaftsstreits im Jahre 93  v. u. Z. aufei­ nander: Sollte bei der Auslegung eines Testaments die individuelle voluntas des Erb­ lassers maßgeblich sein, oder sollten die entindividualisierten verba testamenti den Ausschlag geben? Vor dem Zentumviralgerichtshof siegte die erstgenannte Auffas­ sung – die auch bis heute im deutschen Recht verankert ist. Doch verlor die zweite Auffassung keineswegs ihre Bedeutung; vielmehr wurde und wird sie bis heute zur Begrenzung der ersten gebraucht: Der individuelle Wille des Erblassers muss in den Worten seines Testaments sozial erkennbar geworden sein.

Seither haben die meisten der damals herausgearbeiteten Gemeinsamkeitsund Unterscheidungsmerkmale zwischen konkretem und abstraktem Be­ griffsgebrauch die Rechtsentwicklung geprägt. Sie gingen nicht nur in die Justinianische Gesetzgebung des 5. Jh.s u. Z. ein, sondern waren darüber ­hinaus ein Grundzug jedes künftigen Rechts, das zwischen dem abstrakten Begriffsgebrauch in der Gesetzgebung und dem konkreten Begriffsgebrauch

meingültig und damit für rechtliche Normen wesensnotwendig ist. Sie erweitern die Zahl juristischer Begriffe und damit auch Normen über die mit einem Vorstellungsge­ halt verbundenen hinaus und umfassen auch ‚unanschauliche‘ (weil nur gedanklich erfassbare) Begriffe, denen das Recht eine spezifische Bedeutung zulegt, wie bei­ spielweise die Begriffe ‚Hypothek‘, ‚Vermächtnis‘, ‚Verwaltungsakt‘, ‚Staatsverfas­ sung‘ und viele andere. Einzelvorstellungen sind alsdann Bilder der Erinnerung an individuelle Gegenstände oder Eigenschaften, Allgemeinvorstellungen einheitliche Zusammenfassungen von mehr oder weniger zahlreichen Erinnerungsbildern auf­ grund ihrer Ähnlichkeit (i. e. durch Vernachlässigung unterschiedlicher Eigenschaf­ ten), individuelle und generelle Begriffe die gedanklichen Umsetzungen dieser Vor­ stellungen. Davon zu unterscheiden sind: der konkrete Begriff als der Name, mit dem wir einen gedachten individuellen Gegenstand oder ein individuelles Merkmal (gleichgültig, ob ihm eine Vorstellung entspricht oder nicht) uns geistig verfügbar machen, und der abstrakte Begriff als der Name, mit dem wir einen gedanklich pro­ duzierten allgemeinen Gegenstand (z. B. die ‚Urkunde‘), einen Zustand (z. B. den ‚Besitz‘), einen Prozess (z. B. den ‚Tausch‘) oder eine Eigenschaft (z. B. ‚stark‘, die ‚Stärke‘, aber auch ‚stärker als‘) bezeichnen.



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in der privaten Willenserklärung unterschied.865 Abstrakt-gesetzliche Be­ stimmtheit, wie sie etwa das Strafgesetz für die Strafbarkeit einer Tat fordert, und konkret-willensmäßige Bestimmtheit, wie sie grundsätzlich den privaten Erklärungen zueigen ist,866 waren und sind die beiden Eckpfeiler der Rechts­ ordnungen geblieben. Sie sie geben einerseits der Gesetzgebung Macht zur überindividuellen rechtlichen Regelung (‚ohne Ansehen der Person‘), und sie verleihen andrerseits den Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft den Mut zum individuellen Sprachgebrauch, wenn sie ihre Bedürfnisse mithilfe des Rechts befriedigen wollen. Der Rechtsprechung aber, die es sowohl mit den überin­ dividuellen Rechtsgesetzen als auch mit den individuellen Rechtsansprüchen zu tun hat, weisen sie die Aufgabe zu, zwischen den beiden Redeweisen zu vermitteln und die Gesetze auf die individuellen Bedürfnisse hin zu interpre­ tieren, den individuellen Willenserklärungen aber eine Form zu geben, die auch vor der Ordnungsaufgabe des Rechts Bestand hat. (α) Die Entwicklung abstrakter Rechtsbegriffe.867 Der Adressat von Rechts­ normen war in den Rechtsordnungen vor der Achsenzeit ‚ein Bürger‘, ‚ein Arzt‘, ‚eine Ehefrau‘ oder einfach ein ‚Wer‘ ‒ jeweils verstanden als UndSumme derjenigen Personen, die unter den Vorstellungsgehalt des einzelnen denkenden Individuums fallen. Im Laufe der Achsenzeit erkannten jedoch erstmals die Griechen im ‚Wer‘ als Bezeichnung für Normadressaten nicht nur das Produkt einer Zusammenfassung von individuellen sinnlichen Vorstellun­ gen, sondern auch das entindividualisierte Produkt eines allgemeingültigen Denkens, mit dem einzig der menschliche Geist umgehen und den er u. a. durch andere Begriffe definieren konnte (z. B. ‚wer‘ = ‚jeder Mensch‘). Da­ durch wurde der abstrakte Begriff für die Jurisprudenz wichtig; denn diese konnte nunmehr zusätzlich zum konkreten Vorstellungsgehalt, der stets mit einem Begriff verbunden, aber individuell jeweils auch verschieden ist, einen normativen Vorstellungsgehalt setzen, der sich einerseits mit gewisse Verein­ fachungen verbindet, andererseits aber das Vorhandensein gewisser Charakte­ ristika bei allen Gegenständen, die unter den Begriff fallen, als unabdingbar vorschreibt. Und da somit abstrakter Geist und konkrete Realität in jedem Begriff verbunden sein können, hat jeder eine Doppelgestalt,868 die es erlaubt, 865  Zur weiteren Rechtsentwicklung aufgrund des Buchdrucks und der elektroni­ schen Medien vgl. zusammenfassend Th. Vesting (2007), Rn. 290 ff., 293 ff. 866  Nach § 133 BGB ist „bei der Auslegung einer Willenserklärung der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haf­ ten.“ Allerdings gilt diese Regel nach h. M. uneingeschränkt nur für nicht empfangs­ bedürftige Willenserklärungen, für die das Testament das Hauptbeispiel ist, während im Übrigen der Empfängerhorizont vorrangig zu berücksichtigen ist. 867  Vgl. dazu schon oben D 1 f. 868  Diese Doppelfunktion hat G. W. F. Hegel (1830), § 163 Zusatz 1, wie folgt beschrieben: „Wenn vom Begriff gesprochen wird, so ist es gewöhnlich nur die abs­

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ihn einesteils geistig zu interpretieren und ihn anderenteils vorstellungsmäßig zu exemplifizieren: jenes, wenn Theoretiker den Begriff auf entindividuali­ sierte Gegenstände für anwendbar erklären, wie es heute beispielsweise in den Gesetzeskommentaren geschieht; dieses, wenn Praktiker, insbesondere Rich­ ter, den Begriff auf einen ihrer Anschauung zugänglichen Gegenstand anwen­ den. Geistbezogene Interpretation und realitätsbezogene Exemplifikation wa­ ren also die Mittel, deren Zusammenfassung die römischen Juristen als Teil ei­ ner Kunst (ars) ansahen, welche sich der Klugheit (prudentia) i. S.  der Verei­ nigung von entindividualisierendem Denken und individualisierender Vorstellung bediente, indem sie mit der abstrakten Bedeutung eines Begriffs einen konkreten Anwendungsfall verband und sich damit das Tor zum ‚Be­ greifen‘ dessen öffnete, was sonst nur der Anschauung gegeben wäre. (β) Die Entwicklung abstrakter Rechtsnormen. Rechtsnormen machten von dieser abstrakt-konkreten Doppelnatur Gebrauch, indem sie sowohl der anschaulichen Vorstellung als auch der begrifflichen Erfassung zugängliche Tatbestände zu (entweder notwendigen oder hinreichenden) Bedingungen ebensolcher Rechtsfolgen erhoben. Sie taten das in Sätzen, welche entweder die logische Struktur von hypothetischen („wenn – dann“) Aussagen hatten und dadurch die naturwissenschaftlichen Gesetzesaussagen nachahmten, oder apodiktische Befehle an die Gerichte enthielten, reale Folgen für reale Sach­ verhalte festzusetzen. Die logische Struktur dieser normativen Sätze ergab sich dann teils aus ihrer Herkunft von konkreten Gerichtsentscheidungen, teils aus dem Willen des Gesetzgebers, durch Normbefehle künftiges Sozial­ verhalten zu determinieren. Ein frühes Beispiel für eine hypothetische Geset­ zesaussage finden wir in den leges Urnamma: „Wenn ein Mensch einen Mord begangen hat, dann soll dieser Mensch getötet werden.“869 trakte Allgemeinheit, welche man dabei vor Augen hat, und der Begriff pflegt dann auch wohl [als] eine allgemeine Vorstellung definiert zu werden. … Dies ist die Weise, wie der Verstand den Begriff auffasst… Nun aber ist das Allgemeine des Be­ griffs nicht bloß ein Gemeinschaftliches, … sondern vielmehr das sich selbst Beson­ dernde (Spezifizierende) und … bei sich selbst Bleibende. Es ist von der größten Wichtigkeit sowohl für das Erkennen als auch für unser praktisches Verhalten, dass das bloß Gemeinschaftliche nicht mit dem wahrhaft Allgemeinen, dem Universellen, verwechselt wird.“ Hegel weist bei dieser Gelegenheit auf die Parallele zu den Be­ griffen der volonté générale und der volonté de tous bei J.-J.Rousseau (1762) hin: Es sei „der allgemeine Wille der Begriff des Willens, und die Gesetze sind die in diesem Begriff begründeten besonderen Bestimmungen des Willens“. Klarer formuliert: Die volonté générale ist die schöpferische Erkenntnis des menschlichen Geistes (der ein vernünftiger Sinn beigegeben wird, vgl. K. Larenz, 1991, S. 347 f.), die volonté de tous dagegen die empirische Erkenntnis der menschlichen Sinne. 869  Die Normen unserer Strafgesetze weichen hiervon insoweit ab, als sie weder die vergangene Tat grammatisch im Perfekt noch die zukünftige Rechtsfolge im Fu­ tur, sondern beide im Präsens zum Ausdruck bringen: § 212 StGB: „Wer einen Men­



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Die wahrscheinlich ältere apodiktische Befehlsstruktur ist uns u. a. in den Zehn Geboten überliefert, die Mose dem Volk Israels als Wille Gottes ver­ kündete. Fünf dieser Gebote sind dem Strafrecht zuzurechnende Normen, die ein Verhalten ge- oder verbieten, ohne eine konkrete Rechtsfolge für die Nichtbefolgung auszusprechen, etwa: „Du sollst nicht töten, nicht ehebrechen, nicht stehlen, nicht falsch Zeugnis reden und nicht begehren deines Nächsten Haus noch alles, was sein ist.“870

Weitere als Wille Gottes verkündete Gebote sind ebenfalls dem Strafrecht zuzurechnen, obwohl ihre Rechtsfolgen nicht benannt werden, etwa: „Du sollst kein falsches Gerücht verbreiten; du sollst nicht einem Schuldigen Bei­ stand leisten und kein falscher Zeuge sein.“871

Andere Gebote Gottes sind dagegen eher der Sitte zuzurechnen, schon weil sie zumindest keine gerichtlich zu verhängenden Folgen haben können, etwa: „Sechs Jahre sollst du dein Land besäen und seine Früchte einsammeln. Aber im siebenten Jahr sollst du es ruhen lassen, damit die Armen unter deinem Volk davon essen.“872

Zwischen diesen beiden Normentypen stand in den archaischen Gesetzen noch ein dritter Typ von Normen, der zwar ebenfalls die „wenn – dann“Struktur des hypothetischen Rechts aufweist, dem jedoch statt einer weltli­ chen eine magisch-sakrale Rechtsfolge zugeordnet war: „Verflucht sei, wer Geschenke nimmt, aufdass er unschuldiges Blut vergießt!“873 „Wenn der Patron seinen Schutzbefohlenen betrügt, soll er verflucht sein.“874

schen tötet, wird … mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.“ Da diese Abweichung die Zeitenfolge verschleiert, bedeutet sie einen Rückschritt. Gleichwohl kann man sie grammatisch nicht als falsch bewerten. 870  2. Mose 20 13–17; 5. Mose 5 17–21. 871  2. Mose 23 1. 872  2. Mose 23 10–11. Daran ist erkenntlich, dass es dem mosaischen Recht vor allem auf eine erzieherische Wirkung ankam. Mehrfach findet sich dementsprechend die Aufforderung an die Väter, ihre Kinder die Gebote der Bibel zu lehren (2. Mose 10 2; 12 26 f.; 13 8; 5. Mose 4 9; 6 7 ff.; 32 7 und 46). 873  5. Mose 27 25. Vgl. auch A. Jirku (1927). 874  XII-Tafelgesetz 8 21: „sacer esto“. Der Patron ist der vornehme Römer, seine Schutzbefohlenen sind die Klienten aus der plebejischen Bevölkerung, die zu ihm in einem – sakral verstandenen – Abhängigkeitsverhältnis mit gewissen ökonomischen Rechten bzw. Verpflichtungen stehen. Macht der Patron sich ihnen gegenüber eines Betruges oder einer Untreue schuldig, dann soll er aus der Gemeinschaft der recht­ schaffenen Bürger ausgestoßen und den Unterweltgöttern ausgeliefert werden, d. h. vogelfrei sein.

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

Insgesamt verlief die historische Entwicklung eindeutig in Richtung der bedingten Normenstruktur mit einem klaren Befehl des Gesetzgebers an die Gerichte, welche Rechtsfolge für ein Unrecht zu verhängen ist. Diese Art der Gesetzgebung hatte den Vorteil, dass sie bereits durch die Bekanntgabe der Rechtsfolge potenziellen Rechtsungehorsam verhindern konnte. Sie hatte aber den Nachteil, dass sich im Einzelfall die gesetzlich angedrohte Rechts­ folge u. U. als ungerecht, weil zu schwach oder zu stark erweisen konnte. Heutige Gesetzgeber bemühen sich daher, diesen Nachteil auszugleichen, indem sie entweder nur einen allgemeinen Rahmen festsetzen, innerhalb dessen die Richter auf die ihnen als gerecht erscheinende Rechtsfolge zu er­ kennen haben, oder indem sie die erkennende Rechtsfolge zwar qualitativ z. B. als Freiheits- oder als Geldstrafe definieren, dann aber den Richtern die Quantifizierung (wie lange, wie hoch?) überlassen. Dadurch nehmen sie der Rechtsfolge zwar einen Teil ihrer abschreckenden Wirkung, stärken aber die Macht der Richter, das Urteilsmaß individuell gerecht bestimmen zu können. Im alten Recht wäre Entsprechendes nicht möglich gewesen. Kein Richter hätte eine gesetzliche Norm verändern noch ergänzen dürfen; denn Verände­ rungen wären contra legem gewesen und Ergänzungen hätten neue Normen erzeugt.875 Niemand aber durfte Gesetzgeber und Richter zugleich sein und sowohl in seinen Gesetzen das Allgemeine als auch in seinen Urteilen das Besondere bestimmen ‒ es sei denn, er war der oberste Herrscher im Lan­ de.876 (γ) Die Entwicklung eines abstrakten Rechtssystems. Mit der Zeit stieg die Zahl der Rechtsnormen an und erreichte mancherorts ein nur noch schwer zu überblickendes Ausmaß ‒ jedenfalls, wenn man die Zahl der zusätzlich gel­ tenden gewohnheitsrechtlichen Normen einbezieht. Infolgedessen wurde nunmehr die Systematisierung der Normen zum Problem. Die antiken Ge­ setzgeber versuchten das Problem, wie schon erwähnt, durch eine Zusam­ menfassung ähnlicher Tatbestände zu lösen; Mittel dafür waren ihnen Tatbe­ stände bezeichnende Begriffe, die noch ergänzt werden konnten durch Zahl, Gewicht, Material oder Funktion von Gegenständen, durch Geschlecht und Status von Personen, durch Zeit und Ort von Geschehnissen. Dass die anti­ ken Gesetzgeber auf diese Weise mit der Systematisierung ihrer Normen zwar beginnen, das Optimum des Möglichen aber nicht erreichen konnten, ist offensichtlich. Insbesondere zwei Möglichkeiten, denen die Gesetzgeber heute den Vorzug geben, blieben nämlich ungenutzt: zum einen die Zusam­ menfassung von Tatbeständen gemäß der Gleichheit oder Ähnlichkeit ihrer 875  Es sei vielmehr, so meinte man, Sache des Einzelnen, dort auf sein Recht zu verzichten, wo seine Verfolgung unbillig ist. Vgl. Aristoteles, NE V 14 a. E. 876  Vgl. Platon, Politikos 294a (ἀνὴρ μετὰ φρονήσεως βασιλικός); Nomoi IX 875c; Aristoteles, Politik III 15:1286a.



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Rechtsfolgen, zum anderen ihre Zusammenfassung mittels hierarchischer Einbindung in Rechtsinstitute. In der frühen Antike schied eine Systematisierung aufgrund der Gleichheit der Rechtsfolgen aus, weil dafür eine klare Klassifikation der Rechtsfolgen vorausgesetzt werden musste. Doch eine klassenmäßige Unterscheidung etwa von zivilrechtlichen, verwaltungsrechtlichen und strafrechtlichen Rechtsfol­ gen lag den Völkern fern. Sie musste ihnen fernliegen, weil sie die Rechts­ normen als Ordnungsmächte begriffen, welche, entsprechend den Sittennor­ men, die Verhältnisse der Menschen nicht nur untereinander, sondern auch im Verhältnis zu den Göttern regelten – und derart regeln mussten, weil göttliche und menschliche Ordnung eine Einheit bildeten, worin Eines vom Anderen abhing und die Störung des Einen jederzeit Folgen auch für das Andere haben konnte. Deshalb waren die frühen Herrscher ja nicht nur höchste Gerichtsherren, sondern gleichzeitig auch höchste politische Führer und höchste Priester und in dieser dreifachen Funktion dreifach legitimiert durch göttlichen Auftrag (input-Legitimation), durch ihren Gerechtigkeitssinn (throughout-Legitimation) und durch dessen Anerkennung seitens des Volkes (output-Legitimation). Und etwas anderes als die Herstellung einer die vor­ gestellte Einheit von göttlichem Auftrag, Gerechtigkeit und soziale Anerken­ nung umfassenden Ordnung kam als Ziel der Gesetzgebung gar nicht erst in Betracht. Die Einheit nicht nur von Herrschaft und Recht, sondern auch von Religion und Recht war tief verwurzelt und setzte sich daher gewöhnlich in den unteren Rängen fort: Sowohl in Mesopotamien als auch in Ägypten bildeten Priester die Richter aus, wichtige Rechtshandlungen (Eide, Ordale) fanden in den Tempeln statt und die wich­ tigsten Richtersprüche fielen ebenfalls dort. Sogar Rom machte anfangs davon keine Ausnahme:877 Rechtssetzung und Rechtsfindung lagen als magisch-sakrale Tätigkei­ ten in den Händen der Priesterschaft mit der Folge, dass diese ihre Rechtserkenntnis­ se auch selber sammelte und archivierte. Selbst als sich später ein Juristenstand klar von der Priesterschaft absetzte, führte er zunächst vor allem diese Sammeltätigkeit weiter.

Freilich lockerte sich später die enge Verbindung zwischen Recht und Reli­ gion. Die Menschen sahen die Götterwelt in Streit befangen und mussten sich deshalb auf eine metaphysische Macht besinnen, die höher war als die göttli­ che, weil sie Menschen und Göttern zu Wohlverhalten verpflichtete. Diese Macht war die harmonia mundi. Die Menschen erkannten in ihr nicht nur das höchste Gesetz (summa lex), sondern auch die höchste Macht der Vernunft (summa bzw. perfecta ratio), und sie nahmen an, dass sie nicht nur Himmel und Erde verband, sondern auch Auftrag sei an den menschlichen Geist.878 877  W.

Waldstein/J. R. Rainer (2014), § 9 Rn. 17 ff. in Übereinstimmung mit der Natur!“ heißt es bei A. Kleanthes (2005). Als Natur aber verstanden die Stoiker nicht nur die sinnlich gegebene, sondern auch 878  „Lebe

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

Denn wie in der Natur die Harmonie aller Vorgänge in der Einheit ihrer Subs­ tanz mit den mathematischen Gesetzen begründet ist, müsse die Harmonie des sozialen Miteinanders durch den menschlichen Geist als Einheit aller Vor­ gänge mit den sozialen Gesetzen begründet werden.879 Erkennen könnten die Menschen die sozialen Gesetze, indem sie ihre Vernunft nach Vorschriften für das menschliche Zusammenleben befragen880 – wobei sie die Anfrage freilich nur an die unverdorbene menschliche Vernunft richten dürften und nicht an die durch gewohnheitsmäßige Laster verdorbene.881 Aus der unverdorbenen Vernunft aber gehe die Neigung hervor, die Mitmenschen zu lieben.882 Und diese Neigung begründe dann alle Normen, die den Menschen Gerechtigkeit (iustitia) und sonstige Tugenden (virtutes) im Umgang miteinander vorschrei­ ben. Aufgabe der Herrscher als Gesetzgeber sei lediglich, diese Harmonie sichtbar zu machen: zum einen, indem sie die Normen in überschaubar geord­ neter Weise in ihren Rechtsgesetzen offenlegen; zum anderen, indem sie be­ fehlen, die Normen niemals zu brechen; und zum dritten, indem sie den Staat zur Schutzmacht über die Geltung der Normen einsetzen. Eine zusätzliche Systematisierung der Normen auch noch nach ihren Folgen hätte daneben kei­ nen Sinn ergeben; denn wenn die erstrebten Ziele feststehen, sind die Mittel dafür von untergeordneter Bedeutung. Auch in unserem heutigen Recht liegt der Systematisierung von Normen nicht immer ein Gerechtigkeitszweck, sondern manchmal auch ein prozessualer Zweck zugrunde. Die Folgensystematik wird daher durchbrochen, sobald die Zusammenfass­ sung nach Tatbeständen die Oberhand gewinnt. So werden beispielsweise im deut­ schen UWG von 2004883, wo es um die Ordnung des wirtschaftlichen Wettbewerbs geht, in Kapitel 2 sowohl zivil- als auch verwaltungsrechtliche „Rechtsfolgen“ vorge­ die geistige Welt, durch die ein himmlischer Geist weht und ihr sein Gesetz auf­ prägt. 879  Bahnbrechend insoweit schon Anaximandros, der erstmals als Urgrund und Element der Dinge das Unendliche annahm. Nach W. Jäger (1934, S. 217 f.) kommt bei ihm auch erstmalig der Gedanke einer alles Geschehen beherrschenden Gesetz­ lichkeit nach dem Vorbild der für alle Bürger verbindlichen Rechtsidee der Polis zum Ausdruck. „Er bezeichnet als Urgrund weder [wie Thales] das Wasser noch ein ande­ res der sogenannten Elemente, sondern eine andere unendliche Substanz, aus der sämtliche Himmel entstanden seien und die Welten (κόσμοι) in ihnen. ‚Woraus aber die Dinge ihre Entstehung haben, darein finde auch ihr Untergang statt, gemäß der Schuldigkeit. Denn sie leisteten einander Sühne und Buße für ihre Ungerechtigkeit; gemäß der Verordnung der Zeit.‘ “ 880  M. T. Cicero, De legibus I 44. 881  M. T. Cicero, De legibus I 31, 33. 882  M. T. Cicero, De legibus I 45, 43. 883  Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vom 3. Juli 2004 (BGBl. I S. 1414), welche u. a. „der Umsetzung der Richtlinie 97/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Oktober 1997 zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG über irreführende Werbung zwecks Einbeziehung der vergleichenden Werbung“ etc. dient.



J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts II683

sehen, in Kapitel 3 „Verfahrensvorschriften“ benannt und in Kapitel 4 „Strafvor­ schriften“ angehängt. Gewiss handelt es sich derzeit noch um eine Ausnahme; aber die Ausnahmen häufen sich, sobald institutionelle Gründe hervortreten und schließ­ lich die Oberhand gewinnen.

Der wissenschaftlich gesicherte Weg zur Systembildung führt daher statt über eine Zusammenordnung von Rechtsnormen gemäß ihren prozessualen Folgen über ihre Zusammenfassung gemäß gemeinsamer Zugehörigkeit zu materialen Rechtsinstituten. Denn Rechtsinstitute sind die materiellen Grund­ lagen von Rechtsnormen und damit Bausteine für die innere Verrechtlichung des völkischen Lebens innerhalb eines Staates.884 Wie solche Rechtsinstitute einst entstanden sind, mag das Beispiel des privaten Eigentums zeigen: Mitglieder von Völkern, die wie das römische vom Vorrang des privaten vor dem öffentlichen Lebensbereich ausgingen, bedurften eines höchsten staatlichen Schutzes allgemein für ihre private Macht und innerhalb dieses Schutzbe­ reichs speziell für diejenigen Gegenstände, auf die sich sowohl ihre Herrschaftsmacht (κράτεσις) als auch ihr Herrschaftswille (κυρία) erstreckten. Dieses Schutzbedürfnis musste daher jedem Gesetzgeber vor Augen stehen, der daran ging, den Eigenbesitzer einer Sache, welcher das Seinige getan hatte, um sich einer Sache zu bemächtigen, der die Sache aber darüber hinaus auch rechtlich beherrschen wollte, zum Eigentümer dieser Sache zu machen. Da innerhalb privater Verhältnisse der Einzelne seinen Wil­ len zum Rechtserwerb nur entweder durch eine Erklärung oder konkludent durch eine Handlung zum Ausdruck bringen konnte, eine Erklärung aber bei einem Recht, das nicht nur relativ zu Anderen, sondern absolut gegenüber Allen gelten soll, nur schwer möglich ist und im Fall des Eigentumserwerbs auch ganz ungewöhnlich wäre, hätte eigentlich eine konkludente Handlung des Besitzenden das Vorhandensein seines Willens zum Eigentumserwerb bezeugen müssen. Diese Handlung war jedoch teils durch die Besitzbemächtigung so weit erfolgt, wie sie auch den Eigentumswillen zum Ausdruck bringen konnte, teils war sie durch die Innehabung des Besitzes bereits unmöglich geworden. Daher musste in diesem Fall das Recht dem Besitzer zur Seite treten und aus der Tatsache seines Besitzes in Form einer rechtlichen Vermutung die Regel folgern, dass der gegenwärtige Besitzer einer Sache auch ihr Eigentümer sei (vgl. § 1006 Abs. 1 BGB) und dies darüber hinaus solange bleiben wolle, bis er sei­ nen Willen erkennbar aufgibt. Sollte sein Besitz dagegen unwillentlich enden, etwa weil er die Sache verliert oder sie ihm abhandenkommt, dann solle ihm die Vermu­ tung seines Eigentums gleichwohl erhalten bleiben (vgl. § 1006 Abs. 2 BGB), sodass er einem neuen Besitzer jederzeit als Eigentümer gegenübertreten und von ihm die Sache herausverlangen darf ‒ bzw. nach römischem Recht sie ‚vindizieren‘ kann. Damit waren freilich aus dem Eigentum als Rechtsinstitut nur die zivilrechtlichen Normen abgeleitet. Im Verhältnis zum Staat musste das Eigentum darüber hinaus eine 884  F. C. von Savigny (1840/1973), § 5: „Es hat daher die einzelne Rechtsregel ihre tiefere Grundlage in der Anschauung des Rechtsinstitutes, und wenn wir nicht bei der unmittelbaren Erscheinung stehen bleiben, sondern auf das Wesen der Sache einge­ hen, so erkennen wir, dass in der That jedes Rechtsverhältniß unter einem entspre­ chenden Rechtsinstitute als seinem Typus steht und von diesem auf die gleiche Weise beherrscht wird, wie das einzelne Rechtsurtheil von der Rechtsregel.“

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

umfangreichere Bedeutung gewinnen. Denn insoweit besaß es nicht nur als absolutes Recht, sondern auch als wirtschaftlicher Wert Gewicht, weshalb es auch als Rechtsgut am staatlichen Schutz teilhaben musste. Der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff bringt folglich diese Forderung heute zum Ausdruck, indem er einerseits den Eigen­ tumsschutz auf alle „vermögenswerten Rechtspositionen“885 erstreckt, also etwa auch auf den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb886 sowie das sogen. ‚geistige Eigentum‘887, und indem er andererseits jede Beschränkung des Schutzes nicht als Sozialbindung des Eigentums als solchen, sondern des Eigentums als Vermögenswert begreift.888

Aus ihren Bausteinen muss die Rechtswissenschaft dann versuchen, ein nationales Rechtssystem zu formen. Dazu haben die Völker des Altertums nur Unvollkommenes geleistet. Bei den Griechen liegt das am Fehlen fast jeglicher Rechtswissenschaft, bei den Römern daran, dass sie sich wissen­ schaftlich lediglich mit der Analyse des vorhandenen Materials und dessen Ergänzung durch neues befassten, der Materialsynthese dagegen zumindest offiziell889 keine Aufmerksamkeit widmeten. Diese Aufgabe einer umfassen­ den Synthese blieb vielmehr der modernen Rechtswissenschaft im Verein mit der nationalen Gesetzgebungstätigkeit vorbehalten. Ihr Mittel musste der Einbau der Rechtsinstitute in nationale Gesetze sein, sodass aus der Gesamt­ heit der in Rechtsgesetze eingeordneten Rechtsinstitute und Rechtsnormen eine nationale Rechtsordnung entstehen kann. Dies ist bisher allerdings noch nirgends vollständig geglückt ‒ weshalb zweifelhaft ist, ob es überhaupt vollständig glücken kann. Wenn aber schon im nationalen Bereich zweifelhaft ist, ob aus den natio­ nalen Rechtsinstituten ein umfassendes Rechtssystem und aus den hieraus abzuleitenden Normen eine vollständige Rechtsordnung zusammengefügt werden kann, dann gilt das erst recht im internationalen Bereich. Hinzu tre­ ten muss dort nämlich noch eine Vergleichung der nationalen Rechtsinstitute miteinander und, soweit es nottut, ihre Synthese, um hieraus inter- und su­ pranationalen Ordnungen ableiten zu können. Hierbei ergeben sich schon deshalb erhebliche Schwierigkeiten, weil die nationalen Rechtsordnungen 115 97, 111 f. 23 157, 162 f.; 92 34, 37; BVerfGE 31 229, 239; 79 29, 40. 887  BVerfGE 31 229, 238 ff.; 79 29, 40 ff.; 81 208, 219 ff. u. ö. 888  Beispielweise dürfen private Sachen ohne Vermögenswert niemals enteignet werden. 889  Einzige auf uns überkommene Ausnahme sind die Institutionen des Gaius, der im ersten Buch seines für Anfänger geschriebenen Lehrwerks das Personenrecht, im zweiten und dritten Buch das Sachenrecht und besonders gründlich das Erbrecht, im vierten Buch das Prozessrecht, d. h. die verschiedenen Klagen, die Aufstellung der Prozessformel u. a. behandelt. Aus pädagogischen Gründen ist er bisweilen um Syste­ matisierung bemüht, so um um die Abstufungen der Schmälerung der Rechtsfähigkeit (in I 158 ff.) und die Einteilung der Verträge (in III 89 ff.). 885  BVerfGE 886  BGHZ



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der Völker Jahrhunderte alte Rechtsinstitute enthalten, die auch dann, wenn sie aus denselben Wurzeln stammen, doch eine unterschiedliche Gestalt an­ genommen haben, die in vielen Fällen irreversibel ist. Ein Beispiel mag das belegen: Der Eid, aus der Antike überkommen und aufs Engste mit den Gottesurteilen verbunden, verstärkte einst erstens das vor den meta­ physischen Mächten des Himmels und der Erde geknüpfte Treueband zwischen dem den Eid sprechenden und dem den Eid empfangenden Menschen; der Meineid forder­ te insoweit die Strafe der zürnenden, weil zu Zeugen angerufenen, Mächte heraus. Er hatte zweitens in Europa und weiten Teilen der übrigen Welt eine weitere sakrale Wurzel, indem er die gegenüber Gott ausgesprochene Verpfändung des Seelenheils mit der Wahrheit des Zeugnisses verband; der Meineid forderte insoweit die Strafe am Jüngsten Gottesgerichts heraus. Und er hatte drittens eine weltliche Wurzel, in­ dem er schon im antiken Griechenland und später in Rom das feierliche Ritual der staatlichen Rechtspflege mit dem Vertrauen auf die Wahrhaftigkeit der darin verwen­ deten Beweismittel verband. Er forderte insoweit die Strafe der staatlichen Justiz. Dass aus diesen Wurzeln ein übernational einheitliches Rechtsinstitut der Eides­ leistung geformt werden kann, erscheint angesichts der Vielzahl der religiösen und sonstige metaphysischen Überzeugungen, die es heute in der Welt gibt, ausgeschlos­ sen. Die deutschen Prozessordnungen haben ihren Bezug auf den jüdisch-christlichen Gott sowie auf andere metaphysische Mächte zwar richtigerweise gekappt890 und an deren Stelle den Bezug auf das „Bewusstsein [des Eidespflichtigen] seiner Verantwor­ tung vor Gericht“ (§ 484 Abs. 2 ZPO, § 65 Abs. 2 StPO) gesetzt;891 doch ergibt das schon deshalb keinen rechten Sinn, weil die uneidliche Aussage in demselben Be­ wusstsein zu erfolgen hat. Und dass die beschworene gegenüber der uneidlichen Aussage darüber hinaus „die Bedeutung der Aussage [für die Urteilsfindung]“ bekräf­ tigen soll (§ 391 ZPO, § 59 Abs. 1 StPO), kann das Gericht zwar zur Zeugenbeeidi­ gung motivieren, aber nicht Gegenstand des Schwures sein. Dessen Funktion ist somit zwar klar, dessen Gegenstand aber bleibt im Dunkeln.892 890  Dies geschah nach der grundsätzlichen Abkehr der Rechtsprechung (Großer Senat des Bundesgerichtshofs vom 24.10.1955 – BGHSt 8 301 ff., 309 ff.) von der eigenständigen Bedeutung des Meineids gegenüber einer ohne Eid geleisteten Falsch­ aussage vor Gericht. 891  § 65 StPO Abs. 1 und 2 StPO lauten: „(1) Gibt ein Zeuge an, dass er aus Glau­ bens- oder Gewissensgründen keinen Eid leisten wolle, so hat er die Wahrheit der Aussage zu bekräftigen. Die Bekräftigung steht dem Eid gleich, hierauf ist der Zeuge hinzuweisen. – (2) Die Wahrheit der Aussage wird in der Weise bekräftigt, dass der Richter an den Zeugen die Worte richtet: ‚Sie bekräftigen im Bewusstsein Ihrer Ver­ antwortung vor Gericht, dass Sie nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen haben‘ und der Zeuge hierauf spricht: ‚Ja‘.“ 892  Zumindest solange, wie man in Deutschland am promissorischen Eid festhält, besteht er m. E. im Bezug auf ein metaphysisches Treueband, das die weltliche Rechtsordnung mit einer metaphysischen Ordnung verbindet: im Prozess also im Be­ zug auf das Treueband des Zeugen zu den Parteien und zum Gericht. Ob die Verlet­ zung dieses Bandes sich als hinreichender Grund für eine höhere Strafe (als der für die uneidlichen Falschaussage angedrohten) international durchsetzen lässt, erscheint mir fraglich.

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

Es ist daher nahezu sicher, dass die Menschheitsaufgabe, ein vollständiges Rechtssystem zu formulieren, nicht nur national, sondern erst recht interna­ tional auf immer ungelöst bleiben wird. Alle Lösungsversuche, so anerken­ nenswert sie sind, werden höchstwahrscheinlich sehr schnell im dunklen Tunnel der Geschichte verschwinden. Und jeder Blick auf den gegenwärtigen Stand der Entwicklung wird daher nicht mehr sein als eine Momentaufnahme sowie eine Vergewisserung, dass die Menschheit sich dieser Aufgabe nicht entschlagen hat, sondern immer noch dabei ist, sich an ihr abzuarbeiten. c) Recht vs. Billigkeit Soweit es im Altertum Gesetzesrecht gab – nicht als Ergänzung oder Ver­ deutlichung des allgemeinen Rechtsbewusstseins, sondern als eine Summe abstrakter Normen, frühestens also in Griechenland und Rom –, führte es sofort zu zwei Problemen, welche dem lebendigen Recht unbekannt waren und sind: zum Problem seiner Korrektur, wenn es sich als konkret ungerecht erweist, und zum Problem seiner Ergänzung, wenn es sich im Einzelfall als lückenhaft herausstellt. Drei Wege boten sich für eine praktische Lösung an: Der erste Weg war die permanente Überprüfung der vorhandenen Gesetze auf ihren Änderungs- oder Ergänzungsbedarf. Diese Überprüfung gab es, wie erwähnt, in Kreta (wenn man Homer Glauben schenken darf): König Minos passte dort alle neun Jahre seine Gesetze den Zeitläuften aufs Neue an. Weit besser gesichert sind Überprüfung und Anpassung des Rechts dagegen im republikanischen Rom: Dort wurde den Prätoren die Befugnis eingeräumt (und damit die Aufgabe zugewiesen), das geltende Recht den inner­sozialen Bedürfnissen und dem zunehmenden Handelsverkehr anzupassen. Das in Rom für alle römischen Bürger geltende Zwölf-Tafelgesetz aus dem 5. Jh. v. u. Z. durfte aus einem unerfindlichen Grund weder abgeändert noch ergänzt werden und erwies sich daher mit der Zeit insbesondere für den aufblühenden Han­ dels- und Wirtschaftsverkehr als lähmend. Man sah sich daher gezwungen, die Juris­ diktion von der strengen Bindung an seine Normen zu befreien. Das geschah folgen­ dermaßen: Statt vor der Höchstmagistratur der Konsuln wurden die streitigen Verfah­ ren vor der Gerichtsmagistratur der Prätoren verhandelt, wo in einem ersten Verfah­ rensteil (in iure) der praetor urbanus die Rechtslage festlegte.893 Daraus entwickelte sich ein sogen. Amtsrecht (ius honorarium), das zwar an das überkommene Recht gebunden war, aber aufgrund eines Vertrags zwischen den Parteien (litis contestatio) von dieser Bindung befreit werden konnte. Diese Freiheit nutzte der Prätor dann aus, um entweder einem nach ius civile unbegründeten, ihm jedoch billig erscheinenden Anspruch gerichtlichen Schutz zu gewähren, oder umgekehrt einem nach ius civile 893  Die im zweiten Verfahrensteil (apud iudicem) aufgrund einer Beweiserhebung urteilenden Richter waren dann an die Festlegung der Rechtslage durch den Prätor gebunden. Vgl. oben H 2 c bb β ββ a. E.



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begründeten, jedoch unbilligen Klagebegehren den gerichtlichen Schutz zu versagen. In welcher Weise er von seinem Jurisdiktionsrecht Gebrauch machen werde, konnte er überdies bei seinem Amtsantritt mittels Edikts im Voraus verkünden, sodass einer­ seits die Rechtsuchenden sich über ihre Prozessaussichten informieren konnten und andererseits er selbst nicht mit aussichtslosen Prozessen überhäuft wurde. Somit wa­ ren diese Edikte, die jedes Jahr beim Amtsantritt eines Prätors ergingen, die besonde­ re Art, wie man in Rom das Recht fortschrieb.894

Der zweite Weg war ein Abgehen vom Wortlaut der Gesetze dort, wo die konkreten Umstände es erforderten. Diese Möglichkeit finden wir im indi­ schen Recht verwirklicht, wo bei einer Konkurrenz zwischen dem Buchsta­ ben des śāstra und einer Billigkeitsregel stets der Billigkeit der Vorrang ge­ bührte. Mittel dafür waren entweder die Uminterpretation oder die Abänderung eines Rechtstextes, der nicht mehr in die Zeit passte. Man begründete das mit der religiösen Fundierung des Rechts im dharma:895 Dieser bilde die Grenze für das Gesetz und den Rahmen dessen, was am śāstra verändert werden darf, aber auch soll. Mithin be­ stimmte in Indien nicht das einfache Gesetz, der śāstra, die Rechtswirklichkeit, son­ dern der dharmaśāstra, das metaphysisch als gerecht legitimierte Gesetz.896

Den dritten Weg der Entbindung vom abstrakten Recht wählte man im philosophisch aufgeklärten Griechenland. Dort war man sich der Gerechtig­ keitsproblematik, die der Übergang vom konkreten zum abstrakten Begriff und von der konkreten zur abstrakten Norm erzeugte, schmerzlich bewusst. Aristoteles sah sich daher veranlasst, die Problematik derart aufzulösen, dass er dem abstrakten Recht einer gesetzlichen Regelung die konkrete Billig­ keit897 einer (richterlichen?) Entscheidung einerseits gegenüberstellte, ande­ rerseits beide, Recht und Billigkeit, zu Emanationen derselben Gerechtigkeit erklärte. Denn auch die Billigkeit sei etwas Gerechtes, nur „nicht im Sinne der durch das Gesetz gewährleisteten Gerechtigkeit, sondern als Berichtigung der Gesetzesgerechtigkeit“898. 894  Allerdings schufen die Edikte kein Recht im strengen Sinne; denn die Jurisdik­ tionsgewalt des Magistrats war keine Rechtssetzungsgewalt (welche nur dem Volke zustand). Erst in der Kaiserzeit begann man, auch die Edikte als Rechtsquelle und das ius honorarium somit als ein Recht besonderer Art neben dem ius civile anzuerken­ nen. 895  Vgl. oben G 2 γ. 896  Ausführlich zum Ganzen J. D. M. Derrett (1968). 897  Aristoteles, NE V 14 (1137b: „Das Billige ist zwar ein Recht, aber nicht im Sinne des gesetzlichen Rechts, sondern als eine Korrektur desselben. Das hat darin seinen Grund, dass jedes Gesetz allgemein ist und sich bei manchen Dingen richtige Bestimmungen durch ein allgemeines Gesetz nicht geben lassen.“ 898  Aristoteles, NE V 14 (1137b: „Das hat seinen Grund darin, dass jegliches Ge­ setz allgemein gefasst ist. Aber in manchen Einzelfällen ist es nicht möglich, eine allgemeine Bestimmung so zu treffen, dass sie richtig ist. In solchen Fällen … nimmt das Gesetz die Fälle sozusagen en bloc, ohne allerdings zu übersehen, dass damit eine

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Teil III: Genetische Entwicklung des Rechts

Das Ergebnis war dann allerdings die Teil-Rückkehr zum konkreten Begriff899 und zu konkreten Normen, von denen zuvor (d. h. in der Zeit vor Thales) auch das grie­ chische Denken bestimmt worden war. Das Problem der Gerechtigkeitslücke im abs­ trakten Recht wurde dagegen von Aristoteles nicht behandelt. Doch liegt es nahe, die Lösung in der von ihm gewiesenen Richtung eines Plebiszits zu suchen.

Das klassische römische Recht schloss sich der Lehre des Aristoteles an,900 überführte sie aber in die Praxis durch die Einrichtung eines Sittenverfah­ rens, worin, anders als im Rechtsverfahren, die Billigkeit als aequitas zur Geltung kommen konnte. Die Vereinigung von Recht und Billigkeit in der Gerechtigkeit brachte dann die berühmte Definition des Celsus zum Aus­ druck: „ius est ars boni et aequi“.

Fehlerquelle gegeben ist. … Wenn nun der Gesetzgeber … durch eine vereinfachende Bestimmung einen Fehler verursacht hat, ist es ganz in Ordnung, das Versäumnis im Sinne des Gesetzgebers selbst zu berichtigen: so wie er selbst die Bestimmung getrof­ fen hätte, wenn er im Lande gewesen wäre, und wie er sie, wenn ihm der Fall be­ wusst geworden wäre, in sein Gesetz aufgenommen hätte. … Das nämlich ist das Wesen der ‚Billigkeit in der Gerechtigkeit‘: Berichtigung des Gesetzes da, wo es in­ folge seiner allgemeinen Fassung lückenhaft ist.“). Hierzu eingehend M. Salomon (1937), S, 68 ff., 139 ff. Demgemäß heißt es in Art. 1 Abs. 2 des Schweizer Zivilge­ setzbuchs: „Kann dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden, so soll das Ge­ richt nach Gewohnheitsrecht und, wo auch solches fehlt, nach der Regel [franz. Fas­ sung: „selon les règles“] entscheiden, die es als Gesetzgeber aufstellen würde.“ 899  Dieser ‚konkrete Begriff‘ hat mit dem ebenfalls als „konkret“ bezeichneten Begriff in der Hegelschen Philosophie (wie er teilweise von Karl Larenz [1991, S. 145] wiederaufgenommen wurde) wenig gemein. Der „konkrete Begriff“ im Sinne Hegels ist ein wirkendes Prinzip, das „sich in seinem Prozess als Entwicklung seiner selbst erweist“ (1830, § 161 Zusatz), während der hier gemeinte ‚konkrete Begriff‘ die Bezeichnung einer Undsumme sich gleichender Gegenstände ist. 900  Dazu H. Coing (1952).

Teil IV

Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht K. Entwicklungstendenzen im neuzeitlichen Recht Zweitausend Jahre nach den revolutionären Entwicklungen innerhalb der Achsenzeit, mit denen Teil III der Untersuchung endete, ist die Welt des Rechts abermals komplexer und komplizierter geworden. Eine Kurzdarstel­ lung des derzeitigen Zustands ist kaum noch möglich, eine zusammenfas­ sende Schau schon gar nicht. Dennoch scheint mir, dass unter einer sehr spezifischen Fragestellung ein Blick auf das Recht der Neuzeit sich auch im vorliegenden Rahmen lohnt und möglich ist: Ob nämlich jene Faktoren, de­ ren gesetzmäßige Einwirkung auf die Rechtsentwicklung im Altertum wir beobachten konnten, noch immer wirksam sind, ob einige entfallen sind, ob neue hinzukamen? Vor allem diesen Aspekten soll daher die nachfolgende Untersuchung gewidmet sein. 1. Entwicklungstendenzen innerhalb der staatlichen Verbände und ihres Rechts Im Altertum hatte die Historiogenese von Staat und Recht teils aufgrund externer Einflüsse, teils autogen begonnen und am Ende der Achsenzeit zur Bildung von ‚Protostaaten‘ geführt, in Rom darüber hinaus zu einer nahezu unumschränkten Herrschaft des Rechts über das soziale Leben und über die politischen Verhältnisse. Diese Entwicklung stagnierte im Mittelalter über­ wiegend, beschleunigte sich aber wieder mit dem Beginn der Neuzeit. Sie brachte zum einen neue politische Einheiten hervor: ‚Territorialstaaten‘ mit festen Grenzen, die man verteidigte oder auszuweiten suchte, ‚Nationalstaa­ ten‘ mit Bewohnern, die Nationalität als Teil ihrer Ich-Identität und als Ab­ grenzungsmerkmal gegenüber den Bewohnern anderer Nationen verstanden; und sie erzeugte zum anderen ein Recht, das die territorialstaatlichen Gren­ zen und die Einheit der Nationen stützte und damit der territorialen und na­ tionalen Identität einen festen Umriss verlieh. Diese Entwicklung hat sich in der Gegenwart allerdings teilweise umgekehrt: Die Staatsgrenzen sind durch­ lässiger geworden und haben an Bedeutung eingebüßt, die Nationalgefühle sind schwächer geworden und haben einem Gefühl der Interna­tionalität Platz gemacht. Und das Recht ist dieser Entwicklung gefolgt: Es hat viel von sei­

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

nem nationalen Charakter verloren und sich stattdessen überstaatlich oder international überformen lassen. Diese oberflächliche Sicht vermittelt den Eindruck, als seien die Entwick­ lungen von Staat und Recht in stetem Gleichschritt verlaufen. Indessen ist das Gegenteil eher richtig: In manchen Bereichen der Erde, wo die Entwick­ lung von Staaten nur wenig vorankam, verharrten zwar auch die Rechtsord­ nungen auf der einmal erreichten Entwicklungsstufe. Anderswo dagegen verlief entweder die staatliche der rechtlichen Entwicklung voraus, oder eine rechtliche Entwicklung riss die staatliche aus ihrer Erstarrung und verhalf ihr zu einem Modernisierungsschub. Diese Unterschiede in den Entwicklungen sollen hier nicht nachvollzogen werden, schon weil ihre Bedingungen zu unterschiedlich waren. Stattdessen will ich mich der einigermaßen einheit­ lichen Entwicklung derjenigen Staaten und ihres Rechts zuwenden, welche die Anführer der neuzeitlichen Entwicklung waren und die man, weil sie von der modernen Technik geprägt wurden, als zivilisatorische frontrunner be­ zeichnet. Von einer Historiogenese ‚der‘ Staaten und ‚des‘ Rechts kann aller­ dings im Folgenden nur in einem sehr eingeschränkten Maße die Rede sein. Im Vordergrund wird stehen, ob spezifische Gesetzmäßigkeiten, die wir von früher her kennen, auch heute noch wirksam waren und in der Gegenwart das Entstehen hoch komplexer ‚zivilisierter‘ Massenstaaten ermöglicht ha­ ben. a) Parallelentwicklungen von Staaten (α) Vom personalistischen zum institutionalistischen Staat. Die wichtigste politische Entwicklung seit dem Altertum bestand darin, dass sich die ‚Pro­ tostaaten‘ in neuzeitliche ‚Territorialstaaten‘ verwandelten. Die Protostaaten waren einst Personenverbände, d. h. Verbände, die weni­ ger durch ein bestimmtes Territorium als durch einen ‚Herrscher‘ geformt wurden: durch eine ‚zentrale Persönlichkeit‘ (oder Gruppe von Personen), die inmitten ‚ihres‘ Volks residierte und es regierte.1 In Ägypten, wo man den Begriff ‚Staat‘ noch nicht kannte,2 bildete ein Pharao das Zentrum eines solchen Personenverbandes, den eine ihm unterstellte Beamtenschaft zur Einheit formte.3 Ähnlich war es in Mesopotamien (Babylon), China und in den anderen frühantiken Protostaaten. In Griechenland, wo die Städte (πόλεις) gleichzei­ dazu oben E 5. Begriff ‚Staat‘ wird abgeleitet vom lat. status = Stand, Zustand (ital. stato, vgl. E 5 δ Fn. 87). 3  Vergleicht man den ägyptischen Protostaat des AR und MR mit dem französi­ schen Staat von Louis XIV., dann kann man beide zwar als ‚königlich regierte Ein­ heiten‘ („L’état c’est Moi“) bezeichnen; jedoch sind die Entstehungsvoraussetzungen 1  Vgl. 2  Der



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tig Staaten (‚Stadtstaaten‘) waren, bildete in einigen von ihnen allerdings statt der Einzelpersönlichkeit die Bürgergemeinde (der δῆμος als „Inbegriff fühlender mensch­ licher Wesen“4) das Zentrum, in der athenischen Variante die von der versammelten Bürgerschaft getragene Ἀθηναίων πολιτεία, in der spartanischen Variante die von den Adelsgeschlechtern getragene Λακεδαιμόνιων πολιτεία. Zu Protostaaten wurden je­ doch auch sie erst durch höchste Amtsträger, denen ein Rat (βουλή) zur Seite stand. Entsprechend sprachen die Römer, wenn sie ihren ‚Staat‘ meinten, ausschließlich vom Volk, vom populus Romanus als dem Zusammenschluss aller römischen cives, oder, wenn sie dessen Einheit formulieren wollten, von der res publica als einer öf­ fentlichen Sache.5 Zum Staat wurden Volk und öffentliche Sache aber erst aufgrund zweier Konsuln und einer Bürokratie (Magistrat), die sie verwaltete. In Griechenland und Rom war allerdings die Entwicklung noch in weiterer Bewe­ gung. In Griechenland diskutierten die Philosophen die staatliche Herrschaft, wer sie theoretisch ausüben soll: das gesamte Volk (Demokratie), ein überragender Einzelner (Autokratie) oder die Besten der Bürger (Aristokratie)? In Rom handelte man prak­ tisch und strukturierte den Staat mittels einer gemischten Verfassung, welche die ­politischen Elemente so harmonisch wie möglich zusammenfügte:6 das wahlberech­ tigte Volk7 als das demokratische Element, das Konsulat als das monarchische Ele­ ment und den Senat als das aristokratische Element.8 Und weil diese Art ihres Staates ganz offensichtlich erfolgreich war, kamen den Römern auch keine Zweifel an der Richtigkeit seiner Struktur. Wichtiger erschien ihnen, welche Aufgaben der Staat wahrnehmen soll. Und das entschieden sie wiederum pragmatisch: Wenn Harmonie dieser Einheiten genau entgegengesetzt. Bildlich ausgedrückt: In Ägypten veräußer­ lichte sich der König im Staat, in Frankreich verinnerlichte er sich den Staat. 4  Th. Gomperz (1925), S. 60. 5  M. T. Cicero, De re publica, I 25: „Est igitur res publica res populi, populus autem non omnis hominum coetus quoquo modo congregatus, sed coetus multitudinis iuris consensu et utilitatis communione sociatus.“ („Der Staat ist also eine Sache des Volkes; ein Volk aber ist nicht jede irgendwie zusammengewürfelte Menschenmenge, sondern eine Ansammlung von Menschen, die sich unter einer gemeinsamen Rechts­ ordnung und zum Zwecke gemeinsamen Nutzens vereinigt haben.“). Die Bezeich­ nung ‚Menschenmenge‘ anstelle von ‚Volk‘ benutzte später noch I. Kant (1798), § 45: „Ein Staat (civitas) ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen.“ 6  Dazu, dass der Staat seiner Verfassung vorausliegt, vgl. C. Schmitt (1928/1993), S. 21 f.: „Die Verfassung im positiven Sinne enthält nur die bewusste Bestimmung der besonderen Gesamtgestalt, für welche die politische Einheit sich entscheidet. … Die Verfassung gilt kraft des existierenden politischen Willens desjenigen, der sie gibt.“ Ähnlich J. Isensee (2004), § 15 Rn. 1: Der Staat ist einerseits Gegenstand und Vo­ raussetzung der Verfassung, besteht andrerseits aber nicht ohne Verfassung. Ein Staat ohne Verfassung wäre ein ‚failed state‘. Vgl. auch a. a. O. Rn. 198. 7  Sowohl das römische Wort ‚populus‘ und auch das deutsche Wort ‚Volk‘ haben noch einen festen Bezug zur Kriegsführung (poplos = Kriegsheer; Volk = Kriegsvolk; Volker = Krieger). Daraus resultiert möglicherweise auch die lange gehegte Abnei­ gung, Frauen an der Willensbildung im Staat zu beteiligen. 8  Eingehend dazu Polybius, Historiae, vol. III, Kap. 5. Zur verfassungsrechtlich entsprechenden Herrschaft in Sparta und Karthago Polybius, a. a. O. Kap.  7.

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herrschen soll, müssen die Aufgaben des Staates durch das Ziel bestimmt werden, zu dessen Erreichung seine Bürger ihn gegründet haben. Und weil das Ziel eines jeden römischen Bürgers sein größtmöglicher Nutzen ist, muss das Ziel des Staates der größtmögliche Nutzen aller Bürger sein.9 Diese Logik war einfach, und die Conclusio war, wie sich zeigte, erfolgreich.

Die Auffassung vom Staat als einem personalistischen (‚imperialen‘) Herr­ schaftsraum hielt sich in Europa noch während des gesamten Mittelalters. Zu Beginn der Neuzeit entstand indessen ein Bruch, der so tief war, dass man rückblickend darüber streitet, ob für die Herrschaftsräume früherer Zeiten die Bezeichnung ‚Staat‘ überhaupt angemessen ist: Die neuen Staaten wurden zu institutionellen Gebilden. Viele Mediävisten, aber auch Staatstheoretiker,10 haben für die vor-neuzeitlichen Herrschaftsräume den Begriff ‚Staat‘ abgelehnt und ihn durch andere Begriffe ersetzt, etwa durch den Begriff ‚Reich‘ (z. B. ‚das Reich der Pharaonen‘, ‚das Reich Karls des Großen‘). Sie haben ihre Wortwahl damit begründet, dass ‚Reich‘, dem Worte ‚regnum‘ ähnlich,11 stärker den persönlichen Reichtum an Macht assoziiere, über den ein Herrscher innerhalb seines ‚Imperiums‘ (engl. empire) verfügt.12 Ich lasse dieses be­ griffliche Problem beiseite – schon weil ich an früherer Stelle den antiken Gemein­ wesen Ägyptens, Mesopotamiens, Griechenlands usf. in Übereinstimmung mit den meisten Rechtswissenschaftlern einen ‚(proto)staatlichen‘ Charakter zugeschrieben habe. Und als Bezeichnung für die seinerzeit bestehenden Stadtstaaten, etwa Mesopo­ tamiens und Griechenlands,13 wäre der Begriff ‚Reich‘ ohnehin verfehlt.

Der Bruch im Charakter der Staaten, der sich teils vor,14 teils seit der frühen Neuzeit anbahnte, vollzog sich in Kontinentaleuropa endgültig nach 9  M. T.

Cicero (oben Fn. 5). etwa bei R. W. Füßlein (1973), S. 11 f. 11  Etymologisch kommt ‚Reich‘ indessen nicht von regnum, sondern vom althoch­ deutschen rīhhi bzw. vom mittelhochdeutschen rīch(e) und bezeichnet einen „sich meist über das Territorium mehrerer Stämme oder Völker erstreckenden Herrschafts­ bereich eines Kaisers, Königs o. ä.“ (Brockhaus, Deutsches Wörterbuch). 12  Gleichzeitig, so wird argumentiert, verhindere der Begriff, dass man die anti­ ken und die mittelalterlichen Herrschaftsstrukturen als institutionell deutet; denn es gab damals keinen Staat als juristische Person und folglich weder Staatseigentum noch Staatsschulden. Der für personalistische Staaten dagegen gut passende Begriff ‚Imperium‘ ist allerdings traditionell einerseits mit dem Imperium Romanum und andrerseits, jedoch im Anschluss daran, mit der Vorstellung großer ‚Reiche‘ (‚Welt­ reiche‘) verbunden, sodass sein Gebrauch auch für Herrschaftsgebiete von geringer Ausdehnung zu Missverständnissen führt. 13  Sowohl Mesopotamien als auch Griechenland haben nur als Summe ihrer Stadtstaaten ein kulturelles Kontinuum dargestellt und, insoweit vergleichbar dem chinesischen ‚Reich der Mitte‘, äußere Einflüsse absorbiert. 14  Bis ins 9. Jh. verlegt S. L. Guterman (1972, p. 19) den Beginn des Verände­ rungsprozesses zurück, häufiger wird dagegen die Wende vom 12. zum 13. Jh. als frühester Zeitpunkt angegeben. Zu den ins Mittelalter reichenden Wurzeln vgl. auch W. G. Grewe (1988), S. 69 f. 10  Nachweise



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dem Ende der dreißigjährigen Religionskriege unter dem Einfluss Frank­ reichs.15 Damals entstand eine Vielheit von souveränen Territorialstaaten mit einer sozial einheitlich durch ein gemeinsames Privatrecht geordneten Ein­ wohnerschaft. Sie waren institutionelle Gebilde, die sich auf klar abgegrenzte Räume erstreckten: Herrschaftsbereiche nicht mehr von Potentaten,16 sondern für Potentaten (‚erste Moderne‘)17. Über die Zugehörigkeit zu ihnen ent­ schied infolgedessen nicht mehr das Treueverhältnis zum Herrscher, sondern die territoriale Lage des Geburtsorts. Die Befugnis zur Herrschaft über das in seinen Grenzen lebende Volk legitimierte man mit dessen Bedürfnis nach innerem Frieden und äußerer Sicherheit, das am besten von einem Herrscher an der Spitze zu befriedigen sei.18 Allerdings war diese Sicht zeitbezogen19 und politologisch überdies fragwürdig, weil der neue Staat gar nicht als ­Instrument zur Herrschaft des Volkes über das Volk (also als ‚unmittelbare Demokratie‘) organisiert war, sondern als Instrument eines Potentaten, der bestenfalls vom Volk gewählt und auf die Wahrung der Interessen seines Volkes an Frieden und Sicherheit – bzw. umfassender auf die ‚Beförderung des Volkswohls‘ – eingeschworen war (der sich tatsächlich aber meistens um die Stärkung seiner Macht bzw. der seiner Familie kümmerte). Daher lag der entscheidende Unterschied zum personalistischen Staat vor allem darin, dass die einst so wichtige Reziprozität des Gebens und Nehmens zwischen Herr­ scher und Beherrschten jetzt erstmals nicht als eine Selbstverpflichtung des 15  Vorbereitet war der Bruch im Charakter der Staaten jedoch seit Längerem schon in den Schriften der Staatsphilosophen, insbesondere Jean Bodins (1530–1496). Zu­ treffend daher St. Krasner (1993), p. 296: „Westphalia was but one step in the longterm erosion of the position of the emperor. … Westphalia was only the most notable of these developments.“ Vgl. auch ders. (1999). 16  Mit der von M. Weber (1972, S. 714) zutreffend gezogenen Folge, dass „Herr­ schaft gegen Herrschaft, Legitimität gegen Legitimität“ stehen konnte, etwa wenn mehrere Potentaten innerhalb desselben Territoriums Herrschaft ausübten und Steuern erhoben. 17  M. Draht (1966, S. 284) hat diesen Prozess prägnant als einen „Wandel von der Fürstensouveränität zur modernen Staatssouveränität“ bezeichnet. 18  So in Frankreich: J.-J. Rousseau (1762); in Deutschland: Ch. Wolff (1769), §§ 837, 921, 978 ff. Aus der Antike vergleichbar ist die Herrschaft von Zeus und Themis mit ihren Töchtern Dike (Gerechtigkeit), Eunomia (gute Ordnung) und Eirene (Frieden) als Garanten einer politischen Ordnung, deren Entstehen (gemäß Hesiod) nicht ohne Gewalt zu denken und nur mit Gewalt aufrecht zu erhalten ist. Vgl. dazu auch schon oben G 3 γ. 19  Wichtig für die Sicht war seinerzeit, dass sie die Herrschaftsausübung von Kai­ ser und Papst auf identischen Territorien ausschloss und die Herrschaftskonkurrenz der Städtebünde in Deutschland (‚Hanse‘) und der Stadtstaaten in Norditalien zumin­ dest zurückdrängte. Weltweit setzte sich das europäische Modell des Territorialstaats durch, weil es im Laufe des 18. Jh.s in die Vereinigten Staaten von Nordamerika und im 19. Jh. nach Lateinamerika exportiert wurde. Dass es für die afrikanischen ‚Staa­ ten‘ nicht passte, spielte seinerzeit keine Rolle, ist heute aber ein Problem.

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Herrschers, sondern als ein Rechtsanspruch der Beherrschten begriffen wurde – freilich ohne dass der Anspruch jemals vor Gericht hätte eingeklagt werden können. Der Unterschied war mithin vor allem theoretisch, und zwar so sehr, dass eine sogen. Vertragstheorie vorgeben konnte, man könne die Entstehung der neuen Staaten aus einem Vertrag zwischen Herrscher und Beherrschten erklären.20 Der Unterschied blieb aber nur solange theoretisch, bis das französische Volk ihn zum Grundanliegen seines Freiheitskampfes gegen die Unterwer­ fung unter die alleinige und absolute Herrschaft von Louis XVI. machte und damit die Theorie 1789 in Genesis umschlagen ließ – nämlich in den Über­ gang vom monarchischen Absolutismus zur echten, nämlich freiheitlichen, Demokratie. Zur Erläuterung:21 Die im Vordergrund ‚moderner‘22 Staatsgründungen stehenden Bedürfnisse der Völker nach Frieden und Sicherheit hatten in Europa durch die kon­ fessionellen Kriege des 16. Jh.s Verstärkung erhalten. Da ihre Befriedigung am besten in den absolutistischen Monarchien gelang, setzten diese sich durch – zuerst in Euro­ pa, wenig später überall, wohin Europäer auf der Suche nach neuem Land emigrierten und europäisches Gedankengut mitbrachten, vor allem also in Nord- und Lateiname­ rika. Verbunden war der Gewinn an Frieden und Sicherheit allerdings überall mit dem Risiko tyrannischer Herrschaft.23 Dieses Risiko konnte man in Kauf nehmen, solange es sich nicht verwirklichte.24 Als aber im 17. Jh. mancher legibus absolutus regieren­ 20  Die Vertragstheorie hatte ihr Vorbild in Vorstellungen vom germanischen Staat, wonach Volk und Herrscher sich einerseits als selbstständige Subjekte gegenüberste­ hen, andrerseits durch ein Vertragsverhältnis (einen ‚Sozialvertrag‘) miteinander ver­ bunden sind. Zur Kritik der Vertragstheorie vgl. etwa R. W. Füßlein (1973), S. 16 ff. m. Nachw. 21  Näheres u. a. bei W. Reinhard (2007), S. 36 ff. 22  Der Begriff ‚modern‘ kann für unterschiedliche Zeiträume gebraucht werden. Staatsrechtlich erscheint es zweckmäßig, die Moderne mit dem Westfälischen Frieden und der Schaffung von Territorialstaaten beginnen zu lassen, sodass man die zuvor bestehenden Staaten ‚vormodern‘ (oder eben ‚Protostaaten‘) nennen kann. Die Verla­ gerung der Staatsgewalt aus den Territorialstaaten auf internationale und supranatio­ nale Institutionen und Organisationen führt alsdann zu Staatsgebilden, die ‚postmo­ dern‘ sind bzw. einer ‚Zweiten Moderne‘ angehören. 23  Die Zentralisierung der Herrschaft in den Händen eines Königs oder Kaisers konnte zwar als ein zusätzlicher Vorteil des territorialen gegenüber dem personalisti­ schen Staat begriffen werden. Sie ließ jedoch das Problem der Legitimität der Herr­ schaftsausübung nur noch schärfer hervortreten. Deshalb wurden beispielsweise die Prärogativfunktionen des deutschen Kaisers, die ihn zum unumschränkten Herrscher machten, bis auf diejenigen beschnitten, deren er bedurfte, um im Einklang mit dem Volkswillen bzw. mit dem Gemeinwohl das Deutsche Reich zu regieren. Institutionell wurde sein Herrschaftsgebiet zum ersten europäischen Verfassungsstaat. 24  Denn „es ist besser, hundert Jahre der Tyrannei zu erdulden, als einen Tag lang das Leiden des Bürgerkriegs erleben zu müssen“ – so François de Jay (1589; zitiert in R. Schnur, 1962, S. 21).



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de Fürst meinte, den inneren Frieden mittels konfessioneller und geistiger Diktatur sichern zu dürfen, empfand man diese Knebelung als äußerst bedrückend. Ein Bedürf­ nis nach individueller Freiheit erwachte, wuchs und kulminierte schließlich in Frank­ reich im Sturm auf die Bastille und in der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen von 1789 bzw. in der Formulierung von Freiheitsrechten durch die französi­ sche Verfassung von 1791. Die Herrschaft des Königs wurde seither gekoppelt an die Erfüllung seiner Pflicht, nicht nur den Frieden zu schützen, sondern auch (was erst­ mals wichtig war) die natur- und vernunftrechtlichen Gebote zu befolgen.25 Mochte er somit auch fernerhin legibus absolutus sein, moribus absolutus war er nicht!

Beim damit erreichten Entwicklungstand blieb es bis ins vergangene Jahr­ hundert: Die meisten Staaten integrierten das personale Herrschaftselement in Gestalt des Volkes, das sich durchaus als staatenbildendes Element, als ‚Staatsvolk‘ eines institutionellen ‚Nationalstaats‘26, auch empfand und völ­ kerrechtlich ‚souverän‘ gegenüber jeder Fremdbestimmung von außen, staats­ rechtlich ‚souverän‘ durch Selbstbestimmung im Innern auch war.27 Der 25  Die rechtlichen Wurzeln der nunmehr an vielen Orten entstehenden Staatsverfassungen, worin den Untertanen subjektive Freiheitsrechte gegenüber ihrem Staate zuerkannt wurden, reichen allerdings weiter zurück: zum einen zu den konstitutionel­ len Bestrebungen des europäischen Mittelalters, die politische Gewalt des Staates wirksam zu regulieren (Magna Charta libertatum von 1215, Statutum in favorem principum von 1231, Goldene Bulle von 1356), zum anderen zu den Leges Fundamentales, deren Ausläufer die Friedensgesetze zu Beginn der Neuzeit (Ewiger Land­ frieden von 1495, Augsburger Religionsfrieden von 1555, Westfälischer Frieden von 1648 u. a.), die Habeas-Corpus-Akte von 1679, die englische Bill of Rights von 1689 und die nordamerikanischen Bills of Right (als Folgen und Ergebnisse der nordameri­ kanischen Revolution) waren. Aufgabe dieser Friedensgesetze war vor allem, das mittelalterliche Fehdewesen zurückzudrängen, es schließlich ganz abzuschaffen und durch das Gewaltmonopol des Staates zu ersetzen. Frei für eine Ordnung gleichbe­ rechtigter souveräner Staaten wurde der Weg infolge des Scheiterns der Reichseini­ gungsidee Karls V. Ausführlich dazu G. Jellinek (1927/1964), S.  1 ff. 26  Der Begriff ‚Nation‘ (ursprünglich aus dem lateinischen Wort natio [= Geboren­ werden, Geschlecht, Volksstamm] abgeleitet), bezeichnet eine „große, meist geschlos­ sen siedelnde Gemeinschaft von Menschen mit gleicher Abstammung, Geschichte, Sprache, Kultur, die ein politisches Staatswesen bilden“ (Brockhaus Enzyklopädie Bd. 27, 1995, S. 2360). Der Begriff ‚Nationalstaat‘, der sich im 19. Jh. herausbildete, wurde allgemein mit einem souveränen Staat und einem ihm gegenüber loyalen Bür­ gertum gleichgesetzt (vgl. K. W. Deutsch, 1972; dazu auch J. Mohr, 2011). In diesem Sinne werde ich den Begriff gleichfalls gebrauchen, obwohl mir bewusst ist, dass die Gleichsetzung angesichts der multikulturellen Zusammensetzung der meisten Staaten (etwa der USA, Indonesiens, Malaysias) in die Irre führt, vor allem auch in Bezug auf Deutschland, das sich rund tausend Jahre lang als ‚Imperium Romanum‘ bzw. ‚Römi­ sches Reich‘ bestimmt hatte. Zur Kritik eines ethnischen Gemeinsamkeitsglaubens siehe u. a. S. Salzborn (2011). 27  Der Begriff ‚souverän‘ (einer der schillernsten der Allgemeinen Staatslehre) stammt aus dem 14. Jh. Er wurde Mitte des 16. Jh.s von Jean Bodin dem ‚Staat‘ – damals ebenfalls ein neuer Begriff – als notwendige Eigenschaft attachiert: Staaten seien entweder nach außen und innen ‚souverän‘ oder sie seien keine Staaten. Der

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einzelne Staatsbürger war darin kein Untertan mehr, sondern Inhaber persön­ licher Freiheits- und politischer Einflussrechte.28 Um die Mitte des 20. Jh.s bahnte sich allerdings eine neue weltweite Ent­ wicklung an: Die meisten der damals 190 Staaten wurden nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Mitglieder einer übergeordneten Organisation, der United Nations Organization (UNO). Und deren primäre Aufgabe sollte in der Wahrung des Friedens zwischen den Staaten und der persönlichen Si­ cherheit innerhalb der Staaten bestehen.29 Damit gaben die Staaten also scheinbar die beiden wesentlichen Bestandteile ihrer Souveränität an eine hierarchisch höherstehende Organisation ab. Scheinbar! Denn der Schein trügt. Die UNO war weder militärisch noch polizeilich in der Lage, die zwi­ schenstaatlichen Friedens- und innerstaatlichen Sicherungsaufgaben zu erfül­ len. Diese Aufgaben oblagen nach wie vor den Nationalstaaten selber.30 Sie mussten ihr Militär und ihre Polizei beibehalten und brauchten folglich ihre Kriegsministerien nur in Verteidigungsministerien umzubenennen. Eine weitere Änderung ergab sich dagegen und wurde irreversibel: Staaten konn­ ten künftig nur noch revolutionär entstehen, nämlich indem eine Führerpersönlichkeit sie aus einem der bestehenden Staatsgebilde abspaltete. Der Umfang eines solchen abgespaltenen Staates entsprach dann, entsprechend mittelalterlichem Zuschnitt, ge­ nau dem Bereich, worin das Volk sich der Herrschaft eines ‚Führers‘ unterwarf. Fes­ tigte der ‚Führer‘ allerdings anschließend seine Herrschaft und machte er sie gar von seiner Person unabhängig, dann erlangte ein solcher Staat Souveränität im modernen Sinne. Und schaffte er es, anschließend in die UNO aufgenommen zu werden, dann erreichte er auch seine rechtliche Einreihung in den Bestand moderner Staaten.31 Verfall bzw. die Erosion von Souveränität, die heute in Teilen der politikwissenschaft­ lichen und internationalrechtlichen Literatur (aber nicht nur dort) konstatiert wird, beeinträchtigt demnach den staatlichen Charakter der davon betroffenen Territorien. Inwieweit es heute in Afrika und Lateinamerika innerlich souveräne Staaten über­ haupt gibt – und nicht nur „anomische“ (T. von Trotha, 1995, S. 23 ff.) Staatsge­ bilde –, bleibt dahingestellt. 28  R. Herzog (2014) setzt daher den Begriff ‚Nationalstaat‘ mit dem des ‚demokra­ tischen Staates‘ gleich. S. 29: ‚Nation‘ sei der Zusammenschluss nicht von Unterta­ nen, sondern von entscheidungs- und handlungsfähigen Bürgern. Diese eigenwillige Terminologie wird hier nicht übernommen. 29  Vgl. näher dazu unten c β. 30  Vgl. die Definition des Staates durch den US-amerikanischen Obersten Ge­ richtshof (United States vs. Kusche, D.C.Cal., 56 F. Supp. 201, 207 f.): „A people permanently occupying a fixed territory bound together by common-law habits and custom into one body politic exercising, through the medium of an organized govern­ ment, independent sovereignty and control over all persons and things within its boundaries, capable of making war and peace and of entering into international rela­ tions with other communities of the globe.“ S. ferner M. Kriele (1994), S. 68 ff. 31  Vgl. zur Neugründung von Staaten auf personalistischer Grundlage vgl. H. Krüger (1966), S. 919 f. Innerhalb der modernen Territorialstaaten können Gebietsverän­ derungen nur noch demokratisch beschlossen werden, also i. d. R. aufgrund einer



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(β) Vom liberalen zum sozialen Staat. Wichtigstes Mittel der Territorial­ staaten zur Ausübung ihrer inneren Souveränität waren von Anfang an die Rechtsgesetze. Zwar wurden diese nicht mehr wie früher von den Herrschern oder in ihrem Auftrag erlassen32 – es gab folglich nicht mehr so viele Rechte wie Herrscher. Ihr Erlass oblag vielmehr eigenen staatlichen Institutionen – es gab so viele Rechte wie zur Gesetzgebung befugte Institutionen.33 Das Ergebnis war allerdings ambivalent: Eigentlich war der institutionalistische Staat ein Produkt des Volkes, doch dieses lebte darin nicht etwa unter der Herrschaft seiner eigenen, sondern der staatlichen Gesetze.34 Und da der innere Frieden nur mittels einer einheitlichen Rechtsordnung gesichert wer­ den konnte,35 galt in jedem Staat einzig diese staatliche Rechtsordnung.36 (unter internationaler Beobachtung durchgeführten) allgemeinen, gleichen, freien (ohne militärische Bedrohung!) und geheimen Abstimmung der Betroffenen. Volksre­ ferenden wurden nach dem Zweiten Weltkrieg beispielsweise anlässlich der Auflö­ sung der Sowjetunion in den baltischen und kaukasischen Staaten und anlässlich der Auflösung von Jugoslawien in allen Republiken außer Serbien abgehalten. Sie galten als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts der Völker bzw. Volksgruppen und erga­ ben sich meistens aus Verhandlungen zwischen den Anführern von Separatistengrup­ pen und einer Zentralregierung. 32  Bis ins 11. Jh. hinein hatten die Herrscher selber allerdings kein Gesetzgebungs­ recht. „Was rechtens war, stellten entweder die Personen fest, die sich an die älteren Überlieferungen erinnerten – ihre Sätze wurden als Weistümer formuliert und gele­ gentlich, etwa in Stammesrechten, niedergeschrieben“ (A. Nitschke, 1995, S. 218; vgl. ferner J. Weitzel, 1997, S. 371 ff.). Daher wurden die Herrscher erst später von Rechtswahrern zu Gesetzgebern und folglich auch legibus absolutus; denn „es ist von Natur aus unmöglich, sich selbst ein Gesetz zu geben, noch sich selbst zu befehlen, was vom eigenen Willen abhängt. … So folgt mit Notwendigkeit, dass der König seinen eigenen Gesetzen nicht unterworfen sein kann. Gänzlich anders verhält es sich [nur] mit den göttlichen und den natürlichen Gesetzen …“ (J. Bodin, 1576/1981, Buch I, § 9). 33  Diese Entwicklung wiederholte sich innerhalb der Städte. Im Gegensatz zu den antiken Städten waren die okzidentalen, insbesondere die nördlich der Alpen gelege­ nen Städte Verbände, deren Ordnung nicht heteronom, sondern durch städtische Bür­ ger autonom ‚gesatzt‘ und deren Leiter und Verwaltungsstäbe nicht durch Außenste­ hende, sondern aufgrund der eigenen Ordnung der Städte bestellt waren. Vgl. dazu M. Weber (1920/21). 34  Die Gesetzgebungsbefugnis gilt zwar als Ausfluss der Staatssouveränität. Doch in den heute ganz vorherrschenden Formen der ‚mittelbaren‘ Demokratie hat das Volk nur das Recht, die gesetzgebenden Organe zu wählen, nicht aber, sich selber seine Gesetze vorzuschreiben (vgl. etwa Art. 20 Abs. 2 GG). Der Begriff ‚Demokratie‘ be­ zeichnet folglich ein entwicklungsoffenes Prinzip (BVerfGE 107 59, 91), das in Dis­ tanz zu den konkreten Erscheinungsformen der Staaten und ihren Rechtsordnungen steht. 35  BVerfGE 98 106, 118 f.: „Das Rechtsstaatsprinzip verpflichtet alle rechtsetzen­ den Organe des Bundes und der Länder, die Regelungen jeweils so aufeinander abzu­ stimmen, dass den Normadressaten nicht gegenläufige Regelungen erreichen, die die Rechtsordnung widersprüchlich machen.“

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Die Staaten waren indes nicht nur die Urheber ihrer Rechtsordnung, son­ dern auch einzig berufen, diese mittels ihrer Gerichte und Verwaltungsbehör­ den durchzusetzen. Jede unmittelbare Verbindung zwischen den Rechtsgeset­ zen und dem Volk war daher von vornherein gekappt:37 Das Recht wurzelte weder im Volk noch war es gegenüber dem Volk als Summe der Volksgenos­ sen legitimiert.38 Wenn es legitimiert war, dann gegenüber dem Volk als Summe der Staatsbürger – insofern allerdings ohne Unterschied der gesell­ schaftlichen Position, des Standes, Berufes, Alters und des Geschlechts.39 Inhaltlich verpflichtete es die Staatsbürger auch nur zur Wahrung des gesetz­ lich geregelten Friedens, während alle sozialen Verpflichtungen anderweit, etwa durch die gemeinsamen Grundüberzeugungen der Volksgenossen, legi­ timiert werden mussten.40 Die weitere Entwicklung ließ diese künstliche Unterscheidung zwischen Staatsbürgern und Volksgenossen allerdings nicht lange zu. Vielmehr erlangte in den meisten europäischen Staaten die Ver­ pflichtungskraft der staatlichen Gesetze eine auch soziale Bedeutung.41 36  Das Gesetzgebungsmonopol ermöglichte die Legitimation des Gewaltmonopols und des Steuermonopols. Das Steuermonopol wiederum ermöglichte die Stärkung des Gewaltmonopols sowie seine Sicherung gegenüber Konkurrenten (N. Elias, 1976, Bd. II, S. 148 ff.). 37  Anders in England, wo das Common Law die reisenden königlichen Richter zu Urhebern hatte. Die Bürger mussten das Recht hier im Interesse ihrer Freiheit selbst mobilisieren. Das setzte freilich gebildete, informierte und relativ begüterte Bürger voraus – die selbst in England mehr die Ausnahme als die Regel waren. 38  Dieser Umstand hat, wie an früherer Stelle dargelegt (vgl. oben G 2 δ), Jahr­ tausende lang in einigen asiatischen Staaten die Ablehnung eines einheitlichen Rechts begründet. 39  „Alle Bürger sind vor dem Gesetz gleich“ heißt es nicht nur in Art. 3 Abs. 1 GG, sondern auch in den meisten anderen staatlichen Verfassungen. 40  In Art. 2 der deutschen Verfassung wird die Freiheit der Bürger noch durch die „verfassungsmäßige Ordnung“ und durch das „Sittengesetz“ beschränkt. Von der Rechtsprechung insbesondere des Bundesverfassungsgerichts (E 6 32, 37 f.; 91 335, 338 f. u. ö.) wird die „verfassungsmäßige Ordnung“ jedoch als Gesamtheit nicht nur der Gesetzes-, sondern auch der Rechtsordnung verstanden und diese als vom Staat in seinen Gesetzen sowohl formell als auch materiell fixiert angenommen, sodass dem „Sittengesetz“ heute lediglich eine die staatliche Gesetzesordnung ergänzende (weit­ gehend das Gewohnheitsrecht vertretende) Funktion zukommt. 41  Die soziale Bedeutung der Gesetze wird regelmäßig innerhalb der (dem Staats­ aufbau vergleichbaren) hierarchischen Gerichtsorganisation praktisch, und zwar nicht nur, wo die Gerichte lediglich zur Auslegung von Gesetzen legitimiert sind (kontinen­ taleuropäische Tradition), sondern auch dort, wo ihnen zusätzlich die Kompetenz zur Rechtssetzung zusteht. Es gilt nämlich auch dort der Grundsatz, dass die primären Entscheidungen der unteren Gerichte, welche die Gesetzesadressaten binden, von den höheren Instanzen kontrolliert und damit auf einer abstrakteren Ebene auf ihre Gleichgerechtigkeit überprüft werden können, was ihrer Billigkeit oft abträglich ist (Common-Law-Tradition; vgl. F. Lyall, 2002, S. 32: „In the concept of ‚Judicial Pre­ cedent‘ case law finds its apotheosis.“).



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Die Nachteile eines primär staatlich begründeten und den Staatsbürger ausschließ­ lich als Adressaten einbeziehenden Rechts sind in der Vergangenheit durchaus erkannt worden. Man hat versucht, ihnen auf zwei Wegen zu begegnen: zum einen durch die Aufteilung der zentralen staatlichen Gewalt in drei Untergewalten, zum anderen durch die gelegentliche Öffnung des staatlichen Rechts zu den „guten Sitten“ des Volkes. Beide Wege haben sich jedoch als nicht zielführend erwiesen. Die Dreiteilung der Staatsgewalt in eine vom Staatsvolk (allerdings nur mittelbar) kontrollierte Legislative,42 eine von der Staatsmacht dominierte Exekutive und eine vom Staatsrecht beherrschte Judikative sowie die Zuweisung der drei Teilgewalten an voneinander unabhängige Organe wurde zwar in den Staatsverfassungen regelmäßig festgeschrieben und galt künftig als politische Grundlage und als oberster Rechtswert eines Verfassungsstaates. Sie konnte aber schon deshalb die Verbindung des Rechts mit der Sittenordnung des Volkes nicht herstellen, weil für sie Legalität lediglich gleichbedeutend war mit dem verfassungsmäßigen Zustandekommen von Gesetzen, und weil Legitimität – entsprechend der formal-ethischen Philosophie Immanuel Kants – gleichbedeutend war mit der Bindung sowohl der Exekutive als auch der Judikative an die staatlichen Gesetze.43 Es hätte daher zusätzlich der Integration der völkischen Sittenordnung in die Verfassung bedurft, um ihr jene Bedeutung zu ver­ schaffen, die ihr gemäß der Bedeutung des Volkes für den Staat eigentlich zukommen müsste.44 Doch das geschah nicht.45 Vielmehr wurde als Ersatz die Freiheit der Pres­ se verfassungsrechtlich garantiert, sodass im praktischen Effekt der Presse die Kon­ trollfunktion über die Legislative anstelle des Volkes zukam. Doch kann eine zwar freie, aber sittlich ungebundene Presse die ihr zugewiesene Rolle, Anwältin der „gu­ 42  B. Z. Tamanaha (2005), p. 99: „A common refrain in Western political thought, initiated by the Athenian democrats and repeated by Rousseau and Kant, among many others, is that freedom is to live under laws of one’s own making. This is the notion of political liberty.“ Zweifelhaft ist allerdings, ob diese Vorstellung nicht nur eine Kultur des Scheins erzeugt. Denn das Volk stimmt weder über den Inhalt der Gesetze ab (wie es teilweise noch in der Schweiz geschieht, die deshalb aber auch kein moderner Staat ist) noch versteht es deren Inhalt ohne Transformation durch die Presse (was aber die typische Erscheinung des modernen Rechtsstaats ist). 43  Die Bemerkung von U. Schliesky (2004, S. 729), dass diese Bindung das Volk als den eigentlichen Souveränitätsträger auf die Rolle als Legitimationssubstrat der Staatsgewalt reduziert, im Übrigen aber machtlos hält, trifft daher ins Schwarze. 44  Ein Ansatz dazu findet sich, wie erwähnt, in Art. 2 Abs. 1 GG, wo den Bürgern die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit garantiert wird, soweit sie nicht „gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz“ verstoßen. Allerdings wird dazu einschränkend bereits die Meinung vertreten, dass die sittlichen Wertvorstellungen in staatlichen Rechtsnormen verankert sein müssen. 45  Immerhin ist die Kontrolle der Legislative und der Judikative durch das Prinzip der Öffentlichkeit aller Entscheidungsverfahren eine sowohl aus dem römischen wie aus dem germanischen Rechtskreis stammende, später insbesondere von J. St. Mill verteidigte, Idee geblieben. Sie hat sich heute weitestgehend durchgesetzt, sodass beispielsweise der Ausschluss der Öffentlichkeit von den Sitzungen des Bundestages (Art. 42 Abs. 1 GG, § 19 Gesch-BT) oder von einem gerichtlichen Verfahren (§ 169 GVG) auf wichtige Gründe gestützt und ausdrücklich beschlossen und verkündet (§ 174 Abs. 1 GVG) werden muss. Der praktische Effekt ist freilich gering.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

ten Sitten“ eines Volkes gegenüber dem staatlichen Recht zu sein, hinlänglich erfül­ len – gar eine Skandalpresse? Muss nicht die Bewahrung seiner „guten Sitten“ dem Volk selber vorbehalten bleiben? Der Presse kommt dabei gewiss eine Hilfsfunktion zu, sie kann das Volk ermutigen und unterstützen (der Abdruck von Leserbriefen reicht dafür allerdings nicht aus!). Vor allem aber: Weder die bürgerliche Meinungsnoch die Pressefreiheit können die gesellschaftliche Moral in das staatliche Recht inkorporieren; ihre Stoßrichtung ist lediglich kritisch.46 Der andere Weg, die ‚guten Sitten‘ mit dem Recht zu verschmelzen, um zumindest der Judikative den Zugriff auf sie zu eröffnen, wurde von vornherein nur halbherzig begangen, wahrscheinlich weil die Zielverfehlung voraussehbar war. Zum Beispiel erklärt das deutsche BGB in § 138 Abs. 1 „ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt“, für „nichtig“47 sowie in § 817 eine Leistung zu einem „sittenwidri­ gen Zweck“ für rechtswidrig. Doch diese und andere Bezugnahmen auf die soziale Sittenordnung (etwa auf „Treu und Glauben“ und auf die „Verkehrssitte“ in § 242 BGB) haben nur eine negative Wirkung: Sie wenden die Berufung auf das gesetzliche Recht dort ab, wo die Sittenwidrigkeit eines Verhaltens klar zutage tritt. Eine positive Inkorporation der ‚guten Sitten‘ in das staatliche Recht bzw. eine Begrenzung der staatlichen Rechtsgleichheit durch die ‚guten Sitten‘ führen sie nicht herbei. Ersatzweise hat das Bundesverfassungsgericht im Grundrechtsteil der deutschen Verfassung ein „Wertesystem“ entdecken wollen, das in alle Bereiche des Rechts ausstrahlt.48 So soll etwa Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG („Jeder hat das Recht auf Le­ ben …“) das menschliche Leben als einen im Zentrum der Verfassung stehenden „Wert“ konstituieren,49 Art. 6 Abs. 1 GG Ehe und Familie in ihrer historisch über­ kommenen Form als Grundwerte des sozialen Zusammenlebens unter den „besonde­ ren Schutz der staatlichen Ordnung“ stellen, u. a. m. Doch der Versuch, den Grund­ rechten über ihre Funktion als staatsbürgerliche Freiheitsrechte hinaus eine absolute Wert- oder zumindest kulturrelative Sittenordnung abzutrotzen, muss scheitern; denn Werte können nur durch Werte begründet werden, und eine Sittenordnung kann nur 46  Wenig mehr vermag die Aufteilung der staatlichen Gesetzgebung auf eine zen­ trale und mehrere regionale und lokale Institutionen (in Deutschland: auf Bund, Län­ der und Kommunen). Der Ansatz schien zwar Erfolg zu versprechen, weil er der historisch gewachsenen Sozialkultur entspricht. Doch verliert er seine Bedeutung in­ folge des Primats der zentralen Normen vor den regionalen und der regionalen vor den lokalen – einer Hierarchie von oben nach unten, die im Gegensatz zur sozialen Kultur steht, die von unten nach oben gewachsen ist. Vgl. A. A. Goldenweiser (1913) und dazu M. Harris/G. E. B. Morren (1966). 47  Ebenfalls nichtig ist ein sittenwidriger Verwaltungsakt, so schon Pr.OVG 97 95. 48  Vgl. etwa BVerfGE 5 85, 204 f.; 6 55, 72; 7 198, 204 f.; 21 362, 371 f.; 49 89, 141 f.; u. ö. Die Entwicklung der Rechtsprechung wird materialreich von K. Stern (1988, S. 899 f.) dargestellt und kommentiert. In seinen späteren Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht zwar darauf verzichtet, im Grundrechtsabschnitt der Verfassung eine „Wertordnung“ oder gar eine „Wertrangordnung“ (BVerfGE 7 198, 215) zu erkennen. Doch ist es bei seiner Meinung geblieben, dass die Grundrechte einen „objektiv-rechtlichen Gehalt“ hätten bzw. „Elemente objektiver Ordnung“ seien (BVerfGE 50 290, 337; 66 116, 135; 73 261, 269). 49  BVerfGE 39 1, 67; 49 89, 142.



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aus der Gemeinschaft heraus erwachsen, dieser aber nicht staatlich oder richterlich auferlegt werden.

Eine positive Inkorporation der gesellschaftlichen Sittenordnung in das staatliche Recht verlangt, dass die Sittlichkeit der Gemeinschaft zum Mitin­ halt der Staatsgewalt wird. In der Antike hatten einflussreiche Philosophen wie Platon und Aristoteles das noch ausdrücklich gefordert: Das sittliche Wohl eines Volkes müsse Teil des staatlichen Wohls sein. Der liberale Staat der beginnenden Neuzeit hatte sich jedoch ausschließlich auf die Freiheitssi­ cherung seiner Bürger durch das Recht festgelegt. Er sah sich darin durch die Rechtslehre Immanuel Kants bestätigt, die dem staatlichen Recht lediglich die Aufgabe zuwies, sittliches Handeln zu ermöglichen, nicht aber, es zu gewährleisten.50 Daher fehlte dem Recht des liberalen Staats die positive sittliche Komponente. Und weil sie ihm fehlte, entbehrte es der sittlichen Fürsorge für die Bürger, die zuvor das wohlfahrtsstaatliche Recht ausge­ zeichnet hatte: der Fürsorge vor „der Freiheit des freien Fuchses im freien Hühnerstall“ (Roger Garaudy) – zeitgemäß übersetzt: der Fürsorge bei der abhängigen Arbeit, der Wohnungsmiete, der Krankenpflege, der langfristigen vertraglichen Bindung u. a. m. Das liberalstaatliche Recht ließ zu, dass Aus­ beutung der Arbeitskraft, Unbehaustheit, medizinische Unterversorgung, Knebelungsverträge etc. jene sittliche Kraft sprengten, die dem Recht ex origine innewohnte und ihm von höherer Warte aus auch innewohnen soll. Die Staatsbürger empfanden das, und die Volksgenossen empfanden es als zu wenig. Sie erwarteten vom staatlichen Recht nicht nur Gleichgerechtigkeit vor dem Gesetz, sondern auch Sozialgerechtigkeit im Gesetz. Sie forderten m. a. W. den Sozialstaat, der zusätzlich zur Freiheitssicherung die Prinzipien der sozialen Gleichheit („Brüderlichkeit“) und der sozialen Fürsorge auf seine Fahne schreibt und dort interveniert, wo diese im landläufigen Egois­ mus abhandenkommen. Und sie trugen diese Forderung schließlich so drän­ gend vor, dass kaum ein Staat es sich leisten konnte, ihr nicht wenigstens im Text seiner Verfassung Rechnung zu tragen. Eine Sozialstaatsklausel erhielt nach dem 2. Weltkrieg u. a. die deutsche Verfassung.51 Das Bundesverfassungsgericht bezeichnete sie als unmittelbar geltendes, wenngleich der Konkretisierung durch den staatlichen Gesetzgeber in hohem Maße bedürftiges Recht.52 Erheblich weiter ging beispielsweise die spanische Verfassung, die 1978 in ihren Art. 39 ff. „Leitprinzipien der Sozial- und Wirtschaftspolitik“ enthielt und darin u. a. 50  So auch F. C. von Savigny (1840), S. 53: Das Recht hat keiner anderen Aufgabe zu dienen als der „sittlichen Bestimmung der menschlichen Natur“. Vgl. auch a. a. O. S.  331 ff. 51  Art. 20 I GG: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein … sozialer Bundesstaat.“ 52  So BVerfGE 59 231, 263; 82 60, 80; 103 197, 223 f.

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die Einrichtung eines öffentlichen Systems der sozialen Sicherheit für alle Bürger „mit ausreichender Hilfe und Leistungen in Notlagen, vor allem im Fall der Arbeits­ losigkeit“ (Art. 41) garantierte, ferner Ansprüche „auf eine würdige und angemessene Wohnung“ (Art. 47), auf „ein wirtschaftliches Auskommen im Ruhestand durch ange­ messene und periodisch angepasste Renten“ (Art. 50) schuf und versprach, „körper­ lich und geistig Behinderten die besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden, derer sie bedürfen“ (Art. 49).53 Inzwischen hat sich in Spanien allerdings die Erkenntnis durchgesetzt, dass solche soziale Wohltaten nicht ohne ein solides wirtschaftliches Fundament gewährt werden können und dass eine Schuldenpolitik, die das nicht wahrhaben will, unweigerlich in die wirtschaftliche Rezession und in die Massenar­ beitslosigkeit führt.

(γ) Vom Sozialstaat zum Wohlfahrtsstaat? Mit der Aufnahme des Sozial­ auftrags in die Verfassungen konnte es in der Folgezeit nicht sein Bewenden haben. Vielmehr standen die Staaten vor der Frage, inwieweit sie den Sozial­ auftrag auch umsetzen sollen?54 In der bis heute andauernden Diskussion sowohl zwischen den politischen Parteien als auch zwischen den gesell­ schaftlichen Gruppen ist man sich einig, dass die ökonomische Hauptlast die nationale Wirtschaft zu tragen habe. Doch wieweit der Staat sie belasten kann, ohne sie in die Knie zu zwingen und damit die Verwirklichung des verfassungsrechtlichen Sozialauftrags vollends unmöglich zu machen, ist bis heute unklar geblieben. In Deutschland entstand Anfang der 1970er Jahre die Idee, innerhalb einer „kon­ zertierten Aktion“ aller Interessengruppen aus Politik und Wirtschaft und unterstützt durch ein Gremium von Sachverständigen eine für das Gemeinwohl des Volkes opti­ male Wirtschaftspolitik zu formulieren, die der Staat als Gesetzgeber lediglich abzu­ segnen bräuchte. Doch stellte sich heraus, dass keine der wissenschaftlichen Modell­ rechnungen Folgerungen für eine einzig ‚richtige‘ Wirtschaftspolitik abzuleiten ge­ stattete.55 Daher mündete die Diskussion in die Einsicht, dass die Verwirklichung des 53  Ein Überblick über die weiteren Ausprägungen des Sozialstaates findet sich u. a. bei G. A. Ritter (2010, passim, zur neuesten Entwicklung S. 253 ff.). Unter­ schiede bestehen vor allem bei der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme entweder aus generellen Steuermitteln oder aus speziellen Beiträgen, ferner im Zweck der sozialen Absicherung entweder zur Vermeidung von Armut oder zum Erhalt des sozialen Status. 54  Für Deutschland vgl. BVerfGE 22 180, 204: Fehlen dem Staat die Mittel, um die soziale Wohlfahrt zu verwirklichen, reicht es aus, wenn er die gesetzlichen Grund­ lagen für die Verwirklichung schafft. 55  A. Rehling (2011), S. 442 f.: „Rationalität, Ideologiefreiheit, Modernisierung und Fortschritt, die als unzweifelhafte Werte gegolten hatten, wurden mit ihrem implizit ideologischen Charakter konfrontiert und die Grenzen menschlicher Erkenntnis- und Handlungsfähigkeit rückten ins Bewusstsein. … So griff seit Mitte der 1970er Jahre die Erkenntnis Raum, dass den Kapazitäten, Informationen zu verarbeiten, Grenzen gesetzt waren. (…) Der Traum vom gesamtgesellschaftlichen, rationalen Konsens, dessen Integration durch ein makrokorporatives, nationalökonomisch orientiertes Gre­ mium sichergestellt werden sollte, war ausgeträumt.“



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Sozialstaats zwar ein anzustrebendes Ideal sei, das sich aber in vollkommener Weise nicht verwirklichen lasse. Inwieweit der Sozialstaat wenigstens annähernd verwirk­ licht werden soll, überließ man daraufhin dem Streit der politischen Parteien.

Mangels einer wissenschaftlich gesicherten oder politisch verbindlichen Antwort auf die Frage, inwieweit ein Sozialstaat verwirklicht werden kann, entstand in der Bevölkerung die Meinung, dass der verfassungsrechtliche Auftrag die Versorgung der Bürger mit Sozialleistungen aller Art, kurzum einen ‚Wohlfahrtsstaat‘56, meine. Und folglich entwickelten sich Begehrlich­ keiten nach einem ‚sozialen Netz‘, welches der Staat nicht nur zu knüpfen, sondern auch belastbar zu spannen habe. Im Mittelalter war das die Aufgabe der ständischen Versorgungssysteme gewesen. Der moderne Staat, der sich der Stände entledigt hatte, konnte dagegen die Aufgabe nicht vollbringen. Er war allenfalls zur Organisation,57 nicht aber zur Finanzierung ihrer Lösung imstande. Denn Gleichheit und Freiheit, zu deren Schutz er angetreten war, hatten politische Repräsentation und Mitsprache des Bürgertums bedeutet und als solche nichts gekostet. Als soziale Rechte auf Angleichung der indi­ viduellen Lebenslagen oder gar auf Stabilisierung frei gewählter Lebensläufe verloren sie dagegen jede Begrenzung und wurden zu Wundertüten, aus de­ nen jeder das als Anspruch herauszuholen versuchte, was ihm zu seinem Glück fehlte.58 Und weil im Rechtsstaat Ansprüche nur dann Aussicht auf 56  Die Begriffe ‚Sozialstaat‘ und ‚Wohlfahrtsstaat‘ werden zwar meist sinniden­ tisch gebraucht, sind vom Sinn her aber verschieden. Sinnvoll kann „mit dem engeren Konzept des Sozialstaats [nur] dessen institutionelle Architektur und das gleichsam ‚technische‘ Instrumentarium sozialpolitischer Gesetze, Einrichtungen und Pro­ gramme … bezeichnet werden, wohingegen mit der Rede vom Wohlfahrtsstaat darü­ ber hinausgehend die gesellschaftliche Bedeutung und die gesellschaftspolitischen Effekte staatlichen Handelns in ‚sozialer‘ Absicht angesprochen sind“ (St. Lessenich, 2012, S. 26). Und sinnvoll lässt sich auch nur die Forderung nach Sozialstaatlichkeit, nicht auch nach Wohlfahrtsstaatlichkeit, verfassungsrechtlich begründen. Denn nur jene basiert auf der sozialen Gleichheit, die dem Staat Sozialität ermöglicht; diese dagegen ist ein unerreichbares Ideal. 57  Insofern bieten sich dem Staat unterschiedliche Möglichkeiten an, die auch unterschiedlich realisiert worden sind: konservativ in Kontinentaleuropa, sozialdemo­ kratisch in Skandinavien, liberal in Großbritannien, Kanada und den USA, radikal in Australien und Neuseeland. 58  Etwa: dass er von der Natur nicht so ausgestattet war, wie er es sich wünschte – mit falschen Geschlechtsmerkmalen, weniger gesund, weniger schön, weniger intelli­ gent; dass er sozial unterprivilegiert aufgewachsen war – in einer armen Familie ohne geregeltes Einkommen, in einem verwahrlosten Großstadtviertel mit trunksüchtigen Eltern, ohne Chance auf höhere Bildung, usf. Dazu M. Bock (1997), S. 411 f.: „Der Absicherung der zunächst noch einigermaßen abgrenzbaren Lebensrisiken von Ar­ beitslosigkeit, Krankheit und Invalidität folgten Forderungen nach Kompensation von Aufstiegs- und Bildungschancen für wegen ihrer Schicht oder ihres Geschlechts be­ nachteiligte Gruppen, schließlich immer schwerer konkretisierbare Forderungen wie die nach ‚Lebensqualität‘ und nach ‚Humanisierung der Arbeitswelt‘.“

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

Erfüllung haben, wenn sie durch Gesetze legitimiert werden, verlagerte sich nunmehr der Kampf auf die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für die allgemeine Wohlfahrt. (δ) Weitere inflationäre Zunahme von Rechtsgesetzen. Der politische Kampf um die gesetzliche Konkretisierung des Sozialstaats brachte in der Folge jede Menge neuer Rechtsnormen hervor. Dennoch war er nicht der einzige Grund, weshalb die Zahl der Normen inflatorisch anstieg. Zwei wei­ tere Gründe traten hinzu: der Anstieg der Weltbevölkerung und der rapide technisch/technologische Fortschritt.59 Sie führten zum Entstehen von Mil­ lionenstädten, oft mit Slums an den Rändern, und sie drohten, alles organi­ sche Wachstum auszulöschen und an ihre Stelle eine reine Industriekultur mit übermäßiger Schadstoffbelastung der Umwelt, Überfüllung der Verkehrs­ wege und Engpässen bei der Versorgung der Bevölkerung mit lebenswichti­ gen Gütern treten zu lassen. Hierauf mussten die Staaten reagieren. Der Anstieg der Weltbevölkerung stellte die Staaten vor ökonomische, kulturelle, organisatorische, aber auch rechtliche Probleme. Soweit die Staa­ ten reich waren, erzwang er gleiche rechtliche Regelungen – teils aufgrund der Anthropozentrik des Rechts, teils aufgrund der Gleichheit der Aufgaben, die zu bewältigen waren. Soweit die Staaten arm waren, erzwang er dagegen ungleiche rechtliche Regelungen – teils weil die Ursachen der Armut unter­ schiedlich waren (u. a. Mangel an ökonomischen Potentialen, Korruption, niedriger Entwicklungstand der Bildung, geringes technisch/technologisches Know-how), teils weil die Armut außer inländischen Folgen auch eine Emig­ ration von Teilen der Bevölkerung auslöste.60 Die technisch/technologische und industrielle Revolution trieb in denjeni­ gen Staaten, die im Handel führend waren, ebenfalls die Rechtsentwicklung an.61 Sie forderte neue Gesetze vor allem zum Schutz der inländischen Pro­ dukte und für deren Export. Sie forderte aber auch den Schutz vor ausländi­ schen Produkten und ‒ in Verbindung damit ‒ vor dem Import von ausländi­ schen Rechtsgedanken. Nicht nur die Sicherheit fremder Produkte stand zur Prüfung an, sondern auch die Brauchbarkeit fremder Rechtsgedanken inner­ halb der nationalen Rechtsordnung. Selbst das industriell gut ausgerüstete Deutschland musste aufgrund seiner wirt­ schaftlichen Verflechtung mit dem anglo-amerikanischen Wirtschaftsraum viele an­ glo-amerikanische Rechtsinstitute in seine Rechtsordnung integrieren.62 So ist die weiteren Ursachen siehe unten 5. unten 6 a β und 6 b β. 61  Dass zwischen der Prosperität der Wirtschaft und der Qualität der rechtlichen Ordnung ein enger Zusammenhang besteht, gilt heute als erwiesen. 62  A. von Bogdandy (2003), S. 860  f.: „Globalisierung als Amerikanisierung“. Nachweise u. a. bei M. Shapiro (1993), p. 39, 48. 59  Zu

60  Siehe



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Limited Partnership neben die heimische GmbH getreten, der Leasingvertrag mit seinen vielen Varianten (Finanzierungsleasing, Operatingleasing, Immobilienleasing etc.) neben den Abzahlungskauf und den Mietvertrag, der Franchisevertrag63 neben die Lizenzvereinbarung, usf. Für einige Schuldverträge haben sich daneben universel­ le Muster durchgesetzt, so etwa für den internationalen Warenkauf und Warentrans­ port64 sowie für informelle transnationale Netzwerke (transnational regulatory networks)65.

Noch stärker und auf Dauer problematischer erwies sich freilich der mit der technisch/technologische Revolution einhergehende Trend zur Globalisierung. Da Technik nach global einheitlichen Naturgesetzen funktioniert, hatten nationale Besonderheiten bei ihrer Integration in die Rechtsgesetze keinen Platz, sodass für die Integration auch die nationalen Gesetzgeber nicht mehr zuständig waren. Vielmehr traten dem nationalstaatlichen Recht zwei neue Arten von Recht an die Seite: ein zwischenstaatliches (internationales) und ein transstaatliches (transnationales).66 Beispiel: Da Menge und Gewicht von körperlichen Gegenständen nur einheitlich bestimmt werden können, mussten internationale Maßeinheiten vereinbart werden. Diese mussten entweder in die nationalen Gesetze übernommen oder durch feste Umrechnungswerte mit den nationalen Maßeinheiten harmonisiert werden.67

b) Konjunktionen von Staaten (‚Globalisierung‘) Das soeben erwähnte Schlagwort ‚Globalisierung‘68 kennzeichnet noch einen weiteren Trend der Kulturentwicklung, der außer Technik und Medizin auch die Wirtschaft erfasst hat. Auch dieser Trend, der nunmehr nicht die innere Entwicklung der Staaten, sondern ihr Verhältnis zueinander bestimmte, ist daher näher zu betrachten. Innerhalb von Technik und Medizin vereinte die Globalisierung nahezu überall staatliche und privatwirtschaftliche Institutionen zur internationalen 63  Franchising ist ein auf Partnerschaft basierendes Absatzsystem mit dem Ziel der Verkaufsförderung: Der Franchisegeber übernimmt die Planung, die Durchführung und die Kontrolle eines erfolgreichen Betriebstyps; das von ihm erstellte unternehmerische Gesamtkonzept wird dann von seinen Geschäftspartnern, den Franchisenehmern, selbstständig umgesetzt (so die Definition des Deutschen Franchise-Verbands). 64  UN-Übereinkommen über Verträge betreffend den internationalen Warenkauf (CISG) vom 11.04.1988; Übereinkommen über den Beförderungsvertrag im internati­ onalen Straßengüterverkehr vom 19.05.1956/16.08.1961. 65  Dazu U. Sieber (2011), S. 158 ff. m. Nachw. 66  Die Begriffsteile ‚staatlich‘ und ‚national‘ werden jeweils sinnidentisch verwen­ det. Näheres unten c. 67  Näher dazu unten 5 c und 6 a ζ. 68  Zum Begriff siehe A. von Bogdandy (2003), S. 854 ff. Primär benennt der Be­ griff einen sachlichen und keinen normativen Befund (vgl. M. Ruffert, 2004, S. 9).

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

Zusammenarbeit. Innerhalb von internationalen Teams arbeiteten unter der Leitung erfahrener Wissenschaftler Experten aus aller Herren Länder bei der Lösung globaler Aufgaben zusammen, wobei jeder Mitarbeiter seine im Hei­ matland erlangten Erkenntnisse in einen größeren Wissens­ pool einfließen ließ, damit neue Ideen keimen, anschließend diskutiert, erprobt und, wenn Erfolg versprechend, zur Erarbeitung neuer technischer Produkte oder medi­ zinischer Verfahren verwendet werden konnten. In der Wirtschaft entwickelte sich nicht nur ein global lebhafter Handel,69 sondern auch ein globales Expertentum, welches für die Expansion von Wirt­ schaftsunternehmen die Vorteile einzelner Märkte (z. B. vorhandene Kauf­ kraft, Menge und Qualität der Arbeitskräfte, politische und rechtliche Sicher­ heit, Kürze von behördlichen Genehmigungsverfahren u. a. m.) gegen die damit verbundenen Nachteile (z. B. Materialkosten, Lohn-, Finanzierungsund Nebenkosten, staatliche Steuern und Umweltauflagen) abwog und da­ nach den global players Empfehlungen für die Ansiedlung von ausländischen Tochterunternehmen, Filialen u. ä. gab.70 Wirtschaftlich wuchs auf diese Weise die Welt immer mehr zusammen. Zu beachten bleibt allerdings, dass die Globalisierung auch die Entkopplung ein­ zelner Weltmärkte voneinander und außer wirtschaftlich sinnvollen Abwägungen und Entscheidungen auch rein spekulative Aktionen ermöglicht hat. In der Vergangenheit betrafen diese vor allem die Preisentwicklung von Aktien, Grundstoffen, Immobilien, Kunstgegenständen und Währungen. In großem Stil betrieben, konnten dadurch er­ hebliche Gewinne erzielt, mussten aber auch erhebliche Verluste hingenommen wer­ den.

Weiterhin kennzeichnet das Schlagwort ‚Globalisierung‘ gewisse soziale und politische Phänomene,71 die entweder global sind, aber ländertypische Folgen haben (Beispiel: Global Governance), oder die ländertypisch sind, aber aufgrund ihrer Verbreitung global gelöst werden müssen. Beispiele: 1. Das Feiern von Weihnachten hat sich von Deutschland aus weltweit verbreitet. Seine nationalen Eigentümlichkeiten führen jedoch zu Problemen, die ländertypisch gelöst werden mussten (unterschiedliche Witterung, Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Weihnachtsbäumen u. a.).72 − 2. Anders verhält es sich mit 69  P. Malanczuk (2002, S. 178 ff. m. w. Nachw.) unterscheidet vier miteinander in Beziehung stehende wirtschaftliche Entwicklungen: 1. in der Telekommunikation und im Computersektor; 2. in der Schnelligkeit des Geldflusses; 3. in der Ausweitung des Welthandels auf neue Länder; 4. in der Konfrontation „mit sich stark ausbreitenden Formen von regionaler wirtschaftlicher Integration (EU, NAFTA, MERCOSUR, ASEAN usw.)“. 70  Einzelheiten bei K.-P. Röhl/St. Magen (1996), S. 33 ff.; R. Voigt (1999/2000), S.  14 ff. 71  Insoweit besteht allerdings weder über den konkreten Inhalt noch über die Ur­ sachen und Konsequenzen der damit bezeichneten Phänomene Einigkeit. 72  Vgl. dazu wikipedia „Weihnachten weltweit“.



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der weltweiten Verbreitung des Leistungssports. Für ihn haben sich globale Märkte gebildet (Beispiel: Fußball), aber auch nationale Förderungseinrichtungen, die bis in lokale Bezirke hinein gewirkt und das Interesse der Jugend an Leistungswettbewer­ ben geweckt haben. Das Ausmaß der staatlichen Förderung ist national unterschied­ lich und hängt weitgehend von den finanziellen Möglichkeiten eines Staates ab. Die Organisation von internationalen Mannschaftswettkämpfen sowie das Verbot des Einsatzes von leistungssteigernden Substanzen bei solchen Wettkämpfen (sog. Do­ ping) ist dagegen global geregelt.73

Wesentlich für die historiogenetische Untersuchung ist nun, dass alle Rechtsprobleme, die im Rahmen der Globalisierung aufgetreten sind und global einheitlich gelöst werden mussten, gemäß dem schon mehrfach er­ wähnten sozialgenetischen Grundgesetz74 behandelt wurden: Man ging von unabhängig voneinander getroffenen ‚parallelen‘ Regelungen aus (1. Stufe), schwenkte anschließend auf den Erlass übereinstimmender rechtlicher Rege­ lungen ein (2. Stufe: ‚Adjunktion‘), begründete sodann staatliche Verpflich­ tungen zu solchen Regelungen (3. Stufe: ‚Konjunktion‘) und ließ die Ent­ wicklung am Ende kulminieren in der Gründung gemeinsamer Institutionen zwecks Erarbeitung und Erlass international gemeinsamen Rechts (4. Stufe: ‚Interpenetration‘). Entsprechend schränkte man die einzelstaatliche Souve­ ränität zur Gesetzgebung ein: auf der 1. Stufe durch einen lediglich fakti­ schen Zwang zur zwar nationalen, aber global übereinstimmenden Lösung des global aufgetretenen Problems, auf der 2. Stufe durch den politischen Zwang zur übereinstimmenden Lösung des Problems, auf der 3. Stufe erst­ mals durch einen rechtlichen Zwang zur überstimmenden Lösung, und auf der 4. Stufe endlich durch den Verlust des souveränen Rechts, das Problem anders als gemeinsam (d. h. international) zu lösen. Die abstrakt als ‚Prob­ leme‘ bezeichneten Aufgaben konnte man dabei mehr oder weniger eng umreißen, denn u. U. konnten sie ganze Aufgabenbereiche umfassen und da­ durch die staatliche Souveränität mehr und mehr aushöhlen.75 Dies soll nun­ mehr im Einzelnen belegt werden: 73  Es wurde inzwischen eine global geltende Lex sportiva geschaffen, die aller­ dings noch nicht zur Kodifikation der einschlägigen Normen geführt hat. 74  Vgl. oben H 3 e. Das hier verwendete ‚sozialgenetische Gesetz‘ steht der Beziehungssoziologie von L. von Wiese (1933) nahe. Diese baut (a. a. O. S. 240 ff.) „die einfachen sozialen Prozesse des Zueinander“ auf folgenden Stufen auf: (a) Vorsta­ dium: Isoliertheit, Fremdheit, Absonderung; (b) Übergang: Berührung; (c) Vorstufen der Assoziation: (α) Duldung, (β) Kompromiss; (d) Prozesse der Assoziation: (α) An­ näherung, (β) Anpassung, (γ) Angleichung, (δ) Vereinigung. Die Begriffe werden al­ lerdings teilweise anders als vorliegend definiert. 75  Würden sämtliche aus der staatlichen Souveränität sich ergebenden Befugnisse zur Lösung gemeinsamer Aufgabenbereiche auf eine gemeinsame Institution übertra­ gen, entstände dadurch ein „Staatenverbund“ (so die Terminologie in BVerfGE 89 155, 182 ff.  – ‚Maastricht‘-Urteil).

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

(α) Staatliche Kooperation durch politische Koordination. Den Beginn je­ des rechtlichen Globalisierungsprozesses bildete, wie erwähnt, ein Problem, das am besten international zu lösen war. Seine Lösung konnte alsdann erstens politisch verabredet, der Weg aber freigestellt werden. Brauchte man für die Verabredung ein Forum, wurde dieses gegründet. Beispiel: Prominent ist heute das G7/G8-Projekt, worin Vertreter der wichtigsten Industrienationen sich in regelmäßigen Abständen treffen, um Ansätze zur Lösung sich aktuell stellender weltweiter Probleme zu beraten.

Haben international koordinierte Forschungen bereits ergeben, welche rechtlichen Möglichkeiten es zur Lösung des politischen Problems gibt, sind gar Lösungsansätze in einzelnen Staaten schon ausprobiert worden,76 dann steht für die weiteren Beratungen ein Tableau zur Verfügung. Beispiele sind Vorschläge zur Arbeitsmarktpolitik, zur Verbesserung der Selbststän­ digkeit und beruflichen Bildung von Frauen, zur Verbesserung der medizinischen Versorgung in den Entwicklungsländern, zur Begrenzung der Erderwärmung u. a. m.

Wird aufgrund der Beratungen auf diplomatischer Ebene nicht nur Einig­ keit erzielt, dass, sondern auch welche Maßnahmen zur Lösung eines Pro­ blems ergriffen werden sollen, bietet sich zweitens eine internationale Konfe­ renz zur Beratung an, wie die einzelnen Staaten die Lösung am besten ange­ hen sollen. Bringt die Konferenz hierüber Einigkeit, dann schränkt dies die Rechtshoheit der Staaten zwar noch nicht ein, da die nationalen Parlamente zuvor befragt werden müssen, ob erstens das Problem überhaupt gesetzlich gelöst werden soll und ob zweitens dies so, wie gemeinsam vorgesehen, zu geschehen hat. Doch trotz dem Vorbehalt der parlamentarischen Zustimmung erzeugt die Verabredung schon einen (‚interdependenten‘) Trend zur einheit­ lichen Gesetzgebung, und unter günstigen Verhältnissen kann dieser sogar einen globalen Durchbruch herbeiführen. Beispiele: 1. Derzeit besteht ein weltweites Interesse an einer Kooperation zur In­ ternationalisierung von Teilen des Wirtschafts-, Handels- und Steuerrechts sowie von Teilen des Strafrechts, der zu international einheitlicher Gesetzgebung führen und auf Kongressen weiter beraten werden kann. – 2. Lediglich auf einer „Konferenz“Struktur beruhte die 1973 gegründete Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die inzwischen institutionell stark verdichtet wurde und sich somit im Übergang zur nachfolgend behandelten Kooperation durch nationalgesetzliche Koordination befindet. Sie wird zwar als „Organisation“ (OSZE) bezeichnet, besitzt aber mangels völkervertragsrechtlicher Grundlage keine Völkerrechtssubjektivität.

(β) Staatliche Kooperation durch nationalgesetzliche Koordination. Als Nächstes verläuft der Weg von der Verständigung auf der diplomatischen 76  Zu den wissenschaftlichen Bemühungen um die Entwicklung globaler Rechts­ normen vgl. zusammenfassend M. Rosefeld, The Oxford Handbook of Comparative Constitutional Law, Oxford 2012.



K. Entwicklungstendenzen im neuzeitlichen Recht 709

Ebene zur Koordination von Maßnahmen auf der rechtsgesetzlichen Ebene. Dazu bedarf es seitens der Staaten erstmals der Bereitschaft, ihr souveränes Recht zur Selbstbestimmung vertraglich zu begrenzen. Geschichtlich hat es lange gedauert, bis man diesen Teil des Weges eingeschlagen hat. Zur erfolgreichen Geschichte des 19. Jh.s gehören die bilateralen Abkommen im Post- und Telekommunikationsverkehr.77 Zur weniger erfolgreichen gehört der über­ wiegende Rest der Geschichte, weil jedem auch nur geringfügigen Abbau der vollen Souveränität staatliche Egoismen und hoheitliches Machtdenken entgegenstanden. Insbesondere die technisch fortgeschrittenen, militärisch hochgerüsteten Staaten tra­ ten lieber in Konkurrenz zueinander, als sich um einen Interessenausgleich zu bemü­ hen. So war es für sie beispielsweise viel verlockender, militärisch schwächere Staa­ ten in den Stand von Kolonien herabzudrücken, um sich ihrer Bodenschätze für die Industrieproduktion zu bemächtigen, als sich zu einer gemeinsamen Politik des fairen Ausgleichs ‚Bodenschätze gegen Technologie‘ zu verständigen. In der Folgezeit erwies sich dieses Verhalten jedoch als kurzsichtig. Zum einen verstärkten die Kolonialvölker die Anstrengungen, ihren Status abzuschütteln, und zum andern verstärkte die Konkurrenz zwischen den Industriestaaten sich derart, dass es zu zwei mit äußerster Heftigkeit geführten Weltkriegen kam. Diese Kriege endeten dann zwar mit dem Zusammenbruch des schwächeren Gegners, brachten aber auch bei den Siegern nur das hervor, was von Anfang an das Bessere gewesen wäre: die Einsicht nämlich, dass man im wirtschaftlichen Bereich zwar konkurrieren dürfe, im militärischen Bereich aber kooperieren müsse.

Der weltgeschichtlich wichtigste Vorgang war auf der 3. Stufe die Grün­ dung der UNO. Sie geschah 1945, als nach den Erfahrungen zweier Welt­ kriege die Bereitschaft der Staaten zur vertraglichen Begrenzung ihrer Sou­ veränität gewachsen war und sie bereit waren, eine internationale Organisa­ tion als Dach für den Weltfrieden zu schaffen. Zwar war auch nach dem Ersten Weltkrieg deshalb schon ein Völkerbund gegründet worden. Doch hatte sich der als zu schwach erwiesen, um die Menschheit vor dem Rückfall in einen weiteren Weltkrieg zu bewahren. Eingedenk seiner Schwächen be­ schloss man daher die Gründung einer neuen Organisation. Allerdings heißt es in Art. 2 Nr. 1 ihrer Charta immer noch: „The Organization is based on the principle of the sovereign equality of all its Members.“78 Erst heute, ca. 75 Jahre später, hat sich in den meisten Staaten die Einsicht durchgesetzt, dass es gut ist, zumindest auf einige souveräne Rechte um des gemeinsamen Wohls aller Völker willen zu verzichten. Deshalb verstehen sich erst heute die meisten Staaten als territorial abgegrenzte ‚Segmente‘ einer Einheit. Aus damaliger Sicht waren sie dagegen Mitglieder einer durch das Ziel des allge­

weiterhin zur geschichtlichen Entwicklung unten 6 a γ. heißt es Art. 2 Abs. 1 der Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten: „Every State has and shall freely exercise full permanent sove­ reignty …“. 77  Vgl.

78  Ähnlich

710

Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

meinen Friedens und Wohlergehens verbundenen Interessen- und Wertege­ meinschaft. Als Parallele zu dieser Entwicklung lässt sich m. E. der Zusammenschluss ‚seg­ mentärer‘ Stämme zu Häuptlingsschaften und Königreichen während des Altertums benennen: Auch damals kam es oft erst nach heftigen und (im damaligen Maßstab) sehr verlustreichen Kämpfen zu einer Einigung über die friedliche Verbindung der Stämme. Der wichtigste Unterschied zu damals ist allerdings, dass heute die besser organisierten ‚segmentären‘ Staaten ihre ‚Bündnisse‘ rechtlich absichern können, während die Stämme der Antike sich auf die faktische Anerkennung der veränderten Verhältnisse beschränken mussten. Stimmig ist die Parallele dennoch insoweit, als nach einem Zusammenschluss die jeweils mächtigsten Einheiten (Stämme bzw. Staa­ ten) die Führung übernahmen – wiederum freilich mit dem Unterschied, dass die neuzeitlichen Staaten de iure ein Führungsgremium bilden können (den „Sicherheits­ rat“ der UNO, worin eine Gemeinschaft der einst mächtigsten Staaten den übrigen ihren Willen aufzwingen, intern Willensentscheidungen allerdings wechselseitig auch blockieren kann), während die Stämme in den antiken Häuptlingsschaften und König­ reichen nur faktisch von der Macht ihres stärksten Mitglieds zusammengehalten wurden.

Weil de iure die äußere Souveränität der Staaten heute noch ungemindert fortbesteht, können alle Staaten beanspruchen, von den anderen Staaten als gleichberechtigt anerkannt zu werden und international bei Abstimmungen gleiches Stimmrecht („one state, one vote“) zu haben.79 De facto ist die Bedeutung der äußeren Souveränität freilich geschrumpft, weil das Gewicht der Stimmabgabe sich fast immer nach der Größe der Staaten, ihrer wirt­ schaftlichen Bedeutung und ihrer militärischen Stärke bemisst.80 Weil de iure ferner auch die ‚innere Souveränität‘ der Staaten noch fortbesteht, be­ gründet sie die volle Jurisdiktionshoheit über das eigene Territorium. De facto ist sie freilich inzwischen ebenfalls eingeschränkt, und zwar zum ei­ nen durch das Gebot, überragende Menschheitswerte zu achten, sowie durch das Verbot, ausländische Bürger und Institutionen rechtlich zu diskriminie­ ren, zum anderen durch die verpflichtende Öffnung des nationalen Wirt­ schaftsraums für Unternehmen aus aller Welt. Letzteres bedeutet, dass alle Staaten ausländischen Wirtschaftsunternehmen die gleichen Rechte wie ih­ ren inländischen zugestehen sollen – sodass jeder Staat sich genau überle­ gen muss, ob er seinen inländischen Gesellschaften Vergünstigungen (z. B.

79  Die Generalversammlung der UNO ist allerdings das einzige Hauptorgan, wo­ rin alle Mitglieder gleichberechtigt vertreten sind (Art. 9 Abs. 1 UN-Charta) und je­ des Mitglied über eine Stimme verfügt (Art. 18 Abs. 1 UN-Charta). Vgl. dazu M. Herdegen (2014), § 28 Rn. 8. 80  Dies ist auch deshalb berechtigt, weil die Staaten jeweils eine unterschiedliche Bevölkerungszahl vertreten und unterschiedlich hohe Geldbeträge an die UNO leis­ ten.



K. Entwicklungstendenzen im neuzeitlichen Recht 711

steuerlicher Art) einräumt, die er ausländischen Gesellschaften vorenthalten möchte. Welche überragenden Menschheitswerte die innere Souveränität der Staaten be­ schränken, ist allerdings Gegenstand heftiger Kontroversen und soll erst am Ende dieser Arbeit erörtert werden.81 Das Diskriminierungsverbot dagegen ist inzwischen völkerrechtlich allgemein anerkannt. Gesetzlich ist es zwar nur in Art. III GATT für Handelswaren verankert,82 völkergewohnheitsrechtlich erstreckt es sich aber über den Wirtschaftsverkehr weit hinaus auf alle persönlichen und Gruppenmerkmale, deren Ungleichbehandlung als herabwürdigend oder ausgrenzend anzusehen ist. Ausflüsse sind beispielsweise die Gleichheitsnorm des Art. 3 GG und die internationalen Rege­ lungen der Art. 14 MRK und Art. 18 AEU.83

(γ) Staatliche Kooperation durch vertragliche Koordination. Gehen wir den Weg der Soziogenese noch einen Schritt weiter, so stoßen wir (viertens) auf vertragliche Vereinbarungen in Bezug auf Aufgaben, die sich nur koope­ rativ lösen lassen. Früher waren derartige Vereinbarungen, weil sie die staat­ liche Souveränität beschränken, selten, inzwischen hat sich ihre Zahl ständig erhöht. Drei Bereiche heben sich heraus: Ökonomie, Ökologie und humani­ täre Hilfe. Sechs Gründe bestehen für die internationale Zusammenarbeit gerade innerhalb dieser Bereiche: Ein erster Grund ist (seit dem 18. Jh., verstärkt seit dem 19. Jh.) das ra­ sche Bevölkerungswachstum weltweit. Während es reiche Staaten allenfalls vor organisatorische Probleme stellte, brachte es arme Staaten in existenzielle Schwierigkeiten; denn Ernteausfälle aufgrund von Witterungseinflüssen und Seuchen aufgrund mangelnder Hygiene führten hier schnell zu Hungersnöten und Massensterben. Früher erfuhr zwar die Weltöffentlichkeit i. d. R. nichts davon; doch seit dem 20. Jh. bleibt ihr derlei nicht verborgen. Nachrichten und Bilder von Notlagen eilen durch die Welt, und die reichen Staaten (so­ wie deren private Organisationen) sehen sich veranlasst, durch Lieferung und

unten 6 c δ und ε. GATT lautet: „Waren, die aus dem Gebiet einer Vertragspartei in das Gebiet einer anderen Vertragspartei eingeführt werden, dürfen hinsichtlich aller Ge­ setze, Verordnungen und sonstigen Vorschriften über den Verkauf, das Angebot, den Einkauf, die Beförderung, Verteilung oder Verwendung im Inland keine weniger günstige Behandlung erfahren als gleichartige Waren inländischen Ursprungs.“ 83  Die (unabgeschlossene) Konkretisierung in Art. 14 MRK lautet: „Der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Re­ ligion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Her­ kunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten.“ Ferner lautet Art. 18 AEU: „Unbescha­ det besonderer Bestimmungen der Verträge ist in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.“ 81  Vgl.

82  Art. III:4

712

Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

Verteilung von Lebensmitteln sowie medizinische und technische Unterstüt­ zung ein drohendes Massensterben zu verhindern. Ein zweiter Grund beruht ebenfalls auf der seit dem 20. Jh. verbesserten Kommunikation: Viele Arbeiten, die früher an den geographischen Raum reicher Staaten gebunden waren, können infolge der Beschleunigung der Handelsverbindungen heute ausgelagert werden (sogen. Outsourcing bzw. Offshoring). Dies ist für Unternehmen aus den reichen Staaten vor allem deshalb vorteilhaft, weil die Arbeitskräfte in armen Staaten billiger sind als daheim und die armen Staaten, weil für jede Hilfe dankbar, schlechtere Ar­ beitsbedingungen und oft sogar ein Lohndumping in Kauf nehmen. Selbst­ verständlich handeln die Unternehmen, die dies ausnutzen, nach ihren eige­ nen Grundsätzen sittenwidrig. Doch erst wenn die internationale Kritik sie rügt und gar Berichte über schwere Arbeitsunfälle die Runde machen, ziehen sie die Konsequenzen und erklären sich zur Verbesserung der Zustände be­ reit.84 Ein dritter Grund zur Kooperation ergibt sich aus den Gefahren der immer besseren kommunikative Vernetzung der Weltbevölkerung: Dem unzweifel­ haften Vorteil, dass mündliche Kontakte beliebiger Art zeitgleich und persön­ liche Treffen innerhalb weniger Stunden möglich werden, steht nämlich der Nachteil gegenüber, dass die internationale Kriminalität sich der schnellen Kontakte über die nationalen Grenzen hinweg ebenfalls bedient und infolge­ dessen viel schwerer bekämpft werden kann als die nationale. Juristisch sind deshalb transnational übereinstimmende Straftatbestände sowie Normen für polizeiliche Präventions- und strafprozessuale Verfolgungsmaßnahmen erfor­ derlich; und praktisch muss man hinreichend flexible, grenzüberschreitend miteinander vernetzte polizeiliche Reserven vorhalten, um ein abgestimmtes Eingreifen zu ermöglichen. In Europa ist zu diesem Zweck als Polizeiamt der Europäischen Union das Europol gegründet worden. Mit anderen Staa­ ten, in denen sich ein erheblicher Teil der organisierten Kriminalität konzen­ triert, ist zusätzlich eine Zusammenarbeit vertraglich geregelt worden. Ein vierter Grund für engere internationale Kooperation ergibt sich aus den Schutzbedürfnissen der heimischen Wirtschaftsbetriebe vor allem im Hinblick auf ihre Versorgung mit Rohstoffen, Produktionsmitteln (Maschinen etc.) und Arbeitskräften aus dem Ausland sowie im Hinblick auf die interna­ tionale Unverletzlichkeit ihrer Patente und sonstigen gewerblichen Rechte. Auch diesen Schutz können die Staaten den Betrieben am besten verschaffen, indem sie miteinander – entweder direkt oder über zwischenstaatliche Insti­

84  Zu

β γγ.

den Antidumpingmaßnahmen internationaler Institutionen vgl. noch unten c



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tutionen85 – Abkommen zur Versorgungssicherheit, zur Durchfuhrfreiheit für Rohstoffe und Produkte, zur Anwerbefreiheit für Arbeitskräfte, zur Rechts­ sicherheit für Patente u. a. m. schließen.86 Solche internationalen Kooperationen können u. a. auch Missstände bei der Abfall­ entsorgung lösen, etwa dass Industriemüll, der im einen Staat entstanden ist, nicht mehr in einen anderen Staat exportiert werden darf, oder dass giftige Gase nicht mehr in die Luft abgeblasen und dort unkontrollierbaren (oder jedenfalls unkontrollierten) Reinigungsprozessen überlassen werden dürfen.87

Ein fünfter Grund: Die internationale Warenproduktion und der internatio­ nale Warenhandel waren von jeher eng mit den internationalen Finanzmärkten verbunden. Dort waren durch den Übergang von der international einheit­ lichen Goldwährung zu den diversen nationalen Papierwährungen erhebliche Gefahren entstanden, weil fast alle natürlichen Kontrollen entfielen. Wie nötig diese jedoch sind, zeigte sich, als Anfang des 21. Jh.s infolge von Fehl­ spekulationen im Währungsbereich und von Fehlentscheidungen bei der Kreditvergabe es zu einem Beinahe-Zusammenbruch großer Banken kam und ganze Volkswirtschaften an den Rand des Ruins gerieten. Nur die Ko­ operation der schwachen mit reichen (Helfer-)Staaten konnte damals das Schlimmste verhindern. Sechstens und letztens sind Gründe für internationale Kooperationen die weltweiten Fortschritte auf den Gebieten der Biotechnik, der Robotertechnik und der Automation. Sie kamen in der Vergangenheit vielfach erst durch die internationale Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und durch gebündelte Aufträge und Finanzierungen seitens der Nationalstaaten und der internatio­ nalen Wirtschaftsunternehmen zustande. Für die Zukunft ist zu erwarten, dass genau dies auch der Fall sein wird.

85  Solche Institutionen sind die Organization of the Petroleum Exporting Countries (OPEC), die nur Erzeugerländer vertritt, sowie die International Coffee Organization (ICO), der sowohl Erzeuger- als auch Verbraucherländer angehören. 86  Beispiele sind bilaterale Freihandelsabkommen, Niederlassungs- und Schiff­ fahrtsabkommen sowie bilaterale Investitionsverträge. 87  Zu den ökologischen Problemen und den Versuchen ihrer Lösung vgl. zusätz­ lich unten 6 a δ. Andere funktional selbstständige Bereiche – etwa die Seuchenbe­ kämpfung und der Schutz vom Aussterben bedrohter Tierarten – mussten zwar eben­ falls international überwacht werden, doch blieb es Aufgabe der örtlich zuständigen Natio­nalstaaten, entstandene Gefahren zu beseitigen und drohende Gefahren zu be­ kämpfen.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

c) Interpenetration von nationalstaatlichen Institutionen und Rechtsnormen Nicht immer ist die soziogenetische Entwicklung bei den vertraglichen Kooperationen zwischen den Nationalstaaten stehen geblieben. In Gestalt multilateraler Verträge (‚Pakte‘) hat sie ferner (fünftens) internationales Recht geschaffen und inter- und supranationale Institutionen hervorgebracht, die anschließend wiederum Urheber von inter- und supranationalem Recht ge­ worden sind. Die Faktenlage ist insoweit allerdings nicht nur komplex, son­ dern auch im Fluss. Deshalb beschränke ich mich auf eine Aufzählung von Einzelheiten, die m. E. einen Gesamteindruck von der Bedeutung der Ent­ wicklung vermitteln.88 (α) Mehrere multilaterale Pakte zwischen den Nationalstaaten haben ei­ nesteils zwischenstaatliches (internationales), andernteils transstaatliches (transnationales) Recht89 geschaffen. (αα) Internationales Recht verpflichtet die Nationalstaaten, vertraglich vereinbarte gemeinsame Zielvorstellungen in nationales Recht umzusetzen. Diese Verpflichtung ist materiell-rechtlich bindend, kann aber infolge der nationalen Souveränität ohne Mitwirkung der nationalen Parlamente prozes­ sual nicht erfüllt werden.90 zur Entwicklung vgl. M. Payandeh (2010), S, 187 ff. Calliess (2004b, S. 254 f.) definiert „transnationales Recht“ abweichend als eine dritte Kategorie des nationalen und internationalen Rechts, das durch die Rechtsschöpfungskräfte der Zivilgesellschaft auf der Grundlage allgemeiner Rechtsprinzipien und deren Konkretisierung in der gesellschaftlichen Praxis geschaf­ fen und entwickelt wurde (vgl. in diesem Sinne auch A. Fischer-Lescano/G. Teubner (2006), S. 41 ff.). Ich verwende hierfür stattdessen den Begriff ‚transsoziales Recht‘ (vgl. u. a. unten 3 a bb δ). Allerdings kann ich eine exakte Abgrenzung nicht immer beibehalten; denn es ist z. B. allgemein üblich, von ‚internationalen‘ Unternehmen zu sprechen, wenn nicht nur öffentliche, sondern auch private Unternehmen im Ausland tätig sind. Und der Bereich des Internationalen Wirtschaftsrechts wird heute allge­ mein nicht nur auf das internationale Recht der Wirtschaft, sondern auch auf das private Recht der internationalen Wirtschaft erstreckt. 90  Soweit Verhaltensnormen auf der ministeriellen Ebene (oder zwischen natio­ nalstaatlichen Organisationen) ausgehandelt wurden, gehören sie nicht dem internati­ onalen Recht an – so wenig wie etwa übereinstimmende betriebliche Satzungen dem staatlichen Recht angehören würden. Sie sind vielmehr semirechtliche Regeln, wie sie in Subkulturen vielfach üblich sind und dort zur Schaffung spezieller Schiedsge­ richtsbarkeiten geführt haben. Doch ebenso wie dort der Zugang zu den staatlichen Gerichten meistens nicht vollständig ausgeschlossen wird, bleibt für die Kontrolle der semirechtlichen Regeln des internationalen Bereichs meistens der Rechtsweg zu ei­ nem internationalen Schiedsgericht möglich. Sollte das ausnahmsweise nicht der Fall sein, müssen sich die Streitparteien nachträglich auf einen unparteiischen Vermittler oder ein Schiedsgericht einigen. 88  Zusammenfassend 89  G.-P.



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Durch internationales Recht geregelt sind derzeit (1) der Schutz der Menschenrechte, etwa durch den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (bei­ de von 1966, in Kraft getreten jedoch erst 1976), ferner durch die Europäische Kon­ vention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (von 1950), die Ameri­ kanische Konvention über Menschenrechte (von 1969), die Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker (von 1981) und die Arabische Charta der Menschenrechte (von 2004); (2) der Schutz der Umwelt durch Pakte, deren Verbind­ lichkeit allerdings von vornherein gering gehalten wird, um Auswirkungen auf die nationalen Wirtschaften abzuschwächen;91 (3) die wechselseitigen Wirtschaftsbeziehungen etwa durch das General Agreement on Tariffs and Trade (GATT), das General Agreement on Trade and Services (GATS, es überträgt Prinzipien des GATT auf den Dienstleistungssektor), das Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Prop­ erty Rights, Including Trade in Counterfeit Goods (TRIPS). In den vorgenannten Bereichen betätigen sich internationale Organisationen (1) teils unter dem Dach der UNO wie etwa das 1993 geschaffene Amt eines Hoch­ kommissars für Menschenrechte; (2) teils als Sonderorganisationen der UNO (Art. 57 UN-Charta) wie etwa die Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UN Educational, Scientific and Cultural Organization, UNESCO), die Weltgesundheits­ organisation (World Health Organization, WHO), die Internationale Arbeitsorganisati­ on (International Labour Organization, ILO), die Weltbank (International Bank for Reconstruction and Development), der Internationale Währungsfonds (International Monetary Fund, IMF), die Internationale Finanzkorporation (International Finance Corporation, IFC), die Internationalen Umweltregime (IUR)92; (3) teils als eigen­ ständige Organisationen wie etwa die Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO), die Weltorganisation für Meteorologie (World Metereological Organization – WMO), die Nordatlantik-Vertragsorganisation (North Atlantic Treaty Organization – NATO), die Europäische Freihandelsassoziation (European Free Trade Association – EFTA), die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organization for Economic Cooperation and Development – OECD). Diese Organisationen erlassen durch ihre Organe Rechtsakte, die an sich nur für ihre Mitglieder verbindlich sind. Durch Normen allgemeinen Charakters entfalten die Or­ ganisationen jedoch auch eine quasi-gesetzgeberische Tätigkeit im internationalen Raum. Oft verfügen sie sogar über Gerichte und Sanktionen, um ihre Rechtsakte durchzusetzen.93 Zur internationalen Gerichtsbarkeit zählen derzeit vor allem der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag und der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Straß­ 91  Übersicht in M. Kloepfer (2016), § 17 Rn. 42, 51 ff. Auch im Pariser Abkom­ men von 2015 sind die Klimaziele noch nicht rechtlich bindend vorgeschrieben. Die Regierungen müssen den UN aber nationale Klimapläne vorlegen, die u. a. das Aus­ maß ihrer Emissionen und Fortschritte bei der Erreichung der Ziele enthalten. Diese Pläne sind anschließend alle fünf Jahre zu aktualisieren. Dies ist 2020 in Paris ge­ schehen. 92  Beispiele sind das Internationale Regime zum Schutz der Ozonschicht und die Internationale Walfangkommission. 93  Dazu U. Sieber (2005).

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

burg, ferner das Schiedsgericht der European Fair Trade Association (EFTA), der internationale Seegerichtshof sowie mehrere internationale Gerichte zur Verfolgung von Straftaten und zur Beilegung von Streitigkeiten im internationalen Handel, schließlich mehrere Reparationstribunale.

(ββ) Transstaatliches (transnationales) Recht umfasst, allgemein verstan­ den, alle staatlichen Normen, deren Geltung sich über die staatlichen Gren­ zen hinweg erstreckt.94 Ich verwende den Begriff hier allerdings in einem spezielleren Sinne, nämlich als Summe derjenigen Gesetze und Verordnun­ gen, durch deren Erlass mehrere Staaten ihre zuvor verbindlich abgestimmten Zielvorstellungen oder Wertüberzeugungen verrechtlicht haben.95 Fehlt es an einer solchen Abstimmung zwischen den Staaten, bezeichne ich die Nor­ men mit grenzüberschreitender Geltung als delimitiertes staatliches (nationales) Recht. Beispiele für transstaatliches (transnationales) Recht: (1) Die Reduktion des Schadstoffausstoßes in die Atmosphäre kann dadurch erreicht werden, dass mehrere Staaten sich in einem völkerrechtlichen Vertrag auf bestimmte Höchstwerte einigen, es aber jedem Staat überlassen, wie er diese Wertgrenze einhält. – (2) Die Bedrohung des Finanzsystems durch große und international stark vernetzte Banken, die in eine Schieflage geraten sind, kann nicht allein durch Insolvenzverfahren mit dem Ziel der Abwicklung der Banken beseitigt werden. Um eine Haftung der Steuerzahler zu vermeiden,96 bedarf es zusätzlich international verbindlicher Regeln. Die deutsche Bundesregierung hat daher im Februar 2013 Pläne für eine Aufspaltung der deutschen Universalbanken in Geschäfts- und Investmentbanken vorgestellt. Die Studie zeigte jedoch, dass auch bei unterschiedlichen Aufspaltungsszenarien zahlreiche Finanz­ institute eine Größe behalten, in der noch nie eine Bank erfolgreich abgewickelt werden konnte. Unumstritten ist daher, dass das Problem transnational gelöst werden muss. – (3) Transnational bereits gelöst wurde das Problem der Bestechung ausländischer Amtsträger. Eine Konvention der OECD, welche die Teilnehmernationen zu strafrechtlichen Maßnahmen verpflichtet und die steuerliche Absetzbarkeit von Beste­ chungsgeldern untersagt, konnte 1999 ratifiziert werden. Deutschland und eine große 94  So z. B. Ph. C. Jessup (1956), p. 2: „Law which regulates actions or events that transcend national frontiers.“ In dieser weiten Bedeutung entspricht der Begriff den „von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ in Art. 38 I lit. c IGH-Statut. 95  Während also dem internationalen Recht ein gemeinsam vereinbarter Inhalt zugrunde liegt, beruht der Erlass von transnationalem Recht auf gemeinsamen Inter­ essen bzw. auf gemeinsam erstrebten Zielen. Im Hinblick auf „das gesamte transna­ tionale Strafrecht“ siehe etwa C. Kress (2008, S. 332: „international arbeitsteilige Verwirklichung kongruenter staatlicher Strafverfolgungsinteressen“). Diese Abgren­ zung versuche ich auch im Hinblick auf das ‚Internationale Wirtschaftsrecht‘ beizu­ behalten, während die h. L. darunter sowohl das öffentliche als auch das private Recht der internationalen Wirtschaft (z. B. sowohl das ‚Internationale Währungsrecht‘ als auch das ‚Internationale Gesellschaftsrecht‘) versteht (siehe oben Fn. 89). 96  In Irland hätten die Kosten der Haftung für den Bankenzusammenbruch jüngst 40 % des BIP, in Griechenland mehr als 25 % des BIP betragen.



K. Entwicklungstendenzen im neuzeitlichen Recht 717

Zahl anderer Staaten haben sie inzwischen in nationales Recht umgesetzt. – (4) Erst in Vorbereitung befindet sich derzeit ein „Umfassendes Übereinkommen zur Beseiti­ gung des Terrorismus“ und „zur Bekämpfung des nuklearen Terrorismus“, das ein an alle Vertragsstaaten gerichtetes Gebot zu strafrechtlichen Maßnahmen nebst der Ver­ pflichtung enthalten soll, Verdächtigte entweder vor Gericht zu stellen oder auszulie­ fern. In Kraft getreten sind bisher internationale Übereinkommen zur Bekämpfung terroristischer Bombenanschläge (2001) und zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus (2002). – (5) Ausschließlich transnationales Recht, das in nationales Recht noch nicht umgesetzt ist, enthalten die „Richtlinien“ der Europäischen Gemein­ schaft. Sie formulieren Ziele, die gesetzgeberisch erreicht werden sollen, das Wie aber den Mitgliedstaaten mit Rücksicht auf ihre unterschiedlichen Rechtstraditionen und Rechtssysteme überlassen. Als wichtige Beispiele für delimitiertes (entgrenztes) nationalstaatliches Recht, al­ so für Normen, die auch außerhalb der nationalstaatlichen Grenzen gelten sollen, ohne dass andere Staaten ihrer Geltung zugestimmt haben, nenne ich (1) die Normen des deutschen Strafrechts für Straftaten, die im Ausland gegenüber deutschen Staats­ bürgern oder gegen den deutschen Staat begangen wurden (§ 5 StGB); sowie (2) die Normen des deutschen Wettbewerbsrechts gegen grenzüberschreitende Auswirkungen von Wettbewerbsverstößen ausländischer (insbesondere multinationaler) Unterneh­ men (§ 130 Abs. 2 GWB).

Transnationale Behörden, die für die Umsetzung von transnationalen Ver­ pflichtungen sorgen oder die Durchsetzung daraufhin ergangener nationaler Gesetze und Verordnungen überwachen, gibt es nicht. Ebenso wenig gibt es Gerichte, die speziell für Auslegungsstreitigkeiten transnationalen Rechts zuständig sind. Die Umsetzung der Gesetze und Verordnungen bleibt daher den nationalen Behörden, die Entscheidung von Streitfällen den nationalen Gerichten überlassen.97 (β) Überstaatliche Normen. Die von mehreren Nationalstaaten gemeinsam gegründeten Institutionen sind regelmäßig berechtigt, Normen zur Regelung eines bestimmten Bereichs von über- oder internationalem Interesse zu erlas­ sen, die auch ohne Bestätigung durch die nationalen Parlamente geltendes Recht sind. (αα) Supranationale Institutionen und ihr Recht. Ist die Regelung eines bestimmten Bereichs auf eine supranationale Institution verlagert worden, dann sind die von ihr erlassenen Normen auch ohne Mitwirkung der nationa­ len Parlamente supranationales Recht. Beispiel: Bisher einzige supranationale Institution ist die 1992 von mehreren Staa­ ten Mittel- und Westeuropas gegründete Europäische Gemeinschaft (European ­Union – EU). Sie verfügt über ein eigenes Parlament sowie in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über ein Bündel klassischer Freiheits- und de­ mokratischer Beteiligungsrechte, die denen in den modernen Staatsverfassungen ver­ 97  Möglich und vielfach üblich sind allerdings Rechtshilfeabkommen zwischen den beteiligten Staaten.

718

Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

gleichbar sind.98 Ihre außerparlamentarische Kompetenz ist auf Rahmenbeschlüsse beschränkt, die gegenüber den Bürgern der unierten Länder keine unmittelbare Wir­ kung entfalten. Da die Beschlüsse jedoch für die nationalstaatliche Gesetzgebung bindend sind,99 stellen sie eine mittelbare überstaatliche Gesetzgebung dar (vgl. Art. 34 II 2 EUV)100. Eine unmittelbare überstaatliche Gesetzgebungskompetenz besitzt lediglich das Europäische Parlament (Art. 14 EUV), in das die unierten Staa­ ten vom Volk gewählte Vertreter entsenden (vgl. Art. 10 EUV). Gleichwohl ist auch seine Gesetzgebungsbefugnis auf rechtsangleichende Maßnahmen beschränkt (Art. 81 I 2 und 82 I AEUV), die überdies noch mit dem Ministerrat der EU (Art. 16 EUV) abgestimmt werden müssen. Besonderheiten gelten lediglich für das Familienrecht und für besonders schwere Straftaten mit grenzüberschreitendem Bezug (Art. 81 III und 83 AEUV).

Normen internationaler Institutionen sind dagegen kein supranationales, sondern nur internationales Recht – auch die der UNO. In den Nationalstaa­ ten erlangen sie folglich Rechtsstatus erst aufgrund eines parlamentarischen Beschlusses. Formeller Grund ist, dass weder die Generalversammlung noch der Sicherheitsrat der UNO zur supranationalen Gesetzgebung demokratisch legitimiert sind.101 Mate­ rieller Grund ist, dass es zu einer weltweiten Gesetzgebung an einer genügend breiten Tradition an Leitideen programmatischen Inhalts und entsprechender Kraft fehlt, um alle Staaten der Erde normativ zusammenzuschweißen. So stimmen die Mitgliedstaa­ ten der UNO zwar überein, dass allenthalben nicht nur Frieden, sondern auch Sicher­ heit und Gerechtigkeit herrschen sollen; doch darüber, wie man Sicherheit und Ge­ rechtigkeit verwirklichen soll, gehen ihre Meinungen auseinander. Deshalb hat die UNO außer der Wahrung des Weltfriedens zwar auch die internationale Sicherheit auf ihre Fahne geschrieben (Art. 39 UN-Charta), aber nicht normiert, was die einzelnen Staaten hierzu beitragen sollen.102 Erst recht gilt das für das Ziel der globalen (uni­ versellen) Gerechtigkeit. Der Sicherheitsrat der UNO hat beispielsweise eine Resolu­ tion erlassen, welche die Weitergabe von Vernichtungswaffen an nichtstaatliche Ak­

98  Ihrerseits hat die EU weitere Organisationen ins Leben gerufen, die über die Staatsgrenzen hinweg die Rechte und Pflichten von multi- und transnationalen sowie transsozialen Institutionen normieren können. Ein Beispiel ist der Europäische Be­ triebsrat. 99  Vgl. dazu BVerfGE 113 273, 301 (Sondervotum G. Lübbe-Wolff S.  327 ff., 336 f.); Ch. Tomuschat (2005), S. 455 f.; M. Böse (2008), S. 1332 ff. 100  Etwa ein Drittel der vom Deutschen Bundestag erlassenen Gesetze geht heute bereits auf Rahmenbeschlüsse der EU zurück. Beispiele aus dem Strafrecht sind ge­ wisse Rahmenbeschlüsse mit dem Ziel, in Europa einen „Raum der Freiheit, der Si­ cherheit und des Rechts“ zu schaffen: vom 19.07.2002 (ABl. 2002 Nr. L 203) – betr. Menschenhandel; vom 25.10.2004 (ABl. 2004 Nr. L 335) – betr. Drogenhandel; vom 22.07.2003 (ABl. 2003 Nr. L 192) – betr. Korruption; vom 24.02.2005 (ABl. 2005 Nr. L 69) – betr. Angriffe auf Informationssysteme. 101  Selbst die Generalversammlung der UN besitzt daher nach Art. 13 Abs. 1 UNCharta lediglich das Recht auf die Abgabe von „Empfehlungen“ (recommandations). 102  Vgl. dazu noch näher unten 5 a ε αα.



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teure103 sowie schwere Menschenrechtsverletzungen104 verhindern soll. Er hat je­ doch die Mitgliedsstaaten nicht verpflichtet, mehr dazu beizutragen, als was sie nach ihrem eigenen Ermessen für erforderlich halten (Art. 25 UN-Charta).105 Dieses eigene Ermessen der Mitgliedstaaten hat denn auch zu weit auseinanderliegenden Ergebnis­ sen geführt, sobald machtpolitische Überlegungen den Blick auf das objektiv Erfor­ derliche trübten oder Mitglieder einer Staatsregierung gar selber in Menschenrechts­ verletzungen verstrickt waren.106

(ββ) Globale Institutionen und ihr Recht (Völkerrecht). Haben einzelne Nationalstaaten die Regelung eines bestimmten Bereichs auf internationale Institutionen übertragen, sind deren Normen internationales, d. h. allein die Gründerstaaten verpflichtendes, Recht. Lediglich Normen, die dem suprana­ tionalen Recht nahestehen, weil sie von einer globalen Institution herrühren, 103  Die Resolution des Sicherheitsrats Nr. 2540 (2004) vom 28.04.2004 verpflich­ tet die Mitgliedsstaaten u. a., innerstaatliche Kontrollen einzurichten, um die Verbrei­ tung solcher Waffen und ihrer Trägersysteme zu verhüten, ferner Verstöße gegen derartigen Kontrollen angemessen zu sanktionieren. 104  Aufgrund der Resolutionen Nr. 808 und Nr. 927 (1991) hat der Sicherheitsrat ein ad hoc-Tribunal zur strafrechtlichen Verfolgung von „serious violations of international humanitarian law committed in the territory of former Yugoslavia since 1991“ eingerichtet, aufgrund der Resolution Nr. 955 (1994) ein zur strafrechtlichen Verfolgung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Verletzung des Art. 3 der Genfer Konvention und des Zweiten Genfer Zusatzprotokolls zu den Grundrechten von Zivilisten in bewaffneten Konflikten innerhalb eines nationalen Hoheitsgebiets. 105  Ausschließlich aus diesem Umsetzungsspielraum leitet allerdings J. Macke (2010, S. 354 ff. m. Nachw.) die Legitimation für ein Verpflichtungsrecht des UN-Si­ cherheitsrates her. 106  Teilweise einen Ausweg aus dem Dilemma bietet neuerdings das Prinzip der Schutzverantwortung, deren Grundlage eine angeblich das gesamte Recht durchzie­ hende Verbindung von Berechtigung und Verpflichtung ist. Danach haben alle Staaten nicht nur die Berechtigung, sondern auch die Verpflichtung, die eigene Bevölkerung gegen schwere Menschenrechtsverletzung zu schützen (Responsibility to Protect). Kann oder will ein Staat dieser Schutzverpflichtung nicht nachkommen, soll die Ver­ pflichtung stellvertretend aufgrund von Solidarität die übrigen Staaten treffen. Positiv geregelt ist dies in einer Formel des Abschlussberichts der International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS), die in die Schlusserklärung der UNGeneralversammlung aufgenommen wurde und den (sowohl präventiven als auch akuten) Schutz von Bevölkerungen vor einem Genozid sowie vor Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit betrifft. Ob die Voraussetzungen auch für eine speziell militärische Bekämpfung vorliegen, muss al­ lerdings zuvor der UN-Sicherheitsrat prüfen (Kapitel VII der UN-Charta). Und da in diesem Gremium den Großmächten ein Vetorecht zusteht, können sie die Entschei­ dung zur humanitären Intervention jederzeit blockieren. Daher ist die Interventions­ verpflichtung bei schweren Menschenrechtsverletzungen de lege lata lediglich ein soft law, und dass die UN das „Gewissen der Völkergemeinschaft“ darstellen (was sich der US-Präsident Woodrow Wilson einst für den Völkerbund erhoffte), ist ein Idealzustand, der zwar erstrebt, aber zumindest derzeit nicht erreicht wird.

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deren Existenz und Wirken von allen Nationalstaaten bejaht wird, sind – nach allerdings umstrittener Auffassung – globales Recht mit Bedeutung auch für Nichtmitglieder. Globales Recht sind daher – nach umstrittener Auffassung – die Resolutionen, die von der Generalversammlung der UNO erlassen werden. Sie begründen zwar keine dem nationalen Recht der Staaten übergeordnete Geltung, stellen aber auch keine nur unverbindlichen Verhaltensanweisungen dar. Rechtstheoretisch sind sie also den ‚schwachen Geboten‘ (‚soft law‘) ähnlich, die wir vom Zivil- und Verwaltungsrecht her kennen.107 Rechtspraktisch sind sie Empfehlungen an die Nationalstaaten, sie in innerstaatliches Recht umzusetzen und sich dabei auf die allgemeine Unterstützung zu berufen, die ihnen bei den internationalen Verhandlungen bereits zugekommen ist.108 Man hofft, dass die Umsetzung in innerstaatliches Recht dann leichter durch­ setzbar ist als ein Beitritt zu einem entsprechenden völkerrechtlichen Vertrag. Glei­ ches gilt für die Normempfehlungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammen­ arbeit und Entwicklung (Organization for Economic Co-operation and Development – OECD), der Welthandelsorganisation (World Trade Organization – WTO) und der Weltbank (World Bank Group). Lediglich partikulares, d. h. nur ihre Gründer verpflichtendes, Recht sind die Nor­ men aller übrigen internationalen Organisationen.

(γγ) Völkergewohnheitsrecht. Soweit es an supranationaler Gesetzgebungs­ kompetenz mangelt, kann möglicherweise das Völkergewohnheitsrecht die Lücke füllen (vgl. Art. 38 I lit. b IGH-Statut). Als ius cogens kommt es der­ zeit tendenziell vor allem den Menschenrechten zugute. Allerdings ist es selbst insoweit nur eine unsichere Grundlage, wenn es um die gerichtliche Durchsetzung von Ansprüchen aufgrund konkreter Menschenrechtsverletzun­ gen geht. Das Völkerrecht verpflichtet zwar alle der UNO beigetretenen Staaten zur Achtung der Menschenrechte (vgl. Art. 1 Nr. 3 UN-Charta), doch sind Zahl und Geltungsum­ fang der Menschenrechte umstritten. Eine erste „Allgemeine Erklärung der Men­ schenrechte“ wurde unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs und der Bestürzung über den danach allgemein bekannt gewordenen Holocaust 1947/48 in einer interna­ tionalen Menschenrechtskommission erarbeitet. Dabei stützte man sich vor allem auf die menschenrechtlichen Texte aus dem 18. Jh. und das damalige Weltbild, das stark eurozentrisch geprägt war. Es entsprach jedoch weder damals noch entspricht es heu­

unten 7 b. und Würdigung bei M. Payandeh (2010), S. 305 ff., 311 f.: „Die Völkerrechtslehre hat erkennbare Schwierigkeiten, dieses Phänomen [d. i. die Rechts­ qualität von Normempfehlungen] zu erfassen. Fixiert auf die aus positivistischer Sicht maßgebliche Unterscheidung zwischen formellen und materiellen Rechtsquellen und den Rechtsquellenkanon des Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut verliert sie sich in der wenig fruchtbaren Diskussion um die formelle Rechtsqualität der Resolutionen, ohne der tatsächlichen normativen Bedeutung der Resolutionen gerecht zu werden.“ 107  Vgl.

108  Nachweise



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te dem Weltbild der außereuropäischen Völker,109 sodass von einer internationalen Anerkennung keine Rede sein kann. Dennoch ging erstaunlicherweise die Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) noch im Jahre 1969 von der unbestrittenen Geltung klar umrissener globaler Men­ schenrechte aus; denn erstens ordnete sie an, dass bei der Auslegung von Verträgen „jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz“ zu berücksichtigen sei (Art. 31 Abs. 3c); zweitens postulierte sie, dass alle seitens der „internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit“ aner­ kannten Normen die unantastbare Vorgabe für eine universelle Rechtsordnung seien (Art. 53);110 und drittens unterstellte sie, dass alle Menschen gemeinsame Wertvorstel­ lungen hätten, die das Gerüst für eine Völkerrechtsordnung bilden und somit zum Kernbestand eines jeden staatlichen Rechts gehören.111 Zumindest das Vorhanden­ sein solcher Wertvorstellungen hat sich inzwischen eindeutig als Spekulation erwie­ sen und deshalb noch nicht einmal das wissenschaftliche Bemühen um ihre Erfor­ schung oder Konkretisierung geweckt. Heute werden die Menschenrechte vor allem durch die beiden bereits erwähnten Pakte von 1966 spezifiziert und geschützt.112 Darüber hinaus werden sie in politi­ 109  Im 18. Jh. war der Bezug auf allgemeine Menschenrechte eine von Europa ausgehende Neuerung; denn auch die Nordamerikaner sahen sich bei der Formulie­ rung der Menschenrechte in der Tradition der europäischen Staats- und Rechtslehre. Allerdings hatte der Mensch in Europa eine ganz andere Stellung in der Gesellschaft, als sie in Afrika und Asien akzeptiert wurde. Deshalb meinte etwa das „Recht auf Eigentum“ in der Menschenrechtscharta das in Europa anerkannte persönliche Eigen­ tum, dessen Schutz der Auffassung vieler Völker widerspricht, die das Eigentum an Grund und Boden als an die Gesellschaft (an die Sippe, den Stamm, das Volk) oder an überirdische Mächte gebunden ansehen (vgl. dazu und zur weiteren Entwicklung F. Hartung, 1964). 110  Art. 53 WVK lautet in deutscher Übersetzung: „Ein Vertrag ist nichtig, wenn er im Zeitpunkt seines Abschlusses im Widerspruch zu einer zwingenden Norm des all­ gemeinen Völkerrechts steht. Im Sinne dieses Übereinkommens ist eine zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts eine Norm, die von der internationalen Staaten­ gemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wird als eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf und die nur durch eine spätere Norm des all­ gemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden kann.“ Damit, so meint man, sei eine Norm geschaffen worden, die „der staatlichen Handlungsfreiheit Grenzen errichtet, über die nur alle Staaten gemeinsam verfügen dürfen“ (A. von Ar­ nauld, 2016, Rn. 42). Offen bleiben dennoch Fragen wie: Wann hat eine (angeblich bestehende) „internationale Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit“ eine (schon vorher gültige?) Norm „angenommen und anerkannt (accepted and recognized)“? Und wie lassen sich Annahme und Anerkennung verfahrensrechtlich feststellen? 111  Vgl. zum im Fluss befindlichen Stand eines internationalen Menschenrechts auf Schutz der Umwelt Ch. Tomuschat (2008), S. 44; zu den Bemühungen um die Kodifikation eines Umweltrechts sowie zum Verhältnis des Umweltschutzes zu den Menschenrechten M. Kloepfer (2016), § 1 Rn. 69 ff. sowie § 10 Rn. 139 ff. 112  Siehe oben c α αα. Ferner verbieten sogen. ‚Global Prohibition Regimes‘ Skla­ verei, Seeräuberei, Drogen- und Menschenhandel, aber auch die Zerstörung von Stät­ ten des kulturellen Welterbes, die Vernichtung gefährdeter Tierarten u.  ä. Diese

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schen und wirtschaftlichen Verhandlungen sowie bei der Gewährung von Finanzhilfen gern als Argument gebraucht, um (überwiegend westliche) Idealvorstellungen von Rechtsstaatlichkeit113 propagandistisch zu verbreiten – ohne freilich Sanktionen für den Fall einer Verletzung vorzusehen oder gar zu verhängen.

Außer als Schutzmantel für Menschenrechte wird ein Völkergewohnheits­ recht auch noch als Legitimation von Maßnahmen in Anspruch genommen, die sich gegen global gefährliche kriegerische Aggressionen (z. B. mithilfe unkontrolliert weitergegebener Atomwaffen) oder gegen die Verschmutzung der (als universelles Rechtsgut anerkannten) Umwelt114 richten. Die Inan­ spruchnahme hat dazu geführt, dass die meisten Völker sich verbindlich be­ reit gefunden haben, Atomwaffen nicht zu verbreiten und die gemeinsame Umwelt zu schützen. Beispiele: 1. Einen Atomwaffensperrvertrag (Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons, NPT), der das Verbot der Verbreitung und die Verpflichtung zur Abrüstung von Kernwaffen (gleichzeitig aber auch das Recht auf die „friedliche Nut­ zung“ von Kernenergie) zum Gegenstand hat, haben die fünf Atommächte USA, Frankreich, VR China, Großbritannien und der Sowjetunion 1970 aufgesetzt; inzwi­ schen haben ihn fast 200 Staaten unterzeichnet. – 2. Ferner haben sich die meisten Staaten (nicht jedoch die USA) auf Initiative der UNO 1982 zum Schutz der Meeres­ umwelt und zu Maßnahmen verpflichtet, welche die Verschmutzung der Meere ver­ hüten bzw. verringern (United Nations Convention on the Law of the Sea – UNCLOS Art. 207 ff., zur Verantwortlichkeit der Staaten vgl. Art. 235). – 3. Aufgrund der grenzüberschreitenden Dimension des Umweltschutzes ist großenteils auch die eben­ falls grenzüberschreitende Abfallentsorgung durch multilaterale Umweltabkommen (Multilateral Environmental Agreements – MEA) geregelt worden. Beispielsweise ist den Industriestaaten der Export von gefährlichen Abfällen in Entwicklungsländer grundsätzlich verboten worden.115 – 4. Nur schleppend kommt dagegen die Ver­ R­egimes erhalten ihre Legitimation allerdings nur durch moralische, religiöse und kulturelle Überzeugungen sowie durch das Bewusstsein, dass ein hinreichender inter­ nationaler Schutz gerade fehlt. 113  Die ‚westlichen‘ Idealvorstellungen von Rechtsstaatlichkeit umfassen u. a. die Gleichheit aller Menschen (also nicht nur der eigenen Staatsbürger) vor dem (eigen­ staatlichen?) Recht. Diese Gleichheit ist bei der politischen Beurteilung von Men­ schenrechtsverletzungen jedoch derzeit faktisch deshalb nicht gegeben, weil in Ver­ fahren vor der UN-Menschenrechtskommission (UN-MRK) die USA, China und Russland weit weniger mit einer Verurteilung zu rechnen haben als kleinere Staaten wie etwa (derzeit) Nordkorea oder der Südsudan. 114  Gemäß einem Gutachten des IGH aus dem Jahre 1996 sind alle Staaten aller­ dings lediglich verpflichtet „to ensure that activities within their jurisdiction and control respect the environment of other States or the areas beyond national control“ (ICJ Rep. 1996, 226, 242). 115  Vgl. Art. 4 Abs. 2 lit. e des Basler Übereinkommens über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung (BGBl. 1994 II S. 2704) sowie die Verordnung (EG) Nr. 1013/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2006 über die Verbringung von Abfällen.



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pflichtung zur Reduktion von Treibhausgasen voran. Durch das sogen. Kyoto-Proto­ koll hatten sich über hundert Staaten verpflichtet, ihre Emissionen bis Ende 2012 um durchschnittlich 5,2 % unter das Niveau von 1990 zu senken. Sanktionen wurden je­ doch nicht vereinbart. Im Dezember 2015 haben sich die Staaten dann verpflichtetet, die globale Erderwärmung auf deutlich unter 2 °C, möglichst 1,5 °C, zu begrenzen. Um dieses Ziel zu erreichen, müssten die Nettotreibhausgasemissionen zwischen 2045 und 2060 allerdings auf null zurückgefahren werden – ein kaum erreichbares Ziel. Das Abkommen ist zwar völkerrechtlich bindend, jedoch drohen, wie üblich, keine Strafen bei seiner Verletzung, sodass es höchstwahrscheinlich nicht eingehalten wird.

Befruchtend hat das Völkergewohnheitsrecht darüber hinaus gewirkt, in­ dem es weltweit alle Staaten zu einem Mindestmaß an sozialer Gerechtigkeit angehalten hat – wobei es dem good-will eines jeden Staates freilich überlas­ sen geblieben ist, wieweit er das Mindestmaß auslotet. Eine Reihe von ge­ setzlichen Normen hat den Sozialauftrag der Völker inzwischen allerdings gewohnheitsrechtlich konkretisiert und ihm dadurch Leben eingehaucht. Beispiele: 1. Zur Sicherung der sozialen Gerechtigkeit wurde der 1919 gegründe­ ten Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organization – ILO) 1946 der Status einer Sonderorganisation der UN mit eigener Völkerrechtspersönlich­ keit verliehen und die Aufgabe übertragen, Arbeits- und Sozialstandards in aller Welt zu etablieren und durchzusetzen. Die ILO ist inzwischen vor allem gegen ‚Soziald­ umping‘ bei den Arbeitsbedingungen aktiv geworden.116 – 2. Einen Schutz gegen Dumpingmaßnahmen enthalten ferner das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (General Agreement on Tariffs and Trade – GATT) und das Antidumping-Abkommen von 1994 (Agreement on Implementation of Art. VI of the GATT 1994). Waren dürfen danach im Ausland nicht billiger angeboten werden als im Heimatland; zwecks Durchsetzung des Verbots darf subventionierten Waren der Import verweigert oder erschwert werden. – 3. Zugunsten der Entwicklungsländer wurde 1965 von der Gene­ ralversammlung der UN ein Entwicklungsprogramm beschlossen, das verschiedene Sonder- und Treuhandfonds koordiniert. Ende 1974 verabschiedete die Generalver­ sammlung der UN darüber hinaus eine „Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten“, worin u. a. das souveräne Recht aller Staaten, über ihre Bodenschätze zu verfügen, anerkannt und eine Garantie für Mindestpreise von Rohstoffen festgelegt wurde.117 Andere internationale Abkommen sehen einen Technologietransfer zu­ gunsten von Entwicklungsländern etwa bei der Nutzung des Meeresbodens und beim Klimaschutz vor.118

Eine wesentliche Erweiterung der Geltung von völkergewohnheitsrecht­ lichen Normen beruht schließlich auf der Annahme, dass einige der den So­ noch unter δδ. Res. 3281 (XXIX) UNYB 1974, p. 402. Die Charta erlangte allerdings keine rechtliche Verbindlichkeit, sondern blieb Empfehlung. 118  Seerechtskonvention der Vereinten Nationen (UNCLOS) von 1982; UN-Über­ einkommen zum Klimaschutz von 1992 (ILM 31 p. 848); Pariser Abkommen vom 12.12.2015 (Weltklimavertrag COP 21). 116  Dazu 117  GA

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zialauftrag konkretisierenden Normen Verpflichtungen erga omnes erzeugen. Initiiert wurde diese Annahme durch ein obiter dictum des IGH in seiner Barcelona-Traction-Entscheidung von 1970119, worin der Gerichtshof zwi­ schen den Verpflichtungen eines Staates gegenüber einem anderen Staat und solchen gegenüber der internationalen Staatengemeinschaft unterschied und weiterhin ausführte (Nr. 34): „Such obligations derive, for example, in contemporary international law, from the outlawing of acts of aggression, and of genocide, as also from the principles and rules concerning the basic rights of the human person, including protection from slavery and racial discrimination. Some of the corresponding rights of protection have entered into the body of general international law, … others are conferred by international instruments of a universal or quasi-universal character.“

Allerdings ist es bisher weder zu einer einheitlichen Auffassung gekom­ men, welche Normen die Annahme begründen, dass sie Verpflichtungen erga omnes erzeugen, noch welche rechtlichen Sanktionen ein Bruch solcher Ver­ pflichtungen zur Folge haben soll. Denn derzeit sind kollektive Sanktionen überhaupt nicht vorgesehen und individuelle Sanktionen nicht unmittelbar betroffener Staaten praktisch nicht zu erwarten, solange nicht ausnahmsweise das spezielle Eigeninteresse eines oder mehrerer Staaten auf dem Spiele steht. Den Verpflichtungen erga omnes erzeugenden völkergewohnheitsrechtlichen Nor­ men stehen die Allgemeinen Rechtsgrundsätze nahe, die im weiteren Sinne „grundle­ gende Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit verkörpern und die in allen Rechts­ ordnungen anerkannt sind“120, in einem engeren Sinne aber auch übereinstimmende Regeln (meist privatrechtlicher Art) in den Rechtsordnungen der „Kulturvölker“ um­ fassen, soweit diese auf das Völkerrecht übertragbar sind (Art. 38 Abs. 1 lit. c IGHStatut). Haben sich die Allgemeinen Rechtsgrundsätze bereits auf der internationalen Ebene etabliert, sind sie dem Völkergewohnheitsrecht zuzurechnen.

(δδ) Globale Vertragsstandards. Eine Ersatzfunktion sowohl für die feh­ lende supranationale Gesetzgebungskompetenz als auch für das fehlende völkerrechtliche ius cogens erfüllen inzwischen gewisse zivilrechtliche Ver­ tragsstandards, die von internationalen Organisationen zur Erleichterung des Wirtschaftsverkehrs erarbeitet worden sind. So hat das (bereits 1926 gegründete) Internationale Institut für die Vereinheitli­ chung des Privatrechts Grundregeln für „den Abschluss des Kaufvertrages und die aus ihm erwachsenden Rechte und Pflichten“ ausgearbeitet und bestimmt, dass bei deren Auslegung ihr internationaler Charakter zu berücksichtigen sei (UN-Convention 119  Barcelona Traction, Light and Power Company Ltd., in: ICJ Reports 1970, p.  3 ff., 32. Der IGH hat das Konzept von Verpflichtungen erga omnes in einer Reihe weiterer Entscheidungen anerkannt, aber nicht näher konkretisiert. Vgl. dazu und zu den Stellungnahmen des Schrifttums M. Payandeh (2010), S. 395 ff. 120  A. von Arnauld (2016), Rn. 263.



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on Contracts for the International Sale of Goods – CISG Art. 4 Satz 1 und 7 Abs. 1). Dieses UN-Kaufrecht von 1980 gilt automatisch, wenn Kaufverträge über Waren zwischen Parteien mit Niederlassungen in verschiedenen Staaten abgeschlossen wer­ den (Art. 1 Abs. 1) und seine Geltung nicht ausdrücklich abbedungen wird (Art. 6).121 Noch größere Bedeutung für den internationalen Wirtschaftsverkehr haben die markt­ wirtschaftlichen Grundregeln der Welthandelsorganisation (World Trade Organiza­ tion – WTO) erlangt, wenngleich ihre strikte Verbindlichkeit voraussetzt, dass sie in nationales Recht umgewandelt wurden.122 Ferner hat die International Labour Organization (ILO) Standards geschaffen, die einerseits Zwangsarbeit und Kinderarbeit123 verbieten, andererseits Diskriminierungs­ schutz und Koalitionsfreiheit gewähren.124 Die Bedeutung dieser Standards wird freilich dadurch gemindert, dass die Prüfung ihrer Einhaltung den nationalen Auf­ sichtsbehörden obliegt. Und selbst wenn diese die Nichteinhaltung der Standards feststellen, sind Sanktionen zwar möglich, aber nicht zwingend vorgeschrieben. Nicht sanktioniert werden kann dagegen, was außerhalb der Standards liegt, etwa Hunger­ löhne und entwürdigende Arbeitsbedingungen – es sei denn, dass internationale Rah­ menvereinbarungen oder einseitige Selbstverpflichtungen (codes of canduct) sie (ty­ pischerweise allerdings ohne Rechtsanspruch des Einzelnen)125 verbieten.

(εε) Bremsklotz nationalstaatliche Souveränität. Als Ist-Zustand lässt sich gemäß der vorstehenden Übersicht festhalten, dass eine supranationale Ge­ setzgebungskompetenz derzeit zwar als wünschenswert erachtet, aber durch eine praktisch zwar schwache, theoretisch jedoch noch voll vorhandene Sou­ veränität der Nationalstaaten verhindert wird.126 In die Lücken des national­ staatlichen Rechts tritt daher anstelle von globalem Völkerrecht oder Völker­ gewohnheitsrecht nicht selten Rechtsleere.127 Darüber hinaus weicht natio­ nales Recht nicht automatisch dort zurück, wo sich Völkerrecht gebildet hat, vielmehr bleibt es regelmäßig konkurrierend bestehen.128 Und selbst wo in­ dazu St. Horn (2000); M. Herdegen (2014), § 13 Rn. 13 ff. oben ββ. 123  Die Folgen des weltweiten Verbots von Kinderarbeit sind jedoch umstritten geblieben. Manche befürchten eine Zunahme des Hungers in der Welt, würde das Verbot strikt eingehalten werden. Auch macht die Not vor Familien mit Kindern nicht Halt, sondern zwingt sie zum Überlebenskampf unter Einsatz aller ihrer Mittel. 124  Nachweise bei S. Krebber (2008), S. 146 f. 125  S. Krebber (2008), S. 176 ff., 181: Sie „wahren den Schein eines rechtlich ver­ bindlichen Instruments. Gewünscht ist aber lediglich eine Verbindlichkeit unterhalb der rechtlichen Verpflichtung, ähnlich einem gentlemen’s agreement.“ 126  Ch. Tietje (2009), § 1 Rn. 98 ff. Eine eng begrenzte Ausnahme ist die Gesetz­ gebungsbefugnis der Europäischen Union. 127  Dort nämlich, wo erst ein besonderer Akt der Anerkennung das Völkerrecht ins nationale Recht inkorporiert, die völkerrechtlichen Normen also non-self-executing sind. 128  Ein Beispiel für das ungeregelte Nebeneinander der Rechtssysteme bot die Aufarbeitung des Völkermords in Ruanda. Hierfür waren auf der Grundlage des post­ kolonialen Strafrechts die nationalen Gerichte, auf der Grundlage des afrikanischen 121  Ausführlich 122  Siehe

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ternationales Recht an die Stelle des nationalstaatlichen getreten ist, scheitert seine prozessuale Durchsetzung oft am Fehlen internationaler Gerichte und Vollstreckungsbehörden; denn die Nationalstaaten sind misstrauisch genug, um sich die Kontrolle über die Auswirkungen eines nicht von ihnen selbst gesetzten Rechts vorzubehalten. Selbst in Europa, wo die Rechtsentwicklung am weitesten fortgeschritten ist, müssen internationale Normen noch von den nationalen Gerichten nach denjenigen Verfahrensgrundsätzen umgesetzt wer­ den, die für das nationale Recht gelten (in Deutschland also z. B. nach dem deutschen Verwaltungsverfahrensgesetz und der deutschen Verwaltungsge­ richtsordnung). Nur zwei prominente Ausnahmen gibt es inzwischen: den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag für völkerrechtswid­ rige Straftaten, dessen Rechtsprechung sich derzeit 123 Staaten, darunter alle Staaten der EU, unterworfen haben; und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (Art. 19 ff. EMRK), der völkerrechtliche Verträge129 und andere Rechtsakte europäischer Staaten auf ihre Übereinstimmung mit der europäischen Werteskala prüfen kann.130 Darüber hinaus lässt sich ein genetischer Trend zur Globalisierung fest­ stellen, der gegen die nationalstaatliche Souveränität gerichtet ist und dem Völkerrecht den Eingang in das nationale Recht zu öffnen trachtet. Über­ haupt hat das Völkerrecht, das bis ins 20. Jh. hinein nur aus einer kleinen Zahl von Rechtsgrundsätzen bestand, heute weitgehend die Funktion des Naturrechts übernommen131: Seine Grundlage ist ein Rechtsgefühl, von dem man annimmt, dass es allen „zivilisierten Völkern“ gemeinsam und nur an seinen Rändern unterschiedlich ausdifferenziert ist, und das deshalb von den nationalen Gerichten erkannt und u. a. zur ‚völkerrechtsfreundlichen‘ Ausle­ gung des einheimischen Recht verwendet werden kann und soll.132 Aller­ dings teilen nicht alle den Glauben, dass es eine originär im Menschen selbst liegende und allen „zivilisierten Völkern“ offenbare Rechtsquelle gibt.133 Stammesrechts die Gacaca-Dorfgerichte und auf der Grundlage des Völkerstrafrechts seit 1994 in Arusha (Tansania) ein internationales Tribunal (ICTR) tätig. Eine hierar­ chische Ordnung zwischen diesen Gerichten gab es nicht bzw. war rechtlich nicht festgeschrieben. 129  Art. 2 Abs.1 lit a WVK definiert als völkerrechtlichen Vertrag „eine vom Völ­ kerrecht bestimmte internationale Übereinkunft zwischen Staaten, gleichviel ob sie in einer oder mehreren Urkunden enthalten ist und welche besondere Bedeutung sie hat“. 130  Außerhalb Europas bemühen sich internationale Organisationen, Vorstellun­ gen von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit umzusetzen. 131  So schon Th. Hobbes (1651/1970, S. 294 – Kap. 30 a. E.). 132  Für Deutschland BverfGE 64 1, 20; 74 358, 370; 111 307, 324; 128 326, 365; 141 1, 29 f. (Rn. 71); 142 234, 249 f. (Rn.  23). 133  Einige befürchten, dass es vor allem dem Selbstverständnis der ‚fortgeschritte­ nen‘ Völker Ausdruck gibt, zur Beherrschung und Kultivierung der übrigen Völker ausersehen zu sein (und sie rechtlich kolonialisieren zu dürfen).



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Doch selbst die Ungläubigen hoffen, dass es nach einem Stadium der politi­ schen Annäherung und einem weiteren der staatsvertraglichen Bindung schließlich aufgrund einer communis opinio zur Verschmelzung wesentlicher nationaler Rechtsgrundsätze und damit zur Bildung eines global einheitlichen Rechtskerns (oder ‚Kernrechts‘) kommen wird.134 Die Kärrnerarbeit hierfür müssen allerdings nach ihrer Auffassung derzeit noch die internationalen In­ stitutionen leisten, indem sie die wenigen allgemein anerkannten völkerrecht­ lichen Normen ausdifferenzieren, präzisieren und als vertikale Elemente in die nationalen Rechtsordnungen implementieren, wo sich unter ihrem Dach, wie sie hoffen, eine bisher noch ungeahnte Normenvielfalt bilden wird.135 Immerhin ist die Entwicklung bereits heute so weit fortgeschritten, dass das gelten­ de Recht nicht mehr allein von den Nationalstaaten her definiert werden darf. Der Grundsatz ‚Ohne Staat kein Recht‘ hat seine Berechtigung eingebüßt, seit sowohl die nationalen Gesetzgebungen136 als auch (und vor allem) die Rechtsprechungen der nationalen und internationalen Gerichte sich im Streben nach einer überstaatlichen Rechtsordnung gegenseitig zu übertreffen suchen – prominent u. a. das deutsche Bun­ desverfassungsgericht, das alle deutschen Institutionen nicht nur zur „Völkerrechts­ freundlichkeit“ verpflichtet, sondern auch ermahnt hat, die zur Fortbildung des Völ­ kerrechts bisher ergangenen Beiträge als Bausteine für das Gebäude eines der ganzen Menschheit verpflichteten Weltrechts in ihre Rechtsfindung einzubeziehen.137

d) Zusammenfassung Die vorstehend dargestellte Entwicklung des hoheitlichen Rechts lässt er­ kennen, dass sie von ‚isoliert‘ nebeneinander oder ‚parallel‘ zueinander existierenden nationalen Rechtsordnungen zwar ausging, dann aber über die Zwischenstufen eines wechselseitig befruchtenden Miteinanders nationaler Rechtsordnungen (‚Adjunktion‘) sowie nationalrechtlicher Kooperationen138 (‚Konjunktionen‘) auf eine im Kern einheitliche Völkerrechtsordnung zu­ steuerte (‚Penetration‘). Allerdings geschah dies nicht im Sinne einer sich klar am Endziel orientierten Entwicklung, sondern im Sinne einer gerichteten Tendenz (‚Orthogenese‘). Bisher entstanden ist daraus eine Gemeinschaft interdependenter Nationalstaaten (‚zweite Moderne‘) mit Rechtsordnungen, die zwar zum großen Teil noch Ausdruck souveräner staatlicher Selbstbe­ stimmung, zu einem immer größeren Teil aber schon Beiträge zu einem globalen Völkerrecht sind – oder sich jedenfalls hierzu zusammenfügen las­ 134  Vgl. dazu die Ausführungen etwa von A. Peters (2001, S. 586 ff.) zur evoluti­ ven Entwicklung einer europäischen Verfassung („Legitimation durch Bewährung“). 135  Vgl. dazu A. Wiener (2008), p. 197 ff. 136  Für Deutschland sind einschlägig die Art. 23 und 24 GG. 137  BVerfGE 111 307, 319. 138  W. G. Friedmann (1964), p. 60 ff.

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sen. Gäbe es nämlich die genannte Tendenz nicht und wäre sie nicht durch­ gängig wirksam gewesen, dann wäre es unverständlich, wie die heute beste­ hende rechtliche Weltordnung sich in den letzten knapp hundert Jahren aus jenem von Rechtsunsicherheit erfüllten Raum hätte entwickeln können, den zwei Weltkriege hinterlassen hatten. Die heutige Weltordnung ist zwar nach Art und Ausmaß noch immer auf die Kraft eines Völkerwillens angewiesen, der die Enge nationalstaatlichen Denkens hinter sich zu lassen und sich zur Freiheit einer Welt ohne nationalstaatliche Grenzen aufzuschwingen trachtet. Doch weil dieser Wille vor allem von den Mächten des wirtschaftlichen Wie­ deraufschwungs und der technisch/technologischen Revolution getragen wurde, ist es deren Tragkraft, welche die Entwicklung des Rechts voraus­ sichtlich auch weitertragen wird: nämlich Hand in Hand mit ihnen auf Interbzw. Supranationalität zulaufen und dort Schwerpunkte setzen wird, wo als größte Herausforderungen die sozialen Folgen des wirtschaftlichen Auf­ schwungs und der technischen Revolution sich in den Weg stellen. Vor allem zur Ordnung dieser Bereiche werden deshalb künftig entstehen: Erlaubnisse einerseits zum Eindringen der Technik in den menschlichen Lebensraum, Verbote andrerseits gegen eine totale technische Überwachung der mensch­ lichen Freiheit in diesem Raum; Bemühung einerseits für die wirtschaftliche Versorgung einer ständig anwachsenden Weltbevölkerung, Schutz andrerseits der Natur vor ungehinderter Ausbeutung.139 Beispiel: Die Alliance for Financial Inclusion (AFI) ist ein globales, aus Zentral­ banken, Finanzministerien und anderen Regulierungsbehörden bestehendes Netzwerk. Als großes Ziel hat sie eine wirtschaftlich prosperierende Weltgemeinschaft vor Au­ gen. Um ihr einen Schritt näher zu kommen, bemüht sie sich, den bisher nicht einge­ bundenen Bevölkerungsgruppen den Zugang zu Finanzdienstleistungen (Anlage von Ersparnissen, Ausleihung von Krediten, Versicherung von Risiken) zu verschaffen. Als Mittel dazu setzt sie das peer learning ein: die Offenlegung von fachlichem und methodischem Wissen für die arme Bevölkerung (insbesondere Frauen) in den Ent­ wicklungsländern, welche Chancen und Risiken mit den Kontakten zu Kreditinstitu­ ten verbunden sind und wie man mit ihnen umgeht. In dem Maße, wie ihr dies gelin­ gen wird, ist dann die Menschheit der weltweiten Angleichung der Lebensverhältnis­ se im wirtschaftlichen Bereich um einen Schritt näher gekommen.

Am Ende der weiteren juristischen Entwicklung wird allerdings nicht etwa das vollständige Zusammenwachsen aller nationalen Rechtsordnungen zu ei­ nem globalen Einheitsrecht stehen. Denn dann würde zerstört, was die Men­ schen über andere Lebewesen erhebt: die Mannigfaltigkeit ihrer Kulturen. Nicht einmal die einheitlichen Normen der Technik haben dieser Mannigfal­ tigkeit bisher etwas anhaben können: Ihre Anwendung hat allenthalben unter­ schiedliche Produkte hervorgebracht.140 Die übereinstimmenden Normen des 139  W. G. 140  Vgl.

Grewe (1984), S. 739. Zum Ganzen auch Ch. Walter (2004a), S. 37 ff. dazu W. Koppers (1956).



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Völkerrechts werden sich mithin auf diejenigen Bereiche konzen­trieren, worin die Bedürfnisse und Interessen der Menschen sich von Natur aus gleichen, sich im Zuge der Ausdifferenzierung der Lebensverhältnisse zwar unterschied­ lich entwickelt haben, dennoch an der Basis gleich geblieben sind. Gleichwohl wird dieser Kodex nicht induktiv aus noch vorhandenen Übereinstimmungen zwischen den nationalen Kodizes hervorgehen, sondern aus der Aufarbeitung derjenigen Probleme, um die es der Menschheit als Ganzer geht und die mit ihren lokalen Problemen schon deshalb nicht identisch sind. Probleme, für die die Menschheit im Verlauf ihrer Geschichte eine Lösung gefunden hat, werden in dem Kodex allerdings nicht mehr vorzukommen brauchen: beispielsweise Normen zur Abschaffung der Sklaverei, deren Vorhandensein früheren Völ­ kern noch selbstverständlich war, die inzwischen aber wohl endgültig der Ver­ gangenheit angehört. Andere noch ungelöste Probleme werden sich vielleicht schon mit einem Verfalldatum versehen lassen: beispielsweise Probleme der Medizin oder der Technik, deren Lösung noch aussteht, an deren Lösung aber heute schon gearbeitet wird. Und dann gibt es noch jene ‚ewigen Probleme‘, die von einer Generation an die nächste weitergereicht werden und die vor allem den geschichtlichen Wandel erkennen lassen, wie man sich um ihre Lö­ sung bemüht hat. Ein Beispiel ist das Problem der Gerechtigkeit, ein weiteres die Art, wie man es lösen soll: ob durch Anrufung der Götter, durch Befragung des Volkes oder durch wissenschaftliche Expertise. Was dagegen vermutlich unberührt von der weiteren Entwicklung bleiben wird, sind die Mittel, die den Menschen zur Erkenntnis und praktischen Lö­ sung ihrer sozialen und politischen Probleme zur Verfügung stehen. Die Rö­ mer haben sie als rationes bezeichnet: als ratio naturalis, ratio utilitatis und ratio aequitatis. Sie haben damit den uralten indischen Begriff des rita aus­ differenziert, der auch im deutschen Begriff ‚Recht‘ enthalten ist und den wir mit ‚Vernunft‘ übersetzen können. Er bezeichnet das Grade und Richtige, das auch künftig jeder Rechtsnorm innewohnen, sowie das Aufrichtige, das jeden Normgeber auszeichnen soll.141 Die naturalis ratio entnimmt alsdann dem menschlichen Bewusstsein, was grade und richtig ist und was sich dennoch geschichtlich wandelt,142 wenn es in Wechselwirkung mit einem natürlichen und sozialen Umfeld steht.143 Die utilitatis ratio meint den Gewinn, den jede 141  E.-J.

Lampe (1985), S. 20 f. F. C. von Savigny (1840), § 400: „Das Recht hat seine Wurzel in dem gemeinsamen Bewusstsein eines Volkes. Dieses ist nun zwar auf der einen Seite durchaus verschieden von dem leicht und schnell wechselnden, zufälligen und verän­ derlichen Bewusstsein des einzelnen Menschen; auf der anderen Seite aber ist es al­ lerdings dem Gesetz einer umbildenden Entwicklung unterworfen, also nicht als ein ruhendes, stillstehendes zu denken.“ 143  Gemeint ist, was ich als ‚negatives Naturrecht‘ bezeichnet und an anderer Stelle dargestellt habe (vgl. E.-J. Lampe, 1988a). Zu ergänzen ist hier, dass dessen 142  Vgl.

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Ordnung bringt, wenn sie in die Fülle der Aspekte, unter denen er sich regeln lässt, als Auswahlprinzip den überwiegenden Nutzen hineinträgt. Und die aequitatis ratio meint die Reziprozität, die in der Natur als Gleichheit von Ursache und Wirkung enthalten ist und die nunmehr auch vom Recht fordert, gleiche soziale Sachverhalte mit gleichen (‚adäquaten‘) Folgen zu beantwor­ ten. Zu diesen drei rationes tritt dann noch die voluntas hinzu: der freie Wille  − sei es eines Einzelnen, einer Gruppe oder eines Volkes  −, dass die gewählte Folge für einen Sachverhalt als rita gelten soll. Sie ist somit die Erfüllung jenes schöpferischen Freiraums, der offen bleiben muss, damit das individuelle Wohl − eines Einzelnen, einer Gruppe oder eines Volkes − zur Geltung kommen kann. Ich werde abschließend darauf zurückkommen.144 2. Entwicklungstendenzen innerhalb der Privatunternehmen145 und ihres Rechts Die nationalstaatliche Souveränität hat nicht nur der allgemeinen Tendenz zur Globalisierung ihren Tribut zollen müssen, sondern auch dem Aufblühen eines autochthonen Rechts der Privatwirtschaft. Der Tribut wurde vor allem deswegen fällig, weil die Nationalstaaten sich ein Zuviel an sozialen Wohl­ fahrtsaufgaben aufgebürdet hatten und diese aus eigener Kraft nicht mehr stemmen konnten. Sie mussten sich Hilfskräfte ins Boot holen, und hierzu boten sich diejenigen privaten Personen und Unternehmen an, die sowohl das nötige wirtschaftliche Potential als auch das für seinen Einsatz erforder­ Genese die Unterscheidung zwischen natürlicher und rechtlicher Ordnung voraus­ setzt, die den alten Völkern nicht geläufig war, weil sie ja kein Recht besaßen, noch früher nicht einmal den Unterschied zwischen Sein und Sollen kannten, sondern sich als Teil einer einzigen, von einem höchsten Gott gestifteten, Ordnung des Weltalls fühlten – heiße dieser Gott nun Varuna, Uranus oder wie immer. 144  Siehe unten 7 c. 145  Vgl. zum Folgenden u. a. K. Kroeschell (1992); G. Teubner (1997); R.Voigt (1999/2000). Innerhalb der Wirtschaftssubjekte sind einfache Unternehmen, Konzern­ unternehmen und Unternehmensverbände zu unterscheiden. Große Wirtschaftsunter­ nehmen sind häufig Konzerne, d. h. Zusammenschlüsse eines herrschenden mit meh­ reren abhängigen Unternehmen zu einer Einheit mit verbandsmäßigem Charakter. In Deutschland sind sie im Aktiengesetz unter dem Begriff „verbundene Unternehmen“ geregelt (§§ 15–22; 291–338). Daneben gab bzw. gibt es in Deutschland Unterneh­ merverbände als Zusammenschlüsse von Interessenvertretretern entweder mittelstän­ discher oder großer, oft multinationaler Industriebetriebe (bis 1945) sowie Unterneh­ mensverbände als Interessenvertretungen von nationalen Industrieunternehmen und privaten Mitgestaltern staat­licher Wirtschaftspolitik (ab 1945). Eine auch nur annähernd vollständige Übersicht über die Entwicklung des Unter­ nehmensrechts zu geben, ist an dieser Stelle unmöglich. Ich beschränke meine Dar­ stellung deshalb auf den hier wichtigen Bereich der Konkurrenz zwischen privaten und hoheitlichen Systemen.



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liche Expertenwissen besaßen. Es galt also, ihre Macht in das werdende Recht zu integrieren. a) Wirtschaftliche und politische Macht – ein Rückblick Das Verhältnis zwischen wirtschaftlicher und politischer Macht ist fast ebenso lange problematisch wie alt. Als natürlich wurde i. d. R. angesehen, dass wirtschaftlicher Reichtum mit politischer Macht zusammenfällt. Es sei an die big men des Altertums erinnert: Gleichsam von Natur aus standen sie aufgrund ihres Reichtums der politischen Macht am nächsten, und gleichsam von Natur aus strebten die meisten von ihnen nach politischer Macht und ließen ihr Streben sich viel kosten. Umgekehrt sehnte sich gleichsam von Natur aus derjenige, dem militärische Stärke, Redegewandtheit oder pures Glück ein hohes Maß an Macht beschert hatte, nach nichts mehr, als seine Macht in Reichtum umzumünzen und sie dadurch zu untermauern. Dennoch war die Ansicht, dass Macht und Reichtum eine natürliche Verbindung dar­ stellten, nicht etwa angeboren; denn solange die Menschen umherzogen und sich von dem ernährten, was die Natur ihnen bot, gab es keinen Reichtum − weshalb das Streben danach auch über die Jahrtausende hinweg nicht einmal gedanklich eine Rolle spielen konnte. Angeboren war ihnen allenfalls ein Streben nach Macht innerhalb ihrer Gruppe, sodass es wahrscheinlich ist, dass, wenn überhaupt, Reichtum zunächst vor allem um der Macht willen angestrebt wurde. Doch allmählich, als die Menschen sesshaft wurden und in großen Populationen zusammenlebten, hat wohl das Streben nach Reichtum funktionale Autonomie erlangt. Und endgültig, als Wirtschaft und Politik sich trennten, fiel auch das Streben danach auseinander, zumal unterschiedli­ che Fähigkeiten ihnen zugrunde lagen: dem Streben nach politischer Macht soziale oder militärische Begabung, dem Streben nach Reichtum wirtschaft­ liche Tüchtigkeit oder Cleverness. Macht gewann man entweder durch ver­ bindliches Handeln im Frieden oder durch kämpferischen Erfolg im Krieg, Reichtum außer durch Kriegsbeute durch geschickte Organisation innerhalb der Agrarwirtschaft, talentiertes Arbeiten und künstlerisches Vermögen inner­ halb des Handwerks, kluges Verhandeln auf den Märkten.146 Bleiben wir bei der Gewinnung von Reichtum. Schon bald nach dem Übergang zur Sesshaftigkeit ließ sich in der Agrarwirtschaft ein Surplus er­ 146  Keinen Legitimationsgrund für die Erlangung von Macht lieferte dagegen eine Erbschaft, weshalb es noch heute heißt: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, er­ wirb es, um es zu besitzen!“ Diese poetische Fassung des Anrufs stammt von J. W. Goethe („Faust“ I, Nacht). Der Volksmund hat das Schicksal von ererbtem Reichtum eher pessimistisch beurteilt: „Der Erste erstellt’s, der Zweite erhält’s, dem Dritten zerfällt’s“.

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wirtschaften, wenn der kultivierte Boden fruchtbar war, genügend Arbeits­ kräfte zur Verfügung standen und diese ihn mit den passenden Geräten be­ bauen konnten. Gab es genügend Bauern, deren Tüchtigkeit ausreichte, um auch andere zu ernähren, konnte ein neuer Berufszweig entstehen, der sowohl für die passenden Geräte sorgte als auch sonst schöne und nützliche Dinge produzierte: das Handwerk. Wer darin tätig war, konnte ebenfalls zu Reich­ tum kommen, wenn seine Produkte schnellen Absatz fanden, sodass er sie nicht nur gegen die landwirtschaftlichen Produkte der Bauern eintauschen konnte, sondern ihm auch noch Mittel für eigenen Wohlstand übrig blieben. Der Austausch handwerklicher gegen Agrarprodukte konnte unmittelbar zustande kommen. Manchmal allerdings kam das nicht infrage, weil die Part­ ner zu weit auseinanderwohnten, um zueinander zu finden – etwa wenn schöne Dinge nicht aus heimischen, sondern aus besonders prächtigen Mate­ rialien von weither produziert wurden, oder weil wohlschmeckende Agrar­ produkte nicht gleich in der Nachbarschaft wuchsen, sondern nur von weit über Land und See erworben werden konnten. Dann musste sich zwischen beide Vertragspartner eine dritte Personengruppe schieben und die Vermitt­ lerrolle übernehmen. Wie wichtig diese Rolle und damit die Personengruppe war, die sie ausfüllte, erwies sich sehr bald. Denn ein eigener Berufsstand der Händler kam auf, und ein regelmäßiger Handelsverkehrs auf eigenen Handelsstraßen und an eigenen Handelsplätzen war die unmittelbare Folge. Weitere Folgen, die nicht lange auf sich warten ließen, waren die Konstruk­ tion und der Bau von immer neuen Transportmitteln, von immer besseren Verkehrswegen und von immer schnelleren Verkehrsverbindungen − zunächst zu Lande, dann auch auf den Flüssen und schließlich zur See. Auch die stän­ dige Verbesserung des Nachrichtenwesens kam vor allem den Händlern zu­ gute; denn wer mit seinen Waren als erster zur Stelle war, wo sie gebraucht wurden, fand für sie reißenden Absatz. Deshalb ging schließlich vom Handel auch der Druck auf die Industrie aus, dass sie ihn nicht nur mit neuen Waren und technischen Mitteln für deren Transport, sondern auch mit immer neue­ rer Nachrichtentechnik versorgte. Wenden wir deshalb den Blick hinüber zur Industrie und damit in die Ge­ genwart. Ihr kamen eine zunehmende Arbeitsteilung und die Technisierung der meisten Arbeitsgänge zugute, weil diese sowohl eine Verbesserung als auch eine Verbilligung der Produktion gestatteten. Massenfertigungen von Produkten aller Art gab es zwar schon im Altertum, und schon damals er­ zielte man vor allem durch sie den größten Gewinn. Was in der Neuzeit aber hinzukam, waren sowohl eine noch höhere Quantität maschinell hergestellter Produkte als auch deren vollständig gleiche Qualität. Den eigentlichen Durchbruch allerdings brachte erst die Erfindung der Elektrizität. Sie war es, die nicht nur die Schnelligkeit der Produktion, sondern auch die Genauigkeit eines jeden Produktionsprozesses bis zur Perfektion steigerte. Und dort, wo



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die Elektrizität den Einsatz von Muskelkraft zuerst ersetzte (und damit die frei gewordene Energie auf so unproduktive Tätigkeiten wie den Sport lenkte), war wiederum der finanzielle Gewinn am höchsten. Deshalb entstan­ den innerhalb weniger Jahrzehnte in allen besonders fortschrittlichen Kultu­ ren große Fabriken, die mit elektrischen Maschinen bestückt waren und deren Produktion allein schon aufgrund ihrer hohen Stückzahl den Fabrikherren zu immensem Reichtum verhalfen. Die Auswirkung auf den politischen Bereich ließen nicht lange auf sich warten. Als erste bekamen sie die klassischen Monarchien zu spüren. Sie verschwanden nämlich, und an ihre Stelle traten republikanische Systeme oder Diktaturen – wobei sich auch Mischformen etablieren konnten je nach­ dem, inwieweit die Zivilgesellschaft auf die politische Willensbildung Ein­ fluss erhielt. Unabhängig davon nahm überall die Zahl der Funktionen zu, deren Ausübung dem Staat oblagen und für die er Spezialisten besaß. Spezialist war nämlich ein neuer Beruf, die Zahl seiner Verwendungsmöglichkei­ ten unbeschränkt. Persönliche Bedingung war jeweils eine gewisse Intelli­ genz, deren Besitz und (nachweisliche) Ausbildung nicht nur zu Machtfakto­ ren im Staate wurden, sondern gleichzeitig zu Legitimationsnachweisen für die Existenz und Ausübung staatlicher Funktionen. Standesfunktionen, die in früheren Gesellschaften noch eine dominante Rolle im Staat gespielt hatten, verloren demgegenüber an Bedeutung. Das adlige Personal der Monarchien starb deshalb aus oder wurde abgesetzt, ein kleiner Teil auf repräsentative Aufgaben beschränkt. Was dem politischen Bereich dadurch abhandenkam, erblühte stattdessen im zivilen Bereich. Hier konnten Reichtum und soziale Macht vererbt wer­ den, hier entstanden sowohl Industrie- als auch Handelsdynastien − oft unter staatlichem Bestandsschutz, wenn es im volkswirtschaftlichen Interesse lag, dass ein einmal angehäuftes Vermögen (z. B. als Betriebsvermögen) inner­ halb derselben Familie verblieb. Und da nicht nur mathematisch zwingend die großen Vermögen von Industrie- und Handelsfamilien stärker wuchsen als die kleinen Vermögen von Handwerker- und Einzelhändlerfamilien,147 sondern die industrielle Serienproduktion und der zentral organisierte Handel zusätzlich halfen, hohe Gewinne in die Kassen zu spülen, wurde der Welt­ markt bald von wenigen Großunternehmen beherrscht, deren wirtschaftliche Macht die der politischen Macht mancher Staaten weit übertraf,148 sodass dazu noch unten K 7 c. Waren- und Dienstleistungshandel zwischen den Tochtergesellschaften und Zweigstellen transnationaler Unternehmen macht heute etwa ein Drittel des Welthan­ delsvolumens aus. Die Umsätze der größten transnationalen Unternehmen übersteigt das Bruttosozialprodukt der meisten Nationalstaaten (K. Nowrot, 2009, S. 77  f. m. Nachw.). 147  Siehe 148  Der

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Gedeih oder Verderb der einen für die anderen schicksalhaft werden konnte. Für die sozialen Verhältnisse bedeutete das: Während früher die kleine poli­ tisch herrschende Adelsklasse enormen Reichtum ansammeln, sich Paläste bauen lassen und jede Menge Bedienstete leisten konnte, die Einkommens­ verteilung innerhalb des an der politischen Herrschaft unbeteiligten Volkes dagegen (von Ausnahmen abgesehen) eher gering, dafür verhältnismäßig gleich war, wuchsen seit der industriellen Revolution die Einkommensunter­ schiede innerhalb der Zivilgesellschaft erheblich an, während die politisch herrschende Klasse an dieser Vermögensentwicklung nur noch gering betei­ ligt war. Deshalb richtete sich vor allem an sie (und dabei vor allem an die Anhänger der Sozialdemokratie) die Erwartung, dass sie zugunsten der be­ nachteiligten Bevölkerungsschichten intervenieren und die aus der wirt­ schaftlichen Wachstumsdynamik resultierenden Ressourcen nutzen möge, um die Vermögensverhältnisse der Bürger im Sinne eines wohlverstandenen Gemeinwohls gerechter zu verteilen. Dass diese Erwartung, verbunden mit einem allgemeinen Wahlrecht in die politischen Ämter, nicht unbegründet war, erwies in der Folge der ständige Anstieg der staatlichen Sozialleistun­ gen, woran sich schließlich die Funktionäre sämtlicher politischen Parteien beteiligten und beteiligten mussten, weil auch sie ja nicht nur von den Rei­ chen, sondern auch von den Armen sowie den Angehörigen einer ständig an Bedeutung gewinnenden Mittelklasse gewählt werden wollten. b) Die nationale Entwicklung von privatem Unternehmensrecht Die neuzeitliche Entwicklung des privaten Unternehmensrechts spiegelt einerseits das wirtschaftliche Wachstum aufgrund der industriellen Revolu­ tion und andrerseits den Zugriff des Staates auf einen Teil des durch eben dieses wirtschaftliche Wachstum gewonnenen Surplus wider, um das Wohl­ standsgefälle innerhalb der Massengesellschaft auszugleichen. Diese Ent­ wicklung durchlief drei Perioden: In einer ersten Periode (unten α) waren die privaten Unternehmen innerhalb der staatlicher Ordnung Elemente, die wirtschaftliche Freiheit genossen, solange ihr Wirken den staatlichen Geset­ zen nicht zuwiderlief. In einer zweiten Periode (unten β) setzten die Staaten dem Wirken der privaten Unternehmen bereits Schranken, deren Legitima­ tion sie aus ihrer politischen Hauptaufgabe, der Förderung des Gemein­ wohls,149 herleiteten. Und in einer dritten Periode (unten γ) verschob sich das Gewicht abermals: Die Staaten erwarteten, dass die privaten Unterneh­ men sich an der Förderung des Gemeinwohls aktiv beteiligten, sodass sie 149  Der Begriff ‚Gemeinwohl‘ ist doppelt besetzt, zum einen normativ und zum anderen empirisch. Auf die zur Stützung der unterschiedlichen Positionen vorge­ brachten Argumente gehe ich nicht ein, da ich selbst keine Position beziehe.



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selber sich aus der Förderung teilweise wieder zurückziehen und auf deren Gewährleistung beschränken konnten. (α) Die erste Periode des privaten Unternehmensrechts ging noch von den drei Grundpfeilern des römischen Rechts aus: der Eigentums-, Vererbungsund Vertragsfreiheit (vgl. heute etwa die §§ 903, 1937, 305 BGB). Alle Teil­ nehmer am sozialen Leben, ob Einzelpersonen oder Unternehmen, waren danach wirtschaftlich und rechtlich autonome Subjekte,150 die ihre sozialen Beziehungen beliebig ordnen durften, solange sie die Schranken der staat­ lichen Gesetze und der im Volk lebendigen Sozialmoral beachteten.151 Ihre Autonomie erstreckte sich insbesondere auch auf Felder, deren Gestaltung ihnen im Interesse des Gemeinwohls eigentlich hätte entzogen werden müs­ sen: (1) auf die Versorgungssicherheit der Bevölkerung mit Gegenständen des täglichen Bedarfs, (2) auf die vertraglichen Bedingungen der abhängigen Arbeit und (3) auf die Lauterkeit (fairness) des wirtschaftlichen Wettbewerbs sowohl im Verhältnis zueinander als auch zu den Abnehmern ihrer Produkte. Entsprechend der dreifachen Stufung menschlicher Bedürfnisse152 ergab sich deshalb im Laufe der Zeit die Notwendigkeit, die Unternehmensautonomie zu beschränken: wenn (1) die Befriedigung der allgemeinen organisch-vitalen Bedürfnisse der Bevölkerung aufgrund einer allgemeinen Notlage nicht ge­ währleistet war, wenn (2) das Bedürfnis nach einem sozialen Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit aufgrund eines allgemeinen Überangebots an Arbeitskräften gestört war, wenn (3) metaphysisch-integrative (Gerechtig­ keits-)Bedürfnisse eine faire Begrenzung der Freiheit im Wettbewerb und im Verhältnis zu den Endverbrauchern erforderten. (β) In einer zweiten Periode sahen es daher die Staaten als ihre Aufgabe an, diese für das Gemeinwohl unerlässlichen Beschränkungen der Privatauto­ nomie rechtlich zu regeln, anstatt sie allein der Sozialmoral zu überlassen. Geschehen konnte das sowohl negativ durch gesetzliche Verbote asozialen Verhaltens als auch positiv durch Gebote prosozialen Verhaltens. Die Ent­ wicklung bietet insofern ein fluktuierendes Bild. 150  Im Altertum hatte man als Rechtssubjekte meistens nur die Männer und auch diese nur insoweit anerkannt, wie sie einem Haushalt vorstanden. Spätestens seit der Neuzeit galt die Anerkennung – trotz einigen Rückfällen – allen volljährigen natürli­ chen Personen, insbesondere also auch den Frauen, selbst wenn diese politisch noch länger unmündig blieben. Vgl. dazu E.-J. Lampe (1995), S. 9 m. Nachw. 151  Vgl. L. Eneccerus/H. C. Nipperdey (1952), § 15 I 2: „Das BGB ist die rechtli­ che Ausdrucksform der privaten Wirtschaftsordnung, die auf den Grund- und Frei­ heitsrechten des Einzelnen beruht. Dass diese Freiheiten keine schrankenlosen sind und nur in den Grenzen der verfassungsmäßigen Ordnung, der sozialen Pflichten und der Rechtsmoral … bestehen, war für das deutsche bürgerliche Recht von jeher aner­ kannt.“ 152  Siehe oben H 2 a.

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Zu Beginn der Periode (etwa zeitgleich mit dem Beginn der Neuzeit) ver­ fochten Jean Bodin, Thomas Hobbes u. a. noch die Auffassung, dass der Staat aufgrund seiner inneren Souveränität zwar die ausschließliche Zustän­ digkeit für die Rechtssetzung besitzen müsse, weil jegliche private Konkur­ renz die Ordnung stiftende Funktion des Rechts behindern würde,153 dass die staatliche Gesetzgebung sich aber auf Frieden und Ordnung im Lande zu beschränken habe, dagegen die sozialen Verhältnisse im Übrigen dem freien Spiel der Kräfte sowie deren Begrenzung durch die Sittenordnung überlas­ sen müsse. Unter dem Eindruck dieser Lehre wurden einerseits überall sys­ tematisch aufgebaute Gesetzbücher geschaffen, welche die Privatautonomie in die staatliche Ordnung einbanden.154 Andrerseits wurde die von der Ge­ setzgebung ausgenommene soziale Wohlfahrt überall der Fürsorge von Pri­ vatpersonen und privaten Unternehmen überlassen, ohne dass der Staat sich in die Auswahl der zu befriedigenden Bedürfnisse und in die Art ihrer Be­ friedigung einmischte, solange die öffentliche Ordnung dies nicht gebiete­ risch verlangte. Zu einer Veränderung dieser Situation kam es Mitte des 19. Jh.s, als meh­ rere Strömungen zusammentrafen: Erstens veränderte sich aufgrund der in­ dustriellen Revolution das Verhältnis der Staaten zum Wirtschaftsvermögen, das von nun an vor allem in privater Hand lag; zweitens ließen die Staaten aufgrund des veränderten Selbstbewusstseins reich gewordener Privatperso­ nen zusätzlich zum eigenen auch deren private Regime zu; und drittens wurden viele Staaten politisch demokratisiert, was regelmäßig Hand in Hand ging mit einer Erweiterung ihrer Aufgaben auf die Felder der Sozialpolitik. Dazu im Einzelnen: • Auf juristischem Gebiet wurde die Kompetenz zur Rechtssetzung allen „natür­lichen Personen“ ab einem gewissen Reifestadium („Geschäftsfähigkeit“) nicht mehr nur als eine Gewährung seitens des Staates, sondern als ihr natürliches Recht zuer­ kannt.155 Lediglich „juristischen Personen“ (Vereinen, Stiftungen, Kapitalgesell­ 153  Einzig der Staat, so hieß es, besitze die „potestas legibus soluta“. Bis Anfang des 20. Jh.s sah man daher die Rechtssetzungsmacht Privater allgemein als „eine von der [staatlichen] Rechtsordnung verliehene [!] Willensmacht“ an (B. Windscheid/ Th. Kipp, 1906, S. 156). Selbst in einigen Lehrbüchern zum Allgemeinen Teil des BGB aus der Mitte des 20. Jh.s (z. B. L. Enneccerus/H. C. Nipperdey, 1954), § 72 [S. 273]; H. Lehmann/H. Hübner, 1966, S. 81) hieß es noch: „Das subjektive Privat­ recht ist die durch eine Rechtsvorschrift [des Staates] hergestellte günstige Lage einer bestimmten Person …, wenn der Schutz dieser Lage von ihrem Willen abhängig ist“. 154  Berühmt geworden ist das „Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten“ von 1794 mit seinen 19.194 Paragraphen. Weltweite Bedeutung erlangten darüber hinaus die fünf napoleonischen Kodizes, vor allem der Code civil von 1804. 155  Der Umschwung kommt u. a. im Lehrbuch von H.-M. Pawlowski (2003) gut zum Ausdruck (§ 1 Rn. 33 ff.): Man könne zwei Auffassungen vom Recht unterschei­ den. Die eine sehe das Recht nur als Summe der geltenden Gesetze an, die andere



K. Entwicklungstendenzen im neuzeitlichen Recht 737 schaften u. a.) musste die Kompetenz vielerorts (u. a. auch in Deutschland) staatlich erst verliehen, zumindest von einer Überprüfung ihres Gründungsvorgangs abhän­ gig gemacht werden.156 Unabhängig davon wurde jedoch die quasi gesetzgeberi­ sche Rechtssetzung mittels Allgemeiner Geschäftsbedingungen staatlich kontrol­ liert (für Deutschland vgl. §§ 305–310 BGB), ganz allgemein darüber hi­naus die Rechtssetzungskompetenz Privater auf ihre Vereinbarkeit mit den staat­lichen Ge­ setzen (§ 134 BGB) und das Wirken von Unternehmen auf seine Vereinbarkeit mit dem gemeinen Wohl (vgl. etwa § 43 I BGB, § 396 I AktG, § 62 I GmbHG, § 81 I GenG) eingeschränkt.

• Auf ökonomischem Gebiet konnten die Staaten zwar nichts daran ändern, dass sich bedeutende Teile des Volksvermögens in privater Hand befanden. Zum Ausgleich nahmen sie aber für sich in Anspruch, die Ausübung wirtschaftlicher Rechte nicht nur zu besteuern, sondern sie auch durch die Art und Höhe der Besteuerung auf das sozial Wünschenswerte zu begrenzen und überall dort einzuschränken, wo sich Missstände zeigten. In Bezug auf das Ausmaß dieser Befugnisse bildeten sich al­ lerdings idealtypisch zwei politische Strömungen heraus: eine liberalistische Strö­ mung, die dem Bürger so viel staatlich ungesteuerte und unbesteuerte Freiheit wie möglich lassen wollte, und eine sozialistische Strömung, die dem Staat so viel Einfluss wie möglich auf die Besteuerung des Privatvermögens und damit auf die Vermögensverteilung zu sichern suchte. Die erste Konzeption war von einer kon­ kreten Staatsverfassung weitgehend unabhängig, da sie sich grundsätzlich gegen jeden staatlichen Einfluss auf die private Lebensgestaltung wandte, der nicht der Sicherung von Freiheit diente. Die zweite dagegen forderte einen demokratischen Staat, da sie keinem noch so aufgeklärten Monarchen, sondern allein den Bürgern in ihrer Gesamtheit das Wissen zutraute, welche Vermögensverteilung sozial ge­ recht ist und welchen Einfluss der Staat auf die Herstellung von Gerechtigkeit ha­ ben soll. Sie verband daher die Sozialisierung des Volksvermögens mit der Demo­ kratisierung des Staates. • Auf politischem Gebiet kam der Streit um die Vorherrschaft einer entweder libera­ listischen oder sozialistischen Konzeption bis heute nicht zum Ende, weil beide Konzeptionen jeweils einem Bedürfnis moderner Menschen Rechnung trugen: die eine dem Bedürfnis nach individueller Selbstverwirklichung, die andere nach sozi­ auch als System der subjektiven Berechtigungen. Diese unterschiedlichen Auffassun­ gen führten zu unterschiedlichen Strukturen: Nach der ersten Auffassung ist das Recht ein Produkt des Gesetzgebers und somit gebunden an dessen Vorstellungen, welche Berechtigungen er gewähren wolle und wie diese ausgeübt werden dürften. Nach der zweiten Auffassung sind Berechtigungen dagegen originär vorhanden und werden von den staatlichen Gesetzen lediglich anerkannt (a. a. O.: „Das Recht ist da­ mit … eine Gegebenheit, die dem Gesetz gegenüber eine selbstständige Bedeutung hat.“). Einzelheiten bei J. Köndgen (2006), S. 516 ff. 156  In Deutschland entsprach die Verleihung von Rechtssetzungskompetenz den Regelungen in den meisten Partikularrechten: Privat sollte danach nur die Bildung einer juristischen Person sein, hoheitlich (polizeilich) dagegen ihre Anerkennung als Rechtssubjekt. Für die wichtigsten juristischen Personen, insbesondere die Aktienge­ sellschaften, galten allerdings besondere gesetzliche Regeln. Andere Rechtsordnun­ gen erkannten von vornherein eine vollständig dem Parteiwillen überlassene Grün­ dung juristischer Personen an (‚System der freien Körperschaftsbildung‘).

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aler Harmonie. Am Ende der zweiten Periode führte der Streit daher zu Kompro­ missen, die allerdings überall anders aussahen. In Deutschland und in den meisten anderen Staaten waren die im Zuge der industriellen Revolution groß gewordenen Wirtschaftsunternehmen – nicht zuletzt unter dem Eindruck des Marx’schen An­ griffs auf den Staat – grundsätzlich bereit, Wesentliches zur sozialen Wohlfahrt beizusteuern. Nur beanspruchten sie als Ausgleich dafür Entfaltungsfreiheit. Und da Deutschland wie die meisten anderen Staaten die Erfüllung aller sozialen Wohl­ fahrtsaufgaben allein nicht schultern konnte, erklärte es sich hierzu bereit, behielt sich aber vor, der Entfaltungsfreiheit im Interesse des gemeinen Wohls äußerste Grenzen zu setzen.

(γ) Dritte Periode. Den überall ausgehandelten Kompromiss zwischen den Wirtschaftsunternehmen und dem Staat versuchte man anschließend noch genauer zu definieren, um ihn umsetzen zu können. Man erkannte an, dass das Verhältnis von privatwirtschaftlicher Freiheit und staatlicher Kontrolle vor allem in folgenden Bereichen rechtlich geordnet werden musste: (1) im Bereich der menschlichen Grundbedürfnisse, wo eine Fürsorge des Staates für seine Bürger zwecks Abwehr von Hunger und Unbehaustheit notfalls auch gegen die Interessen der Wirtschaftsunternehmen sicherzustellen war;157 (2) im Bereich der Wirtschaftsunternehmen, wo die Interessen der Kapitalgeber und der Arbeiter an einem fairen Gewinn- und Lohnausgleich vom Staat als unabhängiger Instanz abgewogen und notfalls gesetzlich abge­ grenzt werden mussten; (3) im Bereich zwischen den Wirtschaftsunterneh­ men und dem Staat, wo es galt, (a) gegenläufige Interessen nach Optimierung des privaten Nutzens durch die staatliche Garantie eines fairen Wettbewerbs zu versöhnen, (b) übereinstimmendes Interesse an wirtschaftlicher Entfal­ tungsfreiheit gegen das staatliche Interesse an politischer Handlungsfreiheit abzugrenzen, (c) das Interesse der Zivilgesellschaft an einer Kultur der Pri­ vatheit gegenüber Eingriffen von Seiten der Wirtschaft und der Politik abzu­ sichern. Zunächst blieben die Staaten die Lösung dieser Kernaufgaben allerdings schuldig. Ihre Gesetzbücher vom Ende des 19. Jh.s (etwa das am Neujahrs­ tag 1900 in Kraft getretene, aber bereits im letzten Viertel des 19. Jh.s erar­ beitete deutsche BGB) verharrten noch auf den Wertvorstellungen des Groß­ bürgertums von einer „nationalen, unitarischen und egalitären Gesellschaft unter den Prinzipien der Eigentums- und Vertragsfreiheit“158. Lediglich ihre 157  Strittig geblieben ist die Geltung eines „Rechts auf Entwicklung“, das in der Afrikanischen Charta der Rechte der Menschen und der Völker von 1981 niederge­ legt ist. Mehr erläutert als definiert wird dieses Recht als „by virtue of which every human person and all Peoples are entitled to participate in, contribute to, and enjoy economic, social, cultural and political development, in which all human rights and fundamental freedoms can be fully realized“ (Declaration on the Right of Development vom 4.12.1986). 158  F. Wieacker (1967), § 24 I 4 (S. 462).



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Gerichte versuchten, das gesetzliche Recht zeitgemäß fortzubilden, stießen aber aufgrund ihrer Verpflichtung zur Gesetzestreue schnell an Grenzen. Deshalb sahen sich die Interessenverbände der Wirtschaft schließlich veran­ lasst, ihrerseits Vorstellungen zum gesellschaftlichen Normbedarf zu entwi­ ckeln. Da sie ihre Vorstellungen allerdings mangels gesetzgeberischer Auto­ nomie nur zu einem geringen Teil selber umsetzen konnten, brauchten sie für den größeren Teil – den Erlass neuen materiellen Rechts und neuer Verfah­ rensordnungen für neu zu schaffende Gerichte – staatlicher Unterstützung.159 Diese wurde ihnen allerdings erst seit der Mitte des 20. Jh.s zuteil. Im Wesentlichen bestand die Unterstützung darin, dass der Staat das Wirtschaftsund Arbeitsrecht zwar in einen vom ihm kontrollierten und in einen der privaten Ausgestaltung offengelassenen Bereich unterteilte, den von ihm kontrollierten Be­ reich jedoch nur so weit gesetzlich regelte, wie für die Wirtschaftsunternehmen und die mit ihnen in Kontakt tretenden Personen (insbesondere die Konsumenten) Rechts­ sicherheit erforderlich war. Beide Bereiche konnten freilich nicht so scharf abgegrenzt werden, dass nicht eine Reihe von Überlappungen übrig blieb.160 • Das Wirtschaftsrecht gründet in Deutschland und in den meisten Ländern der Eu­ ropäischen Union sowohl auf der Gewerbefreiheit als auch auf dem freien Wettbe­ werb. Beide Freiheiten werden vom Staat (u. a. zur Sicherung der Grundversorgung der Bevölkerung) durch polizeiliche bzw. aufsichtsbehördliche Kontrollrechte ein­ geschränkt und durch Monopole durchbrochen (freie vs. soziale Marktwirtschaft). Gesetzlich geregelt sind die Gründung und der Betrieb von Personal- und Kapital­ gesellschaften sowie die marktmäßige Kapitalschöpfung, gesetzlich geschärft sind die Grenzen des lauteren Wettbewerbs zwischen den Unternehmen und im Hinblick auf die Anwerbung von Kunden. Weiterhin gibt es: ein weniger berufsständiges als 159  Entgegen der noch herrschenden Meinung steht m. E. den Unternehmen eine gewisse Autonomie autochthon zu. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 33 125, 156 f.) hat den Grund – nicht ihrer „Verleihung“ (so noch das BVerfG a. a. O.), son­ dern – ihrer Anerkennung seitens der Staatsgewalt darin gesehen, dass „den entspre­ chenden gesellschaftlichen Gruppen die Regelung solcher Angelegenheiten, die sie selbst betreffen und die sie in überschaubaren Bereichen am sachkundigsten beurtei­ len können, eigenverantwortlich überlassen [werden muss] und [sich] dadurch der Abstand zwischen Normgeber und Normadressat verringert. Zugleich wird der Ge­ setzgeber davon entlastet, sachliche und örtliche Verschiedenheiten berücksichtigen zu müssen, die für ihn oft schwer erkennbar sind und auf deren Veränderungen er nicht rasch genug reagieren könnte.“ Soweit staatliche Interessen mit im Spiele sind, ist eine Einschaltung des parlamentarischen Gesetzgebers indessen auch heute noch unerlässlich. 160  Unter dem Einfluss des Europarechts, dem eine strikte Trennung von Privat­ recht und öffentlichem Recht fremd ist, ist die Zahl der Überlappungen inzwischen noch angestiegen: Teile des Verbraucherschutzes haben ins Privatrecht Eingang ge­ funden, Schadensersatz-, Gewinnabschöpfungs- und Unterlassungsansprüche dagegen in Gesetze, die dem öffentlichen Wirtschaftsrecht zuzurechnen sind. Im Kartell- und Vergaberecht sind öffentliches und Zivilrecht sogar derart eng miteinander verfloch­ ten, dass erst durch ihr Zusammenwirken die gesetzgeberischen Ziele erreicht werden können. Einzelheiten bei M. Knauff (2013).

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vielmehr funktionales, die weltweite Vernetzung von Produktion und Vertrieb be­ rücksichtigendes Handelsrecht; ein weltweite Risiken abdeckendes Versicherungs­ recht; ein schneidiges, heute in seiner Bedeutung allerdings geschrumpftes, Wert­ papierrecht; ein mit Strafnormen versehenes Patent-, Marken- und Urheberrecht. • Das Arbeitsrecht ist unterteilt in ein Recht der abhängigen Arbeit und in ein priva­ tes Arbeitsvertragsrecht. Das Recht der abhängigen Arbeit hat sich zum mächtige­ ren, von Staat zu Staat freilich variierenden Teil mit neuen Rechtsfiguren (Fürsor­ gepflicht des Arbeitgebers, ‚Sphärentheorie‘ für die Verteilung des wirtschaftlichen Risikos, ‚mittelbares Arbeitsverhältnis‘ u. a. m.), eigenen Gerichten und eigener Verfahrensordnung entwickelt. Ergänzt wird es regelmäßig durch Betriebsvereinba­ rungen und Tarifverträge sowie durch diverse nationale und internationale Einzel­ gesetze und Verordnungen. Das private Arbeitsvertragsrecht ist dagegen eine Spe­ zialform des Dienstvertragsrechts geblieben. Es regelt im Wesentlichen die Ar­ beitsleistungen, die in persönlicher Abhängigkeit vom Arbeitgeber erbracht werden müssen. • Staatswirtschaft. Im Gegensatz zu dieser insgesamt freiheitlichen Ordnung des Wirtschafts- und Arbeitsrechts hatten einige Staaten (Sowjetunion, China, Nordko­ rea, Kuba u. a.) sich zunächst nicht auf wirtschaftliche Lenkungsmaßnahmen be­ schränkt, sondern sich selbst zu Hauptakteuren im Bereich der Wirtschaft hochge­ spielt. Sie verstaatlichten alle größeren Privatbetriebe und gaben ihnen per Rechts­ gesetz Produktionspläne und Produktionsnormen vor. Nach diesen Vorgaben ver­ teilten sie dann die Produktionsmittel an die Betriebe und die Waren an die Haushalte, wobei sie jeweils von einem geschätzten Bedarf ausgingen. Diese Wirtschaftsordnung hat sich nirgends bewährt, u. a. weil die für ihre Entwicklung erforderlichen Innovationen sich nicht zuverlässig planen ließen und meistens auch nicht einstellten. Die genannten Staaten sind daher inzwischen zu einer – von ih­ nen allerdings stark kontrollierten – Marktwirtschaft übergegangen.161

Soweit den Wirtschaftsunternehmen heute eine staatlich unkontrollierte Entfaltungsfreiheit zukommt, steht deren Ausbau in ihrem Ermessen, das le­ diglich durch die ‚Gesetze des Marktes‘ (d. s. die evolutionären Regeln eines spontan entstehenden Wettbewerbs) eingeschränkt wird. Überbetrieblich al­ lerdings sehen sich die Wirtschaftsunternehmen – zumindest die größeren – sehr schnell in einer Gemengelage mit dem Staat und den Zielen seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik; denn einerseits erwarten sie für die Umset­ zung ihrer Interessen ein unternehmensfreundliches Verhalten des Staates, andrerseits ist ihnen klar, dass sie ein solches Verhalten nach dem Grundsatz der Reziprozität nur dann erwarten dürfen, wenn sie ihrerseits den Erwartun­ gen des Staates gerecht werden und seine wirtschafts- und sozialpolitischen Ziele unterstützen.162 Als Mittel, die wechselseitige Erwartungshaltungen zu dazu noch unten 7 c β ββ. werden vom Staat ökonomische Aktivitäten, die sich auf den gesam­ ten wirtschaftlichen Kreislauf beziehen: zum einen auf die Förderung der Erfor­ schung und Verbreitung neuer Technologien sowie auf deren Umsetzung in Produk­ 161  Vgl.

162  Erwartet



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befriedigen und darüber hinaus ein Klima des Vertrauens zu schaffen, wur­ den daher seitens der Wirtschaft Interessenvertretungen gegründet, die mit den staatlichen Stellen über etwa geplante Eingriffe in die wirtschaftliche Unternehmensfreiheit verhandeln und ihrerseits freiwillige Angebote zur Unterstützung wirtschafts- und sozialpolitischer Maßnahmen unterbreiten. Die Ergebnisse solcher kooperativen Bemühungen haben sich in Deutschland in ‚konzertierten Aktionen‘ oder ‚Bündnissen‘ der beteiligten Akteure (zu denen regelmäßig auch die Gewerkschaften gehörten) niedergeschlagen: bei­ spielsweise um die Jugendarbeitslosigkeit abzubauen, um die Kosten im Gesundheitswesen zu dämpfen oder um die Frauenquote in den Leitungs­ gremien großer Betriebe zu erhöhen. Indessen war solchen Bündnissen und Aktionen meistens nur ein bescheidener Erfolg beschieden. Wichtiger und durchschnittlich erfolgreicher, weil stärker formalisiert und teilweise sogar verfassungsrechtlich abgesichert, waren die langfristigen Kontakte zwischen den Vereinigungen der Arbeitgeber und der Arbeitneh­ mer. Wo sie institutionalisiert waren, hatten sie u. a. die Aufgaben, Tarifver­ träge zur Wahrung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen auszuhandeln (sogen. ‚Tarifautonomie‘), anstelle des Staates die Unfallversicherung der Arbeitnehmer zu organisieren oder in Kooperation mit dem Staat Standards für die Arbeitssicherheit festzulegen. Insoweit kamen Vereinbarungen zu­ stande, die sich bewährten und teilweise sogar in gesetzliche Normen umge­ gossen werden konnten. In das Tarifrecht haben sich die Staaten in unterschiedlichem Maße eingebracht: In England stehen Tarifverträge außerhalb des Rechtssystems; in Kontinentaleuropa sind sie dagegen ein Teil davon. In England sind Tarifverträge rechtlich nicht durchsetz­ bar, die darin enthaltenen Vereinbarungen allenfalls mit außerrechtlichen Mitteln er­ zwingbar; in Kontinentaleuropa stehen sie dagegen dem staatlichen Recht gleich.163 In einigen Ländern kann sich der Staat nachträglich in die tarifvertraglichen Lohnab­ schlüsse einbringen, indem er sie für allgemeinverbindlich erklärt und dadurch auch

tionsprozesse, zum anderen auf die Bereitstellung von Kapital für Investitionen, zum dritten auf die Schaffung von Absatzmärkten (etwa für die Ausrüstung der Wehr­ macht mit Waffen und für den Umweltschutz). Die Industrie vergilt dies mit der Zahlung höherer Steuern sowie mit der Berücksichtigung spezieller staatlicher Wün­ sche bei der Produktplanung und bei der Bewerbung von Produkten (z. B. Tabak und Alkohol). 163  Tarifnormen gestalten „den Inhalt des Arbeitsverhältnisses wie ein Gesetz von außen“, sie werden „nicht in den Arbeitsvertrag inkorporiert“ (BAG 125 179 ff., 188). In England ergibt sich eine Annäherung daran, wenn tarifvertragliche Normen in in­ dividuelle Arbeitsverträge einbezogen werden – dann werden ihre Normen nämlich rechtlich verbindlich und gerichtlich durchsetzbar. Allerdings geschieht das nicht au­ tomatisch, sondern nur im Wege ausdrücklicher Verweisung (bridging term) im Ar­ beitsvertrag.

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nicht verbandsmäßig organisierte Arbeitgeber in den Tarifabschluss hineinzwingt; in anderen Ländern besteht diese Möglichkeit nicht.164

Insgesamt hat die dritte Periode der Entwicklung eines modernen Unter­ nehmensrechts ein dichtes Netz teils privater, teils hoheitlicher und teils ge­ mischt privat-hoheitlicher (‚hybrider‘) Normen hervorgebracht.165 Der Staat hat sich einerseits nicht mehr nur als Obrigkeit, sondern auch als ‚Freund und Helfer‘ an der Entwicklung beteiligt: Er hat – teils ungefragt fürsorglich bzw. überwachend, teils gefragt vermittelnd – in die Angelegenheiten der privaten Unternehmen eingegriffen, aber auch in Augenhöhe mit ihnen an ihrem wirtschaftlichen Erfolg mitgearbeitet. Die privaten Verbände haben es dafür dem Staat ermöglicht, viele der sozialen Aufgaben, die er als Sozial­ staat übernommen hatte, an sie abzugeben,166 sodass er lediglich die Kon­ trolle über das Ob und Wie ihrer Erfüllung auszuüben brauchte und vom Versorgungsstaat zum Gewährleistungsstaat werden konnte.167 c) Die Entwicklung von inter- bzw. transsozialem Verbandsrecht Komplizierter noch als die juristische Einbindung nationaler Wirtschafts­ unternehmen in die nationale Wirtschafts- und Sozialpolitik ist diejenige von internationalen (bzw. multinationalen) Verbänden in die nationale und inter­ nationale Wirtschafts- und Sozialpolitik verlaufen, gleichgültig ob die Ver­ bände eigene unternehmerische Ziele verfolgten oder ob sie nur die Ziele nationaler Unternehmen unterstützen und dabei übernationale oder globale Interessen (Freiheit, Demokratie, Menschenrechte) einbringen wollten.168 164  In Deutschland wird die Möglichkeit der Allgemeinverbindlichkeitserklärung allerdings für nicht einmal 2 % der Tarifverträge genutzt, weil der dafür zuständige Bundesarbeitsminister hierzu die Zustimmung nicht nur der Arbeitnehmer-, sondern auch der Arbeitgeberseite (in Gestalt der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitge­ berverbände, BDA) braucht. Wo sie genutzt wird, entsteht aufgrund des privaten und hoheitlichen Zusammenwirkens ‚hybrides Recht‘ als eine Sonderform des Rechts (dazu unten 4). 165  Dazu noch unten 5 a. 166  Beispiele außerhalb des kollektiven Wirtschafts- und Arbeitsrechts finden wir (a) für eine Teilprivatisierung vor allem im Versicherungsrecht (Rentenversicherung, Kranken- und Pflegeversicherung), (b) für eine funktionale Privatisierung vor allem der Erfüllung kommunaler Aufgaben (Vollzug von Selbstverwaltungsaufgaben durch private Dienstleister) und (c) für eine Verfahrensprivatisierung vor allem im Städte­ baurecht und im Umweltrecht (Bauleitplanung, Scopingverfahren gemäß dem Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung). 167  Regelmäßig trägt der Staat die Gesamtverantwortung dafür, dass seine Aufga­ ben trotz Privatisierung erfüllt werden (G. F. Schuppert, 1998, S. 102 ff.). Zum Über­ gang vom Versorgungsstaat zum bloßen Gewährleistungsstaat vgl. Ch. Reichard (2004). 168  Dazu M. Kriele (1994), S. 14.



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Die Entwicklung von internationalen (bzw. multinationalen) Wirtschafts­ unternehmen hat zwar (bis auf Ausnahmen) erst im 19. Jh. begonnen, doch sind ihnen schnell internationale Macht und Bedeutung zugewachsen.169 Ihre juristischen Wegbereiter waren die internationalen Anwaltskanzleien. Die von ihnen aufgesetzten Verträge regelten das Verhältnis der Unternehmen zu den Nationalstaaten i. d. R. rechtsschöpferisch, aber mit Blick auf die vorhan­ denen realen und normativen Bedingungen, unter denen sich die Verträge praktisch bewähren sollten. Und weil die Verträge sich in der Tat meistens bewährten, brauchten die Nationalstaaten mittels nationaler Gesetze bzw. das internationale Recht mittels völkerrechtlicher Verträge nur einzuschreiten, wenn sich doch einmal Probleme ergaben: einesteils die nationale Gesetzge­ bung, wenn entweder ein Unternehmen eine Anpassung des nationalen Rechts an seine vertragsrechtliche Position verlangte oder wenn umgekehrt ein Staat sich durch eine vertragsrechtliche Gestaltung um ihm zustehende Ansprüche (insb. steuerlicher Art) gebracht sah; andernteils die nationalen Gerichte, wenn sie aufgrund von Auslegungsstreitigkeiten zwischen Ver­ tragsparteien den Einfluss z. B. eines nationalen Gesetzes- oder transsozialen Gewohnheitsrechts auf die vertragsrechtliche Rechtsposition zu prüfen hat­ ten.170 (α) Bedeutung erlangte eine inter- bzw. transsoziale Wirtschaft niemals im politikleeren Raum, sondern gewöhnlich im Raum eines wirtschaftspolitisch starken Staates. Dort hatten die Verbände ihren Stammsitz, dort das Zentrum ihrer Macht, die sie dann vor allem gegenüber wirtschaftlich schwachen Staaten ausnutzten − z. B. wenn sie dort weitere Betriebsstätten unter der Bedingung gründen wollten, dass deren Rechts- und Wirtschaftsordnung (oder deren anomische Strukturen) ihnen eine profitablere Basis bieten als ihr Heimatstaat. Sie forderten dann entsprechende Ergänzungen oder Ände­ rungen der nationalen Gesetze171 und drohten, andernfalls in Staaten zu in­ vestieren, wo sie mit mehr Entgegenkommen, z. B. mit billigeren Arbeitslöh­ nen oder höheren Steuervergünstigungen, rechnen konnten. Als Gegenleis­ tung für die Erfüllung ihrer Forderungen gelobten sie i. d. R. Loyalität gegen­ über dem (oft diktatorischen und korrupten) Regime des Gaststaates. Und zur angeblich beiderseitigen Sicherheit verankerten sie in den Investitions­ verträgen die Zuständigkeit eines gemischten Schiedsgerichts − das aber vor allem der Abschottung gegenüber den Gerichten des Gaststaates diente. Und obwohl die Gaststaaten nun ahnen konnten, dass sie im Falle von Streitigkei­ 169  Vgl.

oben Fn. 148. K. Nowrot (2006), S. 214 ff.; (2009), S. 78 m. w. Nachw. 171  So haben sie in der Vergangenheit z. B. erreicht, dass ihnen aus dem staat­lichen Recht herausgelöste Regelungen die Gewinnung von Bodenschätzen (Erdöl, Metallen u. a.) gestatteten: zwar mit erheblichen Risiken hinsichtlich der Fündigkeit, aber mit enormen Gewinnen bei der Veräußerung. 170  Vgl.

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ten die einseitige Auslegung der abgeschlossenen Verträge durch das Schieds­ gericht zu fürchten haben, besonders wenn sie zusätzlich noch die Anwend­ barkeit des Heimatrechts des Investors akzeptiert hatten, zeigten sie einge­ denk ihrer Schwäche dem Investor nur halbherzig die Grenzen ihrer Bereit­ schaft zum ‚Neokorporatismus‘ auf.172 Dabei konnten sich die Investoren starken Staaten gegenüber auch anders verhalten: bescheidener, für jedes Entgegenkommen dankbar und jederzeit zu Gegenleistungen bereit. Sie kon­ zedierten etwa, dass sie nur Maschinen des Gaststaates für ihre Warenpro­ duktion verwenden, dass sie zum Schutz der bereits vorhandenen Industrie auf die Produktion bestimmter Waren vollständig verzichten würden, usw. Juristisch freilich war das Ergebnis der Verhandlungen jedes Mal dasselbe: Es entstanden Investitionsverträge, die sowohl den privaten Verband als auch die Regierung des Gaststaates zu Urhebern hatten. Es entstand – unabhängig von der darin zum Ausdruck kommenden Machtverteilung – ‚hybrides Recht‘. Prominentes Beispiel für hybrides Recht ist die Vereinbarung einer sogen. ‚Stabili­ sierungsklausel‘: Ein Konzern braucht für eine von ihm geplante Investition (etwa zur Ölförderung oder zum Abbau von Bodenschätzen) Sicherheit gegenüber einer nach­ träglichen Änderung der Gesetzgebung, die der Ausübung der ihm erteilten Konzes­ sion ganz oder teilweise den Boden entziehen würden – weil sie entweder die Kon­ zession praktisch annullieren oder mit Bedingungen belasten würde, welche die Wirtschaftlichkeit der bereits getätigten Aufwendungen wesentlich beeinträchtigen. Der Gaststaat verpflichtet sich deshalb zu einer Begrenzung seiner gesetzgeberischen Souveränität. Ändert er dennoch seine Gesetze, erlangt der Konzern zwar keinen Anspruch auf Rücknahme der Änderung, wohl aber auf eine Entschädigung für da­ durch entstandene Mehrkosten oder Verluste.173

Ist die wirtschaftliche Macht eines multinational tätigen Unternehmens zu schwach, um das gewünschte hybride Recht in einem Gaststaat durchzuset­ zen, kann ihm u. U. ein internationaler Wirtschaftsverband die notwendige Unterstützung verschaffen. Hat beispielsweise ein Staat dem Unternehmen mitgeteilt, dass er ihm wegen einer umweltpolitischen Verpflichtung eine Maßnahme zur Reinhaltung der Luft auferlegen muss, kann der Wirtschafts­ verband sich einschalten und stattdessen eine Selbstbeschränkung des Unter­ nehmens anbieten, mit der sich die staatliche Verpflichtung zum Umwelt­ schutz ebenfalls erreichen lässt. Geht die Regierung des Staates vertraglich 172  Als Neokorporatismus bezeichnet man in der politischen Soziologie „die Ein­ bindung oder ‚Inkorporierung‘ von organisierten Interessen in die Politik und ihre Teilhabe an der Formulierung und Ausführung von politischen Entscheidungen. … Einerseits definieren und repräsentieren die Verbände die Interessen ihrer Mitglieder gegenüber dem Staat …, andrerseits verteidigen sie auch die politischen Entscheidun­ gen und Zugeständnisse, die sie in ihren Verhandlungen … mit dem Staat eingegan­ gen sind, gegenüber ihren Mitgliedern.“ (H. Voelzkow, 2013, S. 477 f.). 173  Vgl. näher dazu unten 5 b δ.



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darauf ein, entsteht wiederum hybrides Recht. Kommt es später zum Streit, ob die Selbstbeschränkung eingehalten wurde, kann das Unternehmen den Verband abermals einschalten und um Vermittlung ersuchen, sofern der Streit nicht ohnehin vor einem zuvor vereinbarten Schiedsgericht ausgetragen wird.174 Außer Wirtschaftsunternehmen spielen innerhalb der internationalen Ge­ meinschaft Unternehmen und Organisationen mit einer nicht-wirtschaftlichen (ideellen) Zielrichtung eine wichtige Rolle. Einzelne von ihnen nehmen die spezifisch staatlichen Aufgaben der äußeren und inneren Sicherheit wahr – z. B. die durch internationalen Vertrag gegründete NATO die Verteidigung der äußeren Sicherheit der Vertragsstaaten gegen militärische Angriffe, ferner die ebenfalls staatsvertraglich gegründete Europol die Verteidigung der inne­ ren Sicherheit gegen Organisierte Kriminalität. Die zahlenmäßig meisten Organisationen beruhen indes auf zivilrechtlichen Verträgen und widmen sich Aufgaben des Umwelt-, Kultur- und Menschenrechtsschutzes. Diese Nichtregierungsorganisationen (Non-Governmental Organizations – NGOs) haben genau wie die Wirtschaftsunternehmen eine Rechtsform, die ihre Struktur und ihre Ziele benennt und die mit den Strukturen und Zielen inlän­ discher Unternehmen des Gaststaates abgestimmt werden muss. Da dies oft schwerfällt, weil die Gefahr einer unproduktiven Gemengelage besteht, über die der Gaststaat dann die Aufsicht führen muss, ist es m. E. sinnvoll, das Wirken ausländischer privater Organisationen im Verhältnis zu inländischen künftig sowohl innerhalb als auch außerhalb von wirtschaftlichen Projekten völkerrechtlich zu regeln. (β) Staatliche Grenzen sind für die Tätigkeit von inter- bzw. multinationa­ len Unternehmen dort bedeutsam, wo sie Gemeinwohlinteressen schützen sollen. Das Wirken der Verbände muss sich alsdann nicht nur im Rahmen der vertraglichen Beziehungen, sondern auch des internationalen Rechts und der internationalen Sittlichkeit halten. Dazu gehört u. a., dass die Erfüllung der vertraglichen Ansprüche der Erwartung von Fairness seitens der Gegenseite Rechnung trägt. Außerhalb vertraglicher Beziehungen gehört dazu die Ein­ haltung gewisser prärechtlicher Normen, die in schlechthin allen Sozialsyste­ men die wechselseitigen Beziehungen stabilisieren und von dort auch in den inter- und transsozialen Bereich ausstrahlen. Beispiele: Prominent gehören dazu einerseits die Normen des (natürlichen) Beistands, andrerseits die Normen zur Begrenzung des (natürlichen) Antagonismus. In tierischen Sozialsystemen regeln sie etwa den Beistand der Artgenossen gegen ge­

174  Es ist anerkannt, dass ein Staat sich von einer Schiedsvereinbarung mit einem Wirtschaftsunternehmen oder Wirtschaftsverband nicht unter Berufung auf seine Sou­ veränität lossagen kann.

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meinsame Feinde und das faire Kräftemessen um eine interne Rangordnung.175 In humanen Sozialsystemen regeln sie entsprechend die Verpflichtungen zur gemeinsa­ men Abwehr unlauterer Wettbewerber und die lautere Bearbeitung von Bewerbungen um staatliche Aufträge. Feste Rangordnungen dienen in tierischen Populationen u. a. dazu, ranghöheren Männchen den bevorzugten Zugang zu beschränkten Ressourcen (etwa zu brünstigen Weibchen) zu verschaffen, in höheren Säugerpopulationen ferner die Zuständigkeit zu regeln für Anordnungen, welche die ganze Gruppe betreffen (etwa zum Aufbruch in ein anderes Jagdgebiet), oder für die Streitschlichtung inner­ halb der Gruppe. In humanen Sozialsystemen dienen sie entsprechend dazu, ‚Marken­ unternehmen‘ den bevorzugten Zugang zu staatlichen Fördermitteln zu verschaffen, innerhalb von Interessenverbänden ihnen die Führerschaft bei der Vertretung gemein­ samer Interessen gegenüber dem Staat zu lassen oder ihnen den Vorzug bei der Be­ setzung von Standesgerichten zu geben, u. a. m.

Die Staaten richten ihr Verhalten auf den Bestand gewisser natürlicher Ordnungen ein und sichern den Bestand rechtlich sogar ab, indem sie das atypische Herausfallen Einzelner aus dem Bestand, z. B. das Ausbrechen von Unternehmen aus einer ‚natürlichen‘ Wettbewerbssituation, sowie die Vor­ nahme ordnungswidriger Handlungen, z. B. wettbewerbsbeschränkender Ab­ sprachen, verbieten.176 Welche Wettbewerbssituationen ‚natürlich‘ sind und deshalb rechtlichen Schutz genießen, entscheiden freilich nicht die Staaten, sondern einesteils die typischen Marktverhältnisse, welche bestimmen, „dass jedes Element auf die besonderen Umstände so reagiert, dass eine Gesamt­ struktur entsteht“177, und andernteils die Unternehmen selber, deren „regu­ lierte Selbstregulierung“ Mitarbeiter gleichzeitig zum Wettbewerb und zur Fairness anhält. Den politischen Leitzielen der Staaten kommt diese Selbst­ regulation ebenfalls entgegen, weil sie auch den Arbeits-, Verbraucher- und Umweltschutz umfasst sowie die Verhinderung von Geldwäsche und sonsti­ ger Kriminalität.178 Im internationalen Bereich stehen auch die Staaten im wirtschaftlichen Wettbewerb miteinander. Dabei unterliegen sie ebenfalls den Geboten der Fairness insbesondere gegenüber wirtschaftlich schwächeren Staaten, aber auch der (prärechtlichen) Verpflichtung, wirtschaftlich starken Staaten die Führerschaft bei internationalen Großprojekten zu überlassen. Außer den staatlichen Gesetzen hat jedes weltweit operierende Unternehmen vor allem die Normen für eine gemeinwohlverträgliche Unternehmensführung zu befol­ gen, die in einem Corporate Governance Codex zusammengefasst sind. Der für dazu etwa I. Eibl-Eibenfeldt (1987), S. 516 ff., 560 ff., 595 ff. Deutschland leistet dies das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), das in § 1 wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen für unwirksam erklärt; in der Europäischen Union leistet es das Kartellverbot in Art. 101 AEUV und in der Kartellverordnung (EG) Nr. 1/2003. 177  A. F. von Hayek (1994), S. 37. 178  Näher dazu u. a. A. Nieto Martín (2008), S. 489 ff. 175  Vgl. 176  In



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Deutschland 2002 ausgearbeitete Kodex enthält zwar bloß Richtlinien, wirkt aber trotzdem disziplinierend, weil er eine gesamteuropäische Entwicklung widerspiegelt. Seine rechtlichen Wirkungen benennt § 161 AktG: Vorstand und Aufsichtsrat einer börsennotierten Gesellschaft müssen jährlich erklären, ob den „Empfehlungen der ‚Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex‘ entsprochen wur­ de“, wozu neben der Herstellung struktureller Transparenz insbesondere die Verhin­ derung von Straftaten (Korruption, Geldwäsche, Steuerhinterziehung, Umweltdelikte, Wirtschaftsspionage u. a.) sowie die Einhaltung der Arbeits- und Jugendschutzbestim­ mungen im In- und Ausland gehören.179 Umgesetzt werden die Empfehlungen mit­ tels sogen. Compliance Programs, deren Einhaltung allerdings nur teilweise ver­ pflichtend ist und auch nur insoweit von den Verwaltungsbehörden überwacht und notfalls erzwungen werden kann.180

Während das Handeln aller Wirtschaftsunternehmen unter der Maxime optimaler Gewinnerzielung steht, steht bei den Nichtregierungsorganisationen (NGOs) die Förderung ideeller Leitziele obenan. Diese Ziele versuchen sie, innerhalb einer weitestgehend selbstgesetzten nicht-antagonistischen Ordnung zu erreichen, deren Normen allerdings nur dann als ‚rechtlich‘ an­ zuerkennen sind, wenn sie die an den Rechtsbegriff zu stellenden Kriterien erfüllen, nämlich „Ansprüche und Verpflichtungen begründen und auf einem Gemeinschaftswillen oder dem Willen kompetenter ‚Organe‘ [der ­ NGOs] beruhen, sprachlich verlautbart und im Streitfall unter Einschaltung kompetenter Instanzen nach allgemeinen Verfahrensregeln durchgesetzt wer­ den“181. d) Rechtliche Entwicklungen infolge von Diffusion (insbesondere aus der anglo-amerikanischen Rechtskultur) Der internationale Wirtschaftsverkehr hat nicht nur den globalen Bestand von Märkten mit markttypischen Regeln zentral bewusst gemacht, sondern auch der Diffusionen markttypischer Regeln aus fremden Märkten die Schleuse geöffnet. Eingedrungen in den kontinentaleuropäischen Raum sind insbesondere Vertragstypen aus dem anglo-amerikanischen Wirtschaftsraum, U. Sieber (2008), S. 454 f. Schutz vor Geldwäsche verlangt § 14 Abs. 2 des Geldwäschegesetzes, dass die Unternehmen „angemessene Sicherungssysteme und Kontrollen“ installieren, zuverlässige Mitarbeiter auswählen und sie entsprechend schulen. Die Erfüllung die­ ser Verpflichtung kann von der Verwaltungsbehörde kontrolliert werden. Zusätzliche in Compliance-Programmen aufgeführte soziale Maßnahmen wie etwa die Einrich­ tung von Kindergärten, Sportstätten, medizinischen und sonstigen sozialen Hilfspro­ grammen bleiben dagegen der freiwilligen Initiative der Unternehmen überlassen. Insoweit findet keine behördliche Kontrolle statt. 181  Dies entsprechend der Definition oben E 4 d a. E. Vgl. ferner A. FischerLescano/G. Teubner (2006), S. 42 ff., 54 ff. m. Nachw. 179  Vgl.

180  Zum

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deren Besonderheit darin besteht, dass sie von einer technisch geprägten Kultur sowie von einer vom Nützlichkeitsdenken beherrschten Philosophie beherrscht werden. Als Prämisse gilt für sie der schon den Römern vertraute Grundsatz, dass jeder an einem Vertragsverhältnis Beteiligte primär seinen eigenen Nutzen im Auge hat, weshalb möglicherweise vergessene oder sonst fehlende vertragliche Details mittels einer wirtschaftlichen Nutzenanalyse ergänzt werden können. Diesem Ansatz stehen in der kontinentaleuropäi­ schen Rechtstradition tief verwurzelte Bedenken entgegen, weil hier Nutzen­ überlegungen zwar ebenfalls in Anschlag gebracht, aber nicht für ausschlag­ gebend gehalten werden. Im Zentrum des kontinentaleuropäischen Privat­ rechts steht vielmehr traditionell der sittlich-werthafte Wille. Von hier aus richten sich Bedenken weniger gegen Vertragstypen, die neuen technischen Entwicklungen im modernen Wirtschaftsverkehr Rechnung tragen (Leasing-, Factoring- und Franchiseverträge)182 − diese werden infolge ihrer Vorteile für den modernen Massenverkehr bereitwillig als Alternativen zu den tradi­ tionellen (Miet-, Pacht- und Zessions-)Verträgen übernommen und haben diese Vertragsarten sogar teilweise schon verdrängt.183 Die Bedenken gelten dagegen Vertragstypen mit eher empirisch-realem als normativ-idealem Ge­ halt (z. B. Just-in-time-, Joint-Venture- und Consulting-Verträge), da sie eher der wirtschaftswissenschaftlichen Analyse als der juristischen Bewertung zugänglich sind. Viele der Vertragstypen haben bei ihrer Übernahme in die kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen nationale Umdeutungen erfahren und daraufhin unterschiedliche steuerrechtliche, wettbewerbs- und kartellrechtliche sowie verbraucherrechtliche Fol­ gen ausgelöst. Dadurch haben sie den internationalen Wirtschaftsverkehr eher behin­ dert als gefördert. Um die Unterschiede zumindest einzuebnen, haben sich internatio­ nale Institutionen wie etwa UNIDROIT um eine Vereinheitlichung bemüht und er­ reicht, dass die Vertragstypen überall zumindest wesensgleich und international ver­ wendbar geblieben sind.184

182  Factoringverträge beinhalten die globale Abtretung von Forderungen eines Unternehmens gegen seine Schuldner an ein Kredit- oder Spezialinstitut entweder auf der Grundlage eines Forderungsverkaufs oder eines dafür gewährten Darlehens. Zu Franchiseverträgen vgl. oben Fn. 63. 183  Beim Franchisevertrag hat man sich allerdings wegen der vielen darin enthal­ tenen Bestandteile (Pacht-, Kauf-, Dienst-. Werk-, Miet- Gesellschafts-, Geschäftsbe­ sorgungsvertrag) schwergetan. 184  Wichtigste Beispiele: Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parla­ ments und des Rates vom 17.6.2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I-VO); Übereinkommen der Vereinten Nationen über Verträge über den internationalen Warenkauf – C-SG; Übereinkommen über den Be­ förderungsvertrag im internationalen Straßgüterverkehr (CMR); UNIDROIT-Überein­ kommen über internationales Finanzierungsleasing sowie UNIDROIT-Übereinkom­ men über internationales Factoring, beide vom 25.5.1988.



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Eindeutig befruchtend haben Diffusionen aus dem anglo-amerikanischen Rechtsbereich dagegen insofern gewirkt, als sie die Kulturbedingtheit und damit Relativität des aus dem römischen in das kontinentaleuropäische Recht überkommenen Willensdogmas deutlich gemacht haben. Die neuen Typen des Management-, Joint-Venture-, Pool- und Timesharingvertrages185 lassen sich nämlich den kontinentaleuropäischen Vertragstypen u. a. deshalb nur gewaltsam zur Seite stellen, weil ihre wesentlichen Inhalte keine willentliche „Leistungen“ sind, die „der Gläubiger berechtigt ist, von dem Schuldner zu fordern“ (vgl. § 241 Abs. 1 BGB), sondern weil sie eine Realität erfassen, bei der die beiderseitigen Willensbekundungen nur am Anfang stehen, während ihr Zentrum die hierdurch begründeten Besitz- bzw. Statuspositionen als quasi-gesellschaftliche Dauerbeziehungen sind. Ganz neu ist ein solcher Ver­ tragsinhalt allerdings auch innerhalb des kontinentaleuropäischen Schuld­ rechts nicht; denn auch hier haben beispielsweise die Dienst- und Mietver­ träge von jeher eine auf Dauer gerichtete vertragliche Verbundenheit einge­ leitet: Ihr sogen. ‚Abschluss‘ war stets der ‚Beginn‘ eines sozialen Prozesses, dessen weitere Entwicklung den Veränderungen der realen Randbedingungen und dem willkürlichen Verhalten der Vertragspartner ausgesetzt blieb. Ein Streit über deren Auswirkungen konnte daher bisher nur aufgrund einer va­ gen ‚Berücksichtigung der Gesamtumstände‘ entschieden werden, während der durch Diffusion geschärfte Blick nunmehr die gesellschaftsähnliche Be­ deutung der Verträge offengelegt und der Auslegung einen klarer erkennba­ ren Einblick in ihren Charakter eröffnet.186 Ein entsprechendes Problem kennt an zentraler Stelle auch das Strafrecht, wo nach geltendem Recht die Art der Straftat zentral vom Vorsatz des Täters und vom Umfang der ihn verwirklichenden Handlung bestimmt wird, während die Gesamtheit des realsozialen Prozesses, dessen Auslöser der Tätervorsatz zwar ist, der dann aber die Durchführung der Straftat und das Ausmaß der Verantwortung des Täters hierfür ge­ 185  Die im anglo-amerikanischen Raum so bezeichneten Verträge sind in Deutsch­ land inzwischen als Teilzeit-Wohnrechteverträge ins Gesetz (§§ 481–487 BGB) auf­ genommen worden. Ob ihre Einordnung zwischen Tausch und Darlehen angemessen ist, bleibe dahingestellt. 186  Vertragsparteien, welche die Unsicherheit des Verlaufs ihrer weiteren vertrag­ lichen Beziehung vorausgesehen haben, haben ihr bisweilen durch die Vereinbarung einer Schiedsklausel ein Gegengewicht verschafft, wonach ein Verfahren in Kraft treten soll, sobald eine Veränderung der Randbedingungen für die Vertragserfüllung Zweifel an den wechselseitigen Rechten und Pflichten aufkommen lässt. Den Prinzi­ pien des kontinentaleuropäischen Rechts steht eine solche Vereinbarung an sich ent­ gegen; denn es gilt der Grundsatz ‚pacta sunt servanda‘. Und rechtspolitisch ist sie ebenfalls bedenklich, weil eine ‚Vertragsergänzung durch Verfahren‘ das Risiko des weiteren Vertragsverlaufs einmal mehr auf denjenigen Partner verlagert, der bereits beim Vertragsschluss die schwächeren Karten hatte und daher auch bei der Vereinba­ rung der Schiedsklausel nicht gleichwertig mitspielen konnte. Zu Einzelheiten vgl. M. Martinek (1993), S. 380 ff.

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prägt hat, nicht dem Bestimmtheitsgebot des § 1 StGB unterliegt, sondern allein der richterlichen Würdigung vorbehalten bleibt.

e) Zusammenfassung In der Neuzeit ist die Entwicklung des privaten Rechts u. a. von zwei auch strukturell bedeutsamen Faktoren bestimmt worden: erstens von der stark angewachsenen wirtschaftlichen Potenz privater Personen und Institutionen, zweitens von der Globalisierung wirtschaftlicher Beziehungen. Der erste Faktor veränderte das Verhältnis zwischen Reichtum und Macht und damit auch das Verhältnis zwischen privatem und staatlichem Recht, der zweite begründete die Einbeziehung wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse und Analysemethoden in das kontinentaleuropäische Rechtsdenken sowie dessen Anreicherung mit Gestaltungsmöglichkeiten aus der anglo-amerikanischen Rechtstradition. In beiden Hinsichten ist die Entwicklung im Fluss geblie­ ben: (1) Die Verteilung einerseits des finanziellen Reichtums in private Hände und andrerseits der rechtlichen Souveränität in die Hände des Staates wird heute zwar durch eine Verfassung stabilisiert, die sowohl die Unabhängigkeit des demokratischen Rechts von der Macht privaten Reichtums als auch die Unabhängigkeit des privaten Reichtums von der Macht demokratischen Rechts festschreibt. Doch steht die doppelte Unabhängigkeit beiderseits unter Bedingungen: der finanzielle Reichtum unter der einer zurückhaltenden staatlichen Besteuerung, die staatliche Macht unter der eines finanziell gut ausgestatteten Staatshaushalts. Beide Bedingungen setzen eine stabile Volks­ wirtschaft voraus, die dem Staat keine Verlockung zu hoher Steuerbelastung, den Bürgern und Wirtschaftsunternehmen keine Verlockung zur Steuerflucht bietet. Dieser steuerliche Normalzustand wird derzeit jedoch einerseits durch den Anstieg der nationalstaatlichen Steuerquoten in den letzten hundertfünf­ zig Jahren von etwa 10 % auf über 40 % des Bruttoinlandsprodukts, andrer­ seits durch die globale Möglichkeit zur Steuervermeidung mittels Wahl der steuerlichen Zuständigkeit durch die Verlegung des Wohn- bzw. Firmensitzes infrage gestellt. Als Antwort darauf ist überall, vor allem aber innerhalb der multinationalen Unternehmen, die Neigung gewachsen, alle Chancen der Steuervermeidung zu nutzen und z. B. Gewinne in einem Staat entstehen zu lassen, der sie steuerlich besonders niedrig belastet, Verluste dagegen dort, wo ihre steuerliche Entlastung besonders hoch ist. Ferner haben gerade die­ jenigen Steuerarten, auf die sich die staatliche Finanzkraft besonders stützt, nämlich die die Einkommen-, Körperschafts- und Umsatzsteuern, sich als besonders ‚flüchtig‘ erwiesen, weil sie national schwierig zugeordnet werden können. Dass es dennoch bisher zu keiner allgemeinen Flucht aus der Be­ steuerung gekommen ist, hängt mit Gegenmaßnahmen der Nationalstaaten



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zusammen: Sie haben zum einen die Steuersätze für Unternehmensgewinne so weit abgesenkt, dass der Anreiz für Unternehmen geschwunden ist, ihren Sitz von einem Staat in einen anderen zu verlagern, und sie haben zum an­ deren der ‚Inkorporation‘ hoch besteuerter Einkommen aus persönlicher Ar­ beit in niedriger besteuerte Unternehmensgewinne187 den Anreiz genommen, indem sie die Progression der Einkommensteuer und die Höhe der Körper­ schaftssteuer einander angeglichen haben. Darüber hinaus haben sie vor al­ lem gelernt, sich so weit miteinander zu vernetzen, dass sie die Spur etwaiger Steuerfluchtbewegungen frühzeitig erkennen können. Ob dies ausreicht, um einerseits eine Beteuerung des individualen Reichtums zu ermöglichen, die zur Steuerflucht keinen Anlass gibt, und die andrerseits den Staatshaushalt finanziell so gut ausstattet, dass der Staat soziale Not jederzeit lindern kann, wird die Zukunft lehren. (2) Ebenfalls wird sich erst in der Zukunft zeigen, wie weit die Sozialbin­ dung des individuellen Vermögens außer auf sachliches Eigentum auch auf vertragliches Vermögen ausgedehnt werden muss, um gerecht zu sein, und wieweit erst wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse eine gerechte Trenn­ linie zwischen privaten und sozialen Interessenbereichen zu ziehen erlauben. Das römische Recht hatte eine sehr weitgehende Sozialbindung auch von Vertrags­ verhältnissen anerkannt oder zumindest nicht ausgeschlossen, indem es zwischen stricti juris negotia und bonae fidei negotia unterschied. Die erstgenannten Verträge hatten Verpflichtungen zur Leistung des verbal Versprochenen begründet und wurden dem Buchstaben entsprechend eng ausgelegt. Sie ermöglichen keinen Einbruch wirt­ schaftswissenschaftlicher Nutzenüberlegungen. Die letztgenannten Verträge verpflich­ teten dagegen zur Leistung dessen, was im sozialen Leben nach Treu und Glauben erwartet wird, und begründeten infolgedessen eine den sozialen Umständen entspre­ chende unterschiedliche Verpflichtung (incerta obligatio, quidquid dare facere oportet ex bona fide). Beispiele dafür waren Kauf, Miete, Auftrag, societas, also die meisten der gängigen Verträge. Das deutsche Privatrecht kennt solche incertae obligationes nicht, sondern nur eine die Vertragsverhältnisse weichzeichnende Verpflich­ tung aus Treu und Glauben, die es – zumindest nach dem Wortlaut des § 242 BGB – überdies auf die „Bewirkung der Leistung“ beschränkt.

Abermals ist insoweit eine internationale Entwicklung zu beobachten. Sie berücksichtigt insbesondere, dass auf Dauer berechnete individuelle Ver­ tragsverhältnisse einen starken sozialen Nebeneffekt haben, der sich nicht nur auf die Rechte und Pflichten der Vertragsparteien auswirkt, sondern auch auf die Belange der sonst vom Vertragsverhältnis Betroffenen, u. U. selbst auf die Allgemeinheit. Rechtsprechung und Lehre haben daraus schon seit 187  Einkommen können von Selbstständigen, Teilhabern von Personengesellschaf­ ten und geschäftsführenden Gesellschaftern kleiner Kapitalgesellschaften als Unter­ nehmensgewinne deklariert werden, sodass körperschaftlich besteuerte Unternehmen u. U. zu inländischen Steueroasen werden.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

Längerem vertragliche Nebenpflichten (zur Auskunft, Aufklärung und Mit­ wirkung) entwickelt, die sich jedoch nur auf die am Vertrag unmittelbar Be­ teiligten oder vom Vertrag ausdrücklich Begünstigten erstreckten: Pflichten zur Vorbereitung, Durchführung und Absicherung der vertraglichen Leistun­ gen. Neuestens sind jedoch – teilweise mit gesetzlicher Unterstützung (für das deutsche Recht: § 241 Abs. 2 BGB) – weitere Schutzpflichten entstanden, deren Umfang sich aus den sozialen Umständen des Einzelfalles, insbeson­ dere aus dem Rechtscharakter und aus der Dauer der eingegangenen Ver­ pflichtungen, aber auch aus der Intensität ihrer wirtschaftlichen Auswirkung auf andere Personen, ergibt. Damit ist einer wirtschaftswissenschaft­ lichen Analyse der Weg geebnet worden, aus der sich vielleicht eine sozialpoliti­ sche Tendenz herausbilden wird, welche die im deutschen (und kontinental­ euro­päischen) Recht herrschende Willensjurisprudenz modifiziert, die nur die Parteiinteressen berücksichtigt. 3. Entwicklungstendenzen innerhalb des prozessualen Rechts Die vorstehenden Ausführungen haben sich fast ausschließlich mit rechtlichen Normenordnungen befasst. Es ist jedoch ein Kennzeichen gerade des modernen Rechts, dass es sich mit der Konkurrenz auch anderer Normenord­ nungen auseinandersetzen muss: nämlich (a) mit transsozialen Ordnungen (z. B. der Kirchen), die in die staatlichen Ordnungen integriert sind, aber ihre (i. d. R. unbestrittene) Legitimität nicht von der Staatsmacht herleiten, (b) mit traditionellen (gewohnheitsrechlichen) Ordnungen (z. B. indigener Völker), deren Legitimität das nationalstaatliche Recht zwar weitgehend anerkennt, aber in die staatliche Ordnung nicht voll integriert, und (c) mit ‚Rechts‘­ ordnungen gewalttätiger Gruppen (z. B. gangs in den sogen. failed States), die dem staatlichen Recht Widerstand zu leisten versuchen und damit u. U. einen Teilerfolg haben. Es besteht also eine insgesamt komplexe, mutmaß­ lich ebenfalls evolutionäre Situation, innerhalb der das staatliche Recht die zwar wichtigste ordnende Kraft ist, aber vollkommene Rechtssicherheit nur noch begrenzt vermitteln kann. Folgende Fragen sind u. a. zu beantworten: Nimmt heute noch ein einzelnes Nor­ mensystem (quasi als ‚Leitrecht‘) die Spitze ein und ist es für das menschliche Ver­ halten bestimmend? Oder besteht ein Normenpluralismus,188 der jedem Normadressa­ ten die Wahl lässt, nach welchem Normensystem er sein Verhalten ausrichtet? Oder bewegen wir uns, um eine dritte Alternative aufzuzeigen, zwar zentral in einem Le­ bensbereich, worin noch immer ein einheitliches Recht unsere alltäglichen Verrich­ tungen leitet, um den herum sich aber inzwischen (u. U. weiträumige) Gebiete auftun, 188  Zu diesem Begriff und zur Diskussion der mit ihm zusammenhängenden Pro­ bleme vgl. E.-J. Lampe (1995). Ausführliche Literaturangaben bei W. Fikentscher (2016), p. 37 in Fn. 82.



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die durch eine fluktuierende Mischung aus Tradition, Willkür und Macht gekenn­ zeichnet sind und in denen anstelle von fraglosem Gehorsam denkender Gehorsam, gewissenhaftes Entscheiden und aufmerksames Handeln geschuldet werden?

Entwicklungsgeschichtlich und soziologisch verbietet es sich, eine Viel­ zahl nebeneinander geltender rechtlicher, rechtsähnlicher und pseudo-recht­ licher Normen einfach als normative Pluralität hinzunehmen. Denn alles Lebendige strebt nach Ordnung, und als geordnet lässt sich ein soziales System nur dann begreifen, wenn es einen Zentralbereich besitzt, der von einem Korpus unangreifbarer Normen geschützt wird, und um den herum sich Randbereiche erstrecken, worin ein (i. d. R. nationalstaatliches) Leitrecht seine Macht mit anderen Normenordnungen teilen muss. Freilich bedarf es dann erstens der Abgrenzung des rechtlich einheitlich gefestigten Zentralbe­ reichs von seinen uneinheitlichen, weil einem normativen Pluralismus geöff­ neten, Randbereichen, und zweitens der Antwort auf die Frage, wie in diesen Randbereichen der Pluralismus an normativen Möglichkeiten prozessual entweder durch Metanormen oder durch sonstige verfahrensrechtliche Mittel verengt werden kann, um dem drohenden Chaos reiner Beliebigkeit zu ent­ gehen. Vor allem dieser letztgenannten Aufgabe werde ich im Folgenden nachgehen (unten a). Gleichwohl kann die Herstellung von größtmöglicher Rechtssicherheit für mich nur ein vordergründiges Ziel sein. Denn jede Rechtssicherheit muss gegenüber der Gefahr verteidigt werden, in Unrechtssicherheit umzuschlagen. Deshalb muss ich mich anschließend der Frage stellen, wie es heute gelingen kann, unter den mehreren Wegen, die zur Si­ cherheit führen, den rechten zu finden (unten b). a) Aufgabe: Herstellung von Rechtssicherheit im staatlichen Bereich Zunächst werde ich also die Grenzen eines rechtlichen Zentralbereichs bestimmen, worin das nationale Recht sowohl über das politische als auch das soziale Leben herrscht (unten aa). Innerhalb seiner Randbereiche kommt es zu Konflikten, wenn eine andere nationale oder internationale Normenord­ nung darin einzudringen versucht. Für die Auflösung der Konflikte wird man dann dem nationalen Recht die Zuständigkeit nicht versagen können (unten bb). Die Konkurrenz von nationalem mit internationalem Recht ist dagegen schwerer aufzulösen, da nicht nur eine zuständige Instanz, sondern auch eine die Konkurrenz lösende Metanorm gefunden werden muss (unten cc).

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

aa) Die Abgrenzung des rechtssicheren Zentralbereichs von den Randbereichen Sofern es rechtliche Sicherheit heute überhaupt noch gibt, finden wir sie vor allem im Zentralbereich nationalstaatlicher Rechtsordnungen. Dieser Bereich lässt sich denn auch von seinen Randbereichen relativ sicher abgren­ zen: Zu ihm gehören die nationale Staatsverfassung sowie die Normen des nationalen ordre public. Nationales Recht behauptet sich innerhalb dieses Bereichs aufgrund der nationalstaatlichen Souveränität gegenüber Normen sowohl anderer Nationalstaaten als auch nichtstaatlicher Institutionen.189 Es ist allerdings eingebunden in die völkerrechtliche Ordnung und reagiert hier­ auf i. d. R. offen, indem es etwa den Normen zum Schutz globaler Menschen­ rechte und einer intakten Umwelt in den Zentralbereich Eingang gewährt.190 Die Masse der übrigen nationalen Rechtsnormen besetzt dagegen Rand­ bereiche, wo sie der Konkurrenz mit nicht-nationalstaat­lichem Recht ausge­ setzt ist – und zwar mal mehr, mal weniger je nachdem, wie nahe sie dem Zen­tralbereich steht. Innerhalb des nicht-nationalstaatlichen Rechts sind ebenfalls Kernbereiche überstaatlicher (supranationaler) und zwischenstaatlicher (internationaler) Normen von ihren Randbereichen zu unterscheiden. Soweit beispielsweise nicht-nationalstaatliche Institutionen eine ausformulierte Verfassung besitzen (wie etwa die EU und die UNO), bilden deren Normen und die ihres suprabzw. interna­tionalen ordre public den Zentralbereich. Doch ist es schwieriger als innerhalb von Nationalstaaten, die Normen des internationalen ordre public von denen der Randbereiche abzugrenzen.

189  Der nationalen Staatsverfassung kommt aufgrund der inneren Souveränität eine Alleinstellung zu, weshalb keine Konkurrenz mit den einfachen Normen des nationa­ len Rechts entstehen kann, und es kommt ihnen aufgrund der äußeren Souveränität eine Alleinstellung zu, weshalb die Normen fremdstaatlichen Rechts nicht konkurrie­ ren können. Dennoch lassen sich innerhalb der Staatsverfassungen zwei Bereiche unterscheiden: ein innerer sogen. ‚Ewigkeitsbereich‘ und ein der Abänderung und damit der Konkurrenz beschränkt zugänglicher äußerer Bereich. Da Änderungen der Verfassung jedoch auch im äußeren Bereich gegenüber einfachen Gesetzesänderun­ gen zumindest erschwert sind, kann man die Verfassung insgesamt als Zentralbereich des nationalen Rechts ansehen, wenn man sich der Einschränkung ihrer Unabänder­ barkeit außerhalb des ‚Ewigkeitsbereichs‘ bewusst bleibt. 190  Zur Globalisierungstendenz vgl. oben 1 b, zur Reaktion auf Menschenrechts­ verletzungen und Umweltschädigungen vgl. unten 5 b ε und 6 b δ.



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bb) Die Herstellung von Rechtssicherheit in den Randbereichen191 Während der Zentralbereich des nationalen Rechts sich nur gegenüber Einflüssen aus dem Völkerrecht offen zeigt, stehen die Randbereiche in stän­ diger Konkurrenz mit systemfremden Normen, die von außen eindringen wollen. In der Regel haben dann Metanormen die Aufgabe, über deren Zu­ gang zu entscheiden; in Ausnahmefällen verbleibt das aber auch Aufgabe der Gerichte. (α) Konflikte192 zwischen den hoheitlichen Normen eines Nationalstaats werden durch Metanormen (Kollisionsnormen)193 beseitigt, indem diese zwi­ schen ihnen ein Rang- bzw. Stufenverhältnis herstellen. Ein solches Verhält­ nis ergab sich einst zwischen personalistisch organisierten Fürstenstaaten als Folge eines hierarchischen Machtgefüges: Der mächtigere Herrscher stützte oder stürzte die Normen des schwächeren. Die Legitimation dazu erhielt der mächtigste Herrscher vom Herrscher im Himmel, der nächst mächtige vom mächtigsten, usf. In den institutionalistisch organisierten Rechtsstaaten ist das Verhältnis zwischen Macht und Normen umgekehrt: Die Normen bilden den Grund für ein hierarchisches Machtgefüge. Der politische Wille des Vol­ kes legitimiert als oberste Norm die Verfassung des Staates und begründet damit den Rechtsstaat;194 die Verfassung wiederum legitimiert die Gesetzge­ bung des Staates, die Gesetze des Staates legitimieren die Behörden zum Erlass von Verordnungen, die Verordnungen der Behörden legitimieren die Beamten zu hoheitlichen Verfügungen. Kontinuität zwischen einst und jetzt besteht trotz umgekehrtem Ansatz insoweit, als potestas und auctoritas sich

191  Die folgenden Ausführungen sind auf die kontinentaleuropäischen Rechtsver­ hältnisse bezogen, gelten aber cum grano salis entsprechend auch für das angloamerikanische Präzedenzienrecht. 192  Im Folgenden werden als ‚Normenkonflikte‘ bzw. ‚konfligierende Normen‘ nur Normen bezeichnet, die konfligierende Rechtsfolgen herbeiführen. Führen Normen dagegen auf unterschiedlichen Wegen zum selben Ergebnis, liegt ein nur scheinbarer Normenkonflikt vor. 193  Metanormen bzw. Kollisionsnormen enthalten keine materiellen Regelungen, sondern verweisen lediglich auf ein materielles Recht, das in casu anwendbar sein soll. 194  Fälschlich bestimmt Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Seine Gewalt muss der Staat selber organisieren; das Volk ermächtigt ihn lediglich dazu. Dies sieht richtig BVerfGE 83 60, 71 f.: Der Grundsatz der Volkssou­ veränität fordert, dass das Volk einen effektiven Einfluss auf die Ausübung (!) der Staatsgewalt durch die Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung haben muss. Wer aus dem Prinzip der Volkssouveränität dagegen die Forderung nach einer unmittelbaren Herrschaft des Volkes ableitet, für den sind re­ präsentative Demokratien „undemokratisch“, weil es von dieser Prämisse aus keine dem Volk übergeordnete Staatsgewalt geben darf.

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nach wie vor bedingen.195 Nur war das Problem der Legitimation einst leich­ ter zu lösen, weil die Legitimation der Macht des Herrschers „von Gottes Gnaden“ nicht hinterfragt werden konnte. Anders steht es mit dem politi­ schen Willen des Volkes: Dass dieser eine „verfassunggebende Gewalt“ besitzt,196 wird in Deutschland zwar durch ein (unwiderlegbar vermutetes) „Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen“ legitimiert; dass diese Gewalt anschließend „in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe“ ausgeübt wird (für Deutschland: Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG), gilt allerdings nur noch für die Verlautbarung des Volkswillens. Den Willen zusätzlich legitimieren müssen Metanormen, welche seine Macht aus der Zahl der Wahl- bzw. Abstimmungsberechtigten (bzw. der Anzahl ihrer Stimmen) herleiten und die Macht überdies mit der (widerlegbaren) Vermu­ tung inhaltlicher Richtigkeit verknüpfen: Wer die Wahl hat, darf (bis zum Beweis des Gegenteils) das Recht richten. In Bundesstaaten stößt diese ein­ fache Rechnung allerdings an ihre Grenze, weil die Provinzen (in Deutsch­ land: die Länder) und die Kommunen sich zusätzlich vor Übergriffen des mächtigeren Gesamtstaates schützen dürfen. Die näheren Bestimmungen dafür sind in der Verfassung enthalten. Diese ver­ pflichtet in Deutschland Bund, Länder und Kommunen, ihre Normen zwecks Vermei­ dung von Widersprüchen aufeinander abzustimmen.197 Bei dennoch auftretenden Kollisionen bricht alsdann zwar Bundesrecht Landesrecht (Art. 31 GG) und Landes­ recht wiederum kommunales Recht. Doch sind in gewissen Bereichen Bund und Länder ‚konkurrierend‘ zur Gesetzgebung befugt (Art. 74 GG). Und das bedeutet: Die Länder haben solange die Kompetenz zur Gesetzgebung, wie der Bund von sei­ ner Kompetenz keinen Gebrauch gemacht hat (Art. 72 I GG); der Bund seinerseits hat die Kompetenz, wenn „die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaat­ lichen Interesse“ liegt (Art. 72 II GG). Überschreitet der Bund diese Grenze, dann bricht Landesrecht Bundesrecht – jedenfalls sofern ein Land dies vor dem Bundesver­ fassungsgericht mit Erfolg geltend macht (Art. 93 I Nr. 2a GG). 195  Zu diesem Verhältnis zwischen potestas und auctoritas vgl. H. Krüger (1966), S.  840 ff. 196  Dass das Deutsche Volk seine Verfassung durch keinerlei plebiszitären Mit­ wirkungsakt sanktioniert hat, hindert angeblich nicht, es als Urheber seiner Verfas­ sung in Anspruch zu nehmen. Sein seinerzeit offenbar durch teils theologische, teils zivile Religiosität verklärter mutmaßlicher Wille ersetzt bis heute seinen wirklichen Willen, weil seinerzeit das Grundgesetz zwar noch unter der Ägide der (westlichen) Besatzungsmächte geschaffen wurde, welche die Staatsgewalt nach der bedingungslo­ sen Kapitulation des Deutschen Reiches in Händen hielten, es inzwischen von der Bevölkerung aber (wenngleich nur passiv) akzeptiert worden ist. 197  BVerfGE 98 106, 118 f.: „Das Rechtsstaatsprinzip verpflichtet alle rechtsetzen­ den Organe des Bundes und der Länder, die Regelungen jeweils so aufeinander abzu­ stimmen, dass den Normadressaten nicht gegenläufige Regelungen erreichen, die die Rechtsordnung widersprüchlich machen.“



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Metanormen wie die dargestellten regeln außer dem Verhältnis zwischen Bundesrecht, Landesrecht und Kommunalrecht auch das Verhältnis zwischen Gesetzesnormen und Verordnungsnormen (‚Gesetzesrecht bricht Verord­ nungsrecht‘) sowie zwischen abstrakten und konkreten Normen (‚Gesetzesund Verordnungsnormen stehen über den Entscheidungsnormen von Gerich­ ten und Verwaltungsbehörden‘). Danach tritt uns das gesamte Normengefüge eines Staates als ein einziger großer „Stufenbau“ entgegen, dessen hierarchi­ sche Ausgestaltung durch die Metanorm des Art. 20 Abs. 3 GG begründet und geschützt wird:198 Normen, die mit Normen einer höheren Stufe kolli­ dieren, sind nichtig. Allerdings bedeutet diese Nichtigkeit nicht die vollständige Unbeachtlichkeit der Normen. Aus Gründen der Rechtssicherheit setzt sich eine Rangfolge vielmehr erst dann durch, wenn ein Gericht die niederrangigen Normen für nichtig erklärt. Auch ohne Nichtigkeitserklärung sind lediglich diejenigen Normen nichtig, die in einem so schwerwiegenden Widerspruch zu den „Wertvorstellungen einer Gesellschaft“ (worin erstmals die im Übrigen vermisste soziale Rechtsordnung zum Vorschein kommt)199 stehen, dass ihre Rechtsgeltung unerträglich wäre.200

Keine Metanormen regeln dagegen den Fall, dass auf derselben Rangstufe ältere und jüngere Normen miteinander kollidieren. Insoweit hat die An­ schauung gewechselt: Während früher das ältere Gesetz als Recht der Vor­ fahren die größere Dignität beanspruchte, gilt heute in den meisten Rechts­ ordnungen der Satz „Lex posterior derogat legi priori“: Das jüngere Gesetz hat Vorrang vor dem älteren und kann es derart beseitigen, dass künftig al­ lenfalls noch Vertrauensinteressen auf den Bestand des älteren Gesetzes ge­ schützt werden. Der moderne Fortschrittsoptimismus hat sich also durchge­ setzt! (β) Konflikte zwischen privaten Normen. Metanormen stehen auch bereit, wenn es gilt, Konflikte zwischen privatvertraglichen Normen um der Rechts­ sicherheit willen zu lösen. Besteht beispielsweise eine Korporation (Gesell­ schaft oder Verband) aus mehreren Einheiten, dann regelt eine Metanorm die Verhältnisse der darin verbundenen Einheiten derart, dass das Recht der Korporation dem ihrer Teilgesellschaften und das Recht der Teilgesellschaf­ ten den Statuten der lokalen Betriebsstätten vorgeht (vgl. etwa § 308 AktG). Ferner kann eine Korporation die Rechtsverhältnisse auch zu ihren Kunden mittels Allgemeiner Geschäftsbedingungen ordnen; doch können die Kunden

198  Art. 20 Abs. 3 GG lautet: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.“ 199  Vgl. oben 1 a β. 200  H. J. Knack/H.-G. Henneke (2010), Rn. 9, 14, 28 ff. zu § 44 VwVfG.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

kraft einer Metanorm ihrerseits Schutz erwarten, wenn die Geschäftsbedin­ gungen ihr berechtigtes Vertrauen verletzen.201 Die Begründung liegt darin, dass die Kunden als Staatsbürger jeweils eine ‚privat­ autonome‘ Rechtssphäre haben, die sie zur Ordnung ihrer Verhältnisse nach eigenem Ermessen berechtigt. Die aktive Seite ihrer Autonomie endet dann zwar am Organisa­ tionsrecht größerer sozialer Einheiten, beispielsweise also an den Allgemeinen Ge­ schäftsbedingungen einer Korporation; die passive Seite bleibt aber als Schutzrecht bestehen. Die Parallelen zu den Regelungen im öffentlichen Recht sind offensichtlich. Immanent gebunden ist jeder Bürger allerdings an sein eigenes rechtliches Verhalten, weil er andernfalls seine Einheit als rechtliches ‚Individuum‘ (als etwas ‚Ungeteiltes‘) zerstören würde. Es gelten – abermals kraft einer Metanorm, aber diesmal anders als im öffentlichen Recht – die Rechtsfolgen aus seinem zeitlich früheren Verhalten: Das non valet gilt sowohl der protestatio facto contraria als auch dem venire contra factum proprium.202

Fehlt es zwischen Teilnehmern am privaten Rechtsverkehr an einem Ver­ hältnis der Über- und Unterordnung, dann gibt es keine Normen, die den Rang ihrer Rechtsansprüche ordnen. Insbesondere hat weder der Erfüllungs­ anspruch aus einem späteren Vertrag den Vorrang gegenüber einem früher abgeschlossenen noch umgekehrt der aus einem früheren gegenüber einem später abgeschlossenen.203 (γ) Konflikte zwischen hoheitlichen und privaten Normen. Metanormen müssen ferner bereitstehen, um Konflikte zwischen hoheitlichen und privat­ vertraglichen Normen aufzulösen. In Deutschland gilt grundsätzlich der Vor­ rang des staatlichen Rechts.204 Dennoch besteht der Vorrang unbegrenzt nur für denjenigen Teil des hoheitlichen Rechts, der staatlich erzwingbar ist. Ge­ genüber dispositivem Gesetzesrecht und i. d. R. auch gegenüber staatlich aner­ kanntem Gewohnheitsrecht gewinnt dagegen die Privatautonomie die Ober­ hand. Dasselbe gilt für werdendes Gewohnheitsrecht, das sich gegenüber dem Gesetzesrecht solange durchsetzt, bis der Staat eingreift und bezeugt, dass er nicht gewillt ist, sich dem Recht schaffenden Willen des Volkes zu beugen. Dagegen bröckelt die Geltung des erzwingbaren hoheitlichen Rechts, wenn es gegen transnational ausgehandelte Normen verstößt (der Verfall der national­ staatlichen Souveränität und Autorität macht sich bemerkbar) oder wenn es

201  Näher

geregelt ist dies in den §§ 305 ff. BGB. dazu E.-J. Lampe (1979), S. 59 f., 126 ff. Beide Verbote gelten auch im Völkerrecht zwischen den Staaten, die insofern als Individuen angesehen werden. 203  Keine Parallele also zur lex posterior. Das verschuldete Unvermögen des Schuldners, seinen früher begründeten Verpflichtungen nachzukommen, macht ihn lediglich schadensersatzpflichtig. 204  Vgl. § 134 BGB: „Ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot ver­ stößt, ist nichtig, wenn sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt.“ 202  Vgl.



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institutionellen Grundsätzen des Privatrechts, etwa denen des freien Wettbe­ werbs, zuwiderläuft.205 (δ) Konflikte zwischen nationalen und transsozialen (multinationalen) Normen. Wir betreten insoweit rechtliches Neuland, denn die rechtliche Wür­ digung folgender Fälle ist keineswegs abgeklärt,206 ihre Gültigkeit kann folglich nur behauptet werden: (1) Ist ein Staat an einem multinationalen Unternehmen beteiligt, dessen Geschäftstätigkeit seinen eigenen nationalen Normen widerspricht, dann muss er dies entweder umgehend abstellen oder seine Beteiligung beenden, und zwar selbst dann, wenn die Geschäftstätig­ keit nach transsozialem Recht nicht zu beanstanden ist.207 – (2) Dasselbe gilt, wenn ein Staat sich an einem multi­nationalen Unternehmen beteiligt, dessen Geschäftstätigkeit völkerrechtlichen Normen widerspricht.208 – (3) Beteiligt sich ein Staat an einem multinationalen Unternehmen, dessen Geschäftstätig­ keit gegen transsoziales Recht verstößt, ohne dass er selbst hoheitliches Recht verletzt, braucht das den Staat von einer Fortsetzung seiner Beteili­ gung dagegen nicht abzuhalten. Die transsoziale Rechtswidrigkeit bleibt zwar bestehen, weil auch eine Berufung auf die staatliche Mitwirkung daran nichts ändert.209 Doch kann es für den Staat ein überragendes Interesse an der Beteiligung geben, das sein Verhalten innenpolitisch rechtfertigt. – (4) Beteiligt sich ein Staat freilich an einem multinationalen Unternehmen, das gegen internationales Recht in besonders gravierender Weise verstößt (etwa gegen Vereinbarungen mit überregionaler Bedeutung zum Schutze der Umwelt), dann kann u. a. die OECD sein Verhalten öffentlich tadeln (mittels naming and shaming).210 Eine Umweltorganisation kann das auch, nur wird 205  Nicht nur die Beteiligung der öffentlichen Hand an einem privaten Unterneh­ men, auch ihr Ausmaß ist folglich rechtfertigungsbedürftig, wenn sie auf die wettbe­ werbliche Stellung des Unternehmens Einfluss ausübt. Zu der (nach Art. 86 und 295 EG-Vertrag zulässigen) Beteiligung des Landes Niedersachsen an der VolkswagenAG vgl. A. Kömpf (2010). 206  U. Haltern (2014), S. 623. 207  Das ist beispielsweise der Fall, wenn der deutsche Staat sich entgegen § 21 des deutschen Kriegswaffenkontrollgesetzes an einem multinationalen Unternehmen betei­ ligt, das (sei es auch nur in einem seiner Subunternehmen) atomare, biologische oder chemische Waffen produziert. 208  Das ist beispielsweise der Fall, wenn der Staat sich an einem Unternehmen beteiligt, das Bodenschätze unter Missachtung von Belangen der indigenen Bevölke­ rung ausbeutet. 209  Nur ausnahmsweise kann entweder ein vertragswidriges Verhalten gerechtfer­ tigt sein, weil das Unternehmen von jetzt an überwiegend hoheitlicher Kontrolle un­ terliegt, oder ein vertragsgemäßes Verhalten rechtswidrig werden, weil das Unterneh­ men nunmehr als staatlich zu qualifizieren ist und der Staat die vertraglich zugesi­ cherte Ausfuhr bestimmter Waren verboten hatte. 210  Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Economic Co-operation and Development, OECD) kann keine rechtsver­

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

ihr Tadel nicht dieselbe Wirkung haben. Der an der Gesellschaft beteiligte Staat wird sich dann möglicherweise da­rauf berufen, dass er auf die Unter­ nehmenspolitik keinen Einfluss habe, und das Unternehmen wird argumen­ tieren, dass es dem beteiligten Staat gegenüber zur Erzielung einer Rendite verpflichtet sei, die es aber ohne Verletzung der Umweltschutznormen nicht erzielen kann. Metanormen zur Lösung des letztgenannten Konflikts gibt es nicht, weil der Global Compact der UN zur Einhaltung umweltrechtlicher Standards nicht rechtsver­ bindlich ist, sondern lediglich eine Aufforderung an die ihm beitretenden international tätigen Unternehmen enthält, die darin genannten Werte (u. a. humane und soziale Rechte) zu Richtlinien ihrer Politik zu machen. Folgen Unternehmen der Aufforde­ rung nicht, schädigt das lediglich ihren Ruf – und ein durch die Staatsbeteiligung gesichertes Unternehmen kann das zwar bedauern, aber hinnehmen, wenn ihm die Staatsbeteiligung wichtiger ist.

(ε) Konflikte zwischen hoheitlichen und sittlichen Normen. Die hier einzu­ ordnenden Normenkonkurrenzen sind zwar nicht neu, haben aber durch ihre Internationalisierung eine neue Dimension erreicht. Was zunächst das Ver­ hältnis zwischen Recht und Sitte anbelangt, wird es weltweit unterschiedlich scharf beachtet. Während einige Staaten eine Differenz zwischen beiden als lediglich graduell vorhanden und daher unterschiedlich beachtenswert ansehen,211 gilt in den meisten Staaten, dass nationale Sittennormen gelten­ dem Recht nur dann gleichstehen, wenn entweder staatliche Gesetze auf sie Bezug nehmen212 oder wenn sie aufgrund lange andauernder Übung und Überzeugung von ihrer Verbindlichkeit (sogen. opinio iuris) zum Gewohn­ heitsrecht erstarkt sind. Im Übrigen sind sie nur bei der Auslegung staatlicher Gesetze zu berücksichtigen. Für internationale Sittennormen gilt entspre­ chend, dass sie internationalem Recht nur gleichstehen, wenn sie entweder in internationale Gesetze integriert sind oder wenn sie als internationales Ge­ wohnheitsrecht anerkannt sind und von der Definition des Art. 38 I lit. b bindlichen Regelungen erlassen, sondern lediglich Empfehlungen für ein verantwor­ tungsvolles Geschäftsgebaren aussprechen (OECD Guidelines for Multinational Enterprises). Verstöße gegen die Empfehlungen kann sie nicht verhindern, sondern nur öffentlich machen. Der befürchtete Schaden für das Renommee des angepranger­ ten Unternehmens kann dann freilich erheblich sein, und die Furcht davor kann eine Verhaltensänderung bewirken. 211  In Indien werden viele religiöse Bräuche als Recht anerkannt, beispielsweise die hinduistischen Heiratszeremonien durch den Hindu Marriage Act. 212  In Deutschland werden Sittennormen in die Rechtsordnung einbezogen: in § 138 BGB, wonach ein gegen die guten Sitten verstoßendes Rechtsgeschäft nichtig ist; in § 242 BGB, wonach Art und Weise einer geschuldeten Leistung von der Ver­ kehrssitte mitbestimmt werden; in § 346 HGB, wonach im kaufmännischen Handels­ verkehr die „geltenden Gewohnheiten und Gebräuche“ eine entsprechende Wirkung haben; und in § 228 StGB, wonach eine gegen die „guten Sitten“ verstoßende Kör­ perverletzung trotz Einwilligung des Verletzten zur Strafbarkeit führt.



K. Entwicklungstendenzen im neuzeitlichen Recht 761

IGH-Statut umfasst werden („international custom, as evidence of a general practice accepted as law“). Im Übrigen sind auch sie nur bei der Auslegung des internationalen Rechts zu berücksichtigen. Resolutionen der UN, an denen die gesamte oder ein überwiegender Teil der Staa­ tengemeinschaft beteiligt war, weisen lediglich auf ein Entstehen von Völkergewohn­ heitsrecht hin.213 Dagegen bringt die inhaltsgleiche Wiederholung solcher Resolutio­ nen die Überzeugung der Staatengemeinschaft zum Ausdruck, dass ihr Inhalt bereits geltendes Gewohnheitsrecht ist.214

Besonderheiten gelten – neuerdings weltweit – für indigene Sittenordnungen, in denen aus Gründen der Tradition sich keine opinio iuris hat heraus­ bilden können. Aus rechtspolitischen Gründen will man sie dann wie Ge­ wohnheitsrecht behandeln.215 Doch muss öfters der Wille für die Tat stehen, beispielsweise wenn die indigene Bevölkerung ihr zum Wohnungsbau ver­ wendetes Land als den Göttern oder den Ahnen ‚gehörend‘ betrachtet hatte. Denn selbst wenn man bereit ist, diese Zuweisung als Eigentum begründend anzusehen, ist es schwierig, die irdischen Subjekte dafür auszumachen – de­ nen man dann zum Ausgleich für ihre ‚Enteignung‘ (d. h. für den ‚Landraub‘ durch weiße Siedler) eine Entschädigung zu zahlen hat.216 Noch schwieriger ist es, eine Eigentumsanalogie zur ‚Nutzungsberechtigung‘ für (noch) unkultiviertes Land oder für das ‚Revier‘ nomadisierender Horden herzustel­ len, um die Okkupation des Landes durch Kolonisten oder durch den Staat zu verhin­ dern.217 Unsere gesetzlichen Normen zur Aneignung von Grundstücken (etwa § 928 Abs. 2 BGB) passen nicht einmal per analogiam.218 Auch das Problem der Ent­ schädigung für ‚geraubtes Land‘ lässt sich nur aufgrund von Billigkeitserwägungen (ex aequo et bono) lösen. Doch auf welcher Ebene eine Lösung auch immer gefunden 213  Völkergewohnheitsrecht entsteht, wenn eine Staatenpraxis sich als „extensive and virtually uniform“ erweist und von der Überzeugung begleitet wird, dass sie völ­ kerrechtlich geboten sei – so IGH, North Sea Continental Shelf Cases (Germany vs. Denmark; Germany vs. Netherlands), ICJ Rep. 1969, 1, no. 43. 214  Vgl. IGH, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua, ICJ Rep. 1986, 14, no. 188; Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, ICP Rep. 1996, 226, no. 70. Zur Problematik des Völkergewohnheitsrechts als ius cogens vgl. oben 1 c β γγ. 215  Beispielsweise genießen in Canada die dem Gewohnheitsrecht nahestehenden Sitten der Ureinwohner staatlichen Schutz. 216  Vgl. dazu G. Teubner/P. Korth (2009), S. 154 ff. m. Nachw. 217  In West Sumatra (Indonesien) sahen die Holländer alle Ländereien, auf denen keine dem holländischen Eigentumsbegriff entsprechende Rechte ruhten, vor allem also die weder land- noch forstwirtschaftlich genutzten Flächen der Dorfrepubliken, als „wüste Gebiete“ („woeste gronden“) an und erklärten sie zu Staatsdomänen. Dazu F. von Benda-Beckmann (2009), S. 179. 218  Die freie Okkupation eines Grundstücks ist nach deutschem Recht zulässig, wenn der Landesfiskus auf sein primär bestehendes Aneignungsrecht an einem aufge­ gebenen Grundstück verzichtet hat (BGHZ 108 278 ff., 282).

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wird – umgesetzt werden kann sie anschließend nur mit einer guten Prise Pragma­ tismus.

Weiteres Konfliktpotential ergibt sich, falls die Begehrlichkeiten der Kolo­ nialmächte von einst sich nicht nur auf das Land der Eingeborenen, sondern auch auf deren immaterielle Güter (z. B. das traditionelle Wissen) bezogen, die sie als res extra commercium (und folglich extra ius) eingestuft hatten. Aufgrund veränderter Anschauung wird heute anerkannt, dass die entschädi­ gungslose Aneignung auch insoweit ein Rechtsbruch war; ob und wie dieser allerdings rückwirkend auszugleichen sei, ist bisher offen geblieben. Inzwischen weitgehend bedeutungslos geworden ist dagegen die Konkurrenz zwi­ schen dem mutterländischen Recht und dem Gewohnheitsrecht der eingeborenen Bevölkerung in den ehemaligen Kolonien. Die meisten Kolonialstaaten hatten ihr Recht den Eingeborenen aufoktroyiert, um dort eine nach europäischen Maßstäben rechtsstaatliche Verwaltung zu ermöglichen. Nach dem Ende der Kolonialzeit blieb das Recht des jeweiligen Kolonialstaats meistens neben dem Gewohnheitsrecht der Eingeborenen bestehen, und der nun souverän gewordene ehemalige Kolonialstaat stellte seiner Bevölkerung anheim, ob sie ihre Streitigkeiten lieber nach ihrem eige­ nen oder nach dem Recht der ehemaligen Kolonialmacht entscheiden lassen will – was freilich wenig Bedeutung hatte, weil die Bevölkerung das Recht ihrer ehemaligen Kolonialmacht meistens nicht kannte.219 Allgemein bekannt wurde das Recht eines Kolonialstaats regelmäßig erst dann, wenn es einem Anspruch zum Durchbruch ver­ half, der dem Eingeborenenrecht fremd war: etwa auf die Bezahlung geleisteter Ar­ beit, auf eine menschenwürdige Unterkunft an der Arbeitsstelle, auf eine Baugeneh­ migung o.dgl. In diesem Fall verbreitete sich die Nachricht davon in Windeseile, und die Eingeborenengerichte, die bisher weniger geboten hatten als die staatlichen Ge­ richte, mussten ihre Rechtsprechung schleunig ändern, um bei der Wahl des Gerichts­ stands nicht ins Hintertreffen zu geraten.

Zusatz: Im Gegensatz zu den ‚guten Sitten‘ haben Sitten der eingeborenen Völker, die nach der Auffassung aller zivilisierten Völker ‚schlechte Sitten‘ waren, selbst dann, wenn sie zum seit Alters tradierten Eingeborenenrecht gehörten, nicht überdauert. Soweit nicht die Kolonialmächte sie bereits ge­ tilgt hatten, sind sie fast immer von den postkolonialen Gesetzgebungsorga­ nen derogiert worden.220 Beispiele: Kopfjagden, wie sie bei einigen Völkern Südostasiens und Melanesiens Sitte waren, Witwenverbrennungen, die wir u. a. aus Indien als brāhmanische Sitte kennen, sowie die bei verschiedenen nordamerikanischen Indianerstämmen übliche 219  Anders verhielt es sich mit Besuchern. Sie wurden beispielsweise bei der Ein­ reise in die Neuen Hebriden über die dort gemeinsam geltenden (englischen, franzö­ sischen, kondominalen und indigenen) Rechte belehrt und mussten ggf. ankreuzen, welches Recht für sie gelten solle. 220  Sie werden auch heute von der internationalen Gemeinschaft nicht anerkannt, wenn sie den Menschenrechtsstandards „zivilisierter Völker“ widersprechen oder „nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ strafbare Handlungen abdecken (Art. 7 II EMRK).



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Anthropophagie hatten bereits die Kolonialstaaten verboten, weil sie nicht nur ihrem mutterländischen Recht, sondern auch den ‚guten Sitten‘ aller zivilisierten Völker widersprachen. Sie wurden auch nach dem Ende der Kolonialzeit nicht wieder zuge­ lassen.

(ζ) Konflikte zwischen hoheitlichen und religiösen Normen. Diese Kon­ flikte gehören zu den ältesten, die die Menschheit kennt. Neuzeitlich ist, dass sich die Religionszugehörigkeit einer Bevölkerung nicht mehr nach den Landesgrenzen richtet („cuius regio, eius religio“), sondern sich im Rahmen der Globalisierung mehr und mehr mischt und auch zu Konflikten zwischen den Glaubensanhängern führt, von denen dann die jeweilige Staatsmacht ebenfalls betroffen wird. Ein erstes Beispiel für den Zusammenstoß zwischen einer religiösen und einer staatlichen Macht ist der Prozess gegen Jesus von Nazareth: Auf eine Anklage der jüdischen Priester hin wurde Jesus zunächst von einem jüdischen Gerichtshof wegen Gotteslästerung zum Tode verurteilt. Um anschließend die Vollstreckung des Urteils durchzusetzen, mussten die Priester ihn allerdings noch wegen Schädigung der römi­ schen Interessen verklagen. Und erst als daraufhin der römische Präfekt Pontius Pila­ tus das Todesurteil – offenbar widerwillig – bestätigte, konnten sie es vollstrecken.221 Tausend Jahre später stießen dann vor allem die Normen der islamischen Religion mit dem Recht der europäischen und nordafrikanischen Staaten zusammen, da sie, anders als die für Christen geltenden Normen des Neuen Testaments, weltliche Gel­ tung beanspruchten.222

Fast überall, wo die Religionen für ihr Recht eine radikale weltliche Gel­ tung einforderten, wurde ihr Verhältnis zu den staatlichen Rechtsordnungen problematisch. Der Gründungsversuch einer christlichen Theokratie blieb daher auf das europäische Mittelalter beschränkt, in der Gegenwart scheiterte der Gründungsversuch einer islamischen Theokratie. Heute lassen sich die Normen der jüdischen und der christlichen Religion sowie des tibetanischen Lamaismus mit den Rechtsordnungen der i. d. R. religiös toleranten Staaten relativ problemlos vereinbaren. Schwierigere Probleme werfen dagegen nach wie vor die Normen der islamischen Religion auf. •• Von der christlichen Religion wird der Staat ausdrücklich als alleiniger Urheber des weltlichen Rechts anerkannt. Jesus‘ Aufgabe habe nur darin bestanden, den Menschen das jenseitige „Reich Gottes“ zu bringen, nicht aber ihre Rechtsverhältnisse im Diesseits zu ordnen.223 Deshalb enthielten „alle Weisungen der Bibel für die Rechts- und Sozialordnung niemals Rechtssätze, sondern immer nur Rechtsgrundsätze“.224 Das gelte insbeson­ 221  A.

Schweitzer (1933), S. 440 ff. dazu A. Nitschke (1995). 223  Matthäus 22 15 ff., 21: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ Vgl. auch Lukas 12 14: „Wer hat mich zum Richter über euch gesetzt?“ 224  E. Wolf (1948), S. 37. 222  Vgl.

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dere für den Dekalog ‒ obwohl dieser zwischen religiösen und weltlichen Geboten nicht trennt, sondern beiden Arten gleiches Gewicht zuweist.225 •• Der Islam leitet dagegen teils aus der Šarī’a (d. h. den sich aus dem Koran ergebende Normen)226, teils aus der Hadith (d. h. der Überlieferung von normsetzenden Traditionen des Propheten Mohammed) seinen Anspruch auf Geltung auch für die weltliche Gemeinschaft her. Anerkannt wird al­ lerdings, dass in den Gesetzen Allahs auch zeittypische Rechtsvorstellun­ gen ihren Platz gefunden haben.227 Für das Strafrecht ergeben sich aus ihnen Konsequenzen, deren Geltung dem ordre public und damit dem Kern der europäischen und der kulturell von Europa beeinflussten Rechts­ ordnungen widerspricht. Beispiele: Für den Ehebruch sieht die islamische Šarī’a die Steinigung vor, für Unzucht hundert Peitschenhiebe, für Apostasie (Abtrünnigkeit von der islamischen Religion) den Tod des Mannes bzw. die Gefangenschaft der Frau bis zum Wider­ ruf, für den Diebstahl das Abtrennen der rechten Hand, für den Straßenraub das Abtrennen beider Hände und Füße und für Mord den Tod entweder durch das Schwert oder durch Kreuzigung.

Das Strafrecht der Šarī’a wird heute nur noch von fundamentalistischen islamischen Regimen umgesetzt. Alle anderen Regime betrachten es als Teil der muslimischen Kultur, die der jeweiligen staatlichen Kultur einge­ passt werden muss. In Indonesien beispielsweise wird es mit dem traditio­ 225  Eine strenge Trennung zwischen göttlicher und weltlicher Gerechtigkeit wird von Teilen der theologischen Wissenschaft allerdings mit der Begründung abgelehnt, dass sie weder dem biblischen noch dem weltlichen Verständnis entspreche. Grundle­ gend dazu H. Zwingli (1523/1995), S. 172 ff. 226  Die Šarī’a ist nicht Bestandteil der islamischen Offenbarung, sondern später von islamischen Gelehrten konstruiert worden. Vgl. B. Tibi (2000), S. 87. 227  Als Beispiel sei aus Sure 2, 282 des Korans zitiert: „Ihr Gläubigen! Wenn ihr auf eine bestimmte Zeit ein Darlehen aufnehmt, dann schreibt es auf. Lasst einen Schreiber es in eurem Beisein niederschreiben, so wie es recht und billig ist und wie Allah es ihn gelehrt hat. Der Schuldner soll ihm diktieren, aber nichts davon abzwa­ cken. Und wenn er schwachsinnig oder minderjährig ist oder aus einem anderen Grunde nicht selber diktieren kann, dann soll es sein Anwalt tun. Und zieht auch zwei männliche Zeugen hinzu. Wenn es nicht zwei Männer sein können, dann sollen es ein Mann und zwei Frauen sein – zwei Frauen deshalb, damit, falls die eine sich irrt, die andere sich erinnere. Und die Zeugen sollen ihr Zeugnis nicht verweigern, wenn sie aufgefordert werden, Zeugnis abzugeben. … Auf diese Weise, so dünkt es Allah, ist am besten dafür gesorgt, dass ihr gerecht handelt und richtig Zeugnis leistet. Anders verhält es sich nur, wenn die Schuld eine jederzeit vorhandene Handelsware betrifft. Dann ist es keine Sünde, wenn ihr sie nicht aufschreibt. Aber nehmt, wenn ihr einen Kauf mündlich vereinbart, wenigstens Zeugen. … Und fürchtet Allah! Allah lehrt euch und weiß alles.“ Gegenüber dem zuvor geltenden Recht stellen manche Normen des Korans zweifellos einen Fortschritt dar – weshalb die Sure 5, 50 mit Recht fragen kann: „Wünschen sie etwa die Rechtsprechung (aus den Tagen) der Unwissenheit zurück?“



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nellen Adat-Recht verbunden, und die dortige Rechtsprechung stuft seine rigorosen Strafen auf das jeweils ortsübliche Maß herunter. •• Wie der Islam kennt an sich auch das Judentum keine Trennung zwischen religiösem und weltlichem Recht. Die jüdische Moral ist rechtsverbind­ lich – allerdings mit der Besonderheit, dass sie nicht erzwungen werden kann. Erzwingbar sind lediglich die Normen des Pentateuchs (insbes. 2. Mose 21‒23; 5. Mose 21‒25) sowie gewisse mündliche Traditionen, die in der Thora zusammengefasst sind. Sie gehen deshalb in das welt­ liche Recht ein – mit Ausnahme allerdings der strafrechtlichen Normen, weil diese (nach Angaben im Talmud228) schon vor dem Ende des zweiten jüdischen Staates ihre Geltung verloren hatten. Heute bestehen daher im Strafrecht zwischen den jüdischen und den staatlichen Normen keine Dis­ krepanzen. Dagegen sind im Zivilrecht die religiösen Normen für jüdische Bürger nach wie vor gültig229 und manchmal mit dem staatlichen Recht unvereinbar – es sei denn, dass dieses die erforderliche Toleranz gegen­ über den abweichen Normen aufbringt. Als sinnverfälschend wird dagegen die Auffassung abgelehnt, Jeremias habe ge­ genüber Babylon230 eine Loyalitätserklärung aller Juden gegenüber dem Recht ­ihrer Wohnstaaten abgegeben. Vielmehr habe der Prophet die Juden nur verpflich­ tet, das jeweilige nationale Recht so weit anzuerkennen, wie es der Verwirklichung ihrer irdischen Sittlichkeit nicht entgegensteht. Wo das nationale Recht dagegen das religiöse Leben bedrohe – wie z. B. durch ein (strafbewehrtes) Verbot, Neuge­ borene zu beschneiden –, ende die Loyalität.231

•• Dem jüdischen Recht nahe stehen die ebenfalls religiös begründeten Stammesrechte der Roma und Sinti.232 Sie lassen sich mit den Rechtsordnungen ‚westlicher‘ Staaten teilweise nicht vereinbaren und werden, soweit sie deren ordre public widersprechen, für rechtsungültig angesehen und nicht beachtet. In Deutschland lehnen jedoch die Stammesmitglieder die staatli­ che Gerichtsbarkeit in Angelegenheiten zumindest des Straf- und Fami­ lienrechts ab – meistens allerdings deshalb, weil ihnen die Folgen der In­ 228  Der Talmud ist kein Gesetzbuch, sondern eine Sammlung thematisch geordne­ ter ‚Lehrsätze‘ zur Auslegung der Thora. 229  Man begründet die Gültigkeit damit, dass das jüdische Volk im Gegensatz zum jüdischen Staat niemals untergegangen, sondern stets Partner des Bundes mit Gott geblieben sei. 230  „Müht euch um das Wohl der Stadt, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum Herrn; denn wenn’s ihr wohl ergeht, so wird es auch euch wohlsein“ (Jeremia 29 7). 231  Vgl. dazu noch unten b cc α. 232  Die Roma und Sinti sind fast über den gesamten Erdball verstreut; ihre Zahl wird auf 15 Millionen geschätzt. Vgl. zu ihnen K. Reemtsma (1996); W. O. Weyrauch (2002), zum Verhältnis ihres Rechts zum nationalstaatlichen Recht S. 83 ff.

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anspruchnahme unbekannt sind und sie ihr eigenes Recht als überlegen ansehen. Stattdessen bedienen sie sich zur Beilegung interner Streitigkei­ ten entweder der Hilfe von ‚Friedensrichtern‘, die mit ihren Stammesnor­ men vertraut sind (oder das jedenfalls behaupten)233, oder der Hilfe von Stammesgerichten (kris), wenn es um die Ahndung schwerer Straftaten (in neuerer Zeit auch um Ehescheidungen oder um die Entscheidung vermö­ gensrechtlicher Streitigkeiten) geht.234 Praktische Bedeutung besitzen die religiösen Rechte – zumindest in Deutschland – hauptsächlich noch innerhalb des gerichtlichen Beweisrechts, weil man hofft, der weltlichen Wahrheitserkenntnis mithilfe der Religion auf die Sprünge zu verhelfen. So schreibt für den deutschen Strafprozess § 57 StPO vor, dass Zeugen die Wahrheit ihrer Aussage grundsätzlich zu beeidigen haben und dass sie in diesem Zusammen­ hang vom Richter ausdrücklich über die Möglichkeit zu belehren sind, zur Stützung ihrer Aussage entweder „Gott den Allmächtigen und Allwissenden“ (§ 64 I StPO) oder (bei Muslimen) „Allah“235 anzurufen – ohne dass sie sich allerdings verfluchen müssen, falls ihr Zeugnis falsch sei.236

(η) Zusammenfassung: Treten zwischen Rechtsnormen Konflikte auf, dann sorgen innerhalb einer nationalen Rechtsordnung meistens Metanormen für ihre Auflösung und damit für die Herstellung von Rechtssicherheit. Diese Metanormen sind im Laufe der Rechtsentwicklung zwar präter legem er­ zeugt worden, gelten meistens aber einheitlich über nationale Grenzen hin­ weg, da sie eine sozialpsychische Grundlage haben. So entspricht es offenbar der ‚Natur der Sache‘, dass einerseits die Normen der zahlen- oder größen­ mäßig stärkeren (politischen oder privaten) Einheiten den Vorrang vor den schwächeren Einheiten erhalten müssen, andrerseits den stärkeren Einheiten dort Schranken aufzuerlegen sind, wo sie die Autonomie der schwächeren Einheiten beseitigen würden. Nicht einheitlich geregelt ist lediglich, ob älte­ ren oder jüngeren Normen der Vorrang gebührt. Und weil sich insoweit auch aus der ‚Natur der Sache‘ keine Präferenz ergibt, ist im hoheitlichen Geset­ zesbereich ein evolutiver Wandel zugunsten der jüngeren Normen eingetre­

233  Die Stammesnormen sind so zahlreich und verändern sich, weil ungeschrieben, so häufig, dass eine eindeutige Rechtslage sich selten feststellen lässt. Vgl. näher W. O. Weyrauch (2002) S. 69 ff. 234  Normen zur Vermeidung von Blutrache verbieten die Inanspruchnahme der staatlichen Justiz sogar – die Sippen einigen sich untereinander. Allerdings kommt ein Mord unter den Roma wegen ihrer Furcht, dass sich der Geist des Ermordeten am Mörder rächen werde, kaum vor. Die schwerste Strafe dafür ist die Ausstoßung aus dem Stamm. 235  Vgl. § 64 Abs. 3 StPO und dazu L. Leisten (1980), S. 637. 236  Das deutsche Strafprozessrecht folgt also der archaischen Tradition, nicht der christlichen, die gemäß der Bergpredigt den Eid verbietet. Matthäus 5 37: „Eure Rede sei: ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.“



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ten, während ein solcher Wandel im privatvertraglichen Bereich aussteht und allenfalls ‚Billigkeit‘ schmerzliche Folgen abmildern kann. Bei Konkurrenzen zwischen Rechtsnormen und außerrechtlichen Normen wird heute noch immer der Eindruck gepflegt, dass staatliche Rechtsnormen allen anderen im Land geltenden Normenarten vorgehen. In Wahrheit besteht jedoch eine ganze Reihe von unaufgelösten Konflikten mit internationalrechtlichen, -sittlichen und -religiösen Normen, die lediglich deshalb kaum Rechtsunsicherheit erzeugen, weil sie für die meisten Bevölkerungskreise nicht praktisch werden. Im Verhältnis zu den transsozialen Sittennormen sind die nationalen Rechtsnormen zwar nur zu wenigen Zugeständnissen genötigt und auch das nur in Bereichen, wo die Zugeständnisse ihrem Ansehen nicht schaden. Uneinheitlich aber ist das Verhältnis zwischen nationalstaatlichen und religiösen Normen. Summarisch wird man urteilen können, dass die strafrechtlichen Normen der Religionen sich gegenüber den staatlichen Nor­ men wegen ihres oft archaischen Charakters heute nicht mehr durchsetzen. Den zivilrechtlichen Normen der Religionen (insbesondere den eherechtli­ chen) stehen die meisten Staaten dagegen offen gegenüber. Viele ‚westlich‘ orientierte Staaten gewähren ihnen die gleiche Geltung wie ihren amtlichen Normen.237 Andere stellen sie entweder höher238 oder (meistens) tiefer als das nationale Recht.239 Insgesamt wird man daher die Entwicklung als im Fluss befindlich, das Ergebnis als offen diagnostizieren können. cc) Die Herstellung von Rechtssicherheit im zwischenstaatlichen Bereich Stärkere Bedeutung als im nationalen Bereich und damit auch stärkere Beachtung haben in jüngster Zeit Konkurrenzen im zwischenstaatlichen Rechtsbereich gewonnen. Derartige Konkurrenzen bringen häufig erhebliche Unsicherheit hervor, weil beim Zusammentreffen von Normen aus ganz un­ terschiedlichen Quellen weder das Prinzip der stärkeren Mehrheit noch ein 237  So etwa Canada, das islamischen Schiedsgerichten die Entscheidung zivil­ rechtlicher Streitigkeiten gemäß der Šarī’a erlaubt. In Deutschland ist die Anwendung der Šarī’a auf zivilrechtliche Streitigkeiten ebenfalls so weit möglich, wie sie im Herkunftsland eines Ausländers eine Rechtsquelle ist und ihrer Anwendung die Grundsätze des ordre public nicht entgegenstehen. 238  Zu Pakistan, wo die Loslösung einer übereifrigen Judikative von der parla­ mentarischen Gesetzgebung die Folge war, vgl. D. Otto (2001), S. 35 f. 239  Allgemein die Beiträge im Sammelband von H. Kronke/G. Reinhart/N.Witteborg (2001); speziell für das Eherecht heißt es allerdings bei Staudinger/P. Mankowski, (2011), Rn. 657 zu § 13 EGBGB: „Darüber, dass es zur Eingehung einer Ehe überhaupt eines unter Mitwirkung einer öffentlichen Institution … vollzogenen förm­ lichen Aktes bedarf, herrscht heute global betrachtet weitgehend Einigkeit.“ Nichtstaatliche (meistens religiöse) Gerichte neben den staatlichen Gerichten wer­ den vor allem in Staaten mit einem hohen Anteil muslimischer Bürger anerkannt.

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anderer Grund eine Hierarchie zwischen den konkurrierenden Normen be­ gründet: zum einen, weil die Nationalstaaten de iure gleichrangig sind und das zwischen ihnen bestehende de-facto-Machtgefälle keine Rolle spielt; zum anderen, weil nationale und internationale Normen de iure ungleichartig sind und sie deshalb keine Metanormen zur Lösung ihrer Konkurrenzprob­ leme akzeptieren können. Infolgedessen kommt es häufig zunächst zum Streit, welches Gericht für die Entscheidung über ein Rechtsproblem zustän­ dig ist, sodann zum Streit um die Frage, welches Recht anwendbar ist, und schließlich zum Streit um die Konsequenzen, die sich aus den anwendbaren Normen ergeben. Dies gilt nicht nur für den hoheitlichen, sondern, wenn Bürger aus unterschiedlichen Staaten an einem Streit beteiligt sind, auch für den privaten Bereich. (α) Normenkonflikte im hoheitlichen Bereich. Ich beginne beim Streit zwi­ schen zwei Staaten über die Gültigkeit bzw. den Inhalt eines zwischen ihnen abgeschlossenen Vertrages. Zuständig zur Entscheidung ist primär dasjenige Gericht, auf das sich die Staaten im Vorfeld des Vertragsschlusses geeinigt haben. Da jeder Staat naturgemäß geneigt war, die Zuständigkeit desjenigen Gerichts zu begründen, von dem er im Streitfall ein für sie günstiges Urteil erwartete,240 wird sich bereits im Vorfeld der stärkere Staat durchgesetzt und die Weichen nach seinem Sinne gestellt haben. Für die Gerechtigkeit ist es deshalb i. d. R. besser, wenn im Vorfeld keine Vereinbarung getroffen wurde, oder wenn eine Einigung über die Gerichtszuständigkeit (wie etwa bei Ver­ letzungen des Völkerrechts) nicht möglich war. Alsdann wird den Staaten nämlich die Zuständigkeit eines neutralen Gerichtshofs eröffnet: des Interna­ tionalen Gerichtshofs (IGH) in Den Haag, der entweder gemäß Art. 65 seines Statuts gutachtlich tätig werden oder gemäß Art. 39 ff. aufgrund einer Ver­ handlung durch Urteil entscheiden kann. Damit ist freilich nur der erste Schritt zur Erlangung von Rechtssicherheit getan. Denn leitend für eine Entscheidung des IGH (aber auch jedes anderen an seine Stelle tretenden Gerichts) sollen nunmehr gemäß Art. 38 I die international anerkannten Grundsätze der Sitte und des Rechts (lit. b‒d)241 sein. Solche Grundsätze gibt 240  Denn jedes Gericht kann die communis opinio anders einschätzen und danach den ordre-public-Grundsatz abwandeln. Vgl. A. Fischer-Lecarno/G. Teubner (2006), S. 110: „Der Hinweis auf einen ‚cohesive clue‘ der Globalwerte oder gar einen ‚overwhelming consensus‘ hat nicht nur keinen operativen Mehrwert, sondern verkennt auch, dass man es jeweils nicht mit einem tatsächlichen Konsens in der internationa­ len Gemeinschaft zu tun hat, sondern mit autonomen, dezentralen und fragmentierten Normierungsprozessen …“. 241  Gem. lit. b: „international custom, as evidence of a general practice accepted as law“; lit c: „the general principles of law recognized by civilized nations“; gemäß lit. d subsidiär: „juridical decisions and the teachings of the most highly qualified publicists of various nations“. Nicht anwendbar sind meistens die Normen völker­ rechtlicher Verträge gemäß lit. a.



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es in der Regel nicht ‒ und insbesondere dann nicht, wenn außer den Inte­ ressen der streitenden Parteien auch noch Gemeinschaftsinteressen vom In­ halt des staatlichen Vertrages betroffen sind. Deshalb muss der Gerichtshof seine Urteilsgrundlage nunmehr erst einmal erfinden. Und da von ihm über­ dies noch verlangt wird, dass er die Verankerung der streitenden Staaten in ihren ungleichen Rechtsordnungen beachtet, damit sein Urteil von ihnen auch anerkannt und umgesetzt wird,242 wird von ihm letztendlich eine Mix­ tur von Internationalität und Nationalität verlangt, von der das Gesetz offen­ lässt, ob ein Gerichtshof sie überhaupt herstellen kann. Eine einigermaßen voraussehbare Entscheidung kann vom IGH wohl nur erwartet werden, wenn er auf einer bereits gefestigten Rechtsprechung aufbaut. Sonst befinden sich die Parteien ‚auf hoher See‘. Spezifische Zuständigkeiten gibt es für seerechtliche Streitigkeiten, nämlich die Verfahren vor dem Seegerichtshof, die aber die Zuständigkeit des IGH nicht aus­ schließen, ferner die Schlichtungsverfahren für Streitigkeiten vor einem Gremium der World Trade Organization (WTO), eine Mischung aus Gerichtsbarkeit und Schieds­ gerichtsbarkeit.

(β) Bei grenzübersteigenden Normenkonflikten im privaten Bereich, insbe­ sondere also angesichts eines Streits über Rechte und Pflichten aus einem Vertrag zwischen Privatpersonen aus unterschiedlichen Staaten, ist die Pro­ blematik ähnlich. Haben die Beteiligten sich über das für ihren Streit zustän­ dige Gericht im Voraus verständigt (für Deutschland siehe §§ 38–40 ZPO, für EU-Bürger Art. 25 EuGVVO243), dann ist dieses zuständig. Andernfalls sind Personen, die innerhalb der EU ihren Wohnsitz haben, gem. Art. 4 Abs. 1 EuGVVO vor den Gerichten ihres Mitgliedstaates zu verklagen,244 während es für Personen außerhalb der EU an einer Regelung, die Rechts­ sicherheit schaffen würde, fehlt und es folglich der Abwägung bedarf, wessen Interesse an der Zuständigkeit seines heimatlichen Gerichts überwiegt. Hier­ über muss das zunächst angerufene Gericht eine Entscheidung treffen. Mit der gesetzlichen oder richterlichen Entscheidung über die Zuständigkeit ist allerdings keine Entscheidung über das anwendbare Recht verbunden. Für dessen Wahl, die u. U. schon die Entscheidung in der Sache vorwegnimmt, muss das zuständige Gericht die unterschiedlichen Interessen der Parteien abwägen und dabei dem Recht derjenigen Partei den Vorzug geben, deren dazu A. Pellet (2006), Art. 38 Rn. 265 ff. (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit … in Zivil- und Han­ delssachen. 244  Diese Regelung überzeugt, weil Klagen fast immer wegen fehlender oder mangelhafter Leistungen des Beklagten erhoben werden und der Kläger für die Voll­ streckung des erstrittenen Leistungsurteils staatliche Hilfe am Erfüllungsort in An­ spruch nehmen muss. 242  Vgl.

243  Verordnung

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Interessen „durch Anwendung des Rechts der Gegenpartei härter getroffen würden als die Gegenpartei durch die Wahl des Rechts der stärker interes­ sierten Partei“245. Dabei hat es (zumindest nach kontinentaleuropäischer Rechtsüberzeugung) nicht allein den materiellen Nutzen (‚Interessenjurispru­ denz‘), sondern auch die soziale Bedeutung und den ideellen Wert der wider­ streitenden Interessen in seine Abwägung einzubeziehen (‚Wertungsjurispru­ denz‘). § 28 Abs. 1 Satz 1 EGBGB stellt dafür das psychologisch wichtige Kriterium der ‚Berührung‘246 in den Vordergrund und erklärt für maßgeblich, zu welchem staatlichen Recht die widerstreitenden Interessen „die engsten Verbindungen aufweisen“ (mostly connected)247. Daneben dürfte berücksich­ tigenswert sein, ob eines der konkurrierenden Rechte bereits eine Regelung enthält, die der Bedeutung der strittigen Leistung gerecht wird (Einzelheiten dazu in §§ 28–30 EGBGB); denn auf deren (entsprechende) Anwendung wird zumindest eine der Parteien vertraut haben. Dass aufgrund der genannten Abwägungskriterien ausländisches Recht anzuwen­ den ist, spielt für das Ergebnis der Abwägung dagegen keine Rolle – es sei denn, dass das ausländische Recht „zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen [des Rechts am Gerichtsort] offensichtlich unvereinbar ist“ (so Art. 6 EGBGB) bzw. dass „das Ergebnis der Anwendung [des ausländischen Rechts] zu den Grundgedan­ ken der Regelung [am Gerichtsort] und der in ihnen liegenden Gerechtigkeitsvor­ stellungen in so starkem Widerspruch steht, dass es … für untragbar gehalten wird“ (BGHZ 50 370 ff., 376). Unter dieser Voraussetzung darf m. E. ein Gericht auch von der (oft schwierigen) Prüfung absehen, ob das ausländische Recht demokratisch legi­ timiert ist.

Während nationale Gerichte für die Entscheidung nationaler Rechtsstrei­ tigkeiten nationale Gerechtigkeitsvorstellungen ihrer Interessenbewertung zugrunde legen haben, dürfen internationale Gerichte sowie nationale Ge­ richte bei der Entscheidung internationaler Rechtsstreitigkeiten Gerechtig­ keitsvorstellungen des nationalen Rechts nur dann heranziehen, wenn diese auch von der internationalen Rechtsgemeinschaft geteilt werden.248 Damit werden die Gerichte zur Berücksichtigung eines internationalen ordre public angehalten und vor die nahezu unlösbare Aufgabe gestellt, hierfür eine inter­ nationale communis opinio ausfindig zu machen. In der Überzahl der Fälle führt diese Verweisung daher ins Leere, da es eine communis opinio entwe­ die Formulierung von G. Kegel/K. Schurig (2004), § 18 I 1 d (S. 660). hierzu E.-J. Lampe (1988a), S. 125 u. ö. 247  G. Kegel/K. Schurig (2004), § 6 I 4 b (S. 305). Dort heißt es freilich auch: „Oft kann sich der Normgeber nicht zu einer konkreten Entscheidung durchringen. Aber reden will er, und deswegen spricht er eine Leerformel aus.“ Ganz leer ist die Formel allerdings nicht, da ‚Berührung‘ und ‚Gleichheit‘ allgemeine Bewertungskriterien sind, die durch den zur Entscheidung stehenden Sachverhalt noch zusätzlich konkre­ tisiert werden. 248  G. Kegel/K. Schurig (2004), § 2; J. Kropholler (2006), § 5 (S. 31 ff.). 245  So

246  Vgl.



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der nicht gibt oder sie sich nicht feststellen lässt, sodass die Richter die von ihnen geforderte Rechtssicherheit mittels eigenen Judizes erschaffen müssen. Eine Ausnahme gilt lediglich dann, wenn die Verweisung auf eine anerkannte Be­ wertung aus der ‚Natur der Sache‘ trifft, wie es im folgenden viel beachteten Fall geschah: In einem Vertragsmuster der internationalen Lex constructionis249 hieß es u. a.: „Der [an einem Bauprojekt mitwirkende] Vertragschließende soll alle vernünfti­ gen Schritte unternehmen, um die Umwelt … zu schützen und den Schaden und die Unannehmlichkeiten für Personen und Eigentum zu begrenzen, die von der Ver­ schmutzung, dem Lärm und anderen Folgen seiner Tätigkeiten ausgehen. Der Ver­ tragschließende soll gewährleisten, dass die von seinen Aktivitäten herrührenden Emissionen, Oberflächenabflüsse und Abwässer nicht die spezifiziert vereinbarten oder von den anwendbaren Gesetzen vorgeschriebenen Werte überschreiten.“250 Schutzgut der Vertragsklausel ist also die Umwelt. Nur weil das Gericht dies richtig erkannte, konnte es eine der internationalen communis opinio entsprechende Prämisse einführen (die es allerdings nicht explizit machte): dass der Schutz der Umwelt eine dem gemeinen Wohl weltweit dienende Aufgabe ist und gemäß ordre public über den Nutzeninteressen aller an einem Bauprojekt beteiligten Parteien steht. Und aus dieser Prämisse konnte es anschließend folgern, dass die Vertragsklausel sich auch auf alle von ihr nicht umfassten Fälle der Umweltschädigung bezieht, also auch auf die nicht von Aktivitäten des Vertragschließenden herrührenden, sondern von deren zusätzli­ cher Verbindung mit Schadstoffen, z. B. in Abwässern, die jeweils für sich nicht „die von den anwendbaren Gesetzen vorgeschriebenen Werte überschreiten“. Für diese Verbindung erachtete das Gericht abschließend eine Gemeinschaftshaftung seitens aller am Bau beteiligten Firmen als gegeben und sah eine Haftungserstreckung auf sie als zulässig an.251

(γ) Normenkonflikte im gemischt hoheitlich-privaten Bereich. Zur Lösung von Konflikten zwischen Normen hoheitlicher Organisationen einerseits, privaten Normen andrerseits stehen Metanormen nicht zur Verfügung. Wenn Probleme auftauchen, betreffen sie vor allem Eingriffe internationaler Orga­ nisationen in Rechtspositionen von Privatleuten, manchmal aber auch ethni­ schen oder religiösen Gemeinschaften. Tritt in diesen Fällen eine staatliche Vollzugshandlung hinzu, dann kann sich das Rechtsschutzbegehren auch ge­ gen diese richten. Beispiel: Im Zuge der Bekämpfung des internationalen Terrorismus verhängte der UN-Sicherheitsrat in einer Resolution u. a. Kontensperrungen gegen Bürger der EU, die der Unterstützung des Terrornetzwerks Al Qaida verdächtigt wurden. Diese Maß­ 249  Sie gilt für internationale, mit möglichen Schäden für die Umwelt verbundene Bauprojekte. 250  Eigene Übersetzung von Art. 4.18 der Mustervertragsbedingungen (Conditions of Contract for Construction) des Internationalen Verbands der Beratenden Ingenieure (International Federation of Conculting Engeneers – FIDIC). 251  Vgl. dazu auch U. Drobnig (1987); J. Schiffer (1990), S. 44 ff.; N. Voser (1996), p.  323 ff.; A. Barraclough/J. Waincymer (2005), p. 205 ff. [elektron. Ressource]; A. Fischer-Lescarno/G. Teubner (2006), S.  99 ff.

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nahme wurde von der EU mittels einer Verordnung umgesetzt, die der EuGH an­ schließend für rechtswidrig erklärte.252 Zur Begründung führte der EuGH u. a. aus, dass es zwar nicht seine Aufgabe sei, die Rechtmäßigkeit der Resolution des Sicher­ heitsrates zu überprüfen. Wohl aber sei für ihn der daraufhin ergangene Rechtsakt der EU überprüfbar. Und dieser habe nicht den Grundrechten der Union entsprochen, sondern das Recht der Konteninhaber auf rechtliches Gehör sowie ihr Eigentumsrecht verletzt.

Wird der Eingriff einer internationalen Organisation in eine private Rechts­ position nicht durch nationalstaatlichen Akt vollzogen, dann bleibt gegen­ wärtig u.  U. ein Menschenrechtsschutzverfahren unter Berufung auf ein rechtspflichtwidriges Unterlassen zulässig, und zwar mit folgender Begrün­ dung: Die Gründerstaaten hätten es bei der Übertragung von Hoheitsrechten auf die internationale Organisation versäumt, Schutzrechte für die von der Ausübung der Hoheitsrechte Betroffenen zu schaffen; sie könnten sich aber ihrer menschenrechtlichen Verpflichtung nicht dadurch entledigen, dass sie ihre (gebundene) Hoheitsgewalt auf eine (ungebundene) internationale Orga­ nisation übertragen.253 Gelegentlich wird allerdings auch erwogen, die inter­ nationale Organisation unmittelbar für den Eingriff einer dritten Institution haften zu lassen.254 Denn außerhalb von Menschenrechtsverletzungen nimmt die heute überwiegende Meinung an, dass für einen rechtswidrigen Eingriff in eine zivile Rechtsposition diejenige internationale Organisation haftet, die den Eingriff veranlasst hat.255 (δ) Normenkonflikte im gemischt national-völkerrechtlichen Bereich schei­ nen sich zwanglos aufgrund des hierarchisch höheren Rangs des Völkerrechts gegenüber dem nationalen Recht auflösen zu lassen. Jedoch macht eine Be­ sonderheit dies zunichte: Das Völkerrecht besitzt gegenüber dem nationalen Recht zwar eine höhere Geltung, aber i. d. R. keine höhere Durchsetzungskraft. U. a. sind Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) nicht rechtsverbindlich; allenfalls können sie der Auffassung Ausdruck geben, dass das geltende Recht zu verändern sei, und die Nationalstaaten können diese Auffas­ sung anschließend entweder in einen Völkerrechtspakt umsetzen oder durch zustim­ mendes Verhalten Völkergewohnheitsrecht begründen. Ein Beispiel dafür ist der Menschenrechtsschutz, der 1948 seinen Ursprung in der unverbindlichen Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte seitens der Generalversammlung hatte und anschlie­ ßend zur Kodifikation verbindlicher Menschenrechtsverträge führte: zu den Internati­ onalen Pakten über bürgerliche und politische Rechte und über wirtschaftliche, sozi­ ale und kulturelle Rechte (denen dann allerdings nicht alle Mitglieder beigetreten 252  EuGH,

Urteil vom 3.9.2008, Slg. 2008, I-6351. von Arnauld (2016), Rn. 628 m. Nachw. 254  Vgl. den Sammelband von J. Wouters (2010). 255  A. von Arnauld (2016), Rn. 130 m. Nachw. 253  A.



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sind).256 Entsprechend besitzt das Recht von international tätigen Nichtregierungsor­ ganisationen (NGOs) wie etwa von Greenpeace, Human Rights Watch und Médicins sans frontières Geltung nur für die entsprechenden nationalen NGOs, gleichgültig ob diese Sektionen oder national selbstständig sind; dennoch können sie ihnen gegen­ über die Geltung nicht durchsetzen, sondern müssen dies der Eigeninitiative der nati­ onalen NGOs überlassen. Weigern diese sich, können sie sie lediglich aus dem Orga­ nisationsverband ausschließen.

Wie kompliziert das Verhältnis zwischen Völkerrecht und nationalem Recht ist, sei beispielhaft noch am deutschen Recht belegt: Hier besitzen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts257 Geltung und Durchsetzungskraft, weil sie zusätzlich ein qualifizierter „Bestandteil des Bundesrechts“ sind (Art. 25 GG).258 Die sektoralen Regeln des Völkerrechts (etwa für den zwi­ schenstaatlichen Warenhandel259) stehen dagegen nur in der Geltung über den bundesrechtlichen Normen, während ihre Durchsetzung davon abhängt, dass ihnen die nationalen Normen nicht entgegenstehen. Und die Regeln des europäischen Völkerrechts (etwa die Normen der Europäischen Menschen­ rechtskonvention) stehen denen des Bundesrechts selbst in der Geltung nur gleich260 – allerdings mit Ausnahme der Rechtsnormen der Europäischen Union, die (weil supranational) oberhalb des Bundesrechts Geltung besitzen (vgl. Art. 23 I GG)261. Die alte Frage behält somit Bedeutung: Ist das Völkerrecht, soweit nicht suprana­ tional, überhaupt originäres ‚Recht‘, oder muss ihm national sein Rechtscharakter erst verliehen werden?262 Zumindest auf der Grundlage der oben gegebenen Definition für ‚Recht‘263 ist sein originärer Rechtscharakter zu bejahen; denn die Definition verlangt zwar die Durchsetzbarkeit, nicht aber die Durchsetzung durch staatliche ­Organe. Somit ist zwar nur das nationalstaatlich gesetzte und durchgesetzte Recht ‚hartes‘ Recht, das nationalstaatlich bedingt durchsetzbare Völkerrecht aber immerhin oben 1 c α αα. Regeln damit gemeint sind, bemisst sich nicht nach ihrem Inhalt, son­ dern nach ihrer Anerkennung durch eine „Mehrheit der Staaten“ (BVerfGE 15 25, 34). Die Bundesrepublik Deutschland muss nicht zu den Staaten gehören; es genügt, dass sie sich einer Regel nicht als persistent objector widersetzt hat (BVerfGE 16 27, 35). 258  Ob sie deshalb hierarchisch über den Normen des Grundgesetzes stehen, ist umstritten. Die in der deutschen Staatsrechtslehre vorherrschende verneinende Auf­ fassung (vgl. etwa BVerfGE 6 309, 363) wird damit begründet, dass es Rechtsnor­ men, die über einer Staatsverfassung stehen, nicht geben dürfe und daher auch nicht geben könne (vgl. Ph. Kunig, 2013, S. 120). 259  General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) vom 1.1.1948. Deutschland ist dem Vertragssystem 1951 beigetreten. 260  BVerfGE 111 307 ff. 261  Dazu C. D. Cassen (2010), Art. 23 GG Rn. 47. 262  Ein Überblick über die hierzu vertretenen Theorien gibt u. a. K. Ipsen (2014), S.  7 ff. 263  Vgl. oben E 4 c a. E. 256  Vgl.

257  Welche

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‚weiches Recht‘ (‚soft law‘) – ähnlich dem indigenen Frührecht, dessen Folgen zwar durchsetzbar waren, aber nur durchgesetzt werden konnten, wenn der Berechtigte dafür die Unterstützung seiner Sippe gewann. National steht es denjenigen Rechtsnor­ men gleich, die „unvollkommene Verbindlichkeiten“ begründen – in Deutschland beispielsweise der Norm für Spiel und Wette (§ 762 BGB)264.

Aufgrund der resignierenden Erkenntnis, dass ein Völkerrecht, das nicht oder nur eingeschränkt durchgesetzt werden kann, eine bloß papierne Exis­ tenz besitzt, verzichten viele internationalen Organisationen heute auf seinen Erlass. So wird beispielsweise die Europäische Union außerhalb ihrer aus­ schließlichen (suprastaatlichen) Zuständigkeit fast nur dort gesetzgeberisch tätig, wo sie einigermaßen sicher sein kann, dass ihre Mitgliedsstaaten die Normen durchsetzen werden (Art. 5 III EUV)265. (ε) Normenkonflikte im gemischt privat-transsozialen Bereich. Normen­ konflikte zwischen privatem und transsozialem Recht entstehen vor allem dort, wo Personen einerseits einer international tätigen ethnischen, religiösen oder beruflichen (insbes. wirtschaftlichen) Organisation angehören, andrer­ seits aber von deren Regeln abweichen wollen, um konkurrierenden staatli­ chen oder privaten Normen zu folgen, jedoch ohne deshalb auf ihre Mit­ gliedschaft in der Organisation zu verzichten. Man denke etwa daran, dass eine muslimische Organisation ihren Mitgliedern verbietet, mit jüdischen Unternehmen Handel zu treiben, genau dies aber für eines ihrer Mitglieder wirtschaftlich existenziell ist, weil es vom Staat nur unter der Bedingung Vergünstigungen erhält, dass es jüdische Unternehmen nicht diskriminiert. Die sich daraus ergebenden Probleme haben sich früher häufiger gestellt als heute, weil sich früher anstelle des Staates vor allem private Genossenschaf­ ten, Städte und Gilden um die Normierung des gesellschaftlichen Lebens kümmerten. Heute wird es vor allem darauf ankommen, ob einerseits eine Organisation die Abweichung von ihrem Regelwerk zulassen muss, falls dies für ihr Mitglied existenzielle Bedeutung hat (was sicherlich in den meisten Fällen nicht zutreffen wird), und ob andrerseits der Staat bei der Vergabe von Vergünstigungen wirtschaftliche Unternehmen diskriminieren darf, die ihrer­ seits normativ gezwungen sind, andere Unternehmen zu diskriminieren. Die Frage ist international nicht ausdiskutiert.266 264  Es begründet daher keinen Erfüllungsanspruch, bildet aber ein Verweigerungs­ recht gegenüber der Rückforderung des zur Erfüllung Geleisteten. 265  Art. 5 III EUV lautet: „Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die [Europäische] Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler Ebene ausreichend verwirk­ licht werden können, vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Uni­ onsebene besser zu verwirklichen sind.“ 266  Vgl. für Deutschland BVerfGE 116 164, 180; 121 317, 370; 126 400, 416; BVerwGE 138 61, 69.



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(ζ) Zusammenfassung. Entsteht Streit, wie eine zwischenstaatliche Nor­ menkonkurrenz aufzulösen oder wie ein internationaler Vertrag auszulegen ist, ist zunächst zu prüfen, welche Institution für die Entscheidung des Streits zuständig ist. Besteht der Streit zwischen zwei privaten Rechtssubjekten, ist dies ein nationales Gericht, und damit ist auch die Weiche für die Anwen­ dung einer nationalen Rechtsordnung gestellt. Örtlich zuständig ist zwar das Gericht am Wohnsitz des Beklagten, anwendbar aber nicht notwendig auch das dort geltende nationale Recht, sondern stattdessen das Recht derjenigen Partei, deren Interessen „durch Anwendung des Rechts der Gegenpartei här­ ter getroffen würden als die Gegenpartei durch die Wahl des Rechts der stärker interessierten Partei“. Geht es dagegen nicht um die Umsetzung eines Privatvertrags, sondern eines Staatsvertrags, kommt für eine Streitentschei­ dung allein ein internationales Gericht in Betracht, nämlich der Internationale Gerichtshof in Den Haag (IGH). Welches Gericht für Streitigkeiten zwischen privaten und hoheitlichen Rechtssubjekten zuständig ist, bleibt häufig offen: Ist es ein Gericht des beteiligten Staates oder eines jener privaten Verbands­ gerichte, die neuerdings gegründet und mit Spezialisten für konkrete Rechts­ materien besetzt wurden? Hier hängt fast alles von den Vereinbarungen ab, die die Parteien getroffen haben. Was anschließend die Entscheidung in der Sache angeht, spielen außer den nationalen bzw. internationalen Rechtsnor­ men oft auch solche des Völkerrechts eine Rolle. Allerdings macht sich der­ zeit die Schwäche des Völkerrechts noch insoweit bemerkbar, als es inner­ halb von Streitfällen zwar immer zu berücksichtigen ist, aber im Verhältnis zu anderen nationalen oder internationalen Normen oder Rechtsgrundsätzen nicht immer den Ausschlag gibt. b) Aufgabe: Herstellung von Gerechtigkeit Sicherheitsprobleme in den Randbereichen des Rechts müssen vor allem um der Gerechtigkeit von Entscheidungen konkreter Fälle willen gelöst wer­ den. Hierzu sowie zur Lösung weiterer Entscheidungsprobleme bieten sich heute an: eine philosophische Entscheidungstheorie (unten aa), Metanormen in den nationalstaatlichen Rechten (unten bb) und das richterliche Judiz im internationalen Recht (unten cc).267 Soweit zur Sicherung gerechter Verfah­ ren und Entscheidungen gesetzliche Regelungen vorhanden sind – in den neuzeitlichen Rechtsordnungen ist das allemal der Fall –, sind diese regelmä­ ßig zwar differenziert, ohne jedoch die streitenden Parteien vor außerjuristi­ schen bzw. juristisch illegitimen Einflüssen vollständig abzuschirmen. Kor­ 267  Die folgenden Ausführungen sind wiederum auf die kontinentaleuropäischen Rechtsverhältnisse bezogen und gelten nur cum grano salis entsprechend für das von England aus geprägte Präzedenzienrecht.

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ruption allerdings – früher noch ein beherrschendes Thema268 – spielt heute innerhalb der Gerichtsbarkeit, soweit bekannt,269 die geringste Rolle. aa) Gerechtigkeit aufgrund einer philosophischen Entscheidungstheorie? Weil Gerichte sich im Falle konfligierender oder fehlender Normen für ihre Entscheidung nicht auf ein non-liquet berufen dürfen, müssen sie – wie schon erwähnt – gelegentlich erfinden, was sie nicht finden können. Bekä­ men sie dafür eine außerjuristische Hilfe, würden sie diese gerne annehmen. Indessen gibt es sie nicht. Die allgemeine Entscheidungstheorie (decision theory), welche die Philosophen den Juristen anbieten, ist von der Prämisse abhängig, dass alle an einem Rechtsstreit Beteiligten rationale Nutzenmaximierer sind und deshalb übereinstimmend derjenigen Entscheidung den Vor­ zug geben, die einen kompossiblen Nutzen verspricht. Diese Prämisse wird zumindest innerhalb des kontinentaleuropäischen Rechts und des von ihm beeinflussten Bereichs nicht anerkannt. Mit Recht, denn in den meisten Fäl­ len fehlt den Streitbeteiligten die Einsicht in den maximalen Nutzen einer Entscheidung, und wenn sie diese ausnahmsweise besitzen, fehlt es ihnen am Willen, nach dieser Einsicht – und nicht egoistisch – zu handeln. Doch selbst gesetzt den Fall, sie hätten beides, müssten sie zusätzlich noch einsehen kön­ nen, wie ein gewonnener Maximalnutzen untereinander maximal nützlich zu verteilen sei. Und spätestens zu dieser Einsicht werden die Parteien sich kaum jemals aufschwingen können. Wird somit der von den Philosophen gewiesene Weg zur Entscheidung im kontinentaleuropäischen Rechtsraum nicht als hilfreich anerkannt (er wäre in der gerichtlichen Praxis überdies kaum begehbar), dann müssen die Juristen sich selber den Weg bahnen. Das haben sie schon frühzeitig getan, indem sie als den besten aller Wege den Diskurs zwischen den Streitparteien unter Be­ teiligung eines unparteiischen Dritten konstituiert haben. Denn so kann das Für und Wider der unterschiedlichen Standpunkte bis in alle Details erörtert werden, und an seinem Ende sind die Parteien (sei es auch nur aus Erschöp­ fung oder Ratlosigkeit) in der Lage, entweder einem vom Gericht als unpar­ teiischem Dritten vorgeschlagenen Vergleich zuzustimmen oder sich einem vertretbaren Urteil zu beugen.

oben G 4 k. ist sie für die internationale Schiedsgerichtsbarkeit. Bekannt ist allerdings, dass internationale Schiedsgerichte einem Investor, der sich aufgrund von ‚Gastgeschenken‘ an ein Staatsoberhaupt und von Schmiergeldern an örtliche Behör­ den Vorteile erkauft hatte, keinen Rechtsschutz geboten haben, als ihm die Vorteile anschließend nicht gewährt oder zurückgenommen wurden. 268  Vgl.

269  Unbekannt



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bb) Gerechtigkeit aufgrund prozessualer Zuständigkeitsregelungen und Hierarchieprinzipien Dass es für einen gelingenden juristischen Diskurs eines unparteiischen Dritten bedarf, der seine Sach- und Rechtskunde in die Diskussion einbringt, ist von Alters her bekannt.270 Für das Vorliegen dieser Voraussetzungen ha­ ben daher, soweit theoretisch und praktisch möglich, bisher alle juristischen Verfahrensordnungen gesorgt. Verbessert haben sich nur die zur Verfügung stehenden Mittel zur Gewährleistung der Sach- und Rechtskunde und der Neutralität des zugezogenen Dritten bzw. der für ihn eintretenden Richter. (α) Gewährleistend für die Sach- und Rechtskunde der Richter ist ange­ sichts der Vielzahl möglicher Streitfragen zunächst die Einrichtung von Ge­ richten für spezielle Sachbereiche: einerseits für privatrechtliche und für strafrechtliche Verfahren, wofür zusätzlich noch andere Gründe als die Sach­ kompetenz im Vordergrund stehen, andrerseits für gesellschaftsrechtliche, arbeitsrechtliche, steuerrechtliche, verwaltungsrechtliche, patentrechtliche u. a. Streitfälle. Als weitere Möglichkeit, die Sach- und Rechtskunde auf der Richterbank zu verbessern, sind in den neueren Rechtskulturen spezielle Entscheidungs­ zuständigkeiten innerhalb der ohnehin spezialisierten Gerichte ausgebildet worden: etwa für Handelssachen, Verkehrssachen, Verbraucherschutz, Ju­ gendschutz, Schutz im Internet u. a. m. Zusätzlich hat eine derartige Ausdif­ ferenzierung es ermöglicht, neben dem juristischen Sachverstand der Richter auch die fachbezogenen Kenntnisse von nicht-juristischen Spezialisten in die Entscheidungsfindung einzubeziehen. Dies ist deswegen wichtig, weil die Parteien nirgends die Möglichkeit haben, Richter wegen mangelnder Rechtsoder Sachkunde abzulehnen – obwohl es kein Geheimnis ist, dass vor allem bei Kollegialentscheidungen keineswegs alle Richter über den strittigen Sachverhalt hinreichend unterrichtet sind bzw. über die für eine Sachent­ scheidung erforderlichen fachlichen Kenntnisse verfügen. (β) Die Neutralität (Unparteilichkeit) der urteilenden Richter wird national (in Deutschland verfassungsrechtlich aufgrund von Art. 101 Abs. 1 GG) durch Normen zur örtlichen und funktionalen Zuständigkeit und zur persön­ lichen Weisungsunabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) gewährleistet. Notfalls können Richter von der Mitwirkung in Verfahren, in denen ihre Unparteilich­ keit fraglich ist, ausgeschlossen oder von den Parteien abgelehnt werden. 270  Vgl. oben E 4 b. Die heutige, bisher wenig fortgeschrittene psychologische Forschung benennt dieses Kriterium ebenfalls, ergänzt es aber noch durch (1) die Möglichkeit, seine Meinung zu äußern und damit Gehör zu finden, (2) das Vertrauen der Betroffenen in die Motive der entscheidenden Personen und (3) die würdevolle Behandlung aller am Prozess Beteiligten (vgl. etwa T. R. Tyler, 1988).

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Normen zur örtlichen Zuständigkeit enthalten die Verfahrensgesetze, in Deutsch­ land die Strafprozessordnung in § 12 StPO, die Zivilprozessordnung in § 35 ZPO. Darüber hinaus besagt ein Subsidiaritätsprinzip, dass ein Gericht, sobald es seine Zuständigkeit bejaht hat und in der Sache tätig geworden ist, die Zuständigkeit auch behält. Dadurch werden u. a. informelle Kontakte zwischen den Richtern erleichtert und der Gefahr einer zu großen Meinungsvielfalt innerhalb der Richterschaft vorge­ beugt. Regelungen der funktionalen Zuständigkeit sind ebenfalls in den meisten Verfah­ rensgesetzen enthalten. Gemäß dem Hierarchieprinzip können überall höhere Gerich­ te nach Einlegung eines Rechtsmittels die Entscheidung niederer Gerichte aufheben oder abändern. Allerdings ist die Befugnis der höchsten Gerichte gewöhnlich auf die Beurteilung von Rechtsfragen beschränkt, während sie die Tatsachenfeststellungen des niederen Gerichts hinnehmen müssen. Daraus resultiert das Dilemma, dass selbst offensichtlich falsche oder oberflächliche Tatsachenfeststellungen streitentscheidend bleiben. Dieses Dilemma wird hingenommen und mit dem Argument verteidigt, dass die höchsten Gerichte lediglich die „Einheitlichkeit der Rechtsprechung“ wahren sollen (vgl. § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO), diese aber unter falschen Tatsachenfest­ stellungen nicht leidet. Dass stattdessen die Gerechtigkeit leidet, sieht man als tragbar an.

International gibt es Zuständigkeitsregeln und Hierarchieprinzipien, die den nationalen vergleichbar sind, zwar ebenfalls, doch fehlt es an einer um­ fassenden Regelung. Dieser Mangel wirkt sich insbesondere im Strafrecht aus, wo ein sogen. ‚Weltrechtsprinzip‘ allen betroffenen Staaten die Aburtei­ lung schwerster Verbrechen und damit den Erlass einander widersprechender Entscheidungen ermöglicht. Insoweit ist m. E. zukünftig eine Verbesserung der Gleichgerechtigkeit dringend erforderlich. Das ‚Weltrechtsprinzip‘ erlaubt die Aburteilung von Völkermord, Verbrechen ge­ gen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Sklavenhandel und Seeräuberei allen Staaten, die eine spezielle Verbindung zu einer der Taten oder zu einem der Täter haben (universal jurisdiction). Für die Unterzeichner des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) besteht darüber hinaus sogar eine Pflicht zur Verfolgung und Aburteilung, weil „die schwersten Verbrechen, welche die internationale Gemein­ schaft als Ganzes berühren, nicht unbestraft bleiben dürfen und ihre wirksame Verfol­ gung durch Maßnahmen auf einzelstaatlicher Ebene und durch verstärkte internatio­ nale Zusammenarbeit gewährleistet werden muss“271. So lobenswert diese Zielset­ zung einerseits ist, lässt sie andrerseits die Tür zu konkurrierenden Zuständigkeiten bei der Verfolgung und Aburteilung (etwa gegen Mittäter an einem Verbrechen) offen, sodass u. U. – schon weil die völkerrechtlichen Straftatbestände nicht überall de­ ckungsgleich formuliert sind – ein Mittäter vom Anklagevorwurf freigesprochen werden kann, während einen anderen eine vieljährige Haftstrafe trifft.272 Auch bleibt 271  Präambel

des IStGH-Statuts. ist ferner, dass die Formulierung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der für andere Staaten leitbildhaften Fassung des Art. 7 IStGHStatut den materialen Unrechtsgehalt der Taten nur ungenau benennt. Denn „allein die [vom Gesetz geforderte] quantitative Steigerung des Unrechts ‚as part of a wide­ 272  Bedenklich



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es den Anklägern unbenommen, für ein Verfahren dasjenige Gericht auszuwählen, das für seine besonders strengen oder besonders milden Urteile bekannt ist (sog. forum shopping). Die nahe liegende Lösung, die Verfolgung der genannten Verbrechen ins­ gesamt beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu konzentrieren, scheitert bisher an der innerstaatlichen Souveränität und dem Wunsch mancher Großmächte, ihre Bürger vor einer Anklage zu schützen.273

Für das Zivilrecht werden international geltende Zuständigkeitsnormen sowie eine hierarchische Organisation der internationalen Gerichtsbarkeit zwar von manchen Juristen ebenfalls befürwortet.274 Doch halten andere dagegen, dass eine Heterarchie der Gerichte dem werdenden Zivilrecht einer (Welt-)Gesellschaft besser entspreche; denn nur „aus dezentralen Entschei­ dungen entwickelt sich … ein transnationales Zivilrecht.“275 Staatliche und überstaatliche Institutionen (Behörden und Gerichte) sollten deshalb die Entscheidungen internationaler Gerichte lediglich berücksichtigen müssen, nicht dagegen an sie gebunden sein.276 spread or systematic attack‘ kann nicht ausreichen, um aus einem nationalen Verbre­ chen ein internationales zu machen: so wenig aus dem Wüten eines Massenmörders, eines Sexualverbrechers oder eines Menschenräubers ein völkerrechtliches Verbre­ chen wird, selbst wenn dadurch eine ganze Gegend in Angst und Schrecken versetzt wird, wird aus dem organisierten Treiben einer Terrorbande ein völkerrechtliches Verbrechen, wenn sie beispielsweise eine Person samt ihren Angehörigen (um vor Racheakten geschützt zu sein) ermordet“ (E.-J. Lampe, 2003, S. 156 f.). Die erforder­ liche qualitative Steigerung des Unrechts kann nur darin liegen, „dass der Täter nicht nur elementare Menschenrechte verletzt, sondern dass er auch die Sanktionsmecha­ nismen der jeweiligen kulturellen Werteordnung außer Kraft setzt oder ihre zeitweilig begründete Kraftlosigkeit ausnutzt“ (a. a. O., S. 161 f. m. Nachw.). 273  Ausführlich dazu, aber auch zur Rechtsgeschichte, F. Meyer (2011). Zum Schutz der Souveränität der Nationalstaaten und zum Schutz ihrer Bürger gegen eine effektive Strafverfolgung vgl. L. Lafleur (2011), S. 283 ff., 352 ff. Einige Staaten ha­ ben das Statut zur Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs zwar unterzeichnet, aber die Unterzeichnung später zurückgezogen (so die USA und Russland), andere den Gerichtshof von vornherein abgelehnt (so China, Indien und Indonesien), wieder andere ihre Mitgliedschaft inzwischen aufgekündigt. Vgl. zum gegenwärtigen Stand wikipedia Art. „Internationaler Strafgerichtshof“. 274  So etwa von G. Guillaume (1995), p. 861 ff. 275  A. Halfmeier (2004), S. 685. 276  Das soll auch für die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Men­ schenrechte (EGMR) gelten: Sie seien „im innerstaatlichen Bereich zu berücksichti­ gen, d. h. die zuständigen Behörden oder Gerichte müssen sich mit ihnen erkennbar auseinandersetzen und gegebenenfalls nachvollziehbar begründen, warum sie der völkerrechtlichen Rechtsauffassung gleichwohl nicht folgen“. Die Befolgungspflicht ende aber dort, wo „tragende Grundsätze der Verfassung“ berührt werden oder „wenn es sich bei dem einschlägigen nationalen Recht um ein ausbalanciertes Teilsystem des innerstaatlichen Rechts handelt, das verschiedene Grundrechtspositionen miteinander zum Ausgleich bringen will“ (BVerfGE 111 307, 324, 327; vgl. aber auch BVerfG in EuGRZ 2011, 297).

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cc) Gerechtigkeit aufgrund von richterlichem Judiz Richter als neutrale Dritte in einem Rechtsstreit müssen, um gerecht urtei­ len zu können, über eine Eigenschaft verfügen, die man als ‚Judiz‘ bezeich­ net. Sie besteht in der Fähigkeit, Klugheitsregeln277 auf die gegenläufigen Interessen der streitenden Parteien anzuwenden („Interessenjurisprudenz“) und sie dadurch zu einem gewerteten Ausgleich zu bringen („Wertungsjuris­ prudenz“). Klugheitsregeln dienen der Realisation einer ‚gerechten Welt‘278 auf drei Ebenen: auf der programmatischen Ebene metaphysischer Rechts­ grundsätze, auf der gedanklich determinierten (begrifflichen) Ebene empiri­ scher Rechtsordnungen und auf der teilautonomen Ebene des richterlichen Ermessens. (α) Auf der programmatischen Ebene metaphysischer Rechtsgrundsätze weisen ideale Werte der richterlichen Suche nach einem gerechten Ausgleich der Parteiinteressen die Richtung. Welche Werte diese Ebene füllen, lässt sich aufgrund der Relativität metaphysischer Erkenntnis nur ort- und zeitbe­ zogen, also nur mit Bezug auf die in einen Streit involvierten empirischen Rechtskulturen, beantworten.279 Stimmt kulturbezogen die Bewertung der Parteiinteressen nicht überein, muss gemäß einer Metanorm derjenigen Kul­ tur der Vorrang eingeräumt werden, mit der der Rechtsstreit am engsten verbunden ist – wobei u. U. die Tradition den Ausschlag gibt.280 Beispiele: 1. Das Prinzip der Einehe (Monogamie) zwischen Mann und Frau ge­ hört zum traditionellen Kernbestand der europäischen und europäisch geprägten Kulturen. Dennoch schließt es, sofern weitere Ehen innerhalb einer polygamen Kultur rechtsgültig zustande gekommen sind, die Verpflichtung zu Unterhaltszahlungen an mehrere Ehefrauen nicht aus, selbst wenn die Streitparteien inzwischen in einem eu­ ropäischen Staat wohnen. Denn im europäischen Kulturkreis erkennt man die Ver­ pflichtung gegenüber mehreren Ehefrauen als soziokulturell höherstehend an als die grundsätzliche Ablehnung der Polygamie. – 2. Die Beschneidung des Penis bei jüdi­ schen Babys war nach deutschem Recht als Körperverletzung verboten, nach jüdi­ schem Recht aber geboten. Wurde eine Beschneidung in Deutschland durchgeführt, konfligierten folglich die deutsche (staatliche) und die jüdische (religiöse) Rechtsord­ nung. In diesem Fall räumte der deutsche Gesetzgeber aus Gründen der Tradition der jüdischen Rechtsordnung den Vorrang ein und erlaubte unter gewissen Kautelen die Beschneidung (vgl. § 1631d BGB).

277  „Ius est ars boni et aequi“ hieß es im römischen Recht (Dig. 1,1,1,1, dazu oben H 2 c dd δ), und daran hat sich bis heute nichts geändert – vermeintliche scientia ist in Wahrheit meist prudentia. 278  Zum globalen menschlichen Bedürfnis nach einer ‚gerechten Welt‘ vgl. H 1 γ und H 2 c dd β. 279  Zum Folgenden vgl. F.-J. Peine (1983), S.  60 ff. m. w. Nachw. 280  Vgl. G. Kegel/K. Schurig (2004), § 16 II.



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Lehnt eine nationale Rechtskultur die Geltung einer kulturellen Sitte kate­ gorisch ab, müssen die inländischen Gerichte sich dieser programmatischen Entscheidung anschließen. Beispiel: Rituelle Verstümmelungen, wie sie etwa in extremer Weise von der russi­ schen Sekte der Skopzen betrieben wurden, um Geschlechtsverkehr und Fortpflan­ zung unmöglich zu machen (Entfernung der Genitalien bei Mann und Frau und Abla­ tion der weiblichen Brüste), wurden in keinem zivilisierten Staat jemals erlaubt, sondern sogar strafrechtlich verfolgt. Andere Arten der Verletzung (etwa der Ohrläpp­ chen, wie sie etwa bei den Eingeborenen Afrikas Sitte sind), werden dagegen auch in zivilisierten Staaten geduldet, bisweilen sogar nachgeahmt.

(β) Auf der begrifflich-gedanklichen Ebene empirischer Rechtsordnungen entscheiden primär staatliche Ordnungsinteressen über Recht oder Unrecht. Deshalb bestimmen neben metaphysischen auch gesetzliche Zweckmäßig­ keitsargumente die richterlichen Entscheidungen. Determinierend sind dabei in erster Linie die Normen, die ein Staat als zwingendes Recht (ius cogens) kodifiziert hat, in zweiter Linie diejenigen, die ein Staat zwar nicht kodifi­ ziert hat, die aber einem von ihm anerkannten ‚leitenden Wert‘ oder allge­ meinen Rechtsprinzip Ausdruck geben, und in dritter Linie diejenigen, die sich besser als die entgegengesetzten in seine konkrete Rechtsordnung ein­ passen lassen. Beispiele: 1. ‚Ius cogens‘: Das deutsche Recht enthält in Art. 30 Abs. 1 EGBGB folgende Norm: „Bei Arbeitsverträgen und Arbeitsverhältnissen darf die Rechtswahl der Parteien nicht dazu führen, dass dem Arbeitnehmer der Schutz entzogen wird, der ihm durch die zwingenden Bestimmungen des Rechts gewährt wird, das … mangels einer Rechtswahl anzuwenden wäre.“ 2. ‚Leitender Wert‘: Eine täglich zwei Stunden in einem Krankenhaus beschäftigte Putzfrau klagte auf Lohnfortzahlung trotz Erkrankung. Ausgeschlossen wurde die Lohnfortzahlung seinerzeit durch § 1 Abs. 3 Nr. 2 des LohnFG für geringfügig be­ schäftigte Arbeitnehmer. Das Bundesarbeitsgericht281 stellte jedoch fest, dass gering­ fügig beschäftigte Arbeitnehmer zu 85 % Frauen sind, weshalb der Ausschluss trotz der geschlechtsneutralen Formulierung des Gesetzes hauptsächlich Frauen diskrimi­ niere. Daraus folgerte es, dass die Norm gegen Diskriminierungsverbot des Art. 119 Abs. 1 EGV verstößt. Der Verstoß führe zwar nicht zur Nichtigkeit der Norm, da das europäische Gemeinschaftsrecht gegenüber einfachem Bundesrecht keinen höheren Rang besitze; doch handle es sich beim Diskriminierungsverbot um einen europaweit geltenden „leitenden Wert“, dessen Vorrang gegenüber dem nationalen Recht die Parteien des EG-Vertrags politisch gewollt hätten.282 Aus diesem Grund dürfe die Norm nicht angewandt werden. 3. Allgemeines Rechtsprinzip: Angenommen, eine nationale Rechtsordnung gebie­ tet allen Soldaten einerseits, den Befehlen ihres militärischen Vorgesetzten zu gehor­ chen, und verbietet andrerseits, strafbare Handlungen zu begehen. Befiehlt unter der 281  BAG 282  Zu

in NJW 1992, S. 1125. den internationalen Arbeitsrechtsstandards vgl. oben 1 c β δδ.

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Herrschaft einer solchen Rechtsordnung ein Vorgesetzter seinen Soldaten, Feinde, die ihre Waffen bereits gestreckt haben, zu erschießen, dann sehen sich die Soldaten zwei widersprechenden Befehlen gegenüber, von denen sie nur einen befolgen können: einerseits der Verpflichtung zum Gehorsam gegenüber dem Befehl ihres Vorgesetzten, andrerseits dem strafbewehrten Verbot des Art. 23 lit. c der Haager Landkriegsord­ nung, Soldaten, welche die Waffen gestreckt haben, zu töten. Das deutsche Recht löst den Normenkonflikt, indem es in § 22 Abs. 1 des Wehrstrafgesetzes die Gehorsams­ verweigerung für nicht rechtswidrig erklärt, „wenn durch das Befolgen [eines Be­ fehls] eine Straftat begangen würde“. Würde es den Normenkonflikt nicht lösen, müsste man argumentativ zum selben Ergebnis kommen, weil aufgrund eines Allge­ meinen Rechtsprinzips bei einer Konkurrenz von Rechtsgütern dem höheren Rechts­ gut der Vorzug zu geben ist, hier also dem Leben der feindlichen Soldaten vor der militärischen Disziplin.283 4. Einpassung in das nationale Recht: Das Recht eines jeden Nationalstaates wird als Einheit verstanden und deshalb unter das Gebot der Widerspruchsfreiheit gestellt. Daher hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass eine Stadt keine Verpa­ ckungssteuer erheben darf, wenn im Staat Gesetze ergangen sind, die das Ziel haben, Abfall zu vermeiden: „Der Steuergesetzgeber darf die vom Sachgesetzgeber getroffe­ nen Entscheidungen nicht durch Lenkungsregelungen verfälschen, deren verhaltens­ bestimmende Wirkungen dem Regelungskonzept des Sachgesetzgebers zuwiderlau­ fen.“284 Das Bundesverfassungsgericht ist mit dieser Entscheidung der allgemeinen Metanorm gefolgt, dass Rechtsordnungen innerhalb eines systematischen Zusammen­ hangs nicht durch Normen zersetzt werden dürfen, die den Zwecken hierarchisch höherer Normen widersprechen (Verpflichtung zur ‚logisch-systematischen Ein­ heit‘)285.

(γ) Auf der teilautonomen Ebene des Ermessens schließlich haben die Ge­ richte die Aufgabe festzustellen, welche von mehreren konfligierenden Nor­ men den Besonderheiten eines Streitfalles am besten gerecht werden. Dabei sollen sie neben der Rechtssicherheit, der Gleichheit und der Gerechtigkeit auch der Billigkeit Rechnung tragen. Beispiele: 1. Richtlinien internationaler Institutionen sollen im nationalen Bereich so angewandt werden, wie sie den nationalen Besonderheiten am besten entspre­ chen. – 2. Internationale Gerichte sollen die dem abstrakten Recht innewohnende Tendenz zur konkreten Billigkeit im Einzelfall durch entsprechende Konkretisierung berücksichtigen.286 – 3. Der Internationale Gerichtshof (IGH) darf gemäß Art. 38 Abs. 2 seines Statuts statt nach abstraktem Gesetzesrecht „mit Zustimmung der Par­ teien ex aequo et bono entscheiden“.

(δ) Über das Verhältnis der Rechtsebenen zueinander sind die internatio­ nalen Gelehrten geteilter Meinung. Offenbar ändert sich ihre Meinung je 283  Dieses Rechtsprinzip kommt im deutschen Strafrecht auch in der Rechtferti­ gung des Notstands (§ 34 StGB) zum Ausdruck. 284  BVerfGE 98 106, 119. 285  Vgl. dazu C.-W. Canaris (1983), S.  90 ff. 286  W. Heintschel von Heinegg (2014), § 20 Rn. 14.



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nach der Bedeutung, die dem Recht innerhalb eines sozialen Kulturkreises zukommt. Im kontinentaleuropäischen Kulturkreis besitzen die nationalstaat­ lichen Gesetzesnormen den Primat; der Rechtspositivismus weist ihnen sogar Exklusivität zu. Im Vorderen Orient und in Teilen Asiens und gibt man dage­ gen eher konkreten Billigkeitsregelungen den Vorzug vor dem abstrakten Gesetzesrecht. Im Verhältnis der nationalstaatlichen Rechtsordnungen zuein­ ander hat überall das heimische Privatrecht die Priorität, sodass man es auch für befugt ansieht, sein Verhältnis zu ausländischen Rechtsordnungen zu be­ stimmen (vgl. §§ 3 ff. EGBGB). An die Stelle eines Internationalen Öffentli­ chen Rechts tritt dagegen aufgrund der derzeit gleichen Souveränität aller Staaten das Völkerrecht als gleichsam Internationales Staatenrecht, während ein Internationales Verwaltungsrecht bisher nicht einmal ansatzweise exis­ tiert.287 Ebenfalls ist die Bedeutung von supranationalen Rechtsgrundsätzen für die Konkretisierung eines nationalen Rechts derzeit noch so kontrovers, dass man auf die praktischen Auswirkungen im konkreten sozialen Feld ab­ zustellen hat. Dies offenbar voraussehend, hatte sich Indien lange Zeit gegen das Eindringen jeglichen Rechts in die nationale Sittenordnung gesträubt. dd) Zusammenfassung Auf der gegenwärtig erreichten Stufe seiner Evolution ringt die Gerechtig­ keit immer noch um die Herstellung einer ‚höheren Einheit‘ oder, vorsichti­ ger ausgedrückt, um ‚innere Konsistenz‘.288 Da Gerechtigkeit nur im konkre­ ten Fall realisiert werden kann, haben sämtliche Nationalstaaten Foren ge­ 287  Versuche, es dem Völkerrecht unterzuordnen, dürften fehlgehen, da auch Fälle einzubeziehen sind, wo von Völkerrecht keine Rede sein kann, beispielsweise weil die Geltung inländischer kommunaler Verwaltungsakte im Ausland und ausländischer kommunaler Verwaltungsakte im Inland zu prüfen sind. An wissenschaftlichen Vorar­ beiten für eine Kodifikation fehlt es weitestgehend. Am stärksten fortgeschritten ist die Erarbeitung eines Internationalen Steuerrechts, weil insoweit Parallelen zum Zi­ vilrecht auf der Hand liegen. Einzige die allgemeinen Probleme behandelnde wissen­ schaftliche Veröffentlichung in deutscher Sprache seit 1945 ist, soweit ich sehe, die Habilitationsschrift von J. Menzel aus dem Jahre 2011. 288  Diese ‚höhere Einheit‘ oder ‚innere Konsistenz‘ des Rechts ist von der Einheit einer Rechtsordnung, die gelegentlich als Argument in die juristische Diskussion ein­ geführt wird, zu unterscheiden. Gleichwohl gilt sowohl in Bezug auf eine konkrete Rechtsordnung als auch in Bezug auf das Recht eines konkreten Falles: Weil das Recht insgesamt eine Einheit ist oder sein soll, kann ein konkreter Fall rechtlich nur einheitlich beurteilt werden und darf eine Rechtsordnung die Zielsetzungen einer an­ deren nicht beeinträchtigen (vgl. D. Felix, 1998, S. 399). Weiterhin gilt aber auch: Die Einheit eines globalen Rechts wird begrenzt durch die Verschiedenheit der Zwe­ cke nationaler Rechtsordnungen (vgl. D. Felix, 1998, S. 404), und diese werden wie­ derum begrenzt durch die Verschiedenheit der Zwecke, die im konkreten Fall von den daran Beteiligten verfolgt werden.

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schaffen, auf denen streitende Parteien die Möglichkeit zur Darstellung ihres Gerechtigkeitsstandpunkts erhalten und auf denen sodann kompetente, den Parteien gegenüber neutrale Personen den Streit gerecht zu richten oder zu schlichten haben. Das war schon im Altertum so. Tiefgreifend geändert ha­ ben sich daher nur die juristische Ausbildung der richtenden Personen sowie die Absicherung ihrer Neutralität. Die Ausbildung zum Richter musste dem Anschwellen des Rechtsstoffes, der Rechtsstoff der Fülle und der Differen­ ziertheit der heutigen sozialen Probleme Rechnung tragen. Die Absicherung der Neutralität konnte dagegen von einem Abschwellen des persönlichen Bekanntheitsgrades innerhalb der modernen Gesellschaft profitieren und musste deshalb eher einer möglichen Voreingenommenheit der Richter ge­ genüber dem zur richtenden Streitstoff dienen. Denn die im Prozess tätigen Richter sind zwar den staatlichen Gesetzen unterworfen, doch sollen sie diese nicht nur dem Buchstaben nach anwenden, sondern auch deren vorder­ gründigen Zweck und die dahinter stehende Ordnungsidee verwirklichen, nämlich den staatlichen Wunsch nach geordneten und die menschliche Sehn­ sucht nach gerechten Verhältnissen. Hierzu weisen ihnen nicht nur die staat­ lichen Gesetze, sondern auch ihr teils eingeborenes, teils durch ihr Aufwach­ sen in einer sozialen Umwelt geprägtes Gefühl für Gerechtigkeit und speziell ihr Judiz den Weg. Ihr Judiz wird durch ihre stetige Befassung mit Rechts­ problemen im Geiste ihrer nationalen Rechtsordnung, aber auch durch ihre Eingebundenheit in eine soziale Ordnung geschärft, die sich im ständigen Fluss befindet und von widersprüchlichen politischen, sozialen und morali­ schen Tendenzen beeinflusst wird. Dass ihr Judiz im internationalen Bereich des Rechts infolge der Überfülle der dort zusätzlich auch noch national be­ einflussten Tendenzen oft versagt, ist ein Problem, das man durch die Ein­ richtung internationaler Gerichtshöfe zwar zu lösen versucht, auf diese Weise kaum lösen kann und das deshalb zur Errichtung einer Fülle zusätzlicher in­ ternationaler Schiedsgerichte geführt hat.289 4. Die Entwicklung hybriden (hoheitlich-privaten) Rechts (A: Ausgangspunkte) Die heutige Internationalisierung des Rechts verlangt von uns, Abschied zu nehmen von der noch anfangs des 19. Jh.s gepflegten Vorstellung, jede nationale Rechtsordnung verdanke ihr Entstehen einem Volksgeist, der sie zu einer in sich vollkommenen und einzigartigen Einheit ausgebildet hat. Zu­ mindest die heutige Realität sieht anders aus. Die heutigen nationalen Parla­ mente sind keineswegs Medien eines nationalen Volksgeistes, sondern Platt­ 289  Zur Problematik der Unterwerfung unter die Rechtsprechung privater Schieds­ gerichte vgl. oben 2 b α.



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formen zur Diskussion von Einflüssen (Fakten und Meinungen) aus aller Welt. Der einzige Filter ist: sie müssen für die nationalen Belange bedeutsam sein. Aber welche Fakten und Meinungen aus aller Welt sind schon so unbe­ deutend, dass sie national keinerlei Gehör verdienten? Natürlich gibt es da­ rüber hinaus Schwerpunkte, denn bekanntlich ist es die Aufgabe von Lobby­ isten, auf die Bildung solcher Schwerpunkte in der parlamentarischen Dis­ kussion hinzuwirken. Und weil fraglos die Antwort auf die Frage: ‚Wie bringen wir die nationale Wirtschaft zum Blühen?‘ für das Wohlergehen eines jeden Staates ein solcher Schwerpunkt ist, kommt den Lobbyisten aus der privaten (nationalen und internationalen) Wirtschaft eine gewichtige Aufgabe zu. Dass sie diese Aufgabe ernst nehmen, hat die Darstellung der Entwick­ lung des internationalen Verbandsrechts bereits bewiesen;290 und dass sie sie nach besten Kräften erfüllen, beweisen die im Parlament beschlossenen Ge­ setze, die zu einem immer größeren Anteil außer aus hoheitlichen auch aus privaten und da insbesondere privatwirtschaftlichen Federn herrühren. Und ein neuzeitlicher Staat, der die Machtverhältnisse richtig einschätzt, lässt diese Einflüsse hoheitlich unkontrollierter auf die hoheitlich kontrollierte Macht nicht nur zu, sondern begrüßt sie sogar, da sie ihm einen Teil der Sorge auch um die prosperierende Enwicklung seiner Finanzen abnimmt.291 Somit sind einerseits die einstigen Gründe verblasst, weshalb man jeden Nationalstaat als kraft innerer Souveränität alleinigen Urheber seiner Rechts­ gesetze ansah (unten a). Andrerseits ist die Entwicklung nicht etwa an ihren Ausgangspunkt zurückgekehrt, sondern hat sich mit den Entwicklungen in­ ternationaler und privater Kräfte verbunden (unten b). Vereint streben sie heute einem Ziel entgegen, das – wie in der Evolution üblich – im Voraus zwar nur unscharf zu erkennen ist, jedoch kaum anders vorstellbar ist als ein Zustand wechselseitiger Durchdringung von hoheitlicher, wirtschaftlicher und privater Macht (unten c). a) Das hoheitliche Rechtsmonopol aufgrund staatlicher Eigenmacht (‚Souveränität‘) Betrachten wir die Entwicklung im Einzelnen, und setzen wir zunächst beim neuzeitlichen Europa ein, das einst den Mittelpunkt der Welt bildete. Hier glaubte man anfangs, im neu definierten Territorialstaat ein nicht nur autochthones Macht-, sondern auch Rechtszentrum geschaffen zu haben. Sowohl die Unterwerfung aller im Staat lebenden Menschen unter eine ein­ heitliche politische Macht als auch ihre Einbindung in ein vom Herrscher

290  Vgl.

oben 2 b. W. Weiss (2002), S. 300 ff., 412, 419 f. u. ö.

291  Dazu

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gesetztes einheitliches Recht292 sollten Ausdruck der inneren Souveränität eines jeden Staates sein. Doch dieser Glaube war schon anfangs kaum be­ rechtigt und auch keineswegs so weit verbreitet, wie man es sich erhoffte. Denn jeder Blick zurück in die Vergangenheit musste ja lehren, dass weder den Protostaaten des Altertums noch denen des Mittelalters es jemals gelun­ gen war, sich als abgeschlossene Macht- und Rechtsgebilde zu behaupten. Ständige Kriege mit äußeren Mächten hatten ihnen die Verletzlichkeit ihrer Macht vor Augen geführt, und im Frieden hatten ihnen die Außenhandelsbe­ ziehungen die Relativität ihrer Rechtsordnungen aufgezeigt, sobald ein Streit aufflammte. Offenbar gab es also weder eine der natürlichen Ordnung ver­ gleichbare Macht, die ein Staat in sich vereinen konnte, noch eine den Plura­ lismus der Rechtsordnungen von höherer Warte ausgleichende Ordnung, auf die er sich berufen konnte. Selbst als man in Rom den Glauben an ein ‚der gesamten Menschheit angeborenes‘ Recht entwickelt und hierfür die allge­ meinmenschliche Vernunft in Anspruch genommen hatte, hatte dies seinerzeit am Ergebnis nichts geändert: Man war zur faktischen Anerkennung unter­ schiedlicher Rechtsordnungen gezwungen worden und hatte sich gebeugt, indem man bei deren Zusammentreffen den örtlichen oder persönlichen Be­ zug über die Anwendung mal der einen, mal der anderen entscheiden ließ. Freilich wurde man die Idee eines allgemeinmenschlichen Rechts infolgedes­ sen nicht los, weil es ja wenigstens für die Zuordnung an die eine oder an­ dere Rechtsordnung eine rechtliche Metanorm geben musste, welche der gesamten Menschheit angehörte. Aber die Lösung dieses Rätsels fiel nicht mehr die Ägide Roms, sondern erst in die der europäischen Nationalstaaten. Deren Entwicklungsprozess, der von (mehr theoretisch als praktisch) iso­ lierten souveränen Staaten mit jeweils eigener politischer Machtbasis und einheitlichem Recht ausging und nach dem soziogenetischen Hauptsatz über die Stationen der Parallelität, Adjunktion und Konjunktion bis hin zur all­ staatlichen Union hätte führen können, wäre er zu einem guten Ende gekom­ men, blieb in jenem Macht- und Rechtszustand stecken, in dem wir uns heute befinden. Allenfalls der Wunsch, er möge die isolierten Teile auf einer höheren Ebene vereinigen (‚integrieren‘) und eine Art Weltstaat als etwas endgültig Neues hervorbringen, blieb von der Entwicklung übrig. Hat es an­ ders nicht sein sollen oder nicht sein können? (α) ‚Isolierte‘ und ‚parallele‘ hoheitliche Rechtsordnungen. Ihren Ausgang hat die Entwicklung, wie gesagt, von der Idee souveräner Staaten genom­ men, die durch territoriale Grenzen voneinander isoliert und im Innern mit 292  Zur Begründung: Dig. 1.4.1 pr.: „Quod principi placuit, legis habet vigorem.“ Th. Hobbes (1651/1970), Kap. 26: „Auctoritas non veritas facit legem.“ C. Schmitt (1934b), S. 945 f.: „Der wahre Führer ist immer auch Richter. Aus dem Führertum fließt das Richtertum.“



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ebenfalls voneinander isolierten Rechtsordnungen ausgestattet sind. Dieser Idee stand, was das Recht anbelangt, zwar immer noch die in Rom entwi­ ckelte Idee eines einheitlichen Vernunftrechts entgegen, das keinem Staate allein angehört, sondern dem alle Menschen, unabhängig von ihrer Staatsan­ gehörigkeit, zu gehorchen haben. Doch hatten schon die römischen Juristen die Idee niemals in die Praxis umsetzen können. Sie mussten vielmehr zur Kenntnis nehmen, dass parallel zu Roms Rechtsordnung andere Rechtsord­ nungen galten.293 In Anerkennung dieser Tatsache entschieden sie Streitig­ keiten zwischen Inländern und Ausländern dadurch, dass sie jeweils einer der beteiligten Rechtsordnungen den Vorzug gaben. Natürlich war für sie klar, dass ihrem Recht grundsätzlich der Vorzug gebührte, eben weil dieses ein Produkt der natürlichen Vernunft aller Menschen war, ein ius gentium, das außer auf Römer auf alle vernünftigen Fremden angewendet werden konnte, ohne dass ihnen Unrecht geschah – im Gegensatz zum fremden Recht, des­ sen Anwendung auf die eigenen Bürger sie für ausgeschlossen hielten.294 Unanwendbar auf Fremde war lediglich das römische Personen- und Fami­ lienrecht; denn Fremde waren nun einmal keine Römer. Diesbezüglich behal­ fen sie sich aber mit der Fiktion: dass jedenfalls vernünftige Fremde auch Römer sein könnten (civitas Romana peregrino fingitur)295 – sodass danach nur noch ein kleiner Rest der Menschheit übrig blieb, auf den der eigens bestellte Praetor peregrinus fremdes Recht anwenden musste. Komplizierter war die Situation aber schon damals in den römischen Provinzen. Das römische ius gentium musste zwar auch dort angewendet werden, wenn entweder ein römischer Bürger am Streit beteiligt oder römische Interessen Gegenstand des Streites waren oder wenn ein nicht-römischer Bürger ausdrücklich darum ersuchte. Stammten aber zwei miteinander Streitende aus Staaten mit differierenden Rechtsord­ nungen, denen man Vernunft nicht gänzlich absprechen konnte, etwa aus Griechen­ land, Kleinasien, Syrien oder Ägypten, dann schied die Wahl des römischen Rechts regelmäßig aus,296 und die Richter waren gezwungen, sich in deren Recht kundig zu machen. Das Fazit war also: Es galt auch in den römischen Provinzen das römische und neben ihm kein anderes Recht, außer wenn Nicht-Römer miteinander stritten und keine römischen Interessen bei ihrem Streit im Spiel waren.297 293  M.

Kaser (1971), S. 214 f. Wolff (1979), S. 67 f.; L. de Ligt (1995) S. 196. 295  Gaius, Inst. IV 37. 296  L. de Ligt (1985), S. 197 f. 297  Das zeigte sich beispielsweise im Prozess gegen Jesus, der von den jüdischen Priestern nach deren Kultrecht wegen Gotteslästerung zum Tode verurteilt worden war. Dieses Urteil konnte unter römischer Herrschaft nur nach römischem Recht und nur dann vollstreckt werden, wenn Pontius Pilatus dieselbe Strafe auch wegen Schä­ digung römischer Interessen über Jesus verhängte (vgl. dazu schon oben 3 a dd γ, ferner A. Schweitzer, 1933, S. 440 ff.). Ein weiteres Beispiel ist der Prozess gegen den Apostel Paulus: Er begann nach jüdischem Recht (Apostelgeschichte 23 1), ging aber, als Paulus sich als römischer Bürger zu erkennen gab (a. a. O. 22 25 ff.; 25 11 ff.; 26 294  H. J.

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Außerhalb der Einflusssphäre Roms galt dagegen schon damals der Grund­ satz des gleichberechtigten parallelen Nebeneinanders protostaatlicher Rechtsordnungen. Weder im antiken Griechenland298 noch im ptolemäischen Ägypten zweifelte man deshalb daran, dass es bei einem Konflikt von Perso­ nen aus unterschiedlichen Staaten gleichzeitig zum Konflikt unterschiedli­ cher Rechtsordnungen komme. Es galt „die archaische Idee, nach welcher Herkommen und Gesetz einer jeden Gemeinschaft ausschließlich deren Mit­ glieder betreffen“.299 Für die Überwindung dieses Konflikts schien es keine Möglichkeit einer rechtlichen Regelung zu geben; denn die Idee eines Inter­ nationalen Rechts war noch nicht geboren, sodass man überall, wo der Kon­ flikt entstand, unterschiedlich mit ihm umging. (β) Begegnungen hoheitlicher Rechtsordnungen (‚Adjunktion‘). Auf die­ sem Stand blieb die Entwicklung indessen nicht stehen. Verweilen wir noch­ mals bei den römischen Verhältnissen: Hier war es einigen der auf römischem Territorium lebenden ‚Peregrinen‘ ausnahmsweise erlaubt, nach ihrem hei­ matlichen Recht zu leben, sodass für sie der Primat des römischen Rechts nicht galt. In dieser Erlaubnis lag jedoch nur ein erster Ansatz zur Überwin­ dung des Primats. Zu seinem Bruch kam es erst im spätrömischen Reich.300 Damals hatten die Christen eine neue Gemeinschaft gebildet, die vom Glau­ ben zusammengehalten wurde. Von Rom grenzte diese sich u. a. durch eine Rechtsordnung ab, die ihre Legitimation nicht aus der menschlichen Vernunft ableitete, sondern aus den Geboten Gottes, die Jesus verkündet hatte. Als daher nach 312 u. Z. der römische Kaiser Konstantin die christliche Religion übernahm, war es folgerichtig, dass er das christliche Recht nicht nur als parallel geltend, sondern auch als gleichberechtigt neben das römische Recht stellte. Da er es allerdings ausschließlich als Recht der Kirche und nicht des römischen Staates anerkannte, bedurfte es immer noch eines weiteren Schrit­ tes, um aus dem parallelen Nebeneinander gleichberechtigter Rechte eine ‚adjunktive‘ Verbindung herzustellen. Dieser Schritt geschah erst, als germa­ nische Stämme in das römische Reich einfielen und dort eigene Königreiche mit eigenen Stammesrechten (Leges barbarorum) gründeten. Nunmehr galten überall außer dem römischen noch weitere Rechte, und wo ein germanisches Königreich mehrere Stämme umfasste – wie etwa das Königreich der Fran­ ken die Stämme der Thüringer, Alemannen, Bayern und Langobarden –, glich die Landkarte des römischen Reiches, wenn man die parallel nebenein­ ander geltenden Rechte farblich kennzeichnete, der Buntheit eines Flicken­ 32), sofort an ein römisches Gericht (a. a. O. 22 24), wo er nach römischem Recht zu Ende geführt wurde. 298  Zur Entwicklung des Kollisionsrechts im antiken Griechenland vgl. H. Barta (2008) m. Nachw. 299  ‚Personalitätsprinzip‘, vgl. H. J. Wolff (1979), S. 74 ff. (Zitat S. 75). 300  Zum Folgenden A. Nitschke (1995), S. 216 ff.



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teppichs. Doch selbst diese Buntheit wurde von den Römern, die im ständig volkreicher werdenden Reich noch immer die Mehrheit bildeten, als unpro­ blematisch angesehen – was beispielsweise ihre Anerkennung des griechi­ schen (byzantinischen) Rechts im Exarchat Ravenna über zwei Jahrhunderte hinweg zeigt. Sie waren von der Überlegenheit ihres eigenen über die frem­ den Rechte immer noch zu sehr überzeugt, als dass sie den Primat ihres Rechtsbewusstseins bedroht sahen. Deshalb erscheint es nur uns Heutigen als merkwürdig, dass es bei der parallelen Geltung unterschiedlicher Rechte im römischen Staat blieb, ohne dass Metanormen zwischen den parallel gelten­ den Normen ein hierarchisches Verhältnis hergestellt hätten.301 Unserem heutigen Blick offenbart sich darin schon theoretisch ein Mangel. Damals aber wurde er nur offenbar, wenn er sich praktisch zeigte, nämlich ein Streit darüber ausbrach, welchem der gleichberechtigt nebeneinander geltenden Rechte der Vorzug bei der Beurteilung eines Rechtsverhältnisses zu geben sei. Deshalb war damals der Streit (wieder einmal!) der Motor der Entwicklung. Er ließ jenen Bruch hervortreten, der sich unterhalb der Ober­ fläche inzwischen gebildet hatte: den Zusammenbruch jenes Menschenbildes, das dem ius gentium der Römer zugrunde lag. Ein neues Menschenbild nahm seine Stelle ein: nicht mehr das eines kraft seiner Vernunft prosozialen We­ sens, das von der Natur für das Leben in der Gemeinschaft vorbereitet ist und einer Rechtsordnung nur bedarf, um seine prosozialen Neigungen unbe­ schwert ausleben zu können; sondern das eines asozialen, egoistischen We­ sens, das voll Neid auf den Wohlstand seiner Mitmenschen blickt und sich nichts sehnlicher wünscht, als die fremden Güter für sich zu gewinnen. Es war das christliche Bild des mit der Erbsünde behafteten Wesens, das wäh­ rend seines irdischen Daseins nur durch Androhung von Strafen davon abge­ halten werden kann, anderen zu schaden bzw. ihnen „ein Wolf zu sein“ (wie Thomas Hobbes es später bildkräftig ausdrückte). Es war gleichzeitig die Reaktion der Religion auf die Veränderung der sozialen Verhältnisse, in de­ nen der Mensch lebte: auf deren stärkere Anonymität infolge der wachsenden Zahl von eng beieinander wohnenden Stadtbürgern.302 Ihrem Bild musste 301  A. Nitschke (1995, S. 218 f.) erklärt dies damit, dass die Menschen bis ins 11. Jh. hinein in einem Personenverband lebten. „Dies bedeutet, dass der ‚Staat‘, wenn man überhaupt dieses Wort verwenden darf, keine Verfassung kannte. Die Herr­ scher hatten auch kein Gesetzgebungsrecht im Sinne der späteren Souveränitäts­ lehre. … Der Zusammenhalt in diesen Personenverbänden beruhte auf Treuebindun­ gen. Diese verpflichteten den, der Treue versprach, zu Diensten, und den, der Treue gewährte, zum Schutz. In diesen Personenverbänden konnten die Rechte der einzel­ nen Männer und Frauen, die Treue versprachen, unterschiedlich sein. Diese Tatsache berührte den Zusammenhalt der Herrschaft nicht.“ Vgl. aber G. Kegel/K. Schurig (2004), § 3 II (S. 164 f.). 302  Die Abhängigkeit zwischen Verstädterung, Anonymität der sozialen Kontakte und schwindenden verwandtschaftlichen und nachbarlichen Verpflichtungen wird al­

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sich von jetzt an auch das neue Recht (‚adjunktiv‘) anpassen, die Anpassung allein an die menschliche Vernunft erwies sich als zu allgemein bzw. zu un­ differenziert. (γ) Verbindend geltendes hoheitliches Recht (‚Konjunktion‘). Die Anpas­ sung an das neue Menschenbild führte zu einem gründlichen Umdenken: Während das prosoziale Menschenbild mehrere parallel geltende Rechte zu­ lassen konnte, weil alle ihre Kraft aus derselben Wurzel sogen, musste das von einem neuen, asozialen Menschenbild ausgehende Recht versuchen, al­ len Menschen einen besseren Charakter aufzuzwingen, damit sie friedlich zusammenleben und ihre persönlichen Verhältnisse verträglich ordnen kön­ nen. Das aber war nur möglich, indem zwar das Zivilrecht Konkurrenz und Streit hinnahm, das Strafrecht aber Flagge zeigte. Deshalb schufen die Staa­ ten des Hochmittelalters Landfriedensordnungen mit Strafensystemen, die, obzwar gewohnheitsrechtlichen Ursprungs, eine stringente Gesetzesform er­ hielten und ihre strikte Anwendung befahlen.303 Sie waren den übrigen (Reichs- und Landes-)Gesetzen übergeordnet, standen also an der Spitze ei­ ner machtgestützten (hierarchischen) Gesetzespyramide und bildeten (‚konjunktiv‘) verbunden mit den übrigen Gesetzen erstmals zusammenhängende Rechtssysteme. Dieser Durchbruch zu einer hierarchischen Gesetzesordnung legte es nahe, nunmehr auch die Differenzen zwischen den Normen der parallel geltenden Landesgesetze zu bereinigen und so die Vielzahl der im kaiserlichen Reich geltenden Rechte wenigstens an der Spitze zu einer Einheit zu verbinden. Dem bisher vorherrschenden Trend zur Ausdifferenzierung konnte auf diese Weise durch Integration Paroli geboten werden. Gleichwohl kam es aller­ dings noch immer zu Sonderrechten, so vor allem als Folge der mittelalter­ lichen Städtegründungen in Oberitalien und Deutschland: Man erschloss ein Stück Land, grenzte es nach außen ab, bebaute es, ordnete im Innern die sozialen Verhältnisse der Bürger und schrieb die Ordnung in einer Satzung fest.304 Dadurch entstanden quer zum geltenden Reichs- und Landrecht Stü­ cke ‚gewillkürten‘ Rechts, Rechte von „Einverständnisgemeinschaften bzw. gesellschaftlichen ‚Einungen‘ “, welche die im Umland gültige Rechtsord­ nung aus Reichs- und Landrecht bewusst brachen.305 Der Weg zur Einheit lerdings nicht in allen Religionen gleich stark widergespiegelt, weniger als in Europa und Nordamerika z. B. in Afrika und in Teilen Asiens. 303  So vor allem der Mainzer Landfrieden Heinrichs IV. von 1103 und der Land­ frieden von 1152, die Constitutio contra incendiarios Friedrichs I. (‚Barbarossa‘) von 1186, der Mainzer Landfrieden von 1235 („ein großes Gesetzgebungswerk“, schreibt E. Schmidt, 1965, S. 51) und der Ewige Landfrieden Maximilians I. von 1495. 304  M. Weber (1920/21) sowie O. G. Oexle (1985), S. 239 ff. 305  M. Weber (1922/2005), S. 805.



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des Rechts musste also noch die Konkurrenz von „Herrschaft gegen Herr­ schaft, Legitimität gegen Legitimität“ durchbrechen.306 Das war allerdings nicht anders möglich als durch einen Gewaltakt. (δ) Einheitlich geltendes Reichsrecht (‚Penetration‘). Mit einem Gewaltakt kam die Entwicklung denn auch zum Abschluss: In der Mitte des 17. Jh.s, nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, entstanden die bereits erwähn­ ten souveränen Territorialstaaten, die nicht nur das Gewaltmonopol und das Rechtsmonopol zur Wahrung des inneren Friedens besaßen, sondern auch das Steuermonopol zur Finanzierung der damit verbundenen Kosten. Der Staat dehnte so seine Macht auf die Wirtschaft aus: zunächst nur zum Zwe­ cke der Sicherung der Freiheit seiner Bürger nach innen und außen, seit dem 18. Jh. aber darüber hinaus zur Förderung von Infrastrukturmaßnahmen (Straßen-, Kanal- und Hafenbauten; Regulation von Flüssen). Hinzu kamen seit dem 19. Jh. paternalistische Maßnahmen wie etwa der Aufbau eines Sozialsystems für die Bevölkerung (mit Sicherungseinrichtungen gegen Ar­ mut, Krankheit, Arbeitslosigkeit und betriebliche Unfälle), die Entwicklung eines Förderungssystems für kulturelle Institutionen (Theater, Museen, Kon­ zertsäle, Bibliotheken, kommunale Sportstätten, universitäre und andere Bil­ dungseinrichtungen) und die Errichtung eines Unterstützungssystems für konkrete Forschungs- und Entwicklungsarbeiten. Staatsbedienstete saßen ab jetzt an allen wichtigen Schalthebeln der Macht. Und soweit ausnahmsweise nicht-staatliche Stellen zur Erfüllung staatlicher oder staatsnaher Tätigkeiten herangezogen wurden, finanzierte und überwachte der Staat ihre Tätigkeit zumindest schwerpunktmäßig. Dass mit der ungebremsten Vermehrung der staatlichen Aufgaben enorme Kosten und folglich ein immer höherer Steuer­ bedarf verbunden waren, versteht sich von selbst.307 Doch die Legitimation zu seiner Befriedigung lieferte von jetzt an die Behauptung, dass nur noch 306  M. Weber (1922/2005), der diese Entwicklung darstellt, setzt (S. 431) hinzu: „Die politische Anstalt hat fast überall den Anspruch erhoben und meist durchgesetzt, dass diese Sonderrechte nur kraft ihrer Zulassung in Geltung bleiben und also auch nur so weit als sie es erlaubt. … [Gleichwohl war] die Summe aller innerhalb eines gegebenen Gebiets oder Personenkreises geltenden Rechts in großen Bestandteilen durch autonome Usurpationen verschiedener gegeneinander selbstständiger Einver­ ständnisgemeinschaften oder vergesellschafteter Einungen geschaffen und fortgebil­ det, zwischen denen der stets erneut erforderliche Ausgleich entweder durch gegen­ seitige Kompromisse geschaffen oder durch die Macht überragender politischer oder kirchlicher Gewalten oktroyiert wurde.“ 307  Der Anteil der Steuern am Bruttoinlandsprodukt vermehrte sich von durch­ schnittlich 10 % am Ende des 19. Jh.s auf fast 50 % am Ende des 20. Jh.s. Den höchs­ ten Steueranteil (einschl. Sozialabgaben) innerhalb der OECD-Staaten wies 2017 Frankreich mit 46,2 % auf; in Deutschland betrug er 37,5 %. Die wichtigsten Einnah­ mequellen waren fast überall die Sozialabgaben sowie die Lohn- und die Körper­ schaftsteuern.

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der Staat die Bedürfnisse und Interessen seiner Bevölkerung kennen und befriedigen könne und dass er dafür außer Macht- auch entsprechende Fi­ nanzmittel benötige. Dabei vergaß man freilich zu erwähnen, dass die meis­ ten Aufgaben schon vor der Gründung der Territorialstaaten bestanden hatten und von den sozialen Institutionen der Bürger und von den Kirchen ohne Staatsbeteiligung gelöst worden waren. Genauer: Man ließ dieses Faktum wohlweislich in Vergessenheit geraten – was freilich nur solange glückte, bis der Staat mit der Bewältigung der Sozialaufgaben nicht mehr zurande kam und die alten privaten Institutionen, deren Funktionen er in sich aufgesogen zu haben wähnte, zu neuem Leben erwecken musste, damit sie ihm zur Seite stehen und ihn bei seinen sozialen Bemühungen entlasten konnten. Ich breche an dieser Stelle ab und wende mich zunächst nochmals der fernen Vergangenheit zu, um die zwischenzeitliche Entwicklung auch des privaten Rechts kurz darzustellen. b) Das private Rechtsmonopol aufgrund persönlicher Eigenmacht (‚Rechtsfähigkeit‘) (α) Von der staatlichen Souveränität ausgenommene (‚isolierte‘) Rechtsbereiche. Außer der Ausbildung eines einheitlich hoheitlichen war auch die ei­ nes einheitlich privaten Rechtsmonopols (i. S. eines Rechts auf eigenmächtige Gestaltung des Privatlebens) das Produkt eines kontinuierlichen Entwick­ lungsprozesses. Der Prozess begann allerdings weitaus früher, weshalb sein Beginn weitaus stärker im Dunkel liegt. Alte Sagen belegen, dass der Mensch meinte, aus dem Chaos hervorgegangen zu sein.308 Dieses Erleben repliziert wahrscheinlich weniger das Erwachen des (mensch­ lichen) Lebens aus dem ‚Staub‘ toter Materie als vielmehr den Denaturierungs- und Kulturierungsprozess des Menschen, worin sich seine Strukturen als Person heraus­ bildeten. Der Mensch entfremdete sich von der Natur, die er als unter sich stehend begriff, und er entfremdete von sich die Götter, indem er sie aus dem alltäglichen Leben ins Jenseits entrückte. Er beanspruchte somit eine Sonderstellung im Kos­ mos – nicht halb Tier, halb Gott zu sein, sondern einen nur ihm zukommenden Platz einzunehmen, sodass er künftig nur noch durch das typisch Menschliche in ihm an Seinesgleichen gebunden war. Dieses typisch Menschliche erforderte alsdann seine Achtung. Es galt seinem Schicksal, durch seine Natur und seinen Geist „zur Freiheit verurteilt“309 zu sein − unabhängig einerseits von den naturlosen Geistern und Göt­ 308  Vgl. etwa den ältesten Schöpfungsmythos des hinduistischen Ṛg-Veda, den pelasgischen und den olympischen Schöpfungsmythos, die Theogonie (116, 123) Hesiods, die Darstellung der Genesis in der Bibel (1. Buch Mose), die Schöpfungsge­ schichte der skandinavischen Mythologie u. a. m. Diesen Weltmythen entspricht, dass auch der einzelne Mensch sich aus einem „Chaos der Empfindungen“ auftauchen sieht (vgl. K. Bühler, 1928, S. 98). 309  Vgl. J.-P. Sartre (1943/1993), S. 764.



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tern und andrerseits von den geistlosen Lebewesen. Zur Herausbildung seiner Persönlichkeit bedurfte es allerdings noch eines weiteren Entwicklungsschrittes. Und zu ihm setzte er in den Staaten an, wo auch sein Recht den stärksten Auftrieb erhielt: in Griechenland und in Rom.

Noch bei Homer entsprang menschliches Handeln nicht der eigenen indi­ viduellen Persönlichkeit als vielmehr einer transpersonalen Kraft, die dem Menschen seinen Lebensweg vorschrieb, die sein Schicksal (εἱμαρμένη) be­ stimmte und die ihm nur die Einsicht darein beließ.310 Erst danach erstarkte seine Einsicht ihm zur Führerin, schrieb der eigene Geist ihm den Weg vor und lenkte der eigene Wille sein Sollen und Handeln. Und der Mensch mit dem höchsten Maß an Einsicht, der Philosoph, hatte von nun an die Aufgabe, ihm den Weg zu weisen. Philosophenschulen entstanden und vereinten Män­ ner mit gleicher Geisteshaltung. Diese geistigen Gemeinschaften bildeten sich in Griechenland in der Öffentlichkeit und vor allem auf der ἀγορά. Denn man meinte, nur in der Gemeinschaft mit anderen in das Wesen der Dinge und in die Werte der Wahrheit, des Guten und des Richtigen eindringen zu können, kurzum zur Persönlichkeit zu werden. Dies war der Ansatz auch für das Vernunftrecht, das sich in Rom ausbil­ dete und sich von dort aus entfaltete. Zunächst allerdings trat es nur als Idee und nur in einzelnen Persönlichkeiten zutage, während es erst allmählich zum Gemeinbesitz des gesamten Volkes wurde. Entsprechend wurde das rö­ mische Volk zum Volk des Rechts, indem es zunächst von Einzelpersönlich­ keiten und ihren individuellen Willenssphären ausging und erst danach die Gemeinschaft und ihre überindividuelle Vernunft einbezog. Gründe für das Erste waren (soweit wir heute rekonstruieren können) die absondernde Wir­ kung des überkommenen Ahnenkults und die sich herauf gründende Famili­ enorganisation, ferner ein auf die praktische Ausgestaltung des Zusammenle­ bens gerichteter Trieb, der für das Recht keine andere Wahl zuließ als die Anerkennung einer Vielzahl privater Machtsphären.311 Gründe für das Zweite waren die Übernahmen aus der griechischen Philosophie der Stoa von einer beherrschenden All-Vernunft, die in der Ordnung der Dinge selbst enthalten und daher der individuellen Macht des Menschen überlegen sei. In den Wor­ ten Ciceros:312 „Est quidem vera lex ratio, naturae congruens, diffusa in omnes, constans, sempiterna. … Nec erit alia lex Romae, alia Athenis, alia nunc, alia posthac, sed et omnes 310  „Ducunt fata volentem, nolentem trahunt“ lautete hierfür die von L. A. Seneca (Epistulae 107, 11) übersetzte Formel des Kleanthes. 311  Privatrecht war demnach, was dem Nutzen eines jeden Einzelnen dient (Dig. 1, 1, 1, 2: „quod ad singulorum utilitatem spectat“.), und seine Aufgabe bestand darin, den persönlichen Freiraum gegenüber der res publica (dem römischen Staat) und dem populus Romanus (dem römischen Volk) zu verteidigen. 312  M. T. Cicero, De re publica, III 33.

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gentes et omni tempore una lex, et sempiterna et immutabilis continebit.“ („Das wah­ re Gesetz ist die richtige Vernunft, die mit der Natur im Einklang steht und allen Menschen eingeboren, stetig und ewig ist. … Es ist dasselbe, ob in Rom oder Athen, ob jetzt oder später, und es gilt für alle Völker und alle Zeiten ewig und unveränder­ lich.“)

Die Bedeutung der individuelle Machtsphären brachten im römischen Recht die subjektiven Willenserklärungen zum Ausdruck, die in der Ordnung der Dinge enthaltene Vernunft war in den objektiven Eigenschaften der Rechtsinstitute enthalten.313 (β) Berührung privater Rechtsbereiche miteinander und mit dem Staat (‚Adjunktion‘). Beide Ansätze des römischen Privatrechts, sowohl der singu­ läre (‚isolierende‘) als auch der soziale, wirken bis auf den heutigen Tag nach: Überall in den europäischen und den von Europa geprägten Privatrech­ ten ist der personale Wille der entscheidende Faktor für die Anerkennung rechtlich geschützter Sozialbeziehungen. Weitgehend ausgeblendet wird da­ durch freilich eine Tradition, die hinter das römische Recht weit zurückreicht und von einem Menschenbild bestimmt wird, das den Einzelnen als von der Gemeinschaft geformt und damit fest in sie eingebunden erkennt – worin das Ganze alles ist, alles dem Ganzen gehört und jede Differenzierung sich auf den Ort und die Funktion innerhalb des Ganzen beschränkt. Gemeinschaften, die diesem Bild annähernd entsprachen, waren zunächst die Familien, später in mehr oder weniger lockerer Form die Hausgemeinschaften und − je nach Volk und Tradition − weitere verwandtschaftliche oder durch Brauchtum und Sitte begründete Gemeinschaften, ferner Gefolgschaften, die durch den Treuegedanken zusammengehalten wurden. Die modernen ‚westlichen‘ Ge­ sellschaften haben dieses Urbild des Menschen in den Hintergrund gedrängt und an seine Stelle ein Menschenbild gesetzt, das den individuellen Men­ schen als nur noch durch ein schmales Band mit der Gemeinschaft verbun­ den zeigt und das Band selbst als entweder fest angezogen oder in der Schwebe gehalten darstellt, sodass es entweder Einbindung oder Absonde­ rung, Vergemeinschaftung oder Privatheit, aber auch abwechselnd beides symbolisieren kann. Das schmale Band symbolisiert die Beziehung des Bürgers nicht nur zur Gesellschaft, sondern auch zum Staat. Es steht entweder für eine enge Ein­ gebundenheit des Bürgers in den Staat, die nur wenige abgrenzende Rechts­ normen zwischen Staatsmacht und Privatheit zulässt, oder für eine weite 313  R. von Jhering (1894/1993), S. 220: „Die römische Anschauungsweise … lässt sich am bezeichnendsten in der Weise ausdrücken, dass [sie] in der [rechtlichen] Frei­ heit nicht etwas Subjektives, … sondern eine objektive, vom Willen der Person unab­ hängige, unzerstörbare Eigenschaft der Rechtsinstitute erblickt. … Das römische Recht hat den Zweck des Instituts zum Maß für die dem Subjekt innerhalb desselben zu verstattende freie Bewegung gemacht.“



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Distanz zwischen Bürger und Staat, die nur mittels weniger Rechtsnormen überbrückt wird. Es steht somit entweder für die Erlaubnis von Eingriffen des Staates in die Privatheit bis hin zu deren Kern oder umgekehrt für die freie Entfaltung der Persönlichkeit des Einzelnen bis hin zu den unüber­ schreitbaren Grenzen der Staatsmacht.314 Und es steht darüber hinaus für eine lange Reihe von vermittelnden Auffassungen, für die die deutsche Rechtsprechung als Beispiel angeführt sei: •• Sie teilt den Machtbereich des Bürgers, der vom Staat, aber auch von der Öffentlichkeit Achtung fordert, einerseits in „Sphären“ ein, die ihn desto intensiver abschirmen, je enger sie sich um den Kern seiner Persönlichkeit legen.315 • Die ‚Individualsphäre‘ umfasst seine Eigenart in ihren Beziehungen zur Um­ welt, insbesondere in ihrem öffentlichen und beruflichen Wirken. • Die ‚Privatsphäre‘ umfasst sein Leben im familiären und im häuslichen Kreis sowie Teile seines sonstigen Privatlebens. • Die ‚Intimsphäre‘ umfasst seine individuelle Gedanken- und Gefühlswelt sowie deren äußere Erscheinungsformen z. B. in vertraulichen Briefen oder Tage­ buchaufzeichnungen, ferner in Angelegenheiten, für die ihrer Natur nach ein Anspruch auf Geheimhaltung besteht (Beispiel: Gesundheitszustand).

•• Sie lässt die Achtung der Persönlichkeits„sphären“ andrerseits nicht in Ächtung, ihre Abschirmung gegenüber der Öffentlichkeit nicht in Diskri­ minierung umschlagen. • Sie gewährleistet dem Bürger die Freiheit zur aktiven Teilnahme am Leben der Gemeinschaft und am Schicksal des Staates, zu allgemeinen sozialen Tätigkei­ ten und zu individuellen Verträgen mit anderen Bürgern (Art. 2 Abs. 1 GG). • Als darin eingeschlossen erkennt sie die in der Verfassung speziell aufgeführten Freiheiten der Meinungsäußerung und der Kunst- und Wissenschaftsausübung (Art. 5 GG), der Versammlung (Art. 8 GG) und der Vereins- und Koalitionsbil­ dung (Art. 9 GG).

(γ) Verbindung privater Rechtsbereiche miteinander und mit dem Staat (‚Konjunktion‘). Sowohl die Achtung vor dem Privatbereich als auch dessen Öffnung zur Begegnung mit den Anderen waren innerhalb von sozialen Kleingruppen so selbstverständlich, dass sie weder Betonung noch Abgren­ zung brauchten. Wem dennoch öffentliche Gestaltungsmöglichkeiten eigens zugeteilt wurden – vom römischen Recht beispielsweise dem Haussohn öf­ fentliche Ämter und das (Mit-)Bestimmungsrecht am Familien- und am Sip­ 314  Vgl. Art. 2 Abs. 1 GG; „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Per­ sönlichkeit [nur], soweit er … nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung … ver­ stößt.“ 315  „Sphärentheorie“, vgl. etwa BGHZ 13 334, 338; BVerfGE 27 1 ff. Zur Kritik vgl. E.-J. Lampe (1987), S. 96.

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pengut, vom germanischen Recht beispielsweise die Waffenreichung –, der war davon i. d. R. nicht als individuelle Person, sondern als Mitglied einer Familie oder eines Standes gemeint.316 Von solcher natürlichen Achtung und Öffnung ist fast nur noch innerhalb der Kernfamilie etwas übrig geblieben. Außerhalb schirmt heute die eigene Rechtssphäre jeden gegenüber dem sozi­ alen Umfeld und erst recht gegenüber der ‚Öffentlichkeit‘ so weitgehend ab, dass Beziehungen nach außen erst (‚konjunktivisch‘) geschaffen und ausge­ staltet werden müssen − typischerweise willentlich im Wege eines Vertrages, wozu heute überall Freiheit besteht. Vorausgesetzt wird dafür einerseits eine private „Geschäftsfähigkeit“ sowie bei bestimmten Vertragsarten eine besondere Fähigkeit: beispielsweise die „Eherechtsfähigkeit“ für die Eingehung einer Ehe, die „Verfügungsberechti­ gung“ für die Veräußerung von Eigentum. Andrerseits – insoweit ist eine Ent­ wicklung im Gange – ist der Abschluss von Verträgen nicht notwendig auf Privatpersonen beschränkt; vielmehr dürfen seit Längerem auch Institutionen und nach Neuestem auch solche des Staates, „anstatt einen Verwaltungsakt zu erlassen, einen öffentlich-rechtlichen Vertrag mit demjenigen zu schließen, an den sie sonst den [einseitigen] Verwaltungsakt richten würden“ (§ 54 VwVfG).317 Und da der Staat sich in diesem Fall seiner souveränen Macht begibt, entspricht dann die Bindungswirkung des Vertrages exakt derjenigen des privatrechtlichen, sodass das Verwaltungsverfahrensgesetz auf die gesetz­ lichen Vorschriften über Privatverträge verweisen kann (§ 62 Satz 2 VwVfG). Interesse an solchen Vereinbarungen und damit ‚Verbindlichkeiten‘ zwischen Bür­ ger und Staat hat sich sogar im Bereich der Strafverfolgung ergeben. Sie hat hier zu ‚Absprachen‘ (man spricht nicht gern von ‚Verträgen‘) zwischen den an einem Straf­ prozess Beteiligten (Angeklagtem, Staatsanwaltschaft und Gericht) geführt, um allen Seiten noch vor Verfahrensabschluss Rechtssicherheit hinsichtlich des Prozessaus­ gangs zu geben. In den USA war das seit Längerem gang und gäbe; in Deutschland werden solche ‚Absprachen‘ erst seit 2009 – nach einer Periode der Unsicherheit – zugelassen und gesetzlich in § 257c StPO derart geregelt, dass das Gericht und die Verfahrensbeteiligten sich „in geeigneten Fällen“ über den weiteren Verfahrensfort­ gang und das Ergebnis des Verfahrens „verständigen“ dürfen (Beispiel: Geständnis des Angeklagten gegen die Zusage einer Aussetzung der Strafe zur Bewährung). Die Regelung ist freilich umstritten geblieben, weil in Deutschland nicht nur Zivil- und Strafrecht strenger getrennt sind als in den USA, sondern und weil es hier auch als sozialmoralisch bedenklich angesehen wird, wenn jemand, der nicht nur gegen das Recht, sondern auch gegen elementare Grundsätze der Sozialmoral verstoßen hat, sich davon ‚freikaufen‘ darf. 316  A.

Nitschke (1987), S. 254. braucht die Initiative noch nicht einmal von der Behörde auszugehen; auch eine Privatperson kann initiativ werden, z. B. um für die Vorbereitung oder Durchführung einer städtebaulichen Maßnahme (§ 11 BauGB) rechtliche Sicherheit zu erlangen. 317  Dazu



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(δ) Vereinigung privater Rechtsbereiche miteinander und mit dem Staat (‚Interpenetration‘). Weniger umstritten ist dagegen eine über die vertrag­ liche hinausgehende Verbindung von Rechtsbereichen, deren Verschmelzung zu einer Einheit, etwa zu einer ‚Gesellschaft‘ oder zu einem ‚Verein‘.318 Auf privater Ebene waren solche Verschmelzungen schon im Altertum möglich, wahrscheinlich hatten sie teilweise sogar Rechtscharakter.319 Ihre Zahl und ihre Bedeutung stiegen jedoch erst im Mittelalter steil an, insbesondere um die öffentlich-rechtlichen Interessen von Standesangehörigen in ‚Zünften‘ und ‚Innungen‘ zu organisieren. Das neuzeitliche Bürgertum behielt solche Zusammenschlüsse bei, stellte aber die Mitgliedschaft in den meisten Ver­ bänden320 frei, sofern nicht typische Berufsinteressen auf dem Spiel standen. Gleichwohl entwickelte sich gerade aufgrund der Beteiligungsfreiheit ein reges, auf unzählige kulturelle, wirtschaftliche oder sportliche Interessen ausgerichtetes Gemeinschaftsleben, das teilweise auch rechtliche Formen annahm und manchmal den Staat zur Teilnahme einlud. Die Besonderheit spezifisch rechtlich geordneter Zusammenschlüsse von Personen besteht darin, dass die Zusammenschlüsse selbst als Rechtssubjekte anerkannt und damit von der bloß geselligen Verbindung von Personen (z. B. im Rahmen der Teilnahme an einem Konzert oder an einem Ball) klar abge­ hoben werden. Als rechtliche Einheiten müssen sie all jene Merkmale auf­ weisen, die für den rechtsgeschäftlichen Verkehr von Einzelpersonen maß­ geblich sind: Erwerb von Rechtsfähigkeit, hier anstelle durch natürliche Ge­ burt durch juristische ‚Gründung‘; Erwerb von Geschäftsfähigkeit, hier an­ stelle einer unmittelbaren Einsichtsfähigkeit in die Bedeutung rechtlichen Handelns durch die Bestellung eines Geschäftsführers oder Vorstandes, der diese Einsicht mitbringt; Erlöschen von Rechts- und Geschäftsfähigkeit, hier anstelle des natürlichen Todes durch juristische ‚Auflösung‘. Wiederum kön­ nen an solchen Zusammenschlüssen sich auch staatliche Institutionen beteili­ gen, sofern sie gleiche Interessen mitbringen und zusätzlich ein besonderes

318  Das deutsche Recht unterscheidet zwischen einer ‚Gemeinschaft‘ als einer Be­ rechtigung mehrerer Personen nach Bruchteilen an einem Gegenstand ohne wechsel­ seitige Verpflichtungen als denen, die sich aus Treu und Glauben ergeben, einer ‚Gesellschaft‘ als einer Vereinigung mehrerer Personen mit der rechtlichen Verpflich­ tung zur Förderung eines gemeinsamen Zwecks und einem ‚Verein‘ als körperschaft­ lich verfasstem Zusammenschluss mehrerer Personen zur Erreichung eines überindi­ viduellen Ziels. 319  Vgl. oben G 4 g. 320  Der Begriff ‚Verband‘ wird im deutschen Recht zwar erwähnt, aber nicht defi­ niert. Allgemein rechnet man hierzu Zusammenschlüsse einer großen Anzahl von Personen zur aktiven Förderung privater oder politischer Interessen. Gebraucht wird der Begriff vor allem in der Wirtschaft, wo er sowohl Einzelunternehmen als auch deren Zusammenschlüsse umfasst (vgl. oben 2 b).

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Gemeinwohlinteresse ihre Beteiligung rechtfertigt − was in einer Aufteilung des wirtschaftlichen Nutzens zum Ausdruck kommen muss.321 Generell kann die staatliche Teilnahme am modernen Verbandsleben von bloßer Beobachtung über die Förderung bis hin zur aktiven Mitwirkung reichen. Ab wann generell eine auch rechtlich gesicherte Teilnahme möglich und sinnvoll ist, wodurch der Staat gleichsam in die zivile Gesellschaft (re-)integriert wird, lässt sich dagegen nicht genau bestimmen. Impulse gingen in neuester Zeit zunächst von der Interessen­ gleichheit nach dem Zweiten Weltkrieg aus: Sowohl die Politik als auch eine Reihe privater Organisationen mussten sich damals auf den Wiederaufbau der Städte und auf die Wiedergewinnung des normalen Lebensstandards konzentrieren. Als dieses Ziel erreicht war, trat der Gedanke einer ‚Entwicklung‘ auch der bisher ‚unterentwi­ ckelten‘ Länder in den Vordergrund. Seine moralische Grundlage hatte er in dem Konzept einer Weltgemeinschaft, die nicht nur zu politischer, sondern auch zu wirt­ schaftlicher Zusammenarbeit bereit und verpflichtet ist und dabei als Ziel die welt­ weite Angleichung der Lebensverhältnisse vor Augen hat. Und da man überdies der Überzeugung war, dass gewisse Länder nur darum unterentwickelt sind, weil sie aus eigener Kraft sich nicht hatten entwickeln können, propagierte man allenthalben die Konjunktion reicher und armer Länder in Gestalt einer – die ‚Diffusion‘ von Erfah­ rung ermöglichenden – Zusammenarbeit sowohl zwischen den Regierungen als auch einzelnen Bevölkerungsschichten. Daraus entstand dann ein ‚Korporatismus‘: Hilfsor­ ganisationen aus den reichen Ländern handelten zwar autonom, unterstellten sich je­ doch bezüglich der genauen Ausrichtung ihrer Tätigkeit politischen Vorgaben der ar­ men Länder.

5. Die Entwicklung hybriden (hoheitlich-privaten) Rechts (B: Tendenzen) Ich habe vorstehend dargelegt, dass einerseits dem Staat nicht verwehrt ist, sich privater Hilfe zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben zu bedienen, dass andrerseits er selbst sich an privaten Unternehmungen nur beteiligen kann, sofern typisch hoheitliche Interessen dies rechtfertigen. Die Entwicklung ei­ nes eigenständigen hybriden (öffentlich-privaten) Rechts baut hierauf auf. Sie setzt voraus, dass Bürger und Staat (gemeint ist im Folgenden stets der moderne Territorialstaat) zwar eigenständige Rechtssubjekte mit jeweils ei­ gener Rechtssphäre sind und bleiben, ihre Rechtssphären sich jedoch derart fest miteinander verbinden, dass eine gemeinsame Rechtssphäre entsteht, die weder dem privaten noch dem öffentlichen Recht allein angehört, aus der heraus sowohl gemeinsame Ziele entwickelt als auch die zu ihrer Erreichung erforderlichen Maßnahmen vorangetrieben werden können.

321  Näheres

dazu u. a. bei R. Münch (2010), S.  88 ff.



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a) Die nationale Entwicklung hybriden Rechts Historisch betrafen die zuerst in Angriff genommenen gemeinsamen Ziele des Staates und seiner Bürger die soziale Wohlfahrt im eigenen Lande. Dazu musste ein Staat, der sich bisher nur auf die Gewährleistung innerer Sicherheit beschränkt hatte und dem deshalb die notwendigen Mittel zur Gewährung auch sozialer Wohlfahrt fehlten, finanzkräftige Teile der Zivil­ gesellschaft mit ins Boot holen.322 Genetisch gesehen verwandelte sich da­ durch sein Charakter von einer seine Bürger lediglich schützenden zu einer auch um deren Wohl besorgten Institution (‚Sozialstaat‘). Und soweit er zur Erreichung seines neuen Ziels das Recht einsetzte, folgte dieses dem Cha­ rakterwandel: Es wandelte sich von einem Schutzwall gegen Eingriffe in die jeweils andere Ordnung in ein Mittel zur Integration privater und staat­ licher Ordnung und von einem Mittel zur Sicherung lediglich staatlicher Ordnung in ein Mittel zur Sicherung auch sozialer Gerechtigkeit. Die Rich­ tung der Entwicklung gab der soziogenetische Hauptsatz vor: (1) Die iso­ lierte Geltung einerseits des staatlichen und andrerseits des zivilen (vertrag­ lichen) Rechts im liberalen Staat stand am Anfang; der Weg führte (2) von der parallelen Geltung beider (3) zur wechselseitigen Annäherung im Sozi­ alstaat, von der Annäherung (4) zur vertraglichen Verbindung von Staat und Gesellschaft im sozialen Kooperationsstaat und zum Abschluss – trotz man­ cher zwischenzeitlichen Verzweigung – (5) zur Verschmelzung beider in der ‚hybriden‘ Einheit eines soziale Wohlfahrt mittels privater Hilfe gewährleis­ tenden Staates (‚Gewährleistungsstaat‘). Ich versuche, dies im Einzelnen nachzuzeichnen. (α) Alleingeltung von hoheitlichem Recht (‚Isolation‘). Der Anstoß für die Entwicklung kam aus dem liberalen Staat heraus und bestand in der ‚Erfin­ dung‘ der Idee eines Sozialstaats. Diese Erfindung ließ sich nur umsetzen mittels einer staatlichen Wirtschafts- und Steuerpolitik mit dem Ziel sozialer Wohlfahrt, und Mittel zur Umsetzung konnte nur ein System von Rechtsnor­ men sein, dem als politisches Modell die Gewinnung sozial gerechter Ver­ hältnisse zugrunde lag. Ein solches Normensystem konnte ein nur liberaler, d. h. nur auf Freiheitssicherung ausgerichteter, Staat nicht entwickeln. Er sah sich dazu aufgrund der neuzeitlichen philosophischen und religiösen Lehren über das Verhältnis zwischen Mensch und Staat auch nicht befugt. Das staat­ liche Recht, so hieß es nämlich, solle lediglich das äußere Verhalten der Bürger betreffen, ihr inneres Wesen dagegen nicht erreichen. Einem derarti­ gen Recht musste einerseits die Forderung nach Empathie mit dem schwa­ chen Teil der Bevölkerung fremd sein, andrerseits konnte es seine Aufgabe nicht darin finden, den starken Teil der Bevölkerung zu prosozialem Handeln 322  Genauer

dazu oben 1 a β.

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zu veranlassen – diese Aufgabe blieb der sozialen Ethik und der Religion vorbehalten. Doch die Zukunft zeigte, dass eine religiös geprägte Sozialmo­ ral die staatliche Wohlfahrtsordnung in der neuzeitlichen Massendemokratie nicht zu ersetzen vermag. Die Trennung von Recht und Sozialmoral, etwa im Sinne einer Reinen Rechtslehre,323 konnte daher – wenn überhaupt – allen­ falls ein rechtslogisches Petitum sein. Versuche einer Trennung von Recht und Sozialmoral gab es bereits viele. Im Altertum hatten ihn sowohl die spätgriechische Philosophie324 als auch die jüdisch-christ­ liche Religion unternommen, um zu verhindern, dass die Verantwortung des Einzel­ nen vor seinen Mitbürgern bzw. vor Gott etwa hinter die Verantwortung vor dem Staat und seinen Gesetzen zurücktrat. Für das gesamte europäische Mittelalter war wichtig, dass das Christentum die Menschen mit der Verantwortung für die Sünde Adams belastete. Augustinus stilisier­ te sie zur Erbsünde325 und sah von ihr das Heil der Seele bedroht, wovon nur die Partizipation am Kreuzestod Jesu sie erretten könne. Infolgedessen musste sich die moralische Einsicht des Menschen ganz auf die eigene Person richten. Dass dennoch die Kirche im Spiel blieb, verdankte sie ihrer weiteren Lehre, dass die Partizipation des Einzelnen am Kreuzestod Jesu keineswegs ausreiche, um das individuelle Seelen­ heil zu retten. Hinzutreten müsse vielmehr ein spezieller Gnadenakt Gottes, den jeder für sich zwar erflehen, aber nur mithilfe der Kirche erringen könne. Erforderlich für diesen Akt seien Gewissensbildung, Beichte (Geständnis) und Reue,326 Beschäftigun­ gen also mit dem sündigen Ich. Das Recht, den Einzelnen von seinen Sünden freizu­ sprechen, sodass er ohne Todesangst ins Jenseits übergehen konnte, nahm die Kirche jedoch wiederum für sich in Anspruch. Auf diese religiösen Vorgaben hin war auch die Sozialordnung ausgerichtet. Der fromme Kaufmann beispielsweise achtete vor allem darauf, dass sein Wirken Gott wohlgefällig war; die staatlichen Normen hatten für ihn folglich eine lediglich außermoralische, auf das geschäftliche Verhältnis zu seinen Kunden ausgerichtete Funktion. In der Neuzeit unterwarf sich freilich längst nicht mehr jeder der christlichen Leh­ re und nahm die Vermittlerrolle der Kirche für sein Seelenheil in Anspruch. Gleich­ wohl entging auch jetzt noch kaum einer dem allgemeinen Trend zur Selbsterfor­ schung und zur Suche nach einer Antwort auf die Frage, inwiefern er über den Tod hinaus für sein irdisches Wollen und Tun verantwortlich sei. Offenbar war das Be­ wusstsein einer solchen das irdischen Leben transzendierenden Verantwortung keim­ haft in jedem Menschen angelegt, sodass der Glaube an eine transzendent gerechte Welt religiös lediglich verstärkt werden musste, um zum moralischen Wesensbestand­ 323  H. Kelsen

(1960). σεαυτόν („Erkenne dich selbst“)  – diese Inschrift am Apollotempel in Delphi bildete einen Teil des Titels der Ethik von Petrus Abaelardus, dem wichtigs­ ten Philosophen des 12. Jh.s, worin dieser das individuelle Gewissen zur obersten sitt­lichen Instanz noch vor den staatlichen Gesetzen erhob. 325  A. Augustinus, De Nuptiis et Concupiscentia, II 26 43: „Causa peccati est voluntarium peccatum primi hominis.“ 326  A. Hahn (1982). 324  Γνῶθι



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teil der Persönlichkeit zu werden.327 Selbsterforschung war es denn auch, die mehr noch als die juristischen Normen der moralischen Überzeugung zugrunde lag, dass „Treu und Glauben“ im rechtsgeschäftlichen Verkehr und das Verbot von ‚Untreue‘ im Wirtschaftsverkehr (etwa bei der Verwaltung fremden Vermögens) so viel Gewicht haben, dass ihre Verletzung außer moralischen auch Rechtsfolgen nach sich ziehen müsse, weshalb ‚Garantenpflichten‘ zum Schutz vor Gefahren für Leib und Leben, Hab und Gut seiner Mitmenschen für jedermann auch rechtlich verpflichtend seien. Für große Teile des orientalischen Mittelalters war wichtig, dass der Islam den Einzelnen weniger als Individuum denn als Mitglied der Umma ansah, d. h. einer Glaubensgemeinschaft, die von ihm fordert, dass er sein Dasein nach den im Koran überlieferten göttlichen Gesetzen (Šarī’a) ausrichtet.328 Nur religiös verpflichtend war danach etwa das tägliche rituelle Gebet, das Fasten im Monat Ramadan und die Wallfahrt nach Mekka (haǧǧ), deren Vernachlässigung individuelle Schuld begründet und zur Verurteilung durch ein Gottesgericht führt, wenn die Sünden nicht zuvor be­ reut wurden.329 Auch sozialmoralisch verpflichtend waren dagegen gewisse Sozial­ abgaben, die den Armen und Bedürftigen sowie den Menschen, die in Not geraten sind, zugutekommen sollten.330 Die Vernachlässigung dieser Pflichten begründete, soweit sie gleichzeitig staatlichen Gesetzen zuwiderlief, außer individueller auch rechtliche Schuld und hatte die Verurteilung auch durch ein weltliches Gericht zur Folge.

In der islamischen Welt waren Recht und Sozialmoral gemeinsam in der Religion enthalten. In der christlichen Welt musste ihre Trennung letzthin 327  Es gibt eine ganze Reihe von Versuchen, sich dem (unbestrittenen) Vorhan­ densein religiöser Überzeugungen bei allen Völkern psychologisch zu nähern. Eine Meinung sieht den Grund für Religiosität darin, dass jeder Mensch Trost sucht, wenn er trotz heißem Bemühen nicht den Erfolg erreicht, den er verdient zu haben glaubt; er hofft, dass ihm dann die Hilfe einer höheren Macht den gerechten Ausgleich be­ schert – entweder noch vor seinem Tod durch ein unerwartetes Glück oder nach ­seinem Tod durch einen himmlischen Lohn. Eine andere Meinung sieht den Grund darin, dass immer dann, wenn die Macht des Menschen an ihre Grenze stößt, er dazu neigt, höhere Mächte anzurufen, weil eben ‚nur noch beten hilft‘. So opferten früher die Menschen und so beten sie heute anlässlich einer gar nicht endenden Trockenheit in den Kirchen, dass Gott doch endlich Regen schicken möge. Und wie zum Beweis wird es irgendwann auch regnen, und alle werden dann sagen: ‚Gott sei Dank!‘ 328  ‚Islam‘ bedeutet die „unbedingte Ergebung in den Willen Gottes“. Und was das bedeutet, sagt die Sure 3 83 f., die in der Übersetzung von F. Rückert so lautet: „Ihm ist ergeben, wer im Himmel und auf Erden,/Freiwillig und gezwungen…/Sprich so: Wir glauben/An Gott und das was uns herabgesendet ist,/Und was herabgesendet ist auf Abraham/Und Ismael und Issak/Und Jakob und die Stammeshäupter,/Und was empfangen Mose hat und Jesus/Und die Profeten all von ihrem Herren;/Wir machen keine Scheidung zwischen einem unter ihnen,/Und wir sind Ihm Ergebne.“ 329  Anders als das Christentum verneint der Islam allerdings die Erbsünde der Menschheit; denn Gott sei schon zu Adams Zeit barmherzig gewesen und habe ihm seinen Ungehorsam verziehen (vgl. Sure 2 37 ff.). 330  Suren 2 110 und 9 60. Siehe auch Sure 70 24 f.: Wer sein Gebet ernst nimmt, fühlt sich verpflichtet, einen Teil seines Vermögens den Armen zu überlassen.

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scheitern, und zwar gerade aufgrund des starken Einflusses der Religion auf die innere Entwicklung des Menschen, der sich anschließend auch das Recht nicht entziehen konnte. Voran ging das mittelalterliche Strafrecht: Es ver­ langte, dass weltliche Kriminalstrafen aus religiösen Gründen nur mit Rück­ sicht auf den hinter der Tat stehenden Willen und die damit verbundene persönliche Verantwortung verhängt und vollstreckt werden sollten. Und es ging so weit, dass bisweilen die Verurteilung eines Angeklagten abgelehnt wurde, wenn er nicht zuvor sich zu seiner Tatschuld bekannt und den Weg zur inneren Einkehr beschritten hatte. „Sie sollen nicht gerichtet werden, wenn sie nicht durch ihr eigenes Bekenntnis überwunden sind“ – hieß es im Hexenhammer von 1487, der damit zugleich die landein landaus geübte ­Praxis spiegelte.331 Im Bereich des Zivilrechts (und, soweit vorhanden, des Verwaltungsrechts) meinte man freilich zunächst, sich mit der Steuerung des äußeren Verhaltens durch das Recht begnügen zu können. Doch zwang auch hier das allmählich immer raschere Bevölkerungswachstum im 19. Jh. zum Umdenken, weil man merkte, dass die abstrakten Rechtsnormen die immer differenzierter werdenden psychischen Anreize der sozialen Verhältnisse auf das persönliche Verhalten nicht erfassen konnten und Konkretisierungen ohne Rücksicht auf den inneren Willen der handelnden Menschen unzurei­ chend waren. Und da auch die neuzeitlichen, an den Sozialwissenschaften orientierten Philosophen die rechtliche Abstraktion von der konkreten sozia­ len Situation im gerichtlichen Urteil sowie von der konkreten politischen Situation in den Gesetzen störte, geriet das Abstraktionsprinzip schließlich überhaupt in Verruf. Man erinnerte an Ciceros scheinbar paradoxen Satz „Summum ius, summa iniuria“, und interpretierte ihn dahin, dass sich die Gerechtigkeit niemals in der rechtsgesetzlichen Abstraktion erschöpfen dürfe, sondern dass sie die konkrete Gerechtigkeit mit umfassen müsse.332 Weltweit kämpfte ohnehin der Handel unter diesem Banner für die individuelle Frei­ heit am Land und auf dem Meer und beanspruchte überall die flexible An­ wendung der nationalen Rechte auf seine vom gemeinsamen Bewusstsein für das weltweit Gerechte geformten Bräuche. Kurzum – es kam zur Abwertung der einer logischen Systematik huldigenden Rechtsordnungen und zu einer Aufwertung des konkreten, dem Standort und dem Augenblick verpflichteten lebendigen Rechtsgefühls, sodass beide, die gesetzliche und die (frei-)recht­ liche Ordnung, teilweise parallel nebeneinander galten und mal die eine, mal die andere die Oberhand gewann. Und obendrein berief man sich in den evangelischen Staaten auf Martin Luthers Forderung an die Obrigkeit, dass 331  Zur Folter zwecks Erlangung eines sich selbst überwindenden Geständnisses vgl. W. Schild (1980, S. 158 ff.) mit ausführlicher Darstellung der hierzu angewandten Mittel und Methoden. 332  Schon Aristoteles hatte auf diese Unzulänglichkeit des Gesetzesrechts hinge­ wiesen. Vgl. oben H 2 c bb α ββ und J 6 b.



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innerhalb von Gesetz und Recht auch noch für die Liebe Raum bleiben müs­ se.333 Als Fazit blieb folglich die Erkenntnis, dass der Staat allein mithilfe abs­ trakter Rechtsgesetze seiner Bevölkerung keine den konkreten sozialen Situ­ ationen Rechnung tragenden Rechte gewähren und Verpflichtungen auferle­ gen kann. Und daraus wurde gefolgert, dass er sich mit anderen Ordnungen verbinden müsse, die dort in die Bresche springen, wo die Macht der Gesetze ihn im Stich lässt – seien dies solche der sozialen Moral oder einer konkre­ ten, Billigkeitsaspekte einschließenden, Gerechtigkeit. (β) Parallelgeltung von hoheitlichem und privatem Recht. Psychischen Widerstand erhielten alle Bestrebungen zur Individualisierung und Konkreti­ sierung allerdings von der im 19. Jh. beginnenden und bis heute nicht abge­ schlossenen technisch/technologischen bzw. industriellen Revolution. Diese trat den Tendenzen zur Individualisierung334 entgegen, indem sie zum einen das Berufsleben auf spezialisierte Tätigkeiten begrenzte, die gesetzlich typi­ siert waren, und zum anderen den Markt mit serienmäßig gefertigten Artikeln überschwemmte, die individuellen Produkten kaum noch Raum ließen. Sie veränderte auch das Privatleben, indem sie Individualität zwar gestattete, diese aber nur mittels individueller Kombination von Gleichem ermöglichte und selbst dann noch so weit steuerte, dass sie in Modewellen ablief, welche die Industrie vorausplanen und denen sie vorarbeiten konnte. Heute können die unzähligen in Serie gefertigten Autos, Telefone, Computer, Fern­ seher und Spiele zwar unterschiedlich eingesetzt und mit unterschiedlichen Extras ausgestattet werden: Es gibt unterschiedliche Autotypen, stehende und tragbare Tele­ fone mit und ohne Kabelanschluss, Computer mit unterschiedlicher Hard- und Soft­ ware, Fernsehgeräte mit terrestrischem und mit Parabolantennenanschluss usf. Außer­ dem kann jedermann sein Auto unterschiedlich lackieren, mit unterschiedlichem Motor und mit vielen weiteren Extras ausstatten lassen, sodass aus der Menge zusätz­ 333  M. Luther, WA XI, S. 278 f.: Der Christ sei berufen, Nächstenliebe auch im politischen Bereich zu praktizieren, indem er Liebe in Macht umsetzt. In der Hand des Christen ändere das Recht seinen Charakter: Gesetzgebung und Rechtsprechung orientierten sich an „der liebe gesetz“ bzw. an „der liebe recht“. 334  Individualisierung und ihr Gegenbegriff Sozialisierung bedeuten in der Sozio­ logie den Übergang von der Fremd- zur Selbstbestimmung bzw. von der Selbst- zur Fremdbestimmung. Solche Übergänge können z. B. durch religiöse Prämissen (vgl. dazu J. F. Thiel, 1984, S. 19 ff.), durch technische oder ökonomische Entwicklungen (z. B. in der Telekommunikation, im Handelsverkehr, durch das Auseinanderdriften von Arm und Reich) gefördert, durch militärische oder soziale Maßnahmen u. U. aber auch erzwungen werden (z. B. durch einen Krieg oder durch eine staatliche Steuerpo­ litik – vgl. dazu H. Sinzheimer, 1948, S. 48 ff.). Allerdings hat sich auch erwiesen, dass fast jede soziale Entwicklung einschließlich ihrer rechtlichen Komponenten au­ ßer einem Wechselspiel zwischen individualen Potentialen und sozialen Einflüssen auch aus einem Phasenwechsel zwischen Individualisierung und Sozialisierung be­ steht.

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lich eingebauter Teile so etwas wie ein individuelles Produkt entsteht. Aber es bleibt bei einem Produkt, das die Summe industriell genormter Teile ist; eine übersummati­ ve Besonderheit (Individualität, ‚Einzigartigkeit‘) kommt dabei nicht heraus. Dassel­ be gilt für die Wohnungseinrichtungen: Sie bestehen fast ausschließlich aus fabrikmä­ ßig hergestellten Möbeln sowie aus technischen und Ziergeräten, die als Massenware auf den Markt kommen. Ihre Zusammenstellung in der Wohnung ist dann zwar indi­ viduell, beseelen das Ganze aber weniger als ein paar selber gepflückte oder gesteck­ te Blumensträuße und darüber hinaus vielleicht noch ein altes Familienerbstück.

Angesteckt von der Tendenz zur individuellen Kombination von Gleichem wurden auch die sozialen Kontakte. Sie ergaben sich hauptsächlich aufgrund von Mitgliedschaften in Vereinen und Verbänden, worin sich Personen mit gleichen Interessen zusammenfanden, und aufgrund von Freizeitbetätigun­ gen, die nach gleichen festgelegten Regeln abliefen, gemeinsam betrieben wurden und mit der Mode wechselten. Zahl und Spezialisierung der Vereine und der Freizeitbetätigungen wuchsen zwar allmählich an, und mit ihnen wuchs auch die Zahl der Mitgliedschaften und Freizeitbetätigungen, die der Einzelne auf sich vereinigte. Doch blieb es dabei, dass ihre Vereinigung die Individualität nicht begründete, sondern nur ersetzte. Zu dieser beruflich auf mechanische Tätigkeiten festgelegten und privat entindividualisierten Welt passten am besten ein zum Abstraktum geworde­ ner Staat und eine von generell-abstrakten Normen durchzogene, jedoch zur individuellen Zusammensetzung eines Normengeflechts freigegebene Rechts­ ordnung. Ihr Schutz galt Menschen, die zwar als Embryos noch individuell im Mutterleib behütet waren, deren Geburt, Namensgebung und Vertretung aber schon gesetzlich geregelt waren, die von den staatlichen Gesetzen in der Jugend zum Besuch von Schulen und zur beruflichen Ausbildung verpflich­ tet, im anschließenden Arbeitsverhältnis mit einem tabellarisch festgelegten Lohn versorgt und gesundheitlich abgesichert, gesetzlich aber auch zur Zah­ lung von Lohnsteuern und Versicherungsbeiträgen herangezogen wurden, und denen andere Gesetze im Alter eine ausreichende Pflege und Verpfle­ gung sowie am Ende eine Bestattung ohne großes Aufsehen angedeihen lie­ ßen – all dies in Formen, die großenteils zwar noch vor der Entstehung der modernen Industriestaaten geschaffen wurden, deren Abstraktion von ihren konkreten Anlässen und quasi mechanischer Ablauf jedoch durch die Ver­ dichtung der Bevölkerung in immer größeren Städten mit immer anonymer werdenden Sozialkontakten unausbleiblich waren und die infolgedessen das konkrete Einzelschicksal immer mehr in ein rollenmäßiges und sein Umfeld in ein standardmäßiges verwandelten. Es waren dies die Voraussetzungen für einen Sozialstaat als normiertes Gesamtsystem konkreter Lebensläufe, die von höherer Warte aus ‚bewältigt‘ werden mussten. Die in Gegenrichtung verlaufende Tendenz zur konkret-individuellen Exis­ tenz verschwand indes nicht völlig aus dem Bewusstsein. Auch wenn sie in



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den modernen Massengesellschaften immer mehr zum Phantom geriet, er­ hielt sie sich gleichsam nebenbei am Leben, genährt vom Wissen, dass jeder Mensch wie alles Lebendige nur einmal und nur für kurze Zeit existiert und dass die ihm aufgetragene Existenz ihn verpflichtet, ihre Einmaligkeit zu erkennen und sein Handeln hierauf einzurichten, sodass er am Ende seiner Tage auf die Frage ‚Was bist Du gewesen?‘ Antwort geben kann. Und wenn solche Selbstreflexion, Selbstbestimmung und Verantwortlichkeit auch von Volk zu Volk nicht gleichermaßen ausgebildet waren und längst nicht alle Bevölkerungsgruppen in gleichem Maße erfassten, waren sie doch zumindest unterschwellig überall vorhanden, sodass die Staatsverfassungen sie als Teil einer menschlichen Würde anerkennen konnten – und mussten. Die deutsche Verfassung tat das beispielhaft in ihren Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG. Und die deutsche juristische Dogmatik sekundierte, indem sie alle privaten subjektiven Rechte nicht mehr als vom Staat hergestellte „günstige Lagen“,335 sondern als vom individuellen Menschen autochthon begründet und ihm zugehörig begriff.336 Darüber hinaus erkannten ihre Ver­ treter an, dass es parallel zur vom Staat gesetzten eine private Rechtsordnung gibt, die ihren Ursprung im Bewusstsein der Bürger von der eigenen Rechts­ subjektivität hat und die daher mit der staatlichen Rechtsordnung in Wech­ selwirkung steht: indem sie z. B. die ‚guten Sitten‘ des Volkes vor Verwahr­ losung schützt, während jene der Auflehnung gegenüber einer staatlichen Sittenordnung Grenzen setzt;337 indem sie z. B. den konkreten Einzelfall be­ wertet, während jene der abstrakten Einheit, der er zugeordnet ist, ihren Schutz verleiht; indem sie z. B. ausnahmsweise geschehen lässt, was jene nicht hinnehmen kann (denn ‚Was wäre, wenn jeder das täte‘, ‚Da könnte ja jeder kommen‘ blieben die klassischen Argumente einer nach Gesetzen funk­ tionierenden Verwaltung); und indem sie z. B. akzeptiert, was ausnahmsweise (als ‚Ausrutscher‘) vorkommt, was jene aber nicht einfach ‚unter den (ge­ meinsamen) Tisch kehren‘ kann. Indessen stehen nun beide Rechtsordnungen, die staatliche und die bürger­ liche, nicht bloß ergänzend nebeneinander, sondern sie stützen und befruch­ ten auch einander. Das wird besonders dort sichtbar, wo nicht die ordnende Funktion der staatlichen, sondern die moralische Funktion der bürgerlichen Ordnung in den Vordergrund tritt. Dort nämlich wehrt sich das Rechtsgefühl dagegen, dass die Todesstrafe am Mörder vom Henker vollzogen wird, nicht oben 5 c α. Pawlowski (2003), S. 7 (Rn. 15) und 16 f. (Rn. 33 f.); differenzierend M. Wolf/J. Neuner (2012), § 20 Rn. 2 ff. 337  Dazu BAGE 28 83, 88 f. (1976 ‒ seinerzeit noch betr. Homosexualität). Vgl. auch BVerfGE 6 389, 434 f. (betr. Vorführung des Geschlechtsverkehrs auf einer Bühne). Das Bundesverfassungsgericht verwies u. a. auf traditionelle religiöse Leh­ ren, insbesondere solche der christlichen Kirchen. 335  Vgl.

336  H.-M.

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jedoch, wenn die Polizei den Mörder auf der Flucht erschießt (was fast regel­ mäßig in Filmen geschieht, überdurchschnittlich häufig aber auch in der Realität); denn das Erschießen auf der Flucht dient noch der Wiederherstel­ lung der Ordnung im konkreten Fall, während die Vollstreckung der Todes­ strafe bereits zum abstrakten Vorgang geronnen ist. Umgekehrt akzeptiert es selbst eine gerechtfertigte Wiederherstellung der Ordnung weniger, wenn sie im Einzelfall mit einer (unvorhersehbaren) körperlichen Verletzung des Stö­ rers einhergeht, als wenn sie ohne diese Verletzung auskommt. Staatliche und bürgerliche Ordnung lieben es, übereinstimmend zu gelten! (γ) Adjunktion von hoheitlichem und privatem Recht. Die Adjunktion, die wechselseitige Einwirkung aufeinander von staatlicher und bürgerlicher Ordnung,338 haben viele Staaten zu einer (meistens nachträglichen) hoheitli­ chen Kontrolle der privaten Ordnung ausgebaut. Sie haben z. B. allgemeine Geschäftsbedingungen für ungültig erklärt, die für Kunden überraschend oder unangemessen nachteilig waren (vgl. etwa §§ 305c, 307 BGB). Sie ­haben private Vereinbarungen innerhalb sozial besonders sensibler Bereiche (Familienrecht und Recht der abhängigen Arbeit) einer gerichtlichen Kon­ trolle unterworfen, wenn die Gefahr bestand, dass sie berechtigte Schutzinte­ ressen der schwächeren Partner beeinträchtigen (unten αα). Umgekehrt haben die Staaten privaten Institutionen aber auch Eingriffe in ihren Souveränitäts­ bereich gestattet – freiwillig, wenn sie sich z. B. aus historischen Gründen dazu verpflichtet hielten, unter Druck, wenn sie Mächten gegenüberstanden, die sie als zu hoch oder als zu stark einschätzten, um sie in staatliche Nor­ men zu zwängt (unten ββ). (αα) Hoheitliche Einwirkungen auf die Privatsphäre. Das Eindringen der Staaten in die bürgerliche Sozialordnung wurde von der Tendenz begünstigt, sozial sensible Systeme zu fraktionieren und zu autonomisieren. Infolgedes­ sen konnten staatliche Normen Teile der privaten Rechtsgestaltung im Wirt­ schafts- und Arbeitsrecht in Fesseln legen, u. a. um sozial schwächere vor sozial stärkeren Akteuren zu schützen. Innerhalb des Wirtschaftsrechts griff der deutsche Staat339 einerseits in die private Freiheit zur Regelung des gewerblichen Güter- und Leistungsaustausches ein, indem er das Gewerbe- und Kartellrecht reformierte340 und veranlasste, dass Fairnessnor­ 338  Allgemein zum „sozialen Strukturwandel“ und zum „politischen Funktions­ wandel“ sowie zur fortschreitenden Verstaatlichung der Gesellschaft bei sich gleich­ zeitig durchsetzender Vergesellschaftung des Staates vgl. J. Habermas (1969). 339  Die nachfolgenden Ausführungen beschränken sich mithin, soweit nichts an­ deres vermerkt, auf die deutsche Rechtslage. Eine rechtsvergleichende Analyse wäre zu umfangreich geworden. 340  Dazu W. Fikentscher (1983), S. 8 f., 19 ff. Rechtsvergleichend stellt Fikentscher (a. a. O. S. 324 f.) fest, dass „kaum ein Rechtsgebiet so sicher auf bestimmte psycho­ logische Gegebenheiten, Denkarten, historisch gewachsene Stärken und Schwächen



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men für Wirtschaft und Handel zu Papier gebracht und in Verhaltenskodizes (Codes of Conduct) zusammengefasst werden.341 Andrerseits verstärkte er die private Unter­ nehmerfreiheit, indem er Subventionen oder Bürgschaften für riskante Geschäfte ge­ währte.342 Im Arbeitsrecht überließ der deutsche Staat zwar den Abschluss von Einstellungs­ verträgen sowie die Zuweisung von Arbeitsaufgaben den Arbeitgebern, entzog ihnen aber den größten Teil des sonstigen Inhalts von Arbeitsverträgen (Begrenzung der Arbeitszeit, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Gewährung von Urlaub, Fristen für die Kündigung).343 Das Eindringen in die Vertragsfreiheit der Parteien begründete er damit, dass er als Sozialstaat die Bevölkerung, die ihren Lebensunterhalt zum über­ wiegenden Teil durch abhängige Arbeit verdient, vor Ausbeutung und unzumutbaren Arbeitsbedingungen zu schützen habe.

Darüber hinaus musste die private Vertragsfreiheit sich dort staatliche Ein­ griffe gefallen lassen, wo sie eine nicht hinnehmbare soziale Ungerechtig­ keit344 zur Folge hatte. Allerdings war die Korrektur insoweit vor allem Aufgabe der Gerichte (vgl. etwa § 138 Abs. 2 BGB) – zunächst nur, wenn sozial ungleiche Partner aneinandergeraten waren,345 später auch, wenn ur­ sprünglich sozial gleiche Partner sich gegenübergestanden, nachträglich aber einer von ihnen in Not geriet und dadurch ein Ungleichgewicht eintrat. Unter den Beispielen für eine gerichtlich mögliche Durchbrechung der Vertragsbin­ dung ragt die dauernde Abhängigkeit eines Schuldners vom Gläubiger durch einen lebenslang unkündbaren Mietvertrag346 oder durch ein anderes unkündbares Vertrags­ verhältnis (§ 314 BGB) heraus. Auch die Scheidung der an sich auf lebenslange Dauer angelegten Ehe ist vom Staat ständig erleichtert worden; sie bedarf heute nicht einmal mehr einer Begründung. Umstritten geblieben ist dagegen die gerichtliche Befreiung des in Not geratenen „redlichen Schuldners“ von seinen Verbindlichkeiten (§ 1 Satz 2 InsO): In Deutschland darf ihn seit 1994 das Insolvenzgericht von der vollständigen Befriedigung seiner Gläubiger entbinden (§§ 286 ff. InsO), wenn ihm dies als „billig“ erscheint. Dass die Entbindung für die Gläubiger keineswegs ‚billig‘ und andere nationale Eigenheiten schließen lässt wie das Bewirtschaftungsrecht“. In Frankreich sei das staatliche Planungsrecht hoch entwickelt, den anglo-amerikani­ schen Rechtskreis kennzeichne das Vorhandensein vieler Behörden mit autonomen Befugnissen, in Japan gebe es eine Tradition der ‚administrative guidance‘, d. i. einer zwar nicht verpflichtenden, trotzdem beachteten Beratung der Industrie seitens staat­ licher Behörden. 341  Siehe dazu unten nach Fn. 435. 342  W. Fikentscher (1983), S. 672 f. 343  Vgl. dazu auch oben 2 a γ. 344  Dasselbe gilt für die soziale Unerwünschtheit; denn das europäische Unionsrecht unterscheidet bei der Kontrolle nationaler Vorschriften nicht zwischen öffent­lichem und privatem Recht. 345  BVerfG u. a. in: NJW 1990, S. 1470; 1994, S. 38; 1996, S. 2021. 346  W. G. Friedmann (1969), S. 102: „Der Vertrag darf nicht zu einer versteckten Form des Status werden.“

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wird, sondern (entgegen Art. 14 GG) eine entschädigungslose Enteignung darstellt,347 soll aus Gründen sozialstaatlicher Fürsorge keine Rolle spielen. Die übrigen Mitglied­ staaten der EU haben die Eigentumsgarantie ihrer Verfassungen (sowie des 1. Zusatz­ protokolls zur Konvention der Menschenrechte und Grundfreiheiten) ernster genom­ men und sind diesem Vorbild der Fürsorge auf fremde Kosten nicht gefolgt.348

Außer der privaten Vertragsfreiheit wurde auch das private Eigentumsrecht von immer zahlreicheren öffentlich-rechtlichen Beschränkungen betroffen. Vor allem das Grundeigentum wurde, obwohl theoretisch nach wie vor aner­ kannt, substanziell immer mehr ausgehöhlt. Aber auch sonst war das staat­ liche Recht ständig im Kampf für soziale Interessen gegen ‚bloße‘ Indivi­ dualinteressen im Vormarsch. Beispiele: In Deutschland wurde dem Gesetzgeber generell erlaubt, das Eigen­ tumsrecht (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG) durch einfaches Gesetz einzuschränken, wenn es das „Wohl der Allgemeinheit“ (Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG) verlangt. Benutzt hat der Gesetzgeber diese Ermächtigung aber nicht nur, um das Grundeigentum im Interesse des Naturschutzes zu beschränken,349 sondern beispielsweise auch, um die Rechte der Minderheitsaktionäre im Interesse der Eingliederung eines Unternehmens in einen Konzern zu beschneiden,350 oder um einem Patentgericht zu erlauben, dass es eine Zwangslizenz zum Vertrieb einer Erfindung erteilt, wenn ein öffentliches Interesse die Erteilung gebietet, ein Lizenzsucher sich aber erfolglos bemüht hat, vom Patent­ inhaber die Zustimmung zur Nutzung zu erhalten (§ 24 Abs. 1 PatG).351

Außerhalb des wirtschaftlichen Bereichs bekam das Familienrecht das Eindringen des öffentlichen Rechts zu spüren. So wurde, ähnlich wie beim 347  Zum Ausgleich wird den Gläubigern zwar eine Befriedigung aus pfändbaren Forderungen des Schuldners „aus einem Dienstverhältnis oder an deren Stelle treten­ den laufenden Bezügen für die Zeit von sechs Jahren“ gewährt (vgl. §§ 291, 287, 295 InsO) – was ihnen jedoch wenig hilft, wenn der Schuldner sich künftig mit einem Lebensstandard unterhalb der Pfändungsgrenzen begnügt. Teilweise einschränkend deshalb jetzt § 287b InsO: Der Schuldner wird verpflichtet, eine „angemessene Er­ werbstätigkeit“ auszuüben. Zu den seltsamen und jede Menge an Rechtsprechung produzierenden Folgerungen beim Anfall einer Erbschaft vgl. § 295 InsO und die Kommentarliteratur dazu. Ein Gewinn im Lotto hat die Gerichte bisher noch nicht beschäftigt. 348  Auf völkerrechtlicher Ebene wird der Schutz vor Enteignung durch das inter­ nationale Investitionsschutzrecht (d. i. durch die mehr als 2500 bilateralen Investiti­ onsschutzverträge) auf fast alle am internationalen Wirtschaftsverkehr teilnehmenden Staaten erweitert. 349  BVerwGE 84 361, 367 ff. 350  BVerfGE 100 289, 301 ff. 351  Aufgrund dieser Bestimmung hat z. B. das Bundespatentgericht im September 2016 den Unternehmen des US-amerikanischen Pharmakonzerns Merck im Interesse der deutschen Gesundheitsversorgung erlaubt, ihr AIDS-Medikament „Isentress“ in Deutschland zu verkaufen, obwohl das japanische Pharmaunternehmen Shionogi das Patent für den Wirkstoff in Europa angemeldet hatte. Siehe dazu BGHZ Urteil vom 11. Juli 2017 (X ZB 2/17).



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Eigentum, dem familiären Zusammenleben erst ein staatsfreier Raum garan­ tiert,352 dann aber der Raum immer mehr eingeschränkt, um dem Staat die Möglichkeit zu fürsorglichen Eingriffen zu verschaffen. Verkannt wurde dabei, dass staatliche Eingriffe in das Familienrecht oft ambivalent sind: Soweit das familiäre Zusammenleben den angeborenen familiären Neigungen, d. h. der Liebe und der Zuneigung, überlassen bleibt, mag der Rechtsstatus des Ein­ zelnen innerhalb der Familie zwar schwach sein; aber er ist dann mehr wert als ein starker Status, weil sich das intrafamiliäre Verhalten am konkret Richtigen ausrichtet (und nur die überkommenen Sitten es insoweit binden). Soweit der Staat dagegen den Kindern rechtliche Ansprüche gegenüber ihren Eltern gewährt, gar die Rechtspflich­ ten der Eltern gegenüber ihren Kindern katalogisiert, stärkt er zwar den Rechtsstatus jedes einzelnen Familienmitglieds, schwächt dafür aber auch die oft weit darüber hi­ nausgehenden sittlichen Verpflichtungen. Und das ist per saldo nur dann vorteilhaft, wenn die sittlichen Strukturen der Familie zerfallen sind. Der deutsche Gesetzgeber hat das an sich auch erkannt und seine Regelungen deshalb durch Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffen aufgeweicht; doch hat er gleichzeitig den Gerichten einen erheblichen Entscheidungsspielraum für den Einzelfall gelassen, den diese u. U. in wenig förderlicher Weise nutzen können. Einige Kritikpunkte seien beispielhaft erläutert: 1. Der deutsche Gesetzgeber hat den Eltern zwar aufgegeben, ihren Kindern einen „angemessenen Unterhalt“ zu ge­ währen (§ 1610 Abs. 1 BGB), wozu auch „die Kosten einer angemessenen Vorbildung zu einem Beruf“ gehören (§ 1610 Abs. 2 BGB). Die Entscheidung aber, welche Be­ rufsausbildung und welcher Kostenzuschuss der Eltern dafür „angemessen“ ist, hat der Gesetzgeber nicht den Eltern überlassen, sondern bei einem Streit zwischen Eltern und Kindern den Instanzgerichten übertragen, die folglich zu prüfen haben, welcher Beruf „der Begabung und den Fähigkeiten, dem Leistungswillen und den beachtens­ werten [!] Neigungen des Kindes am besten entspricht“ und ob sich die „Finanzierung [der Ausbildung] in den Grenzen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Eltern hält“353. Dieser Prüfungsrahmen erlaubt den Instanzgerichten u. a. die Entscheidung, ob die finanziellen Möglichkeiten der Eltern ein Studium nur am Wohnort oder auch im Ausland erlauben, ob sie zumindest gelegentliche Auslandsaufenthalte zu finanzie­ ren haben und wenn ja, in welcher Höhe, usw. – 2. Einen noch weiteren Rahmen für Eingriffe haben die Instanzgerichte, wenn Meinungsverschiedenheiten zwischen den Eltern hinsichtlich der Kindererziehung bestehen (§ 1628 BGB). Zwar sollen die Gerichte sich in diese Meinungsverschiedenheiten nur bei Angelegenheiten einmi­ schen, „deren Regelung für das Kind von erheblicher Bedeutung ist“ (§ 14 Nr. 5 RPflG). Aber welche Angelegenheiten erhebliche Bedeutung besitzen und ob die „erhebliche Bedeutung“ aus der Perspektive des Kindes, aus der der Eltern oder der des Gerichts zu beurteilen ist, sagt das Gesetz nicht. Das entscheidet deshalb der Richter oder die Richterin selber.

(ββ) Privatrechtliches Eindringen in die Staatssphäre. Während Staaten in die privaten Rechtsverhältnisse ihrer Bürger so weit eingreifen dürfen, wie ihnen die Verfassung keine Grenzen setzt, dürfen Privatpersonen in hoheit­ 352  H. Zacher 353  BGHZ

(1984), S.  83 f. 69 190, 192; 107 376, 379 u. ö.

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liche Rechtsbereiche eigentlich nur so weit vordringen, wie sie den Staat zum freiwilligen Rückzug veranlassen können oder wie der Staat bei der Regelung eines Bereichs offensichtlich versagt hat. Inzwischen haben sich private Institutionen jedoch aus dem einen oder anderen Grunde in fast alle hoheitlichen Rechtsbereiche hineingedrängt. Beispielhaft seien drei Bereiche herausgehoben: (1) Zu den wichtigsten Requisiten staatlicher Souveränität gehört das aus­ schließliche Recht zur Erhebung von Tributen, Steuern, Abgaben und Gebühren. Die Legitimation dazu bezieht der Staat aus mehreren Wurzeln: für Tribute aus der Unterwerfung fremder Völker, für Steuern aus der Erfüllung von Aufgaben (z. B. Gewährleistung innerstaatlicher Sicherheit und Ordnung, Führung eines Krieges, Bildung von Wiedergutmachungs- und Reparations­ fonds nach Kriegen, soziale Leistungen an die arme Bevölkerung), für Abgaben aus speziellen Leistungen (z. B. Zehnter vom Ertrag für die Verpachtung staatlichen Bodens) und für Gebühren aus der Erteilung von Erlaubnissen (z. B. Gestattung grenzüberschreitenden Handels). Ebenfalls alt, jedoch um­ stritten sind weitere Steuern, die den Staat u. a. in Form von Vermögenssteu­ ern, Erbschaftssteuern, Grundsteuern und Gewerbesteuern erhebt. Zur Geschichte: Über die Anfänge der Erhebung von Steuern etc. können wir nur Vermutungen anstellen. In Mesopotamien waren offenbar sämtliche Untertanen zu Dienstleistungen (u. a. im Heer und beim Bau von Gemeinschaftseinrichtungen) und zu Naturalabgaben an die Paläste verpflichtet. Entsprechend scheinen sich auch die Einnahmen für die Großbauwerke des AR in Ägypten hauptsächlich aus Dienst- und Naturalleistungen zusammengesetzt zu haben. In Griechenland forderte in archaischer Zeit der auf der Insel Scheria herrschende (Ober-)König Alkinoos die Vornehmen seines (mythologischen) Volkes der Phäaken auf, Odysseus kostbare Gastgeschenken zu machen und die Kosten hierfür sich vom gemeinen Volk erstatten zu lassen.354 Eine eigentliche Steuererhebung scheint es aber erst in klassischer Zeit gegeben zu haben. So weiß man von Athen, dass dort die 1.200 reichsten Bürger in Klassen ein­ geteilt und gemäß ihrem Vermögen zu Steuern herangezogen wurden, dass man überdies von den ansässigen Einwanderern, den Metöken (μέτοικοι), feste Abgaben verlangte und dass man einen weiteren Teil der Staatskosten auf die mit Athen ver­ bundenen Städte abwälzte. Die wichtigsten Fortschritte bei der Steuererhebung mach­ te allerdings Rom. Alle Bürger wurden hier von einer Erbschaftssteuer (vicesima hereditatum) und einer Auktionssteuer (centesima rerum venalium) betroffen. Daneben erhob man in den eroberten Provinzen – zunächst durch Steuerpächter (decumani bzw. publicani), später durch Verwaltungsbeamte – einen Zehnten vom Bodenertrag oder stattdessen eine Grundsteuer. Und noch später erfand Kaiser Konstantin die Gewerbesteuer hinzu, die sich als äußerst entwicklungsfähig erwies. Legitimiert wurde die Belastung mit Steuern zunächst als Tribut an den Staat (in römischer Zeit z. B. mit der Theorie vom dominium populi Romani in solo provinciali), erst viel später dann durch die Souveränitätslehre, die in einigen Staatsverfassun­ 354  Homer,

Od. XIII 14 f.



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gen der Neuzeit explizit Ausdruck fand, in anderen stillschweigend vorausgesetzt wurde.355 Die Souveränitätslehre begründet sie meistens pragmatisch damit, dass sich der Staat für die Entfaltung politischer Macht und zur Erledigung sonstiger Aufgaben von seinen Bürgern ausreichende Finanzmittel unerlässlich verschaffen muss. Dabei habe der Staat zwar die Grundsätze der wirtschaftlichen Systemhaftigkeit, der Trans­ parenz, der Praktikabilität und der Stetigkeit zu beachten, doch würden weder die Anzahl der Steuern noch ihre Höhe von der Einhaltung dieser Grundsätze berührt – schon weil sie teilweise im Widerspruch zueinander sowie zu einer gerechten Steuer­ veranlagung stünden. Somit bestimmt und begrenzt heute offenbar nur noch politische Willkür die Steuerpflicht.

Durchbrochen wird das Monopol des souveränen Staates zur Steuererhe­ bung heute vor allem zugunsten der Religionsgemeinschaften, obwohl diese überwiegend keine sozialstaatlichen Aufgaben wahrnehmen. In Europa hängt das immer noch mit der Säkularisation des Vermögens der christ­ lichen Kirchen nach der französischen Revolution zusammen. Dennoch ist die staat­ liche Steuererhebung zu ihren Gunsten (vgl. Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV) ein Fremdkörper innerhalb des Steuersystems;356 denn sozial ähnlich bedeut­ same Institutionen wie etwa die Gewerkschaften, Sozialversicherungsträger und ge­ setzlichen Berufs- und Wirtschaftskammern haben keine steuerlichen Befugnisse.

(2) Ein zweites Monopol des souveränen Staates ist der Erlass von allgemeinen Gesetzen. Dennoch haben auch hier Teile der Zivilgesellschaft es auf unterschiedliche Weise geschafft, das Monopol zu durchbrechen. Die Mittel dazu reichen von der neutralen Beratung seitens wissenschaftlicher Kommis­ sionen über die schon nicht mehr neutrale Anmeldung von Forderungen ­seitens privater Verbände und Lobbyistengruppen bis hin zur massiven Be­ hinderung der staatlichen Gesetzgebung seitens internationaler Wirtschafts­ konzerne mittels Bestechung von Mitgliedern in den parlamentarischen Entscheidungsorganen oder mittels Bedrohung von Regierungsmitgliedern ­ schwacher Staaten (u. a. um für Wirtschaftskonzerne nachteilige Veränderun­ gen an der gegenwärtigen Gesetzeslage zu unterbinden oder vorteilhafte Veränderungen zu bewirken). Privater Einfluss auf die staatliche Gesetzgebung ist allerdings keineswegs stets unberechtigt; er muss jedoch legitime Interessen verfolgen und sich legitimer Mittel 355  So etwa in der deutschen Verfassung; die Art. 104a ff. GG regeln lediglich die Verteilung der Befugnis zur Steuererhebung. 356  In Deutschland dürfen auch nichtchristliche Religionsgemeinschaften Steuern einziehen, sobald sie als „Körperschaften des öffentlichen Rechts sui generis“ (BVerfGE 30 415 ff., 428) anerkannt sind. Diese Anerkennung gliedert sie nach Mei­ nung des Bundesverfassungsgerichts nicht in den Staat ein, sondern macht sie ledig­ lich zu Partnern des (religiös neutralen) Staates mit der Funktion, gesellschaftlich integrierend zu wirken ‒ was sie angeblich von den sonstigen privatrechtlichen Ver­ einigungen, etwa den Parteien und Gewerkschaften, abgrenzt (BVerfGE 19 129 ff., 133) und ihre steuerliche Förderung rechtfertigt.

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bedienen. Findet z. B. ein ausländisches Wirtschaftsunternehmen keine hinreichend sicheren Rechtsgrundlagen für seine Investitionen vor, die es vor einer staatlichen Enteignung schützen, oder braucht es für seine Produktion Materialien, für die ein Importverbot besteht, dann kann es durchaus eine Gesetzesergänzung oder -änderung zur Bedingung für seine Ansiedlung machen. Auch kann ein Staat selbstverständlich internationale Wirtschaftsverbände oder spezialisierte Anwaltskanzleien um beraten­ den Einfluss auf seine Gesetzgebung bitten, wenn sich ihm, etwa aufgrund einer technischen Neuentwicklung, schwer lösbare Gestaltungs- oder Formulierungsproble­ me stellen. Manchmal übernehmen die angefragten Wirtschaftsverbände dann auch zum Ausgleich die Überzeugungsarbeit bei ihren Mitgliedern, um die vereinbarten staatlichen Normen in sinnvolle wirtschaftliche Praxis umzusetzen – sodass der Staat sich, wenn er sich nicht ganz aus Verantwortung stehlen will, auf die Kontrolle der Umsetzung zurückziehen und somit (wieder einmal) vom Leistungsstaat zum Ge­ währleistungsstaat werden kann.

(3) Ein drittes Monopol des souveränen Staates ist nach neuzeitlicher Auf­ fassung die Wahrung der öffentlichen Sicherheit innerhalb der staatlichen Grenzen. Doch während die Wahrung den absolutistischen Staat lediglich als eine Obliegenheit traf, deren Erfüllung die Bürger begünstigte, trifft sie den Staat heute als eine Pflicht, auf deren Erfüllung die Bürger einen Rechtsan­ spruch haben. Diese Veränderung hat Auswirkungen nicht nur auf die Rechtsstellung der Polizei im Staat, sondern auch auf die Rechte und Pflich­ ten der Bürger, was sie selbst zur Sicherung ihres Herrschaftsbereichs tun dürfen und sollen. Als Faustformel hat sich herausgebildet, dass die Siche­ rung solange die eigene Angelegenheit der Bürger ist, wie sie den Rahmen der zivilrechtlich erlaubten Notwehr einhält, d. h. lediglich der Abwehr, nicht aber der Vorbeugung vor einem rechtswidrigen Angriff dient; und dass sie diesen Rahmen lediglich überschreiten darf, wenn obrigkeitliche Hilfe ent­ weder nicht zur Stelle oder nicht ausreichend ist, um eine konkrete Verlet­ zungsgefahr abzuwenden. Gehen die Bürger über diesen Rahmen hinaus, dann greifen sie in das staatliche Gewaltmonopol ein, das ja gerade der Verhinderung eigenmächtigen Interessenschutzes dienen soll.357 Allerdings versagt diese theoretisch klare Abgrenzung in der Praxis, weil einerseits die Bürger oft nicht wissen, ob der Staat sie ausreichend schützen kann, und andrerseits die staatlichen Organe oft nicht wissen, ob die Bürger eine dro­ hende Gefahr bereits abgewendet haben oder ob sie noch besteht. Als weitere Schwierigkeit kommt hinzu, dass nach herrschender, wenngleich um­ strittener, Meinung358 das Recht der Polizei nicht nur dem privaten Selbstschutz, sondern auch der privaten Selbsthilfe durch Sicherungsdienste vorgeht. Das ist zwar richtig gedacht, darauf aber auch beschränkt. Denn in der Praxis kann kein bezahlter 357  Auch von der Bevölkerung eingesetzte Sicherungsunternehmen haben nur die Jedermannsrechte der Notwehr und des Notstands gegenüber gewaltsamen Attacken. 358  Für Deutschland vgl. die Nachweise in den Kommentaren zu § 227 BGB und zu § 32 StGB.



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Sicherungsdienst darauf vertrauen, dass etwa bei einem Einbruch in ein Privatgebäu­ de die Polizei rechtzeitig kommt, um die Täter zu stellen und ihnen die Beute abzu­ nehmen. Er liefe Gefahr, wegen Untätigkeit haftbar und zum Schadensersatz ver­ pflichtet zu werden, falls er sich irrte. Doch auch wenn man das Recht auf den ersten Zugriff derjenigen Macht zubilligt, die zuerst zur Stelle ist, löst man die praktischen Probleme keineswegs immer. Denn weiß die eine Schutzmacht, ob die andere schon zur Stelle ist und ob sie die Schadensgefahr erkannt und gebannt hat? Weiß sie darü­ ber hinaus, ob die andere Seite überhaupt imstande ist, die Gefahr mit ihren Mitteln zu bannen? Zwischen dem privaten Sicherheitsgewerbe und der Polizei gibt es darü­ ber immer wieder Kontroversen, die anstelle einer isolierten Betrachtung de iure zur Annahme entweder zweier sich ergänzender Aufgaben oder einer funktionalen Zu­ sammenarbeit de facto bei der Bewältigung einer gemeinsamen Aufgabe nötigen. Dagegen ist es zu einer Verschmelzung der privaten mit der öffentlichen Aufgabe im Grenzbereich der inneren Sicherheit bisher noch nicht gekommen, wahrscheinlich weil nicht sein kann, was nicht sein darf: weil die ‚öffentliche Sicherheit‘ etwas an­ deres ist als die Gesamtheit privater Sicherheitsinteressen und weil deshalb Reibungs­ verluste in Kauf genommen werden müssen. In der Praxis hat das freilich zur Folge, dass immer mehr Sicherungsaufgaben auf private Unternehmen übergehen, sobald sie von der Polizei mangels Personal oder Ausstattung nicht hinreichend erfüllt werden (können).

(δ) Konjunktion von hoheitlichem und privatem Recht. In den Fällen, in denen nicht nur eine enge Interessengemeinschaft zwischen staatlichen und privaten Systemen besteht, sondern die Chancen zur Interessenverwirkli­ chung darüber hinaus von einem geordneten Zusammenwirken beider Sys­ teme abhängt, kann dieses durch Verträge rechtlich geregelt und durch die Einsetzung von Schiedsgerichten zusätzlich abgesichert werden. Eine ver­ tragliche Regelung empfiehlt sich im nationalen Bereich, wenn z. B. einem Staat zu einem Vorhaben, das auch privaten Wirtschaftsinteressen dient (etwa zum Bau einer Autobahn), die finanziellen Mittel fehlen und er deshalb pri­ vate Finanzierungsinstitute als Geldgeber beteiligen möchte. Sie empfiehlt sich darüber hinaus im internationalen Bereich, wenn z. B. ein internationales Unternehmen Infrastrukturarbeiten ausführen soll, der Staat dem Unterneh­ men aber keine Rechtssicherheit bieten kann. In beiden Fällen können Finan­ zierungs- und Rechtssicherheit durch einen Vertrag zwischen Staat und Wirtschaftsunternehmen hergestellt werden. Beispiele: 1. Vertrag zwischen Nationalsaat und einheimischer Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Ein gesellschaftlich organisierter Teil der städtischen Bürgerschaft plant den Wiederaufbau des im Krieg zerstörten Rathauses in seiner historischen Gestalt. Sie beantragt dafür bei der zuständigen staatlichen Behörde einen Zuschuss in Höhe von 50 Prozent der Baukosten und erhält die vertragliche Zusage für den Fall, dass sie ein schlüssiges Konzept für alle Phasen der Planung und Ausführung vorlegt und die Durchfinanzierung durch Kreditzusagen der Banken nachweist. – 2. Vertrag zwischen Nationalstaat und multinationalem Unternehmen. Große Bedeu­ tung haben seit Langem die Investitionsverträge zwischen multinationalen Unterneh­ men und der Regierung eines Gastlandes zwecks Abbaus von Bodenschätzen oder

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zwecks Errichtung einer Industrieanlage, wofür die Investoren zum Ausgleich neben regelmäßigen Geldzahlungen auch umfangreiche Infrastrukturmaßnahmen anbieten, dafür aber die vollständige rechtliche Sicherheit für ihre Aufwendungen verlangen.359

Für die vertragliche Einrichtung von Schiedsgerichten besteht im nationa­ len Bereich ein Bedürfnis, falls zwischen einem Staat und einem Wirtschafts­ unternehmen wechselseitige Rechte und Pflichten aus einem länger währen­ den Vertragsverhältnis strittig werden können. Das gleiche Bedürfnis besteht im internationalen Bereich, wenn ein Streit über die Rechtslage bei grenz­ überschreitenden Wirtschaftstransaktionen entstehen kann und die Zuständig­ keit der staatlichen Gerichte umgangen werden soll. Die vorsorgliche Verein­ barung braucht sich in diesem Fall allerdings nicht nur auf die Zuständigkeit eines bestimmten Schiedsgerichts zu beziehen, sondern kann auch das von diesem anzuwendende materielle Recht umfassen. Für beide Seiten ist es meistens günstig, wenn zusätzlich die Anwendung von transnationalem Recht vereinbart wird; denn dies trägt zu einer Entnationalisierung auch des Streits bei. Auf die möglichen Nachteile, welche die Vereinbarung eines Schiedsgerichts für einen Staat hat, dessen nationale Gerichte als auch dessen nationales Recht bei einem Streit um die Konsequenzen aus einem Investitionsvertrag ausgeschlossen werden, habe ich bereits hingewiesen.360 Dass die Einrichtung von Schiedsgerichten gleich­ wohl beliebt ist, resultiert aus den vielen Vorteilen, die sie gegenüber nationalen Ge­ richte haben. Zu nennen sind vor allem die größere fachliche Kompetenz und Unab­ hängigkeit der Schiedsrichter sowie die Neutralität des Verfahrens bei Streitigkeiten mit internationalem Bezug. Wird von den Parteien die Anwendung nationalen Rechts ausgeschlossen, sind die Richter überdies (aufgrund des UNCITRAL Modellgesetzes zur internationalen Handelsschiedsgerichtsbarkeit von 1985361) von der Anwendung abstrakter Rechtsnormen weitgehend freigestellt und können stattdessen die speziell verweise ich auf meine Ausführungen oben 2 c α. oben 2 b α. 361  Dessen Art. 28 bestimmt hinsichtlich des anzuwendenden Rechts: „1. Das Schiedsgericht hat die Streitigkeit in Übereinstimmung mit den Rechtsvor­ schriften zu entscheiden, die von den Parteien als auf den Inhalt des Rechtsstreites für anwendbar bezeichnet worden sind. Die Bezeichnung des Rechts oder der Rechtsord­ nung eines bestimmten Staates ist, sofern nicht ausdrücklich etwas anderes vereinbart wurde, als unmittelbare Verweisung auf das materielle Recht dieses Staates und nicht auf sein Kollisionsrecht zu verstehen. 2. Haben die Parteien das anzuwendende Recht nicht bestimmt, so hat das Schieds­ gericht das Recht anzuwenden, welches das von ihm für anwendbar erachtete Kolli­ sionsrecht bestimmt. 3. Das Schiedsgericht hat nur dann nach Billigkeit (ex aequo et bono, amiable compositeur) zu entscheiden, wenn die Parteien es ausdrücklich dazu ermächtigt ha­ ben. 4. In allen Fällen hat das Schiedsgericht in Übereinstimmung mit den Bestimmun­ gen des Vertrags zu entscheiden und die auf das Geschäft anwendbaren Handelsbräu­ che zu berücksichtigen.“ 359  Hierzu 360  Vgl.



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auf Kaufleute ausgerichteten Regelungen entweder der privaten Lex mercatoria362 oder der UNIDROIT Principles of International Commercional Contracts von 2016 anwenden. Dadurch gewinnt das Verfahren nicht nur gegenüber einem vor den staat­ lichen Gerichten stattfindenden an Flexibilität, sondern seine Beurteilung gewinnt aufgrund des im Vordergrund stehenden Prinzips der Privatautonomie anstatt desjeni­ gen der staatlichen Gesetze auch an individueller Gerechtigkeit.

(ε) Interpenetration von hoheitlichem und privatem Recht. In den Fällen, in denen nicht nur eine enge Interessengemeinschaft zwischen staatlichen und privaten Institutionen besteht, sondern auch die Chancen der Interessen­ verwirklichung zwischen ihnen in etwa gleichmäßig verteilt sind, kann die Kooperation sich entweder auf die institutionelle Ebene verlagern und dort rechtlich gefestigt werden, oder die institutionelle Ebene überspringen und die (meist faktische) Gleichstellung von privatem und öffentlichem Recht bei der Interessenverfolgung zur Folge haben. (αα) Interpenetration auf der institutionellen Ebene. Zur institutionellen Kooperation im Sinne einer mixed economy kommt es, wenn die wirtschaft­ lichen Ziele (‚Leitideen‘) eines Privatunternehmens und die politischen In­ tentionen eines Staates auf eine gemeinsame rechtliche Grundlage gestellt und auf ihr organisiert und angegangen werden. Beispiele: 1. Der deutsche Staat will eines seiner Unternehmen privatisieren, um es stärker einem wirtschaftlichen Leistungsdruck auszusetzen. Er wandelt es daher in eine Aktiengesellschaft um, sichert seine Interessen aber in der Satzung ab und behält sich Einfluss auf die Geschäftspolitik vor, indem er nur einen Teil der Aktien an die Börse bringt und eine Sperrminorität behält. Das Unternehmen ist nunmehr kraft seiner Rechtsform Kaufmann (§ 6 HGB i. Verb. m. §§ 3, 278 Abs. 3 AktG) und unter­ liegt folglich sowohl den Normen des HGB, weil seine Tätigkeit nach Art und Um­ fang eine betriebswirtschaftliche Organisation (§ 1 Abs. 2 HGB) braucht, als auch den Normen des AktG, sodass regelmäßig Gesellschafterversammlungen einzuberufen sind, bei denen auch die privaten Anteilseigner stimmberechtigt sind. Den neuen Anteilseignern kommt insbesondere zugute, dass neben den staatlichen Interessen auch eine auf Gewinnerzielung gerichtete Unternehmenspolitik verbindlich ist. – 2. Eine im Ausland operierende Aktiengesellschaft wünscht sich die Beteiligung ihres Heimatstaates, um auch diplomatisch gegen Gesetzesänderungen, welche die Wirt­ schaftlichkeit ihrer Investitionen untergraben, geschützt zu sein.363 Das Unternehmen kann zu diesem Zweck seinem Heimatstaat sowohl eine wesentliche Beteiligung als auch ein Kontrollrecht hinsichtlich der Unternehmensführung einräumen. Dadurch mutiert es zu einem ‚Staatsunternehmen‘, da es außer privaten nunmehr auch Staats­ interessen verfolgt und insoweit politischen Schutz genießt.364 – 3. Eine dritte Alter­ dazu noch sogleich unten ε ββ. habe diesen Fall schon oben 2 c α erwähnt. 364  Völkerrechtlich ist diese Lösung umstritten! Nach US-amerikanischer und kanadischer Auffassung unterliegen state agencies and instrumentalities der Immuni­ tät. Aus kontinentaleuropäischer und britischer Position ist zu unterscheiden: Handeln die mixed agencies zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben, genießen sie Immunität; sind 362  Vgl. 363  Ich

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native, auf die ich später zurückkommen werde,365 besteht darin, dass ein Staat und ein privater Unternehmer gemeinsam ein Wirtschaftsunternehmen gründen, um die Vorteile sowohl der freien Unternehmerschaft als auch des staatlichen Schutzes zu kombinieren.

Der Vorteil privat-hoheitlich verflochtener Wirtschaftsunternehmen (Public-Pivate-Partnerships, PPP) besteht darin, dass sich die Beteiligten im Rechtsverkehr mal auf ihre hoheitliche und mal auf ihre private Organisati­ onsform berufen können. Diesem Vorteil stehen jedoch Nachteile gegenüber, weil einerseits die hoheitliche Kontrolle der Beteiligung aufgrund der priva­ ten Beteiligung begrenzt ist, andrerseits die privatwirtschaftliche Vernunft aufgrund der hoheitlichen Beteiligung u. U. auf der Strecke bleibt, weil die Verfolgung von Gemeinwohlinteressen durch den staatlichen Partner zur Kostenexplosion im Unternehmen führen (kann). Mehr als diese Vor- und Nachteile interessiert vorliegend indes die ‚hybride‘ Rechtsstellung, in die sich die Beteiligten im Rahmen der Public-Private-Partnership begeben. Bereits ihr Gründungsvertrag weist die Elemente sowohl der hoheitlichen Verwaltung als auch des privaten Vertrages und damit einen uneinheitlichen Charakter auf: einen politischen Charakter infolge der Definition einer poli­ tischen Leitidee für die Partnership (z. B. Organisation eines öffentlichen Nahverkehrs), einen gemischt politisch-privatwirtschaftlichen Charakter in­ folge der gemeinsamen Definition der Aufgaben zur Realisation der Leitidee (z. B. Entwicklung eines Straßenbahnnetzes) und einen privatwirtschaftlichen Charakter infolge der zur Aufgabenerfüllung erforderlichen wirtschaftlichen Maßnahmen (z. B. Arbeitsplan und einzelne Ausführungsschritte). ‚Hybrid‘ ist anschließend aber auch die Umsetzung des Vertrages, weil die hoheitliche Idee mithilfe einer privatwirtschaftlichen Organisation verfolgt und die pri­ vatwirtschaftliche Organisation für die Umsetzung der politischen Leitidee rechtsverbindlich sein soll. Keine hybride, ja noch nicht einmal eine Institution mit uneinheitlichem Charakter entsteht dagegen, wenn private und hoheitliche Maßnahmen sich lediglich ergänzen. Beispiele: 1. Die hoheitlichen Maßnahmen zur Bedienung des öffentlichen Nahver­ kehrs beziehen sich auf den Ausbau und Unterhalt von Anlegestellen für Fähren, während der Fährverkehr selbstständig davon privat organisiert wird. – 2. Privatper­ sonen werden an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben als Helfer beteiligt. ‒ 3. Die privaten Dienstleistungen eines Unternehmens werden im organisatorischen Rahmen hoheitlicher Maßnahmen verrichtet, etwa in Form der Essenszubereitung, der Sicherheit, der Abfallbeseitigung, der Gebäudepflege, der Einziehung von Gebüh­ ren, der Auszahlung von Renten u. ä. – 4. Ein privater Verein, der wirtschaftlich nicht aktiv werden will, wird in das hoheitlich geführte Vereinsregister eingetragen (§ 21 sie ausschließlich zur Gewinnerzielung tätig, werden sie rein privaten Unternehmen gleichgestellt. Vgl. dazu L. Wildhaber (1978), S. 43 ff. 365  Vgl. unten 6 c η.



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BGB).366 Einem Wirtschaftsverein, z. B. einer Aktiengesellschaft, wird vom Staat Rechtsfähigkeit verliehen (§ 22 BGB; Beispiel: §§ 38 ff. AktG).

Außer im Wirtschaftsbereich, der freilich obenan steht, kann es zur instiu­ tionellen hoheitlich-privaten Kooperation auch im Bereich der äußeren (militärischen) und inneren (polizeilichen) Sicherheit eines Staates kommen. Für die Außenverteidigung hatte es lange Zeit gereicht, dass die Staaten eine Berufsarmee vorhielten und bei akuter Bedrohung Teile der Bevölke­ rung zusätzlich mobilmachten, um sie an der Landesverteidigung zu beteili­ gen. Dabei ist es indessen nur theoretisch geblieben. Die meisten Staaten haben im Glauben an einen haltbaren Frieden die allgemeine Wehrpflicht ihrer Bürger abgeschafft und sie durch eine bloße Rüstungspflicht ersetzt. Selbst diese erfüllen sie aber nur ungenügend, sodass sie im Ernstfall eines Angriffs sich allein so gut wie gar nicht verteidigen und im Rahmen eines Bündnisses zur gemeinsamen Verteidigung kaum einen Beitrag leisten kön­ nen. Dabei ist es den Staaten bisher nicht gelungen, anders als durch Hochrüstung den Frieden zu sichern. Deshalb war es inkonsequent, wenn sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg zwar zusammenschlossen und den friedlichen Weltstaat (oder eine fried­ liche Staatenwelt) als Leitbild ausriefen, die Sicherung des Leitbildes aber den – für sich allein fast durchweg viel zu schwachen – Nationalstaaten überließen. Konsequent hätte das Leitbild durch eine Verflechtung der Nationalstaaten (als realen Mächten) und ihrer Bürger (als militärischen Akteuren) zu einer wehrhaften Staatengemein­ schaft gesichert werden müssen.367 Doch schon auf dem Papier fehlt es daran: Die Nationalstaaten banden sich zwar verfassungsrechtlich an die Friedenspflicht (Art. 1 Abs. 1 UN-Charta), verpflichteten sich aber weder, den Frieden, wo er dennoch ge­ brochen wurde, militärisch wiederherzustellen noch einem (ohnehin fiktiven) Welt­ staat zu diesem Zweck Truppen zur Verfügung zu stellen. Sie waren noch nicht einmal berechtigt, den Frieden militärisch zu schützen, solange sie von der Staatengemein­ schaft dazu kein Mandat erhielten. Und genau darin lag in der Folge auch das Prob­ lem: Zuständig zur Mandatierung war allein der Sicherheitsrat der Staatengemein­ schaft, wo jede der fünf Großmächte (Art. 23 Abs. 1 und 27 Abs. 3 UN-Charta) mit ihrem ‚Nein‘ ein Mandat verhindern konnte (Art. 39 UN-Charta). Selbst wenn aber der Rat sich nach vielem Hin und Her zur Erteilung eines Mandats entschloss, waren die Nationalstaaten nicht etwa verpflichtet, ihm zu folgen. Deshalb taten sie es in der

366  Idealvereine besitzen lediglich eine beschränkte Rechtsfähigkeit, können aber auch die volle Rechtsfähigkeit durch Mitwirkung des Staates erwerben (§§ 55 ff. BGB). 367  I. Kant (1796), S. 38: „Für Staaten im Verhältnisse unter einander kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als dass sie, eben so wie einzelne Menschen, ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen und so einen (freilich immer wachsenden) Völkerstaat (civitas gentium), der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden.“

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Vergangenheit auch entweder nicht oder nur zögerlich,368 sondern stellten jedes Mal nur einen Bruchteil der zur Wiederherstellung des Friedens benötigten Truppen zur Verfügung. Die Staatengemeinschaft selbst als (lediglich fiktiver) Weltstaat aber hatte keine Befugnis, Soldaten aus den Nationalstaaten (als ‚Weltbürgern‘) zum Kampfein­ satz unter UN-Kommando abzuziehen.369 Und zur Aufstellung einer an sich in Art. 43 UN-Charta vorgesehenen ständigen UN-Eingreiftruppe fehlen bisher konkrete Ab­ kommen.370 Deshalb ist die Staatengemeinschaft bis heute weitgehend handlungsun­ fähig und im Falle größerer Konflikte zur Friedenssicherung unfähig geblieben.371

Auch bei der Gewährung innerer Sicherheit sind viele Nationalstaaten in­ zwischen an ihre Grenzen gestoßen. Denn nachdem sie ihren Bürgern ein verfassungsmäßiges Recht auf Sicherheit zugestanden haben, dürfen sie das Maß der Sicherheit nicht mehr an ihren vorhandenen polizeilichen Kapazitä­ ten ausrichten, sondern nur noch am Sicherheitsbedarf ihrer Bürger – jeden­ falls de iure. De facto übersteigt dieser Sicherungsbedarf freilich oft die vorhandenen Kräfte, sodass die Staaten sich – ihrem Gewaltmonopol zu Trotz – die Sicherheitsgewähr mit privaten Sicherheitsdiensten teilen müs­ sen. Eingesetzt wurden derartige Sicherheitsdienste u. a.372 zur Überwachung von Kernkraftwerken, des Luftverkehrs, der Versorgung militärischer Einhei­ 368  Ein Grund liegt sicher in der fragwürdigen Legitimität des Sicherheitsrates, für eine Weltgemeinschaft, die in ihm nicht angemessen vertreten ist, zu handeln. „The dominant role of the permanent five, the secrecy of the Councel’s procedures, the lack of a clearly delimited competence and the absence of what might be called a legal culture within the Councel hardly justify enthusiasm about its increased role in world affairs“ (M. Koskenniemi, 1995, S. 327). 369  Die Einbindung von Soldaten aus allen Nationalstaaten in eine UN-Armee wäre wahrscheinlich auch nicht effektiv gewesen, weil unklare Befehlsstrukturen und Sprachbarrieren eine straffe Organisation i. d. R. verhindert hätten. 370  Die sogen. „Blauhelmtruppen“ (theoretisch rund 150.000 Mann) bedürfen, um unter dem Kommando der UN Friedenseinsätze durchzuführen, der Zustimmung ent­ weder der Regierung des Staates, in dem sie tätig werden sollen, oder der dort einan­ der bekämpfenden Parteien. Sie selbst haben allerdings keinen Kampfauftrag und sollen auch nicht wider ihren Willen in Kampfhandlungen hineingezogen werden; ihre Waffen sollen sie nur gebrauchen, um sich bzw. ihre Stellung zu verteidigen. 371  Im Fall des Massenmordes an Zivilisten in Ruanda haben zunächst zähe Ver­ handlungen im UN-Sicherheitsrat das Mandat zum militärischen Eingreifen über Wochen verzögert, und dann hat die Schwäche seiner Befolgung den Weltstaat (die Staatenwelt) als zahnlosen Tiger entlarvt. Die Folgen waren Tausende von Toten. 372  Im Internet-Blog der Head-Security e. K. Deutschland werden die Sicherheits­ aufgaben beispielhaft aufgezählt: „Diese reichen von der Absicherung der Events, über Zugangskontrollen und Lenkung der Besucherströme bis zur Koordination der Sicherheitserfordernisse mit den Hilfs- und Rettungskräften. Im öffentlichen Perso­ nenverkehr schützen private Sicherheitsdienstleister die Fahrgäste, Betriebsangehö­ rige und Betriebsanlagen, in See- und Binnenhäfen führen sie Passagier-, Personenund Gepäckkontrollen durch. Auf Verkehrsflughäfen unterstützen täglich circa 15.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter privater Sicherheitsunternehmen die Bundespolizei und die Luftsicherheitsbehörden im Einsatz für die Sicherheit im Luftverkehr. Auch



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ten und teilweise sogar des Strafvollzugs (z. B. Bau und Betrieb von Gefäng­ nissen, Bewährungs- und Gerichtshilfe)373. Vorbehalten bleibt ihnen ohnehin der Schutz von Geldtransporten, Juweliergeschäften, Fabriken und privaten Wohngebäuden; denn das staatliche Gewaltmonopol soll die Eigensorge der Bürger für ihr Eigentum ja nicht ersetzen, sondern nur durch öffentliche Für­ sorge ergänzen.374 Soweit staatliche Gewalt zwecks Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit ange­ wandt wird, richtet sie sich in den USA, tendenziell aber auch in Europa, vor allem gegen Angehörige der Unterschicht, speziell gegen Ausländer und Farbige, in den sogen. Problembezirken der Städte darüber hinaus gegen Kleinkriminelle und Mit­ glieder von spontan gebildeten „Menschenmengen“ (vgl. § 125 StGB), denen gegen­ über die Polizei meint, militärisch auftreten zu müssen. Diese Verteilung des Macht­ einsatzes mag bisweilen berechtigt sein, doch lagen ihr bisher selten aus der konkreten Situation heraus begründete Ermessensentscheidungen zugrunde, sondern generelle Voreinstellungen. Dagegen wurde vom staatlichen Gewaltmonopol oft kein Gebrauch gemacht, wenn eigenmächtig handelnde Gruppen aus Protest gegen staatliche Anord­ nungen Straßen- oder Grenzblockaden errichteten, weil man einen dagegen gerichte­ ten Polizeieinsatz als Gefährdung der Demokratie ansah.

Zusatz: Während einerseits private Sicherheitsdienste vermehrt herangezo­ gen werden, um den staatlichen Schutz der öffentlichen Sicherheit in Bezug auf die Privatsphäre zu ergänzen, hat andrerseits die Furcht der Bürger vor einem Zuviel an Sicherheitsvorkehrungen zugenommen. Um dieser Furcht zu begegnen, haben viele Staaten ihren Bürgern Rechte auf informationelle Selbstbestimmung und auf ein hoheitlich unkontrolliertes Alltagsleben zuge­ standen. Bei der Einlösung dieser Rechte sind sie allerdings bald an Grenzen gestoßen. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung – verstanden als Ausschluss Fremder von Daten aus dem engeren Persönlichkeitsbereich – in manchen Schulen, Gerichtsgebäuden, Verwaltungsbehörden und Kliniken sorgen private Anbieter für Sicherheit und Ordnung.“ 373  Übersicht bei D. Dölling (2008). Dort (S. 1542 f.) heißt es für Deutschland einschränkend: „Lediglich Aufgaben, die den Kernbereich der … Strafverfolgung nicht betreffen, dürfen an Private übertragen werden. … Von privaten Unternehmen betriebene Strafvollzugsanstalten sind nicht mit dem Grundgesetz vereinbar.“ 374  Nicht mehr durch Eigensorge gedeckt ist es, wenn u. a. die USA und failed states ihren Bürgern gestatten, sich vorsorglich mit Schusswaffen jeden Kalibers aus­ zurüsten und/oder derart ausgerüstete Unternehmen mit dem Schutz ihrer Person und ihres Eigentums zu betrauen. Denn dadurch wird die Eigensorge ihrerseits zur Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Das unkontrollierte Gewaltpotential in den failed states stellt nicht nur innerstaat­ lich, sondern als ‚transnationaler Terrorismus‘ auch über die Grenzen hinaus eine Gefahr dar. Gefestigte Staaten haben daher ein legitimes Interesse, diese Staaten zu stabilisieren, indem sie entweder die dort noch vorhandenen Ordnungsstrukturen ver­ stärken oder mit militärischer Gewalt versuchen, ein stabiles (Staats-)Gebilde erst­ mals zu erzeugen. Vgl. dazu den von G. Meyer/W. Muno/A. Brand 2012 herausgege­ benen Sammelband.

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ließ sich bisher gegenüber den modernen Methoden, solche Daten auszuspä­ hen und zu speichern, technisch nicht wie gewünscht durchsetzen: Sowohl körperliche Bewegungen von Personen im realen Raum als auch Gedanken­ äußerungen im virtuellen Raum können nach wie vor von Außenstehenden erfasst werden, sobald sich jemand im world wide web bewegt und beispiels­ weise mit seinem Handy oder Smartphone ein Telefongespräch führt oder Daten in seinen Computer einspeist. Deshalb haben wiederum private Firmen ergänzend eingegriffen und versucht, wenigstens besonders sensible Bereiche (etwa Bankkonten) vor Angriffen zu schützen. Es gibt also zwar eine auf ein gemeinsames Ziel gerichtete Leitidee, und auch die Organisation zu ihrer Verwirklichung ist in Erkenntnis der beschränkten Möglichkeiten des Staates aufgeteilt worden. Doch zu einer echten organisatorischen Verschmelzung aller Bemühungen ist es bisher nicht gekommen. Das Recht der Einen auf eine unkontrollierte Persönlicheitsentfaltung kollidiert nach wie vor unausge­ glichen mit dem Recht der Anderen auf den Schutz ihrer Privatsphäre. (ββ) Interpenetration auf der Gesetzgebungsebene. Auf dem eigenen Ter­ ritorium haben die modernen Staaten ein Gesetzgebungsmonopol, und es würde ihrem Souveränitätsverständnis widersprechen, verlangte man von ih­ nen, dieses Monopol mit einer privaten Institution zu teilen. Wie wir jedoch mehrfach gesehen haben, ist die staatliche Macht oft schon so weit ge­ schwächt, dass private (meist international tätige) Institutionen auch auf dieses Gebiet haben zugreifen können. Afrikanische Staaten waren oft nicht stark genug, um örtliche Stammesgruppen, NGOs und ausländische Kon­ zerne von einer Mitbestimmung an ihrer Gesetzgebung auszuschließen. Auf Nebenwegen dringt transsoziales Gewohnheitsrecht aber auch in das Recht von Industriestaaten ein, wird dort von den Gerichten als (dispositiv) ver­ bindlich anerkannt und steht alsdann dem dispositiven nationalstaatlichen Recht entweder gleich oder verdrängt es sogar. Priorität erlangt haben insbe­ sondere eine Reihe von ökonomischen Normen als Spezialrecht der interna­ tionalen Wirtschaft. Beispiele dafür sind nicht etwa INCOTERMS wie ‚cif‘ und ‚fob‘, welche als Kurzformeln die Pflichten von Verkäufern und Käufern lediglich benennen, aber nicht begründen. Beispiele sind vielmehr die Nor­ men der Lex mercatoria,375 die bereits im Mittelalter den Seehandel regelte und sich heute als transsozial geltendes Gewohnheitsrecht durchgesetzt hat.

375  Zu ihr u. a. U. Stein (1995); E.-H. Ritter (2001); G.-P. Calliess (2005); A. Röthel (2007), S. 755 f. Ihre Rechtsqualität ist umstritten (vgl. U. Stein, 1995, S.  239 ff.; ­G.-P. Calliess, 2004a; A. Röthel, 2007, S. 761 f.; B. L. Benson, 2011). Aus staatsrecht­ licher Sicht werden Einwände gegen ihre Rechtsqualität als unbegründet erachtet, weil sie „weder Geltungsansprüche erhebt, die mit wesentlichen Interessen nationaler Rechtsordnungen in Konflikt gerieten, noch ihre Norminhalte so beschaffen sind, dass staatliche Rechtsordnungen mit ihrer Anerkennung zentrale Schutzanliegen



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Zur Geschichte: Ihre Anfänge gehen bis weit ins Altertum zurück, wo phönizische Kaufleute vom Osten her die Anrainerländer des Mittelmeers bis nach Spanien kolo­ nisierten und durch die Straße von Gibraltar bis zum Atlantik vorstießen. Wenn wir einem Bericht Herodots Glauben schenken dürfen, gelangten sie von der Sinai-Halb­ insel aus bis an die Südspitze von Afrika und umrundeten den Kontinent anschließend auf seiner Westseite: überall Handelsplätze gründend, um dort Produkte aus ihrer Heimat sowie aus europäischen und afrikanischen Städten zu verkaufen. Gleichzeitig sammelten sie überall kostbare Materialien ein, aus denen sich daheim Luxusgüter herstellen ließen. Sie selbst wurden auf diese Weise unermesslich reich und entwi­ ckelten sich schließlich zu einer eigenen Macht in ihrem Staat.376 Von ihrem Recht haben wir jedoch erstaunlicherweise keine Kunde – obwohl wir als sicher annehmen können, dass sie den Handel nicht nur faktisch beherrschten, sondern ihm auch ihre Gesetze vorschrieben. Das Mittelmeer blieb noch das ganze Mittelalter über das wichtigste Zentrum für den Warenhandel. Denn Landstraßen verliefen von seinen Küsten aus bis tief nach Afrika hinein und über Persien bis nach Indien und China.377 Währenddessen ent­ stand ein weiteres Zentrum für den Seehandel in den Niederlanden, von wo aus Wa­ ren (u. a. Tuche, Wein und Salz) über die Nord- und Ostsee in die baltischen Länder und von dort bis tief nach Russland hinein verladen und gegen Holz, Pelze, Getreide u. a. eingetauscht wurden. Gegen Ende des Mittelalters378 weitete sich der Handel dann auch noch von den Städten Oberitaliens und des Hanse-Bundes aus und erfasste schließlich alle damals bekannten Erdteile (außer Australien). Je weiter er die Reisen­ den führte, desto mehr Mut erforderte er allerdings. Denn auf den Wegen übers Meer drohten Gefahren nicht nur durch Stürme, sondern auch durch Seeräuber, auf den Wegen übers Land nicht nur durch Unwetter, sondern auch durch Wegelagerer. Und am Ziel erwartete die Händler schließlich oft Rechtsunsicherheit und machte ihren Handel vollends zum Glücksspiel. Weil sie gegen die Naturgewalten und Räuber wenig ausrichten konnten, konzentrierten sie ihre Bemühungen auf die Verbesserung der Rechtssicherheit. Sie schlossen sich zu Bünden und Gilden zusammen und ver­ kündeten, dass sie jeden Markt diskriminieren würden, auf dem ihr Handel keine si­ cheren und fairen Bedingungen vorfand. Damit beeindruckten sie. Die fremden Lan­ desherren ließen sich nunmehr auf Kontrakte ein, die den Händlern den gewünschten Rechtsschutz gewährten. Und am Ende des Mittelalters galt für den gesamten dama­ ligen Welthandel die von den Händlern aufgesetzte Lex mercatoria.

Heute drängt eine neue Lex mercatoria ebenfalls nach transsozialer Gel­ tung. Sie entstand im vorigen Jahrhundert, als sich nach dem Ende des Zwei­ ten Weltkriegs der Welthandel neu belebte. Scheinbar hatte die neue mit der preisgäben“ (U. Stein, 1995, S. 257). Doch weist sie eine typisch staatliche Zugriffs­ option auf, sodass ihre Fremdwirkung auf Dritte Legitimationsprobleme bereitet. 376  Den phönizischen Königen kamen danach fast nur noch die Funktionen einer religiösen Autorität und die Wahrung der Kontinuität innerhalb der sich schnell wan­ delnden Gesellschaft zu. Näheres dazu bei M.-E. Aubet (1994), p. 77 ff.; M. Sommer (2000), S.  241 ff.; u. a. 377  Handelsstraßen bestanden bereits seit dem frühen Altertum, vgl. oben G 1 β. 378  Zum Folgenden S. Quack (2009), S. 132 ff. m. Nachw.

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mittelalterlichen außer dem Namen allerdings wenig gemeinsam. Denn in­ zwischen hatten sich die Verhältnisse im internationalen Handel gegenüber dem Mittelalter grundlegend verändert: Die Bedeutung der führenden Han­ delsstädte war verblasst, die alten Handelsgeschlechter waren ausgestorben; Hauptakteure auf den Märkten waren riesige Wirtschaftskonzerne, die zwar noch national verwurzelt waren, deren Aktien aber verstreut auf den Finanz­ märkten der Welt kursierten. Ferner war der Charakter des internationalen Warenhandels ein anderer geworden: Große Handelsflotten durchkreuzten die Weltmeere; riesige Schiffe gehorchten einer Logistik, deren vergleichs­ weise winziges Zentrum fern auf dem Lande lag. Dennoch war etwas gleich geblieben und rechtfertigte die Wiederbelebung des alten Namens: das ge­ meinsame Interesse sowohl der Eigner mächtiger Handelsflotten auf der ei­ nen Seite als auch der Regierungen der Nationalstaaten auf der anderen Seite an einem reibungslosen Ablauf des Handels.379 Dieses Interesse forderte ge­ nau wie früher, dass alle Akteure sich zu einer einheitlichen Ordnung der internationalen Handelsbeziehungen bekannten und dass diese Ordnung we­ der von nationalstaatlichen Normen durchkreuzt wurde noch umgekehrt den nationalstaatlichen Normen in die Quere kam. Und die Lösung war genau wie früher, dass die Staaten die Normen der neuen Lex mercatoria als den eigenen mindestens gleichwertig anerkannten − wozu es, wie auch sonst bei der Integration von systemfremden Normen, keines formellen Aktes bedurfte, sondern es genügte, dass die nationalstaatlichen Gerichte und Verwaltungs­ behörden beide Normenarten ihren Entscheidungen zugrunde legten und dass die nationalen Gesetzgeber dies nicht nur duldeten, sondern ihr etwa abwei­ chendes Recht, wo nötig, entsprechend den Vorgaben des Welthandelsrechts lockerten oder modifizierten. Mochte dann der internationale Handel von Land zu Land auch auf unterschiedliches nationales Recht treffen, so ver­ schlug das nichts – für seine Belange galten die Normen der Lex mercatoria

379  Die nationale Politik war stets interessiert, dass die Industrie attraktive Produk­ tionsbedingungen erhält, damit sie attraktive Produkte erzeugen kann, und dass der Handel durch Zollschranken nicht mehr als nötig beschränkt wird, damit die heimi­ sche Wirtschaft auf möglichst vielen Absatzmärkten vertreten ist. Notfalls gewährte sie deshalb der Industrie Subventionen aus dem Staatshaushalt und dem Handel poli­ tische Unterstützung bei der Schaffung von Freihandelszonen. Sollte aber die Produk­ tion blühen und die Industrie sich Sorgen um den Nachschub an Rohstoffen machen, stand die Politik auch bereit, ihr durch Ausfuhrbeschränkungen für heimische Roh­ stoffe bzw. durch Einfuhrerleichterungen für ausländische Rohstoffe unter die Arme zu greifen. Gegenleistungen von Industrie und Handel ließen dann nicht lange auf sich warten. Indem sie, u. a. auf der Grundlage eines Corporate Governance Codex, das Verantwortungsbewusstsein ihrer Mitglieder für die Umwelt schärften, für ge­ sunde Arbeitsbedingungen und Sicherheit am Arbeitsplatz sorgten und unabhängige Institutionen beauftragten, die Qualität ihrer Waren und ihres Transports zu überprü­ fen, nahmen sie gern auch Staatsaufgaben wahr.



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als völkerverbindendes privatrechtliches Pendant zu den öffentlich-recht­ lichen Normen des Völkerrechts. Indessen waren die Normen der Lex mercatoria bald nicht mehr die einzi­ gen privaten Normen, denen weltweite Anerkennung zuteil wurde. Bald gab es daneben noch eine Lex digitalis (oder informatica) für die Kommunikation im Internet, eine Lex constructionis für die weltweit organisierten Ingenieur­ verbände und eine Lex sportiva für die Sportler. All diese leges wurden von zuständigen Schiedsgerichten, aber auch von nationalen Verwaltungsbehör­ den so angewandt, als ob die staatlichen Parlamente sie erlassen hätten. Weitere Normen, die de facto die Qualität (inter-)nationaler Gesetze besaßen, stammten von mehr oder minder offiziösen, letzthin aber eindeutig privaten Kommissionen. Sie regelten u. a. den Standard technischer Maße und die Eigenschaften physikalischer oder chemischer Stoffe. Auf sie und ihre man­ nigfachen Urheber gehe ich im folgenden Unterabschnitt ein. b) Die internationale Entwicklung hybriden Rechts (α) Akteure (Übersicht). Ich beginne mit einer Aufzählung zunächst der hoheitlichen und sodann der privaten Akteure, die heute im internationalen Bereich380 Normen setzen und, obwohl sie keiner demokratischen Kontrolle unterliegen, als legitim anerkannt werden. Zu unterscheiden sind: •• Supra- und internationale Akteure trifft man auf fast allen wichtigen poli­ tischen und wirtschaftlichen Feldern an, auf denen normative Regelungen gefragt sind. Entweder besitzen sie eine Gesamtkompetenz (compact competence) sowohl zur Bildung von suprastaatlichen Institutionen als auch zum Abschluss internationaler Verträge im eigenen Namen einschließlich der Durchsetzung daraus folgender Ansprüche – beides unabhängig von etwa bestehenden Zusatzkompetenzen ihrer Mitglieder. Oder sie besitzen sowohl eine Kompetenz zur Gründung von gemeinsamen Institutionen als auch eine weitreichende Entscheidungskompetenz innerhalb der gemein­ samen Institutionen, aber nur eine geringe Kompetenz zur externen Durchsetzung der Entscheidungen und keinerlei Kompetenz zum Ab­ schluss von Verträgen im eigenen Namen – insoweit sind sie auf die Na­ tionalstaaten angewiesen. Einziger suprastaatlicher Akteur ist derzeit die Europäische Union. Global tätige internationale Institutionen sind die UNO, der Internationale Ge­ richtshof (IGH) und der Internationale Strafgerichtshof (IStGH), auf wirtschaft­ lichem Gebiet sind es die Weltbank, der Internationale Währungsfonds (IWF) und 380  Zum internationalen Bereich Ph. Genschel/B. Zangl (2009), S. 619 ff. Einige der folgenden Beispiele habe ich ihrer gründlichen Studie entnommen.

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die Welthandelsorganisation (WTO). Global wichtig ist die Organisation für wirt­ schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der jedoch nur 35 Staaten angehören, die sich zu Demokratie und Marktwirtschaft bekannt haben. Rechtlicher Radius: Der Sicherheitsrat der UNO kann über das Eingreifen in Kri­ senregionen entscheiden und zu diesem Zweck u. a. die Bankkonten terroristischer Organisationen sperren lassen; der IStGH kann Haftbefehle gegen international gesuchte Kriegsverbrecher erlassen; die OECD kann Studien über die Schulleistun­ gen in europäischen Ländern erstellen (PISA-Studien); die Weltbank und der IWF können mit Fördergeldern die wirtschaftliche Entwicklung von Staaten unterstüt­ zen; die WTO kann Streitfälle schlichten (z. B. den Stahlstreit zwischen der EU und den USA) und über die Höhe von Steuervergünstigungen für die Exportindus­ trie entscheiden. Geht es um die Durchsetzung der Entscheidungen, sind die Insti­ tutionen allerdings auf die Hilfe der Nationalstaaten angewiesen. So kann die UNO ihre Beschlüsse zum Eingreifen in Krisenregionen nicht selber ausführen und die Bankkonten terroristischer Organisationen nicht selber sperren, sondern muss sich dafür an ihre Mitgliedsstaaten wenden; die Haftbefehle des IStGH müssen in den Nationalstaaten von deren Organen vollstreckt werden; die Studien der OECD können Maßnahmen zur Verbesserung der Schulleistungen in den einzelnen Län­ dern lediglich anregen, umsetzen müssen sie die Länder; und die von der Weltbank und vom IWF gewährten Kredite (seit der Jahrtausendwende fast ausschließlich an Krisenländer, etwa an Griechenland, Irland und Ukraine) müssen aus Mitteln fi­ nanziert werden, welche die Mitglieder zur Verfügung gestellt haben.

•• Transsoziale Akteure trifft man heute vor allem auf wirtschaftlichen und auf technisch/technologischen Feldern an, wo überindividuelle Privatinte­ ressen nach einer normativen Regelung verlangen. Allein können sie dort diejenigen Funktionen wahrnehmen, die von hoheitlichen internationalen Institutionen nicht abgedeckt werden, obwohl sie auch in deren Aufgaben­ bereich fallen oder an ihn angrenzen. Zu erwähnen sind insoweit die Wohlfahrts- und die Expertenkommissionen. Hauptaufgabe von Wohlfahrtorganisationen ist es, wirtschaftliche oder medizini­ sche Hilfe zu leisten. Intern organisieren können sie ihre Hilfsleistungen (ärztliche Behandlungen, Verteilung von Lebensmitteln und Medikamenten) selber. Zum Er­ bringen ihrer Leistungen bedürfen sie indessen regelmäßig einer nationalstaatlichen Erlaubnis. Hauptaufgabe von Expertenkommissionen ist es, technische oder organisatorische Standards festzulegen, nach denen sich dann entweder das soziale Leben insgesamt oder speziell einzelne Branchen der Wirtschaft ausrichten. Wichtig sind ihre Fest­ legungen von Längen-, Mengen- und Zeitmaßen, Währungs- und Vergleichsmaßen, ferner von Standards für die Sicherheit industrieller und landwirtschaftlicher Pro­ dukte sowie für bestimmte Verfahrensweisen, z. B. für die Rechnungslegung im Handelsverkehr.381 Ihre Bildung und die Organisation ihrer Arbeit kann mit oder ohne nationalstaatliche Mitwirkung erfolgen; ihre Beratungen unterliegen keiner nationalstaat­lichen Kontrolle. Rechtliche Bedeutung erhalten ihre Standards jedoch 381  Dazu

J. Köndgen (2006), S. 487 ff.



K. Entwicklungstendenzen im neuzeitlichen Recht 825 erst durch die Übernahme in die staatliche Gesetzgebung oder durch gewohnheits­ rechtliche Anerkennung.

•• Gemeinsam können hoheitliche und private Akteure übereinstimmende Interessen unter einer einheitlichen Leitidee zusammenfassen und anschlie­ ßend verwirklichen. Die Zahl der Felder, auf denen sie tätig werden kön­ nen, ist nahezu beliebig und wird allenfalls durch die Zahl der Gemein­ schaftsaufgaben bestimmt, die gemeinsam besser als getrennt zu bewältigen sind. Im Folgenden gehe ich zunächst auf den Rechtscharakter der heute wich­ tigsten Akteure ein (unten β und γ). Anschließend ergänze ich meine Ausfüh­ rungen durch eine Charakteristik ihrer gemeinsamen Rechtssphäre (unten δ). (β) Supranationale und internationale Akteure. Im hoheitlichen Bereich sind in erster Linie die Nationalstaaten die Akteure. Die von ihnen gegründe­ ten supra- und internationalen ‚Institutionen‘ werden regelmäßig nicht als solche, sondern als ‚Organisationen‘, von der Politikwissenschaft auch als ‚Regimes‘ bezeichnet. Der Begriff ‚Institutionen‘ erscheint mir vorzugswür­ dig, und ich werde ihn daher im Folgenden vorzugsweise verwenden.382 Supranationale Institutionen sind von den Nationalstaaten bisher kaum gegründet worden. Sofern dies geschah, entstanden Akteure, die den rechts­ fähigen Vereinen des Privatrechts entsprechen: die im Rahmen ihrer (im Gründungsvertrag festgelegten) Kompetenzen sowohl Normen erlassen als auch vertraglich ihre Mitglieder berechtigen und verpflichten können. Als supranationale Institution existiert derzeit allein die Europäische Union, über deren Rechtscharakter zwar Streit besteht, doch so viel sicher ist, dass er supranatio­ nal und da genauer noch zwischen Staatenbund und Bundesstaat einzuordnen ist.383 Ihrerseits kann die Europäische Union weitere supranationale Institutionen gründen 382  Der Begriff ‚Institution‘ weist einerseits im Gegensatz zum Begriff ‚Regime‘ auf die Notwendigkeit einer Organisationsstruktur hin und vermeidet andrerseits, dass man diese als Organisation einer ‚Organisation‘ bezeichnen muss. Er ist insofern wei­ ter als der der Organisation, weil er auch fest installierte Ausschüsse etwa zum Ab­ schluss von Schutzverträgen für bestimmte gefährdete Bereiche (Menschenrechte, Umwelt etc.) umfasst. 383  Die Europäische Union ist keine supranationale Institution, doch besteht eine ihrer beiden Säulen aus supranationalen Institutionen, während die andere intergou­ vernementalen Charakter hat. Vgl. dazu schon C. Schmitt (1928/1993), S. 361 ff., später Ch. Schönberger (2004), S. 371: „Weder darf die Gesamtexistenz des Bundes die Einzelexistenz der Mitgliedstaaten, noch darf diese Existenz der Mitgliedstaaten die des Bundes aufheben. Weder sind die Mitgliedstaaten einfach subordiniert, Unter­ gebene des Bundes, noch ist der Bund ihnen subordiniert und untergeben. Der Bund besteht nur in dieser existenziellen Verbindung und diesem Gleichgewicht.“ Neues­ tens Th. Oppermann/M. Nettesheim (2018), § 12 Rn. 5: „Vernetzung von unionaler und mitgliedschaftlicher Ebene“.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

und supranationale Normen erlassen sowie Verträge mit anderen Institutionen ab­ schließen, die für ihre Mitgliedstaaten verbindlich sind.

Wesentlich häufiger als supranationale sind internationale Institutionen. Sie gleichen den rechtsfähigen Innengesellschaften des Privatrechts, da sie sowohl Mitglieder haben als auch über Organe verfügen, mittels deren sie die in ihrer Verfassung (Statut, Satzung o. dgl.) benannten Aufgaben verfol­ gen können. Intern dürfen sie Rechtsnormen erlassen, die allerdings nur für diejenigen ihrer Mitglieder verbindlich sind, die ihnen zugestimmt haben. Extern haben sie kein Recht zur Gesetzgebung; als funktionale Äquivalente werden lediglich die Gesetzesnormen der Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO) anerkannt, während der von der UNO gegründete und im Bereich der Wohlfahrt tätige UNICEF (United Nations Children’s Fund) gesetzgebend von sich aus bisher nicht aktiv geworden ist.384 Zum Abschluss von Verträgen mit Wirkung für und gegen alle Mitglieder bedür­ fen sie einer Sonderermächtigung, die entweder schon im Gründungsvertrag enthalten ist (vgl. etwa Art. 43, 57, 63 und 105 UN-Charta) oder sich aus dessen Interpretation ergeben kann. Aus dem Implied-Powers-Grundsatz lei­ tet man zudem eine sehr starke Vermutung ab, dass die Institutionen diejeni­ gen Kompetenzen zum Vertragsschluss besitzen, deren sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben bedürfen. Aufgaben internationaler Institutionen sind vor allem der Schutz des Friedens, die Wahrung der Menschenrechte,385 der Schutz der Umwelt,386 die wirtschaftliche und soziale Integration (z. B. mittels Abbaus von Handels- und Zollschranken sowie von 384  UNICEF wurde nach dem 2. Weltkrieg als Kinderhilfswerk (United Nations International Children’s Emergency Fund) gegründet. Er ist heute vor allem in den Entwicklungsländern tätig und unterstützt dort Familien in den Bereichen Gesundheit, Familienplanung, Hygiene, Ernährung und Bildung. Außerdem bekämpft er den Ein­ satz von Kindern als Soldaten. 385  Private Menschenrechtsorganisationen entsenden Beobachter in jene Staaten, die der Verletzung von Menschenrechten verdächtigt werden. Sie verletzen damit zwar die innere Souveränität der Staaten, doch wird ihnen dies zugestanden, weil die Verletzung der Menschenwürde durch einen Staat (zumindest in Europa und in den von Europa beeinflussten Rechtssphären) als Legitimation für die Verletzung seiner inneren Souveränität angesehen wird. Die der Menschenrechtsverletzung überführten Staaten können dann u. a. von staatlichen Finanzhilfen ausgeschlossen und wirtschaft­ lich diskriminiert werden. Zu den derzeit noch äußerst umstrittenen Möglichkeiten, das missbilligte Verhalten eines Völkerrechtssubjekts anstelle durch verbotene Gewalt (Art. 2 Nr. 4 UN-Charta) durch wirtschaftliche Diskriminierung zu sanktionieren, vgl. M. Schröder (2013), Abschn. VII Rn. 119 ff. (S. 571 f.). 386  Schutz der Umwelt: Die wichtigsten privaten Institutionen sind Greenpeace, Robin Wood, Friends of the Earth, BUND (Freunde der Erde), World Wide Fund for Nature, Rainforst Alliance, Animal Planet, in Deutschland der Naturschutzbund. Kulturaustausch: Institutionen auf privater Grundlage gibt es fast überall. Eine Liste ist auf wikipedia.de veröffentlicht.



K. Entwicklungstendenzen im neuzeitlichen Recht 827

Reise- und Siedlungsbeschränkungen) und der internationale Wissenschafts- und Kul­ turaustausch. Juristische Mittel zur Erfüllung der Aufgaben sind multilaterale Integra­ tionsabkommen.387 387  Schutz des Friedens: Organisation Amerikanischer Staaten (OAS); Afrikani­ sche Union (AU); Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE); Nordatlantisches Verteidigungsbündnis (NATO); Arabische Liga. Schutz der Menschenrechte: Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK); In­ teramerikanische Menschenrechtskommission; Amerikanische Menschenrechtskon­ vention (AMRK, nicht ratifiziert von USA und Canada); Afrikanische Charta für Rechte der Menschen und Völker; erwähnenswert weiterhin die Allgemeine Erklä­ rung der Menschenrechte (als Resolution der UN-Generalversammlung), die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die Konvention zum Schutz der Menschen­ rechte und Grundfreiheiten (erkennt allen europäischen Bürgern individuelle Rechte gegenüber ihren Staaten zu; die Einhaltung wird vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewährleistet – vgl. Art. 19 ff. EMRK), ferner die Internationalen Pakte über bürgerliche und politische Rechte sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (sie binden nur die Staaten, die sie ratifiziert haben). Schutz der Umwelt: Umweltprogramme gibt es seitens der Vereinten Nationen (UNEP), des Weltklimarats (Intergovernmental Panel on Climate Chance, IPCC), der Internationale Atomenergie-Agentur (IAEA) sowie auf nationaler Ebene. Wirtschaftliche und soziale Integration: Herausragend tätig war insoweit die Euro­ päische Union (EU), die aufgrund mehrerer Integrationsverträge heute nicht nur eine einheitliche Wirtschaftspolitik betreibt, sondern sich sogar eine einheitliche Währung geschaffen hat. Schwächere Formen der Integration sind Freihandelsabkommen, Zoll­ unionen und Wirtschaftsgemeinschaften (z. B. North American Free Trade Agreement, NAFTA; Associación Letinoamericana de Integración, ALADI; Mercado Común del Sud [Südamerika], MERCOSUR; Association of Southeast Asian Nations, ASEAN; Asia-Picific Economic Cooperation, APEC; African Economic Community, AEC). Wirtschaftliche Entwicklung: Der Internationale Währungsfonds (IWF) dient der internationalen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Währungspolitik; der mit dem IWF eng verbundenen Weltbank obliegt die Kreditvergabe; die Aufgaben der International Labour Organization (ILO), der Organization for Economic Co-Operation and Development (OECD) und der World Trade Organization (WTO) sind oben [1 c β ββ–δδ] bereits skizziert worden. Weitere Verbände stärken die Sicherheit einheimi­ scher Waren vor unberechtigter Nachahmung im Ausland und die Verfahrenssicher­ heit bei internationalen Streitigkeiten zwischen Wirtschaftsunternehmen, dringen auf die Einhaltung fairer Arbeitsbedingungen in Entwicklungsländern, wenn dort Auf­ tragsarbeiten für Unternehmen aus den Industriestaaten durchgeführt werden; andere erschließen für sich Gegenstandsbereiche, die von den Nationalstaaten nicht besetzt werden können, weil sie überwiegend technischer Natur sind (z. B. die Standardisie­ rung technischer Normen). Wissenschafts- und Kulturaustausch: Die UNESCO (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization) dient der weltweiten Bildung, der Förderung der wissenschaftlichen Zusammenarbeit und dem Erhalt des Kulturerbes der Mensch­ heit. Die OECD (Organization for Economic Co-Operation and Development) erfasst Daten u. a. aus den Bereichen Arbeit und Bildung (PISA-Studien). Der Europarat hat gemäß seiner Satzung die Aufgabe, „eine engere Verbindung zwischen seinen Mit­ gliedern zum Schutze und zur Förderung der Ideale und Grundsätze, die ihr gemein­ sames Erbe bilden, herzustellen und ihren wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu fördern“ (Art. 1 Abs. 1). Konkretisiert wird der Austausch auf internationaler Ebene

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

(γ) Transsoziale Akteure sind in erster Linie Privatpersonen, die ihre Ge­ schäfte über die staatlichen Grenzen hinweg betreiben. Sie können zu diesem Zweck, gleich den hoheitlichen Akteuren, gemeinsame Institutionen (Korpo­ rationen oder andere Vereinigungen) gründen sowie Normen vereinbaren, die ihren Geschäften eine gesicherte Grundlage geben. •• Auf dem Felde der Wirtschaft388 haben die transsozialen Akteure im Rah­ men einer allgemeinen Tendenz, Welthandelsbeziehungen aus der Bindung an nationalstaatliches Recht zu befreien, „internationale Prinzipien des Handelsrechts“ („internationally accepted principles of commercial law“) etabliert. Deren Charakter entspricht einem Gewohnheitsrecht auf völker­ rechtlicher Ebene, weil er sich weniger an die abstrakte Gleichheit von Gesetzesnormen als vielmehr an die konkrete Billigkeit gewohnheitsrecht­ licher Normen anlehnt. Erwähnt habe ich bereits die Lex mercatoria, die infolge ihres fragmentarischen Charakters und des Fehlens einer inneren Systematik freilich hauptsächlich dadurch wirkt, dass die Nationalstaaten sie unter ihr Schutzschild genommen haben.389 durch Austauschprogramme (z. B. ‚Erasmus‘-Programm der EU u. a. für den Aus­ landsaufenthalt an europäischen und neuerdings auch außereuropäischen Universitä­ ten; Fulbright-Programm zur Förderung des gegenseitigen kulturellen Verständnisses zwischen den USA und Deutschland) sowie durch Städtepartnerschaften, deren ge­ meinsames Ziel es ist, die Kultur des Gastlandes kennen und verstehen zu lernen, Kontakte mit anderen Kulturschaffenden zu knüpfen oder kulturelle Projekte zu rea­ lisieren. Unübersehbar sind die auf dem Gebiet der Wissenschaft abgeschlossenen Abkommen zur Förderung von Forschungsvorhaben international kooperierender Gruppen – allein die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) unterhält Vereinbarun­ gen mit Partnerorganisationen in 27 Staaten. 388  Das transnationale Privatrecht der Wirtschaft wird nach der Definition von G.-P. Calliess (2004b, S. 254 f.) „durch die Rechtsschöpfungskräfte einer globalen Zivilgesellschaft [speziell von global tätigen Wirtschaftsunternehmen] geschaffen und entwickelt, es ist auf allgemeine Rechtsprinzipien und deren Konkretisierung in ge­ sellschaftlicher Praxis (Übung) gegründet, seine Anwendung, Interpretation und Fort­ bildung obliegt – jedenfalls vornehmlich – privaten Anbietern alternativer Streit­ schlichtungsmechanismen, und eine Kodifikation findet – wenn überhaupt – in Form von allgemeinen Prinzipien- und Regelkatalogen, standardisierten Vertragsformularen oder Verhaltenskodizes statt, die von privaten Normierungsinstitutionen aufgestellt werden.“ Beispiele sind die Normen der Internet-Agentur ICANN (Internet Corporation for Assigned Names and Numbers) und der Internationalen StandardisierungsOrganisation ISO. 389  Zur Lex mercatoria vgl. oben 5 a ε ββ. Beispiele für intermediär entwickelte, aber transsozial anerkannte und von den Gerichten bei der Auslegung von Verträgen berücksichtigte Commercial Terms sind die vom International Chamber of Commerce definierten Klauseln für Aufgaben, Kosten und Risiken im Rahmen internationaler Transportverträge. Sie sind weder vertragliches noch staatliches Recht, sondern wer­ den lediglich regelmäßig in internationale Transportverträge inkorporiert und dort als gültiges Recht von den Gerichten anerkannt.



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•• Auf dem Felde der Technik390 haben die transsozialen Akteure Normen u. a. für das Global Cyberspace entwickelt, deren Adressaten anstelle der Bürger von nationalen Staaten die Mitglieder einer weltweiten Community sind. Die Normen schützen den legalen Gebrauch technischer Daten, wäh­ rend staatliche Strafnormen parallel dazu die anonym und illegal operie­ renden sogen. Hacker und Datendiebe im Auge haben. Allerdings ist die Cyberkriminalität nur schwer durch Strafnormen zu bekämpfen. Entge­ genwirken können ihr eher prophylaktische Sicherungen in Gestalt von technischen Datenschutzprogrammen. Deshalb arbeiten die staatlichen Akteure mit den privaten Unternehmen, bei denen der Ausfall ihres Com­ putersystems zu einem hochgradig relevanten Schaden führt,391 eng an der technischen Verstärkung der IT-Sicherheit zusammen und treiben so im Wettlauf mit den Hackern die technische Entwicklung voran.392 390  U. a. geht es um autonome Selbstregulierungssysteme zur Erfassung internatio­ naler Kooperationsformen (dazu u. a. F. Becker/D. Lehmkuhl, 2004; F. Latty, 2007; J. Adolphsen, 2003 und 2012). Beispiele: 1. Lex digitalis (oder informatica) für die Kommunikation im Internet. Maßgeblich sind die Rules for Uniform Dispute Resolution Policy sowie die Supplemental Rules der bei der Internet Corporation for As­ signed Names and Numbers (ICANN) akkreditierten Dispute Resoltuion Providers; Streitentscheidungen ergehen vom Panel der Internet Corporation. Siehe dazu J. Voegeli (2006). – 2. Lex constructionis für die weltweit organisierten Ingenieurverbände. Allgemein dazu M. Vec (2004). Siehe ferner wisegeek.com „What is construction law?“: „This area of the law is very large and many nations have myriad laws discus­ sing construction issues. One area of construction law is the building code, setting out legal requirements and standards for builders. Building codes increase safety by ma­ king sure people install plumbing, electrical, and other systems in a consistent and safe way. It also standardizes construction practices, making construction and repair easier. Government inspectors can enforce the building code and require permits for many kinds of construction.“ 391  Im hoheitlichen Sektor geht von Cyberattacken ein hohes Bedrohungspotential für die internationale Stabilität aus. Gleichwohl fehlt es an positivrechtlichen Normen zur Gegenwehr. Auch ein von der Staatenpraxis getragenes ius digitale ist noch nicht in Sicht. Die allgemeinen völkerrechtlichen Normen reichen dagegen weder für einen wirksamen Schutz noch für eine wirksame Strafverfolgung aus. Infolge der für das Internet typischen Anonymität und Verschleierungsmöglichkeit bleibt zudem oft frag­ lich, wem ein Angriff auf die Cybersicherheit zuzurechnen ist, ob etwa ein Staat da­ ran aktiv oder passiv (durch Unterlassen von Präventions- und Repressionsmaßnah­ men) beteiligt ist und wie ggf. der Beweis für seine Verantwortlichkeit geführt werden soll. Im privaten Sektor sind vor allem Banken, öffentliche Versorgungsunternehmen (Elektrizitäts- und Wasserwerke) sowie Industrie- und Handelskonzerne von Cyberat­ tacken betroffen. Diese Institute sind deshalb teils im eigenen, teils aber auch im öf­ fentlichen Interesse verpflichtet, sowohl Mindeststandards bei der IT-Sicherheit zu erfüllen als auch IT-bedingte Störfälle an eigens dafür geschaffene Institutionen zu melden. 392  Siehe dazu noch unten 6 c η a. E.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

Verfolgen die Leitideen privater und hoheitlicher Institutionen ein gemeinsames Ziel (so etwa im letztgenannten Beispiel), dann verlaufen i. d. R. auch ihre Organisa­ tionsstrukturen parallel zueinander. Es kann folglich zu einer Gemengelage und u. U. zu Konkurrenzen kommen, die gemeinsamen Zielen nicht förderlich sind. Gegenwär­ tig ist das etwa der Fall beim Schutz der Menschenrechte, wo die privaten Vereini­ gungen infolge ihrer Zahl (es sind über hundert) und infolge ihres Einflusses auf die privaten Medien die hoheitlichen Institutionen aus dem öffentlichen Bewusstsein weitgehend verdrängt haben.393 Auch an Ort und Stelle führt die Zahl der gleichzeitig tätigen Organisationen oft zur Unübersichtlichkeit und Verminderung der Effizienz angebotener Leistungen.

Ein Rangverhältnis innerhalb der transsozialen Normen wird meistens nicht zum Problem, weil jede Ordnung sich auf einen abgegrenzten Bereich bezieht.394 Und da zwischen den Bereichen i. d. R. keine Knappheitsprobleme bestehen und deshalb keine Verteilungsprobleme zu lösen sind, kommen sie gewöhnlich weder mit nationalen noch mit internationalen Regelungen in Konflikt. Sofern es in der Vergangenheit dennoch bei der Zusammenarbeit haperte, hat das transsoziale Recht sich gegenüber einem nationalstaatlichen Recht bisher nicht generell als höherrangig durchsetzen können.395 Wenn es nationalstaatliches Recht derogiert hat, dann i. d. R. deshalb, weil an seiner Schaffung mächtige global players mitgewirkt haben oder weil die privaten Schiedsgerichte in aller Welt – sie sind weitere Akteure – lieber Billigkeits­ entscheidungen (auf der Grundlage eines als global übereinstimmend vermu­ teten Gerechtigkeitsgefühls) fällen als Entscheidungen aus dem abstrakten Recht von Staaten ableiten. Private Schiedsgerichte werden im grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr fast regelmäßig vereinbart. Ihre Verfahren werden i. d. R. nach den UNCITRAL-Regeln durchgeführt, deren Anwendung von der Generalversammlung der UNO empfohlen wurde.396 Das von den Schiedsgerichten anzuwendende materielle Recht kann von 393  Wichtige private Menschenrechtsorganisationen sind Human Rights Watch (Re­ cherche und Bericht über Menschenrechtsverletzungen), Amnesty International (wird zusätzlich dort aktiv, wo Menschenrechte bedroht sind), Gesellschaft für bedrohte Völker (warnt vor drohendem Völkermord), Anti-Slavery International (bekämpft die Sklaverei), Reporter ohne Grenzen (verteidigen das Recht auf Meinungsfreiheit und Freiheit der Berichterstattung). 394  Siehe dazu A. Fischer-Lescarno/G. Teubner (2006), S. 34 ff. 395  Umgekehrt kann auch das nationalstaatliche Recht sich gegenüber den transso­ zialen Normenordnungen nur insoweit durchsetzen, wie diese eine Berührung zum eigenen Territorium aufweisen. Deshalb sind z. B. private Wirtschaftsunternehmen zusätzlich zur Einbindung in die Metaordnung eines transsozialen Wirtschaftsrechts noch generell eingebunden in die von ihrem Heimatstaat erlassenen Rahmenbedin­ gungen für grenzüberschreitende Transaktionen sowie konkret eingebunden in die Normen des Staates, den ihre Transaktion berührt. 396  Hierzu K.-H. Böckstiegel (1984). Die Regeln wurden 2010 überarbeitet, um Veränderungen in der schiedsgerichtlichen Praxis Rechnung zu tragen.



K. Entwicklungstendenzen im neuzeitlichen Recht 831

den Parteien bereits beim Abschluss eines Vertrages vereinbart werden, wobei sich der stärkere Partner meist durchsetzt.397 Vorangegangene Billigkeitsentscheidungen von Schiedsgerichten, die überregionalen Anklang gefunden haben und von anderen Schiedsgerichten bestätigt wurden, erstarken oft zu völkerrechtlichem (Wirtschafts-) Gewohnheitsrecht. Sonst können schiedsgerichtliche Entscheidungen meistens erst nach einer zusätzlichen Anerkennung durch ein nationalstaatliches Gericht durchge­ setzt werden.398 Kommt es dazu, ist die Anerkennung für die überregionale Akzep­ tanz ebenfalls wichtig, oft begründet sie Gewohnheitsrecht.

Außer durch Normen können transsoziale Akteure auch durch Verträge ihre Beziehungen ordnen. Solche Verträge werden i. d. R. von international tätigen Anwaltskanzleien (als weiteren transsozialen Akteuren) ausgearbeitet und haben den Zweck, Brücken zwischen den unterschiedlichen nationalen Rechtsordnungen zu bauen. Ihre Grundlage ist das Internationale Privatrecht (IPR), das – entgegen seiner Bezeichnung – nationales Recht ist, weshalb im Regelfall nationales IPR auf nationales IPR trifft und die Anwaltskanzleien daher vor die Aufgabe stellt, deren Differenzen zu überbrücken und dafür Grundsätze zu entwickeln, die möglichst allgemein anerkannt werden kön­ nen. Bisweilen bereiten sie auf diese Weise Gewohnheits- oder gar Gesetzes­ recht vor. Zu den bereits entwickelten internationalen Vertragsgrundsätzen gehören u. a. die­ jenigen für Schuldverhältnisse (Rom I-VO), welche nicht nur auf alle Staaten der Europäischen Union (mit Ausnahme Dänemarks) Anwendung finden (Art. 1 Abs. 1 und 4 Rom I-VO), sondern auch dann angewendet werden sollen, wenn ein Staat außerhalb der Union betroffen ist (Art. 2 Rom I-VO).399 Für internationale Kaufver­ träge gilt speziell das Übereinkommen der UNO von 1980 (Convention on Contracts for the International Sale of Goods, CISG).

Schließlich kann es noch unterhalb der rechtlichen Ebene zwischen den nationalen Gesetzgebern und den transnationalen Akteuren zu verbindlichen Absprachen kommen. Diese stehen dann in einer Grauzone zwischen bloßer Proklamation und verbindlicher Festlegung und haben die Form von Verspre­ chen, Absichtserklärungen, gentlemen’s agreements o. ä. – von Übereinkünf­ ten also, deren Verletzung bewusst ohne Sanktion gelassen wird. Es handelt sich um soft law, d. h. um Erklärungen, die zwar allgemeine Tendenzen, Absichten oder Leitlinien zum Ausdruck bringen und insofern soziale Rele­ 397  Vgl. oben 3 a bb α. Ebenfalls kann die Gerichtssprache vereinbart werden, was die Verhandlung vor nationalen Gerichten gewöhnlich ausschließt, da dort nur die Sprache des betreffenden Landes zulässig ist. 398  In Deutschland gelten die §§ 328, 723 Abs. 2 ZPO. Soll das gesamte schieds­ richterliche Verfahren in Deutschland durchgeführt werden, gelten die §§ 1025 ff. ZPO. 399  Für außervertragliche Schuldverhältnisse gelten die Rechtsgrundsätze der Rom II-VO.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

vanz besitzen, aber keine vor Gericht verfolgbaren Rechte und Pflichten be­ gründen.400 (δ) Hybride Akteure. Wo auf der einen Seite nationale oder internationale Institutionen, auf der anderen Seite soziale oder transsoziale Unternehmen übereinstimmende Ziele parallel verfolgten, haben sie, wie erwähnt,401 oft die organisatorische Nähe zueinander gesucht und gefunden. Diese Nähe führte sie mit der Zeit dazu, ihre Bestrebungen entweder vertraglich mitein­ ander zu verbinden oder ihre Ziele in einer gemeinsamen Leitidee zum Aus­ druck zu bringen und deren Verfolgung dann entweder in eine gemeinsame Organisationsstruktur einzubringen oder deren Umsetzung einem Partner als Anführer zu übertragen.402 Eine Verschmelzung hoheitlicher und privater Organisationsstrukturen ist weder neu noch ungewöhnlich. Neu ist sie nicht, weil sich die hoheitlichen Aktionsbereiche im Altertum zwar aus den privaten Aktionsbereichen heraus entwickelt haben, es da­ mals jedoch nicht zur vollständigen Trennung beider gekommen ist. Verstärkt hat sich die Trennung beider Bereiche erst in der frühen Neuzeit, als Territorialstaaten die Sicherung des inneren und äußeren Friedens an sich zogen und zu diesem Zweck Gewaltanwendung und Gesetzgebung monopolisierten, die soziale Wohlfahrt ein­ schließlich der Pflege eines ‚prosozialen Rechts‘ dagegen der Gesellschaft als private Aufgabe überließen. Doch war die vollständige Trennung von Staat und Gesellschaft, sofern sie überhaupt aufging, nicht mehr als eine relativ kurze geschichtliche Episo­ de; denn spätestens im Sozialstaat der letzten zwei Jahrhunderte vermischten sich hoheitliche und private Sphären wieder. Allerdings wurden die Aufgaben nunmehr stärker funktional aufgeteilt. Die Staaten beschränkten sich mehr auf diejenigen Auf­ gaben, die eine hoheitliche Organisation erforderten: die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, die medizinische Grundversorgung, die Schaffung ökonomischer Rahmenbedingungen für Vollbeschäftigung und Altersvorsorge, die Bekämpfung technologischer Risiken u. ä. Die Bürger zogen sich aus der Organisation dieser Be­ reiche zurück, stellten aber dem Staat in Form von Steuern die Ressourcen für seine Leistungen zur Verfügung. Umgekehrt übernahmen private (oft multinationale) Un­ ternehmen vom Staat Aufgaben, die wirtschaftlichen Gewinn versprachen: Verkehrs­ leistungen, Postdienste, Versorgungs- (Elektrizität, Wasser u. a.) und Entsorgungsauf­ gaben (zur „dualen“ Abfallentsorgung vgl. § 24 KrWG403), öffentliche Bauvorhaben 400  C. Creifelds/K. Weber/G. Cassardt (2014), S. 1051. Zum zivilrechtlichen soft law vgl. ferner N. Horn (1980), p. 45; H. Kronke (2000), S. 1458 f.; aus staatsrecht­ licher Sicht O. Kimminich/St. Hobe (2000), S.  192 ff. 401  Vgl. oben 4 b. 402  Darüber hinaus kann ein Staat hoheitliche Tätigkeiten auch selber ‚privat‘ aus­ führen, um durch den Rechtsformwechsel größere Flexibilität oder sonstige Vorteile zu erlangen. Beispielsweise betreibt der deutsche Staat seinen Teil seiner auswärtigen Kulturpolitik mithilfe des privatrechtsförmlichen Goethe-Instituts, dessen alleiniger Geldgeber er ist. 403  Gesetz zur Förderung der Kreislaufwirtschaft und Sicherung der umweltver­ träglichen Bewirtschaftung von Abfällen – Kreislaufwirtschaftsgesetz (KrWG).



K. Entwicklungstendenzen im neuzeitlichen Recht 833

(Autobahnen, Museen, Theater, Konzerthallen) u. ä. Hiervon zogen sich umgekehrt die Staaten zurück, stellten den an ihre Stelle tretenden Unternehmen u. U. aber orga­ nisatorische Mittel zur Verfügung. Oft ließen die funktionalen Aufteilungen allerdings Überschneidungen bestehen, sodass die Verträge insoweit von vornherein offen ge­ staltet waren und Nachbesserungen erlaubten.

International ergab sich ein Bedarf, Gemeinsamkeiten von Staat und Wirt­ schaft zu verrechtlichen, u. a. dann, wenn transsoziale Wirtschaftskonzerne Investitionen in einem ausländischen Staat tätigen wollten, ihre Investitionen dort aber völkerrechtlich nicht geschützt waren. Beispiele: 1. Verträge zur Zusammenarbeit eines multinationalen Unternehmens mit den Unternehmen eines Entwicklungsstaates zur Vorbereitung von Investitionen, unter­ standen nicht dem Völkerrecht, selbst wenn sie von den staatlichen Behörden befür­ wortet und genehmigt wurden. – 2. Anders verhielt es sich, wenn die Behörden speziel­ le Investitionen genehmigten. Dann schützte das Völkergewohnheitsrecht die aufge­ wendeten Maßnahmen für die Investition und erklärte z. B. Enteignungen für unzuläs­ sig, wenn sie nicht im Interesse des Entwicklungslandes lagen oder wenn sie aus einem diskriminierenden Grunde geschahen (etwa weil die Enteignung ein multinationales Unternehmen traf). Blieb eine Enteignung danach zulässig, verlangte das Völkerrecht, dass dem multinationalen Unternehmen wenigstens eine Entschädigung gezahlt wird (deren Höhe allerdings umstritten war). – 3. Noch stärker abgesichert war ein multi­ nationales Unternehmen, wenn es mit den Behörden des Entwicklungslandes einen Schutz vereinbart hatte, der über den des Völkergewohnheitsrechts hinausging. Dies konnte durch einen Vertrag geschehen, der einerseits das Unternehmen zur Investition und andrerseits den Staat verpflichtete, die Investition vor Enteignung oder sonstigen nachteiligen Gesetzesänderungen zu bewahren. Ein solcher beide Seiten verpflichten­ der Investor-Staat-Vertrag wurde regelmäßig anlässlich von Großinvestitionen (z. B. zur Ausbeutung von Rohstoffen oder zur Durchführung von Infrastrukturmaßnahmen) abgeschlossen. Er verflocht privates und öffentliches Recht, konnte aber für sich allein nach h. M. mangels Völkerrechtsfähigkeit des investierenden Unternehmens weder dem Völkerrecht noch dem nationalen Recht des Gaststaats zugerechnet werden, da dieser ja seine Gesetzgebungskompetenz gerade aufgegeben hatte.404 Ersatzweise konnte er aber durch eine (zusätzlich zu vereinbarende) ‚Internationalisierungsklausel‘ dem Völkerrecht unterstellt werden405 ‒ was denn auch meistens geschah.

Soweit ein völkerrechtlicher Schutz nicht in Betracht kam, weil eine ver­ tragliche Kooperationsvereinbarung zwischen einem Staat und einem Wirt­ 404  Weil die heute vorherrschende Auffassung als Rechtsquellen des Völkerrechts lediglich völkerrechtliche Verträge, Völkergewohnheitsrecht und allgemeine Rechts­ grundsätze anerkennt (vgl. Art. 38 I IGH-Statut), ist eine völkerrechtliche Qualifika­ tion von Verträgen zwischen einem Staat und einer Privatperson nicht möglich (so das Urteil des IGH vom 22.07.1952 [Anglo-Iranian Oil Co. Case – Preliminary Ob­ jection] in: ICJ Reports 1952, p. 93 ff., 112 f. [= Dörr, Kompendium völkerrechtlicher Rechtsprechung, Tübingen 2004, S. 166 ff., 173 f.]). Allerdings haben später diverse Schiedsgerichte anders entschieden (vgl. M. Krajewski, 2012, Rn. 584). 405  So die h. M., Nachweise bei A. Reinisch (2009), § 8 Rn. 56 ff.; M. Herdegen (2014), § 22 Rn. 3 ff.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

schaftsunternehmen an der rechtlichen Selbstständigkeit beider Partner nichts änderte, konnte der völkerrechtliche Schutz aufgrund einer Institutionalisie­ rung der Kooperation mittels Verschmelzung beider Partner zu hybriden Akteuren herbeigeführt werden (wobei die Herkunft des investierenden Un­ ternehmens dann gleichgültig war). Die Initiative dazu konnte entweder vom privaten oder vom staatlichen Partner ausgehen. • Der private Partner konnte beispielsweise beim Staat mit seinem Know-how und seinen finanziellen Möglichkeiten für ein Zusammengehen werben. Dadurch wer­ de, so konnte er argumentieren, nicht nur die schnelle Durchführung anstehender kommunaler Projekte gesichert, sondern auch der öffentliche Haushalt lediglich mit den Gründungskosten des Gemeinschaftsunternehmens belastet. Er selbst konnte dann als Vorteil verbuchen, dass er infolge der Staatsbeteiligung z. B. bes­ sere Kreditkonditionen bei den inländischen Banken erhielt, da seine Bonität höher als die eines rein privatwirtschaftlichen Unternehmens angesetzt wurde.406 • Der staatliche Partner wiederum konnte infolge der Beteiligung eines großen aus­ ländischen Konzerns an seinen Projekten sich z. B. sowohl höhere Professionalität und Wirtschaftlichkeit als auch eine Befreiung vom verfassungsrechtlichen Ver­ schuldungsverbot und von der parlamentarischen Kontrolle versprechen.407 Auch erzeugte das Auftreten eines Gemeinschaftsunternehmens manchmal zusätzliche Vorteile im wirtschaftlichen Wettbewerb mit rein privaten Unternehmen.408

Wenn trotz dieser beiderseitigen Vorteile sich die Gründung hybrider Ge­ meinschaftsunternehmen in der Praxis nur selten bewährt hat, dann liegt das an damit verbundenen Nachteilen: Erstens musste ein Unternehmen, das Vorteile aus seiner Rechtsform herzuleiten versuchte, mit der geschlossenen Abwehr der übrigen Wettbewerber am Markt rechnen. Zweitens gab es in­ nerhalb eines hybriden Unternehmens notwendig ein Interessenwiderstreit, weil sich der staatliche Partner am Gemeinwohl orientieren musste, der pri­ vate Partner dagegen an der Gewinnmaximierung. Und drittens zahlte sich die Beteiligung für die öffentliche Hand meistens haftungsrechtlich nicht aus, da entweder schon die juristische Form der Beteiligung eine unbegrenzte Haftung vorsah oder zur Sicherung der Bonität eine Nachschusspflicht des Staates vereinbart werden musste. Würde statt eines Staates eine internationale Organisation mit eigener Rechtsper­ sönlichkeit sich an einem Privatunternehmen beteiligen, dann würde das an der Haf­ tung nichts ändern: Die Organisation wäre am Erfolg oder Misserfolg des Gemein­ 406  Eine unmittelbare Haftung des Staates für die Schulden des Unternehmens kommt allerdings nur in Ausnahmefällen in Betracht. Vgl. M. Herdegen (2014), § 4 Rn. 17, und weiter unten im Text. 407  Die meisten der von Pubic-Private Partnerships bzw. Öffentlich-privaten Part­ nerschaften betriebenen gemischt wirtschaftlichen Unternehmen haben bisher aller­ dings keine Kostenersparnis erbracht. 408  Vgl. dazu oben 3 a bb δ.



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schaftsunternehmens beteiligt und würde deshalb auch für etwaige Schulden haften. Lediglich ob dann subsidiär auch noch die an der internationalen Organisation betei­ ligten Staaten haftungsrechtlich in Anspruch genommen werden könnten, bliebe um­ stritten (wird überwiegend aber bejaht).409

(ε) Zusatz: Hybrides Völkerrecht zum Schutz von Menschenrechten? Ein besonders wichtiger Gegenstand des völkerrechtlichen Schutzes sind die Menschenrechte. Ihr Schutz ist jedoch nur in wenigen Fällen rechtlich pro­ blemlos, etwa wenn private humanitäre Organisationen (NGOs) ihn unmittel­ bar zu leisten vermögen. Benötigen diese Organisationen jedoch ihrerseits Schutz, kommt bereits eine staatliche Mitwirkung und damit auch staatliches Recht mit ins Spiel. Damit beginnen aber die Probleme. Ist der Staat, auf dessen Gebiet sie operieren, bereit und in der Lage, den gewünschten Schutz selber zu gewähren, reichen vertragliche Abmachungen zwischen ihm und den NGOs aus; diese sind dem hybriden Recht zuzurechnen. Wird der staat­ liche Schutz jedoch nicht gewährt oder reicht er nicht aus, dann müssen die NGOs um ein Mandat des UN-Sicherheitsrats für militärischen Schutz nach­ suchen. Insofern hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass nicht nur Staaten, sondern auch NGOs Subjekte des Völkerrechts sein können.410 Und nunmehr ist zu unterscheiden: Wird das Gesuch der NGOs von dem Staat unterstützt, auf dessen Gebiet sie tätig werden wollen, und soll dieser auch die Schutz­ truppe stellen, dann kommt es zwischen den NGOs und dem Staat sowohl in Bezug auf eine humanitäre Tätigkeit (z. B. die ärztliche Versorgung der Be­ völkerung bei einer Seuche) als auch auf den Schutz durch eine militärische Einheit (z. B. gegen Überfälle von Aufständischen) zu einer vertraglichen Regelung, die dem Völkerrecht untersteht. Soll der militärische Schutz dage­ gen durch einen Fremdstaat gewährt werden, dann muss ein Mandat des UN-Sicherheitsrates die Verletzung der Souveränität des Staates rechtferti­ gen, in dem der Einsatz stattfinden soll. Es bedarf daher eines vom UN-­ Sicherheitsrat ‚diktierten Vertrags‘ zwischen den NGOs und dem Fremdstaat, der anschließend ggf. zwangsweise durchgesetzt werden muss. Gegen einen solchen Vertrag zulasten eines Staates bestehen allerdings zumindest de lege lata erhebliche Bedenken. Nach der gegenwärtigen Gesetzeslage (UN-Charta, VII. Abschnitt) darf der UNSicherheitsrat das Mandat zu einer bewaffneten Intervention nur erteilen, wenn er begründet annehmen darf, dass andernfalls der Weltfrieden oder die internationale Sicherheit bedroht ist. Dass eine dieser Voraussetzungen vorliegt, wird zur Rechtfer­ C. Th. Ebenroth/L. Fuhrmann (1989), S. 217. Ipsen (2014), § 1 Rn. 10: „Die entsprechenden Konventionen harren zum Teil noch der Ratifikation bzw. des Beitritts der Staatenmehrheit. Wir haben es daher mit einem noch in der Entwicklung begriffenen Gebiet des Völkerrechts zu tun, des­ sen allmähliche Ausformung gleichwohl eine für das Völkerrecht der Gegenwart be­ zeichnende Tendenz erkennen lässt.“ 409  Vgl. 410  K.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

tigung eines Mandats zwar regelmäßig behauptet,411 aber kaum jemals substantiiert dargelegt. Insbesondere bei humanitären Interventionen412 sprechen vielmehr starke Gründe dagegen: Erstens wirken die meisten humanitären Missstände nicht über die staatlichen Grenzen hinaus und verursachen somit keine Gefahr für den Weltfrieden oder für die internationale Sicherheit. Vielmehr löst erst ihr Bekanntwerden weltweite Empörung und anschließend das gewaltsame Eingreifen in die inneren Angelegenhei­ ten des Staates aus, und frühestens dadurch entsteht (möglicherweise) eine Gefahr für den Weltfrieden.413 Für diese Gefahr ist aber nicht der Staat verantwortlich, in dessen Souveränität eingegriffen wird; denn er hat weder das Bekanntwerden noch die welt­ weite Empörung über die Menschenrechtsverletzungen gewollt (und vielleicht noch nicht einmal vorausgesehen). Deshalb fehlt es schon an der ersten Voraussetzung für das militärische Eingreifen in die Souveränität. Zweitens fehlt es aber auch an einem zulässigen Ziel für das militärische Eingreifen, weil dieses nur der Friedenssicherung dienen darf, also um „Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrü­ cken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel … zu bereinigen oder beizulegen“ (Art. 1 Nr. 1 UN-Charta). Und drittens müsste auch das zur Intervention eingesetzte Mittel, nämlich die Waffengewalt, als Maßnahme erforderlich sein „zur Wahrung oder Wie­ derherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ (Art. 39 ff. UNCharta). Doch die Mittel zur humanitären Intervention dienen keinem dieser Zwecke. Fazit: Die Intervention ist nach gegenwärtigem Recht unzulässig. Dieses Ergebnis wird man angesichts des Gewichts mancher Menschenrechtsver­ letzungen als höchst unbefriedigend empfinden. Man kann deshalb de lege ferenda argumentieren, dass sich seit der Fassung der UN-Charta ein erheblicher Reformbe­ darf angestaut habe, der durch eine noch so extensive Interpretation der Charta nicht abgebaut werden kann und daher durch eine Gesetzesänderung beseitigt werden muss. Gründe dafür seien einerseits die Entwicklung der Menschenwürde zum zent­ ralen Gut des globalen Rechts und andrerseits der Niedergang der unumschränkten Souveränität der Nationalstaaten. Doch ist diese Argumentation im Hinblick auf ge­ genwärtige Menschenrechtsverletzungen noch nicht hilfreich genug. Hilfe schafft erst ihre Verstärkung durch Gründe für eine Reformulierung der lex lata, die so schwer wiegen, dass man das Handeln der Vereinten Nationen als Gesetzgeber nicht abwar­ ten kann. Man muss also weiterhin argumentieren, dass die Not erniedrigter Men­ schen einen ‚übergesetzlichen Notstand‘ begründe und die Überwindung der gegen­ wärtig unzureichenden Gesetzeslage zugunsten einer erweiterten Rechtslage erlaube; denn einzig der militärische Eingriff in die staatliche Souveränität sei imstande, die dort stattfindenden Menschenrechtsverletzungen zu beenden. 411  Etwa

GA Res. 616 (VII); 721 (VIII); 820 (IX); 917 (X) u. ö. ihnen M. Bothe (2016), S.  610 f.; A. von Arnauld (2016), § 13 D III 2 (Rn. 1127 ff.) m. Nachw. 413  Die Situation ähnelt der aus dem Polizeirecht bekannten, wo eine Störerhaf­ tung nur dann ausgelöst wird, wenn eine Ursache die Gefahr bzw. Störung unmittelbar herbeigeführt hat. Dabei ergibt sich die Unmittelbarkeit nicht aus einer objektiven Erkenntnis, sondern einer subjektiven Beurteilung des störenden Verhaltens – die im Polizeirecht davon abhängt, ob das Verhalten bereits für sich eine Polizeiwidrigkeit darstellt. 412  Zu



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Zusätzlich muss sich die Argumentation zugunsten eines ‚diktierten Vertra­ ges‘ aufgrund eines ‚übergesetzlichen Notstands‘ insbesondere mit dem Be­ denken auseinandersetzen, dass jedem Recht Grenzen gesetzt sind und dass eine dieser Grenzen der Machtfaktor ist, der die staatliche Souveränität auch dann noch stützt, wenn Menschenrechte verletzt werden. Deshalb mochte es juristisch zwar ein Fortschritt gewesen sein, als in den 60er Jahren des vori­ gen Jahrhunderts durch die Internationalen Pakte über bürgerliche und politi­ sche Rechte sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte erst­ mals Menschenrechte spezifiziert wurden. Und förderlich für deren Schutz war gewiss auch, dass seit den 80er Jahren ihr Schutz durch praktische Maßnahmen wie etwa durch ein Monitoring im Hinblick auf einzelne beson­ ders gefährdete Menschenrechte (Rassendiskriminierung, Folter u. a.) verbes­ sert wurde. Doch als in Fortführung dieser Entwicklung der Schutz internati­ onal durch Empfehlungen zu konkreten nichtmilitärischen Maßnahmen (ent­ sprechend Art. 41 Satz 1 UN-Charta)414 verstärkt wurde, war die Grenze des nicht nur juristisch sondern auch praktisch Möglichen erreicht. Blieben, wie so oft gerade bei massiven Menschenrechtsverletzungen, nichtmilitärische Maßnahmen erfolglos, konnte kein noch so hohes Recht daran etwas ändern. Was einzig hätte helfen können, wäre die von einer Weltmacht gestützte po­ litische Entscheidung gewesen, dass der Einsatz militärischer Mittel im kon­ kreten Fall mehr Nutzen als Schaden bringt und daher erfolgen soll. Eine militärische Interventionen in das Gebiet eines relativ schwachen Staates oder eines der failed states hätte dann sicherlich zur Beendigung der Men­ schenrechtsverletzungen und zur Befriedung der weltweiten Empörung bei­ getragen; eine Interventionen in das Gebiet eines großen und starken Staates (etwa China) hätte dagegen das Risiko eines Weltkriegs heraufbeschworen. Und dessen Ausgang wäre alles andere als sicher gewesen.415 Rechtlich legitimiert werden können daher Interventionen in staatlich befohlene oder beschützte Menschenrechtsverletzungen nur von einer Weltgesellschaft, deren oberste Ziele das Wohl aller Völker sowie die Mindestteilhabe aller Menschen an diesem Wohl sind. Und durchgesetzt werden können sie wohl nur von einem Weltstaat, mit dem alle Nationalstaaten – auch und gerade die mächtigsten unter ihnen – sich verbunden fühlen und dem sie ihre Hilfe zur Stärkung seiner Autorität nicht nur zugesagt haben, sondern auch zu leisten entschlossen sind. Erreicht werden können die Ziele aber auch dann nur, wenn dieser Weltstaat sich seinerseits auf eine Weltwirtschaft stützen kann, die in der Lage ist, allen Menschen zu einem würdigem Dasein 414  Art. 41 Satz 1 UN-Charta lautet: „The Security Council may decide what measures not involving the use of armed force are to be employed to give effect to its decisions, and it may call upon the Members of the United Nations to apply such measures.“ 415  Die Vorschläge de lege ferenda zur humanitären Intervention sehen daher na­ hezu überstimmend die Einschaltung des UN-Sicherheitsrats vor, wo die Großmächte ein Blockaderecht haben.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

zu verhelfen, und zusätzlich auf die Tatkraft von Wohlfahrtsverbänden, welche die wirtschaftlichen Mittel in alle Welt tragen. Ein poststaatliches ‚Spätrecht‘416, das da­ für den organisatorischen Rahmen zu liefern hätte, könnte, sofern diese Voraussetzun­ gen vorliegen, von den internationalen Juristen ohne weiteres erarbeitet werden. Es wäre ein ‚gubernatives Weltrecht‘ (bzw. Global Governance)417, an das sich alle – Staaten, Wohlfahrts- und Wirtschaftsverbände – halten, weil sie alle daran mitgearbei­ tet haben und deshalb die Einhaltung als moralisch verpflichtend empfinden.

oben E 5 ε. Begriff ‚Governance‘, den ich im Folgenden noch öfter verwenden werde, stammt aus den Sozialwissenschaften. Er wurde prominent von der Weltbank ge­ braucht und als „the exercise of authority, control, management, power of govern­ ment“ bzw. als „the manner in which power is exercised in the management of a country’s economic and social resources for development“ definiert (World Bank, Governance and Development, 1992, p. 1 and 3). Heute wird der Begriff unterschied­ lich verwendet, wobei die Unterschiede freilich nicht immer klar hervortreten. Im engeren Sinne verstanden, gehört zur Governance die Teilnahme Privater an einer hoheitlichen Regelung im sozialen Raum, der ein Rechtsraum sein kann, aber nicht sein muss. Ein hoheitlicher Rechtsraum ist er, wenn die beteiligten staatlichen Insti­ tutionen ihn beherrschen und allenfalls einen Teil der erforderlichen Verrechtlichungs­ prozesse Privaten überlassen. Davon geht innerhalb des deutschen Rechtsbereichs etwa das GWB aus. Ein privater Rechtsraum ist er dagegen, wenn er lediglich durch Privatverträge ohne hoheitliche Beteiligung gestaltet wird. Und lediglich prärechtlich ist er, wenn der Staat einer privatwirtschaftlichen Betätigung, etwa weil sie Arbeits­ plätze schafft, Wohlwollen entgegenbringt und sie verwaltungsmäßig unterstützt. In diesem Sinne definiert ihn die Commission on Global Governance die Governance im Abschlussbericht (Our Global Neighborhood – The Report of the Commission on Global Governance, 1995, p. 2) als „the sum of the many ways individuals and insti­ tutions, public and private, manage their common affairs. … It includes formal insti­ tutions and regimes empowered to enforce compliance, as well as informal arrange­ ments that people and institutions either have agreed to or perceive to be in their in­ terest“. Der von mir im Text alternativ gebrauchte Begriff ‚gubernatives Recht‘ ist enger als ‚Governance‘, weil er ausschließlich den hoheitlichen Bereich bezeichnet, worin Private an einer Rechtssetzung mitgewirkt haben. Er lässt sich dem Kernbegriff des Rechts (vgl. oben E 4 b bei Fn. 62) unterordnen, umfasst dagegen nicht die Schaffung von sozialen und politischen Rahmenbedingungen für die Privatwirtschaft. Neben der Governance auf der nationalen Ebene gibt es sie auch auf der interna­ tionalen und der globalen Ebene, also als ‚International Governance‘ bzw. ‚Global Governance‘. Ferner wird der Begriff als ‚Corporate Governance‘ für bestimmte Zielorientierungen von ausschließlich privaten Unternehmen gebraucht, mit denen diese ihrer gesellschaftlichen Verantwortung, aber auch gewissen Forderungen nach Transparenz (u. a. hinsichtlich ihrer Organisation und ihrer Rechnungslegung) genü­ gen wollen (‚Good Private Governance‘). Und als ‚Public Governance‘ wird er ge­ braucht für bestimmte Zielorientierungen nationaler oder internationaler Unternehmen (z. B. der Weltbank), um entsprechenden Forderungen auf der nationalen bzw. inter­ nationalen Ebene gerecht zu werden (‚Good Public Governance‘). Ausführlich zur Governance als analytischem Konzept vgl. G. F. Schuppert (2008). Zur ‚Global Governance‘ sind lt. en.wikipedia bisher mehr als 64.000 Bücher in eng­ lischer Sprache veröffentlicht worden. 416  Vgl. 417  Der



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c) Legitimationsprobleme hybriden Rechts Jedes Recht bedarf sowohl einer physischen Macht, die es realisiert, als auch einer metaphysischen Macht, die es legitimiert. Dass die Macht, die das Recht legitimiert, die Gerechtigkeit ist, ist weltweit anerkannt; doch deren Inhalt legitimiert sich nicht selber. Er wird von anderen Mächten legitimiert, und die haben im Laufe der Geschichte gewechselt. Derzeit ist es, wenn es um die abstrakte Gerechtigkeit von Gesetzen geht, der Staat: innerhalb von ‚demokratischen‘ Staaten also das ‚Staatsvolk‘ (der δῆμος)418 bzw. dessen Abgeordnete im Parlament. Wenn es um die konkrete Gerechtigkeit von Ein­ zelfällen geht, sind es die Verwaltungsbehörden und die Gerichte. Und im Übrigen sind es die Bürger selber, die als individuelle Akteure über ihre Rechtsbeziehungen und deren Gerechtigkeit entscheiden. Doch wie steht es mit dem hybriden Recht und seiner Gerechtigkeit, zu deren Erzeugung es sowohl des Staates als auch der Bürger bedarf, weil es aus dem Zusammen­ wirken beider hervorgeht? (α) Grenzen der demokratischen Legitimation. Unproblematisch lässt sich die Legitimation hybriden Rechts von seiner privaten Seite her aus der recht­ lichen Handlungsfähigkeit (Rechtsgeschäftsfähigkeit) der mitwirkenden Ak­ teure begründen. Nicht ganz so unproblematisch ist die Legitimation von der hoheitlichen Seite her. Sie kann sich nur aus der Mitwirkung von Akteuren ergeben, deren Handlungen vom Wortlaut (bzw. den Sinn und Zweck) eines parlamentarisch beschlossenen Gesetzes gedeckt sind und die deshalb dem Souveränitätsbereich eines demokratischen Staates zuzurechnen sind. Inso­ weit wird man anzunehmen haben, dass die Legitimation sich, sofern parla­ mentarisch gewollt, auch auf die Mitwirkung an Handlungen im internationa­ len Bereich erstrecken kann (für Deutschland vgl. Art. 20 Abs. 2 GG). Und soweit dazu auch die Mitwirkung an der Erzeugung einer hybriden Institution gehören soll, also eines international tätigen Öffentlich-Privaten Partnerun­ ternehmens, kann die Legitimation als noch unproblematisch eingestuft wer­ den. Problematisch ist dann jedoch, ob die hoheitlich legitimierte Mitwirkung an der Erzeugung einer hybriden Institution mittelbar auch deren Rechtsakte legitimiert, da ja an ihnen auch Privatpersonen beteiligt sind, deren Handeln nicht hoheitlich legitimiert ist. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass sich das Erfordernis demokratischer Legitimation im Rechtsstaat unbeschränkt nur auf das nationale Gesetzesrecht beziehen kann, sollen nicht wichtige Berei­ 418  Eine rechtlich verbindliche Abgrenzung zwischen ‚Bevölkerung‘ (als Summe der ‚Staatsangehörigen‘) und dem ‚Wahlvolk‘ (als Summe der ‚Staatsbürger‘) gibt es nicht. Dementsprechend ist auch unklar, was als ‚Selbstbestimmungsrecht‘ der Völker zu verstehen ist.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

che des Rechts dem Vorwurf der Illegitimität preisgegeben werden. Für die Grenzen demokratischer Legitimation bedeutet das beispielhaft im Hinblick auf die deutsche Rechtsordnung: •• Völkerrechtlich sind die allgemeinen Regeln des Völkerrechts auch ohne demokratische Legitimation Bestandteile des deutschen Bundesrechts, und zwar sogar mit Vorrang vor den demokratisch legitimierten nationalen Gesetzen (Art. 25 GG). Da es sich größtenteils um Gewohnheitsrecht handelt419 und dieses ohnehin nicht auf demokratischer Wahl, sondern auf Herkommen beruht, liegt insoweit keine Durchbrechung des ‚demokratischen Prinzips‘ vor. Anders steht es im Hinblick auf die völkerrechtliche Gesetzgebung. Insofern wird die Forderung nach parlamenta­ rischer Legitimation von der UNO streng beachtet, indem sie mangels eines Parla­ ments für sich kein Recht zum Eingreifen in „Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit (jurisdiction) eines Staates gehören“ (Art. 2 Nr. 7 UN-Charta) in Anspruch nimmt, sondern sich jeder die Nationalstaaten unmittelbar verpflichtender Normsetzung enthält.420

•• Supranational sieht sich die Europäische Union als zur Gesetzgebung mit unmittelbar verpflichtender Wirkung für und gegen ihre Mitglieder legiti­ miert, weil sie, trotz fehlendem δῆμος, ein demokratisch gewähltes Parla­ ment hat. Begrenzt ist ihre Legitimation freilich auf Gesetze, zu deren Erlass ihr Parlament verfassungsrechtlich legitimiert ist. Selbst insoweit besitzt das Parlament nur eine demokratische Legitimation zweiter Klasse, weil darin hauptsächlich Parteien, die nicht unmittelbar vom Volk gewählt wurden, sondern lediglich Bündnisse national gewählter Parteien vertreten sind.421 Infolge dieser Verdünnung der demokratischen Legitimation hat die Gesetzgebung der EU sich bisher auf den Wirtschaftsbereich und da auf die Herstellung eines freien gemeinsamen Marktes beschränkt – wohl deshalb, weil dies „Angelegenhei­ ten“ sind, die ihrem Wesen nach weniger vom Volkswillen als von Nutzenüber­ oben 1 c β γγ. zu den inneren Angelegenheiten der Völker gehört, hängt freilich von der Entwicklung ihrer internationalen Beziehungen ab, und der werden durch die Charta keine Grenzen gesetzt. „The term ‚essentially‘ encapsulates an evolutionist concep­ tion“ (G. Nolte, 2002, Art. 2 [7] UN-Charta, Rn. 32). 421  Europäische Parteien haben sich bisher kaum entwickeln können, weil sich ein europäisches (National-)Bewusstsein bei den Bürgern Europas bisher allenfalls sche­ menhaft entwickelt hat (dazu R. Herzog, 2014, S. 27 ff.: „Die fehlende Nation“). So­ weit sie auf europäischer Ebene gegründet wurden, sollen sie erst „zur Herausbildung eines europäischen politischen Bewusstseins und zum Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bürger der Union“ beitragen (Art. 10 Abs. 4 EUV). Einen schwa­ chen Ersatz stellt die geregelte Zusammenarbeit zwischen dem Europäischen Parla­ ment und den nationalen Parlamenten dar, die u. a. durch regelmäßige Konferenzen der Europa-Ausschüsse der nationalen Parlamente verwirklicht werden soll (Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der EU vom 13.12.2007, Art. 10). 419  Vgl. 420  Was



K. Entwicklungstendenzen im neuzeitlichen Recht 841 legungen bestimmt werden.422 Im Übrigen darf die EU im Rahmen ihrer ausdrück­ lich zugewiesenen Kompetenzen zwar „Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen“ (Art. 288 AEUV) mit unmittelbarer Geltung gegenüber den Bürgern der Mitgliedsstaaten erlassen, doch wird insoweit oft kri­ tisch angemerkt, dass diese Kompetenzen aus demokratischer Sicht zu weit seien und von den Behörden der EU auch noch zu extensiv ausgelegt würden.423

•• International ist das demokratische Prinzip mangels eines internationalen δῆμος von vornherein schwierig einzuhalten. An sich fordert der Grund­ satz nationaler Selbstbestimmung eine Beteiligung aller von einer Gesetz­ gebung betroffenen Staaten nur für internationale Strafnormen (aufgrund eines global gültigen Gesetzesvorbehalts, für Deutschland vgl. Art. 103 Abs. 2 GG).424 Im Übrigen entspricht das Erfordernis demokratischer input-Legitimation jedoch einer herrschenden, obzwar nicht unbestrittenen Meinung. Deshalb reicht es auch außerhalb des strafrechtlichen Bereichs für eine internationale Gesetzesgeltung nicht aus, wenn etwa in Expertenkommissionen nur einige Nationalstaaten durch stimmberechtigte Mitglie­ der vertreten sind und diese Kommissionen optimal nützliche Ergebnisse etwa für die Erhaltung des Weltfriedens oder die Entwicklung der Welt­ wirtschaft erzielen (: output-Legitimation)425. Begründet wird dies damit, dass die Funktion von demokratischen Wahlen darin bestehe, die rechtliche Einschränkung der Bürgerfreiheit durch die Verpflichtung der Recht setzenden Instanzen auf das Wohl der Bürger auszugleichen, und wann ein solcher Ausgleich voraussehbar hergestellt wird, könnten allein die Abgeordne­ ten nationaler Parlamente entscheiden.426

An diesem Ergebnis ändert sich auch dann nichts, wenn ein Staat in einer internationalen Expertenkommission nicht vertreten ist, deren Entschei­ dungen aber im Voraus zugestimmt hat. Denn eine solche Blankoermäch­ 422  Deshalb ist den Nationalstaaten die Befugnis entzogen worden, im Eigeninter­ esse regulierend auf den Markt einzuwirken; denn fast jede nationale Regulierung ist ein Hemmnis für das erklärte Ziel des General Agreement on Tariffs and Trade (GATT), den Welthandel von nationalen Beschränkungen freizuhalten und ihn aus­ schließlich den evolutiven Kräften des freien Marktwettbewerbs zu überlassen. 423  Kritisch u. a. R. Herzog (2014), S. 85 ff. In die Kritik geraten sind vor allem die Rechtsangleichungskompetenzen der Art. 114 und 115 AEUV sowie die sogen. ‚Ab­ rundungskompetenz‘ des Art. 352 Abs. 1 AEUV, wonach „der Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments die geeigneten Vorschriften [d. h. diejenigen, die er für geeignet hält] erlassen“ darf, „um eines der Ziele der Verträge zu verwirklichen“. 424  U. Sieber (2009), S. 17 ff., 28 ff. Eine Ausnahme bilden diejenigen Straftatbe­ stände, für deren Verfolgung das Weltprinzip gilt. 425  Zur Unterscheidung zwischen input- und output-Legitimaton F. W. Scharpf (1970, 1999 u. ö.); U. Schliesky (2004), S. 233 ff.; St. Bredt (2006), S. 274; u. a. 426  Vgl. dazu und zum Folgenden S. Quack (2010), p. 7 f. m. Nachw.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

tigung würde nicht nur eine Selbstentmachtung des Parlaments bedeuten, sondern hätte auch mögliche Auswirkungen über die nationalen Grenzen hinweg.427 Beispiele: 1. Für die Zulassung von Arzneimitteln in Europa besteht die Tendenz, sie sowohl organisatorisch als auch inhaltlich einheitlich zu regeln. Das Europa­ recht kennt daher ein zentrales Zulassungsverfahren, das, wenn es keinen Erfolg haben sollte, gleichzeitig das Verbot für das Inverkehrbringen des betreffenden Arzneimittels enthält (Art. 12 Abs. 2 VO [EG] Nr. 726/2004428). Zuständig für die Durchführung des zentralen Zulassungsverfahrens ist eine Kommission der EU (Art. 17 Abs. 1 EUV), deren Einsetzung und Verfahren durch das Europaparlament demokratisch legitimiert worden sind. Statt der einheitlichen Zulassung kann aller­ dings eine Zulassung auch für einzelne Staaten der EU erstrebt werden. Dafür gibt es ein dezentrales Zulassungsverfahren, das auf dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung beruht. Dieses Prinzip besagt: Wenn ein Medikament in einem der Mitgliedstaaten der EU zugelassen wurde, erstreckt sich die Zulassung – mangels entgegenstehender schwerwiegender Gründe – auch auf die übrigen Mitgliedsstaa­ ten.429 Dieses Prinzip überspielt das Erfordernis der demokratischen Legitimation; denn es greift auch dann ein, wenn die übrigen Mitglieder der EU von der Zulas­ sung des Medikaments in ihrem Staat noch nicht einmal Kenntnis haben. – 2. Für die steuerrechtliche Anerkennung einer internationalen Organisation als gemein­ nützig (z. B. einer Hilfsorganisation) gibt es derzeit kein zentrales Verfahren, auch nicht im Bereich der EU/EWR. Vor 2009 konnte daher nach deutschem Recht (§ 5 Abs. 2 Nr. 2 KStG a. F.) eine im Ausland residierende Organisation keine inländi­ sche Steuerbefreiung erlangen. Dieses Ergebnis wurde als europarechtswidrig an­ gesehen. Seit 2009 hängt deshalb die steuerrechtliche Anerkennung davon ab, ob zwischen Deutschland und dem EU/EWR-Staat, in dem die Organisation ihren Sitz hat, ein Amtshilfeabkommen besteht. Dem deutschen Interesse versucht § 51 Abs. 2 AO dadurch Rechnung zu tragen, dass das gemeinnützige Handeln der Or­ ganisation entweder den Inlandsdeutschen oder dem deutschen Ansehen im Aus­ land zugute kommen muss. Ob dieses Erfordernis die fehlende demokratische Le­ gitimation ausgleicht, ist umstritten.430 – 3. In Strafgerichtsverfahren spielt das Vorhandensein von Codes of Conduct eine Rolle, wenn es gilt, Pflichtverletzungen der Geschäftsführung eines (an der Börse gelisteten) Unternehmens festzustellen und gegen die beteiligten Manager Strafen zu verhängen. Solche Kodizes sind für internationale Unternehmen von den Regierungen der OECD-Mitgliedstaaten ver­ abschiedet worden. Sie enthalten „Empfehlungen für verantwortungsvolles Ge­

427  Ch. Joerges (2006), S. 179: „Kein Staat in Europa kann Entscheidungen von politischem Gewicht fällen, die nur ihn selbst betreffen würden: Es gibt keine Maß­ nahmen ohne ‚extra-territoriale‘ Effekte in den Nachbarstaaten.“ 428  VO (EWG) Nr. 2309/93 (jetzt VO [EG] 726/2004) betr. die Zulassung von Arzneimitteln durch die Kommission der Europäischen Gemeinschaft und die Über­ wachung der von der Gemeinschaft zugelassenen Arzneimittel. 429  Zu Einzelheiten und der Möglichkeit einer Verpflichtungsklage vgl. W. A. Rehmann (2014), vor §§ 21–37 AMG Rn. 4 ff. 430  Dazu A. Leisner-Egensperger (2011), § 51 AO Rn. 52.



K. Entwicklungstendenzen im neuzeitlichen Recht 843 schäftsverhalten im globalen Kontext“431. Wann ihre Verletzung strafrechtliche Haftung zur Folge hat und ob sie mangels demokratischer Legitimation der Codes of Conduct überhaupt haben kann, ist bisher völlig ungeklärt.432

Einschränkungen für das Erfordernis einer demokratischen Legitimation von Ergebnissen internationaler Expertenkommissionen, die anschließend ins nationale Recht einfließen sollen,433 könnten immerhin für wissenschaftliche Erkenntnisse gerechtfertigt sein. Denn scheinbar erübrigt sich eine Legitimation deshalb, weil die Erkenntnisse aus global einheitlichen Daten gewonnen werden, die Folgerungen daraus experimentell gesichert sind und sowohl die Erkenntnisse als auch die Folgerungen von der communis opinio akzeptiert werden (throughput-Legitimation); daran kann auch ein nationales Parlament nichts ändern. Doch ist eine derart pauschale Begründung nur auf den ersten Blick überzeugend; die Überzeugung weicht nämlich, sobald man die Vielgestaltigkeit der Expertenkommissio­ nen und der Fragen berücksichtigt, mit denen sie sich befassen (und von denen nicht immer sicher ist, ob es sich um wissenschaftliche Fragen handelt)434. Sie weicht noch mehr, wenn man bedenkt, dass eine künftige Erschütterung der wissenschaftlichen Erkenntnisse oder der communis opinio den darauf beruhenden Rechtsgesetzen ihre Legitimation automa­ tisch entziehen und zumindest dann die nationalen Parlamente zur Ent­ scheidung aufrufen müsste, ob sie die Erschütterung als stark genug für einen Legitimationsverlust halten. Beispiele für die Unterschiedlichkeit der Kommissionen: Normgebend sind heute u. a. tätig die International Standards Organization (ISO)435, das European Committee for Standardization (CEN), das European Telecommunication Standards In­ stitute (ETSI) und das World Wide Web Consortium (W3C). Bedeutsam ist ferner der International Accounting Standards Board (IASB), worin Rechnungslegungsex­ perten International Financial Reporting Standards (IFRS) für die Jahresabschlüsse 431  Abgedruckt u. a. in M. Herdegen (2014), § 4 Rn. 69 (S. 70). Dort (Rn. 70 ff.) findet sich auch ein Bericht über weitere internationale Bestrebungen, die Tätigkeit internationaler Unternehmen normativ zu beeinflussen, wobei allerdings die meisten davon (außer im Falle des Menschenrechtsschutzes) keinen Rechtscharakter erlangt haben. 432  In Deutschland konkretisieren Compliance-Normen vor allem die pflichtwid­ rige Vernachlässigung von Aufsichts-, Organisations- und Kontrollpflichten zur Ver­ meidung unternehmenstypischer Gefahren, die zur Verwirklichung von Straftatbestän­ den führen. Vgl. D. Bock (2014), S. 280 und passim. 433  Generell zum Einfluss von transsozialen (nicht-staatlichen) Institutionen auf das internationale Recht siehe B. Arts/M. Noortmann/B. Reinalda (2001); M. T. Kamminga (2005). 434  Das Problem ist vor allem für das Umweltrecht bedeutsam, vgl. S. Atapattu (2012), p. 211. 435  Mitglieder der ISO sind Standardisierungsinstitutionen aus über 90 Ländern, die nur teilweise staatliche Verwaltungseinheiten sind.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

derjenigen Unternehmen festlegen, die auf den internationalen Kapitalmärkten tätig sind. Selbstbeschränkungen von Unternehmen sind in den Verhaltenskodizes (Codes of Conduct) enthalten, die „principles, values, standards, or rules of behavior“ nor­ mieren und deren Aufgabe es ist, „to guide the decisions, procedures and systems of an organization in a way that (a) contributes to the fare of its key stake­holders, and (b) respects the rights of all constituents affected by its operations“.

Technische Normen436 bilden einen weiteren Sonderfall. Sie fließen ge­ wöhnlich auch ohne parlamentarische Legitimation in die nationalen Rechte ein, sofern Wissenschaft und Praxis sie weltweit ihren Berechnun­ gen zugrunde legen.437 Zwar ist man sich allgemein bewusst, dass sie rechtstheoretisch bloße Empfehlungen sind, die erst durch ihre Einbezie­ hung in staatliche Gesetze oder Verordnungen rechtliche Verbindlichkeit erlangen.438 Doch soll es für die Wahrung des Demokratieprinzips ausrei­ chen, wenn parlamentarische Normungsmandate die „grundlegenden An­ forderungen“ an die Normung festgelegt haben und die technischen Rege­ lungen anschließend in den mandatierten Sachverständigenkommissionen erarbeitet werden. Es handle sich, so heißt es, um einen Fall delegierter (kooperativer) Gesetzgebung.439 Dass um den Charakter technischer Normen dennoch gestritten wird, hat seinen Grund darin, dass deren Regelungsgehalt in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit und Umweltschutz allmählich den der juristischen Normen bei Weitem über­ trifft.440 Teilweise verneint man deshalb ihren Rechtscharakter, weil ihnen das po­ litische Element fehle bzw. durch einen technologischen Internationalismus ersetzt 436  Weitgehend gleichbedeutend verwendet werden die Begriffe „allgemein aner­ kannte Regeln der Technik“ (etwa § 13 Abs 1. S. 2 VOB/B) und „Stand der Technik“ (etwa § 3 Abs. 6 BImSchG). International maßgeblich ist die Definition einer techni­ schen Norm seitens der Internationalen Normenorganisation (ISO) als „eine techni­ sche Spezifikation oder ein anderes Dokument, das für jedermann zugänglich ist und unter Mitarbeit und im Einvernehmen oder mit allgemeiner Zustimmung aller interes­ sierten Kreise erstellt wurde. Sie beruht auf abgestimmten Ergebnissen von Wissen­ schaft, Technik und Praxis. Sie erstrebt einen größtmöglichen Nutzen für die Allge­ meinheit. Sie ist von einer auf nationaler, regionaler oder internationaler Ebene aner­ kannten Organisation gebilligt worden.“ Ziele der Normung sind lt. DIN 820 u. a. Rationalisierung und Qualitätssicherung von Gegenständen. Zur Rezeption techni­ scher Regeln durch die Rechtsordnung siehe R. Breuer (1976); F. Nicklisch (1983). 437  In Deutschland werden die Institutionen, die technische Normen generieren, vom Deutschen Institut für Normung (DIN) zusammengefasst. Zu weiteren Einzelhei­ ten vgl. R. Rönck (1991), S. 162 ff., 194 ff.; G. Breulmann (1993), S. 40 ff. 438  Beispiel aus einer Bauordnung: „Das Deutsche Institut für Bautechnik macht im Einvernehmen mit der obersten Bauaufsichtsbehörde für Bauprodukte … die tech­ nischen Regeln bekannt, die zur Erfüllung der … an bauliche Anlagen gestellten Anforderungen erforderlich sind.“ 439  A. Röthel (2007), S. 760. 440  Das zeigt beispielsweise ein Blick in das deutsche Bundes-Immissionenschutz­ gesetz und seine Verordnungen.



K. Entwicklungstendenzen im neuzeitlichen Recht 845 werde – was sich insbesondere darin zeige, dass eine technische Norm ohne parla­ mentarische Zustimmung abgeändert werden dürfe. Dagegen wird aber eingewandt, dass zwar fast jedes wissenschaftliche Messverfahren durch ein anderes ersetzt werden kann (z. B. Kilokalorien durch Kilojoule oder Inches durch Meter), dass gerade deshalb aber über die Wahl des bestgeeigneten Verfahrens eine politische Abstimmung möglich sein müsse (was ja nichts am Charakter der technischen Normen ändert!). Erforderlich sei eine solche Abstimmung zumindest dann, wenn eine Messmethode im Volk zum Allgemeingut geworden ist (wie etwa die Mes­ sung der Leistung von Motoren in PS statt in Watt, die Messung der Helligkeit von Glühlampen in Watt statt in Lux) und nur die Wissenschaft inzwischen eine andere Methode bevorzugt. Doch hat sich diese Meinung nicht durchgesetzt.441

Ebenfalls nicht demokratisch legitimiert und dennoch Teil nationaler Rechtsordnungen sind weltweite technische Standards, die als Anforderun­ gen an technische Massenware in die nationalen Gesetze eingestellt wer­ den und etwa die Gewinde von Schrauben und die Wandstärken von Dampfkesseln betreffen. Insoweit wird die Forderung, die Standards parla­ mentarisch auf ihren theoretischen Sinn und ihre praktische Zweckmäßig­ keit zu überprüfen, schon gar nicht erst erhoben, weil sie sowieso unerhört verhallen würde. Beispiele: Die 1906 begründete International Electrotechnical Commission (IEC) hat einheitliche Maße auf dem gesamten Gebiet der Elektrotechnik geschaffen und darin auch die Telekommunikationstechnik sowie die elektronischen Medien ein­ geschlossen. Zur Befriedigung des Normungsbedarfs außerhalb von Elektrik und Elek­tronik wurde 1946 die International Organization for Standardization (ISO) gegründet, der mittlerweile über 150 Mitglieder angehören. Auf Initiative der UNO wurde ferner eine Internationale Fernmeldeunion (International Telecommunication Union, ITU) ins Leben gerufen, die mehr als 190 Mitglieder hat. Im Bereich der Nahrungsmittelversorgung haben die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) gemeinsam 1962 die Co­ dex-Alimentarius-Kommission (CAC) mit dem Ziel gegründet, die Gesundheit der Verbraucher zu schützen, einen fairen Lebensmittelhandel zu gewährleisten und international die Einigung auf Standards für Lebensmittel voranzutreiben. Diese Organisationen schaffen an sich kein Recht, sondern geben lediglich wissenschaft­ lich begründete Empfehlungen, an denen die nationalen Gesetzgeber sich aller­ dings nicht nur ausrichten können, sondern auch sollen.442 Doch werden die meisten dieser Empfehlungen inzwischen nicht mehr durch die Parlamente auf Sinn und Eignung überprüft, bevor sie von den nationalen Behörden, in Deutsch­ land z. B. von der Bundesnetzagentur, in bindendes Recht umgesetzt werden.

441  Dem Handel wird lediglich gestattet, auf Kundenwünsche nach traditionellen Maßangaben einzugehen: so z. B. bei der Wärmeangabe in Celsius statt in Fahrenheit, beim Nährwert in Kilokalorien neben der Angabe in Kilojoule. 442  Dass auf den Inhalt dieser Empfehlungen die betroffenen Industrien lebhaften Einfluss auszuüben versuchen, kann als sicher gelten. Inwieweit sie sich durchsetzen können, ist umstritten. Vgl. dazu etwa wikipedia, „Codex Alimentarius“.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

Ich komme nun zum Ausgangspunkt meiner Untersuchung zurück. Es hat sich gezeigt, dass zum einen die im Inland eines demokratischen Staates geltenden völkerrechtlichen und supranationalrechtlichen Normen keiner na­ tionalstaatlichen Legitimation bedürfen und dass zum anderen das Interna­ tionale Recht Ausnahmen von einer nationalstaatlichen Normenlegitimation dort zulässt, wo entweder die Naturwissenschaftler das Sagen haben oder wo ein weltweiter common sense die Legitimation vorweggenommen hat. Im einen Falle siegt das naturwissenschaftlich festgestellte Müssen über das politisch freigestellte Sollen, im anderen Fall siegt ein dem Völkergewohn­ heitsrecht analoger weltweiter Sozialkonsens über eine etwaige nationale dissenting opinion. Doch damit ist m. E. der allenfalls anzuerkennende Be­ reich der Ausnahmen vom demokratischen Legitimationsprinzip erschöpft. Eine Berechtigung für eine weitere Ausnahme zugunsten von Rechtsakten öffentlich-privater Partnerunternehmen lässt sich daraus nicht herleiten. Das Fazit ist daher: Die demokratische Kontrolle eines Staates muss bei seiner Beteiligung an einem privaten Wirtschaftsunternehmen zwar dort Ein­ schränkungen hinnehmen, wo es um Entscheidungen zur internen Organisa­ tion des Unternehmens443 oder um die bestmögliche Erreichung der mit der Beteiligung gemeinschaftlich bezweckten wirtschaftlichen Ziele geht.444 Denn die wirtschaftliche Handlungsfreiheit des Privatunternehmers muss der öffentlich-rechtliche Partner hinnehmen. Wo aber das politische Ziel der Be­ teiligung, die Förderung (auch) des gemeinen Wohls, betroffen ist, muss die demokratische Kontrolle vollständig erhalten bleiben – und als Bedingung der Beteiligung notfalls durch eine Ausstiegsklausel sichergestellt werden. Zuzugeben ist, dass sich diese Beschränkung der privaten Unternehmerfrei­ heit445 bei einem nationalen Unternehmen oft schwer, bei einem internationa­ len Unternehmen kaum je wird durchsetzen lassen. Doch dann muss man 443  Zur Begründung lässt sich anführen, dass die Organisation eines Wirtschaftsun­ ternehmens lediglich eine Bedingung für die Kooperation zwischen einem Privatun­ ternehmer und der öffentlichen Hand sei und die parlamentarische Kontrolle nicht mindere, sondern eher stütze. Es handle sich um einen Akt der „fortwährenden Kon­ stitutionalisierung“ (R. Uerpmann, 2001, S. 572) der Zusammenarbeit bzw. der Ver­ waltung (auch) des staatlichen Anteils am Unternehmen. 444  K. Ipsen (2014), § 6 Rn. 51 ff., 55 ff. Wenn wirtschaftliche Maßnahmen aller­ dings neue Verpflichtungen für das Unternehmen begründen, wird man ihnen ledig­ lich eine vorläufige interne Wirksamkeit zuerkennen dürfen, damit die Gründungsmit­ glieder die Option haben, der Verpflichtung zu ihrer Erfüllung entweder zuzustimmen oder aus dem Unternehmen auszusteigen. 445  Insoweit ist allerdings noch zwischen verwaltungsbeherrschten (bei Mehrheits­ beteiligung des Staates), verwaltungskontrollierten (bei einer Sperrminorität zuguns­ ten des Staates) und privat beherrschten Unternehmen (bei Minderheitsbeteiligung des Staates) zu unterscheiden, woraus sich weitere Unterschiede ergaben, die hier nicht erörtert werden können.



K. Entwicklungstendenzen im neuzeitlichen Recht 847

eingestehen, dass einem die Geltung des demokratischen Prinzips innerhalb von gemischt öffentlich-privaten Wirtschaftsunternehmen weniger wichtig ist als die Handlungsfreiheit des privaten Unternehmers. Und ob das mit einem verfassungsrechtlichen Demokratiegebot vereinbar ist, erscheint mehr als nur fragwürdig. (β) Verfahren als Ersatz demokratischer Legitimation. Nun ist die Beteili­ gung an einem privaten Wirtschaftsunternehmen freilich nicht der einzige Fall, dessen Legitimation sich unter demokratischem Aspekt als problema­ tisch erweist. Weitere Ausnahmen vom Erfordernis einer demokratischen Kontrolle zwingen vielmehr zum Nachdenken, ob es nicht Verfahren gibt, welche soziale Gerechtigkeit auch ohne demokratische Kontrolle zu sichern vermögen. Denn allein um der sozialen Gerechtigkeit willen wird das Erfor­ dernis demokratischer Kontrolle ja aufgestellt. Eine der privaten Willkür auch ohne demokratische Kontrolle lediglich Schranken setzende Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss aus dem Jahre 1993 gefällt: Private Regelungen dürften ausschließlich dann zur Grundlage staatlicher Maßnahmen mit grundrechtsbeschränkender Wirkung gemacht werden, wenn sie den rechtsstaatlichen Anforderungen an staatliche Normen, namentlich dem Bestimmtheitsgrundsatz, entsprechen.446 Es hat damit indessen mehr Fragen aufge­ worfen als beantwortet. Denn: An welche privaten Regelungen sind nunmehr „den staatlichen Normen entsprechende rechtsstaatliche Anforderungen“ zu stellen? An alle? Und wie sehen die „entsprechenden Anforderungen“ aus, die an private Rege­ lungen zu stellen sind? Müssen sie allgemein gelten, hypothetische Tatbestände und daraus abzuleitende Rechtsfolgen umfassen? Müssen sie noch weitere Legitimations­ kriterien erfüllen?

Sicher ist, dass die modernen Rechtsstaaten berechtigt sind, Lücken in der demokratischen Legitimation offenzulassen, soweit diese sich aus dem Fak­ tum ergeben, dass sich Demokratie in Parlamenten ereignet und diese (konti­ nentaleuropäisch) auf die Gesetzgebung, also auf den Erlass von abstrakt generellen Regelungen, beschränkt sind.447 Sie stellen für konkrete verwal­ tungsrechtliche und gerichtliche Entscheidungen mithin lediglich einen Rah­ men zur Verfügung, innerhalb dessen sich keine Demokratie mehr ereignet, vielmehr die konkreten Rechtsfolgen von demokratisch unkontrollierten In­ stitutionen festgesetzt werden. Als Ersatz für das Fehlen der demokratischen Kontrolle muss dann allerdings zuvor eine Anhörung der von den Entschei­ dungen Betroffenen stattfinden und ihnen die Möglichkeit zur Stellungnahme geboten werden. 446  BVerfGE 88 366, 379. Das Gericht geht anschließend allerdings nur auf den Bestimmtheitsgrundsatz ein. 447  Der parlamentarischen Gesetzgebung sind weder Einzelfallgesetze noch Ein­ zelentscheidungen erlaubt. Genauer dazu Art. 19 I 1 GG und BVerfGE 25 371, 398 f.; aber auch 13 225 ff., 229; 99 367, 400.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

Ein entsprechendes Aufklärungsgebot gilt auch für staatliche Institutionen als Par­ teien eines internationalen Vertrages: Sie sind zwar an den Wortlaut des Vertrages gebunden, dieser lässt jedoch fast immer einen Interpretationsspielraum offen.448 Vor seiner Umsetzung in nationales Recht sind sie daher verpflichtet, die betroffenen In­ teressengruppen anzuhören und sich – evt. durch Einvernahme von Sachverständi­ gen – ein vollständiges Bild von den sozialen Folgen seiner Umsetzung zu machen, um dann den Vertrag so zu interpretieren, wie seine Folgen dem nationalen Wohl am besten gerecht werden.

Das ist freilich nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen steht, dass im nationalen Bereich die oberen Verwaltungsbehörden zu viel Wildwuchs in den Ermessensentscheidungen der unteren Verwaltungsbehörden und die oberen Gerichte zu viel Wildwuchs in den rechtlichen Beurteilungen der unteren Gerichte beschneiden sollen, und dass im internationalen Bereich entsprechend die dort tätigen Ausschüsse und Gerichte mäßigend auf die nationalen Behörden einwirken sollen, damit über dem nationalen Gemein­ wohl die Harmonie der internationalen Gemeinschaft nicht aus den Augen gerät. Daraus ist dann als allgemeine Regel zu folgern, dass individuale Ge­ rechtigkeit auf dem Verfahrensweg niemals vollständig erreicht werden soll, sondern dass sich Sachverhaltsaufklärung und Rechtsfolgendiskussion damit begnügen sollen, den Weg dahin zu beschreiten und nur die Auswirkung des Besonderen auf das Allgemeine mit zu bedenken. Beide Seiten der Medaille findet man wieder, wenn die Tätigkeiten inter­ nationaler Kommissionen sich einer demokratischen Kontrolle entziehen und ihre Entscheidungen daher auf anderem als auf demokratischem Wege legiti­ miert werden müssen. Vergleichsweise ähnlich treten dann jedes Mal prozes­ suale Verfahren an die Stelle der demokratischen Legitimation und ordnen zunächst die Feststellung der Tatsachen an, über die zu urteilen ist, und so­ dann die Diskussion mit den Betroffenen über sie die Folgerungen, die ge­ rechterweise aus ihnen zu ziehen sind. Beispiel: Die Sachverständigenkommission zur Normung bzw. Standardisierung technischer Werte muss sich in Erfüllung ihrer Aufgabe zunächst über die zu normie­ renden Gegenstände sowie Art und Umfang der zu normierenden Eigenschaften Kenntnisse verschaffen, um die Basis für ihre Normungsentscheidungen zu erhalten. Alsdann hat sie u. a. den betroffenen Industrieunternehmen die Möglichkeit zur Stel­ lungnahme zu einem Normungsentwurf zu geben bzw. die Gelegenheit, einen Gegen­ vorschlag zu unterbreiten.449 Ist ein solches Verfahren wegen der Unbestimmtheit 448  K.

Ipsen/W. Heintschel von Heinegg (2014), § 12. die Zusammensetzung von Normungsausschüssen betrifft, ist nicht unbe­ denklich, dass die Mitglieder vor allem durch die Großindustrie und die Dachver­ bände der Wirtschaft bestimmt werden, die zwar spezifische Kenntnisse einbringen, gleichzeitig aber zu ihren Entsendern in einem Loyalitätsverhältnis stehen, sodass für sie u. U. sicherheitstechnische und umweltpolitische Argumente hinter Rentabilitäts­ gesichtspunkte zurückzutreten haben. Deshalb sichert ihre Mitwirkung zwar die allge­ 449  Was



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oder gar Unbestimmbarkeit der Betroffenen nicht möglich, hat die Kommission sich selber über die wahrscheinlichen Folgen ihres Normungsentwurfs Rechenschaft abzu­ legen, indem sie mögliche Szenarien durchspielt und bewertet.450 Geht es um eine international gültige Normung, hat die Kommission darüber hinaus Sorge zu getra­ gen, dass ihre Normung etwa bereits bestehenden abweichenden nationalen Normun­ gen entweder entspricht oder überlegen ist, sodass mit ihrer internationalen Akzeptanz gerechnet werden kann.

Besteht die Aufgabe einer internationalen Kommission nicht in einer Nor­ mung, sondern lediglich in der Erarbeitung von Erkenntnissen für eine Nor­ mung, dann gibt es oft keinen halbwegs abgeschlossenen Kreis von ‚Betrof­ fenen‘, der angehört und zur Stellungnahme aufgefordert werden muss. Ent­ scheidend ist dann, ob die Erkenntnisse entweder naturwissenschaftlich-­ experimentell abgesichert oder lediglich sozial-überzeugend sein sollen, bevor sie einer anschließenden Normung zugrunde gelegt werden. Gelingt es, naturwissenschaftlich abgesicherte Erkenntnisse zu erarbeiten, können diese ohne parlamentarische Abstimmung der Normung zugrunde gelegt werden. Dagegen müssen die staatlichen Parlamente zur Entscheidung ange­ rufen werden, falls eine Normung unter Unsicherheitsbedingungen getroffen werden soll: etwa wenn die Wissenschaft, wie oft im medizinischen Bereich, sich noch im Experimentierstadium befindet451 oder wenn es die Folgen ei­ ner Normung sich sozialwissenschaftlich noch nicht hinreichend abschätzen lassen. Soll darüber hinaus eine international geltende Regelung hergestellt werden, dann müssen die nationalen Parlamente – sofern sich die Staaten nicht auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt haben – angesichts unklarer Erkenntnisse vor ihrer Entscheidung zusätzlich entweder ein Anhörungsver­ fahren mit internationalen Kapazitäten durchführen oder experimentell ent­ scheiden452 und sich vorbehalten, ihre Gesetzgebung an die Gesetzgebung meine Anerkennung eines Normungsentscheids seitens der Wirtschaftsunternehmen, nicht aber, dass die Entscheide auch am Gemeinwohl ausgerichtet ist. Richtiger wäre es, wenn jeweils auch Vertreter des Gemeinwohlinteresses, insbesondere also der Ver­ braucherverbände, zur Teilnahme an den Beratungen und zur Abstimmung bei den Entscheidungen hinzugezogen würden. Bisher ist das nicht der Fall. Zur Bedeutung des Gemeinwohls für Rechtsetzungsprozesse im internationalen Wirtschaftssystem eingehend R. Rönck (1995), S. 485 ff., 497 ff. 450  Denn eine Überreglementierung nicht nur im juristischen, sondern auch im technischen Bereich schadet mehr als sie nützt. Wenn z. B. in Bezug auf die Verle­ gung von Kabeln geregelt wird, wie diese zu beschriften sind, wie sie gebogen wer­ den müssen, wie viele Aufhängungen in welchen Abständen sie brauchen, wie sie voneinander getrennt werden usw., und wenn keinerlei Abweichungen von der Rege­ lung toleriert werden, dann verhindert man die zügige Verlegung von Kabeln weitaus mehr als man der Sicherheit nützt. 451  Vgl. das Beispiel 1 oben 5 c α betr. die Zulassung von Arzneimitteln. 452  Dies gilt auch für verfassungsrechtliche Aufträge an den nationalen Gesetzge­ ber, bei deren Konkretisierung dieser oft an die Grenzen seiner Erkenntnismöglich­

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

der übrigen Staaten anzupassen, wenn es gilt, dem Ziel einer übereinstim­ menden Regelung näherzukommen. Beispiele: 1. Experimentelle Erprobung: Eine Beschränkung der Höchstgeschwin­ digkeit für Kraftfahrzeuge auf 30 km/h wird in einem Ortsteil eingeführt um zu prü­ fen, ob sie zu einer wesentlichen Verbesserung der Luftqualität führt. – 2. Juristische Erprobung: In Westgalizien wurde 1797 versuchsweise der Entwurf eines Allgemei­ nen Bürgerlichen Gesetzbuchs für Österreich als Gesetz eingeführt, um seine Taug­ lichkeit auch für andere Teile der habsburgischen Monarchie zu prüfen. – 3. Internationales Privatrecht: Bei der Normung dieses Rechtsgebiets handeln die Staaten „nicht eigentlich in eigener Kompetenz, sondern doppelt funktional als Organe der Völkergemeinschaft. Das bedeutet, dass die Staaten … versuchen müssen, ihre natio­ nalen Regelungen des IPR aus … der Völkerrechtsordnung zu entwickeln. Da die Völkerrechtsordnung die Einheit der Weltrechtsordnung zumindest für den internatio­ nalen Verkehr fordert, sind die Staaten verpflichtet, ihr IPR so zu regeln, dass eine möglichst große Entscheidungsharmonie zwischen den nationalen Gerichten in der ganzen Welt hergestellt wird.“453 – 4. Europäisches Recht: Der Europäische Gerichts­ hofs (EuGH) hat in seinem Cassis-de-Dijon-Urteil454 verlangt, dass zwecks Harmoni­ sierung des europäischen Rechts die Staaten ihre (als berechtigt anzuerkennenden) Belange gegenüber den konkurrierenden Belangen ausländischer Wirtschaftsunter­ nehmen so schonend wie möglich durchsetzen.455

Zusatz: Zu erwähnen bleibt, dass allgemein schwächere Legitimationsan­ forderungen an diejenigen nationalen Institutionen gestellt werden, die nur mit der Umsetzung von (legitimen) Entscheidungen internationaler Institutio­ nen betraut sind. Einer parlamentarischen Ermächtigung bedürfen sie nicht; einzige Bedingung ist, dass sie für die Umsetzung hinreichend qualifiziert sind. Andernfalls haften sie für Fehler bei der Umsetzung. Beispiele: 1. Für die Umsetzung von Listing-Entscheidungen des UN-Sicherheits­ rates, die zu Kontensperrungen führen, bedarf es nationalstaatlich nur der gewissen­ haften Prüfung, welche Konten davon betroffen sind. Treten insoweit Fehler auf, haftet dafür der Nationalstaat. – 2. Die Verbreitung der absolut tödlichen CreutzfeldtJakob-Krankheit durch Übertragung des Krankheitserregers vom Rind auf den Men­ keiten stößt. So genügt der Gesetzgeber dem Auftrag zur Umsetzung des Grundrechts auf ein „menschenwürdiges Existenzminimum“ beispielsweise schon dann, wenn er die Grundlagen und die Methode der Leistungsbemessung normiert. Denn „der Grundrechtsschutz erstreckt sich [deshalb nur] auf das Verfahren zur Ermittlung des Existenzminimums, weil eine Ergebniskontrolle am Maßstab dieses Grundrechts nur begrenzt möglich ist“ (BVerfGE 125 175 ff., 226). 453  A. Bleckmann (1995), S. 824. 454  EuGH, Urt. v. 20.02.1979, Slg. 1979 S. 649 ff. 455  Im konkreten Fall hat der Gerichtshof das deutsche Vermarktungsverbot für französischen Cassis als eine übermäßige Einschränkung der Warenverkehrsfreiheit innerhalb des europäischen Binnenmarktes (Art 30 EG-Vertrag, heute Art. 26 AEUV) eingestuft und für unwirksam erklärt, weil der Schutz der deutschen Verbraucher vor Irreführung auch dadurch erreicht werden könne, dass der mindere Alkoholgehalt des französischen Likörs gegenüber dem deutschen besonders gekennzeichnet wird.



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schen (‚BSE-Krise‘) wurde durch Fehlentscheidungen seitens der EU-Behörden we­ sentlich verschlimmert. Aber auch ein mangelhaftes Krisenmanagement in Deutsch­ land trug zur Verbreitung der Krankheit bei. Diese Vorgänge haben nicht nur zwei Bundesministern das Amt gekostet, sondern auch Entschädigungsansprüche deutscher Bauern und anderer Betroffener gegen den deutschen Staat begründet.

(γ) Hybride Gerechtigkeit als Ausdruck der Sozialstaatlichkeit. Die vorste­ henden Ausführungen gingen davon aus, dass Recht durch Gerechtigkeit le­ gitimiert wird. Unberücksichtigt ist geblieben, dass die Gerechtigkeit so un­ terschiedlich sein muss wie das Recht, das sie begründen soll: die staatliche Gerechtigkeit so unterschiedlich wie das staatliche Recht, die private Ge­ rechtigkeit so unterschiedlich wie das private Recht und die hybride Gerech­ tigkeit so unterschiedlich wie einerseits die Gerechtigkeiten, die sie mitein­ ander vereint, und andererseits wie das hybride Recht, das sie legitimiert. Was also ist die hybride Gerechtigkeit? Da sie unterschiedliche Gerechtigkei­ ten nicht nur verbindet, sondern darüberhinaus in sich vereint, kann sich die Antwort einerseits nicht aus deren Summe ergeben, sondern erst aus der Quintessenz ihrer Vereinigung. Und da das Recht, das sie legitimiert, nicht bloß aus einer Summe von öffentlichem und privatem Recht besteht, sondern etwas Drittes, Übersummatives ist, muss ihre Vereinigung nicht nur diejenige von staatlicher und privater Gerechtigkeit, sondern die Quintessenz aus bei­ den Gerechtigkeiten sein. Was zunächst die staatliche Gerechtigkeit anbelangt, wird sie in den de­ mokratischen Staaten (auf die ich mich im Folgenden beschränke) vom Volk bestimmt, und zwar direkt in der Verfassung seines Staates und indirekt in der Wahl eines gesetzgebenden Parlaments. Unmittelbare Volksentscheide zu konkreten Fragen sind selten; in Deutschland sind sie praktisch ausgeschlos­ sen.456 Für alle konkreten Entscheidungen bildet der Wille des Volkes daher lediglich die Ermächtigungsgrundlage. Sie wird von den Parlamenten ver­ wandt zur Gesetzgebung, von den Verwaltungsbehörden zum Gesetzesvoll­ zug und von den Gerichten zur konkreten Rechtssprechung. Dieser Stufenbau in der Verwirklichung des Volkswillens bestimmt mittelbar auch das hybride Recht und ist daher auch für den privaten Partner etwa eines öffentlich-pri­ vaten Unternehmens verbindlich – was beispielsweise bedeutet, dass nicht 456  Beispielhaft die Präambel des deutschen Grundgesetzes: „… das deutsche Volk [hat sich] kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“ Art. 20 Abs. 2 GG müsste dagegen korrekt lauten: „Die Staatsgewalt wird vom Volke durch Abstimmungen und durch Wahl der staatlichen Parlamente, vom Staat durch Gesetzgebung [der Parlamente] und durch Organe der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Praktisch hat das deutsche Volk allerdings niemals die Möglichkeit gehabt, durch Abstimmungen seine Geschicke unmittelbar zu bestim­ men; denn das Grundgesetz sieht eine solche Möglichkeit nur für den einzigen und praktisch niemals Wirklichkeit gewordenen Fall der Neugliederung des Bundesgebie­ tes (Art. 29 GG) vor.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

nur der hoheitliche Partner, sondern auch er sich in den Grenzen derjenigen Gesetzesnormen halten muss, auf denen die verwaltungsbehördliche Geneh­ migung des Gemeinschaftsunternehmens beruht. Was sodann die private Gerechtigkeit anbelangt, die hinzukommen muss, um hybrides Recht zu legitimieren, geht sie unmittelbar auf einen privaten Willen und dessen soziale Rechts(setzungs)fähigkeit457 zurück. Zum Aus­ druck kommt dieser Wille ebenso wie der staatliche durch die sprachlichen Organe für soziale Kommunikation. Die Legitimationskette zur sozialen Rechtsfähigkeit des Willens wird dadurch jedoch nicht unterbrochen; viel­ mehr ist „bei der Auslegung einer Willenserklärung der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften“ (§ 133 BGB). Mittelbar bedeutsam für den staatlichen Partner eines öffent­ lich-privaten Unternehmens werden dadurch auch die privaten Sittennormen, welche die Rechtssetzungsfähigkeit des privaten Partners einerseits erwei­ tern, andrerseits begrenzen – was beispielsweise bedeutet, dass die Normen der Lex mercatoria nicht nur für den privaten, sondern auch für den staatli­ chen Partner gelten, für den staatlichen freilich nur insoweit, wie sie nicht mit den Rechtsnormen kollidieren, auf denen die verwaltungsrechtliche Ge­ nehmigung des Gemeinschaftsunternehmens beruht. Damit wenden wir den Blick von individuellen Öffentlich-Privaten Partner­ schaften ab und dem weiteren Radius einer Partnerschaft von Staat und Bür­ gern im ‚Sozialstaat‘ zu. Dessen Leitidee ist das ‚Gemeinwohl‘. Angesteuert wird es von der Gesetzgebung des Staates. Sein ‚Wesen‘ freilich, also das, was seinen Inhalt ausmacht, bestimmen die Bürger; denn sie schicken ihre Vertre­ ter ins Parlament, damit die dort das Ruder darauf ausrichten. Diese Vertreter sind zwar „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewis­ sen unterworfen“ (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG); sie haben also ein ‚freies Mandat‘. Dennoch müssen sie ihr Mandats im Sinne des gemeinen Wohls gebrauchen ‒ nicht also nur des Wohls derjenigen willen, die sie gewählt haben, sondern des Wohls aller Bürger ihres Staates. Infolgedessen müssen sie stets bedenken, was die von ihnen beschlossenen Gesetze für die Gesamtheit der Bürger be­ deuten. Denn der Staat muss sich die Mittel für sein Wirken ja auch von der Gesamtheit der Bürger in Form von Steuern beschaffen. Dennoch schätzen die meisten dieser Bürger die Steuergesetze, die ihre Vertreter im Parlament erlas­ sen, als für sich zu ungünstig ein: die armen, weil sie ihre Ansprüche an den Sozialstaat positiver einschützen, als dies in der Gesetzgebung zum Ausdruck kommt, die reichen, weil sie ihre Pflichten gegenüber dem Sozialstaat als in den Steuergesetzen zu negativ bewertet sehen.458 Deshalb hat der Sozialstaat die Aufgabe, sich in erster Linie um einen zutreffenden Ausgleich der Ein­ 457  Vgl.

oben 5 a β. G. R. Goethals/M. P. Zanna (1979).

458  Dazu



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schätzungen zu bemühen. Das freilich ist ihm bisher zumindest in Deutsch­ land nicht gelungen. Folgt man hier der höchstrichterlichen Rechtsprechung, dann dürfen aufgrund der Sozialstaatsklausel der Verfassung steuerliche Rechtspflichten die reichen Bürger ohne eine feste Obergrenze treffen; dage­ gen dürfen die armen Bürger aus der Sozialstaatsklausel der Verfassung An­ sprüche an den Staat nur beschränkt auf ein existenzielles Minimum herlei­ ten.459 Beides passt nicht zusammen. Deshalb wäre es m. E. besser, wenn der Staat, der offenbar sowohl die Ober- als auch die Untergrenze am liebsten dem Streit der politischen Parteien überlassen möchte, sich als Vermittler zwischen den armen und reichen Bürgern betätigte: indem er die reichen zu freiwilligen Spenden zur Bewältigung der Not der armen Bürger aufforderte, und die ar­ men, an der Bewältigung ihrer Not nach besten Kräften mitzuarbeiten. Denn Spenden der reichen Bürger, die jederzeit zur Bewältigung von konkreter Not reichlich geflossen sind, werden sowohl von Seiten der armen Bürger positiv gewertet, weil sie sich als Sozialpartner angenommen fühlen, als auch von Seiten der reichen Bürger selbst, weil Wohltäter der Armen zu sein ihr mora­ lisches Selbstbewusstsein hebt. Kurzum: Der Staat täte m. E. gut daran, in erster Linie soziales Engagement zu fordern und zu fördern, und nur dann an der Steuernschraube zu drehen, wenn es zur Herstellung des Gemeinwohls nicht ausreicht.460 Entsprechendes wie für die Bürger gilt allerdings auch für die Staaten selber, wenn es statt um innersoziale um transsoziale Gerechtigkeit geht. Denn ebenso wie die Bürger schätzen die Staaten ihre Position regelmäßig 459  Das Bundesverfassungsgericht hält sich weitgehend bedeckt − vgl. BVerfGE 1 97 ff., 105: verlangt werden könnten „erträgliche Lebensbedingungen“; BVerfGE 125 175 ff., 222 f.: der Sozialstaat habe für die Sicherung eines „menschenwürdigen Exis­ tenzminimums“ zu sorgen, und zwar „durch ein Parlamentsgesetz, das einen konkre­ ten Leistungsanspruch des Bürgers gegenüber dem zuständigen Leistungsträger ent­ hält“. Eine echte Diskussion über die Leistungspflicht der Steuerbürger, welche Mittel sie den zuständigen Leistungsträgern zur Erfüllung ihrer sozialen Leistungspflicht zur Verfügung stellen sollen, ist darüber hinaus niemals richtig in Gang gekommen. Wäh­ rend im liberalen Staat noch als einzige Grundpflicht der Gehorsam gegenüber den Normen und rechtmäßigen Akten der Staatsgewalt galt, welche die innere und äußere Sicherheit gewährleisten, hat der Wandel des Staates zum Sozialstaat naturgemäß soziale Grundpflichten hinzugefügt und als eine solche Grundpflicht auch die zur Zahlung von Steuern. Aber wo liegt die Grenze? Man hat insoweit kaum mehr als den Aspekt der „angemessenen Lastenverteilung“ benannt (H. Weber-Grellet, 2018, § 2 Rn. 8 m. Nachw.), doch damit nur die ohnehin selbstverständliche distributive Gerechtigkeit anerkannt, ohne sie zu konkretisieren. 460  BVerfGE 22 180 ff., 204: Dem Gesetzgeber stehe es frei, zur Erreichung sozial gerechter Verhältnisse „auch die Mithilfe privater Wohltätigkeitsorganisationen vor­ zusehen“. Dasselbe gilt für die freiwillige Mithilfe von Bürgern zur organisierten Wohltätigkeit; der Wert ihrer Spenden überstieg 2019 in Deutschland zehn Milliarden Euro.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

falsch ein: die wohlhabenden Staaten ihren Reichtum als zu niedrig, die not­ leidenden Staaten ihre Armut als zu hoch. Doch obgleich theoretisch eine Korrektur der Selbsteinschätzungen dringend notwendig ist, verweigert sich ihr die Praxis. Ihr Mantra ist übereinstimmend zwar auf das Ziel eines welt­ weiten Wohlstands gerichtet, verstummt aber, wenn es um die gerechte Ver­ teilung des Wohlstands geht. Weltweite Solidarität könne, ist dann die Mei­ nung, niemals dieselbe Gefühlsintensität erreichen wie nationale Solidarität;461 menschlich wie staatlich sei sie deshalb weniger verpflichtend.462 Und wie zum Beweis finden sich in den Verfassungen der Nationalstaaten nirgends auch nur die mindesten Andeutungen für eine Verpflichtung zu Sozialleistun­ gen an Staaten, denen es trotz gleicher Anstrengung, zu Wohlstand zu gelan­ gen, aufgrund ihrer schlechteren Umweltbedingungen schlechter geht. Selbst in der Charta der UNO ist nicht davon die Rede, dass Völker oder Staaten einander aufgrund ihrer gemeinsamen Verbindung zu einer Weltgemeinschaft zu wirtschaftlichen Leistungen verpflichtet seien.463 Als Ausnahme wird le­ diglich anerkannt, dass der gesamten Menschheit saubere Luft, frisches Was­ ser und ein von Giften und Unrat freier Boden als natürliche Ressourcen zur Verfügung stehen müssen und ihr Vorhandensein folglich gemeinsamer Ver­ antwortung unterliegt. Freilich betrifft diese Beschränkung nur die juristische Seite der pansozia­ len Solidarität. Moralisch dagegen hat sich das Gerechtigkeitsgefühl interna­ tional schon weiterentwickelt. Werden doch die Bilder, die nahezu tagein tagaus vom Elend der Welt in die Wohnzimmer satter Bürger flimmern, nicht so sehr als Aufruf zu staatlicher Hilfe denn als Notruf nach humanitärer Hilfe verstanden. Deshalb erscheint eine Aufteilung der Hilfsverpflichtung zwi­ schen den Staaten einerseits und ihrer Zivilgesellschaft andrerseits als absurd. Vielmehr gilt schon seit Längerem: Es helfe, wer helfen kann! Den morali­ schen Aufhänger für solche panhumane Solidarität liefert der Bezug auf die geistig-sprachliche Gemeinsamkeit aller Menschen, die im Wesensbegriff des „Menschen“ (: „menschliches Wesen“) bzw. im heute im Anschluss an I. Kant gebrauchten Begriff ‚Menschenwürde‘ zum Ausdruck kommt. Denn insbesondere der letztgenannte Begriff ist heute nicht nur die Bezeichnung für das „unantastbare“ Schutzgut allen abendländischen Rechts (vgl. Art. 1 Abs. 1 GG), sondern darüber hinaus der Maßstab für das weltweit allen Menschen von Rechts wegen Zustehende. Er ist daher ein ‚schlagendes‘ Ar­ 461  W.

Kersting (1998), S. 428 f. psychischen Auseinandersetzung der Bevölkerung in den reichen Ländern mit dem Elend in der Dritten Welt vgl. L. Montada (1997), S. 45 ff. 463  Hinweisen lässt sich lediglich auf Art. 55, 56 UN-Charta, worin sich alle Mit­ gliedsstaaten verpflichten, mit den Vereinten Nationen zusammenzuarbeiten, um die wirtschaftlichen und sozialen Ziele der Charta zu fördern. 462  Zur



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gument in jedem Disput zugunsten der Notwendigkeit nicht nur sozialen, sondern auch transsozialen Miteinanders im menschlichen Handeln und Hel­ fen – zu einem Mehr an ‚Mitmenschlichkeit‘.464 Als Folgerung daraus wird erstens der Rechtsanspruch aller Bürger auf einen Mindestanteil am Gemeinwohl des eigenen Volkes abzuleiten sein, der jeden Staat nicht nur zur Erwirtschaftung seiner eigenen Daseinsgrundlage, sondern auch der seiner Bürger verpflichtet.465 Ob dies durch Eigenleistung oder durch Gewährleistung geschieht, etwa von sozialen Institutionen, die zu diesem Zweck gegründet wurden, kann dahinstehen. Weil Gesellschaft und Staat dasselbe Ziel vor Augen haben und zu seiner Erreichung gleichermaßen einander verpflichtet sind, ist ihre wirtschaftliche Strategie ‚hybrid‘. Folgerung aus der Mitmenschlichkeit ist zweitens die Verpflichtung aller wohlhabenden Staaten, den Least Developt Countries (LDCs), deren reale Möglichkeiten nicht ausreichen, um ihren Bürgern ein angemessenes Dasein 464  Den in diesem Zusammenhang meistgebrauchten (in seiner spezifischen Be­ deutung aus der deutschen idealistischen Philosophie übernommenen und im 19. Jh. zum politischen Schlagwort gewordenen) Begriff ‚Menschenwürde‘ habe ich in meh­ reren Abhandlungen stattdessen dem Gleichheitssatz des Rechts entgegengesetzt: Seine Bedeutung liege darin, dass sie dem Menschen über seine quantitative Identität und Gleichheit als Staatsbürger eine qualitative Individualität zuweist, weshalb „jeder Mensch“ nicht nur als „vor den (abstrakten) Gesetzen gleich“ zu behandeln, sondern ihm auch rechtlich der Status eines individuum ineffabile zuzuerkennen sei (E.-J. Lampe, 1988b, S. 303 ff.; vgl. auch BVerfG 45 187 ff., 228: „Jeder Einzelne muss als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert anerkannt werden.“). Historisch dagegen wur­ den Menschenwürde und Gleichheit aller Menschen zunächst aus ihrer Gottebenbild­ lichkeit (im Sinne der Kreationstheorie des Christentums) hergeleitet. Und erst als sich das seit der Aufklärung nicht mehr halten ließ, begründete man die Würde des Menschen wie schon in der Antike mit der Vernunft, durch die sich der Mensch von den Tieren unterscheidet. Die Staatsphilosophie des 19. Jh.s schließlich ging einen dritten Weg, indem sie die Menschheit als eine universelle Rechtsgemeinschaft mit universellen Menschenrechten begriff (dazu G. Oestreich, 1978, S. 89 ff.) und unter Menschlichkeit verstand, was jedem einzelnen Menschen – unabhängig davon, wo und unter welchen Gesetzen er lebt – als Teil der Menschheit zukommt (so z. B. S. von Pufendorf, 1672/1744, II 1, § 5). Doch blieb die Individualität des einzelnen Menschen innerhalb dieser Argumentation auf der Strecke; denn sie drängte das Indi­ viduum auf die Rolle eines Gattungswesens gleich den Tieren zurück. M. E. sollte man als Ergänzung zur ‚Menschenwürde‘ lieber den Begriff der ‚Mitmenschlichkeit‘ als Bezeichnung des Wertes benutzen, der ‚menschliche Wesen‘ auszeichnet. Doch erkenne ich an, dass der Begriff ‚Menschenwürde‘ (‚human dignity‘) zumindest der­ zeit eine stärkere emotionale Ausstrahlung besitzt. 465  Beispielhaft BVerfGE 125 175, 222: „Der Staat muss die Menschenwürde auch positiv schützen. Wenn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwür­ digen Daseins notwendigen Mittel fehlen, … ist der Staat im Rahmen seines Auftrags zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestal­ tungsauftrags verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzun­ gen dafür dem Hilfsbedürftigen zur Verfügung stehen.“

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

zu ermöglichen, durch Transferleistungen beizustehen. Vorausgegangen sind dieser Verpflichtung einesteils völkerrechtliche Anstrengungen im Rahmen der UNO,466 andernteils Aktivitäten privater Organisationen zur Linderung von menschenunwürigen Verhältnissen innerhalb der LDCs. Eine Rechts­ pflicht der wohlhabenden Staaten, sich an dieser Hilfe – wie auch immer – zu beteiligen, wird zwar bis heute nicht anerkannt. Dennoch entspricht ihre Anerkennung einem Trend, der alle Staaten als Mitglieder einer Weltgemein­ schaft begreift,467 sodass die UNO die führenden Industriestaaten schon auf­ fordern konnte, mindestens 0,7 % ihres Bruttosozialprodukts (BIP) aufzu­ bringen, um den ärmsten Staaten die Entwicklung sozialer Mindeststandards zu ermöglichen.468 Diese Mindestverpflichtung wird man daher als eine – freilich sanktionslose – Rechtspflicht ansehen dürfen. Konkrete Leistungen lassen sich auf ihrer Grundlage allerdings nicht beanspruchen. Doch wo ein Staat seine Beteiligung an der Entwicklungshilfe vollständig ablehnt, kann und sollte ihn jene Sanktion treffen, die inzwischen privaten Wirtschaftsun­ ternehmen droht, wenn sie international vereinbarte Normen nicht erfüllen: nämlich das naming and shaming.469 Da ein Minimalstandard menschlichen Daseins völkerrechtlich jedem Menschen zukommen soll, wo immer er lebt, beseitigt sein Anspruch das aus dem Souveräni­ tätsprinzip abgeleitete Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines fremden Staates. Die UNO hält sich daher zu einer wertenden Abwägung zwischen der Achtung staatlicher Souveränität und dem militärischen Sturz eines die Men­ schenwürde verachtenden Regimes für grundsätzlich berechtigt.470

466  Vgl. die Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten aller Staaten (Charta of Economic Rights and Duties of States), über die auf der UN-Generalversammlung vom 12.12.1974 abgestimmt wurde, wobei die meisten Industriestaaten allerdings gegen die Charta stimmten oder sich der Stimme enthielten. Die Charta wurde somit völkergewohnheitsrechtlich nicht verbindlich. 467  M. Payandeh (2010), passim m. Nachw. 468  GA Res. 2626 (XXV) vom 24.10.1970, § 43. 469  Vgl. oben 3 a bb δ. Wie wenig die Staatensolidarität noch gefestigt ist, zeigt sich allerdings innerhalb der Europäischen Union bei der Bewältigung des Flücht­ lingsstroms aus afrikanischen und vorderasiatischen Staaten. Hier verweigern einige osteuropäische Staaten entgegen den Richtlinien der EU die Aufnahme selbst von Flüchtlingen, die vorwiegend aus Gründen von Bürgerkriegen oder politischer Unter­ drückung nach Europa emigrieren wollen. 470  Vgl. dazu die Resolutionen des Sicherheitsrats 794 vom 3.12.1992 (betr. Soma­ lia) und 1973 vom 17.3.2011 (betr. Libyen). Kontrovers wird dagegen das Recht auf Intervention gegen schwere Menschenrechtsverletzungen seitens einzelner Staaten ohne vorherige Legitimation durch den UN-Sicherheitsrat diskutiert. Überwiegend wird es abgelehnt – was unschwer begründbar ist, wenn die Legitimation zum Ein­ greifen zuvor am Veto einer der Großmächte gescheitert ist und deshalb die Folgen des Eingreifens für den Weltfrieden nicht absehbar sind.



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Diskutiert wird die Ermöglichung eines Minimalstandards menschenwürdigen Da­ seins ferner im Rahmen eines right to development.471 Über dessen Inhalt und den Kreis der daraus Verpflichteten besteht jedoch wenig Klarheit. Während die Industrie­ nationen darin einen Anspruch der Bevölkerung von Entwicklungsländern an den ei­ genen Staat sehen (z. B. auf Bekämpfung der internen Korruption), betonen die Ent­ wicklungsländer stattdessen Leistungspflichten der Industrienationen, beispielsweise zu einem kostenlosen Technologietransfer. Allerdings sind beide Seiten sich darin einig, dass das right to development keine einklagbaren Ansprüche begründet, weder der Bürger gegen ihren Staat noch der LDCs gegen die Industrienationen. Deshalb stehen die weltweit operierenden Industrieunternehmen allenfalls moralisch in der Pflicht, Technologie in die Entwicklungsländer zu transferieren – wobei sie selbstver­ ständlich die Laufzeiten gewerblicher Schutzrechte zu beachten haben.

Folgerung aus der Mitmenschlichkeit bzw. Menschenwürde ist drittens eine – allerdings hoch umstrittene – Verpflichtung privater Wirtschaftsunter­ nehmen zur Gewährung eines gerechten Preises für Rohstoffe und Waren aus den Entwicklungsländern sowie zur Einhaltung internationaler Arbeitsstan­ dards in den Entwicklungsländern.472 Denn infolge von Verlagerungen der wirtschaftlichen Macht vom völkergewohnheitsrechtlich zur Fairness ver­ pflichteten Industriestaat auf private Industrie- und Handelsunternehmen würde es einer pansozialen Gerechtigkeit widersprechen, wenn diese Unter­ nehmen zwar den Nutzen der für sie günstigen Handels- und Wirtschaftsbe­ ziehungen zu den LDCs in Anspruch nehmen könnten, ohne gleichzeitig –

471  Grundlegend für ein sogen. „Recht auf Entwicklung“ ist eine Erklärung der UN-Generalversammlung vom 4.12.1986 („Declaration on the Right to Development“ A/RES/41/128), worin folgende Grundsätze enthalten sind, zu denen sich die Industriestaaten im Abschlussdokument der Wiener Menschenrechtskonferenz von 1993 nochmals ausdrücklich bekannt haben und die daher Völkergewohnheitsrecht geworden sind: • Das Recht auf Entwicklung ist ein unveräußerliches Menschenrecht (Art. 1). • Subjekt des Rechts ist der Mensch (Art. 2). • Alle Staaten tragen die Verantwortung dafür, dass dieses Recht verwirklicht wird (Art. 3). • Zu diesem Zweck sind die Staaten zur Kooperation verpflichtet (Art. 4). Nach einer Aufzählung der Unterkommission der UN-Menschenrechtskommission setzt sich der „Kern“ des Rechts auf Entwicklung zusammen aus den Rechten auf Leben, auf ein angemessenes Maß an Nahrung, Kleidung, Wohnraum und medizini­ scher Versorgung, auf ein Minimum an garantierter Sicherheit und Unverletzlichkeit der Person, auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit sowie auf Teilhabe an der Ausübung „der anderen genannten Rechte“, etwa am Menschheitserbe und am Leben in Frieden. Zum Streit um die Qualität des Rechts auf Entwicklung vgl. E. Riedel (1989), S.  17 ff.; M. Krajewski (2012) Rn. 965 ff. 472  Zur Regulierung des besonders wichtigen Rohstoffhandels vgl. M. Krajewski (2012), Rn. 916 ff.; zur Einhaltung u. a. von Arbeitsstandards in den Entwicklungslän­ dern vgl. M. Herdegen (2017), § 4 Rn. 68 ff.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

ggf. im Verein mit der WTO, der Weltbank oder den transsozialen Wirt­ schaftsorganisationen – die Verpflichtung zur Fairness zu übernehmen. d) Zusammenfassung (α) Verbindungen zwischen hoheitlichen und privaten Rechtssubjekten. In der Neuzeit haben sich unterschiedliche rechtliche Ordnungen herausgebil­ det, die entweder nur aufeinander aufbauen oder darüber hinaus Verbindun­ gen miteinander eingegangen sind. Aufgrund der schon im Altertum vollzo­ genen Zweiteilung u. a. zwischen öffentlichem und privatem Recht heben sich insbesondere heraus: (a) rechtliche Verbindungen, an denen hoheitliche und private Rechtssubjekte entweder bloß beteiligt sind oder die sich zu ins­ titutioneller Gemeinsamkeit vereinigen, (b) rechtliche Verbindungen, an de­ nen sowohl internationale als auch transsoziale Institutionen entweder bloß beteiligt sind oder die sich zu institutioneller Gemeinsamkeit vereinigen, ferner (c) Verbindungen, an denen hoheitliche Rechtssubjekte und (naturoder sozial-)wissenschaftliche Institutionen entweder bloß beteiligt sind oder die sich zwecks gemeinsamer Verhandlungen und Entscheidungen vereini­ gen. National haben sich die Verbindungen zwischen hoheitlichen und privaten Rechtssubjekten vermehrt, als während des 19. Jh.s der ökonomische Macht­ unterschied zwischen ‚oben‘ (Staat) und ‚unten‘ (Bürgern) schwand (bzw. sich umkehrte) und die früher moralisch gestützte Reziprozität des Gebens und Nehmens nicht mehr gewährleistet war.473 Das Verlangen nach einer politischen Gewährleistung von Reziprozität betraf dann einerseits den sozi­ alen Bereich: etwa das Arbeitsrecht, wenn innerhalb der neuzeitlichen Indus­ triekultur das Machtgleichgewicht von privaten Arbeitgebern und Arbeitneh­ mern vom Staat gesichert werden musste; das Mietrecht, wenn der Mietraum knapp wurde und die Mieter hoheitlichen Schutz vor überhöhten Preisen und vor beliebiger Kündigung brauchten; das Versorgungsrecht, wenn der ele­ mentare Lebensbedarf (z. B. mit Wasser und Elektrizität) nicht mehr gesichert war oder wenn an Institutionen des gehobenen Lebensbedarfs (z. B. an Schwimmbädern, Museen und Bibliotheken) ein allgemeines Interesse be­ stand, das privat nicht befriedigt werden konnte.474 Das Bedürfnis nach einer fortdauernden Gewährleistung von Reziprozität betraf andrerseits aber auch 473  Ein Verlangen nach ‚Reziprozität‘ anstatt nach ‚Partizipation‘ (so aber J. Köndgen, 2006, S. 522) legitimiert somit rechtliche Verflechtungen. 474  Sie sollen nach einer vordringenden Auffassung, die sich auf das Sozialstaats­ prinzip des Abs. 1 GG und den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG beruft, den Vertragsabschluss nur aus sachlichen Gründen verweigern dürfen (vgl. dazu F. Bydlinski, 1980, S. 41; W. Kilian, 1980, S. 47 ff.).



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den Bereich der öffentlichen Hand, wenn die Kosten für spezielle öffentliche Einrichtungen nur durch Einnahmen für deren private Nutzung ausgeglichen werden konnten: so etwa, wenn der Staat für die Herstellung und die In­ standhaltung von Vorrichtungen für den öffentlichen Verkehr von den priva­ ten Nutzern einen finanziellen Ausgleich verlangen musste; wenn der Staat für die Errichtung und den Betrieb von Forschungs- und Lehranstalten von den dort ausgebildeten Bürgern Gebühren fordern musste; oder wenn der Staat das Informationsinteresse der Öffentlichkeit mittels eigener Angebote (z. B. Nachrichtensendungen in Rundfunk und Fernsehen) zusätzlich befrie­ digen und hierfür eine Bezahlung kassieren musste.475 International vermehrten sich die Verbindungen nicht nur zwischen ho­ heitlichen, sondern auch zwischen hoheitlichen und privaten Rechtssubjek­ ten, wenn funktional autonome Bereiche dauerhaft geordnet werden mussten: wenn Staaten und Privatunternehmen ein Vorhaben gemeinsam angehen mussten (Beispiel: Reinhaltung der Meere), wenn Knappheitsprobleme inter­ national zu bewältigen waren (Beispiel: Verteilung von Fischereirechten), wenn konkurrierende öffentliche oder private Interessen international organi­ siert werden mussten (Beispiel: Verteilung der Frequenzen für international ausstrahlende Rundfunksender), oder wenn Wirtschaftsunternehmen für ihre Aufwendungen hoheitlicher Absicherung bedurften (Beispiel: Investitions­ verträge). Ferner bedurfte es gemeinsamer hoheitlicher und privater Kom­ missionen, wenn wissenschaftliche Vorarbeiten die Grundlage für global einheitliche gesetzliche Regelungen (insbesondere im Bereich der Technik) oder für global geltende technische Standards oder Messwerte bilden sollten. Die an der öffentlich-privaten Zusammenarbeit Beteiligten konnten entwe­ der auf gleicher Ebene oder auf unterschiedlichen Hierarchieebenen stehen. Dem Staat konnte eine Vormachtstellung gegenüber den privat Beteiligten zukommen: Er konnte die Aufsicht über eine der sogen. ‚Wesensinstitutio­ nen‘ führen (Beispiel: Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, §§ 5 ff. Kreditwesengesetz) oder über ein Unternehmen, dessen Leitidee er vorgegeben hatte (sogen. „Staatsunternehmen“). Der Staat konnte sich aber auch auf eine bloße Beobachter-, Vermittler- oder Gewährleisterrolle be­ schränken: Er konnte das wirtschaftliche Management in den Händen priva­ ter Akteure belassen, weil es dort besser aufgehoben war als in den Händen seiner Beamten; er konnte sich lediglich finanziell an einem Unternehmen 475  In Deutschland knüpft neuerdings die Gebührenpflicht für Radio und Fernse­ hen an die Wohnung bzw. die Betriebsstätte an. Die Berechtigung dieser Regelung ist zweifelhaft, vom Bundesverfassungsgericht aber anerkannt worden (BVerfGE 149 222, 253 ff.), weil der öffentlich-rechtliche Rundfunk allen Bürgern Orientierungshilfe durch Vielfalt in der Rundfunkberichterstattung und durch authentische, sorgfältig recherchierte Informationen biete, gleichgültig ob sie diese nutzen wollen oder nicht.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

beteiligen, um der privaten Geschäftsführung einen größeren ökonomischen Spielraum zu eröffnen (Beispiel: Beteiligung des deutschen Staates an der privaten Commerzbank)476; er konnte sich sogar mit einer Kontrollfunktion begnügen – international ist eine derartige Rollenverteilung bei den sogen. Public-Private Partnerships häufig. Beteiligen sich auf eine dieser Arten mehrere hoheitliche Institutionen an einem Wirtschaftsunternehmen (in Deutschland etwa die Bundesrepublik und das Land Hessen an der Fraport AG), dann müssen sie zwar nicht auf der gleiche Ebene stehen, wohl aber in der gleichen Richtung tätig werden – es sei denn, dass eine von ihnen die Grundlage für die Tätigkeit der anderen liefert (Beispiel: staatliche Vergabe von Schürfrechten an mehrere ausländische Staaten, die sich am selben Berg­ bauunternehmen beteiligt haben). (β) Die Hyperstruktur hybriden Rechts. Ein aus öffentlichen und privaten Rechtselementen zusammengesetztes (‚hybrides‘) Recht besitzt eine „Hyper­ struktur“477; denn es verbindet die Strukturen beider Elemente durch eine übergeordnete Struktur.478 Dabei kann mal dem einen, mal dem anderen Element die Dominanz eingeräumt werden: dem staatlichen Element z. B. innerhalb eines als Aktiengesellschaft betriebenen Industrieunternehmens, das ausschließlich staatliche Bau- oder Rüstungsaufträge ausführt, dem zivi­ len Element z. B. innerhalb einer als GmbH betriebenen Mineralölgesell­ schaft, der ein Entwicklungsstaat Schürfrechte gewährt hat. Faktoren einer solchen Hyperstruktur sind erstens die gemeinsame Leitidee, zweitens die in ihrem Rahmen zu erbringenden (meist wirtschaftlichen oder rechtlichen) Leistungen sowie drittens eine Organisation, welche die Aufgaben zwischen Staat und Privatwirtschaft verteilt. Einer solchen Hyperstruktur liegen gewisse Gesetzmäßigkeiten zugrunde. Für die Leitidee ist gesetzgebend der von allen Beteiligten identisch erstrebte Erfolg: der maximale Nutzen der Unternehmung sowohl für den Staat als auch für den Privatunternehmer. Für die Leistungsaufteilung sind gesetzge­ bend die zur Nutzenmaximierung gebrauchten Potentiale. Beispiel: Ein Gaststaat muss einem ausländischen Fertigungsunternehmen, an dem er sich beteiligt hat, nicht nur die Genehmigung für dessen Ansiedlung erteilen, son­ dern auch Hilfe bei der Belieferung mit den erforderlichen Rohstoffen und beim Im­ port der für die Verarbeitung notwendigen Maschinen gewähren. Als Maschinenfabrik 476  Bundesbeteiligungen an privaten Unternehmen sollen allerdings nach § 63 des deutschen Bundeshaushaltsgesetzes nur zur Erfüllung von Bundesaufgaben begründet oder erworben werden. 477  A. Gehlen (1957), S. 54. 478  M. Draht (1966), S. 276: „Der Staat ist zwar relativ getrennt von der Industrie­ gesellschaft, ist anders strukturiert und funktioniert anders. Aber er ist funktional auf die Gesellschaft bezogen; sie machen zusammenwirkend erst die … ‚Gesamtgesell­ schaft‘ aus.“



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braucht das Unternehmen nicht nur Ingenieure für die Konstruktion von Maschinen, sondern u. U. auch die staatliche Unterstützung für eine Schule, in der die Ingenieure ausgebildet werden. Das erfordert eine umfassende Organisation, welche rechtliche Sicherheit der betrieblichen durch staatliche Normen braucht, die umso strenger sein müssen, je mehr die Betriebsförmigkeit des Ganzen durch das Versagen auch nur ei­ nes Teils gestört wird, und umso internationaler, je mehr (inter)nationale Institutionen nach (inter)nationalen Standards am Erfolg der Unternehmung mitwirken.479 Darüber hinaus braucht das Unternehmen wahrscheinlich genormte Schutzzonen (etwa gegen die widerrechtliche Ausnutzung seines betrieblichen Know-how), (Schieds-)Gerichte, welche die Verletzung der Schutzzonen sanktionieren, und Institutionen, welche die Sanktionen vollstrecken.

Die Zusammenarbeit von öffentlichen und privaten Akteuren bezeichnet man gewöhnlich als Governance, das Recht, das sie regelt (die rule of law) und dessen Einzelheiten die Akteure miteinander aushandeln, kann man als ‚gubernatives Recht‘ bezeichnen – es gibt dafür noch keinen eingebürgerten Namen.480 Es umfasst außer der Bindung an die Leitziele der gemeinsamen Unternehmung und an die Aufgabenverteilung zu ihrer Verwirklichung die allgemeinen Prinzipien einer erfolgreichen Zusammenarbeit wie Treu und Glauben (Verlässlichkeit, Vertrauensschutz), Reziprozität (Gegenseitigkeit), Verursacherhaftung u. a. m. Bezüglich der Zusammenarbeit im internationa­ len Bereich unterscheidet man je nach dem Überwiegen mal des staatlichen, mal des unternehmerischen Einflusses dann noch zwischen ‚Governance by Government‘ (Überwiegen der staatlichen Regelung), ‚Governance with Government‘ (partnerschaftliche Regelung von Staat und Privatunternehmer) und ‚Governance without Government‘ (Überwiegen der unternehmerischen Regelung). (γ) Wechselseitige Kontrolle hoheitlicher und privater Rechtssubjekte. Schutzzonen für öffentliche Belange bei einer Beteiligung der öffentlichen Hand an privaten inländischen Unternehmen schaffen in erster Linie die ­nationalstaatlichen Parlamente und Verwaltungsbehörden. Für internationale Kooperationen spielen dagegen spezielle Institutionen die größere Rolle, weil in ihnen die fachlich besseren Kommunikationspartner vereinigt sind und sie deshalb mit richtungweisenden Verhaltensentscheidungen betraut sind: im wirtschaftlichen Bereich etwa die als Behörden, Kommissionen oder Gremien organisierten Banken oder bankähnlichen Institutionen (etwa zur Finanzierung des Außenhandels), im wissenschaftlichen Bereich etwa die mit 479  Im IT-Bereich tätig sind z. B. in Deutschland das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) und der Verein „Deutschland sicher im Netz“, speziell für die Belange der Wirtschaft darüber hinaus der Branchenverband „Bitcom“. Öf­ fentlichen und privaten Belangen gleichermaßen dient ferner die „Allianz für Cyber­ sicherheit“, der sich inzwischen mehr als 800 Institutionen aus allen Branchen ange­ schlossen haben. 480  Vgl. dazu oben Fn. 417.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

Entscheidungskompetenz über internationale Projekte ausgestatteten Kom­ missionen, im künstlerischen Bereich etwa die zu Vorschlägen oder Entschei­ dungen über die staatliche Förderung des internationalen Kulturaustauschs bestellten Gremien etc. Viele dieser Institutionen besitzen zwar keine eigene Rechtspersönlichkeit, werden aber als selbstständige Einheiten geführt. Ihre Arbeit wird, soweit sie keine gerichtliche oder gerichtsähnliche Funktionen erfüllt, regelmäßig von Experten überprüft, die einem anderen Organisationsbzw. Funktionsbereich angehören und die deshalb unabhängig sind: so etwa die Entscheidungen staatlicher Gremien von privaten Institutionen, die Ent­ scheidungen privater Institutionen von staatlichen Beamten. Beispiele: 1. In Deutschland veröffentlicht jedes Jahr der private Bund der Steuer­ zahler ein Schwarzbuch, worin er die Verschwendung von Steuergeldern durch staat­ liche Institutionen anprangert, sich dabei allerdings vornehmlich auf Erkenntnisse der staatlichen Rechnungshöfe stützt. – 2. Die rechtliche Zulässigkeit von Entscheidungen privater Institutionen, insbesondere solchen der großen Aktiengesellschaften, werden in Deutschland von staatlichen Stellen geprüft: im Voraus, wenn es etwa um geplante Zusammenschlüsse von Unternehmen geht, im Nachhinein, wenn etwa ein Verdacht auf verbotene Wettbewerbsabsprachen zwischen Unternehmen besteht. Eine Ausnah­ me ist der Verbraucherschutz: Er wird in Deutschland von privaten Vereinen (Ver­ braucherzentralen) betrieben; nur übernational sind europäische Verbraucherzentren einer EU-Kommission tätig. – 3. Wesentlich eingeschränkt wird die ‚Gewaltenteilung‘ zwischen öffentlichen und privaten Institutionen bei der Abschätzung der wirtschaft­ lichen Folgen, die von staatlichen Investitionsentscheidungen ausgelöst werden (und die oft ignoriert werden, wenn es gilt, populäre Maßnahmen im Parlament durchzu­ setzen). Mit der Kontrolle werden zwar häufig private wissenschaftliche In­stitutionen betraut,481 doch sind diese bei ihrer Bewertung an die Ziele gebunden, die der Staat mit seiner Wirtschaftspolitik verfolgt und für die er allein zuständig ist.

Soweit gerichtliche oder gerichtsähnliche Streitentscheidungen über ge­ mischt hoheitlich-private Rechtsverhältnisse erforderlich werden, müssen die nationalen gerichtlichen Spruchkörper (in Deutschland beispielsweise die Arbeitsgerichte) außer mit Vertretern der staatlichen auch mit solchen der privaten Seite besetzt werden. Staaten mit einem hohen Anteil an ethnisch fremder Bevölkerung sehen überdies oft vor, dass Vertreter ethnischer oder religiöser Gruppen in gerichtliche Entscheidungsprozesse eingebunden wer­ den (und ihnen dort evt. auch ein Stimmrecht zusteht). Im internationalen Bereich können Völkerrechtssubjekte, die sich im Rahmen privatwirtschaftli­ cher Tätigkeit vertragswidrig verhalten haben, u. U. vor ein Zivilgericht zi­ tiert werden, ohne dass ihnen dort ein Immunitätsschutz zur Verfügung steht. Beispiel: 1981 beteiligte sich Argentinien an einem Programm, das argentinische Unternehmen gegen die Entwertung der heimischen Währung absicherte, wenn sie 481  Zur Analyse wirtschaftlicher Politikeffekte vgl. P. J. J. Welfens (2013), C.9.1 (S.  600 ff.), C.12 (S.  631 ff.).



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einen Warenkredit in US-Dollar zurückzahlen sollten. Als von Argentinien abgesi­ cherte Zahlungen in US-Dollar 1982 fällig wurden, hatte Argentinien jedoch keine ausreichenden Devisenreserven zur Verfügung. Die Regierung entschloss sich daher, sogen. Bonods an die Gläubiger auszugeben, deren Rückzahlung 1986 erfolgen sollte. 1986 war Argentinien jedoch abermals zur Rückzahlung außerstande. Es verlängerte daher einseitig die Rückzahlungsfrist und kreierte Ersatzinstrumente mit späterer Fälligkeit. Daraufhin verklagten u. a. zwei panamesische Gesellschaften, die die Bo­ nods hielten, Argentinien vor einem US-amerikanischen Zivilgericht aufgrund des Foreign Sovereign Immunities Act (FSIA) von 1976. Argentinien wandte ein, dass die amerikanischen Zivilgerichte für den Fall nicht zuständig seien, weil ein Staat wegen seiner Souveränität nicht vor einem Zivilgericht verklagt werden dürfe. Der USamerikanische Supreme Court als Berufungsinstanz sah das jedoch anders: Ungeach­ tet seiner Souveränität unterliege der argentinische Staat der amerikanischen Zivilge­ richtsbarkeit, weil seine Tätigkeit nicht in Staatsakten, sondern in rein wirtschaftlichen Akten bestanden habe, die als privates Handeln „in Verbindung mit einer wirtschaft­ lichen Tätigkeit“ zu bewerten seien.

Außerhalb formeller Verfahren kann die Aufsicht über die Erfüllung lau­ fender Verträge zwischen privaten und hoheitlichen Partnern sowohl staatli­ chen als auch privaten oder geminschten Institutionen übertragen werden. Beispiel: Im Jahr 2000 war zwischen dem Tschad und der Weltbank vereinbart worden (Gesetz 001), dass die Verteilung der Einnahmen aus einem Tschad-KamerunProjekt zur Erdölförderung größtenteils für die Bekämpfung der Armut im Lande eingesetzt werden soll. Die Aufsicht hierüber sollten einer International Advisory Group und dem Inspection Panel der Weltbank zustehen. 2003 wurde das Projekt eingeweiht, doch bereits 2006 kündigte der Präsident des Tschads die Vereinbarung auf und schaffte den zu ihrer Umsetzung gegründeten „Fonds für zukünftige Genera­ tionen“ ab. In einem neuen Abkommen (Gesetz 002) vereinbarte er stattdessen mit der Weltbank, dass die Einnahmen auch für die „innere Sicherheit“ im Tschad ver­ wendet werden dürfen. Die Aufsicht blieb allerdings bestehen. Wie vorauszusehen, floss von jetzt an fast das gesamte Kapital aus den Ölverkäufen in die militärische Aufrüstung des Tschad. 2008 zog sich die Weltbank daher aus dem Projekt zurück, sodass die Zivilgesellschaft des Tschad nunmehr ihren wichtigsten Partner verlor.

Schließlich können Verfahren auch allein mit dem Ziel durchgeführt wer­ den, dass Berechtigte formell ermächtigt werden, ihre Ansprüche mittels ei­ gener (etwa wirtschaftlicher) Druckmittel, durchzusetzen, oder dass nicht die Rechtslage festgestellt, sondern nur die Gemüter beruhigt werden. Solche eher symbolischen Verfahren sind kein neues Phänomen, sondern dienten schon im Altertum zur Glättung der allgemeinen Erregung, weil die Welt schon da­ mals einer Kultur des Scheins bedurfte, um als besser zu erscheinen, als sie war. In der Neuzeit sind die Verfahren allenthalben unter verschiedenen Bezeichnungen ver­ breitet: In Spanien heißt es beispielsweise ‚Anerkennung, aber kein Vollzug‘, in Un­ garn ‚mit Respekt zu den Akten‘,482 in Deutschland ‚symbolische Gesetzgebung‘.

482  W.

Reinhard (2007), S. 29.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

6. Evolutions- und Devolutionsgesetze im Recht der Neuzeit Jeder Start einer neuen Spezies beginnt mit einem verschwommenen Pro­ zess, der seine Triebkraft aus dem Zusammentreffen mehrerer Faktoren und ihrer anschließenden Vereinigung bezieht. Das gilt im biologischen Bereich, wo das Zusammentreffen entwicklungsfähiger Organismen mit einer sich verändernden natürlichen Umwelt die genetische Entwicklung vorantreibt. Das gilt ebenso im kulturellen und speziell im rechtlichen Bereich, wo das Zusammentreffen eines entwicklungsfähigen Rechts mit einem sich wandeln­ den kulturellen Umfeld die ordnungspolitische Entwicklung anschiebt. Drei Fragen stellen sich: Welche Faktoren aus der natürlichen, der sozialen und der politischen Umwelt beeinflussen derzeit als Randbedingungen die Entwicklung des Rechts? Welche Veränderungen erzeugen diese Faktoren in den einzelnen Bereichen des Rechts? Und aufgrund welcher Gesetze verän­ dern sich diese Bereiche unter dem Einfluss der Faktoren? Ich werde mich bemühen, die Fragen in den drei folgenden Unterabschnitten a–c zu beant­ worten. a) Randbedingungen für den Wandel des Rechts (α) Überblick. Die neuzeitliche Entwicklung des Rechts wird maßgeblich geprägt von Veränderungen erstens im Menschen selber, zweitens in der na­ türlichen Umwelt des Menschen und drittens im sozialen, politischen und kulturellen Umfeld des Menschen. Das Recht kann auf diese Veränderungen entweder durch Anpassung oder durch Einpassung reagieren – d. h. entweder sich auf die äußeren Faktoren einstellen oder umgekehrt versuchen, die äuße­ ren Faktoren entsprechend dem Ordnungsbedarf sozialer Gemeinschaften weiterzuentwickeln. Aus der Vielzahl der Faktoren hebe ich – teils auf Europa zentriert – fünf heraus, die mir als besonders wichtig erscheinen und die sich einigermaßen klar abgrenzen lassen: •• Bevölkerungsveränderungen. Wirtschaftliche Not sowie Verfolgungen aus politischen und religiösen Gründen haben in jüngster Zeit immer mehr Menschen aus den bevölkerungsreichen Staaten Afrikas und des Nahen Ostens nach Europa geführt. Sie sind hier teilweise auf Akzeptanz, über­ wiegend dagegen auf Abwehr stoßen. Deshalb stehen die europäischen Staaten heute vor dem Problem, wie viele Immigranten sie gegen den Widerstand eines Teils ihrer Bevölkerung aufnehmen und anschließend wirtschaftlich, sozial und kulturell integrieren können bzw. sollen. Der wirtschaftlichen Integration steht oft die geringe (vor-)berufliche Bildung der Immigranten im Wege, der sozialen Integration ihre mangelhaften



K. Entwicklungstendenzen im neuzeitlichen Recht 865

Kenntnisse europäischer Sprachen, der kulturellen Integration ihre andere (meist muslimische) Religion, die (vor allem) in ihren Ritualen von der ganz überwiegend christlichen Religion der europäischen Bevölkerung abweicht (hierzu unten β). •• Wirtschaftliche Veränderungen. Die technische Revolution der letzten zweihundert Jahre hat nahezu weltweit sowohl die Alltagswelt als auch die Arbeitswelt grundlegend verändert. Die Alltagswelt hat sie hauptsäch­ lich entlastet: u. a. durch erweiterte Möglichkeiten zu zeitgleicher Tele­ kommunikation, zu beschleunigter persönlicher Kommunikation sowie zum Online-Handel, ferner im Haushalt durch den Einsatz elektrischer Geräte (Herdplatten, Kühlschränke, Staubsauger, Waschmaschinen u. a.). Die Arbeitswelt hat sie umgestaltet: Technische (elektrische und elektroni­ sche) Geräte erleichtern sowohl dem auf eigener Scholle wirkenden Bau­ ern als auch dem in seiner Werkstatt wirkenden Tischler die Arbeit, ver­ netzen einerseits die Zusammenarbeit in privaten Industriebetrieben und in staatlichen Büros und erlauben andrerseits die weiträumige betriebliche Trennung zwischen Arbeitsleitung und Arbeitsleistung sowie die Verlage­ rung einiger Arbeiten aus dem Betrieb in die private Wohnung. Neue Kommunikationsstrukturen fördern bzw. sichern diese Entwicklungen, und eine neue persönliche Mobilität sorgt dafür, dass trotz Verlagerung vieler Arbeiten vom Menschen auf die Maschine das Arbeitsleben ab­ wechslungsreich gestaltet werden kann (unten γ). •• Umweltveränderungen. Die technisch/technologische Revolution der letz­ ten zweihundert Jahre hat die menschliche Umwelt radikal umgestaltet. Unbeabsichtigte Reaktionen der Natur darauf sind nicht ausgeblieben, haben gleichwohl aufgrund ihrer Heftigkeit den Menschen überrascht. Besorgnis erregt haben u. a. die Veränderung des Klimas, das Anschwellen der Ablagerungen von Industriemüll, der Abnahme der noch im Erdboden liegenden Rohstoffe, das Aussterben von Tier- und Pflanzenarten, die Zer­ störung bzw. der rasche Verfall von Monumenten aus der menschlichen Vergangenheit. Der Mensch weiß heute, dass er künftig sparsamer wirt­ schaften, weniger schädliche Stoffe in die Atmosphäre emittieren, seinen Industriemüll recyceln und dadurch Rohstoffe verfügbar halten, Tieren und Pflanzen ihren Lebensraum bewahren und die Monumente aus seiner Vergangenheit ehrfürchtiger pflegen und bewahren muss. Das alles ver­ langt strenge Selbstbeschränkung unter der Herrschaft einer Moral, der das Recht Nachdruck verleihen muss (unten δ). •• Psychische Veränderungen im Menschen entstehen teils endogen, teils angeregt durch Kommunikations- und Bildungschancen. Insoweit hatte bereits im Altertum die Ausdehnung der Schulpflicht auf weite Bevölke­ rungskreise die individuelle Selbstbestimmung erhöht und die Suche nach

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

Ankern für überindividuelle Bindungen verstärkt. Heute haben sich die Chancen zur Selbstbestimmung fast bis ins Unendliche hinein gesteigert, und gleichzeitig stehen der komplementären Suche nach Bindungen über die Landesgrenzen hinweg immer mehr und immer vielfältiger soziale und politische Möglichkeiten zur Verfügung. Die öffentliche Moral hat parallel dazu die noch verbliebene Gefühlsbindung an Treu und Glauben und die örtliche Sitte durch rationale Bindungen an fraktioniertes Recht und sozi­ alen Stil ergänzt, und die Wissenschaft hat komplementär dazu der Suche nach einem letzten metaphysischen Halt ein Obdach im Völkerrecht und in den universellen Menschenrechten zur Verfügung gestellt (dazu un­ ten ε). •• Verwissenschaftlichung. Vor allem aber haben die Naturwissenschaften seit dem Zeitalter der Aufklärung einen gewaltigen Aufschwung erlebt: Forscher sind in bisher unzugäng­liche Orte sowohl auf als auch unter und jenseits der Erde vorgedrungen und haben mittels neuer physikalischer, chemischer und biotechnologischer Verfahren neue Produkte zum Segen, aber auch zum Fluch für die Menschheit entwickelt. Wo die Produkte se­ gensreich waren, muss die Menschen sie zu bewahren und fortzuentwi­ ckeln versuchen. Wo sie zum Fluch wurden, muss sie versuchen, sie abzu­ schütteln, ohne sie deshalb vollständig dem Vergessen anheimfallen zu lassen (unten ζ). (β) Bevölkerungsveränderungen, insbesondere durch Migration. Bevölke­ rungsvermehrung und abnehmende pro-Kopf-Größe des Territoriums waren seit Urzeiten ein Problem, das die Menschen beschäftigte und zu sozialer Entwicklung antrieb483, dabei aber mehrfach auch autokatalytische Effekte erzeugte. So zwangen ihre wachsende Zahl und Größe die Wildbeuterhorden nicht nur zur Sesshaftigkeit und zur agrarischen Lebensweise; vielmehr ver­ ursachten sie auch eine weitere und diesmal exponentielle Bevölkerungszu­ nahme, weil nunmehr die traditionellen Kinderbeschränkungen nomadisieren­ der Gruppen wegfielen. Hieraus gingen dann dicht besiedelte Städte mit einer strikt rechtlichen Organisation der sozialen Verhältnisse hervor. Veränderun­ gen des Klimas wiederum zwangen ganze Völker zur Auswanderung aus ehemals fruchtbaren, jetzt aber verödenden Gegenden und zur Suche nach neuen Möglichkeiten zur Existenz. Fanden sie diese, und irgendwo ließen sie sich immer finden, kam es gewöhnlich zunächst zu Abwehrkämpfen der dort Heimischen mit dem Erfolg, dass entweder die Neuankömmlinge sich durch­ setzen und künftig die politischen Herren waren oder dass sie weiterziehen mussten. Manchmal war auch die Aufteilung von Land und Herrschaft mit den Einheimischen das Ergebnis, wenn nämlich für die Zukunft weniger entscheidend war, wer die politische Macht besaß, als wem die kulturelle 483  Vgl.

oben 1 b γ.



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Herrschaft zukam. Denn während die Unterschiede in der äußeren Erschei­ nung,484 der Sprache, der Religion und der Sitten die Verschmelzung der Bevölkerungsgruppen eher verhinderten, öffnete die Kultur die Tür zu einem befruchtenden Miteinander, worin die überlegene Kultur sich schließlich durch­setzte. Ich konzentriere mich im Folgenden auf die jüngst nach Europa einströ­ mende Bevölkerungsbewegung.485 Wirtschaftliche Gründe standen dafür zu­ nächst im Vordergrund, drei Faktoren bildeten die wichtigsten Antriebe: we­ nig fruchtbarer Boden, daher kaum Arbeit in der Landwirtschaft, nur geringe Bodenschätze, daher kaum Arbeit in Bergbau- oder Schürfunternehmen, we­ nige Produktionsbetriebe, daher kaum bezahlte Arbeitsplätze in der Industrie. Für die Wanderungsrichtung spielten neben geographischen auch historische Gründe eine Rolle: Europäische Staaten hatten im 19. Jh. die afrikanischen Völker kolonialisiert, u. a. um sich eines Teils ihrer Bodenschätze zu be­ mächtigen; seither war das Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung in den europäischen Staaten angestiegen, während es in den ihrer Bodenschätze beraubten afrikanischen Ländern gesunken war. Und da sich die Differenz inzwischen durch eine afrikanische Binnenwanderung nicht mehr ausglei­ chen ließ, erschien dem aktiven Teil der Bevölkerung die Migration in die reichen Länder Europas nicht nur als eine gute, sondern auch als eine ge­ rechte Lösung ihres Armutsproblems.486 484  Solche ‚Äußerlichkeiten‘ darf man – wie vor allem die Verhältnisse in den USA zeigen – nicht unterschätzen. Sie kürzen die Überzeugungsbildung ab und geben ihr ein scheinbar sicheres Fundament. Dass Menschen mit heller Haut den dunkelhäu­ tigen Menschen überlegen seien, ist beispielsweise allgemein so fest verwurzelt, dass selbst in vielen Regionen Afrikas die hellere Hautfarbe eines Stammesangehörigen als Vorzug gilt. Dieselbe Überlegenheit wird außerdem größeren Menschen vor klei­ neren zugeschrieben – ein noch krasseres Fehlurteil, weil zumindest heutzutage nicht die körperliche, sondern die geistige Überlegenheit über die soziale Stellung inner­ halb der Gesellschaft entscheiden. Soweit uns kunst- und kulturhistorische Daten aus der Antike (Ägypten und Griechenland) überliefert sind, deuten sie allerdings darauf hin, dass starke Unterschiede in der Hauptfarbe und im Körperbau damals zwar durchaus wahrgenommen wurden, jedoch keinen Einfluss auf die sozialen Beziehun­ gen hatten, sondern lediglich der genetischen Vermischung entgegenwirkten. 485  Wanderungen ganzer Volksgruppen gab es bereits im frühen und späten Alter­ tum (dorische und indogermanische Völkerwanderung; Germanen- und Hunnenwan­ derung) sowie in der frühen Neuzeit (z. B. Auswanderung von Europäern nach Ame­ rika und Australien aufgrund der ‚kleinen Eiszeit‘ um 1600). Was die Gegenwart an­ belangt, interessieren hier nicht die Binnenwanderungen wie etwa die Landflucht der Bevölkerung in die Städte, sondern nur die grenzüberschreitenden Migrationsbewe­ gungen aus existentieller Bedrohung oder wirtschaftlicher Not (dazu und zum Fol­ genden insgesamt St. Luft, 2016). 486  Die Literatur zur Migration ist unübersehbar, vgl. etwa die Angaben bei J. Oltmer (2013), S. 127 ff. Vergleichend untersucht hat die Migration insbesondere S. N. Eisenstadt (1954 und 1969).

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

Gegen Ende des 20. Jh.s traten zu den ökonomischen Gründen für eine Migration allerdings weitere, nämlich politische und religiöse Gründe, hinzu. Wiederum war das Ziel der Migration Europa, ihr Ursprung aber lag diesmal nicht in Afrika, sondern vor allem im Vorderen Orient. Von hier aus flüchte­ ten religiös und politisch verfolgte Menschen in Massen, und ihre Zielstaaten sahen sich nunmehr vor unlösbare Aufgaben gestellt, weil sie ihr Augenmerk nun nicht allein auf den Erhalt der inneren Ordnung richten müssten,487 son­ dern auch auf den Erhalt ihrer sozialen und religiösen Homogenität und ihrer wirtschaftlichen Prosperität. Sie alle waren nämlich Sozialstaaten, und ihre Bürger stellten hohe ökonomische Ansprüche, die sie weder aufgeben noch mit einer großen Zahl von Immigranten teilen wollten. Gemäß dem Slogan „Nicht der Mensch ist um des Staates willen, sondern der Staat ist um des Menschen willen da“ forderten sie von ihren Regierungen, dass sie den ein­ mal erreichten Wohlstand erhielten. Doch das wäre unmöglich gewesen, hätte man die gewaltige Masse der Immigranten am Wohlstand teilhaben lassen, ohne dass sie zu seiner Erhaltung entsprechend beitrugen. Deshalb sahen sich die Regierungen veranlasst, den Zustrom der Immigranten entwe­ der zu unterbinden oder ihn wenigstens so weit zu kanalisieren, dass sie vorzugsweise diejenigen aufnahmen, die kraft ihrer Ausbildung in den Pro­ duktionsprozess der Wirtschaft schnellstmöglich eingegliedert werden konn­ ten.488 Genügend Arbeitsplätze standen dafür – zumindest in Deutschland – zur Verfügung; das nötige Ausbildungsniveau, um die Plätze zu besetzen, hatten allerdings die wenigsten Immigranten im Gepäck. Überraschenderweise verlagerte sich die Problematik jedoch relativ schnell auf eine andere Ebene. Während die Flüchtlingszahlen immer noch anstiegen und die staatlichen Begrenzungsmaßnahmen sich immer noch am Erhalt des heimischen Wohlstands ausrichteten, befürchteten die Bürger nunmehr, durch politisch oder religiös verfolgte Immigranten aus dem vorderen Orient vor allem kulturell überfremdet zu werden. Vermehrt wurde ihre Furcht noch, weil sie einerseits von allen Immigranten ein starkes Bemühen um Integra­ tion forderten, sie andrerseits aber auf Widerstand gerade bei denjenigen stießen, die nicht aus wirtschaftlichen Motiven, sondern um ihres Glaubens oder ihrer politischen Überzeugung willen geflohen waren und um Asyl nachsuchten. Denn statt um Integration bemühten diese sich, den kulturellen Kontakt zu ihrer Heimat aufrechtzuerhalten, da sie bei einer Verbesserung 487  Diese

den.

wäre allenfalls durch hohe Kriminalität der Immigranten gefährdet wor­

488  Die Unterscheidung zwischen ‚gewollten‘ und ‚nicht gewollten‘ Migranten ist seit Langem kennzeichnend für die Politik der klassischen Einwanderungsländer Ka­ nada und Australien. Das Kriterium dafür ist die Lage am Arbeitsmarkt. Seit die EU als Einwanderungsgebiet hinzutrat, nähert sich die Politik ihrer Staaten dieser Unter­ scheidung an.



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der Verhältnisse ja dorthin zurückkehren wollten. Der ‚kleine Mann‘, der die Fremden argwöhnisch beäugte, von vermehrter Kriminalität, gar terroristi­ schen Anschlägen in der Zeitung las und dafür die aus ihrer heimatlichen Kultur Geflohenen verantwortlich machte, sah sich daher in seiner Meinung bestärkt, dass kulturelle Vielfalt keineswegs, wie man ihm einreden wollte, bereichernd wirke, sondern hauptsächlich Nachteile bringe und daher schnellstens entweder durch die Enkulturation der Fremden oder durch ihre Abschiebung in die Heimat überwunden werden müsse.489 Andernfalls be­ stehe die Gefahr, dass der neue Gaststaat zur Bühne für jene politischen und religiösen Auseinandersetzungen werde, die zur Flucht der Fremden geführt hatten. Und da Enkulturation ein ontogenetischer Prozess ist, den jeder Ein­ zelne vollziehen muss und der nicht von heute auf morgen gelingt, verlagerte sich die Flüchtlingsproblematik von der populationsspezifischen Ebene auf die individualspezifische. Vier Schritte wären für eine gelingende Enkulturaltion erforderlich gewesen, von denen der folgende immer schwerer zu gehen ist als der vorige. Da die Schritte dem bereits mehrfach genannten soziogenetischen Muster folgen und dieses bestätigen, sollen sie kurz beschrieben werden: Der 1. Schritt besteht in der (aktiven) Durchbre­ chung der persönlichen Isolation, welche einen Immigranten in der ‚neuen Welt‘ umfängt, wo die Sozialkultur anders ist als in seiner Heimat. Will der Ankömmling sie überwinden, muss er ein Stück seiner kulturellen Identität aufgeben.490 Der 2. Schritt besteht in der äußeren Anpassung an die neue Sozialkultur: im Erlernen der sozialen (moralischen, rechtlichen und konventionellen) Normen, nach denen sie funktioniert, und im Versuch, ihren Sinn und Zweck zu verstehen (Adjunktion bzw. Akkulturation). Hat der Ankömmling auch diesen Schritt erfolgreich getan, muss er in einem 3. Schritt die Aufgabe lösen, die alte Kultur, die er ja nicht verloren hat, mit der neuen Kultur so weit zu versöhnen, dass beide miteinander bestehen können (Konjunktion). Er gelangt dann in das Stadium kultureller Pluralität, was sich bei­ spielsweise darin zeigt, dass er gegenüber Angehörigen aus seiner heimatlichen Kul­ tur sich anders verhält als gegenüber Angehörigen aus der neuen Mehrheitskultur (‚Leitkultur‘).491 Bleibt seine Entwicklung in diesem Stadium stehen, wird er zum Teil jener ethnischen Minorität, die sich nach außen hin angepasst zeigt, im Kreis der

489  Dabei spielt auch eine Rolle, wie hoch die aufnehmende Bevölkerung die ei­ gene soziale Dominanz einschätzt: Je höher diese Einschätzung ist, desto negativer ist ihre Haltung gegenüber den Immigranten und desto größer ihre Furcht, dass die Im­ migranten die eigenen Chancen am Arbeitsmarkt vermindern. Vgl. dazu die Untersu­ chung von V. A. Esses/G. Hodson/J. F. Dovidio (2003). 490  Dazu W. Fikentscher (2016), p. 200, 133 f. 491  Nicht gegangen wird der Schritt von den gut ausgebildeten Arbeitsimmigran­ ten, die in einem fremden Staat bessere Arbeitsbedingungen vorfinden als daheim. Sie sind oft Spezialisten für einen engen Fachbereich und gehen ins Ausland, um sich dort einer ihren Interessen entgegenkommenden Arbeitsgruppe anzuschließen. Ihre Identität formulieren sie als Mitglieder einer international scientific community, die an Staatsgrenzen nicht gebunden ist, sondern der wissenschaftlichen Welt angehört.

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Landsleute aber die überkommenen Sitten und Gebräuche weiterhin pflegt.492 Vom sozialen Umfeld wird dieses Schwanken zwischen der Mehrheitskultur und der eige­ nen Kultur unterschiedlich bewertet: von den minder Gebildeten als unehrlich oder gar bedrohlich, von den höher Gebildeten dagegen als anregend, weshalb einzelne Merkmale sogar in die Mehrheitskultur übernommen werden und dort bereichernd wirken (Diffusion). Den 4. Schritt müssen dann beide, die Angehörigen der Mehr­ heitskultur und die Immigranten, aufeinander zugehen. Dies kann unterschiedlich geschehen: Entweder enkulturiert sich der Immigrant in die Mehrheitskultur – dann verliert er seine Kultur bis auf geringe Reste. Oder die Mehrheitskultur wandelt sich unter dem Einfluss der Immigranten – dann verliert sie ihre leitende Funktion und stirbt im Extremfall bis auf wenige Reste ab. Vor allem diese letzte Phase kennen wir aus dem Altertum, wo sich die Enkultura­ tionsprozesse öfter in stets der gleichen Schrittfolge vollzogen haben: Das vitalere Volk gab – entweder nach einer kriegerischen Eroberung oder nach einem allmähli­ chen Einsickern in ein kulturell höherstehendes Volk – seine eigene Kultur zugunsten der höher entwickelten Kultur allmählich auf. Als Beispiele nenne ich die Übernahme der altindischen Kultur durch die einwandernden Āria sowie die Übernahme der su­ merischen Kultur durch die kriegerisch stärkeren Akkader.493 Manchmal entstand al­ lerdings aufgrund von kultureller Vermischung auch etwas Neues: Die unterschiedli­ chen Elemente blieben zwar vorhanden und auch sichtbar, fügten sich jedoch dem Neuen harmonisch ein (Interpenetration). Als Beispiele nenne ich aus dem Altertum die Verschmelzung der römischen mit Teilen der griechischen Kultur, woraus eine neue griechisch-römische Kultur hervorging; und aus dem Mittelalter die Begegnung zwischen der römischen und der germanischen Rechtskultur, woraus am Ende die deutsche Rechtskultur entstand.

Wie kann aber eine von der einheimischen Bevölkerung geforderte Akkulturation bzw. Enkulturation der Immigranten gelingen? Wichtigster Bestand­ teil ist das Erlernen der Sprache des Gastlandes; denn ohne Sprachkenntnisse wären die Immigranten notwendig isoliert geblieben. Doch allein das Spra­ cheerlernen genügt nicht. Die Immigranten müssen auch ihre mitgebrachten Fähigkeiten intellektueller oder handwerklicher Art nutzen können und dazu einen Zugang zum Wirtschaftsleben des Gastlandes finden, um sich dort in Konkurrenz mit den einheimischen Bürgern zu behaupten. Sie müssen ferner mit den Sitten und Gepflogenheiten des Gastlandes vertraut werden, um den Zugang zu den privaten Netzwerken (Gruppen und Vereinen) zu finden, die das gesellschaftliche Leben außerhalb von Schulen und Arbeitsstätten (mit) bestimmen. Lernen müssen sie insbesondere den Umgang mit dem anderen Geschlecht (Patriarchat oder Gleichberechtigung?), der stark von heimischen Sitten geprägt ist, die männlichen Immigranten darüber hinaus den Umgang mit der physischen Gewalt, die als Mittel der Durchsetzung durch das Ge­ waltmonopol der modernen Staaten nicht nur rechtlich, sondern aufgrund der 492  Ein Beispiel ist die Kultur der Roma und Sinti, die auch eigenes Recht hervor­ gebracht hat (dazu unten 3 f). 493  Vgl. oben G 2 α und G 1 α.



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höheren Bildung der einheimischen Bevölkerung auch sozial tabuisiert ist. Was schließlich die unterschiedliche Religion der einheimischen Bevölke­ rung und der Immigranten anbelangt, sind wechselseitige Bemühungen erfor­ derlich. Die religiösen Riten der Immigranten stoßen in der Öffentlichkeit beim intelligenteren Teil der Bevölkerung zwar auf Neugier und den Wunsch, ihre Bedeutung zu begreifen und ihren Sinn zu verstehen. Das geht in der Regel konfliktlos vonstatten – schon deshalb, weil viele Riten den Einheimi­ schen von Auslandsreisen her bekannt sind. Ordnungsprobleme entstehen dagegen, wenn die Riten mit den Sitten oder gar mit den Gesetzen des Gast­ landes kollidierten. Insoweit ist dann u. U. auch der Staat zu regelndem Ein­ schreiten aufgerufen. Was dagegen den dahinterstehenden Glauben anbelangt, sind die Probleme komplizierter. In den meisten Staaten ist die Freiheit des Glaubens in der Verfassung verankert (in Deutschland: Art. 4 GG). Die Un­ terschiede der Religionen bleiben daher im Verborgenen, wirken dort aber u. U. desto stärker als Stützen der eigenen Identität. Für die Akkulturation an die Gesellschaft eines Gaststaates ist es daher wichtig, dass die Immigranten einerseits die hier bestehende Glaubensfreiheit und andrerseits die kulturelle Bedeutung der Mehrheitsreligion sowie die Stärke ihres Gegensatzes zur ei­ genen Religion begreifen und verarbeiten. Beispiele: 1. In Großbritannien ist die Anglikanische Kirche ein Teil der Monar­ chie; der König (bzw. die Königin) ist nicht nur weltliches, sondern auch geistliches Oberhaupt. Da die Monarchie von der politischen Herrschaft getrennt und auf die symbolische Funktion der Identitätsstiftung beschränkt ist, darf die Kirche an dieser Funktion zwanglos teilhaben. Der englische Staat begegnet daher Immigranten mit anderer Religion tolerant und ohne Druck zur Assimilation, aber auch ohne Druck zur Integration in die vorherrschende Kultur. – 2. Anders verhält es sich in Frankreich. Dort hat sich der Staat seit der Revolution von 1789 von allen religiösen Bindungen verabschiedet. Doch ist an die Stelle des Katholizismus bzw. neben ihn der Republi­ kanismus als eine Art Staatsreligion getreten, für den der Glaube an die universelle Geltung von Menschen- und Bürgerrechten, an die Volkssouveränität und an die staatliche Verpflichtung auf das Gemeinwohl zentral sind und alle zusätzlichen Glau­ benssymbole aus dem öffentlichen Leben verdrängt haben. Von den Immigranten wird daher die Akkulturation an diese rein laizistische Kultur verlangt sowie ein Verzicht auf jede öffentliche Darstellung ihrer religiösen Konfession. – 3. In den USA teilt man den französischen Republikanismus, ohne ihm jedoch eine Monopolstellung im öffentlichen Leben wie in Frankreich einzuräumen. Vielmehr verbindet man ihn mit dem christlichen Glauben und bringt diese Verbindung auch öffentlich als einen wesentlichen Teil der gesellschaftlichen Kultur zum Ausdruck. Von nichtchristlichen Immigranten verlangt man daher, dass sie sich nicht nur zum Republikanismus, son­ dern auch zu den christlichen Tugendwerten bekennen, und stellt insbesondere die Muslime seit dem Anschlag von 2001 auf das World Trade Center in New York unter den Generalverdacht, Feinde der westlichen Welt und der in den USA geltenden Wer­ teordnung zu sein. Allerdings hat gerade diese Verdächtigung auch zu Bemühungen um eine verstärkte Akkulturation der (zahlenmäßig kleinen) muslimischen Gemein­ den in den USA geführt. – 4. In Deutschland ist zwar die Trennung zwischen Staat

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und Kirche vorherrschend; doch gesteht man den christlichen Kirchen und Wohl­ fahrtsverbänden von Staats wegen eine wichtige Funktion bei der gesellschaftlichen Integration auch der nichtchristlichen Minderheiten zu. Deshalb wird hier zurzeit eine heftige Debatte um den Charakter der gesellschaftlichen (!) Leitkultur geführt: ob und inwieweit das Christentum dazu gehört. Einerseits will man den kulturellen Anteil anderer Religionen an der hiesigen Kultur nicht leugnen oder auch nur herabmindern, andrerseits ist man sich aber bewusst, dass keine der anderen Religionen einen so langen und so tiefen Einfluss auf das hiesige kulturelle Leben ausgeübt hat wie das Christentum.

Infolge der hohen Zahl muslimischer Immigranten ist in den Industriestaa­ ten Europas deren stark lebensweltlich geprägte Religion stärker als je zuvor ins Bewusstsein der überwiegend christlichen Bevölkerung getreten. Deshalb hat sich stärker als je zuvor die Frage nach dem Verhältnis zwischen den muslimischen und den christlichen Religionen gestellt. Bei einem bloß parallelen Nebeneinander beider Religionen konnte es nicht bleiben. An seine Stelle musste – vor allem in Deutschland, wo die christlichen Kirchen an der gesellschaftlichen Integration der Bevölkerung beteiligt sind – ein vorsichti­ ges adjunktives Aufeinander-Zugehen treten, das u. a. Hilfe erhielt vom konjunktiven Miteinander der unterschiedlichen christlichen (orthodoxen, katho­ lischen und reformierten) Kirchen und zusätzlich befeuert wurde von führen­ den Persönlichkeiten aus den christlichen, jüdischen und muslimischen Glaubensgemeinden, welche die Gemeinsamkeiten stärker als die Gegensätze betonten. Daher scheint es, dass eine Annäherung der drei großen Religionen vielleicht den Anfang bildet eines evolutionären Prozesses, der einesteils auf einen vorhandenen Nährboden verweisen kann, weil in den seit längerem multireligiösen Staaten Europas (z. B. Rumänien) die Beziehung zu den Reli­ gionen mit dem Erleben ihrer Gemeinsamkeiten verbunden ist; und weil an­ dernteils die abnehmenden Religiosität der meisten Menschen, insbesondere innerhalb der gebildeten Schichten, dem Betonen einer eher indifferent reli­ giösen Moralität zugute kommt. Beide Gründe haben jedenfalls bisher nicht nur zu einer verstärkten Zusammenarbeit der Kirchen bei allgemein-humani­ tären Aufgaben geführt, sondern sich auch in einer generellen Verstärkung des humanitären Engagements ausgewirkt. Ob die Entwicklung darüber hinaus (vielleicht in ferner Zukunft) zu einer Vereini­ gung nicht nur der christlichen Kirchen, sondern auch der christlichen mit den ande­ ren derzeit bestehenden Offenbarungsreligionen führen wird – vielleicht mit Bezug auf den einen Gott als eine (unpersönliche, aber personbezogene) transzendente Macht –, lässt sich wie jede andere evolutionäre Entwicklung nicht vorhersagen.494 Das gegenwärtig schon existierende Bahā’ítum wäre dann eine erste, wenngleich 494  Für Buddhismus und Hinduismus ist der Anschluss schwieriger, weil beide Religionen zwar eine transzendente Macht voraussetzen, aber diese nicht in einem Gott vereint sehen.



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noch unvollkommene, Vorprägung einer solchen Gemeinschaft.495 Jedenfalls könnte und sollte die Entwicklung begleitet werden von der wohlwollenden religiösen Neu­ tralität des Staates, aber auch von seinem Wunsch nach Sichtbarkeit des Religiösen im Alltag – als ein Ausdruck jener metaphysischen Verankerung des menschlichen Lebens, die u. a. auch die staatliche Rechtsordnung legitimiert. Als Alternative dazu hat sich seit der Aufklärung eine allein humanistische Geis­ tesrichtung entwickelt. Sie stützt sich auf anthropologische Grundannahmen, die sie auch in den modernen Staatsverfassungen vorzufinden meint. Aus dem religiösen Bereich fällt sie heraus, weil sie ohne den Bezug auf eine transzendente Macht aus­ kommt. Soweit ihre Vertreter sie dennoch als „Zivilreligion“ bezeichnen und damit dem religiösen Bereich zuordnen, sehen sie sich zwar der Aufgabe enthoben, religiö­ se und politische Ordnung einander anzupassen, da für sie die Verfassung eines Staa­ tes auch seine soziale Werteordnung konstituiert. Doch geraten sie in Schwierigkeiten, wenn Konflikte um die Richtigkeit der verfassungsrechtlichen Werteordnung entste­ hen.496 Sie verweisen die Lösung der Konflikte dann an die öffentliche Diskussion zwischen den Staatsbürgern, jedoch ohne garantieren zu können, dass diese Diskussi­ on nicht in einer Entscheidung für ‚wahre‘ metaphysische Werte der Menschheit und in der Unduldsamkeit gegen andere ‚wahre‘ Werte endet.497

(γ) Wirtschaftliche Veränderungen. Der wirtschaftliche Aufschwung, der im 19. Jh. vor allem von Europa und Nordamerika ausging, sich seit Mitte des 20. Jh.s internationalisierte und nochmals beschleunigte, hat eine zuvor unbekannte Fülle neuer technischer Produkte, aber auch neuer Mittel und Methoden ihrer Produktion und ihres Absatzes hervorgebracht. Weniger im Vordergrund, aber genauso wichtig waren neue Formen der Organisation, welche die Produktionsabläufe aufeinander abstimmten, sie zergliederten und so weit rationalisierten, dass immer mehr Teile davon maschinell ausgeführt werden konnten. Getragen wurden all diese Entwicklungen von neuen Tech­ nologien, deren Verbreitung es zugutekam, dass sie sich ständig vereinfach­ ten und dadurch verbilligten. Ich beschränke mich auf zwei Beispiele: Den wohl wichtigsten Beitrag leistete die Informationstechnologie. Weder ist die heutige Massengesellschaft ohne sie vorstellbar noch die heutige Wirt­ schaft, die durch Massenfertigung von Gütern Massenbedürfnisse befriedigt. Als Kostenfaktor für ihre Einführung fiel lediglich der Ausbau von Datennet­ 495  Das Bahā‘ítum hat gegenwärtig von allen Religionen den höchsten Zulauf an Gläubigen. Es besitzt enge Verwandtschaft mit dem Islam und hat seinen Ursprung auch in dessen Bereich, nämlich im Iran. In Deutschland ist die Bahāi-Gemeinde als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt. 496  Man denke an das Plädoyer von R. Münch (2010, S. 153 ff. m. w. Nachw.) für das Tugendbild eines „Marktbürgers“, der vom europäischen Markt geprägt wird. 497  Zu diskursiven Tests von Wertsystemen vgl R. Döbert (1997), S.  77 ff. M. E. nicht überzeugend M. Baurmann (2004), S. 174: „Nicht das demokratische Entschei­ dungsverfahren als solches garantiert moralisch wünschenswerte Ergebnisse, sondern erst [?] die intrinsische Motivation der Beteiligten, eine moralisch wünschenswerte Lösung zu finden. Moral ist kein Produkt, sondern die Grundlage der Demokratie.“

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zen an (zuerst in Gestalt von Leitungskabeln, später hauptsächlich von Sende- und Empfangsstationen). Bezahlt wurde der Ausbau überwiegend von der Lieferindustrie, die anschließend vom Informationsaustausch verdienen wollte. Was danach noch an Kosten übrig blieb, beschränkte sich vor allem auf die Anschaffung der Telekommunikationsgeräte (z. B. Telefon, Kamera, Smartphone), war aber infolge der massenhaften Produktion preisgünstig und daher leicht zu vermarkten. Einzelheiten: Die technisch vermittelte Kommunikation begann – sieht man von Trommelzeichen und Fahnen in vorhistorischer Zeit und der Brieftaubenpost im his­ torischen Altertum498 ab – mit der Erfindung des Telefons im Jahre 1876. Ihre Ent­ wicklung nahm einen typischen, nämlich erst langsamen, dann immer schnelleren, Verlauf, bei dem (vergleichbar dem Verlauf der biotischen Evolution)499 kulturelle Kräfte im Menschen und Anreizbedingungen aus der (hier: sozialen) Umwelt in die gleiche Richtung wirkten. Vorantreibend waren insbesondere das lebhafte Interesse der heranwachsenden Generationen an technischen Neuerungen sowie das Bestreben der Industrie, diesem Interesse durch eine unablässige Folge von Neuerungen Nah­ rung zu geben. Höhepunkt des Ausbaus der zunächst nationalen, später internationalen Netzver­ bindungen war in der Mitte des 19. Jh.s die Verlegung des ersten Transatlantikkabels von Europa nach Amerika. Der Startschuss für die weitere Entwicklung fiel etwa hundert Jahre später in Gestalt des Wechsels vom stationären zum mobilen Sektor der Telekommunikation. An dessen Anfang standen mobile Telefonapparate (‚Handys‘), die zunächst allein der sprachlichen Kommunikation dienten, sehr bald jedoch mit weiteren Funktionen bestückt wurden. Sie hießen dann Smartphones und ermöglich­ ten insbesondere die Verbindung zum Internet mit der Möglichkeit eines weltweiten Austausches von Daten und Texten und der Gründung von internationalen Communities. Heute vereinen sie darüber hinaus eine Kommunikationszentrale (Telefon, Video-­ Telefon, Sende- und Empfangsstation für schriftliche Nachrichten [E-Mail, SMS etc.]), einen ‚personal information manager‘ (Adressbuch, Terminkalender, Notizblock, Aufgabenliste) und einen Taschencomputer (für Textverarbeitung, Re­ chenaufgaben usw.), manchmal auch Radio, Mediaplayer, Bildbetrachter, Kamera, Naviga­tionssystem und Spielkonsole – dies alles auf kleinstem Raum, bequem in der Tasche oder im Beutel zu tragen. Im Haus installierte Kameras erlauben überdies, das Geschehen dort von unterwegs zu verfolgen: die Kinder zu beaufsichtigen, die Besu­ cher des Ehepartners zu identifizieren, den Dieb beim Einbruch zu ertappen, usf.

498  Brieftauben wurden im antiken Griechenland benutzt, um so schnell wie mög­ lich die Namen der Sieger bei den Olympischen Spielen nach Athen zu übermitteln. 499  Aus dem Bereich der biologischen Evolution sind vergleichbar der Landgang der Pflanzen und Tiere nebst ihrer Ausbreitung bis in die letzten Winkel eines mögli­ chen Lebensraumes sowie das Wachstum der Erdbevölkerung von ca. 15.000 auf heute 7 Milliarden. Explosiven Entwicklungsphasen bei dem größeren Teil der Orga­ nismen stehen bei einem kleineren Teil allerdings Verlangsamungen gegenüber, die sogar zu einem Entwicklungsstillstand führen konnten. Vgl. dazu F. Wuketits (1989), S.  83 ff.



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Die Entwicklung einer leistungsfähigen Informationstechnologie war für das – im Übrigen sich selbst tragende – Wirtschaftswachstum deshalb so wichtig, weil sie zum einen international bedeutenden Unternehmen ermög­ lichte, außer mit ihren Produkten virtuell auch persönlich überall präsent zu sein und für Kommunikationen zur Verfügung zu stehen, und weil sie zum anderen das Entstehen riesiger digitaler Märkte ermöglichte, auf denen Wa­ ren aller Art, Zugänge zu Dienstleistungen und Infrastruktur, ferner Aktien, Währungen u. a. m. angeboten wurden. Diese Märkte waren grundsätzlich für jedermann zugänglich, doch wurde der Zugang zu ihnen von wenigen Inter­ netkonzernen (Amazon, Ebay, Facebook, Google sowie ihren chinesischen Konkurrenten Alibaba und Tencent) beherrscht und Anbietern grundsätzlich nur gegen ein Entgelt gestattet. Auf den Märkten übten diese Konzerne eine Informations-, Leistungs- und Preiskontrolle aus, sodass die übliche Markt­ freiheit und das hierauf beruhende Wirken spontaner Ordnungskräfte zwar nicht ausgeschaltet, wohl aber begrenzt wurde, weil keine Ausweichmöglich­ keit bestand. Da die Waren nicht unmittelbar erschienen, sondern durch Bil­ der und Beschreibungen vertreten wurden und für gegenwärtige oder zukünf­ tige Abschlüsse auch nur in dieser Gestalt zur Verfügung standen, waren die Märkte im höchsten Grade effizient. Abschlüsse auf ihnen kamen teils auf­ grund von Auktionen zustande, wenn es sich um einmalige oder zwar gän­ gige Waren handelte, die aber bestmöglich verkauft werden sollten, teils lag ihnen ein sofortiger Kaufabschluss zugrunde, der meistens zustande kam, nachdem der Käufer die Wahl zwischen mehreren Anbietern und unterschied­ lichen Angebotskonditionen hatte. Für die berufliche Praxis gewann die Informationstechnologie weniger auf den unteren Ebenen an Bedeutung, wo für die (fach-)handwerkliche und die normale Büroarbeit neben gelegentlichen telefonischen vor allem die face-toface-Kontakte wichtig blieben, als vielmehr auf den höheren (Leitungs-) Ebenen, wo sie ermöglichte, dass sowohl telefonisch als auch visuell ständig Informationen abgefragt und diese, falls sie wichtig waren, technisch verar­ beitet, vervielfältigt und verbreitet werden konnten. Hierauf musste die Füh­ rungsspitze eines Unternehmens den meisten Wert legen, weil alle relevanten Informationen bei ihr zusammenlaufen und von ihr ausgewertet werden mussten; denn nur auf dieser Grundlage war sie in der Lage, eine in sich stimmige Unternehmenspolitik zu planen und umzusetzen. Neben der schnellen Information war ein weiterer Schrittmacher der wirt­ schaftlichen Entwicklung die erhöhte Mobilität innerhalb aller Lebensberei­ che, die daher als zweites Beispiel genannt werden muss. Die lokale Mobili­ tät wurde national seit dem 19. Jh. durch den Eisenbahnverkehr revolutio­ niert, indem neue Trassen gebaut, die Geschwindigkeit der Züge erhöht und die Fahrpläne getaktet wurden. International ersetzte bald der schnellere Flugverkehr die Eisenbahn, weshalb immer größere Flughäfen für den Mas­

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senbetrieb entstanden. Für den individuellen Verkehr wurde zusätzlich das Straßennetz so ausgebaut, dass es den ständigen Anstieg der Automobilität aufnehmen konnte. Am Ende war ein Zustand erreicht oder in greifbare Nähe gerückt, der Geschäftspartnern jederzeit ein kurzfristiges persönliches Zu­ sammentreffen gestattete, der aber auch Urlauber mit Sack und Pack direkt zu ihren Ferienzielen transportierte und vermögenden Kunden einen kurzen Einkaufstrip ins Ausland ermöglichte. Ähnlich wichtig war der Ausbau der internationalen Transportwege für Waren und Dienstleistungen. Während im 18. Und 19. Jh. Waren noch vor allem aus den eigenen Kolonien in den Kolonialwarenläden der Mutterländer feilgeboten wurden, quollen seit Mitte des 20. Jh.s nahezu sämtliche heimatlichen Läden über von Waren aus aller Welt. Zusätzlich unterstützt wurde diese Entwicklung durch den Abbau von Zoll­ schranken und durch die Aufhebung von Ex- und Importverboten, von Investitionsbe­ schränkungen und von staatlichen Monopolen sowie last but not least von einem in­ ternationalen System frei konvertierbarer Währungen. Mittelbar war ihr die Weltläu­ figkeit (im wörtlichen Sinne) der Verbraucher förderlich; denn häufige Auslandsurlau­ be machten sie mit Produkten aus aller Herren Ländern bekannt, deren Besitz, Genuss oder Erinnerung sie auch danach in der Enge der heimatlichen Verhältnisse nicht missen mochten.

Zur lokalen Mobilität kam die soziale Mobilität hinzu. Söhne erbten nicht mehr automatisch den sozialen Status ihrer Väter, sondern strebten teils nach höheren Weihen, teils sanken sie auf ein niedrigeres Niveau herab. Dem Werdegang der Töchter war dagegen der Weg nach oben vorgezeichnet: Füll­ ten sie im 19. Jh. noch als einfache Arbeiterinnen die Fabriken, so eroberten sie in der ersten Hälfte des 20. Jh.s Stellungen in den Büros, und seit etwa der Mitte des 20 Jh.s. konnten sie grundsätzlich sämtliche Positionen errei­ chen, die ursprünglich den Männern vorbehalten waren. Als Folge der sowohl lokalen als auch sozialen Mobilität verloren viele soziale Strukturen und Werte ihre Binnenhaftigkeit: Nur ein kleiner Teil der Erwerbstätigen arbeitete noch lebenslänglich am selben Arbeitsplatz; Be­ triebswechsel, Jobwechsel und ein damit verbundener Wohnortswechsel wurden üblich. Dadurch nahm einerseits die Verstädterung der Bevölkerung immer stärker zu und verdichteten sich die sozialen Beziehungen; andrerseits zog es viele Menschen aufs Land, weil dort das Wohnen billiger war, der berufsbedingte Zusammenhalt sich zwar lockerte, aber durch neue technische Kontakten ergänzt werden konnte. (δ) Umweltveränderungen. Eng verbunden mit der lokalen Mobilität der heutigen Menschen ist ihre psychische Mobilität. Während die meisten Lebe­ wesen in einer eng begrenzten Umwelt leben müssen, der sie genauestens angepasst sind, weitet sich die Umwelt für Lebewesen aus, die sich leicht auf Umweltveränderungen einstellen können. Noch stärker gilt das für Lebewe­ sen, die ihre Umwelt selber zu gestalten vermögen: für einige der höheren



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Wirbeltiere und der Insekten. Wiederum weit an der Spitze aber steht der Mensch, da er die Natur nicht nur ausgestalten, sondern auch umgestalten, nämlich ihr das Natürliche nehmen und dafür das Künstliche bzw. im höhe­ ren Sinne Künstlerische geben kann. Allerdings belastet ihn seine Freiheit mit Verantwortung, da die Natur auf Vergewaltigungen, welch höherem Zweck sie auch immer dienen mögen, ablehnend reagiert und damit die Grenzen ihrer Veränderbarkeit aufzeigt. Umweltveränderungen kann der Mensch also nicht beliebig erzeugen. Bisher hat die Natur sich jedes Mal gerächt, wenn der Mensch seine Abhängigkeit von ihr vollends abzustreifen versuchte. So schloss er in der Antike durch den Bau von Städten Wechselwirkungen zwischen seiner Lebensweise und den Naturgewalten zwar weitgehend aus. Gleichzeitig aber lieferte er die Grundlage dafür, dass Seuchen ihn heimsuchten. Weil nämlich menschlicher und tierischer Kot in den Städten nicht abgebaut wurde, liefen stinkende Abwässer die Straßen entlang, belästigte Ungeziefer die Bewohner und verbreiteten sich Krankheiten. Lange Zeit nahm der Mensch das hin. Doch als im Mittelalter verunreinigte Bäche und Flüsse sowie Abfallablagerun­ gen tödliche Pest- und Choleraepidemien hervorriefen, als Tausende starben und am Ende ganze Landstriche entvölkert waren, erkannte er, dass er nicht gegen die Natur leben durfte, sondern nur im Austausch mit ihr. Allerdings ersetzte er in der Folgezeit nur das eine Übel durch ein anderes, und die Szenarien wiederholten sich: Als im 13. Jh. innerhalb der Städte der von den Kohleheizungen erzeugte Feinstaub nicht nur belästigend wirkte, sondern sich (etwa in London) zum Ärgernis entwickelte, musste die Verbrennung minderwertiger Kohle verboten werden. Und als im 21. Jh. die Ab­ gase der Automobile dasselbe Ärgernis erzeugten, musste wiederum der Staat eingrei­ fen und das Fahren mit minderwertigen Verbrennungsmotoren untersagen.

Heute werden die meisten Umweltveränderungen und damit auch die meisten Schäden an der Natur von industriellen Entwicklungen verursacht, die der Menschheit die Arbeit erleichtern. Da die Entwicklungen nahezu ir­ reversibel sind, muss die Menschheit die Umwelt wenigstens vor ihren Fol­ gen schützen. Einblicke in bereits verödete oder verpestete Landschaften und die Erkenntnis, dass auch Wasser und Luft in weiten Bereichen des Planeten mit Müll und Pestiziden überladen sind, haben das Bewusstsein für ein Um­ denken geschärft und etwas, was theoretisch längst Allgemeingut war, auch praktisch zum Allgemeingut werden lassen: dass die Menschheit das Gleich­ gewicht zwischen Zivilisation und Natur erhalten und dort, wo es verloren gegangen ist, dringend wiederherstellen muss. Denn während die Natur keine Verantwortung für den Erhalt der Menschheit trägt, trägt die Menschheit Verantwortung für den Erhalt der Natur. Sie darf folglich die Natur nicht unter die Bedingung der Zivilisationsverträglichkeit, sondern sie muss die Zivilisation unter das Postulat der Umweltverträglichkeit stellen. Und schon allein aus utilitaristischen Gründen muss sie den Regierungen aufgeben, die ökologisch erforderlichen Maßnahmen für den Naturschutz zu erarbeiten, die ökonomischen Kosten für deren Umsetzung bereitzustellen und die Aufga­

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ben, die zum Erhalt einer erlebenswerten Natur weltweit sinnvoll und staats­ übergreifend notwendig sind, unter die Staaten aufzuteilen und zu vollziehen. (ε) Psychische Veränderungen als Antwort auf Veränderungen der natür­ lichen Umwelt haben meistens einen nur unsichtbaren Einfluss auf die Ord­ nung des sozialen Lebens. Dagegen werden psychische Veränderungen als Antwort auf Veränderungen des sozialen Umfelds schnell bemerkt, weil sie das Bedürfnis nach einer Erneuerung der Ordnung und rechtlicher Festigung vorantreiben. Der erste große Erneuerungsbedarf ergab sich innerhalb der Antike, als die Erfindung der Schrift das allgemeine Bildungsniveau anhob und die Einrich­ tung von Schulen zur Ergänzung und Vereinheitlichung der häuslichen Erzie­ hung des Nachwuchses erforderlich machte. Im Mittelalter führten monothe­ istische Religionen zu einer bisher unbekannten Verinnerlichung auch des sozialen Lebens und Erlebens. Und in der Neuzeit, auf die ich mich jetzt konzentriere, begründete das Erwachen eines starken politischen Bewusst­ seins angesichts der Entstehung von souveränen Nationalstaaten das Entste­ hen auch einer souveränen Bürgerschaft. Ob für die Entstehung der National­ staaten selbst ein zunächst erwachendes Souveränitätsbewusstsein der Bürger die Grundlage war oder ob umgekehrt die Nationalstaaten das Souveränitäts­ bewusstsein der Bürger erst erwachen ließen, wird sich kaum feststellen las­ sen; wahrscheinlich wirkten, wie so oft, äußere Realität und inneres Be­ wusstsein spiegelnd aufeinander ein und verstärkten sich wechselseitig. Wichtiger ist darum das Resultat: Sowohl die Nationalstaaten als auch ihre Bürger entwickelten sich zu systemischen Einheiten, die im Verhältnis zuei­ nander einen hohen Grad an Autonomie in Anspruch nahmen, trotz Autono­ mie aber sich ihrer wechselseitigen Abhängigkeit bewusst blieben.500 Und weil somit staatliche Realität und politisches Bewusstsein sich parallel entwi­ ckelten, konnten die Bürger sich einerseits mit ihrem Nationalstaat identifi­ zieren, andrerseits aber auch erwarten, dass ihr Nationalstaat sich mit ihnen identifiziert – dass er somit liberal genug ist, um sie in ihrer Entwicklung zur Autonomie nicht zu behindern. Seit der Französischen Revolution hat das Gefühl, selbstbestimmt in einem liberalen Staat zu leben, die Bürger − zumindest in den ‚westlichen‘ Ländern, auf die sich die folgenden Ausführungen beziehen501 – mehr als ein Jahrhun­ 500  N. Elias (1976), S. LXVII: „An die Stelle des Bildes vom Menschen als einer ‚geschlossenen Persönlichkeit‘ … tritt das Bild des Menschen als einer ‚offenen Per­ sönlichkeit‘, die im Verhältnis zu anderen Menschen einen höheren oder geringeren Grad von relativer Autonomie, aber niemals absolute und totale Autonomie besitzt, die … von anderen Menschen abhängig ist.“ 501  Für eine weltweit gültige Analyse fehlen Vorarbeiten (oder sind mir jedenfalls unbekannt). Es lassen sich größere Entwicklungsdifferenzen vermuten, aber nicht nachweisen.



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dert lang berauscht und die Staatsgewalt nicht nur beschränkt, sondern auch gefestigt.502 Danach war der Rausch freilich verflogen, und spätestens nach zwei Weltkriegen auch die Stärke der staatlichen und der persönlichen Auto­ nomie. An ihre Stelle trat einerseits die Tendenz zu immer größeren politi­ sche Einheiten, in denen politische Macht sich zentriert, andrerseits die Tendenz zu immer kleineren Gruppen, denen der einzelne Bürger sich zuge­ hörig fühlt.503 Denn was den staatlichen Systemen nicht oder nur halbherzig gelang, nämlich die Ausbildung übernationaler (beispielsweise europäischer) Realitäten, das gelang mit Leichtigkeit den kleineren Gruppen: die Ausbil­ dung eines spezifischen Wir-Gefühls – bezogen entweder auf eine gleiche blutmäßige Abstammung, auf ein gleiches religiöses Bekenntnis, auf eine gleiche historische Tradition oder auf eine andere Gemeinsamkeit. Nach außen zeigte sich die Gefühlsentwicklung einerseits im Drang nach nicht nur völkischer, sondern auch staatlicher Separation (Basken, Katalo­ nier, Schotten, Kroaten, Slowaken, Moldawier, Abchasen u. a.), andrerseits in der Gründung neuer Parteien, religiöser Sekten, Künstlergruppen.504 Wurzeln für diesen Drang waren offenbar genetische Restbestände, die sich über Jahr­ tausende hinweg in blut-, bekenntnis- und traditionsmäßig verbundenen Ge­ sellschaften und ihren Untergruppierungen erhalten hatten. Da allerdings in der Evolution nichts identisch wiederkehrt, trat an die Stelle des Blut-, Be­ kenntnis- und Traditionsgemäßen jetzt das Willensmäßige. Man entschied sich willentlich, welcher politischen oder weltanschaulichen Gruppierung man sich anschließt, und man sah darin vor allem einen Akt der Selbstver­ wirklichung. Man identifizierte sich beispielsweise statt als Spanier als Baske, statt als Pole als Schlesier, statt als Christ als Mitglied einer freich­ ristlichen Gemeinde, statt als Angestellter als Opelaner, statt als Fußball-Fan als Fan von Werder Bremen oder Real Madrid usf., und man tat dies nicht etwa deshalb, weil man zufällig in Bilbao oder Oppeln geboren und aufge­ wachsen war, weil man durch Erziehung das freichristliche Bekenntnis seiner Eltern übernommen hatte, weil man unter dem Einfluss seines Vaters im selben Unternehmen arbeitete wie er oder weil man einen der Fußballspieler

502  Freudig verkündet etwa von F. Schiller in seinem „Lied von der Glocke“: „Heil’ge Ordnung, segensreiche Himmelstochter, die das Gleiche frei und leicht und freudig bindet, die der Städte Bau gegründet … und das teuerste der Bande wob, den Trieb zum Vaterlande!“ 503  Die Europäische Union hat diesen Konflikt durch eine Mischung aus Vergan­ genheitsbewältigung, Pathos und politischem Zwang zu überspielen versucht. Zum Verschwinden bringen konnte sie ihn nicht. 504  Allgemein: DADAisten, Futuristen u. a.; speziell Maler: Nazarener, Die Brü­ cke, Schule von Barbizon, Der Blaue Reiter u. a., Literaten: P.E.N.-Club, MAERZ, Turmschreiber u. a., Komponisten: Mächtiges Häuflein, Zwölftonkomponisten u. a.

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von der Schule her kannte, sondern weil man dem gleichen wollte, was man selbstbestimmt zu seinem Leitbild erwählt hatte. Das alles war indessen nicht ganz neu. Denn Identifizierungsprozesse teils ganzer Völker, teils Einzelner hatte es innerhalb der Menschheitsgeschichte in Schüben schon öfters gegeben. Im frühen Altertum verhalf beispielsweise die Begegnung mit dem göttlichen Gesetz dem jüdischen Volk zum Bewusstsein einer speziellen sittli­ chen Aufgabe; später trat als Frucht der fortschreitenden Individualisierung der Ein­ zelne (Jeremias, Ezechiel, Jesus) als Träger eines sittlichen Auftrags in den Vorder­ grund. Im Mittelalter lehrte die christliche Kirche, dass die Sünde Adams sich der ganzen Menschheit vererbt habe, und erreichte dadurch, dass ganz Europa sich zu christlichem Glauben und zu Spenden an die Kirche verpflichtet fühlte; später trat abermals als Frucht der Individualisierung der Einzelne in den Vordergrund, der sich vor Gott für sein Sosein rechtfertigen muss. Und in der Neuzeit schließlich bean­ spruchten zunächst die Staaten eine eigene Rechtspersönlichkeit; dann aber machten die Individuen ihre Menschen- und Bürgerrechte zur Grundlage der Staatsverfassun­ gen und trugen damit den Individualisierungsschub in die Ausgestaltung der staatli­ chen Rechtsordnungen hinein.505

Das Wir-Gefühl, das − scheinbar paradox ‒ als Nebenzweig aus der psy­ chischen Tendenz zur Selbstbestimmung erwuchs, formte nicht nur Gruppen Gleichgesinnter, sondern auch Nachbargruppen Ähnlichgesinnter. Räumliche Nähe und geistige Ähnlichkeit wirkten dabei zusammen und ließen sogar über nationale Grenzen hinweg Gefühle der Zusammengehörigkeit keimen. Dank der verbesserten Kommunikationschancen konnte es dann zu (meist kurzlebigen) religiösen oder weltanschaulichen Massenbewegungen kom­ men, die ihre Abgrenzung und gleichzeitig Daseinsberechtigung in der Geg­ nerschaft zu Menschen fanden, die entweder sich äußerlich durch Hautfarbe, Gesichtszuschnitt (Lippen, Nase, Augen), Tätowierung oder Kleidung oder innerlich durch politische Überzeugungen, religiösen Glauben oder den Be­ zug auf Idole unterschieden; oder die räumlich fern waren und von denen man deshalb annahm, dass auch kulturelle Gräben sie trennten, weshalb Missachtung und Abneigung sich darin ablagern konnten.506 Ebenfalls geschwächt durch die Tendenz zur individuellen Selbstverwirk­ lichung, aber nicht ernsthaft gefährdet, blieb lediglich der Zusammenhalt in­ 505  Dabei blieb seltsamerweise zunächst unklar, ob nur Männern oder auch Frauen ein subjektives Recht zur Individualität gewährt werden sollte. Vgl. dazu die Äuße­ rung des Abbé Sieyès in der französischen Nationalversammlung, dass nur Männer die volle („aktive“) Rechtsposition erlangen sollten, während Frauen „ne doivent point influer activement sur la chose publique“ (zitiert nach W. Schmale, 2001, S. 250). 506  Dies scheint ein allgemeingültiges menschliches Vorurteil zu sein. Schon Herodot berichtet es von den Persern (Historien I, 134): „Am wenigsten gelten ihnen die Völker, die am entferntesten wohnen. Sie sind eben der Überzeugung, sie selbst seien die weitaus besten von allen Menschen, die andern hielten es entsprechend ihrer Ent­ fernung mit der Tüchtigkeit, die von ihnen fernsten aber seien die geringsten.“



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nerhalb der Familien. Deren radikale Verurteilung durch gewisse ‚linke‘ Strömungen in der Gesellschaft der 1960er Jahre schadeten ihrem Zusam­ menhalt ebenso wenig wie die sexuelle Emanzipation der Frauen in den 1970er Jahren. Zwar entstand vielerorts ein neues Ehegatten- und Elternrecht, das jedem die Freiheit zur Scheidung von seiner Familie und bis zu einem gewissen Grade auch von seinen familiären Verpflichtungen gestattete. Und viele versuchten daraufhin, sich als modernen Ersatz ein eigenes familien­ ähnliches Gebilde (neue Ehe- oder Lebens[abschnitts]partner mit Stiefkin­ dern, Stiefeltern, Verwandten und Exverwandten) zusammenzubasteln. Doch die Sehnsucht nach der überkommenen festen und dauerhaften Bindung blieb regelmäßig bestehen und war zumindest das Ideal, das, obwohl nicht erreich­ bar, als erstrebenswert galt. Selbst die große romantische Liebe des 19. Jh.s wurde in den Kino- und Fernsehfilmen des 20. Jh.s noch glorifiziert – wohl­ weislich allerdings nur bis zum Einlauf in den Hafen der Ehe. Die radikale Befreiung des Menschen zwecks Entfesselung seiner Einzigartigkeit erwies sich indes regelmäßig als ein illusionäres Unterfangen, das am Ende im Kauf von aktuell beworbenen Markenartikeln oder in der eigenen Bloßstellung in einem öffentlichen Kommunikationskanal (jedoch ohne die sehnlich ge­ wünschte Anteilnahme) verendete. (ζ) Verwissenschaftlichung, technisch/technologische Revolution. Psychi­ sche Voraussetzung für die Gewinnung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse war das allgemeine Interesse an Gesetzen, die die Welt einerseits bewegen und andererseits zusammenhalten. Psychische Voraussetzung für die soziale Bedeutung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse war das allgemeine Inter­ esse am Nutzen, den sie für die praktischen Probleme des Lebens mit sich bringen. Beide Interessensphären wuchsen seit Beginn der Aufklärung sprunghaft an. Ein lebhaftes Interesse für die Naturgesetze gab es zwar schon im Altertum vor allem in Ägypten, Mesopotamien und Griechenland.507 Im Mittelalter verlagerte sich 507  Die Evolution technischer Erkenntnisse geht allerdings bis zum Beginn der Menschheit zurück. Denn es war vor allem die Benutzung technischer Werkzeuge, welche die Menschen von Veränderungen ihrer Umwelt unabhängig machten und ih­ nen das Überleben unter veränderten Verhältnissen gestatteten. Als beispielsweise das Klima in Afrika heißer wurde und die Bäume daraufhin ihre Nüsse vor dem Aus­ trocknen durch härtere Schalen schützten, bildete ein Teil der damals lebenden Men­ schen entsprechend stärkere Kiefer aus, um die Nüsse zu knacken. Ein anderer Teil dagegen benutzte Steine, um die Nussschalen aufzuschlagen. Es überlebten nicht die Nussknacker, sondern die Werkzeugbenutzer. Später waren es vor allem die Ma­ terialien, aus denen Werkzeuge hergestellt wurden, die den Fortschritt der Menschheit dokumentierten. Steinwerkzeuge waren die ersten, Bronzewerkzeuge folgten danach und wurden wiederum von Eisenwerkzeugen abgelöst. Diese Entwicklung war nicht nur linear und irreversibel, sondern darüber hinaus so maßstäblich, dass wir heute die ‚Steinzeit‘ von der ‚Bronzezeit‘ und diese wiederum von der ‚Eisenzeit‘ abgrenzen.

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jedoch der Schwerpunkt des Interesses auf die religiösen Lehren für ein gottgefälliges Leben, und erst in der Neuzeit entfaltete sich in England und Frankreich wieder eine rege naturwissenschaftliche Forschung, die diesen Namen verdient. Ausdrücklich konstatierte im 17. Jh. Francis Bacon das allgemeine Interesse daran und wies gleich­ zeitig auf den praktischen Nutzen hin, der sie rechtfertigt.508 Einen Höhepunkt er­ reichte die Forschung dann Mitte des 18. Jh.s in der Herausgabe einer Enzyklopädie der Wissenschaften von d’Alembert und Diderot, worin das bis dahin angesammelte Wissen der Öffentlichkeit systematisch zugänglich gemacht wurde. Und in der Folge hatte in ganz Westeuropa niemand mehr einen ernsten Zweifel, dass von allen Er­ kenntnissen den naturwissenschaftlichen der größte Nutzen zukommt. Deshalb wurde seit dem 19. Jh. auch die Umsetzung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse in in­ dustrielle Fertigung vor allem in Westeuropa vorangetrieben und verbreitete sich von hier aus in die übrige Welt.

Die Veränderungen, welche die ‚technisch/technologische Revolution‘ (wie man sie seit ihrer Entwicklung im 19. Jh. nennen darf) mit sich brachte, er­ streckte sich auf alle Ebenen des menschlichen Lebens. Man kann daher in ihnen eine technisch/technologisch initiierte und fundierte ‚Kulturrevolution‘ erkennen. Im Individualbereich veränderte die Verwendung technischer Mittel und Methoden die Arbeitsbedingungen und die Arbeitsabläufe: Die Prozesse der menschlichen Ar­ beit wurden entweder technisch nachgeahmt bzw. verstärkt oder durch technische Prozesse ersetzt. Teilweise knüpfte die Entwicklung dabei zwar an Entwicklungen im Altertum an, als der Pflug die Hacke, der Wagen die Trage ersetzte. Jetzt trat jedoch hinzu, dass die Handarbeit nicht nur durch neue Techniken und neue Werkzeuge er­ leichtert wurde, sondern dass menschlicher Muskelkraft durch den Einsatz von elek­ trischen509 Antriebssystemen auch verstärkt oder ersetzt werden konnte. Darüber hin­ aus wurde es möglich, bisher den Tieren vorbehaltene Verhaltensweisen technisch nachzuahmen: mittels Kraftwagen die rasche Fortbewegung auf der Erde, mittels Flugzeugen die Fortbewegung in der Luft, mittels Motorbooten das Schwimmen auf und unter dem Wasser. Und schließlich wurden nicht nur einzelne Funktionen menschlicher Handlungen, sondern auch ganze Funktionsabläufe automatisiert und durch den Einsatz von Maschinen ersetzt, wodurch die industrielle Produktion von Waren einen vorher unbekannten Grad an Schnelligkeit und Präzision erreichte. Le­ diglich die Befehlsgewalt über die Maschinen blieb anfangs noch in menschlicher Hand; doch übergab man schließlich auch sie an die Maschinen, sodass der Mensch davon einerseits entlastet, von der Zuverlässigkeit der Maschienen andererseits ab­ hängig wurde. In letzter Konsequenz verselbstständigten sich also die Maschinen: Sie wurden zu Robotern, und die neueste Forschung ist bemüht, jeden noch verbleiben­ den Rest an menschlichem Einfluss auf ihre Programme überflüssig zu machen oder gar auszuschließen. 508  F. Bacon, Instauratio magna, bes. Bd. I (De dignitate et augmentis scientiaru) und Bd. III/1 (Historia naturalis et experimentalis), London 1622. 509  Der vom griechischen Wort ἤλεκτρον (= Bernstein) abgeleitete Begriff weist allerdings darauf hin, dass bereits der Antike die elektrische Aufladung des Bernsteins sowie vermutlich weitere elektrische Phänomene bekannt waren.



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Im sozialen Bereich wurde die Befehlsgewalt über die auch hier eingesetzten Ma­ schinen von den Verwaltungsbehörden so weitgehend programmiert und zentralisiert, dass beispielsweise der Straßenverkehr einer ganzen Stadt durch den Druck auf einen einzigen Schalter von Verkehrsampeln gesteuert und die Steuerung überdies ‚intelli­ gent‘ am jeweiligen Zustand des Verkehrs ausgerichtet werden konnte. Weitere elek­ tronische Geräte konnten die Kommunikation zwischen den Verwaltungsbehörden und den Bürgern beeinflussen, bei Bedarf entweder Leistungen (Rundfunk und Fern­ sehen, Internet, WLAN, Telefon etc.) erbringen oder umgekehrt Leistungen (automa­ tische Schließ- und Meldevorrichtungen, Alarmanlagen, Spielekonsolen etc.) abfor­ dern, sodass das soziale Massendasein schließlich großenteils technisch organisiert und von der staatlichen Verwaltung am Laufen gehalten wurde. Da die Technik zusätzlich zur arbeitsentlastenden eine aufmerksamkeitsentlastende Funktion besitzt, drang sie auch immer stärker in die privaten Bereiche des mensch­ lichen Alltagslebens ein: Sie verbesserte nicht nur die Feinmotorik des menschlichen Handelns, sondern auch die (insbesondere optischen) Wahrnehmungs- und die (insbe­ sondere akustischen) Sendeleistungen der menschlichen Organe; sie ermöglichte nicht nur die Beobachtung von Objekten, die dem bloßen Auge nicht sichtbar sind, sondern auch die Erzeugung von Tönen, die von der Stimme nicht erzeugt werden können. Ein großer und wesentlicher Teil der kulturellen Entwicklung verläuft deshalb heute innerhalb von nur mikroskopisch beobachtbaren und nur mikrophonisch erzeugbaren Bereichen.

Auf staatliche Aufgaben hatte die naturwissenschaftliche Forschung dort unmittelbaren Einfluss, wo sie auf ein Müssen stieß und damit den Freiheits­ radius des staatlichen Handelns auf eine Veränderung derjenigen Randbedin­ gungen begrenzt sah, aus denen das Müssen hervorging.510 Wurde beispiels­ weise nachgewiesen, dass CO2-Emissionen die Erdatmosphäre erwärmen, dann konnte keine staatliche Macht daran etwas ändern; geändert werden aber konnten die Randbedingungen, unter denen CO2-Emissionen entstan­ den, und deshalb konnte man aufgrund naturwissenschaftlicher Forschungs­ ergebnisse angeben, welche Maßnahmen die Staaten ergreifen müssen, um eine weitere Erwärmung zu verhindern. Nur mittelbaren Einfluss auf staatliche Aufgaben hatte die naturwissen­ schaftliche Forschung dagegen auf die Fülle der sozialen Folgen, die sich aus der technisch/technologisch induzierten Kulturrevolution ergaben. Ein­ schneidend war z. B., dass künftig einer kleinen Zahl von reichen Industriel­ lenfamilien eine große Zahl von Arbeiterfamilien gegenübersteht, die zwar an der Erarbeitung, nicht aber an den Früchten des Reichtums teilhat. Für den Staat ergab sich daraus die moralische Verpflichtung, sein Sozialsystem so zu organisieren, dass es einerseits dem in Industrieunternehmen arbeiten­ den Teil der Bevölkerung Versorgungssicherheit bietet, andrerseits aber auch die Versorgung derjenigen gewährleistet, die dort keine Arbeit gefunden ha­ 510  Dazu Ch. Joerges (2006), S. 184 m. Nachw.; E.-J. Lampe (2014), S. 176  f. m. Nachw.

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ben.511 Das staatliche Sozialsystem musste m. a. W. dem arbeitenden Teil der Bevölkerung Schutz der Arbeitskraft und finanzielle Sicherheit auch für da­ von abhängige Personen gewähren, dem berufs- oder arbeitsunfähig gewor­ denen Teil der Bevölkerung eine angemessene Versorgung mit dem Lebens­ notwendigen. Hier entstanden freilich Probleme, weil die Versorgung der berufs- oder arbeitsun­ fähig gewordenen Teile der Bevölkerung sich nicht mehr auf die alte Sitte der Remu­ neration seitens ihrer früheren Arbeitgeber stützen konnte, sondern nur noch auf einen sogen. ‚Generationenvertrag‘, der den Staat bzw. eine an seine Stelle tretende Versor­ gungseinrichtung ermächtigte, das erarbeitete Surplus der nachfolgenden Generatio­ nen von Arbeitnehmern für die Versorgung zu verwenden. Das setzte einen leistungs­ fähigen Wirtschaftskreislauf von gewerblicher Produktion, Arbeitseinkommen und privatem Verbrauch voraus; denn jede Störung des Kreislaufs hätte zum Zusammen­ bruch des Versorgungssystems geführt. Der Staat musste daher die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft über die Generationen hinweg garantieren − was ohne staatliche Wirtschaftsaufsicht und ggf. auch Zwangseingriffe in die freie Marktwirtschaft kaum möglich war. Das Problem blieb ungelöst; man entschärfte es durch die Anlage von Reversen bei den Versorgungseinrichtungen und hoffte, bisher mit Erfolg, auf einen weiterhin ungestörten Konjunkturverlauf.

Tendenziell wird die Bedeutung von Naturwissenschaft und Technik für den Staat und seine Bürger sich zukünftig wahrscheinlich nochmals verstär­ ken, das allgemeine Interesse am wissenschaftlichen Fortschritt und an den Produkten, zu denen er die Industrie befähigt, noch weiter anwachsen. Die Zahl und die Genauigkeit der Erkenntnisse wird zunehmen und die Zahl der Produkte und die Kompliziertheit ihrer Verwendung sich nochmals erhöhen. Und da aus dem laufenden Erkenntnisprozess lediglich diejenigen Erkennt­ nisse ausscheiden werden, die sich als falsch oder ungenau erwiesen haben, wird eine irreversible Entwicklung uns höchstwahrscheinlich in ein immer mehr von Technik und Technologie beherrschtes Zeitalter geleiten. Dieser Entwicklung können wir prinzipiell nicht entrinnen; wir können lediglich ihre Folgen auf ein für uns erträgliches, bestenfalls sogar erfreuliches Maß begrenzen, indem wir uns ihr nur teilweise öffnen, im Übrigen aber das pfle­ gen, was keine Technik uns bieten kann: die Mannigfaltigkeit unserer künst­ lerischen Freiheit.

511  In Deutschland wurde die Industrialisierung durch die Kleinstaaterei zunächst erschwert, schließlich aber begünstigt, weil die Vorteile der Industrialisierung zwar nur kleinräumig wirksam werden konnten, die Nähe der Fürsten zu ihren Untertanen dafür aber die Grundlage für eine im Kern fürsorgliche Politik schuf. Auf ihr baute das deutsche System der Sozialversicherung auf: das weltweit erste moderne System zur Absicherung gegen die großen Lebensrisiken.



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b) Wandlungen des Rechts aufgrund seiner Randbedingungen Ich habe vorstehend fünf Faktoren genannt, auf die das Recht reagieren muss, wenn es seiner Aufgaben, das menschliche Zusammenleben unter na­ tionalstaatlichen Bedingungen zu ordnen und zu gestalten, gerecht werden will. Im Folgenden werde ich untersuchen, inwieweit diese Faktoren die Entwicklung des Rechts bereits beeinflusst haben bzw. künftig wahrschein­ lich beeinflussen werden. (α) Überblick: Ich behalte die zuvor benutzte Gliederung bei und gebe zuerst einen kurzen Überblick über die wichtigsten Veränderungen des Rechts in der Vergangenheit und einen Ausblick in die Zukunft. •• Bevölkerungsveränderungen, insbesondere durch Migration. Das ständige Wachstum der Bevölkerung und ihre Vermischung mit zuwandernden Be­ völkerungsteilen hat die Juristen nahezu stets beschäftigt. Noch in jüngster Zeit haben in Europa die Immigrationswellen aus Ländern Afrikas und des Nahen Ostens, in Nordamerika diejenigen aus Mexiko und den Staaten Südamerikas und Südasiens (Vietnam, Südkorea) eine lebhafte Gesetzge­ bungstätigkeit entfacht. Und da Ursachen der Immigration hauptsächlich Kriege und wirtschaftliche Not, darüber hinaus politische und religiöse Verfolgung waren, haben die Juristen sich veranlasst gesehen, zwischen Wirtschaftsemigranten, Kriegsflüchtlingen und politisch oder religiös Ver­ folgten zu unterschieden und ihnen unterschiedliche Rechte zuzuerkennen: den politisch oder religiös Verfolgten, die um Asyl nachsuchten, Bleibe­ rechte, den Kriegsflüchtlingen zumindest vorübergehenden Aufenthalt, den Wirtschaftsemigranten ein Bleiben unter der Bedingung, dass sie in das eigene Wirtschaftsleben integriert werden konnten.512 Um ihre Ent­ scheidungen rechtsstaatlich zu begründen, konkretisierten sie die zum po­ litischen Asyl berechtigenden Tatbestände, um auf deren Grundlage Über­ prüfungsverfahren einleiten zu können. •• Wirtschaftliche Veränderungen. In den letzten zweihundert Jahren sind aufgrund der technisch/technologischen Revolution fast alle Lebensberei­ che mobilisiert bzw. fluktualisiert worden. Dadurch ist auch das Wirt­ schaftsrecht in Fluss gekommen. Einerseits hat es sich von der Regulie­ rung persönlicher Begegnungen (z. B. mittels Passkontrollen) und des Warenaustausches (z. B. mittels Zollschranken) zurückgezogen, andrerseits hat es neue Normen für technisch vermittelte Begegnungen und für den elektronischen Datenaustausch über die Ländergrenzen hinweg entwickelt. 512  Die Bürger der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft genießen im gesamten Raum Freizügigkeit (Art. 39 EGV) und Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EGV), sodass ihnen überall der Zugang zu den Arbeits-, Waren- und Dienstleistungsmärkten gesi­ chert ist.

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Ferner hat es einerseits im Interesse des Persönlichkeitsschutzes und des Schutzes betrieblicher Geheimnisse persönliche und betriebliche Daten stärker abgesichert, andrerseits zwecks Vermehrung und Beschleunigung des internationalen Warenaustauschs die behördlichen Kontrollverfahren und den Datenaustausch internationalisiert und vereinfacht. •• Umweltveränderungen während der beiden letzten Jahrhunderte waren überwiegend negativ, weshalb die Juristen ein universelles Menschenrecht auf eine (nicht nur) gesunde Umwelt kreiert und Normen (insbesondere) gegen Umweltverschmutzungen und gegen einen sorglosen Umgang mit kulturellen Abfällen geschaffen und z. T. durchgesetzt haben. Wirksam konnte das nur staatenübergreifend geschehen, weshalb alle diesbezügli­ chen Verschärfungen des nationalen öffentlichen und privaten Rechts mit Absprachen zu entsprechenden Verschärfungen im Recht anderer Staaten verbunden werden mussten. •• Psychische Veränderungen. Dass das Recht sich internationalen Aufgaben stellen konnte, lag u. a. an der Verlagerung seines Schwergewichts aus dem Bereich des national geprägten Rechtsgefühls in den Bereich des ra­ tionalen Rechtswissens. Bessere Bildungschancen, gefördert durch eine allmählich weltweit auf alle Bevölkerungskreise sich erstreckende Schul­ pflicht, ließen bisher im Rechtsgefühl gespeicherte Leitbilder in den Hin­ tergrund treten, sodass eine rational-abstrakte Neudefinitionen sie überla­ gern konnte. Gleichzeitig lösten sich die meisten Rechtswerte von ihrem materiellen Substrat und gingen in die Welt immaterieller Symbole ein – was bedeutete, dass nun nicht mehr das konkrete sittliche Bewusstsein einer Bevölkerung, sondern die abstrakten Normen staatlicher Verfassun­ gen und die darin verbürgten Menschen- und Bürgerrechte die Grundlage des Rechts bildeten. •• Verwissenschaftlichung und technisch/technologische Revolution. Die Hand in Hand damit gehende Intellektualisierung der rechtlichen Leitbilder erfor­ derte u. a. wissenschaftliche Bemühungen um jene Bereiche des Rechts, in denen Normen die menschliche Umwelt vor chemischen Schadstoffen und Zivilisationsmüll schützen und das Nachwachsen von natürlichen Nah­ rungsstoffen sowie den Erhalt von industriellen Grundstoffen sichern. In­ ternational nötig erwies sich dafür die Tätigkeit international zusammenge­ setzter Sachverständigenkommissionen, deren Erkenntnisse teils mit, teils ohne Beteiligung der staatlichen Parlamente in die nationalen Gesetze und Verordnungen einfließen und wirksam werden konnten. Hilfsweise wichtig war dazu auch die Festschreibung von Werten (Maßen und Gewichten) sowie von technischen Eigenschaften und Funktionen, die vor allem dem Handel Sicherheit gaben.



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(β) Entwicklungen aufgrund von Bevölkerungsveränderungen. Während im Altertum und im Mittelalter ein natürliches Wachstum der Bevölkerung die Rechtsentwicklung steuerte, zielten in der Neuzeit rechtliche Maßnahmen immer häufiger auf eine Steuerung der Bevölkerungsentwicklung. Teils ge­ schah das zwecks Vermehrung der Geburten: etwa wenn ein Staat die Über­ alterung seiner Bevölkerung befürchtete, wenn er nach einer Seuche oder einem Krieg Nachwuchs brauchte, um die leer gewordenen Dörfer und Städte zu füllen, wenn er das Verhältnis von Volksgruppen innerhalb eines Landes verändern513 oder wenn er eine gewaltsame Landnahme legitimieren514 wollte. Teils war das staatliche Ziel aber auch eine Verminderung der Gebur­ tenzahl, weil andernfalls eine zu hohe Bevölkerungsdichte auf dem Lande oder das Anschwellen ohnehin schon übervölkerter Städte die wirtschaftliche Versorgung zu gefährden drohten.515 Zu erzwungenen Migrationen kam es in prähistorischer Zeit vor allem aus natürlichen (klimatischen) Gründen, in historischer Zeit auch aus politischen oder religiösen Gründen. Politische Gründe konnten zu Exilierungen, Vertrei­ bungen oder Umsiedlungen ganzer Völker oder Volksteile führen. Religiöse Gründe betrafen am häufigsten die Juden: Sie wurden im Altertum aus Paläs­ tina, im Mittelalter aus Spanien und Frankreich, im 20. Jh. aus Deutschland vertrieben (hier teilweise auch systematisch ermordet). Die politische Ver­ treibung erreichte einen Höhepunkt nach dem Zweiten Weltkrieg, als zwölf Millionen Menschen die deutschen Ostgebiete und weitere Siedlungsgebiete östlich und südlich davon verlassen und im verbliebenen deutschen Staatsge­ biet angesiedelt werden mussten, während in die frei gewordenen Gebiete u. a. die Bevölkerung Ostpolens (ebenfalls zwangsweise) umgesiedelt wurde. Solche Vertreibungen und Umsiedlungen sind zwar seit dem 18. Jh. natur­ rechtlich geächtet, sie verstoßen ferner seit 1907 gegen die Haager Land­ 513  So ist die Aufforderung des türkischen Staatspräsidenten Erdogan an die in Deutschland lebenden Türken zu interpretieren, durch eine hohe Kinderzahl ihren prozentualen Anteil an der deutschen Bevölkerung zu erhöhen. Im Nahen Osten pro­ pagieren sowohl Palästinenser als auch Israeli die Bevölkerungsvermehrung, um bei­ derseits ihren Anspruch auf Landbesitz untermauern zu können. 514  Nach 1933 benutzten die nationalsozialistischen Machthaber den Titel eines 1926 erschienenen Romans von Wilhelm Grimm „Volk ohne Raum“, um die Ausdeh­ nung des Deutschen Reiches nach Osten und seine Versorgung mit Lebensmitteln aus Kolonien zu begründen. 515  So versuchte beispielsweise China seit 1979/80, eine Ein-Kind-Politik per Ge­ setz durchzusetzen. Doch ebenso wie frühere Versuche, die Geburtenzahl zu begren­ zen und die Populationsdichte zu kontrollieren, erwies sich auch dieses Mittel als letzthin kontraproduktiv und hat inzwischen zu einer scharfen Gegenreaktion geführt. Für die Zukunft wird insbesondere mit einer starken Bevölkerungsvermehrung in Afrika gerechnet, auf die sich die Weltgemeinschaft bisher nicht genügend vorbereitet und der sie auch wenig entgegenzusetzen hat.

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kriegsordnung, und heute definiert sie das Statut des Internationalen Strafge­ richtshofs (Art. 7 Abs. 1 lit. d) als völkerrechtliche Verbrechen. Das hinderte aber Mitte des 20. Jh.s die Sieger des 2. Weltkriegs nicht, Vertreibungen bzw. Umsiedlungen am grünen Tisch zu beschließen und sie anschließend gewalt­ sam durchzusetzen. Im Gegensatz zu erzwungenen sind freiwillige (individuelle oder gemeinschaftliche) Migrationen rechtlich zwar zulässig, doch werfen auch sie Pro­ bleme auf, wenn sie die Grenzen von Territorialstaaten überschreiten. Diese Grenzen sind im vergangenen Jahrhundert allerdings z. B. durch die Grün­ dung der Europäischen Union durchlässiger gemacht und mit einem Abbau der Zollschranken und einer Aufhebung der Arbeitsbeschränkungen verbun­ den worden.516 Dadurch bildete sich, wie schon zuvor zwischen Süd- und Nordamerika, eine ökonomisch gesteuerte Migration hauptsächlich der Ju­ gend in Europa aus, die allerdings angesichts der bremsenden kulturellen Unterschiede moderat blieb. Eine vollständige Angleichung der wirtschaft­ lichen Standards, die jede ökonomische Verlockung zur Migration beseitigt hätte, wäre indessen unmöglich gewesen; denn die ökonomisch schwächeren Staaten innerhalb der Europäischen Union waren dazu außerstande, und die wirtschaftlich stärkeren Staaten hatten an der Differenz ein u. a. wettbewerb­ liches Interesse.517 Rechtliche Maßnahmen zur Verhinderung von Migrationen gab es in der jüngsten Vergangenheit ebenfalls. Sie galten einerseits der Emigration aus Staaten, in denen die Menschen wirtschaftlich keine Zukunft sahen oder aus denen sie wegen politischer oder religiöser Unterdrückung fliehen wollten. Sie galten andrerseits der Immigration in Staaten, in denen sie sich ein bes­ seres Leben erhofften, in denen sie aber nicht willkommen waren, weil sie politische, religiöse, wirtschaftliche oder ethnische Probleme mit sich brach­ ten. Wie stark die rechtlichen Mittel jeweils waren, mit denen die Staaten sich gegen die Emigration bzw. die Immigration wehrten, hing teils von der Abgeschlossenheit ihrer Gesellschaft, teils von den Entscheidungen ihrer Politiker ab, die sie ihrerseits auf politische und/oder wirtschaftliche Gründe gestützt werden. Eine Emigration von Staatsangehörigen verbot beispielsweise die Deutsche Demo­ kratische Republik. Sie unterband sie, indem sie ihre Grenzen befestigte und deren Überschreitung sogar mit militärischen Mitteln (u. a. einem Schießbefehl) verbot. 516  Zum einen gewährt Art. 45 AEUV ausländischen Arbeitnehmern dieselbe Frei­ zügigkeit wie den inländischen, wenngleich eingeschränkt „aus Gründen der öffentli­ chen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit“. Zum anderen haben gemäß der Richtlinie 2004/38 EG des Europäischen Parlaments alle Unionsbürger ein bedingtes Aufent­ haltsrecht in einem anderen Mitgliedstaat. 517  Vgl. dazu St. Leibfried/P. Pierson (1995); F. Scharpf (2002/2010), p. 225 ff.; aber auch H. Obinger/St. Leibfried u. a. (2006), S.  299 ff.



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Entsprechend streng ist heute noch die Abgrenzung zwischen Nord- und Südkorea. Umgekehrt hat sich Canada von jeher als Einwanderungsland verstanden und Neuan­ kömmlinge, sofern sie den Arbeitsmarkt nicht belasteten, gern bei sich aufgenommen. Die Bundesrepublik Deutschland hat nach dem Zweiten Weltkrieg männliche Ein­ wanderer geradezu ins Land gerufen, weil sie sie zum Wiederaufbau benötigte. Aller­ dings hat sie sie zunächst nur als ‚Gastarbeiter‘ betrachtet und ihnen die deutsche Staatsangehörigkeit vorenthalten. Erst in neuester Zeit hat sie sich weltoffener gezeigt und Einwanderer u. a. auch deshalb begrüßt, weil sie das Geburtendefizit wettmach­ ten, das inzwischen zum Problem einer alternden Gesellschaft geworden war und Engpässe am Arbeitsmarkt verursachte.

Soweit die Immigration in einen Zielstaat glückte, hat sie i. d. R. Probleme bei der sozialen Integration erzeugt. Diesen Problemen musste sich in erster Linie die Gesellschaft,518 rechtlich darüber hinaus der Staat stellen. So musste der Staat aufgrund seiner überwiegend hoheitlichen Regelung des Schulwesens vor allem das Erlernen der Landessprache zur unabdingbaren Voraussetzung für die Integration und zum Erwerb der Staatsbürgerschaft machen.519 Fast ebenso wichtig war es für ihn, den Immigranten den Arbeits­ markt zu öffnen, damit sie ein geregeltes Einkommen erzielen konnten. An­ gesichts einer ganz überwiegend privatwirtschaftlich organisierten Arbeits­ welt konnte er allerdings dafür nur wenig mehr tun als eine Arbeitserlaubnis erteilen und evt. den Immigranten bei der Suche nach einer Arbeitsstelle behilflich sein.520 Im Übrigen lag die Initiative teils bei den Immigranten selbst, teils bei der heimischen Wirtschaft. Außer Sprachschulung und Integration in den Arbeitsmarkt musste der Staat im Rahmen der Akkulturation der Immigranten primär ihre Anpassung an die geltende Rechtsordnung fördern. Andrerseits musste er darauf achten, dass die Immigranten von ihrer mitgebrachten Kultur nicht mehr verloren, als für eine Akkulturation erforderlich war; denn eine kulturelle Enkultura­ tion oder gar Assimilation durfte er nicht verlangen. Daher musste er seine Rechtsordnung evt. zurücknehmen, wenn wichtige kulturelle Anliegen der Immigranten betroffen waren.521 In Europa entstanden Akkulturationsprobleme für Immigranten aus islamischen Staaten vor allem deshalb, weil zu den Grundwerten in den Staaten Westeuropas reli­ giöse Toleranz und Gleichberechtigung der Geschlechter gehören, während die über­ kommenen Grundwerte in den islamischen Staaten Frömmigkeit und Hilfsbereitschaft innerhalb der Umma als einer Gemeinschaft Gleichgesinnter sind. schon oben 6 a β. die meisten europäischen Staaten, ferner etwa die USA, Australien, Süd­

518  Dazu 519  So

afrika.

520  Hier freilich liegen praktische Grenzen, da das Recht leicht mehr gewähren als der Staat erfüllen kann. ‚Ultra posse nemo obligatur‘ gilt auch für den Staat. 521  Th. Groß (2006), S. 101 m. w. Nachw. Siehe ferner P. Collier (2014), S. 67 ff.; K.-H. Meier-Braun (2015), S. 33 f.

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Kam keine Akkulturation zustande, musste der Staat abwägen, ob und wie stark er sich einmischen sollte. Die „guten Sitten“, auf denen sein Recht aufbaut und auf die er sich in seinen Gesetzen gelegentlich beruft, musste er auf jeden Fall verteidigen. Als Grenze vorgegeben war ihm aber auch der nationale ordre public. Beispiele: 1. Islamische Normen ohne Rechtscharakter, die den Frauen Beschrän­ kungen in Kleidung und Benehmen auferlegen, durften staatlich toleriert werden, solange sie nur auf muslimische Frauen angewandt von ihnen freiwillig befolgt wur­ den. Dagegen konnte der Staat einschreiten, wenn muslimische Frauen von ihren Männern zur Unterwerfung unter diese Normen gezwungen wurden. Er musste ein­ schreiten, wenn auch nicht-muslimische Frauen Angriffen ausgesetzt waren, weil sie sich den Normen nicht fügten. – 2. Islamische Normen mit Rechtscharakter, die für Ehefrauen erhebliche familien- und erbrechtliche Einbußen mit sich bringen, konnte der Staat als Alternative zu eigenen Normen anerkennen,522 aber auch im Interesse einheitlicher Prinzipien verwerfen. – 3. Islamische Normen mit Strafcharakter dage­ gen durfte der Staat nicht anerkennen, wenn sie von seinen eigenen Normen abwi­ chen; denn das Strafmonopol musste ihm vorbehalten bleiben.

Schließlich musste der Staat darauf bestehen, dass gewisse Institutionen der eindeutig vorherrschenden Religion(en), in Deutschland beispielsweise die Arbeitsbefreiung an den wichtigsten christlichen Feiertagen (Weihnach­ ten, Ostern und Pfingsten), eine Ausnahmestellung gegenüber den Institutio­ nen anderer (muslimischer, jüdischer) Religionen behalten. (γ) Entwicklungen aufgrund von wirtschaftlichen Veränderungen. Wie er­ wähnt, schufen insbesondere die Fortschritte in der Informationstechnologie und in der Transportwirtschaft die Grundlagen für die weltweite Wirtschafts­ entwicklung. Die Entwicklung des Wirtschaftsrechts war jedoch nicht auf diese Bereiche beschränkt, sondern umfasste alle weiteren Bereiche sowohl der Warenproduktion als auch des Waren- und Dienstleistungshandels: so u. a. den nationalen und internationalen Wettbewerb, den Schutz internationa­ ler Investitionen und die Sicherheit nationaler Währungen. Sämtliche hierauf bezüglichen Normen werden heute als ‚Nationales‘ bzw. ‚Internationales Wirtschaftsrecht‘ (International Economic Law) zusammengefasst, wobei das ‚supranationale‘ und das ‚transnationale Wirtschaftsrecht‘ als Teilberei­ che einbegriffen werden. •• Das supranationale (Völker-)Wirtschaftsrecht ist begrenzt auf die Euro­ päische Union. Es umfasst u. a. die Grundsätze der Wirtschaftsverfassung (Art. 119 ff. AEUV) und die Normen des freien Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs (Art. 28 ff., 45 ff. AEUV) sowie der gemeinsamen Agrar- und Fischereipolitik (Art. 38 ff. 522  Beispielsweise hat in Israel jede der dort staatlich anerkannten Religionen ihre eigene Familienrechtsordnung: die jüdische die des Talmud, die islamische die des Koran und die christliche die der autoritativen Kodifikationen.



K. Entwicklungstendenzen im neuzeitlichen Recht 891 ­ EUV). Weiterhin sind supranational wichtig die „von den Kulturvölkern aner­ A kannten allgemeinen Rechtsgrundsätze“ (§ 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut), etwa Treu und Glauben (estoppel-Prinzip), Verwirkung, Rechtsmissbrauch und ungerechtfer­ tigte Bereicherung (unjust enrichment), schließlich das Völkergewohnheitsrecht etwa hinsichtlich der Entschädigungspflicht bei einer Enteignung von Investitionen ausländischer Staatsbürger.

•• Das Internationale Wirtschaftsrecht besteht im Wesentlichen aus Staats­ verträgen und Abkommen zwischen und mit internationalen Organisatio­ nen über die wirtschaftlichen Beziehungen (Handel, ausländische Investi­ tionen, Finanz- und Währungsbeziehungen) sowie über die Gründung und die Arbeit von Schiedsgerichten. Es hat in der Vergangenheit die Freiheit des Welthandels einerseits gefördert, sie andrerseits aber auch durch hohe Zollsätze und die Errichtung von Kartellen (zumal im 19. Jh.) gehemmt. Zölle wurden erhoben, um die Produktion der heimischen Industrie vor ausländischer Konkurrenz zu schützen; Kartelle wurden errichtet, um der heimischen Industrie die Belieferung von Rohstoffen (insbesondere aus den ehemaligen Kolonien) zu sichern. Die Zölle konnten später nur müh­ sam abgebaut und durch Freihandelsabkommen ersetzt, die Kartelle sogar erst nach dem Zweiten Weltkrieg aufgelöst werden, als die UN sich die wirtschaftliche Förderung der aus der Kolonialherrschaft entlassenen Län­ der zur Aufgabe gemacht hatte. Heute ist der Trend zur Liberalisierung des Wirtschaftsverkehrs zwar eindeutig, aber weder unangefochten noch gegen Rückfälle gefeit. •• Das Transnationale (transsoziale) Wirtschaftsrecht (das in den deutschen Lehrbüchern allerdings meistens dem Internationalen Wirtschaftsrecht zu­ gerechnet wird) umfasst die rechtliche Ordnung des grenzüberschreitenden privatwirtschaftlichen Verkehrs mit Waren und Dienstleistungen, darüber hinaus aber auch die grenzüberschreitenden Unternehmensstrukturen so­ wie die global geltenden Handelsbräuche, insbesondere diejenigen, die in der neuen Lex mercatoria enthalten sind. Seine Legitimation findet das Transnationale Wirtschaftsrecht im Nutzen aller Teil­ nehmer am Wirtschaftsverkehr, auch und gerade der schwächsten unter ihnen.523 Die Legitimationskette verläuft abwärts: von den weltumspannenden Handelsnor­ men zu den Normen für größere Teilbereiche, etwa für den Waren- und Dienstleis­ 523  So heißt es in Absatz 3 der Präambel des GATT von 1994 (näher siehe dazu unten αα): Ziel sei es, „… durch den Abschluss von Vereinbarungen … auf der Grundlage der Gegenseitigkeit und zum gemeinsamen Nutzen“ Handelshemmnisse abzubauen und so den Welthandel zu liberalisieren. Dass dabei Gerechtigkeitserwä­ gungen nicht ausgeschaltet werden sollen, ergibt sich aus Art. XXXVI:8, wonach Zugeständnissen seitens industriell entwickelter Länder keine Zugeständnisse von Entwicklungsländern gegenüberzustehen brauchen; der Grundsatz der Reziprozität kann also durchbrochen werden.

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tungshandel oder für bestimmte Freihandelszonen,524 von hier aus zu den Normen für noch kleinere Handelsbereiche, etwa für das Transportwesen, und von ihnen aus z. B. für Transporte im Straßen-, Eisenbahn-, Luft- oder Seeverkehr. In die Legitimation fließen sowohl der gesamtwirtschaftliche Nutzen als auch dessen Aufteilung in einzelne Bereiche ein – insbesondere solche, worin politische Lob­ byisten spezielle Interessen vertreten oder Experten als ‚neutrale Ratgeber‘ sich um einen Interessenausgleich bemüht haben (Beispiel: der GATS-Rat und die ihm nachgeordneten Gremien).

Obwohl hierauf nicht beschränkt, wird der Wandel des Wirtschaftsrechts vor allem von den Entwicklungen der Informationstechnologie und ihres Rechtsschutzes getragen. Denn die hier erzielten Fortschritte beeinflussen nicht nur die Schnelligkeit und Sicherheit der Warenproduktion und des Waren- und Dienstleistungshandels, sondern auch der privatgeschäftlichen Kommunikation mit den Verbrauchern. Unter wirtschaftsrechtlichem Schutz stehen mithin außer der Warenproduktion und dem Warenhandel auch sämt­ liche geschäftlich benutzten Kommunikationsgeräte (hardware) und Kom­ munikationskanäle, und zwar nicht nur hinsichtlich des Ob der Kommunika­ tionen, sondern auch hinsichtlich der kommunizierten Inhalte (u. a. gegen Ausspähung und Verfälschung). Daher haben das (nationale und internatio­ nale) Kommunikationsrecht und das Datenschutzrecht einen steilen Auf­ schwung genommen. Auf dieser Schutzrundlage hat sich dann ein spezieller Rechtsschutz des Warenhandels entwickelt: einerseits der dafür vorgesehenen Handelswege und andrerseits der hierauf abgewickelten Transportleistungen. Dass das Ausmaß der internationalen Wirtschaftsentwicklung die Souveräni­ tät der Nationalstaaten beschränken und die Schere zwischen reichen und armen Staaten weiter öffnen musste, war die mathematisch vorgegebene und deshalb unvermeidliche Folge. Wegen der Wichtigkeit für die Gesamtheit der internationalen Rechtsbezie­ hungen stelle ich die Regelung der wirtschaftsrechtlichen Bezeichnungen im Folgenden genauer dar. (αα) Entwicklungen im Recht des internationalen Waren- und Dienstleistungshandels. Das Recht des internationalen Waren- und Dienstleistungshan­ dels ist in zwei großen Abkommen geregelt worden: im General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) und im General Agreement on Trade in Services 524  So dürfen etwa Handelsbeschränkungen für Drittstaaten nach der Gründung einer Freihandelszone nicht größer als vor ihrer Gründung sein. Demgemäß bestimmt Art. XXIV:4 GATT: „Die Vertragsparteien erkennen an, dass es wünschenswert ist, durch freiwillige Vereinbarungen zur Förderung der wirtschaftlichen Integration der teilnehmenden Länder eine größere Freiheit des Handels herbeizuführen. Sie erken­ nen ferner an, dass es der Zweck von … Freihandelszonen sein soll, den Handel zwischen den teilnehmenden Gebieten zu erleichtern, nicht aber dem Handel anderer Vertragsparteien mit diesen Gebieten Schranken zu setzen.“



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(GATS). Beide wurden 1994 geschlossen. Ihre wichtigste Institution wurde die Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO), deren obers­ tes Ziel die Durchführung des GATT-Systems ist, d. i. die Herstellung bzw. Erhaltung des freien Welthandels. Alle teilnehmenden Staaten haben sich zur Erreichung dieses Ziels bereit erklärt und ihre Bereitschaft durch die förmli­ che Ratifikation der WTO-Verträge in ihren nationalen Parlamenten bekräf­ tigt. Während insoweit noch alles klar und einfach ist, sitzt der Teufel im Detail. Unklar geblieben ist z. B., worin Waren und Dienstleistungen sich unterscheiden; denn beide werden in keinem der Abkommen definiert, obwohl unterschiedliche Regeln für sie gelten. Einige wichtige Grundsätze sind zwar Kerngehalt sowohl des GATT- als auch des GATS-Regimes, so insbesondere der Grundsatz der Meistbegünstigung, wonach sämtliche Vorteile, Vergünstigungen, Vorrechte und Befreiungen allen Handelspartnern aus dem Geltungsbereich der WTO gleichermaßen gewährt werden sollen (Art. II:1 GATT, Art. II:1 GATS). Doch sehen GATT und GATS unterschiedliche Ausnahmen vom Meistbegünstigungsgrundsatz vor je nachdem, ob sie die Lieferung be­stimmter Waren innerhalb von Freihandelsabkommen und Zollunionen (Art. XXIV:4–12 GATT) oder ob sie bestimmte Dienstleistungen betreffen, die in einem Anhang zu Art. II GATS genannt sind.525 Darüber hinaus kann für Waren, nicht aber für Dienstleistun­ gen, einzelnen Ländern eine Befreiung vom Grundsatz der Meistbegünstigung gewährt werden (Art. XXV:5 GATT). Und umgekehrt können zwar Waren mit einem Zoll belegt werden, wenn sie über eine Staatsgrenze hinweg geliefert werden, nicht aber Dienstleistungen – zumal wenn sie erst jenseits der Grenze erbracht werden.526 Wich­ tige Grundsätze, die nur innerhalb des GATT-Regimes gelten, sind ferner das nach innen gerichtete Diskriminierungsverbot (Art. III:1 GATT) und das Gleichbehand­ lungsgebot, das nicht nur für gleichartige Waren (Art. III:4 GATT), sondern auch für Abgaben und andere Belastungen gilt (Art. III:2 GATT). Dagegen gilt für beide Re­ gime eine in der WTO-Rechtsordnung enthaltene, offenbar im Anschluss an die Rechtsphilosophie von John Rawls formulierte Gerechtigkeitsklausel, wonach Ent­ wicklungsländern und am schwächsten entwickelten Ländern eine Vorzugsbehandlung gewährt werden darf (vgl. Art. 15:1 WTO-Abkommen; Art. V:3 GATS).527

525  Deutschland hat beispielsweise „Kulturprodukte“ benannt, die es weiterhin zu fördern und vor einem Überangebot an fremden Produkten (z. B. Fernsehfilmen) zu schützen gedenkt. 526  Gemischte Verträge, die einesteils Waren- und anderenteils Dienst- oder Werk­ leistungscharakter haben (z. B. Werklieferungsverträge), sollen je nach dem, mit wel­ chem Staat sie die engsten Verbindungen aufweisen, mal dem einen, mal einem ande­ ren Staat zugerechnet werden (etwa entsprechend Art. 28 EGBGB) und nach der Rechtsprechung sowohl dem GATT- als auch dem GATS-Regime unterfallen. Vgl. dazu die Entscheidung des Appellate Body im Bananenstreit (Report EC – Regime for the Importation, Sale and Distribution of Bananas, WT/DS 27/AB/R 1997, Rn. 221). 527  Welche Länder damit gemeint sind, bestimmen die Entwicklungsländer selbst, während über die am wenigsten entwickelten Länder eine von der UNO geführte und regelmäßig aktualisierte Liste Auskunft gibt (vgl. Art. XII:2 WTO-Abkommen).

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(ββ) Entwicklungen im internationalen Kommunikationsrecht sind inner­ halb des internationalen Wirtschaftsrechts derjenige Schwerpunkt, der den raschen Fortschritt des modernen Wirtschaftslebens primär sichtbar werden lässt. Denn Kommunikationen haben gleich zu Beginn der technisch/techno­ logischen Revolution der weltweiten Ausdehnung des Warenhandels auf die Sprünge verholfen und weder eine Begrenzung auf einen nationalen Raum noch auf den Geltungsbereich eines nationalen Rechts zugelassen. Als etwa die Erfindung des Telegrafen einen grenzüberschreitenden Nachrichtenver­ kehr ermöglichte, aber die unterschiedlichen staatlichen Netze ihn behinder­ ten, wurden umgehend die Netze erweitert und die nationalen Postmonopole durch internationale Vereinbarungen ergänzt. Eine weitere internationale Kooperation wurde nötig, als der Empfang terrestrischer Sender davon ab­ hing, dass in benachbarten Staaten aufgebaute Anlagen unterschiedliche Frequenzen benutzten.528 Und als auch private Anbieter von Kommunika­ tionsleistungen in den wirtschaftlichen Wettbewerb eingriffen, musste die bisher auf die Tätigkeit von Staatsbetrieben beschränkte Kooperation aber­ mals international erweitert werden. Versuche der Nationalstaaten, den Wett­ bewerb in geordnete Bahnen zu lenken, indem sie den Markt in Segmente entsprechend den nationalen Grenzen aufteilten, schlugen alsbald fehl.529 Denn das Diskriminierungsverbot untersagte ihnen, einzelne private Anbieter von ihrem Hoheitsgebiet fernzuhalten, und das Neutralitätsgebot verbot ih­ nen, selber Dienstleistungen anzubieten, sofern sie als Regulierungsinstanzen tätig sein wollten. Regulierungsinstanzen aber mussten sie sein, weil sonst die Gefahr bestand, dass starke Netzanbieter sich aller wichtigen Frequenzen bemächtigen und ihren Konkurrenten künftig den Netzzugang verweigern oder durch zu hohe Preise oder andere Behinderungspraktiken erschweren.530 Also blieb nur eine abermalige internationale Regelung übrig. Älteste Regulationsinstanz im Bereich der weltweiten Kommunikationssysteme war die International Telecommunications Union (ITU), die 1934 gegründet wurde und für eine ausgewogene Nutzung des verfügbaren Frequenzspektrums zuständig war, weshalb sie ihre Tätigkeit entsprechend der technologischen Entwicklung auch auf den neuen Mobilfunkverkehr und die WLAN-Technologien erstrecken konn­

528  Entsprechendes galt später, als die Gefahr bestand, dass zwei Satelliten zu nahe beieinander positioniert werden und auf derselben Frequenz operieren. 529  Vgl. dazu G. Teubner/P Korth (2009), S. 149 ff. Auch eine von der International Telecommunications Union (ITU) vorgeschlagene Aufgliederung in Versorgungs­ gebiete, die von territorial abgegrenzten Flächen nebst völkervertraglich anerkannten Staatsmonopolen (J. Lüdemann, 2000, Rn. 6 ff., 14 f., 219) ausging, ist inzwischen längst überholt. Privaten Anbietern von Internetdienstleistungen steht heute der Welt­ markt offen. 530  Wieder einmal wurden die Staaten also von Versorgungs- zu Gewährleistungs­ staaten.



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te.531 Heute ist sie eine Sonderorganisation der UNO. Ihr Mangel besteht in der un­ genügenden Beteiligung privater Akteure. Denn wer an den internen Beratungen teilnehmen will, bedarf einer staatlichen Ermächtigung, und in vergleichbaren Orga­ nisationen (etwa in der International Organization for Stadardization [ISO] sowie in den internationalen Satellitenorganisationen) ist es dann üblich, dass nichtstaatliche (juristische) Personen zusammenwirken.

Das ursprünglich in der nationalen Souveränität wurzelnde Recht zur Ord­ nung der Telekommunikation hat sich inzwischen auf alle weltweiten Daten­ netze ausgeweitet.532 Versagt hat es bisher jedoch vor der Aufgabe, die Da­ tennetze gegen Missbrauch zu schützen. Volksverhetzende Parolen, Kin­ derpornographie, Verabredungen Krimineller u. a. können sich daher der Datennetze bedienen, ohne dass ihre Urheber identifiziert und strafrechtlich verfolgt werden. Die staatlichen Behörden können lediglich den Missbrauch aufspüren, ihn aber nicht bis auf seine Urheber zurückzuverfolgen. Und die strafrechtlichen Verbote nützen wenig, solange die technologische Entwick­ lung ihre Durchsetzung nicht ermöglicht.533 Es bleibt folglich eine zukünftig noch international zu bewältigende Aufgabe, den Kommunikationsfluss über die Grenzen hinweg auf legale Inhalte zu begrenzen. (γγ) Entwicklungen im internationalen Transportrecht. Ebenso wie der Datentransport in den internationalen Netzen hat der Gütertransport auf inter­ nationalen Landstraßen, Eisenbahnstrecken, Luft- und Seeverkehrswegen zur Internationalisierung des Rechts beigetragen. Die Notwendigkeit hierfür er­ gab sich daraus, dass die Läden in aller Welt überflossen mit Waren, die ei­ nen internationalen Transportweg hinter sich hatten. Heute umfasst das inter­ nationale Transportrecht alle auf Verkehrsmittel bezogenen Übereinkommen: multilaterale Übereinkommen für die Vereinheitlichung des Privatrechts, bi­ laterale Abkommen für die Zulassung von Transportmitteln (Kraftfahrzeuge, Eisenbahnen, Flugzeuge und Schiffe), die mehrere Staaten durchqueren, so­ wie Gemeinschaftslizenzen u. a. für den Güterkraftverkehr innerhalb der Mitgliedstaaten der EU.534 Je nach Art der Transportmittel, der Transport­ wege und der transportierten Güter sind die Normen unterschiedlich, was ihre große Mannigfaltigkeit erklärt. Ich gebe einen sehr groben Überblick: 531  Dagegen wird das Internet, das im Unterschied zu den Telefonfestnetzen und den Mobilfunknetzen kein eigenständiges, sondern ein aus zahllosen autonomen Net­ zen zusammengesetztes Konstrukt ist, von der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) verwaltet. 532  Vgl. dazu etwa St. Jungheim (2012). 533  Vgl. dazu noch unten 6 c η. Der sogen. Festnetzbetrieb erlaubte noch die tech­ nische Kontrolle des Telefonverkehrs durch Abhören und Abschalten von Gesprä­ chen; dies änderte sich jedoch mit der Erfindung des Mobilfunkverkehrs. 534  So etwa die EG-VO des Rates (96/26/EG) vom 29.04.1996 über den Zugang zum Güterkraftverkehrsmarkt.

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•• Straßentransportzulassungen werden von dem Staat erteilt, in dem das Transportunternehmen seinen Sitz hat. Sie gelten außer für das Inland für alle Staaten, mit denen bilaterale oder multila­ terale Abkommen bestehen. Fehlt es irgendwo daran, müssen weitere Zulassungen eingeholt werden.

•• Grenzüberschreitende Zulassungen für den internationalen Eisenbahnver­ kehr können entweder nur für den Personen- oder nur den Güterverkehr oder aber für beide Verkehre erteilt werden. Technisch vorausgesetzt wer­ den ein einheitliches Netz mit einheitlicher Spurweite sowie technisch einheitliche Fahrzeuge, ferner eine einheitliche Praxis bei der Zertifizie­ rung von Fahrzeugführern. Am weitesten fortgeschritten ist die Integration bisher in Europa, wo die Eisen­ bahngesetzgebung geradezu „Schrittmacherfunktion bei der Marktöffnung von Ei­ senbahnnetzen für Unternehmen mit Sitz im Ausland geleistet“ hat.535 Das zweite Eisenbahnpaket aus dem Jahr 2004 sieht nicht nur eine einheitliche Europäische Eisenbahnagentur vor, sondern auch einheitliche Grundsätze für die Überprüfung der ­Eisenbahnsicherheit, für die Interoperabilität der Eisenbahnen und für die wei­ tere Entwicklung des Eisenbahnnetzes innerhalb der Europäischen Union.536

•• In vieler Hinsicht entsprechend ist der internationale Luftverkehr geregelt. Erforderlich sind seine Regelungen, weil alle Staaten nach internationalem Recht nicht nur die Hoheit über ihr Territorium, sondern auch über ihren Luftraum haben. Überflüge des Territoriums sowie Landungen zum Zwe­ cke des Personen- und Frachtverkehrs sind daher grundsätzlich nur auf­ grund bilateraler Vereinbarungen erlaubt. Die genauere gesetzliche Regelung der Überflugrechte und der Rechte für techni­ sche Zwischenlandungen geht auf ein Abkommen von 1944 zurück.537 Zeitnischen für die Starts und Landungen wurden jedoch ausgenommen; sie müssen zusätzlich vereinbart werden.538 Am weitesten fortgeschritten ist die Integration abermals in Europa: Alle Beschränkungen des Marktzugangs wurden 1997 aufgehoben, sodass alle in einem Staat zugelassenen Luftfrachtunternehmen nunmehr die volle Freiheit zur Beförderung von Passagieren sowie von Post und Frachtgut haben. 535  K.

Otte (2009), § 7 Rn. 72. den Verkehr gibt es eine Reihe von internationalen Vereinbarungen, deren wichtigste die Convention relative aux transports internationaux ferroviaires (­COTIF) von 1999 ist. 537  United Nations Treaties Series 15, p. 295 (BGB l. 1971 II 985, 1972 II 257, 1978 II 500, 1983 II 763). Auf der Grundlage dieser sogen. Chicago Convention wurde 1947 die International Civil Aviation Organization (ICAO) als Spezialorgani­ sation der UNO gegründet. Ihre Aufgaben bestehen u. a. in der Entwicklung von in­ ternationalen Sicherheitsstandards für den zivilen Luftverkehr und in der Koordinie­ rung bilateraler Luftverkehrsabkommen. 538  Sogen. slots, geregelt beispielsweise im open skies-Übereinkommen zwischen der EU und den USA. 536  Für



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•• Grundsätzlich unabhängig von hoheitlichen Rechten steht der Seetransport von Personen und Gütern allen offen. Anstatt bilaterale Übereinkom­ men regelt daher nur das Völkerrecht die Schifffahrt auf den Meeren. Rechtlich bedeutet das im Grundsatz die freie Nutzung. Einschränkungen bestehen nur in Bezug auf das Küstenmeer, über das die Küstenstaaten Vorrechte besitzen.539 Freiheit der Meere bedeutet also Freiheit nicht nur für Staatsschiffe, sondern auch für private Schiffe. Soweit auf den Schiffen allerdings Hoheitsrechte auszuüben sind, gilt nicht das Völkerrecht, sondern das Recht des Staates, dessen Flagge am Mast des Schiffes weht. Dieses Recht umfasst gemäß Art. 94 SRÜ alle „verwal­ tungsmäßigen, technischen und sozialen Angelegenheiten“ sowie alle Sicherheits­ vorschriften, die für den Betrieb des Schiffes und für seine Besatzung erforderlich sind.540 Das Völkerrecht regelt nur die Vernetzung der Schifffahrtslinien und die Bekämpfung der Meerespiraterie.

Als Fazit für den gesamten internationalen Daten-, Personen- und Güter­ transfer ergibt sich: Der Datenverkehr ist für jedermann offen, der Warenund Dienstleistungsverkehr weitgehend liberalisiert. Soweit für den Perso­ nenverkehr teilweise Beschränkungen wie etwa eine Visapflicht gelten sowie für Güter je nach Handelsabkommen Ein- und Ausfuhrbeschränkungen, be­ treffen diese nicht die Transportleistung, sondern deren Erfolg: die Verbrin­ gung einer Person oder eines Gutes in den Kontrollbereich eines anderen Staates. Insoweit besteht aber eine Tendenz zum Abbau noch vorhandener Schranken. (δδ) Souveränitätsverluste der Nationalstaaten als Folgen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Nach soviel Gemeinsamkeit darf ein Blick auf die Kehrseite der wirtschaftlichen Globalisierung nicht fehlen: Zu verzeichnen sind dort vor allem Souveränitätsverluste, die alle Nationalstaaten erlitten haben und die die ohnehin schwachen Staaten noch mehr betreffen als starke. Souveränitätsverluste erlitten alle Staaten teils freiwillig durch die Be­ schränkung ihrer Wirtschaftspolitik auf das Ziel aller am internationalen Wirtschaftssystem beteiligten staatlichen Institutionen, primär den globalen Wohlfahrtsgewinn zu maximieren. Teils erlitten sie Souveränitätsverluste aber auch unfreiwillig als Folgen der Tätigkeit von Wirtschaftskriminellen, gewisse Gestaltungen grenzüberschreitenden Wirtschaftens zur Erzielung einseitiger Vorteile zu missbrauchen. Einen extremen Fall bildete in dieser Hinsicht die sogen. ‚Cyberkriminalität‘ (d. i. Kriminalität im Computer- und 539  Zentrale Bedeutung besitzt das UN-Seerechtsübereinkommen (United Nations Convention on the Law of the Sea, UNCLOS) von 1982, das 1994 in Kraft getreten ist, aber z. B. von den USA nicht unterzeichnet wurde. 540  Rahmenbedingungen enthält die weltweit geltende Konvention der International Maritime Organization (IMO).

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Internetbereich), d. h. das Anzapfen des grenzüberschreitenden Datenaus­ tauschs zwischen Wirtschaftsbetrieben untereinander oder mit staatlichen Stellen, um z. B. an innerbetriebliches Know-how oder an unbare Zahlungs­ mittel zu gelangen. Da dieses kriminelle Tun sich jenseits der nationalen Grenzen abspielte bzw. diese Grenzen überstieg, ließ es sich mit allein na­ tionalen Mitteln nicht bekämpfen. Es bedurfte eines grenzüberschreitenden Rechtssystems, für dessen Schaffung die Nationalstaaten sich internationaler Abmachungen bedienen und dafür ihre Souveränität beschränken mussten.541 Souveränitätsverluste erlitten darüber hinaus speziell schwache Staaten durch die Unternehmenspolitik produzierender bzw. exportorientierter Kon­ zerne mit ausländischen Niederlassungen, die ihre Aktivitäten nach dem Kriterium maximalen Nutzens auf diejenigen Staaten verteilten, die für sie bzw. für shareholder’s value am günstigsten waren. Soweit dies durch eine Verlagerung der Produktion in Gaststaaten mit niedrigem Lohnniveau, gerin­ gen Sozialstandards und billigen Steuersätzen geschah, ergaben sich für diese zwar Vorteile in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs. In Zeiten wirt­ schaftlichen Abschwungs zogen die Konzerne ihre Aktivitäten jedoch zurück und überließen nunmehr die daraus folgenden Nachteile den Gaststaaten. Deren Steuereinnahmen verminderten sich dann infolge der Produktionsein­ schränkungen, während ihre Sozialleistungen für die in die Arbeitslosigkeit entlassenen einheimischen Mitarbeiter der Konzerne stiegen. Die Staaten hatten schließlich keine andere Wahl, als entweder ihre ‒ ohnehin geringen ‒ Sozialstandards nochmals zu senken oder sie mit Krediten zu finanzieren. Beides nagte an ihrer Souveränität. Denn senkten sie die Sozialstandards unter ein zum Überleben erforderliches Minimum, dann mussten sie mit Unruhen unter ihrer Bevölkerung rechnen; ihre Regierungen gerieten in die Gefahr, abgewählt oder gestürzt zu werden, ihre ohnehin nur labile Herr­ schaft drohte vollends zu verfallen. Nahmen sie dagegen Kredite auf, dann begaben sie sich in die Abhängigkeit der Finanzmärkte mit weiteren Folgen: Die Weltbank oder der Internationale Währungsfonds, die die Kredite ge­ währten, mussten sich das Geld dafür von kapitalkräftigen Staaten beschaf­ fen; diese aber zahlten nur, wenn die notleidenden Staaten äußerste Haus­ haltsdisziplin versprachen, d. h. ihre Fiskal- und Sozialpolitik ihren wirt­ 541  In verschiedenen Ländern wurden inzwischen spezielle Polizeieinheiten mit der Bekämpfung von Computerkriminalität beauftragt. Europol hat seit 2013 eine eigene Abteilung zur Koordination der Zusammenarbeit eingerichtet: das Europäische Zentrum zur Bekämpfung der Cyberkriminalität (EC3). In Deutschland wurden seit 2014 bei den Landeskriminalämtern und beim Bundeskriminalamt sogen. Zentrale Ansprechstellen Cybercrime (ZAC) eingerichtet. Ebenfalls existieren Kooperationen zwischen Sicherheitsbehörden und der Digitalwirtschaft wie beispielsweise die Si­ cherheitskooperation Cybercrime des Bitkom mit mittlerweile sechs Landeskriminal­ ämtern.



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schaftlichen Verhältnissen anpassten. Hierüber übernahmen die kapitalkräfti­ gen Staaten anschließend die Kontrolle, und die staatlichen Schuldner büßten entsprechend an Souveränität ein.542 Selbstverständlich hatten wirtschaftlich schwache Staaten auch sonst am Weltmarkt einen schweren Stand, weil die dort herrschende Freiheit des Wettbewerbs weitgehend nach dem Gesetz der Fische verläuft, wonach die großen die kleinen fressen. Auf diesem Markt haben die kapitalkräftigen Staaten schon deshalb die besseren Chancen, weil sie wirtschaftlich stärker miteinander vernetzt sind, Stammsitze multinationaler Unternehmen sind und deshalb u.  a. auch zur Beteiligung an aufwändigen internationalen For­ schungsprojekten eingeladen werden, von denen anschließend wiederum ihre einheimische Industrie am meisten profitiert. Ihre Adhäsionskraft auf große Wirtschaftsunternehmen sowie deren Adhäsionskraft auf die kleineren Wirt­ schaftsunternehmen schwächerer Staaten führt infolgedessen relativ schnell zu Zusammenballungen wirtschaftlicher Macht, die dann, unterstützt durch oligopolistische Verhaltensweisen, zur Gefahr nicht nur für die Wirtschafts­ unternehmen in den schwächeren Staaten, sondern auch für die schwächeren Staaten selber werden können. Die Gefahr bezieht sich sowohl auf die wirt­ schaftliche Konjunktur als auch auf das wirtschaftliche Wachstum in den schwächeren Staaten. Rechtliche Kontrollmöglichkeiten sind nur sehr be­ grenzt vorhanden. Beispielsweise können multinationale Unternehmen konjunktureller Schwankungen durch interne Auftragsverschiebungen ohne Rücksicht darauf ausgleichen, welche Länder davon betroffen sind, nicht aber kleine Volkswirtschaften, die eine nur geringe industrielle Diversifikation aufweisen, sodass sie von den Schwankungen ungebremst getroffen werden.

(δ) Entwicklungen aufgrund von Umweltveränderungen. Die Fähigkeit des Menschen, die Natur in Kultur umzuformen, ist von alters her mit dem Kon­ zept ‚Verantwortung‘ verbunden gewesen. Zwei Fragen stellen sich insoweit: Verantwortung wofür? Und: Verantwortung wem gegenüber? Die Beantwor­ tung der ersten Frage ist von existentieller Bedeutung, weil der Mensch, wenn er überleben will, ein Passungsgefüge zwischen sich und der Umwelt aufrechterhalten muss. Dagegen kann die zweite Frage, wem gegenüber die Verantwortung besteht, insoweit unbeantwortet bleiben, wie sie auf eine me­ taphysische Instanz verweist. Denn ob ein Gott oder eine andere metaphysi­ 542  Die Gründe für eine Staatsverschuldung sind allerdings vielgestaltig und müs­ sen längst nicht immer in der Beschäftigungspolitik weltweit agierender Konzerne ihre Ursache haben. Griechenland etwa ist ein Beispiel dafür, dass auch das Anheizen von Konsum in der Bevölkerung verbunden mit grassierender Steuerhinterziehung, Korruption und verschwenderischer Indienstnahme von unfähigen Staatsbeamten ei­ nen Staat in den Ruin treiben können.

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sche Instanz die Verantwortung einfordert, ist für den Umfang der Verant­ wortung letzthin gleichgültig und bedarf deshalb keines Bekenntnisses.543 In der erstgenannten Hinsicht ist man sich einig, dass der Mensch im Rah­ men seiner Fähigkeiten für die Erhaltung primär der vitalen Voraussetzungen seiner Existenz und erst sekundär für die seiner kulturellen Errungenschaften verantwortlich ist. Deshalb verwundert es nicht, wenn die Diskussion um den Rechtsschutz, den die Umwelt genießen soll, sich primär auf die natürlichen Lebensbedingungen des Menschen konzentriert. Dass „Umweltschutz Dienst am Menschen sein soll“, wie die Forderung beispielhaft lautet, bezieht sich primär auf die vitale Existenz des Menschen. Doch sollte wirklich nur der natürliche Mensch Schutzgut des Umweltrechts sein? Gehört nicht auch die Kultur des Menschen zu seiner ‚natürlichen‘ Umwelt, sodass der Umwelt­ schutz auch diese einschließen muss? Möglichkeiten zum rechtlichen Schutz sind jedenfalls in der ganzen Breite vorhanden. Der Mensch kann nicht nur dem Wandel des natürlichen Klimas, der allmählichen Erschöpfung der im Boden liegenden Rohstoffe, dem Aus­ sterben von Tier- und Pflanzenarten, sondern auch der Vernichtung oder dem Verfall seiner historischen oder künstlerischen Denkmale Einhalt gebieten: indem er nicht nur ein Weniger an schädlichen Stoffen in die Atmosphäre emittiert, Rohstoffe mittels Recycling verfügbar hält, Tieren und Pflanzen ihren Lebensraum lässt, sondern auch sein kulturelles Erbe erhält und pflegt, um es künftigen Generationen überantworten zu können. Heute geht deshalb die wohl ganz überwiegende Meinung dahin, dass ein die menschliche Kul­ tur einbeziehender umfassender Umweltschutz auch das „Weltkulturerbe“ einschließt und dass an den entscheidend wichtigen Stellen auch das Recht, notfalls sogar das Strafrecht, am Schutz zu beteiligen ist. Aus diesem Grunde gibt es heute eine große Zahl von Ansätzen zu einem umfassenden Rechts­ schutz, von denen indes nur ein Teil die erhoffte Wirkung erzielt.544 • Normen zum Schutz des Klimas (dazu oben Fn. 91, 118 und 386). • Normen zum Schutz des Bodens und der Bodenschätze: Konvention zum Schutz der Alpen vom 7.11.1991 und der Wüsten von 1994 (United Nations Convention to Combat Desertification in those Countries Experiencing Serious Drought and/or Desertification, particularly in Africa, UNCCD). Im Übrigen ist der Bodenschutz lediglich Gegenstand verschiedener Initiativen und Aktionsprogramme (z. B. UNECE, Integrated Planning and Management of Land Resources, Report of the Secretary-General vom 1.2.2000, Dok.-Nr. E/CN 17/2000). 543  Insbesondere hat die Antwort keinen unmittelbaren Bezug zur christlichen Re­ ligion, wie etwa O. Kimminich (1987, S. 54 ff.) glauben machen will und dadurch zu Übersteigerungen wie dieser gelangt: „Wer die Umwelt auch nur im geringsten schä­ digt, … hat seine Verantwortung für ‚die Erde‘ missachtet.“ (S. 56). 544  Zum Umweltvölkerrecht zusammenfassend M. Buck/R. Verheyen (2007).



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• Normen zum Schutz bedrohter Tier- und Pflanzenarten: Konvention über die bio­ logische Vielfalt (CBD) von 1992 (BGBl II 1993, S. 1742); Abkommen über den internationalen Handel mit gefährdeten Tierarten (CITES) von 1973 (BGBl II 1975, S. 773); zum Schutz der Tiere vor Leid vgl. Art. 20a GG. Die Pflanzen­ schutzgesetze schützen nur die Umwelt vor dem Gebrauch von Pflanzenschutzmit­ teln, die für die Umwelt gefährlich sind. • Normen zum Schutz menschlicher Kulturgüter: Der wichtigste völkerrechtliche Vertrag ist das Haager Übereinkommen zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten von 1954. Er wird ergänzt durch mehrere Übereinkommen der UNESCO u. a. zur Verhütung der illegalen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut von 1970, zum Schutz des Kulturerbes unter Wasser von 2001, zur Er­ haltung des immateriellen Kulturerbes von 2003 und zum Schutz und zur Förde­ rung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen von 2005.545

Solange der Mensch verpflichtet wird, Kraft und Geld in den Umwelt­ schutz zu investieren, ohne dass ihm ein seine Verpflichtung legimierender Grund benannt wird, bleibt das Ziel und damit der Umfang seiner Verpflich­ tung allerdings unbestimmt. Manchmal wird insoweit auf die Notwendigkeit hingewiesen, die ‚Zukunft‘ des Menschen zu sichern; doch wie diese Zukunft aussehen soll und welcher Mittel sie zur Rettung bedarf, wird der Fantasie und den Bedürfnissen des Einzelnen überlassen. In Deutschland haben die Politiker beschlossen, „in Verantwortung für die künfti­ gen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere“546 zu Schutzgü­ tern des Staates zu erheben und sie „im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung“ für die staatliche Gesetzgebung verpflichtend zu machen (Art. 20a GG). Sie haben damit die metaphysische Frage nach dem Grund der Verantwortung zum einen nur ‚anthropozentrisch‘ und zum anderen zu eng beantwortet. Denn trägt der Mensch wirklich nur um seiner selbst willen und selbst insoweit nur für seine „natürlichen Lebensgrundlagen“ die Verantwortung? Ist nicht vielmehr mit seiner Herrschaft über immer weitere Bereiche der Natur auch seine Verantwortung für die Natur insgesamt immer mehr gewachsen? Und was insbesondere die Tiere anbelangt: Welche Tiere will man schützen? Und reicht bereits die Einrichtung von Zoologischen Gärten und einigen wenigen Wildreservaten aus, um „künftigen Generationen“ von Menschen einen Eindruck von der (einstigen) Lebendigkeit der Natur zu verschaffen?

545  Convention on the Means of Prohibiting and Preventing the Illicit Import, Export and Transfer of Ownership of Cultural Property; Convention on the Protection on the Underwater Cultural Heritage; Convention for the Safeguarding of the Intangible Cultural Heritage; Convention on the Protection and Promotion of the Diversity of Cultural Expressions. 546  Welche Tiere gemeint sind, bleibt unklar und der Auslegung überlassen. Ebenso unklar bleibt, welches Entwicklungsniveau ein Tier erreicht haben muss, um in den Schutz der menschlichen Staatsverfassung zu kommen?

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

(ε) Entwicklungen aufgrund von psychischen Veränderungen.547 Bevor ich mich näher in die für die Zukunft zu konservierende Welt hineinbegebe, er­ scheint es mir sinnvoll, zunächst auf den Wandel der Vorstellung hinzuwei­ sen, die der Mensch von der Gegenwart derjenigen Welt besitzt, in der er lebt. Ich knüpfe dabei an das früher genannte Beispiel des geschäftlichen Tausches an:548 Der ursprüngliche Blick des Menschen war noch streng an die Realität gefesselt und konnte nur den handhaften Austausch realer Güter erfassen und zum Gegenstand normativen Schutzes machen. Erst später trat die Vorstellung eines handhaften Austausches hinzu und bildete einen selb­ ständigen psychischen Tatbestand, der ebenfalls normativ geschützt werden konnte und aufgrund dieses Schutzes wirtschaftlichen Wert erlangte. Der Mensch löste m. a. W. das Leitbild seines zukünftigen Verhaltens vom gegen­ wärtigen Abbild und benutzte eine Norm, um den Halt an der Realität nicht zu verlieren, sondern de iure (schon) zu haben, was de facto (noch) nicht zu haben war. (αα) Leitbilder ersetzen Abbilder. Leitbilder wie das eben genannte sind Vorwegnahmen von Zielen, welche Handlungen aktualgenetisch vorauslie­ gen, der eigenen Entwicklung ontogenetisch das Maß vorgeben und den Be­ reich der Möglichkeiten abgrenzen, die phylogenetisch durch Variation und Selektion oder kulturgenetisch mittels eines Trends verwirklicht werden kön­ nen. Ein solcher Anlass zum Entwerfen kultureller Leitbilder ergibt sich meis­ tens an geschichtlichen Wendepunkten: wenn die Menschheit innehält und sich auf sich selber besinnt. Einen solchen Wendepunkt gab es zuletzt Mitte des 20. Jh.s., als der Zweite Weltkrieg endete. Der zuvor auf die Beendigung des Kriegs fixierte Blick war frei, um nunmehr die Kontrolle der aus dem 19. Jh. überkommenen Leitbilder ins Auge zu fassen. Dies geschah, und bei genauerer Musterung fiel auf, wie viele der Leitbilder inzwischen entweder verblichen oder unscharf geworden waren. Sie bedurften offenbar entweder der Neudefinition oder des Ersatzes durch neue Leitbilder. Ein verblichenes Leitbild war beispielsweise das der Ehre. Am Ende des 19. Jh. und in der ersten Hälfte des 20. Jh.s war die Ehre in Deutschland noch Gegenstand eines ganzen Bündels von Rechten gewesen, deren Aberkennung nach einer schweren Straftat – insbesondere einer, die „einer ehrlosen Gesinnung entsprungen ist“ (§ 20 RStGB) – zum „Verlust aller öffentlichen Ämter, Würden, Titel, Orden und Ehrenzei­ chen“ führte (§ 33 RStGB). Ihre nahezu religiöse Bedeutung kam anlässlich eines 547  Die folgenden Ausführungen beziehen sich vorzugsweise auf die ‚westlich‘ orientierten Völker Europas, Amerikas und Australiens. Innerhalb der industriell fort­ geschrittenen Länder Asiens und Afrikas lassen sich teilweise ähnliche Tendenzen der Rechtsentwicklung beobachten, doch sind mir zusammenfassende Untersuchungen nicht bekannt. 548  Siehe oben J 5 d β ββ a. E.



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Meineids zum Ausdruck: Er machte den Meineidigen ehrlos und die Aberkennung seiner Ehrenrechte obligatorisch (§ 161 RStGB). Rechtlich bereits nicht mehr aner­ kannt war allerdings die Verteidigung bzw. Wiederherstellung der Ehre im Zwei­ kampf; gleichwohl hatte ein Zweikampf, wenn er tödlich verlief, nicht die schweren strafrechtlichen Folgen des normalen Tötungsdelikts. Heute ist auch diese Vergünsti­ gung entfallen, das alte Leitbild der persönlichen Ehre nebst seiner rechtlichen Be­ deutung ist dadurch nahezu unkenntlich geworden, ein klares neues Leitbild allerdings bisher nicht an seine Stelle getreten. Ein zwar neues, aber ebenfalls undeutlich konturiertes Leitbild war der demokratische Staat. Das Volk zeichnete zwar „kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt“ die Umrisse (so die Präambel des GG). Die aufgrund der Verfassung erlassenen Gesetze waren jedoch kein vom Volk dem Staat, sondern vom Staat dem Volk gegebenes Recht. Auch die gesetzlich angelegte Trennung in ein vom Bürgertum dem Staat ge­ gebenes Verfassungsrecht und ein vom Staat dem Bürgertum gegebenes Zivilrecht war bereits von ihrem Ursprung her verwischt. Denn einerseits verdankte das deut­ sche „Grundgesetz“ seine Existenz nicht etwa in einem plebiszitären Akt des deut­ schen Volkes, sondern dem Beschluss eines Parlamentarischen Rates, der seinerseits nichts Bürgerliches verkörperte. Und andrerseits verdankte das deutsche BGB sich nur teilweise Akten staatlicher Rechtssetzung, nämlich den Gesetzen der deutschen Länder, die sich 1871 zum Deutschen Reich zusammengeschlossen hatten, sowie dem Corpus iuris civilis des römischen Reiches, das diese Länder im Mittelalter einst re­ zipiert hatten;549 wesentliche Teile waren dagegen den vom Naturrecht durchsetzten Rechtsgewohnheiten der deutschen Volksrechte verpflichtet, die man als Land- und Stadtrechte lediglich aufgezeichnet hatte.

Soweit die Politiker nach dem Zweiten Weltkrieg völlig neue Leitbilder erzeugten, geschah das großenteils bewusst unscharf, damit die neue pluralis­ tische Gesellschaft darin möglichst umfänglich die Erfüllung ihrer Wünsche und Hoffnungen wiederfinden konnte (etwa im schon erwähnten Art. 20a GG). Statt auf subjektive Werte richteten sie die Leitbilder daher auf Sym­ bole aus, die Interpretationen zugänglich sind und einer Fülle von politischen und rechtlichen Ansprüche als Legitimation dienen können. Dass sie zerfie­ len, sobald die Klammer des Rechts sie auf ein konkretes Modell hin aus­ richten sollte, war deshalb nicht verwunderlich. Ein Beispiel ist das Leitbild der ‚Europäischen Union‘: Einige Politiker hatten hauptsächlich ein Kerneuropa vor Augen und sahen dessen Zusammenhalt in einer Föderation als erstrebenswert an. Andere schlossen sämtliche Staaten von Portugal bis zum Ural darin ein, sodass ihrem visionären Blick eine ‚kreative Einheit der Ge­ 549  Der Rezeption lag die Überzeugung zugrunde, dass das römische Recht – in der Gestalt, die ihm der oströmische Kaiser Justinian und ihm nachfolgend die Glos­ satoren und Postglossatoren gegeben hatten – in den deutschen Ländern notwendig gelten müsse, da das Römische Reich Deutscher Nation Nachfolgerin des Römischen Weltreichs geworden sei und daher auch die römische Rechtsordnung übernommen habe. Diese Überzeugung konnte sich umso leichter durchsetzen, als das von den oberitalienischen Juristen bearbeitete römische Recht dem einheimischen deutschen Recht deutlich überlegen war.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

gensätze‘ als Ziel vorschwebte – „an uneasy tension with two competing senses of the polity’s self, the autonomous self and the self as a part of a larger community“550. Noch andere erkannten darin den großen Rahmen, der eine Vielzahl von größeren, kleineren und selbst kleinsten Einheiten vereint: entweder als Staatenbund oder als Bundesstaat – gleichsam als überdimensionale Schweiz.

Doch nicht etwa nur die großen, auch die kleinen Leitbilder teilten das Schicksal, in normative Symbole verwandelt zu werden: Persönliche Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung fanden sich im rechtlichen Rahmen der Menschenwürde und der freien Entfaltung der Persönlichkeit wieder, jene zwar „unantastbar“, aber weitgehend beliebig auszufüllen,551 diese zwar mit einem Vorrecht vor der Gemeinschaft ausgestattet und dadurch in westli­ chen Kulturen verortet,552 aber auch mit einem hohen Anteil an Selbstverantwortung verbunden, die ihre stark restriktive Interpretation rechtfertigen konnte. Selbst das uralte Leitbild der Ehe als Gemeinschaft von Mann und Frau wurde nur schwach gegen die alsbald aufkommenden Bestrebungen verteidigt, es als zeitbedingt und daher beliebig re- bzw. deformierbar zu begreifen. Stattdessen wurde zunächst ein weiter Kranz von eheähnlichen Formationen um ihr Leitbild herum gelegt und schließlich das Leitbild selbst in die ‚Ehe für alle‘ aufgelöst − wobei unklar blieb, warum diese sich eigent­ lich auf Zweierbeziehungen beschränken soll, obwohl in anderen Kulturen auch Polygamie (beschränkt i. d. R. auf Polygynie) anstandslos geduldet wird. Ähnlich erging es der Selbstbestimmung im Glauben, die sich inmitten eines Sammelsuriums von weltanschaulichen Überzeugungen wiederfindet553 und dadurch ihre Sonderstellung einbüßt.554 Statt ihrer verhalf das Recht daher lieber der glaubensunabhängigen Selbstbestimmung mit konkreten Aktivi­ täten bis hin zur Vollbeschäftigung auf die Beine. Und die Bildung von 550  J. H. H. Weiler

(1991), p. 2480. M. Herdegen (2009), GG Art. 1 Rn. 80 ff., zum gesetzgeberischen Ermes­ sen, welchen Umfang die Schutzpflicht zugunsten der Menschenwürde haben soll. 552  Nach chinesisch-konfuzianischer Lehre tritt dagegen der Schutz von Individu­ alrechten fast vollständig hinter die Interessen des Gemeinwohls zurück. Der Ein­ zelne geht in der Gemeinschaft auf; individuelle Abwehrrechte gegen den Staat sind traditionellem chinesischem Rechtsdenken fremd (vgl. G. Kaminski, 1978, S. 16 ff.; F. Spengler, 1980, S. 199 ff.). Zwar enthalten die meisten modernen Verfassungen auch asiatischer Staaten heute Grundrechtskataloge unterschiedlicher Reichweite; diese gehen jedoch auf den Einfluss westlichen Verfassungsdenkens im 19. und 20. Jh. zurück (für Japan vgl. T. Miyazawa, 1986, S. 77). 553  Nach St. Muckel (2011, S. 580) geben beide, „Religion und Weltanschauung, Antworten auf Fragen nach dem Sinn der Welt, insbesondere nach dem Sinn des menschlichen Lebens.“ Aber auch sonst besteht die Tendenz zu einer Abwertung der Religion und zu einer Aufwertung alternativer Weltanschauungen (z. B. Ch. Starck, 2005, GG Art. 4 Rn. 10, 32), was allenfalls zeitbezogen erklärt werden kann. 554  Vgl. allerdings Art. 4 Abs. 2 GG, wo nur „die ungestörte Religionsausübung gewährleistet“ wird. Diese Norm wird aber durchgehend nivellierend interpretiert. 551  Vgl.



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Vereinen und Gesellschaften stellte es vollends der Willkür anheim: Im Rah­ men der verfassungsrechtlichen Ordnung darf jeder sein Selbst in beliebigen Formationen verwirklichen ‒ auch unabhängig davon, ob eine Verwirkli­ chung seiner selbst dabei herauskommt.555 Während insoweit der Eindruck großer Beliebigkeit besteht, zeigten die Staaten Flagge beim Widerstand gegen die Auswüchse der technisch/techno­ logischen Revolution. Überall wo Wissenschaftler dem technisch Machbaren schlecht­hin den Primat über das natürlich Gewordene zugestehen wollten, verteidigten sie die vom sittlichen Gefühl gesteckten Grenzen:556 Keine tech­ nische Macht solle sich über die metaphysischen Verbote der zeitgenössi­ schen (verfassungsrechtlich allerdings kaum präzisierten) Moral hinweg­ setzen; bedingungslos ausleben dürfe wissenschaftliche Hypertrophie sich allenfalls in Fantasiefilmen und in den virtuellen Räumen des elektronischen Datennetzes.557 (ββ) Erstreckung des Eigentums auf Geisteswerke. Auf eine klarer gezeich­ nete Entwicklung stoßen wir beim juristischen Eigentumsbegriff. Ursprüng­ lich hatte er sich allein auf materielle Güter bezogen, ein Eigentumsrecht an immateriellen Gütern kam erst relativ spät hinzu. Drei Gründe dürften den Ausschlag gegeben haben: Erstens bereitete die positive Auszeichnung von negativ leichthin Immaterialgütern genannten Objekten als Subjekten rechtli­ chen Schutzes größere Schwierigkeiten als die entsprechende Auszeichnung materieller Güter; zweitens war der Bruch des sozialen Friedens beim Eingriff in geistige Güter nicht so offensichtlich wie beim Eingriff in körperliche Güter; und drittens schied Selbsthilfe in Form von Notwehr gegen einen Eingriff in Geistesgüter meistens aus, weshalb das Recht keinen Anlass hatte, dem Gewaltmonopol des Staates die Regulation zu überlassen. Einzelheiten558: Dem Altertum blieben Bedeutung und Schutzwürdigkeit eines auch ‚geistigen Eigentums‘ zwar nicht völlig verborgen. Dennoch kam es nicht zu gesetz­ lichen Schutzbestimmungen, weil große technische Erfindungen entweder sofort All­ gemeingut oder noch nicht gemacht waren, sodass sich insoweit ein Schutz erübrigte. Lediglich für das Warenzeichen bestand ein breiteres Schutzinteresse, weshalb wir im römischen Recht erste Anzeichen seines strafrechtlichen Schutzes finden.559 555  Die entsprechenden Regelungen sind für Deutschland in den Art. 4, 8, 9 und 12 GG enthalten. 556  BVerfGE 128 1 ff., 40 f. 557  Sie hat sich dort ein dem realen analoges virtuelles Leben erschaffen. Wer neu­ gierig ist, kann dessen Auswüchse (kostenpflichtig) verfolgen − sollte aber auch be­ denken, dass bisher irreale Welten gern ihren Bezug zur Realität gesucht und ihn oft genug gefunden haben. 558  Vgl. dazu E.-J. Lampe/U. Wölker (1976), ferner oben F 3 γ a. E. 559  Den Missbrauch des als Warenzeichen verwendeten Namens bestrafte die Lex Cornelia de Fabris. Darüber hinaus gab die actio iniuriarium die Befugnis zur Ab­

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

Im Mittelalter blieben die Kunstwerke weitgehend anonym, die Individualität der Künstler folglich schutzlos. Erfindungen beanspruchten die mittelalterlichen Zünfte als ihr Gemeingut. Lediglich für ästhetische Gestaltungen erlangten deren Erfinder rechtlichen Schutz. Geschützt wurden vor allem die Warenbezeichnungen (Ursprungs­ marken) der Kaufleute. An der Wende zur Neuzeit löste die merkantilistische Politik der Fürsten und eini­ ger Städte erstmals einen stärkeren Bedarf nach einem allgemeinen Urheber- und Erfinderschutz aus. Einzelpersonen, die durch Erfindungen oder durch neue Gewer­ bezweige den Wohlstand des Landes gehoben hatten, erhielten – als Belohnung und Ansporn – Erfinder- und Gewerbeprivilegien, woraus sich später die Patente entwi­ ckelten. Die Erfindung des Buchdrucks um 1450 sowie die ständige Fortentwicklung von Vervielfältigungsverfahren festigten dann die Überzeugung, dass ein geistiges Werk seinem Urheber gehöre und dass folglich ein ‚Diebstahl‘ auch dann verwerflich sei, wenn er ein geistiges Gut betrifft.560 Hinzu trat ein gestärktes Persönlichkeitsbe­ wusstsein, das gerade schöpferisch tätige Menschen beseelte und schließlich John Locke veranlasste, mit einer Arbeitstheorie die Grundlage für die Ausdehnung des Eigentumsbegriffs auf alle Produkte geistiger Arbeit zu legen.

Praktische Auswirkungen zeigte die Anerkennung des geistigen Eigentums allerdings erst in der Gesetzgebung des 19. Jh.s. Zunächst standen hier noch die Parallelen zum Schutz der körperlichen Werke im Vordergrund, weshalb es noch eines weiteren Differenzierungsschrittes bedurfte, um das Immate­ rialgüterrecht vom immateriellen Persönlichkeitsrecht und vom ebenfalls immateriellen Urheberrecht zu sondern. Diesen Schritt vollzog erst Josef Kohler mit seinen Lehren vom (a) Immaterialgüterrecht als „dem Recht der ökonomischen Ausbeute des immateriellen Gutes,“561 (b) Persönlichkeits­ recht als dem Recht an der Geheimhaltung von geistigen Werken, an denen kein schriftstellerischer Wert besteht, und (c) Urheberrecht als Recht am schriftstellerischen Wert eines Werkes.562 Ob damit die Entwicklung zum Abschluss gekommen ist, muss dahingestellt bleiben. Zweifel bestehen, weil Kohler für das Persönlichkeitsrecht immer noch die Verkörperung eines Ge­ dankens in einer Schrift verlangte, während sich die Entwicklung in letzter Zeit von der Schrift auf andere Medien (Telefon, Teleelektronik) verlagert hat. Das deutsche Recht hat deshalb in Art. 10 Abs. 1 GG außer dem Briefauch das gesamte Post- und Fernmeldegeheimnis unter staatlichen Schutz gestellt und damit auch Kommunikationen bloß geschäftlichen oder politi­ wehr der im Gebrauch des fremden Namens liegenden Kränkung und die actio doli die Befugnis zum Ersatz des Vermögensschadens. 560  Durch Privilegien geschützt wurden zunächst allerdings weniger die immateri­ ellen Geistes- als die materiellen Druckwerke, also das Vermögen der Drucker und Verleger. Nur vereinzelt trugen Autorenprivilegien dem Rechtsbewusstsein der Urhe­ ber in Bezug auf ihr geistiges Erzeugnis Rechnung. 561  J. Kohler (1880), S. 131. 562  J. Kohler (1907), S. 16 f.



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schen Inhalts563 sowie in unkörperlicher Übermittlung (Kabel oder Funk, ­e-mail oder SMS) oder in unkörperlicher Ausdrucksform (Sprache, Bilder, Töne, Zeichen oder sonstige Daten)564 erfasst. Umfassend geschützt hat fer­ ner Art. 7 der europäischen GR-Charta jegliche Art der Kommunikation, gleichgültig ob sie in Schriften oder anderweitig zum Ausdruck gekommen ist und ob sie einen literarischen Wert besitzt. (γγ) Erstreckung der Vergeistigung auf Zahlungsmittel. Typisch und daher bedeutsam erscheint in diesem Zusammenhang auch die Entwicklung der Zahlungsmittel als symbolisches Entgelt für den Nutzen von Waren- und Dienstleistungen. Sie verlief ebenfalls erst langsam, dann aber umso schnel­ ler und begleitet vom rechtlichen Schutz. Wert- und Nutzenvorstellungen gab es zwar schon in vorgeschichtlicher Zeit, nach­ dem sich das Konzept der Reziprozität herausgebildet hatte. Doch bedurften die frü­ hesten Formen des Lohns für geleistete Arbeit sowie des Entgelts für Handelsware noch keiner Zahlungsmittel, da Fremdarbeit mit Naturalien, der Erwerb von Sachgü­ tern mit der Hingabe anderer Sachgüter entgolten wurde. Die Wertmaßstäbe, nach denen das geschah, konnte man auf diese Weise freilich nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck bringen; man hätte dafür den Bereich der anschaulichen Realität ver­ lassen müssen, und dazu war der menschliche Geist zunächst entweder unfähig oder jedenfalls nicht willens. Den Übergang zur Erfindung des Geldes bildete daher erst die Vorstellung eines überall gleichermaßen nützlichen realen Objekts, wofür sich innerhalb bäuerlicher Kreise hauptsächlich Rinder und Ziegen, innerhalb handwerkli­ cher Kreise hauptsächlich kleine Metallstücke anboten.565 Nachdem jedoch der Han­ del einen beträchtlichen Aufschwung genommen hatte, verwendete man ausschließ­ lich kleine Gegenstände von einem spezifischen Handelswert (Muscheln, Perlen), später meistens Edelmetalle (Gold, Silber, Kupfer, Bronze) als Entgelt. Und schließ­ lich waren, wie wir von Herodot erfahren, die Lyder „die ersten Menschen, von denen wir wissen, dass sie aus Gold und Silber geprägte Münzen verwendet haben“.566

Münzgeld wurde unerlässlich, als sich der Handelsverkehr zwischen den antiken Staaten verstärkte und weder allein durch Warentausch abgewickelt werden konnte noch durch zum Tausch hingegebene Gegenstände, deren Wert von Ort zu Ort verschieden war. Man brauchte also Gegenstände, die im gesamten Handelsraum einen festen Gegenwert zu den gehandelten Wa­ ren herstellten. Daher wurde im Mittelmeerraum, wo sich der Handel kon­ zentrierte, die Zahlung mit Münzgeld üblich und das griechische Münzgeld 67 157 ff., 172; BVerfGK 11 33 ff., 42; BFHE 194 40 ff., 44. BVerfGE 106 28 ff., 36; 115 166 ff., 182 f.; 120 274 ff., 307; BVerfGK 9

563  BVerfGE 564  Vgl.

62 ff., 72. 565  Deutlich wird dies sowohl am römischen Wort für ‚Geld‘ – pecunia leitet sich von pecus (= Vieh) ab – als auch am griechischen Wort für ein Entgelt – ὀβολός als Name für eine attische Münze bezeichnet einen kleinen spitzen Metallstab (vgl. auch ‚Obelisk‘). 566  Herodot, Historien I 94.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

(δραχμή, στατήρ) als das der stärksten Handelsmacht zur führenden Währung (während zum Münzgeld anderer Staaten Umrechnungskurse festgesetzt wurden). Danach war die Entwicklung zunächst einmal abgeschlossen. Das Münz­ wesen beherrschte das ganze Mittelalter und endete erst im 19. Jh., als an­ stelle der Münzen Banknoten in den Verkehr kamen. Das Publikum nahm sie zunächst nur deshalb als Zahlungsmittel an, weil als Sicherheit für ihren Wert bei den Banken Goldreserven zur Verfügung standen und die Noten somit jederzeit in ‚bares Geld‘ umgetauscht werden konnten. Indessen wurde die Einlösepflicht im Laufe des 19. Jh.s in den meisten Staaten aufgehoben (in Deutschland erst 1909, in den USA sogar erst 1913), sodass danach die Deckungspflicht in Gold zwar zunächst noch fortbestand, im Rechtsverkehr aber keine Rolle mehr spielte. Den wirtschaftlichen Alltag beherrschte daher ein Geld, das zwar noch Wert hatte, selbst aber wertlos war. Deutlich sichtbar wurden die Folgen des Übergangs von der Gold- zur Papierwährung gegen Ende des Ersten Weltkriegs. 1917 wurde anstelle des Goldes der US-amerikanische Dollar als internationale Leitwährung verein­ bart und dessen Kurs nach vielen Schwankungen – Währungschaos in den 1920er und 1930er Jahren,567 völliger Neubeginn 1944 durch den Vertrag von Bretton Woods – auf 35 US-Dollar je Unze Gold festgelegt. Dieses Um­ rechnungsverhältnis konnte man alsbald aber nicht mehr halten; denn auf dem freien Markt stieg der Goldpreis bereits 1974 auf 200 US-Dollar je Unze an. Außerdem traten an die Stelle des Dollars jetzt auch Sonderzie­ hungsrechte, die ursprünglich 1 : 1 gegen den Dollar umgerechnet werden konnten, wenige Jahre später aber vom Goldpreis völlig abgekoppelt wurden und danach sowohl das Gold als auch den Dollar als offizielle Währungsein­ heiten verdrängten. Heute schwankt der freie Goldkurs meistens zwischen 1.500 und 2.000 US-Dollar je Unze, und zwischen den nationalen Währun­ gen und der internationalen Währung des Euro besteht ein freies Floating. Die disziplinierende Wirkung eines festen Außenwertes ist somit entfallen, die Verantwortung für den Geldwert und die Spirale zwischen Preisen und Löhnen trägt allein die Politik, und die Verantwortung für die Geltung des Geldes ruht einzig auf dem Recht. Denn der einzige Wert von Währungen liegt in ihrer Geltung als gesetzliches Zahlungsmittel zum Kauf von realen Werten. Dadurch haben sie einen letzten staatlich verbürgten Bezug zur Re­ alität behalten. Selbst dieser Bezug zur Realität fehlt indes den heute ebenfalls als Zah­ lungsmitteln verwendeten digitalen Kunstwährungen, etwa den Bitcoins. Bei 567  In Deutschland erreichte der Preis für einen Dollar 1923 die gigantische Summe von 4.200 Mrd. Mark.



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ihnen handelt es sich um privat geschöpfte, kryptographisch gesicherte elekt­ ronische Währungen, die in multilateralen Verrechnungskreisen eingesetzt werden können.568 Sie erlauben u. a. Zahlungen ohne die Mitwirkung von Fi­ nanzinstituten, sodass ihre Benutzer Kosten sparen. Geltung besitzen sie der­ zeit nur in einem imaginären Weltstaat. Allerdings werden sie von vielen Na­ tionalstaaten (u. a. auch von Deutschland) als „Rechnungseinheit“ anerkannt. Ihr zukünftiges Schicksal ist derzeit ungewiss. Gewissheit besteht lediglich darin, dass mit der höchstmöglichen Stufe der Vergeistigung im Zahlungsver­ kehr die Verbindung zu materiellen Werten vollständig abgetrennt worden ist. (δδ) Das ‚geistige Reich‘. Gemeinsam ist den drei vorgestellten Entwick­ lungen ‒ im Vertragsbereich des obligatorischen Rechts, im Eigentumsbe­ reich des dinglichen Rechts und im Wertbereich der Zahlungsmittel ‒ die evolutionäre Tendenz des menschlichen Geistes, sich aus eigener Kraft (wenngleich mit maschineller Unterstützung) eine von der Realität abgelöste symbolische Umwelt zu erschaffen.569 Der Mensch benutzt seine Sinne dann zwar noch als Lieferanten von konkret-realen Wahrnehmungen, doch gestal­ tet er auf ihrer Grundlage – spätestens seit der Erfindung der begrifflichen Sprache – eine abstrakt-ideale Welt, deren reale Zusammenhänge er zusätz­ lich durch immer mehr logische Konstruktionen ergänzt und ihnen durch immer mehr normative Bezüge auch eine soziale und schließlich juristische Bedeutung verleiht. Ein juristisch besonders wichtiges Beispiel ist die Ergänzung des der realen Welt angehörenden Kausalzusammenhangs durch einen der allein gedanklichen Welt ange­ hörenden Bedingungszusammenhang, dem eine juristische Bedeutung zuerkannt und durch die Formel zum Ausdruck gebracht wird: „Mit einem juristisch relevanten Er­ eignis ist eine Handlung nur dann verknüpft, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass die juristische Relevanz des Ereignisses entfiele.“ Um juristisch be­ deutsam zu sein, muss eine Handlung also ein Ereignis nicht nur nach den Gesetzen der Naturwissenschaft (mit-)verursacht haben, sondern dafür auch die gedankliche condicio sine qua non gewesen sein.

Da der Mensch nach dem Grundsatz der Irreversibilität570 seine Erkennt­ nisse nicht auf sinnliche Wahrnehmungen zurückstufen kann, lebt er heute in einer Welt der nicht nur sinnlichen, sondern auch logischen Zusammenhänge. Dementsprechend bindet er sein Denken nicht nur an eine begrenzte sinn­ liche Welt, sondern auch an eine unbegrenze Welt geistiger Symbole und 568  Weitere Kryptowährungen sind u. a. Ripple, Ethereum, Tether und Litecoin – aber das ändert sich schnell. 569  E. Cassirer (1953/1964), S. 129: „Der Fortschritt des Begriffs besteht eben darin, die erste sinnliche Unmittelbarkeit fortschreitend zu überwinden. … Das sinn­ lich-physische Greifen wird zum sinnlichen Deuten – aber in diesem letzteren liegt bereits der erste Ansatz zu den höheren Bedeutungsfunktionen, wie sie in der Sprache und im Denken hervortreten.“ 570  Vgl. dazu oben J 5 e.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

Normen. Diese Welt kann er dann mit unterschiedlichen Vorstellungen beset­ zen (und je nach Vorstellungsgehalt gleiche Gegenstände unterschiedlich, unterschiedliche Gegenstände gleich bezeichnen und bewerten); doch bleibt er dabei an seine Sprachgemeinschaft gebunden, die diese geistigen Indivi­ dualisierungen nur so weit mit vollzieht, wie sie ihr nachvollziehbar vermit­ telt werden. Gelingt die Vermittlung, profitiert davon freilich auch das an Sprache gebundene Recht.571 Künftig sind dann für seinen Inhalt nicht mehr die Eigenschaften von realen Gegenständen, sondern die Bedeutung von da­ für gewählten sprachlichen Bezeichnungen der Stoff und das Grundproblem. Und weil diese Bezeichnungen ihre Herkunft nur noch teilweise aus sinnli­ chen Wahrnehmungen oder Vorstellungen ableiten, im Übrigen aber vom Geist produziert und sprachlich (bzw. ‚phonographisch‘572) in die Welt ent­ lassen werden, eröffnen sie der konkretisierenden gedanklichen Auslegung ein weites Feld. Denn einheitlich ist der Sinn sprachlicher Aussagen fast nur noch dort, wo die Naturwissenschaften ihn an die Realität binden; außerhalb dieses Bereichs bedarf dagegen das Gemeinte entweder der Deutung oder der Übersetzung – etwa in ein Piktogramm, wenn es international verstanden werden soll. Versuche dagegen, die Sprache des Rechts der universell ver­ standenen Symbolsprache der Naturwissenschaften anzugleichen oder sie durch logische Hilfsmittel aus ihrem Sprachdilemma zu befreien, sind ge­ scheitert. Sie mussten scheitern, weil das Recht, solange es Geltung nur auf der Grundlage von Nationalsprachen besitzt, sein ‚geistiges Reich‘ nicht über die Grenzen der jeweiligen Sprachgemeinschaft ausdehnen kann. (ζ) Entwicklungen aufgrund von wissenschaftlichen und technologischen Veränderungen. Die Bedeutung der Naturwissenschaften nicht nur für das soziale Leben, sondern auch für rechtliche Normierung hat seit dem vergan­ genen Jahrhundert ein solches Ausmaß erreicht, dass selbst eine aufs Äu­ ßerste verknappte Darstellung sich auf wenige Schwerpunkte beschränken muss. Zu diesen Schwerpunkten gehören: (1) der Einfluss von wissenschaft­ lich exakt standardisierten Arbeitsabläufen auf die industrielle Produktion (unten αα); (2) der Einfluss von wissenschaftlich exakt standardisierten In­ dustrieprodukten auf die menschliche Umwelt (unten ββ); und (3) der Ein­ 571  Vgl. oben J 5 d β ββ. Immer noch lesenswerte Erörterungen bei H. Ryffel (1969), S.  269 ff., 289 ff. 572  Dazu oben H 2 e. Die Möglichkeit, Gesetze ideographisch bekanntzumachen, wird nicht genutzt, da die Adressaten die Texte nicht würden lesen können. Vermehrt verwendet werden dagegen zur normativen Regelung des Verkehrs auf Straßen und als Hilfen zur Orientierung auf Bahnhöfen sowie an anderen von einem internationa­ len Publikum besuchten Orten aus sich heraus verständliche Piktogramme. Diese be­ setzen mehr und mehr auch die grenzüberschreitende Kommunikation im Internet. Offenbar gehört der Zukunft also die nationale Verständigung mittels einer soweit wie nötig phonographischen, die internationale Verständigung einer soweit wie möglich ideographischen Schrift.



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fluss einer wissenschaftlich standardisierten Umwelt auf den Menschen (un­ ten γγ). (αα) Den Einflüssen wissenschaftlich exakt standardisierter Arbeitsabläufe auf die Industrieprodukte kam innerhalb des Modernisierungsprozesses im 19. Jh. ein besonderes Gewicht zu, weil damals infolge des ständig an­ schwellenden Bevölkerungswachstums der Bedarf nach Waren einfacher Qualität angeschwollen war und nur noch durch eine maschinelle Massen­ produktion bewältigt werden konnte. Zur Bedienung der dafür eingesetzten elektrischen Maschinen waren nicht so sehr intelligente als vielmehr diszip­ linierte Arbeiter erforderlich, da lediglich wenige standardisierte Handgriffe präzise ausgeführt werden mussten. Daneben bestand zwar auch ein Bedarf an Waren höherer Qualität, der aber durch qualifiziertere Arbeitskräfte be­ friedigt musste, die sich für die relativ wenigen standardisierten Einzelschritte auf die Hilfe meistens komplizierterer und differenzierter zu bedienender Maschinen stützen mussten. Das technische Wissen, wie man sowohl leicht zu bedienende Maschinen für unkomplizierte Arbeiten als auch schwieriger zu bedienende Maschinen für kompliziertere Arbeiten herstellt und verwen­ det, erwartete man zum einen von Werkzeugmaschinenfabriken und Institutions of Mechanical Engineers, deren erste man im 18. Jh. in England ge­ gründet hatte und denen weitere auf dem Kontinent bald folgten, zum ande­ ren von den großen Manufakturen, die schon zuvor entstanden waren und lediglich zur Produktionssteigerung erste Kraft- und Arbeitsmaschinen ein­ setzten. Außer durch Naturwissenschaft und Technik wurde die Entwicklung zu standardisierter Produktion durch drei geistige Strömungen vorangetrieben, die lange Zeit als fortschrittlich galten: zum einen durch die politische Strö­ mung des Liberalismus, die auf Sicherheit und Voraussehbarkeit eingestellt war und so dem Bürgertum eine genaue Arbeitsplanung ermöglichte; zum anderen durch die philosophische Strömung des Rationalismus, die das durch industrielle Arbeit erzeugte Höchstmaß an wirtschaftlichem Nutzen zum Richtigkeitskriterium für die Arbeitsplanung erklärte; und zum dritten durch die theologische Strömung der reformierten Kirche, welche die durch Arbeit erzielten wirtschaftlichen Erfolge als Segnungen Gottes interpretierte. Auf ihrer Grundlage bildete sich im Bürgertum des 19. Jh.s ein profitorientiertes, von Gott gesegnetes Unternehmertum heraus, für das die Arbeitskräfte aus der Unterschicht vor allem Produktionsfaktoren waren, die in großen Fabri­ ken maximal nutzbringend eingesetzt werden mussten. Für den Staat bedeu­ tete dementsprechend Wirtschaftswachstum vor allem ‚Zunahme des Sozial­ produkts pro eingesetztem Arbeiter‘. Die Einseitigkeit dieses Denkens zeigte sich auf zwei Ebenen: Zum einen kam die Verteilung des erwirtschafteten Nutzens nahezu ausschließlich den

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Unternehmerfamilien zugute, während die Arbeitnehmerlöhne stagnierten; und zum anderen verarmten diejenigen Familien, denen es an Kraft oder an Willen mangelte, sich den Fabrikregimen auf Gedeih und Verderb auszulie­ fern. Die Staaten sahen sich daher gezwungen, um des sozialen Friedens willen573 auf beiden Ebenen teils ausgleichend, teils helfend einzuschreiten. Dies konnten sie allerdings angesichts der verfestigten Nutzeninteressen auf der einen Seite, der genossenschaftlich organisierten Fürsorgeeinrichtun­ gen574 auf der anderen Seite aber nur, indem sie besonders prekäre Bruch­ stellen durch eine neue, allmählich alle Bevölkerungsschichten einbeziehende Sozialpolitik verrechtlichten und heilten. Ich verweise insofern auf meine früheren Darlegungen.575 (ββ) Die Einflüsse von standardisierten Industrieprodukten auf die menschliche Umwelt waren infolge der Massenfertigung in großen Betrieben nicht nur von Anfang an bedeutend, sie wuchsen auch noch trotz einzelner Ver­ suche zur Gegensteuerung (Art decor, Jugendstil) permanent an. Definiert wurden die standardisierten Produkte meistens durch Bezeichnungen, die entweder auf ihren Gebrauchszweck oder auf besondere Qualitäten hindeu­ ten, die anlässlich der Erfüllung des Gebrauchszwecks erwartet werden dür­ fen.576 Beispiel: Weltweit verbreitete Mobiltelefone tragen zwar unterschiedliche Namen und heißen deshalb entweder „Handy“, „handphone“, „GSM“, „Natel“ oder noch anders;577 sie stimmen jedoch in ihren Kerneigenschaften weltweit überein: Sie sind standardmäßig zum Telefonieren geeignet, können eine Funkverbindung zu einem Netz aufbauen und ortsunabhängig eingesetzt werden. Wer ein Mobiltelefon erwirbt, darf von Rechts wegen auf das Vorhandensein dieser Eigenschaften vertrauen – nicht allerdings auf sonst darin vereinigte Funktionen, selbst wenn sie üblicherweise vor­ handen sein sollten. So können „Handys“ außer zum Telefonieren auch zum Versen­ den von Textnachrichten („SMS“) und zum Fotografieren („Mobiltelefonkameras“, „Smartphones“) taugen, was im Namen nicht zum Ausdruck zu kommen braucht, dann aber auch nicht erwartet werden kann.

Das Recht knüpfte an die standardisierten Qualitätsbezeichnungen an und schützte das Vertrauen der Abnehmer in die zu erwartenden Produkteigen­ schaften. Ein noch weiter gehendes Schutzinteresse veranlasste es, überdies 573  Es gab in fast allen industrialisierten Ländern Hungerrevolten und Zusammen­ schlüsse radikaler Gruppen, die eine grundsätzliche Veränderung der bestehenden Sozialordnung forderten und bei der Wahl der Mittel, mit denen sie die Veränderung herbeizuführen trachteten, nicht zimperlich waren. Besonders die französischen Ar­ beiter wurden dafür berühmt. 574  Vgl. dazu noch unten 6 c η. 575  Siehe oben K 1 a β/γ. 576  Vgl. dazu oben 6 a ζ. 577  Vgl. dazu die Nachweise in wikipedia Art. „Mobiltelefon“.



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entweder den input oder den output der Standardisierungsverfahren zu regeln. Den input konnte es regeln, indem es beispielsweise auf die personelle Zu­ sammensetzung der Institutionen, Kommissionen o. ä. Einfluss nahm, welche die Standardisierungsempfehlungen aussprachen und deren Inhalt definierten. Ob es davon Gebrauch machte, hing von der sozialen Bedeutung der Standar­ disierungsentscheidungen ab: Spielten diese für den Handel, insbesondere für die Kaufentscheidung der Abnehmer standardisierter Produkte, eine Rolle, mischte der Staat sich häufig ein und verlangte beispielsweise die Zuziehung international ausgewiesener Fachleute in die Standardisierungsgremien. Wur­ den die Standardisierungen dagegen nur im Wettbewerb zwischen den Unter­ nehmen relevant, überließ der Staat diesen meistens die Besetzung der Gre­ mien und schritt nur bei unfairen Praktiken ein. Auf den output (d. h. auf die von den Gremien vorgenommenen Standardisierungen) nahm das Recht Ein­ fluss, wenn ihm voraussichtlich auch außerhalb des unternehmerischen Wett­ bewerbs soziale Bedeutung zukam: entweder weil die Produkte zu schlecht oder zu gut funktionierten und darin eine Gefahr für die Öffentlichkeit lag. Zu gut funktionierten ‚Smartphones‘ beispielsweise, wenn ihre Software Funktio­ nen umfasste, die dem Besitzer das Eindringen in die Unverletzlichkeit des persön­ lichen Intimbereichs anderer Personen gestatteten. Dies musste vom Recht verhindert werden, indem es die Hersteller zum standardmäßigen Einbau von Programmschritten in die Software verpflichtete, die das Ausspähen der Privatsphäre ausschlossen.

Außer der Standardisierung von Serienprodukten konnte auch deren indus­ trielle Produktion und ggf. deren Absatz Gegenstand rechtlicher Kontrolle sein. Alle Staaten mussten beispielsweise Vorschriften erlassen und deren Einhaltung überprüfen, wenn die Produktion bestimmter Gegenstände mit Gefahren verbunden war. Sie mussten ferner den Absatz von Produkten reg­ lementieren, wenn die Produkte entweder für die Abnehmer selbst oder für andere gefährlich werden konnten (Beispiel: Verkauf von Waffen): Sie muss­ ten den Absatz dann entweder auf besonders qualifizierte Abnehmer (Bei­ spiel: Besitzer eines Waffenscheins) beschränken oder von der Industrie bzw. den Verkäufern verlangen, dass sie die Abnehmer auf die vom Gebrauch der Produkte ausgehenden Gefahren hinweisen. Bei besonders gefährlichen Pro­ dukten musste der Staat auch selber Maßnahmen zur Gefahrenvermeidung treffen – besonders umfangreich besonders bei der Benutzung von Kraftfahr­ zeugen im öffentlichen Verkehr. Um insoweit nur einige Reglementierungen in Erinnerung zu rufen (denn es gibt sie an allen Ecken und Enden): Bereits die Produktion der Kraftfahrzeuge wird zum Schutz sowohl ihrer Benutzer als auch anderer Verkehrsteilnehmer sowie der Um­ welt technischen Normen unterstellt und deren Einhaltung am fertigen Produkt überprüft. Der Gebrauch der Kraftfahrzeuge im öffentlichen Verkehr wird nur Perso­ nen gestattet, die entsprechend geschult und auf ihre Zuverlässigkeit überprüft wor­ den sind. Eingehend geregelt sind ferner der verkehrssichere Bau und der Unterhalt öffentlicher Straßen, Brücken und Signalanlagen, ferner die Vorsichtsmaßnahmen

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bei der Straßenbenutzung (Einhalten einer Höchstgeschwindigkeit, Einschränkungen des Überholens etc.). Alle Regelungen stützen sich dabei auf Normen und Stan­ dards, die Verkehrspsychologen und andere Wissenschaftler (Ingenieure, Informati­ ker, Mediziner, Ökonomen) für die Herstellung sicherer und benutzerfreundlicher Verkehrswege und Fahrzeuge sowie für die erwartungskongruente Gestaltung des Verkehrsraums und die optimale Organisation des Verkehrsablaufs entwickelt haben. So werden z. B. Vorfahrtsregeln entsprechend der Erwartung von Verkehrsteilneh­ mern aufgrund der psychologischen Gestaltgesetze erlassen, Geschwindigkeitsrege­ lungen so, dass einerseits der Verkehrsfluss so wenig wie möglich gehemmt wird, andrerseits Unfallgefahren sich so weit wie möglich vorhersehen und ausschalten lassen.

(γγ) Dass die Einflüsse einer wissenschaftlich standardisierten Umwelt auf den Menschen sowohl die Berufsausbildung als auch die Berufsausübung auf ein standardisiertes Berufsbild festlegen und dass ihr Einfluss darüber hinaus das individuelle Leben weitgehend durch eine Kombination standardmäßigen Verhaltens ersetzt, habe ich an früherer Stelle bereits ausgeführt.578 Jetzt bleibt mir noch zu ergänzen, dass auch die staatliche Gesetzgebung nicht umhin kann, das standardmäßige Verhaltensrepertoire des Menschen als Bür­ ger (ζῷον πολιτικόν) zur normativen Grundlage zu machen. Denn der Staat ist diejenige Einrichtung, mit deren Hilfe der Mensch sich als Gemein­ schaftswesen (ζῷον κοινωνικόν) innerhalb der neuzeitlichen Großgemein­ schaft (μεγαλόπολις) realisieren kann. Auf das physisch/physiologische Sein des Menschen ist die staatliche So­ zialgesetzgebung beispielsweise ausgerichtet, indem sie Schutzvorschriften für im Berufsleben Tätige gegen den vorzeitigen Verschleiß ihrer physischen Kräfte und gegen gesundheitliche Schäden (z. B. aus dem Umgang mit gif­ tigen Stoffen) erlässt, oder indem sie den von manchen Berufen physisch ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppen, insbesondere also Frauen, Älteren und Schwerbeschädigten, ersatzweise den Zugang zu beruflichen Positionen erleichtert, die keine besondere physische Kraft erfordern. Weitere Vorschrif­ ten können sodann die Regeneration der Arbeitskraft durch die Anordnung von Ruhe- und Freizeiten und die Gewährung eines Jahresurlaubs absichern sowie für den Fall, dass eine Krankheit oder ein Unfall den vorzeitigen Ver­ lust oder die Minderung der Erwerbs- oder Berufsfähigkeit zur Folge hatten, die Betroffenen vor Armut bewahren.579 oben 5 a β. Deutschland führten wissenschaftliche Untersuchungen insbesondere seitens der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Unfallforschung in Dortmund zur allgemei­ nen Kodifikation von Unfallverhütungsvorschriften im Gesetz über technische Ar­ beitsmittel (Maschinenschutzgesetz) von 1968. Das Gesetz beschränkt sich nicht auf den betrieblichen Arbeitsschutz, sondern erfasst auch Arbeitsmittel, die im Haushalt verwendet werden. Es verpflichtet Hersteller und Importeure, nur unfallgeschützte technische Arbeitsmittel auf den Markt zu bringen. 578  Siehe 579  In



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Auf das psychische Sein des Menschen reagiert die staatliche Gesetzge­ bung, indem sie ihre Normen an die naturhaften Bedürfnisse und Interessen des Menschen anpasst: normative Gewährungen an seine natürlichen Nei­ gungen, normative Verbote an seine natürlichen Abneigungen bzw. Gewis­ senshemmungen,580 Strafmaßnahmen beispielsweise an die Unempfindlich­ keit des Gewissens spezieller Normverletzer (Gewalttäter, Wirtschaftskrimi­ nelle etc.) gegenüber dem „psychologischen Zwang“ der Gesetze.581 Ursprünglich und bis weit ins 19. Jh. hinein hatte man nur die naturhaften und die logischen Determinanten als Grenzmarken für die juristische Gesetzgebung aner­ kannt, so insbesondere die physische und die psychische Unmöglichkeit als Grenzen des rechtlichen Sollens (ultra posse nemo obligatur). Erst seit dem 20. Jh. setzte sich die Erkenntnis durch, dass darüber hinaus auch naturhafte und logische Programmierungen rechtsbestimmend sein können: zum einen Programmierungen der mensch­ lichen Natur durch instinktoide Mechanismen und darauf aufbauende, zusätzlich durch Umwelt und Kultur geprägte Verhaltensrepertoires, zum anderen Programmie­ rungen der menschlichen Sprache durch „linguistische Universalien“ und darauf aufbauende „linguistische Codes“ einzelner Populationen. Sie wurden daraufhin zum Inhalt jenes erweiterten „negativen Naturrechts“, dessen Rahmenbedingungen ich in meiner 1988 erschienenen Monografie über die „Grenzen des Rechtspositivismus“ beschrieben habe.

Eine besondere Gruppe normativ bedeutsamer Faktoren sind ferner die immateriellen Werte, die dem Menschen entweder von der Natur als Verhal­ tensanker in die Wiege gelegt wurden und die global als unantastbar gelten, oder die die Menschen erst im Laufe ihrer Entwicklung erlernt haben, die sie seither aber als verbindlich ansehen. Ein Beispiel ist der Wert der Heimat. Er entsteht aufgrund des in der Jugend erworbenen Gefühls der Zugehörigkeit zum Ort des Heranwachsens und seinem gesellschaftlichen Umfeld und wird zum Bestandteil naturnaher und sozialtypischer Prägung. Vor allem der Ver­ lust der Heimat wird zeitlebens als Heimweh empfunden. Das Recht bekennt sich daher zu diesem Wert und erklärt seinen erzwungenen Verlust durch Umsiedlung (Deportation, Exilierung, Vertreibung) zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Einen Staat, der solchen Wertverlust veranlasst oder auch nur duldet, macht es völkerrechtlich verantwortlich.582 580  Zur neuronalen Basis des Gewissens siehe J. Moll et al. (2005); vgl. ferner B. Hassenstein (2009). 581  So die ursprünglich zu undifferenzierte „Psychologische Zwangstheorie“ P. A. von Feuerbachs (1799), S. 43 ff. (45 f.: „Übertretungen werden verhindert, wenn jeder Bürger weiß, dass auf die Übertretungen ein größeres Übel folgen werde, als dasjenige ist, welches aus der Nichtbefriedigung des Bedürfnisses nach der Handlung entspringt.“); vorsichtiger ders. (1847), § 12: „Sollen Rechtsverletzungen überhaupt verhindert wer­ den, so muss neben dem physischen Zwange noch ein anderer bestehen, welcher der Läsion vorhergeht … Ein solcher Zwang kann nur ein psychologischer sein.“ 582  Umfangreiche Materialsammlung von A. M. de Zayas (2001). Siehe auch schon oben 6 b β.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

Für die Verletzung weiterer immaterieller Werte müssen sich heute vor allem die großen Wirtschaftsbetriebe verantworten: etwa für die Vermüllung der Umwelt, für Veränderungen des Klimas, für die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft583 und für die ‚Seuche‘ der Korruption. Von diesen Menschenrechtsverletzungen haben zwar auch manche Staaten profitiert und die Wirtschaftsbetriebe manchmal darin sogar unterstützt. Dass dennoch hauptsächlich die Wirtschaftsbetriebe heute dafür in An­ spruch genommen werden, sehen sie nur allzu gern, weil sie sich selber damit entlas­ tet fühlen.

Schließlich haben auch soziale Gesetzmäßigkeiten für die Gesetzgebung an Relevanz gewonnen, und zwar desto mehr, je spezieller der gesetzlich zu regelnde Sozialbereich ist. So legen beispielsweise psychologische Unterwu­ chungen nahe, dass berufsspezifische Normen einen größeren Einfluss auf das Verhalten von Berufsangehörigen haben als allgemeine Normen auf ­jedermann, und dass Normen, die lediglich wiederholen, das ohnehin üblich ist, einen geringeren Einfluss ausüben als Verbote, die sich gegen Abwei­ chungen vom sozial Üblichen richten.584 Wenn dennoch staatliche Rechts­ ordnungen statt auf Abweichler auf Durchschnittsmenschen ausgerichtet sind, dann deshalb, weil überhaupt nur etwa zehn Prozent der staatlichen Verbotsnormen mittels Sanktionen durchgesetzt werden können.585 Blicken wir abschließend noch auf die verfahrensrechtliche Ausgestaltung des Rechts, so erkennen wir auch dort die Wirkung sozialpsychischer Deter­ minanten. Dass jeder gerichtliche Prozess fair sein soll und dass die Fairness verlangt, gewisse Verfahrensgrundsätze einzuhalten – etwa beiden Parteien Gehör zu geben und als Richter keiner Partei näher zu stehen als der ande­ ren – gilt auch, wenn staatliche Rechtsnormen es nicht ausdrücklich wieder­ holen.586 Denn nur, wenn diese Grundvoraussetzungen erfüllt sind, wirkt sich die von den Gesetzen näher definierte Förmlichkeit des Prozesses versach­ dazu bei P. Malanczuk (2002), S. 189 ff. ich sehen kann, fehlen genauere Untersuchungen. Es gibt aber immer­ hin (insbesondere in den USA) eine reiche Literatur zur Effizienzorientierung speziell wirtschaftsrechtlicher Normen. Für Deutschland verweise ich auf den Sammelband und speziell auf das Einleitungsreferat von F. Fleischer/D. Zimmer (2008), bes. S. 12 ff., 22 ff., 37 f., ferner auf U. Dopslaff (1985), S. 116 ff., und H. Helsper (1989), S.  40 ff., 95 ff. 585  Nachweise etwa bei K. W. Deutsch (1970), S. 291. 586  Das Recht auf ein faires Verfahren hat vor allem im Strafverfahren Bedeutung (vgl. BVerfGE 26 66, 71; 38 105, 111; 40 95, 99; 46 202, 210; 57 250, 274 u. ö.), es gilt aber auch im Zivilprozess (vgl. BVerfGE 101 397, 404). Hergeleitet wird es in Deutschland aus Art. 2 Abs. 1 und 20 Abs. 3 GG, garantiert in Europa durch Art. 6 Abs. 1 EMRK, weltweit durch Art. 6 IPBPR. Seine Reichweite ist allerdings umstrit­ ten. Gefolgert wird aus ihm insbesondere ein Recht auf Waffengleichheit der Parteien (BVerfGE 52 131, 145; EuGHMR FamRZ 2003, S. 149), welches seinerseits das Recht auf Information aus allen Quellen voraussetzt, aus denen das Gericht seine Entscheidung herleiten kann, also z. B. aus der Anwesenheit bei der Beweisaufnahme. 583  Beispiele 584  Soweit



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lichend aus. Der Glaube, dass höhere Mächte den Prozess beobachten und notfalls eingreifen, wenn er nicht fair geführt wird, hat früher ebenfalls zur Beruhigung der angespannten Nerven beigetragen; heute kommt lediglich der Bedeutung des Eides die Berufung auf eine höhere Macht zustatten.587 c) Gesetzmäßigkeiten des rechtlichen Wandels Wie jede Evolution vollzieht sich auch die Evolution des Rechts in Schrit­ ten, die, ohne die Determinationskraft von Naturgesetzen zu erreichen, den­ noch eine regelhafte Aufeinanderfolge darstellen. Dem zurückschauenden Blick erscheint die Rechtsevolution daher als ein insgesamt regelhafter Pro­ zess in Gestalt einer permanenten und irreversiblen Höherentwicklung (‚Anagenese‘). Dabei werden die Phasen der biotischen Evolution – ‚(Gen-)Muta­ tion, Selektion, Stabilisation‘ – allerdings abgelöst von den Phasen der psy­ chischen Evolution – ‚Erlebnis, Enttäuschung, Verfestigung‘ bzw. ‚Versuch, Irrtum, Erkenntnis‘588 − und der sozialen Evolution − ‚Parallelität, Adjunk­ tion, Konjunktion, Interpenetration‘ −. Das Recht hat deshalb zwar kaum einen messbaren Beitrag zur Biogenese der Menschheit geleistet, wohl aber einen zu ihrer Psychogenese und einen noch wesentlicheren zu ihrer Sozio­ genese. Ich werde diese Beiträge, die sämtlich Teile der Anthropogenese sind, im Folgenden noch einmal zusammenfassen. Zunächst werde ich Rechtsordnungen als sich entwickelnde (‚koevoluierende‘) Teile anderer, nämlich humaner, sozialer und staatlicher, Systeme (unten α bis γ), sodann als ihnen gegenüber eigenständige machtgestützte Gerechtigkeitssysteme (un­ ten δ) betrachten. Anschließend werde ich ihre Funktion darstellen, die menschliche Sozialordnung dauerhaft zu stabilisieren, einerseits aufgeteilt auf einen hoheitlichen und einen privaten Ordnungsbereich (unten ε und ζ), andererseits bezogen auf das Verhältnis beider Bereiche zueinander (unten η). Abschließend werde ich jene Ge­ setzmäßigkeiten benennen, nach denen sich die Stabilisationsaufgabe bisher entwi­ ckelt hat und wahrscheinlich auch in Zukunft entwickeln wird (unten θ und ι).

(α) Rechtsordnungen als sich wandelnde Teile humaner Systeme. Mensch­ liche Populationen sind offene Systeme, die sich einerseits in eine natürliche Umwelt einpassen, andrerseits diese teilweise an eigene Bedürfnisse anpas­ sen. Zusammen mit ihrem ‚Habitat‘ (dieses besteht aus sämtlichen biotischen und abiotischen Bestandteilen eines umgrenzten Raumes) bilden sie komplexe Einheiten, worin, durch die Brille der allgemeinen Systemtheorie betrachtet, je nach Blickrichtung die Populationen für ihre Mitglieder bzw. die Mitglie­ 587  Ob die Anrufung Gottes, die heute bei der Eidabnahme im Strafverfahren noch eine erhebliche Rolle spielt, Einfluss auf die Glaubhaftigkeit einer Aussage hat, ist wissenschaftlich ungeklärt. Wahrscheinlich wirkt lediglich die erhöhte Strafe für den Meineid förderlich für die Wahrheitsfindung. 588  Siehe dazu M. J. Roe (1996).

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

der für ihre Populationen Umwelten sind ‒ terminologisch ist das zugegebe­ nermaßen verwirrend, weil die Mitglieder gleichzeitig auch die Innenwelten der Populationen sind. Ihrerseits sind die Mitglieder einer Population Ergeb­ nisse von genetischen Entwicklungen, die nach heutiger wissenschaftlicher Erkenntnis (a) extern durch selegierende Einwirkungen aus der (natürlichen) Umwelt auf ihre genetischen Mutanten sowie (b) intern durch die Wechsel­ wirkung ihrer Organe sowohl aufeinander als auch auf den Organismus als Ganzen entstanden sind.589 Innerhalb von Populationen als Ganzen haben sich diese Prozesse wiederholt: Auch sie haben (a) Selektionsprozesse durch­ gemacht, weil sie im externen Austausch mit anderen Populationen ihres Habitats (z. B. mit seiner Tierwelt) standen sowie von diesem Austausch lebten (indem sie z. B. tierisches Fleisch als Nahrung verbrauchten und als Exkremente abgaben). Sie haben ferner (b) inneren Selektionen unterlegen, weil ihre Mitglieder im kommunikativen Austausch miteinander standen und dabei von diesem Austausch sowie dessen Bezug auf die Population als Gan­ zer ihre Sozialverträglichkeit erhielten (z. B. im Input und Output vom Funk­ tionsgefüge der Population bestimmt wurden). Ebenfalls haben die Folgen auf der populationsgenetischen Ebene denen auf der individualgenetischen Ebene entsprochen: So wenig die Individuen oder ihre Organe sich aufgrund von Außeneinflüssen beliebig verändern konnten, so wenig konnten die Po­ pulationen dies tun: Sie verwirklichten stets ererbte Baupläne. Und wenn wir den Blick schließlich noch auf das Gesamtsystem eines Habitats (d. h. auf all seine biotischen und abiotischen Bestandteile) richten, erkennen wir, dass es dort nicht anders zugegangen ist: Das Habitat veränderte sich sowohl auf­ grund von Außeneinwirkungen (etwa infolge des Eindringens von Fressfein­ den) als auch aufgrund von Binnenwirkungen (etwa durch Einpassung in die Bedürfnisse der in ihm lebenden Populationen), aber es ließ nicht alle Verän­ derungen zu, sondern nur jene, die ihn das innere Gleichgewicht bewahren ließen. Das Ergebnis des Rückblicks auf das Miteinander der genannten Systeme (Habitat, Populationen, Mitglieder) ist also: dass die Systeme sich zwar ständig in einer Koevolution befanden, die aber begrenzt wurde durch den Spielraum, den ihnen das Gesamtgefüge ließ.590 589  F. M. Wuketits (2000), S. 66 ff. („innere Selektion“). Beispiel: Augen, Ohren, Herz, Lunge und andere Organe haben spezifische Funktionen, beeinflussen sich aber auch wechselseitig. Darüber hinaus fühlt insgesamt der Mensch sich nicht wohl, wenn innerhalb seines Funktionsgefüges ein Teil die Arbeit versagt. 590  Der Begriff ‚Koevolution‘ ist dafür freilich nicht exakt passend, da es inner­ halb der abiotischen Umwelt keine (oder jedenfalls keine der biotischen vergleich­ bare) Evolution gibt, sondern nur Veränderungsreihen, die gewissen Gesetzmäßigkei­ ten folgen (vgl. dazu etwa B. Rensch, 1991, S. 1 ff., 7 ff., sowie neuerdings A. Liddle, 2009). Auch sind die Einflüsse zwischen der biotischen und der abiotischen ‚Evolu­ tion‘ ganz überwiegend einseitig: Entstehen, Entwicklung und Vergehen einer Orga­ nismengruppe (z. B. der Saurier) können zwar von der Veränderung des Klimas ab­



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Fehlte es ausnahmsweise an einer Evolution, weil ein Habitat (nahezu) konstant blieb, dann hatten gleichwohl ablaufende Mutationen und genetische Rekombinatio­ nen von Organismen, die an dieses Habitat angepasst waren, keine Funktion; ihre Mutationen wurden daher von der Natur auf ein Minimum reduziert, gleichwohl entstandene Abweichungen wurden ausgeschieden. Wo die Umwelt hingegen einem schnellen Wandel unterlag, mussten die Organismen entweder ebenso rasch mutieren und/oder sich so oft paaren, dass sie mit dem Wandel Schritt halten konnten; andern­ falls starben sie aus.

Die Evolution der Rechtsordnungen ging, wie nicht anders zu erwarten, mit der der humanen Populationen, ihrer Mitglieder und ihren jeweiligen Umwelten Hand in Hand − die Rechtsordnungen ‚koevoluierten‘, setzten dabei allerdings den sozialen Interaktionen dauerhaft Grenzen, indem sie verstärkten, was die Menschen von Natur aus nicht in hinreichendem Maße besaßen: die Ordnung ihrer Interaktionen. Dafür benutzten sie jenen Kraft­ quell, der die lebende von der toten Natur trennt: die schöpferische Fähigkeit, die Tendenz zum Ordnungsverlust (2. Hauptsatz der Thermodynamik) in die Tendenz zum Ordnungsgewinn umzukehren. Man kann diesen Kraftquell als Lebenskraft bezeichnen, sofern man vice versa ‚Leben‘ als ‚Kraft zum Ord­ nungsgewinn‘ definiert:591 als eine Kraft, die sich zwar von toter oder getö­ teter Natur nährt (also gemäß dem 1. Hauptsatz der Thermophysik die tote oder getötete Natur nicht ‚verbraucht‘, sondern nur ‚entwertet‘), die Nähr­ stoffe dann aber zur Umwandlung in Energie zwecks Erzeugung von Ord­ nung gebraucht und damit ‚verwertet‘.592 Ordnungsenergie besitzen gemäß der soeben aufgestellten Definition alle Lebewesen, ihr Ausmaß freilich staffelt sich nach ihrer Entwicklungshöhe: •• Biotische Nahrung als Energiequelle brauchen alle: erstens zwecks Ab­ grenzung von ihrer Umwelt, zweitens zwecks Aufrechterhaltung ihrer in­ hängen, nicht aber die Veränderung des Klimas vom Entstehen, Entwicklung und Vergehen einer Organismengruppe. Gemeinsam ist beiden Evolutionen lediglich, dass sie Veränderungen im Sinne der Allgemeinen Systemtheorie beinhalten, weshalb im­ merhin eine ‚systemische Koevolution‘ stattfindet. 591  Vgl. dazu schon oben J 5 f bb. Der 2. Hauptsatz der Thermophysik gilt folg­ lich nur für das tote Universum. Sobald Leben aus ihm hervorquillt, bedeutet das seine Überwindung. Dasselbe besagt auch ein „2. Hauptsatz der Systeme“, den Sp. Makridakis (1977, p. 7) so formuliert: „The SLS (Second Law of Systems) postu­ lates a natural tendency of both organic and inorganic matters to differenciate them­ selves from uniformity.“ 592  Von der unbelebten Natur unterscheiden sich Bioorganismen somit dadurch, dass sie innerhalb ihrer Außengrenzen die Entropie (d. h. die Zufallsverteilung von Elementarteilchen) verringern können. Doch da sich gleichzeitig die Entropie in ihrer Umgebung im selben Maße erhöht, wird dem universell gültigen 1. Hauptsatz der Thermodynamik (: dass Energie nicht verloren gehen, sondern nur umgewandelt wer­ den kann) Genüge getan.

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neren Ordnung (‚Homöostase‘), drittens zwecks wahrnehmender Orientie­ rung an ihrer Umwelt und viertens zwecks Reaktion auf die von dort ausgehenden Stimuli. •• Weitere Energiezufuhr brauchen diejenigen Lebewesen, die eine Psyche und damit ein Bewusstsein besitzen. Obwohl bisher wenig erforscht,593 haben wir Grund zur Annahme eines psychischen Kreislaufs gleich dem biotischen, nämlich dass ein regelmäßiger Bedarf an Wahrnehmungen be­ steht, die als Eindrücke bzw. ‚Erlebnisse‘ nicht verbraucht, sondern nur entwertet werden und umgewandelt als intern reproduzierbare Vorstellun­ gen zur Verfügung stehen. Wird der Bedarf an Eindrücken nicht befriedigt, entsteht regelmäßig Erlebnishunger, türmt sich zu viel davon auf, entsteht Erlebnisstress. Beides kann die Psyche durch entweder Fantasie oder se­ lektive Eindrucksbeschränkung zwar teilweise ausgleichen;594 auf Dauer entstehen jedoch psychische Krankheiten. •• Nochmals läuft dasselbe Schema ab, wenn Lebewesen mit geistiger Intel­ ligenz ausgestattet sind: Dann sucht ihr Geist nach Nahrung in Form un­ gelöster Probleme. Werden ihm solche Probleme angeboten, plant er sich den Weg zu ihrer Lösung mittels Auswahl und Einsatz der ihm zur Verfü­ gung stehenden Mittel. Hat der Einsatz Erfolg, wird das Problem entwer­ tet; an seine Stelle tritt eine Befriedigungssituation: ‚So geht’s! So wird’s gemacht!‘ Wenn nicht, bereichert er die Erfahrung: ‚So geht’s nicht! So wird nichts draus!‘ Wird dem Geist dagegen keine Nahrung angeboten, versucht er den Mangel durch die Erfindung von Problemen auszuglei­ chen. Steht er umgekehrt vor zu vielen oder vor zu komplizierten Proble­ men, dann verschließt er sich dem Nachdenken und flüchtet sich u. U. in unbedachte, hektische Aktivitäten. Als das psychisch und geistig am höchsten entwickelte Lebewesen hat es der Mensch auch mit den meisten Problemen zu tun. Doch was deren Lösung anbelangt, hat die Natur ihn aus ihrer Fürsorge weitgehend entlassen und nur noch mit einem Vorrat an Instinktresten ausgestattet, die er allenfalls als Wegweiser zur Problemlösung verwenden kann. Und weil er die meisten Probleme ohne einen entsprechenden Vorrat an natürlicher Hilfe lösen muss, hat er im Laufe seiner Evolution kulturelle Mittel zu seiner Entlastung entwi­ 593  Hinweisen kann ich lediglich auf die wenigen Untersuchungen zum sog. sensation seeking, dessen Grundlage das Bedürfnis nach einem optimalen Erregungsniveau ist, welches bei einem Zuwenig durch das Aufsuchen stimulierender Reize, bei einem Zuviel durch die Flucht an einen stillen Ort befriedigt wird. Vgl. dazu etwa R. H. ­Hoyle et al. (2002). 594  Keine Rolle spielt dabei, ob die Psyche die Erlebnisse als gut oder schlecht, schön oder hässlich bewertet. Wichtig ist allein, ob die Erlebnisse zur psychischen Entwicklung beitragen – und das kann ein gutes Erlebnis ebenso wie ein schlechtes (man reift auch infolge von Enttäuschungen).



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ckelt: Er hat sich erstens ein geistiges Mittel erschaffen, das seiner Instinkt­ armut Paroli bietet, nämlich die Sprache. Sie verwandelt die Komplexität der unzähligen Dinge in der realen Umwelt in eine weitaus begrenztere Zahl idealer Objekte, die er gleichzeitig sinnlich-konkret und geistig-abstrakt wahrnimmt. Dadurch werden seine geistigen Probleme befreit von sinnlichkonkret vorhandenen, geistig-abstrakt aber gleichgültigen Einzelheiten, so­ dass er sie in den (Be-)Griff bekommen und in abstracto lösen kann. Hand­ lungsmäßig muss er freilich die Probleme anschließend noch en detail inner­ halb seiner konkreten Umwelt lösen, sodass sich neue Probleme auftun. Für sie hat er ein weiteres Mittel entwickelt: Er hat handlungsleitende Normen erfunden, die ihm auf Fragen nach dem richtigen Handeln zwecks Lösung seiner Probleme die Antwort geben. Diese Normen sind Abstraktionen aus früheren Entscheidungen von Handlungsproblemen, an denen nicht nur sein Geist, sondern insbesondere auch sein Gefühl als handlungsleitende Instanz beteiligt war. Haben in den früheren Fällen sich diese Antworten bewährt, dann ist es normativ wahrscheinlich, dass sie sich abermals bewähren wer­ den. Durch handlungsleitende Normen musste der Menschen nicht nur die Pro­ bleme seiner realen Umwelt, sondern auch diejenigen seines sozialen Um­ felds lösen. Von der Natur annähernd vorgegeben war ihm insoweit nur die normative Organisation von Gruppen mit etwa 15 bis 50 Personen; denn in dieser Größenordnung hatte er über Jahrtausende hinweg sozial zusammen­ gelebt und dafür entsprechende Normen entwickelt, die ansatzweise auch in sein Genom übergingen. Als die Gruppen über diese Größe hinauswuchsen, bedurfte er deshalb zusätzlich der integrativen Energie eines „ordnenden Wesens“595 außerhalb der Gruppe: eines Anführers oder Leiters, der nicht nur einen Zwist schlichtete und ‚Abweichler‘ in die Schranken wies, sondern auch Unternehmungen der gesamten Gruppe im Voraus plante und ihre Aus­ führung organisierte, anschließend zumeist als Mitglied der Gruppe an den Unternehmungen teilnahm. Mit diesem Anführer kam allerdings – zusätzlich zur angeborenen Kraft der sozialen Neigung – menschliche Willkür ins Spiel, und diese schuf neue Probleme. (β) Rechtsordnungen als sich wandelnde Teile sozialer Systeme. Die pla­ nende und organisatorische Willkür des ‚ordnenden Wesens‘ trug in das so­ ziale Zusammenleben größerer Gruppen einerseits das erforderliche Mehr an Ordnung hinein. Andererseits fehlte es seiner Willkür an sozialnormativer Kraft, solange sie sich nicht an der Lösung der innersozialen Probleme und der Konkurrenzprobleme zu anderen Gruppen bewährte. Deshalb musste der Mensch versuchen, die Willkür auf die Grenzen des in abstracto Bewährten zu beschränken. Er wählte dazu wiederum eine Doppelstrategie: Zum einen 595  A. F.

von Hayek (1994), S. 33.

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erschuf er das normative Sollen, und zum anderen lud er es energetisch auf, indem er es mit der Androhung von Folgen verknüpfte, welche einen Norm­ bruch als psychisch unattraktiv erscheinen ließen.596 So vermied er, dass ­einerseits die Freiheit der Willkür zu sozialem Chaos führte (gemäß dem 2. Hauptsatz der Thermophysik) und dass andererseits die Ausschaltung jeg­ licher Freiheit die Erstarrung des sozialen Lebens zur Folge hatte.597 Selbst der Annäherung an eines der beiden Extreme ‒ dem Abgleiten ins soziale Chaos durch zu viel Freiheit wie dem Absterben bis zur sozialen Erstarrung durch zu viel Determination ‒ konnte er durch normatives Sollen gegensteu­ ern. Das Mittel war – in der Formulierung von Immanuel Kant – „die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit“ zu verbinden.598 Dieses allgemeine Gesetz der Freiheit forderte, ein zu geringes Maß an sozialer Ordnung (den zu hohen ‚Entropiewert‘ eines sozialen Systems) durch weitere oder strengere Normen zu verbessern, bei einem zu hohen Maß an sozialer der Ordnung (einem zu niedrigen ‚Entropie­ wert‘ des sozialen Systems) dagegen die normative Struktur zu lockern und der Freiheit zur Selbstbestimmung mehr Raum zu geben. Heute sind das keine neuen Erkenntnisse. Aber auch heute noch werfen sie Fragen auf: Welches Ausmaß (bzw. welcher ‚Entropiewert‘) an Ordnung soll die Mitglieder einer menschlichen Population einerseits auf Abstand halten und sie andrerseits dennoch verbinden? Und welches Ausmaß an Ordnung soll den Mitgliedern einer Population gerade die nationale Rechtsordnung bieten? Es handelt sich hierbei um Fragen des sozialen Nutzens, die sich mathematisch exakt nicht beantworten lassen. Die utilitaristische Philoso­ phie, hierzu befragt, kann daher lediglich antworten: Der Gewinn an sozia­ lem Nutzen, den ein menschliches Kollektiv aus seiner normativen Ordnung bezieht, muss größer sein als die Gewöhnung an seine natürliche (Un-)Ord­ nung. Doch bei solcher Antwort handelt es sich eher um eine psychische Hilfestellung als um eine Methode zur ökonomischen Berechnung. Immerhin 596  P. J. A.

Feuerbach (1847), S. 14 f. Extremzustände können wir gleichwohl in den sozialen Systemen der Tiere beobachten. Der soziale Zustand von Spinnentieren ist von dem ihrer Artgenos­ sen organisatorisch völlig unabhängig; sie können sich im Rahmen ihrer naturgegebe­ nen Möglichkeiten daher beliebig verhalten, in ihrem Verhältnis zueinander herrscht Chaos. Bei gewissen Fisch- und Insektenschwärmen steht umgekehrt das Verhalten eines jeden Tieres in einer funktionalen Beziehung zum Ganzem seiner Gruppe; das Verhalten eines Tieres ist daher dem aller übrigen Artgenossen gleich, in ihrem Ver­ hältnis zueinander gibt es keinerlei Belieben. Innerhalb der meisten Populationen höherer Tiere determiniert das Verhalten eines Tieres das Verhalten der anderen Ele­ mente dagegen nicht, sondern beeinflusst es nur – der Zustand jeden Tieres ist also lediglich statistisch mit den Zuständen der anderen verbunden. Siehe dazu A. Demandt (1995), S. 35 (8a). 598  I. Kant (1798), S. 33. 597  Beide



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erlaubt sie aber, zwei ökonomische Parameter zu benennen: Der energetische Ordnungsbedarf einer Population hängt erstens von der Zahl der menschli­ chen Sozialbeziehungen ab, die es zu ordnen gilt, und zweitens vom Ausmaß an Sicherheit, welche die Mitglieder einer Gemeinschaft brauchen, um sich sozial im Verhältnis zueinander und politisch im Verhältnis beispielsweise zu einer Staatsmacht als ‚ordnendem Wesen‘ zu orientieren. Daraus folgt dann: Je größer die Anzahl sowohl an Elementen als auch an Elementenbeziehun­ gen innerhalb eines sozialen Systems ist, einen desto höheren Mangel an Ordnung weist das System von Natur aus599 auf und desto größer muss folg­ lich die Zahl an sozialen Normen sein bzw. desto stärker müssen diese vom Staat energetisch aufgeladen werden, um dasselbe Maß an Ordnungssicher­ heit wie umfangsärmere Sozialsysteme zu gewähren. Praktisch ergibt sich daraus für bevölkerungsreichere Staaten ceteris paribus ein höherer Bedarf sowohl an Normen als auch an Energie zur Durchsetzung der Normen als für bevölkerungsärmere Staaten. Allerdings ist unter dem Gesichtspunkt des Nutzengewinns der Zusatz technisch erzeugter Energie zur Durchsetzung der Normen nur dann zu empfehlen, wenn an­ dernfalls durchschnittlich mehr als zehn Prozent der Normverletzungen sanktioniert werden müssten600 – weshalb beispielsweise elektronischen Überwachungsapparaten vor allem im sozialen Massenverkehr eine Ordnungsaufgabe zukommt. Die Überwa­ chung etwa der öffentlichen Verkehrsräume sowie der privaten Verkaufsräume von Supermärkten durch Überwachungskameras sind daher Beispiele, in denen wir ihren Einsatz als ordnungsadäquat erkennen und daher nützlich akzeptieren können.

(γ) Rechtsordnungen als sich wandelnde Teile staatlicher Systeme. Natio­ nale Rechtsordnungen weisen Eigenschaften auf, die global übereinstimmen. Die wichtigste davon ist ihr Anspruch, den höchsten Rang unter allen im selben Raum geltenden Normenordnungen einzunehmen. Dieser Anspruch lässt sich sechsfach begründen: Erstens ist das rechtliche Ordnungssystem als jüngstes aus älteren Sozialordnungen hervorgegangen. Es hat zweitens alle für das menschliche Zusammenleben wichtigen Ordnungsfunktionen an sich gezogen. Seine Geltung wird drittens allein staatlich garantiert und ver­ fahrensrechtlich abgesichert. Es ist viertens so bereichsneutral, dass es vom Staat zur Ordnung (fast) aller gesellschaftlichen und politischen Bereiche eingesetzt werden kann. Es ist fünftens strikt an die staatliche Zuständigkeit sowohl für seinen Erlass als auch für seine Durchsetzung gebunden. Und es erweist sich sechstens wie kein anderes imstande, auch als zwischenstaat­

599  Dies lässt sich allerdings nur vermuten. Durchaus möglich ist nämlich, dass die Wechselwirkungen der Systemelemente bei einem Anstieg über eine bestimmte Kom­ plexitätsmarke zusätzliche Ordnungsmechanismen entwickeln, die nicht vorhersehbar sind und deshalb auch nicht in Rechnung gestellt werden können. 600  Vgl. dazu oben 6 b ζ γγ.

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liche Ordnung eingesetzt und darüber hinaus sogar globalisiert (d. h. als ‚Völkerrecht‘ anerkannt) zu werden. Im Einzelnen: (1) Das Rechtssystem ist als jüngste Ordnungsmacht aus den älteren For­ men sozialer und politischer Ordnungen hervorgegangen. Die geschichtliche Entwicklung begann, wie wir sahen, mit dem Brauchtum der in kleinen Horden umherziehenden Menschen.601 Sesshaftigkeit und Vermehrung sowie die Zahl der nunmehr möglich gewordenen Interaktionen machten es den Menschen allmählich unmöglich, sich ein einheitliches Bild zu formen, was jeweils Brauch war. Sie erfuhren, dass nicht schon die soziale Normalität, in die sie hineingewachsen waren, sondern erst die Geltung von Sollensnormen, die sie erlernen mussten, das Zusammenleben ordnet. Es entstanden infolgedessen die Sittennormen, die vor sozia­ len Erwartungsenttäuschungen institutionell abgesichert waren.

Ich habe den endgültigen Umschlag von der sozial abgesicherten Norma­ lität zu einer auch politisch abgesicherten Normativität auf die Verdichtung des menschlichen Zusammenlebens vor allem in Städten zurückgeführt. Auf­ grund der dort vorherrschenden Anonymität bedurfte man erstmals einer Ordnungsenergie, die Geltungsgewissheit erzeugte. Nur Rechtsnormen bein­ halteten diese Ordnungsenergie, weil sie entweder in förmlichen politischen Verfahren ergingen oder von anerkannten politischen Herrschern oder deren Beauftragten feierlich proklamiert, vor allem aber weil sie anschließend i. d. R. auch durchgesetzt wurden. Allerdings kam es lange Zeit nicht zur Kodifizierung von zusammenfas­ senden Rechtsordnungen – trotz vereinzelten Ansätzen etwa im Kodex Ham­ murapi, in der Tora und in den griechischen Stadtrechten. Sie blieb dem ­römischen Recht vorbehalten: nicht allerdings schon dem XII-Tafelgesetz,602 sondern erst am Ende der Antike dem Corpus Iuris des Kaisers Justinian (ca. 530 u. Z.). Das geordnete Recht hatte das Ziel, das überkommene Sozial­ leben der Völker insgesamt zu regeln. Es deckte deshalb sein Schutzschild über die Gesamtheit offener Gesellschaften, gestattete deren Mitgliedern im Verhältnis zueinander nur ein beschränktes Maß an Konkurrenz und erwar­ tete, dass eine Kombination von Zwang und Freiheit allen zum größtmög­ lichen Nutzen gereichen werde.603 (2) Das Rechtssystem hat alle wichtigen Ordnungsfunktionen für das menschliche Zusammenleben an sich gezogen. Während sich im Altertum eine Zuständigkeit des Rechts für die Lösung sämtlicher sozialer und politi­ scher Probleme weder in der Theorie noch in der Praxis anbahnte – in der Theorie vor allem wohl deshalb nicht, weil sie keine Probleme kannte, die nicht auch praktisch waren und deshalb ad hoc gelöst werden mussten –, oben J 5 b β. auch noch nicht im Codex Theodosianus aus dem 5. Jh. u. Z. 603  A. F. von Hayek (2003a), S. 46. 601  Dazu 602  Und



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gewahren wir in der Neuzeit lebhafte Auseinandersetzungen um eine Ver­ vollkommnung des rechtlichen Ordnungsprozesses: zwischen Recht lehren­ den und Recht setzenden Instanzen, Gesetzgebern und Gerichten, Politik und öffentlicher Meinung (Presse), staatlicher Verwaltung und Wirtschaft etc. Denn sie alle sehen heute nicht mehr die überkommene Sitte, sondern das von Volk und Staat gesetzte Recht als die wichtigste Institution an, wenn es um die Ordnung des Zusammenlebens in einer staatlichen Sozialgemeinde geht. Dabei haben die Gerichte oft eine Vorreiterrolle, weil sie es sind, die angerufen werden, wenn ein Streit über einen noch ungeregelten Lebens­ sachverhalt entbrannt ist. Und somit sind die gerichtlichen Verfahren oft entweder der beste Spiegel von sich verändernden sozialen Verhältnissen oder der treibende Motor zu ihrer – theoretisch vorgedachten – Veränderung. Beispiele aus dem deutschen Recht: 1. Am Ende des 19. Jh.s wurde ein Allgemeines Persönlichkeitsrecht als „Mutterrecht“ aller besonderen Persönlichkeitsrechte von der Rechtslehre postuliert604 und von der Rechtspraxis als notwendig zur Befriedi­ gung des Schutzbedürfnisses neu aufgekommener, aber rechtlich noch ungeschützter Persönlichkeitsinteressen anerkannt. Darin spiegelte sich ein neues Menschenbild, das die Würde des Menschen zum höchsten Wert und folglich auch zum Ankerwert eines jeden Rechts erklärte. Die Theoretiker arbeiteten als übereinstimmende Merkmale ungeschützter Persönlichkeitsinteressen die ‚Autonomie der Persönlichkeit‘ bzw. die ausschließliche Verfügungsbefugnis über ihre ‚Persönlichkeitssphäre‘ heraus.605 Die Praktiker sahen Persönlichkeitsverletzungen u. a. dann als gegeben an, wenn jemand durch ein negatives Werturteil herabgewürdigt, seine Privatsphäre verletzt oder seine informationelle Selbstbestimmung beeinträchtigt wurde.606 – 2. Als Folge einer Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts sahen die staatlichen Gesetze in etwa O. von Gierke (1895), § 81 I (S. 703 f.). dazu H. Hubmann (1967), S. 36  ff. Die Wissenschaft hat der Rechtsprechung darüber hinaus insofern Hilfestellung geboten, als sie zwischen dem „Intimbereich“, dem „Privatbereich“ und dem „öffentlichen Bereich“ einer Person unterscheidet und für jeden dieser Bereiche gesonderte Abwägungsregeln entwickelt hat (Überblick etwa bei Palandt/Thomas, 2015, § 823 Rn. 189, 195 f.). 606  Nach der Rechtsprechung handelt es sich beim Allgemeinen Persönlichkeits­ recht nicht um ein Recht von abstrakter Allgemeinheit, sondern um eine Summe konkreter Persönlichkeitsrechte, sodass jeweils im Einzelfall aufgrund einer Güterund Interessenabwägung festzustellen ist, ob es verletzt wurde. Als verletzt hat die Rechtsprechung das Allgemeine Persönlichkeitsrecht u. a. angesehen durch die nicht genehmigte Wiedergabe von Briefen und vertraulichen Aufzeichnungen, durch die heimliche Aufnahme des Bildes einer Person innerhalb ihres privaten Lebenskreises, durch die heimliche Tonbandaufnahme ihrer Stimme, durch Mitteilungen von Vorgän­ gen aus ihrer Privatsphäre, durch die ungenehmigte Verwendung des Namens oder des Bildes einer bekannten Persönlichkeit in einer Werbeanzeige. Siehe dazu BGHZ 13 334 ff. und 15 249 ff. („Cosima Wagner“); BGHZ 20 345 ff. („Paul Dahlke“); BGHZ 24 200 ff. („Spätheimkehrer“); BGHZ 26 349 ff. („Herrenreiter“);.BGHZ 27 284 ff. („heimliche Tonbandaufnahme“); BGH in JZ 1965, 411 ff. („Gretna Green“); BGHZ 30 7 ff. („Catarina Valente“) und 363 ff („Ginseng“); BGHZ 39 124 ff. („Fern­ sehansagerin“); BGHZ 81 75 ff („Carrera“). 604  Siehe

605  Ausführlich

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Deutschland ursprünglich keinen Schadensersatz in Geld vor. Das erschien insbeson­ dere dann als ungerecht, wenn die Presse die Übeltäterin war und obendrein aus der Vermarktung ihres Eingriffs in das Persönlichkeitsrecht einer prominenten Person ei­ nen erheblichen Gewinn erzielt hatte. Entgegen der gesetzlichen Regelung (§ 253 BGB) sah sich daher die höchstrichterliche Rechtsprechung unter dem Beifall der Rechtslehre befugt, die Rechtslage zu korrigieren und dem Geschädigten eine finan­ zielle Entschädigung zuzusprechen.607 – 3. Auf andere Weise haben Rechtslehre und Rechtspraxis lückenfüllend den im Gesetz nicht geregelten Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte herausgebildet. Sie hielten es für wenig systemgerecht, wenn zwar denjeni­ gen Personen ein Schadensersatzanspruch für einen Leistungsmangel zugebilligt wird, die entweder Partner oder begünstigte Dritte eines Vertrages sind, nicht aber denjenigen, die final mit der mangelhaften Leistung in Kontakt kommen und von deren Mangelhaftigkeit deshalb genauso bedroht sind wie der Gläubiger der Leis­ tung.608 Die Praxis benannte hierfür die zur Hausgemeinschaft eines Mieters gehö­ renden Personen: Obwohl sie keine Vertragspartner des Vermieters sind, müssten sie doch denselben Schutz wie der Mieter genießen.609 Die Diskussion, welche weiteren Dritten in die Schutzwirkung von Verträgen einzubeziehen sind, dauert derzeit zwar noch an. Dass aber eine Gesetzeslücke praeter legem zu füllen ist, wird allgemein anerkannt.

Von den gesellschaftlichen Kräften, die an den rechtlichen Veränderungen im sozialen Raum beteiligt sind, ist sicherlich am wichtigsten die Wirtschaft. Nachdem ihre primär gesetzliche Ausrichtung auf eine Planwirtschaft sich überall als kontraproduktiv erwiesen hatte,610 hat sie sich überall als Wettbe­ werbswirtschaft auch juristisch etabliert. Sie braucht das Recht zum einen, damit der natürliche Wettbewerb von Behinderungen durch interne Abspra­ chen der Anbieter oder externe Eingriffe marktfremder Kräfte nicht gestört oder verfremdet wird, zum anderen, damit den Wettbewerb zügelnde sittliche Kräfte nicht missachtet, etwa ihre Kunden bedenkenlos getäuscht und ge­ schädigt werden. Außerhalb des Wirtschaftsverkehrs hat das Recht seinen Schutz dem sozialen Zusammenleben vor allem zur Wahrung derjenigen ‚guten Sitten‘ zur Verfügung gestellt, die im Umgang miteinander gewahrt werden müssen, weil andernfalls seine Institutionen zur Herstellung asozialer Verhältnisse missbraucht werden können, z. B. die Vertragsfreiheit zur Kne­ belung des Partners, die Testierfreiheit zur Veruntreuung der Familienhabe u. a. m. durch BVerfGE 30 173 ff. („Mephisto“); 34 269 ff. („Soraya“). Sache nach war der Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter zwar schon in der Rechtsprechung des Reichsgerichts anerkannt (vgl. RGZ 91 24; 102 232; 127 222). Doch dass es sich um einen vom gesetzlich geregelten Vertrag zugunsten Dritter (§§ 328 ff. BGB) verschiedenen Vertragstyp handelt, haben erst die Theo­ retiker herausgearbeitet (vgl. J. Gernhuber (1958), S. 249 ff.; K. Larenz (1960) und (1987), § 17 II). 609  Vgl. BGHZ 49 278 ff.; 61 227 ff., 233. 610  Vgl. dazu oben 2 b γ. 607  Bestätigt 608  Der



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(3) Die Geltung einer rechtlichen Ordnung garantieren heute alle Staaten, also auch diejenigen, die sich nicht ausdrücklich als ‚Rechtsstaaten‘ bezeich­ nen. Denn Staaten ohne Recht gibt es heute nicht mehr – sie wären keine ‚Staaten‘. Unterschiedlich umfangreich ist lediglich der soziale Bereich, den das staatlichen Recht ordnet und schützt. Man unterscheidet darin zwei Sek­ toren, einen privaten und einen öffentlichen. Was den privaten Sektor anbelangt, obliegt dessen Ordnung nach neuerem Verständnis primär den Bürgern selber; das Mittel hierfür ist ihnen i. d. R. der Vertrag, zu dessen Abschluss sie die Freiheit haben, ohne an bestimmte ge­ setzliche Vertragstypen gebunden zu sein. Die staatlichen Rechtsordnungen stellen jedoch eine große Anzahl teils dispositiver, teils zwingender Instituti­ onen und Normen bereit, um den Bürgern Möglichkeit und Sicherheit zu geben, dass sie auch ohne eigenes Zutun in einer vollständig rechtlich abge­ sicherten Ordnung leben. Dieses hoheitliche Privatrecht greift deshalb überall dort ein, wo es an einem abweichenden Bürgerwillen fehlt. Bei Rechtsguts­ verletzungen beispielsweise werden es die Bürger gern in Anspruch nehmen. Im Übrigen wirken überall soziale Komponenten in das Privatrecht hinein und verhindern eine private Rechtsverfolgung, die der staatlichen Fürsorge­ pflicht für seine Bürger widersprechen.611 Was den öffentlichen Sektor anbelangt, also das Verhältnis zwischen Bür­ gern und Staat, sind die Unterschiede von Staat zu Staat groß. Übereinstim­ mend ist zwar der Umfang der Gewaltverhältnisse überall angewachsen, völlig gewaltfreie Bereiche sind dementsprechend selten geworden. Doch nur in autoritär regierten Staaten sind die Bürger vollständiger staatlicher Überwachung oder gar Willkür ausgesetzt. In den meisten Staaten gibt es vielmehr ein Verwaltungsrecht, das den Bürgern erlaubt, sich gegen belas­ tende Hoheitsakte gerichtlich zur Wehr zu setzen bzw. die ausgebliebene Erfüllung subjektiver Ansprüche gegen den Staat einzuklagen. Insgesamt macht daher die Verrechtlichung der bürgerlichen Lebenswelt an der Grenze zum Staat nicht mehr Halt, sondern bringt spezielle Steuerschuldverhältnisse, Sozialrechtsverhältnisse, Benutzungsrechtsverhältnisse, wechselseitige Aus­ kunftspflichten u. dgl. m. hervor. Verfahrensrechtlich abgesichert wird die Geltung des Rechts durch eine Vielzahl von Institutionen, in denen um die Rechtsetzung oder um die Rechtsverwirklichung gerungen wird. Beweis dafür ist die Unzahl von Juris­ ten, die sich um die rechtliche Absicherung des bürgerlichen Lebens sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor und um die Verknüpfung der beiden Sektoren kümmern. Ihnen gilt einerseits das Recht als dasjenige Me­ 611  Ein internationaler Überblick lässt sich nicht gewinnen, weil insoweit Spezial­ untersuchungen fehlen.

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dium, welches vor allen anderen normativen Ordnungen dazu berufen ist, die wechselseitigen staatlichen und privaten Bedürfnisse und Interessen in einem geschlossenen und in sich widerspruchsfreien System zu vereinen, weshalb immer dann, wenn es an einer Stelle zu Unstimmigkeiten kommt, die staatli­ che Rechtsprechung und Verwaltung aufgerufen sind, diese zu bereinigen.612 Andererseits ist das Rechtssystem intern so ausdifferenziert und die Zahl daran gebundenen Aufgaben so groß geworden, dass niemand auch nur annä­ hernd in der Lage ist, sich wahrhaft darin auszukennen und festzustellen, ob zwischen einzelnen Positionen eine Unstimmigkeit wirklich oder nur schein­ bar besteht und wie sie zu bereinigen ist. Juristen, die im Gesamtbereich auch nur des Verwaltungsrechts zu Hause sind, gibt es so selten wie Arbeiter im Gesamtbereich des Handwerks: nämlich praktisch nicht. Denn speziali­ siert auf unterschiedliche Berufe waren die Juristen zwar schon im Altertum, vor allem in Rom, das aufgrund der Größe seines Reiches und seiner welt­ weiten Handelsbeziehungen gut ausgebildete Richter, Verwaltungsfachleute und Rechtsanwälte nicht nur benötigte, sondern auch ausbildete. Doch bis heute haben immer weitergehende juristische Spezialisierungen bereits die Ausbildung in den Universitäten und den Law Schools sowie anschließend die beruflichen Tätigkeiten im Staat, in den Anwaltskanzleien und in der Wirtschaft bestimmt. Beispiele: 1. Gerichtlicher Rechtsschutz: Um die notwendige Kompetenz der Ge­ richte zu sichern, wird, wenn die Kompliziertheit einer Materie es nahelegt, die Rechtsprechungsaufgabe speziellen Entscheidungsgremien zugewiesen. Heute gibt es daher nicht nur getrennte Abteilungen für Zivil- und Strafsachen, sondern auch ge­ trennte Spruchkammern für Familienrecht, für Verkehrsrecht, für Kartellrecht usf. Für einige Materien stehen darüber hinaus spezielle Gerichtsbarkeiten zur Verfügung, in Deutschland etwa für Verwaltungsrecht, Steuerrecht, Arbeitsrecht, Sozialrecht und für den gewerblichen Rechtsschutz. – 2. Juristische Ausbildung: Noch wesentlich weiter fortgeschritten ist die Spezialisierung an den deutschen Universitäten, wo die Lehr­ stühle nicht nur mit Spezialisten für alle wichtigen Teilbereiche des gesetzlichen Rechts besetzt sind, sondern eine weitere Spezialisierung sich auch noch daraus er­ gibt, dass die meisten Lehrstuhlinhaber sich mit der Kommentierung einzelner Geset­ ze oder von Teilen einzelner Gesetze befassen und diese Befassung auch in ihre Lehrtätigkeit einfließen lassen. – 3. Juristische Praxis: Wohl am weitesten fortge­ schritten ist die Spezialisierung hier in den großen Anwaltskanzleien, wo sich ganze Scharen von Juristen über alle Felder des Rechts ausgebreitet haben, sodass für jede noch so entlegene Rechtsfrage mindestens ein Jurist bereitsteht.

612  Primär ist es in demokratischen Staaten Aufgabe des parlamentarischen Ge­ setzgebers, „in grundlegenden normativen Bereichen … alle wesentlichen Entschei­ dungen selbst zu treffen“ (BVerfGE 34 103, 116). Doch gilt das nur für die Eingriffs­ verwaltung. Im Übrigen kann sich die Verwaltung praktisch auf alle Bereiche erstre­ cken, die nach ihrer Meinung gemeinnützlich sind und für die Haushaltsmittel zur Verfügung stehen.



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(4) Die Erstreckung des Rechts auf potentiell alle Bereiche, die entweder von der privaten Gesellschaft besetzt oder von der staatlichen Verwaltung betreut werden, setzt allerdings voraus, dass es selbst bereichsneutral ist.613 Denn nur so kann es inmitten der Fülle unterschiedlicher Ordnungsaufgaben seinen ihm eigenen Charakter bewahren. Zusätzlich muss es deshalb einer Forderung genügen, die man sonst an keine Normenordnung mit der gleichen Dringlichkeit stellt, die aber erst jenes Höchstmaß an Sicherheit gewährt, das man von der höchsten Ordnung innerhalb eines sozialpolitischen Systems verlangt: Sie muss widerspruchsfrei sein, d. h. die unterschiedlichen von ihr geordneten Bereiche in ein Systems von Normen einbinden, das intern ein Höchstmaß an Harmonie aufweist.614 Erreicht das System dieses normative Höchstmaß nicht, wird ihm das als Fehler angekreidet. Und wird der Fehler bemerkt, verlangt das Recht selber, dass ihn entweder der Gesetzgeber oder der Gesetzesanwender ausbügelt und die vollkommene ‚Einheit der Rechtsordnung‘615 (wieder) herstellt. Zumindest gesetzliche Widersprüche entstehen indessen fast niemals mit einem Mal, sondern infolge des allmählichen rechtlichen Werdens, weshalb die Widersprüche Merkmale des Zeitenwandels sind. So hat beispielsweise allein die deutsche verfassungsrechtliche Ordnung sich in den letzten hundert Jahren sich dreimal gewandelt: das erste Mal von der Weimarer Republik zur nationalsozialistischen Diktatur, das zweite Mal von dieser zur Nachkriegs­ ordnung in zwei deutschen Staaten mit unterschiedlichen politischen Syste­ men und schließlich das dritte Mal von deren paralleler Geltung zu ihrer Vereinigung innerhalb eines einzigen Bundesstaates. Soweit diese verfas­ sungsrechtlichen Veränderungen sich im Wortlaut der deutschen Gesetze niederschlugen, mussten diese zur Vermeidung von Widersprüchen so weit korrigiert werden, wie es die neue verfassungsrechtliche Lage erforderte. Bestehen bleiben konnten sie nur, wenn ihr Sinn sich trotz gleichbleibendem Wortlaut dem Sinn der neuen verfassungsrechtlichen Ordnung anverwandeln ließ: Dann konnten etwa die Gesetze der Weimarer Republik im nationalso­ zialistischen Staat fortgelten − sie wurden lediglich im Sinne der nationalso­ zialistischen Ideologie „umgedacht“616. Und nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes konnten die zuvor erlassenen Gesetze eben­ falls erhalten bleiben, wenn es gelang, ihrem Wortlaut eine „verfassungskon­ 613  Das Recht selbst ist also ein Gegenstand, der erst (und nur) in empirischen Rechtsnormen eindeutige Gestalt gewinnt. Rechtswidrig ist z. B. nur eine Handlung oder ein Zustand, denen eine Rechtsnorm die Anerkennung versagt. 614  Vgl. oben Fn. 35, 197 und bei Fn. 285. 615  Dazu genauer K. Engisch (1935), S. 36 ff., der mehrere Arten von Widersprü­ chen unterscheidet und nur die logischen und ontologischen für nicht hinnehmbar hält. 616  C. Schmitt (1934a), S. 229.

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forme“ Bedeutung bezogen auf die seit 1949 geltende Verfassung der Bun­ desrepublik zu geben.617 (5) Infolge ihrer Verbindung mit der wechselnden politischen Gestalt eines Staates haben sich die rechtlichen Normenordnungen jeweils auch an die wechselnden Zuständigkeiten für ihren Erlass anpassen müssen.618 Das be­ deutet: Wo die staatliche Gesetzgebung von omnipotenten Fürsten ausging oder wo der Führerbefehl als oberstes Gesetz galt, lag die Zuständigkeit in einer Hand und verlief politisch weitestgehend unkontrolliert. Wo die staat­ liche Gesetzgebung dagegen der Idee nach vom Volke ausging, wurden Ge­ setze i. d. R. in einem Parlament von der gewählten Mehrheit von Abgeord­ neten beschlossen619 und von der ebenfalls gewählten parlamentarischen Opposition kontrolliert. Ausgeführt wurden die Gesetze dann allerdings von Institutionen, die vom Volk oder seinen Vertretern unkontrolliert waren. Und wer sich durch die Ausführung ungerecht behandelt fühlte, konnte zwar ‚den Rechtsweg beschreiten‘, doch führte ihn dieser in die Zuständigkeit von Ge­ richten, deren Rechtsprechung ebenfalls keiner demokratischen Kontrolle unterlag. Diese demokratische Lücke in der Gesetzesanwendung nahmen die Ge­ setzgeber aus Gründen der Gewaltenteilung nicht nur in Kauf, sondern ver­ größerten sie sogar bewusst, indem sie imperfekte Normen erließen, die den Verwaltungsbehörden und den Gerichten gestatteten, in „besonderen Fällen“ sich vom Gesetz zu lösen und eine lediglich von ihnen als gerecht empfun­ dene Rechtsfolge auszusprechen: beispielsweise außerhalb des gesetzlich vorgesehenen Strafrahmens „in minder schweren Fällen“ eine mildere, „in besonders schweren Fällen“ eine höhere Strafe zu verhängen, anstelle von endgültigen nur vorläufige Verwaltungsmaßnahmen anzuordnen oder bei fehlenden wissenschaftlichen Erkenntnissen sich mit provisorischen Maßnah­ men (z. B. mit bloßen Einschränkungen statt Verboten) zu begnügen. Dabei stellten die Gesetzgeber obendrein in Rechnung, dass sich auf diese Weise eine ergänzende Ordnung entwickeln könne, die sich anschließend orthoge­ netisch (gewohnheitsrechtlich) verfestigte und am Ende gesetzlich nur sank­ 617  Art. 123 Abs. 1 GG bestimmt dazu: „Recht aus der Zeit vor dem Zusammen­ tritt des Bundestages [7.9.1949] gilt fort, soweit es dem Grundgesetze nicht wider­ spricht.“ Zur beschränkten Weitergeltung des Rechts der ehemaligen DDR vgl. Art. 143 GG; aus der Rechtsprechung BVerfGE 6 389, 419; 7 29, 37; ­BVerwGE  2 114, 116. 618  Die Eigenschaft, an Zuständigkeiten für ihre Erzeugung gebunden zu sein, kommt allerdings der staatlichen Rechtsordnung nicht allein zu; sie betrifft auch an­ dere Normenordnungen, insbesondere die der Kirche, aber auch der Vereine und an­ derer privater Institutionen. 619  Entscheidungen unmittelbar durch das Volk sind technisch nur in kleineren Staaten und nur in Ausnahmefällen möglich.



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tioniert werden musste.620 Doch auch dort, wo diese Erwartung nicht bestand, verlagerte eine derart ‚offene Gesetzgebung‘ das Schwergewicht der Rechts­ setzung von der parlamentarischen Gesetzgebung auf behördliche und ge­ richtliche Entscheidungen621 (wo sie im anglo-amerikanischen Rechtsbereich ja ohnehin liegt)622. Dazu seien einige Beispiele genannt: 1. Verlagerung der Rechtserzeugung auf die Gerichte: Viele neuzeitliche Gesetze verweisen auf außergesetzliche Bewertungsmaß­ stäbe („Treu und Glauben“, „gute Sitten“), schaffen Generalklauseln, die an das Ge­ rechtigkeitsgefühl appellieren („Verhältnismäßigkeit“, „wichtiger Grund“)623, oder erlauben auf andere Weise eine Rechtsprechung praeter legem aufgrund von Gerech­ tigkeitskriterien.624 – 2. Gerichtliche Kontrolle der parlamentarischen Rechtserzeugung: Ist ein Gericht der Überzeugung, dass ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei seiner Entscheidung ankommt, gegen Grundsätze oder Normen der Verfassung ver­ stößt, holt es die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ein, das dann die Ge­ setzgebung überprüft (Art. 100 Abs. 1 GG) und ggf. ein nicht verfassungskonformes 620  Vgl. dazu M. Leder (1998), S. 106 ff. Entsprechende orthogenetische Entwick­ lungen sind auch aus der Natur in großer Zahl bekannt. Besonders gut belegt ist eine derartige Entwicklung etwa für die Pferde: „Weil die Vorfahren des Pferdes sich früh­ zeitig entschlossen haben, in der Ebene zu leben und bei der Annäherung eines Ver­ folgers zur fliehen (statt zu versuchen, sich zu verteidigen oder zu verstecken), läuft die heutige Art – nach einer langen Entwicklung, die zahlreiche Rückbildungsstufen umfasst – auf der Spitze eines einzigen Fingers“ (J. Monod, 1975, S. 116). Zur Ortho­ genese als Teil rechtskultureller Entwicklung vgl. oben J 5 d. 621  Dasselbe gilt für Lehrmeinungen: Die Zahl derer, die auf die Abwägung im Einzelfall abstellt, „nimmt unverkennbar zu“, wodurch sich „die Anzeichen für einen grundsätzlichen Wandel unseres Rechtsdenkens und unserer Rechtskultur mehren“ (H.-M. Pawlowski, 1987, S. 120). 622  Dass sich die kontinentaleuropäischen Gesetze aufgrund ihrer Offenheit für Ergänzungen aus Rechtsprechung und Verwaltung an das angelsächsische Modell der precedents nähern, ist offenbar als Nebenfolge beabsichtigt gewesen, weil nach dem Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Union britische Richter in vielen ihrer Or­ gane (insbesondere im EuGH) mitwirkten. Nach dem Austritt Großbritanniens aus der EU (sogen. Brexit) wird dieser Grund zwar entfallen; dennoch ist anzunehmen, dass der orthogenetische Trend zur europäischen Rechtsvereinheitlichung letzthin erhalten bleiben wird. Erhalten geblieben ist ein bereits 1940 gegründetes, in Rom ansässiges Internatio­ nales Institut zur Beförderung des globalen Privatrechts, worin viele Fäden aus der Praxis zusammenlaufen und die Formulierung praxisnaher Grundsätze ermöglichen, aus denen dann wiederum nationale Gesetzgebung und Rechtsprechung Anregungen zu einer noch weitergehenden Ausarbeitung globalen Rechts schöpfen können (vgl. Art. 12 ff. des Grundstatuts des Internationalen Instituts für die Vereinheitlichung des Privatrechts vom 15. März 1940). 623  Dazu J. Berkemann (1992), S. 10 f. 624  Einen historischen Vorläufer hat dieser Trend im Code civil, der sich zwar zur Aufgabe gesetzt hatte, eine rationale Grundlage für die weltweite Ordnung des gesell­ schaftlichen Lebens zu schaffen, aber die Einzelheiten der Ordnung den jeweiligen Bedürfnissen der Völker überließ. K. Zweigert/H. Kötz (1996), § 8 I (S. 97 f.).

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Gesetz aufhebt (‚negative Gesetzgebung‘)625. – 3. Flexibilisierung der Rechtserzeugung: Die Festsetzung von Grenzwerten für Alkohol im Straßenverkehr und für den Lärmschutz sowie die Kontrollen von Allgemeinen Geschäftsbedingungen werden durch die Gesetze teils den Ministerien, teils den Gerichten und Verwaltungsbehörden anlässlich der Beurteilung konkreter Fälle überlassen.626 – 4. Privatisierung der Rechtserzeugung: Verteilung von Kosten des Sozialstaats auf private Institutionen; Gründung von Public-Private Partnerships.627 – 5. Rechtserzeugung unter Unsicherheitsbedingungen: Das WTO-Recht erlaubt den nationalen Gesetzgebern, beim Feh­ len wissenschaftlicher Erfahrungen provisorische Einschränkungen des Freihandels zuzulassen.628 – 6. Empirische Rechtserzeugung: Die Parteien können (Schieds-) Richtern das Absehen von jeder gesetzlichen Regelung und die Entscheidung des konkreten Streitfalles allein nach Billigkeit erlauben (vgl. § 1051 Abs. 3 ZPO; be­ deutsam insbesondere in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit). Dass die Schiedsgerichte gleichwohl an Handelsbräuche gebunden bleiben (§ 1051 Abs. 4 ZPO), beweist dann die besondere Bedeutung des auf empirischer Grundlage ge­ wachsenen (Gewohnheits-)Rechts.

(6) Ein internationales oder globales Recht hat in neuerer Zeit erheblich an Bedeutung gewonnen, weil sich die Zuständigkeit für die Rechtssetzung verstärkt von den nationalen Parlamenten auf internationale bzw. globale 625  Vgl.

oben Fn. 41. deutsche Strafgesetzbuch benennt keine Grenzwerte für Alkohol. Das Stra­ ßenverkehrsgesetz erklärt einen Alkoholgehalt von mehr als 0,5 ‰, unter ungünstigen Umständen schon 0,3 ‰, als abstrakt gefährlich. Für die den Gerichten aufgegebene Konkretisierung gilt lediglich die Regel: Ein Kraftfahrer ist fahrunsicher, wenn seine Gesamtleistungsfähigkeit so weit herabgesetzt ist, dass er nicht mehr fähig ist, sein Fahrzeug im Straßenverkehr eine längere Strecke sicher zu lenken (BGHSt 13 83 ff., 90). Der Rest ist richterliches Ermessen. Gemäß § 906 Abs. 1 BGB kann der Eigentümer eines Grundstücks ausschließlich wesentliche Beeinträchtigungen durch Lärm verbieten. „Wesentlich“ ist eine Beein­ trächtigung nach § 3 Abs. 1 des Bundesimmissionsschutzgesetzes, wenn sie „nach Art, Ausmaß oder Dauer geeignet“ ist, „erhebliche Belästigungen für die Allgemein­ heit oder die Nachbarschaft herbeizuführen“. Ob diese Voraussetzung konkret vor­ liegt, obliegt gerichtlicher Bewertung und Entscheidung. Nach § 307 Abs. 1 BGB sind Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen unwirksam, „wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen“. Von den Gerichten verlangt die Inhaltskontrolle eine Interessenabwägung unter Beachtung des gesamten Vertrags­ inhalts (BGH in NJW 2001, S. 3406: „Allgemeine Versicherungsbedingungen sind so auszulegen, wie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und Berücksichtigung des erkennbaren Sinn­ zusammenhangs verstehen muss.“). Das Ergebnis steht dann im richterlichen Ermes­ sen. 627  Dazu oben 4 c sowie unten 6 c η. 628  Agreement of the Application of Sanitary and Phytosanitary Measures, Art. 5 No. 7: „In cases where relevant scientific evidence is insufficient, a Member may provisionally adopt sanitary or phytosanitary measures on the basis of available per­ tinent information.“ 626  Das



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Institutionen verlagert hat. Begründend dafür war der Handel, der schon im Altertum die Ländergrenzen überschritten hatte und dadurch nicht nur zum Kennenlernen der Völker und ihrer unterschiedlichen Sitten- und Rechtsnor­ men beigetragen hatte, sondern der auch auf die Vereinheitlichung des Rechts hinarbeitete bzw. sich ein eigenes internationales Recht schuf. Heute trans­ portiert der Handel nicht nur eine nie dagewesene Fülle von Produkten über die Landesgrenzen, gefolgt von der Industrie, die in aller Herren Ländern Zweigstellen errichtet hat, um mit ihren Vorräten präsent zu sein, sondern fordert und fördert auch gemeinsam mit der Industrie von den Staaten eine Angleichung bzw. Abstimmung ihrer Rechtsordnungen, sodass er sich auf international gleiche oder zumindest miteinander abgestimmte rechtliche Verhältnisse einstellen kann. Deshalb sehen sich die Juristen überall zur in­ tensiven Beschäftigung sowohl mit ausländischen Rechtsordnungen als auch mit den Möglichkeiten einer Überbrückung ihrer Differenzen veranlasst. Denn der früher oft geübte Brauch, das fremde Recht mittels ordre public sich vom Halse zu halten und stattdessen dem eigenen Recht den Primat zuzuerkennen, verfängt heute nicht mehr: Die Tendenz geht zur Anerkennung der Gleichwertigkeit aller Rechtsordnungen, zu ihrer immer engeren Ver­ flechtung sowie zur Entwicklung von Rechtssystemen höherer Ordnung, die von den nationalen Rechtssystemen einen Teil ihrer Aufgaben übernehmen. Profiteur dieser Entwicklung ist primär das Völkerrecht. Darüber hinaus aber entsteht ein neues, die nationalen Grenzen überwindendes Gerechtig­ keitsbewusstsein, das sich bisher aus allein nationaler Sicht nicht entwickeln ließ, weil es mit dem Bazillus der Selbstgerechtigkeit befallen und damit ungerecht wäre gegenüber dem Rest der Welt. Die Folge ist, dass man das Recht zwar noch als staatlich gebunden ansieht, jedoch nicht mehr an einen bestimmten Staat, sondern an eine globale politische Macht, die sich ledig­ lich in den Nationalstaaten ausdifferenziert und dort (vorübergehend) Souve­ ränität gewinnt. (δ) Rechtsordnungen als sich wandelnde Macht- und Gerechtigkeitssysteme. Von Anbeginn war das Recht auf Stützung durch eine politische Macht angewiesen, die politische Macht ihrerseits auf Legitimation durch das Recht. Das Recht wiederum konnte seine Legitimation nur liefern, wenn seine Ge­ rechtigkeit durch die Gesellschaft anerkannt wurde, in der es galt. Was aber war diese Gesellschaft? In ihrer modernen Gestalt kam sie, wie uns die his­ torische Entwicklung lehrt, in zwei gegensätzlichen Menschenbildern zum Ausdruck, das eine bestehend aus von Natur aus unfriedlichen Menschen, die einer machtgestützten Rechtsordnung bedürfen, um in Gesellschaft zu leben; das andere bestehend aus friedlichen Menschen, die lediglich ordnender Wei­ sung durch das Recht bedürfen. Das erste Menschenbild gab Thomas Hobbes der Staatsgründung als Motiv vor, das zweite ‒ ältere, weil aus der römischen

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Antike überkommene ‒ haben Gottfried Wilhelm Leibniz und andere dem ersten entweder entgegengestellt oder wenigstens beigefügt. Hobbes meinte, der Staatsgründung liege das pessimistische Bild eines Menschen zugrunde, der egoistisch, ungesellig und misstrauisch gegenüber seinen Mitmenschen ist und der sich deshalb in einem ständigen „Kampf aller gegen alle“ (bellum omnium contra omnes) befindet, worin selbst der Stärkste seines Lebens nicht sicher sein kann. Da diesen Zustand der Mensch auf Dauer jedoch nicht ertragen kann, schließe er sich mit anderen Menschen zur Gründung eines Staates zusammen und übertrage diesem alle zuvor auf die einzelnen Menschen verteilten Rechte. Daraus gewinne der Staat als höchstes Recht die Herrschaft über alles (ius in omnia) einschließlich der Entscheidung darüber, was gut ist (‚sein soll‘) und was schlecht (‚nicht sein darf‘). Der Staat selbst ist folglich die Verkörperung einer Gerechtigkeit, die ohne ihn und seine Macht nur ein leeres Wort wäre. Das Gesicht dieser Ge­ rechtigkeit offenbare er seinen Untertanen in seiner Rechtsordnung, der sie zu gehorchen verpflichtet sind.629 Dieser durch Klarheit bestechenden Gedankenführung hatte sich ursprüng­ lich auch Leibniz gebeugt. Später jedoch misstraute er dem Hobbesschen Menschenbild und stellte ihm ein optimistisches gegenüber, wonach nicht ihre Bosheit, sondern ihre Geselligkeit und ihre Freude an gemeinsamen Unternehmungen die Menschen zur Staatsgründung getrieben hätten.630 Dass sie dann trotz ihrer allgemeinen Friedfertigkeit einen Staat brauchten, habe an ihrer Unsicherheit gelegen, wie sie ohne eine zentrale Leitungsinstanz ihr Zusammenleben und ihre gemeinsamen Unternehmungen am besten ordnen könnten. Hierfür hätten sie vom Staat Normen erwartet, deren Gerechtigkeit nicht auf seiner Macht, sondern auf seiner Weisheit und speziell auf seinem Wissen gründeten, wie man den Ordnungsbedarf einer menschlichen Gesell­ schaft am besten befriedigt. Inzwischen hat man die Einseitigkeit beider Menschenbilder erkannt. Zwar bedarf es zur Herstellung und Verteidigung des gesellschaftlichen Zusam­ menlebens einer hoheitlichen Macht − heute hat sie national in den staatli­ chen Verfassungen und international in der Charta der UNO ihre Basis ge­ 629  Zum Menschenbild von Hobbes, das die – zweifellos auch zur menschlichen Natur gehörenden – aggressiven Charakterzüge in den Vordergrund rückt, vgl. S. S. Kim (1984), p.  68 ff., 73 f., 312 f. Allerdings kannte Hobbes auch eine bonitas legis, sodass sein Standpunkt nicht ganz so radikal ist wie oben dargestellt. 630  G. W. Leibniz (1765/1959), Buch I Kap. ii, §§ 2, 9 f. Leibniz erwähnt dort u. a. den Sozialinstinkt („instinct general de societé“) sowie „andere ähnliche Neigungen, die das natürliche Recht bilden“. Sie seien die Stützen für unsere Vernunft und die Anzeichen für den Ratschluss der Natur, dem Menschen die Sozialität als Lebensform mitzugeben („des aides à la raison et des indices du conseil de la nature“). Zur Herkunft dieses freundlichen Menschenbildes aus der Antike vgl. u. a. oben K 4 a.



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funden. Doch als Basis für Gerechtigkeit taugt nicht schon sie, sondern allein der (nationale bzw. globale) Frieden, den sie – notfalls im Kampfe631 – den Menschen bringt. Deshalb spricht die Charta der UNO aus, dass die Grün­ dung einer Weltgemeinschaft den Kampf allenfalls als Mittel benutzen dürfe, während der Weltfrieden ihr Ziel sei.632 Der allgemeine Wille zum Weltfrieden war im Zeitpunkt der Gründung der UNO stärker denn je, weil zwei Weltkriege zwischen den Völkern unmittelbar vorhergegan­ gen waren und darin erstmals moderne – zuletzt sogar atomare – Vernichtungswaffen eingesetzt wurden.633 Während daher früher nur Sehnsucht nach Frieden die Men­ schen beseelt hatte, die unerfüllt blieb, sobald starke Persönlichkeiten auftraten und meinten, dass erst im Kampfe sich erweise, wie die Vielzahl möglicher Berechtigun­ gen zu verteilen ist,634 trat an deren Stelle jetzt die feste Entschlossenheit, waffenlos für einen weltweiten Frieden einzutreten und überall, wo er gebrochen wurde, sich um seine Wiederherstellung zu bemühen – ebenfalls mit möglichst friedlichen Mit­ teln. Die Grundlage für eine gerechte Ordnung solle somit nicht die Macht der Staa­ ten sein, sondern erst der Frieden ‒ den die Macht gewährleiste.

Wie aber soll ein Frieden aussehen, auf dem weltweit die Gerechtigkeit wachsen kann? Dass allein von staatlichen Mächten gestützte nationale Rechtsordnungen ihn bewirken können, erscheint heute mehr denn je als unwahrscheinlich. Je dichter die Völker in einer immer enger werdenden Welt zusammenrückten, desto mehr hat sich die nationalstaatliche Sicht rela­ tiviert und einer internationalen Sicht Platz gemacht. Denn Probleme, von denen die Staaten annahmen, sie hätten sie national gerecht gelöst, stellten sich international erneut und nahmen dort größere und bedeutendere Propor­ 631  Sein Kronzeuge ist Heraklit, der (fr. 53) den Krieg als Vater aller Dinge be­ zeichnete: Die einen mache er zu Göttern, die andern zu Menschen; die einen zu Freien, die andern zu Sklaven. Und wer wollte nicht zu den Göttern gehören, denen die anderen als Sklaven zu dienen haben? Auf dieser Grundlage gehörte es zu den Aufgaben vieler Stammeshäuptlinge, Kriege gegen die Nachbarvölker anzuzetteln und nach einem Sieg außer reicher Beute auch Sklaven heimzubringen. Viele Stämme stellten deshalb ihrem Friedenshäuptling von vornherein einen Kriegshäuptling zur Seite, dessen Aufgabe eine solche Art der Wohlstandsvermehrung war (vgl. oben F 2 a und 2 c β). 632  Art. 2 Abs. 3 UN-Charta: „Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitig­ keiten durch friedliche Mittel so bei, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden.“ 633  Präambel der Charta der UN: „… um künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat“. 634  Denn „das Recht ist ein Kraftbegriff. Darum führt die Gerechtigkeit, die in der einen Hand die Waagschale hält, mit der sie das Recht abwägt, in der anderen das Schwert, mit der sie es behauptet. Das Schwert ohne die Waage ist die nackte Gewalt, die Waage ohne das Schwert die Ohnmacht des Rechts.“ So R. von Jhering (1874, S. 2), der den Bürger deshalb aufforderte: „Im Kampfe sollst du dein Recht finden.“ (a. a. O. S.  96).

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tionen an: beispielsweise wenn zusätzlich zur gerechten Verteilung des natio­ nalen Wohlstands um die gerechte Beteiligung am internationalen Wohlstand gerungen wurde, oder wenn es zusätzlich zur Teilhabe von Bürgern am kul­ turellen Fortschritt ihrer Nation um die Teilhabe aller Völker am kulturellen Fortschritt der Menschheit ging. Traten doch gerade innerhalb der kulturellen Entwicklung Unterschiede zwischen den Völkern hervor, von denen sich zeigte, dass sie allein durch Diffusion nicht ausgeglichen werden können, sondern dass es produktiver Anstrengungen seitens sowohl der gebenden als auch der empfangenden Völker bedarf. Der Rechtsphilosoph gerät bei der Suche nach einer wenigstens theoreti­ schen Lösung des weltweiten Problems ausgleichender Gerechtigkeit schnell in Verlegenheit; kann er doch nicht einmal bestimmen, was genau gerecht ausgeglichen werden soll. Er ahnt zwar, dass es jedenfalls nicht allein um einen Ausgleich zwischen einem Überfluss und einem Mangel geht, sodass man nur eine Schleuse zu öffnen bräuchte, damit der Ausgleich von selbst zu fließen begänne – wie dies die typische Situation in den Nationalstaaten ist, wenn es dort um die sozial gerechte Verteilung des Wohlstands geht. Welt­ weit ist die Situation komplizierter, weshalb das globale Ausgleichsproblem anders angepackt werden muss: nicht von der ökonomischen Seite her, ob­ wohl die zweifellos vorhanden und wichtig ist, sondern von der Seite der Kulturdifferenzen, die sich im Laufe von Jahrtausenden herausgebildet haben und die nunmehr einer Art kultureller Rekombination (auf welchem Level auch immer) bedürfen ‒ was sicher nicht allein die ökonomische Umvertei­ lung vollbringen kann. Was allerdings stattdessen geschehen kann und soll, ist unklar. Offenbar geworden ist bisher nur, dass es den Besonderheiten der Kulturen Rechnung tragen muss, indem es sie zunächst einmal als natürlich gewachsen und mit der Mentalität der Bevölkerung verschmolzen hinnimmt. Zu einem Kampf der Kulturen (clash of cultures) darf es nicht kommen. Soll aber der friedliche Ausgleich der Kulturen das Ziel sein, dann muss dieser sich, zumindest was den juristischen Aspekt anbelangt, auf einer Ebene voll­ ziehen, die allen Kulturen gemeinsam ist. Und es fragt sich, ob diese Ebene nicht doch nur jenes Minimum ist, das Immanuel Kant zum Ziel des Völker­ rechts erwählt hat ‒ die Herstellung des „ewigen Friedens“?635 Obwohl eine exakte Definition des Weltfriedens ‒ denn er ist gemeint ‒ fehlt, erscheint es mir sinnvoll, die Suche nach dem geforderten kulturellen 635  I. Kant (1796), S. 30 ff. (Zweiter Definitivartikel: „Das Völkerrecht soll auf einen Föderalism freier Staaten gegründet sein.“), 38 („Für Staaten, im Verhältnis untereinander, kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlo­ sen Zustand, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als dass sie … sich zu öffent­ lichen Zwangsgesetzen bequemen und so einen Völkerstaat, der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden.“).



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Ausgleich hiermit wenigstens zu beginnen.636 Denn da sämtliche nationalen Rechtsordnungen es sich zur Aufgabe gemacht haben, Friedensordnungen im Lande, und die UN-Charta, Friedensordnung in der Welt zu sein, muss offen­ bar der Ausgleich der Kulturen im Weltfrieden zumindest eine Grundlage finden. Was sein hierfür grundlegendes Wesen ausmacht, kann deshalb am besten ein Blick auf die genetischen Zwischenstufen erhellen, die ihn mit seinem Gegenstück, dem ‚Unfrieden‘ (= dem Kampf bzw. Krieg), soziogene­ tisch verbinden. (αα) Ich beginne mit der internationalen Analyse. Fünf soziogenetische Zwischenstufen trennen bzw. verbinden Krieg und Frieden zwischen den Völkern, auf denen das Recht den Weg in Richtung Frieden und damit Ge­ rechtigkeit weisen und absichern muss: •• Stufe 1: Leben Völker voneinander isoliert, dann besteht zwischen ihnen ein Frieden im Sinne völliger Unabhängigkeit, der zwar rechtlicher Wei­ sung, nicht aber der Absicherung bedarf noch diese überhaupt zulässt. •• Stufe 2: Leben Völker nicht isoliert, sondern parallel nebeneinander, d. h. nehmen sie voneinander zwar Notiz, vermeiden aber direkten Kontakt, dann herrscht zwischen ihnen ebenfalls Frieden. Ein solcher Frieden kann jedoch brüchig sein, wenn er mit Misstrauen einhergeht und dieses Miss­ trauen schließlich so groß wird, dass beide Seiten mit dem abrupten Aus­ bruch von Feindseligkeiten rechnen. Infolgedessen kann es zu beiderseiti­ gem Wettrüsten kommen, einem sogen. ‚kalten Krieg‘ („Si vis pacem para bellum!“). Ein solcher ‚kalter Krieg‘ ist kostspielig, völkerrechtlich aber ist er nicht verboten. Dem Frieden nützt er indes nur dann, wenn er einen ‚heißen Krieg‘ verhindert. – Bleibt es dagegen bei wechselseitigem Desin­ teresse, dann kann dieses umgekehrt dazu führen, dass keines der Völker dem anderen in einer Notlage (etwa infolge eines Naturereignisses) bei­ steht. Völkerrechtlich ist ein solcher Beistand zwar nicht geboten, sein Ausbleiben kann aber moralisch verwerflich sein und deshalb Feindschaft vorbereiten, weil er dem Nachbarvolk die sehnlichst erwünschte Mit­ menschlichkeit versagt. 636  Siehe M. Hättich (1997), S. 174: Es gibt keine eindeutige generalisierbare De­ finition von Frieden. In der Brockhaus Enzyklopädie wird Frieden definiert als „Zu­ stand eines verträglichen und gesicherten Zusammenlebens von Menschen sowohl innerhalb sozialer Einheiten als auch im äußeren Verhältnis von Gruppen, Gesell­ schaften oder Organisationen“. In wikipedia lautet die Definition des heutigen Sprachgebrauchs „Zustand zwischen Menschen, sozialen Gruppen oder Staaten, in dem bestehende Konflikte in rechtlich festgelegten Normen ohne Gewalt ausgetragen werden“. Ganz sicher ist Toleranz eine Voraussetzung für den Frieden. Doch wie weit soll sie gehen und etwa auch hartnäckiges Unrecht hinnehmen? Die Diskussion hier­ über hat bisher mehr zur Erhellung ihrer Notwendigkeit als zur Klärung beigetragen, was sie vermag.

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•• Stufe 3: Bestehen zwischen den Völkern Kontakte (Adjunktion), dann können diese völkerrechtlich bereits als entweder friedlich oder feindlich eingestuft werden. Während den friedlichen Kontakten beliebige Motive zugrunde liegen können, werden feindliche Kontakte meistens auf Egois­ men oder Interessengegensätzen beruhen, die sich umso schwerer ausglei­ chen lassen, je höhere Wertvorstellungen mit ihnen verbunden und je größer die Machtpotentiale sind, die zu ihrer Verwirklichung eingesetzt werden können. Fürchtet man sich vor einem offenen Krieg, dann ist Vor­ sorge anders als durch Hochrüstung kaum erreichbar – sie würde Verhand­ lungen erfordern, zu denen es jedoch erst auf der nächsten (vierten) Ent­ wicklungsstufe kommen kann. Gleichwohl gibt es einen Ausweg: die Mitgliedschaft beider Seiten in einer Gemeinschaft, die beiden Seiten die Friedenspflicht vorschreibt.637 Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben die Völker ihre Friedenssicherung vor allem auf dieser 3. Stufe betrieben: Ihre Mitglieder haben sich in der UNOCharta verpflichtet, Streitigkeiten nur durch friedliche Mittel beizulegen, „sodass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden“ (Art. 2 Nr. 3). Für die Entscheidung von Streitigkeiten haben sie interna­ tionale Gerichtshöfe geschaffen, die von den Regierungen angerufen werden kön­ nen und so viel an Autorität besitzen, dass die Streitparteien sich ihrem Urteil normalerweise unterwerfen werden.638 Nur ausnahmsweise erlaubt Art. 51 der UN-Charta darüber hinaus einen ‚heißen‘ Krieg, nämlich wenn er sich auf die Verteidigung gegen einen bewaffneten Angriff beschränkt, bis der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen „die erforderlichen Maßnahmen getroffen hat“. Diese Norm entspricht in etwa den auch sonst in den nationalen Gesetzen enthaltenen Notwehrregelungen. Sie erweitert kraft Auslegung diese Regelungen aber auf die bloße Gefährdung des Weltfriedens mit der Folge, dass jede Nation, die sich stark genug fühlt, sich auch für berechtigt hält, bei einer von ihr angenommenen Frie­ densgefährdung zu intervenieren.639

•• Stufe 4: Bestehen zwischen den Völkern außer den tatsächlichen auch unmittelbare normative Beziehungen (Konjunktion), dann können sie den Krieg zur Durchsetzung ihrer Interessen auch vertraglich ausschließen 637  Nicht notwendig ist dagegen, dass die Gemeinschaft auf einer Gleichheit aller Mitglieder beruht, wie sie etwa in Art 2 der UN-Charta verankert ist; ihr kann statt­ dessen eine Binnendifferenzierung zugrunde liegen, etwa derart, dass beispielsweise nur geographisch benachbarte Mitglieder oder Mitglieder mit gleicher Religion einan­ der zu einem friedlichen Interessenausgleich verpflichtet sind. 638  Hauptbeispiele sind außer dem Internationalen Gerichtshof der UNO (Art. 7 und 92 UN-Charta) der Internationale Seegerichtshof und das Streitbeilegungsgre­ mium (Dispute Settlement Body) der WHO. Weiterhin gibt es eine Reihe von ad hoc Schiedsgerichten, Verwaltungsgerichten und (besonders beliebt) außergerichtlichen Streitbeilegungsmechanismen. 639  Vgl. zum Wandel vom negativen zum positiven Friedensbegriff innerhalb der Aufgabenbegrenzung des Sicherheitsrats der UNO noch unten 6 c ε ββ.



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(‚Nichtangriffspakt‘) oder einen begonnenen Krieg durch einen ‚Friedens­ vertrag‘ beenden. Außerdem können sie sich durch einen ‚Freundschafts­ vertrag‘ oder zur Befriedigung bestimmter wirtschaftlicher Interessen durch Handelsverträge u.dgl. verbinden und in der gleichen Absicht ge­ meinschaftliche Institutionen (z. B. eine Zollunion) gründen oder Abkom­ men (z. B. Freihandelsabkommen) vereinbaren. •• Stufe 5: Völkerrechtliche Bindungen zum Zwecke der Friedenssicherung, die über die Vermeidung von Krieg hinausgehen, werden vor allem dieje­ nigen Völker eingehen, die miteinander Handel treiben. Denn der Handel hat seit jeher den Sinn für den Nutzen eines friedlichen Interessenaus­ gleichs geschärft. Bisweilen verband dieser Sinn die Völker derart eng, dass sie auch politisch zusammenwuchsen (Interpenetration), wodurch dann ein kriegerisches Ausfechten von Interessengegensätzen nicht nur vertraglich, sondern auch faktisch unmöglich wurde. So ist es kein Wun­ der, dass in Europa, das von zwei Weltkriegen am härtesten getroffen wurde, der Wille zum politischen Zusammenwachsen sich am schnellsten entwickelt hat: dass hier ein immer lebhafterer Handel zunächst die Euro­ päische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) entstehen ließ und dass aus ihr sich anschließend die politische Gemeinschaft der Europäischen Union (EU) entwickelte.640 Ähnliche Entwicklungen bahnen sich heute evt. dort an, wo es Freihandelszonen gibt: Aus ihnen können Wirtschaftsgemein­ schaften entstehen, welche die Chance in sich tragen, zu politischen Ge­ meinschaften (‚Vereinigte Staaten von …‘) zu werden.641 Aus dem internationalen Problem der Bewahrung von Frieden und der Herstellung aus­ gleichender Gerechtigkeit ist dann ein intranationales Problem geworden. (ββ) Nationale Analyse. Innerhalb von Staaten verläuft die Entwicklung zwischen Frieden und Unfrieden (= Gewaltanwendung) auf einer der interna­ tionalen entsprechenden Stufenleiter auf gleiche Weise. •• Stufe 1: Die vollständige Isolation Staatsangehöriger voneinander, vor­ stellbar etwa zwecks Eindämmung einer soeben ausgebrochenen Epide­ mie, bewahrt den Frieden zwischen ihnen zwar am besten. Doch ist dies als Dauerzustand nur im Gedankenexperiment vorstellbar, da der Staatsbe­ griff eine völkische Gemeinschaft voraussetzt. •• Stufe 2: Staatsangehörige, die parallel miteinander, jedoch ohne Kontakt zueinander (etwa in einem großen Mietshaus) leben, verhalten sich eben­ falls friedlich. Ein Gerechtigkeitsproblem kann zwischen ihnen aber auf der moralischen Ebene entstehen: ob und ab wann ihnen als sozialen We­ sen (animalia socialia) ein gewisses Maß an Anteilnahme (und damit 640  Vgl. 641  Vgl.

oben 6 b γ. oben 5 b β.

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Kontakt) am Leben der anderen abverlangt werden soll. Völlige Gleich­ gültigkeit ist jedenfalls kein Zustand, der rechtlich als normal und damit als ‚gute Sitte‘ angesehen wird ‒ selbst wenn sich daraus unmittelbar keine negativen Folgerungen ergeben. Allenfalls wenn zuvor ein Sozial­ kontakt bestand, wird man den Rückfall in Interesselosigkeit an den Fol­ gen für den Partner moralisch und u. U. auch rechtlich nicht akzeptieren können. •• Stufe 3: Soziale Kontakte (Adjunktionen) begründen auf der sozialmorali­ schen Ebene die Verpflichtung, sich gemäß ‚guter Sitte‘ zu verhalten. Die Verpflichtung wird auf der rechtlichen Ebene zwar ebenfalls anerkannt, eine daraus folgende rechtliche Verantwortung jedoch auf sozialschädli­ ches Verhalten begrenzt (vgl. § 826 BGB, der obendrein den Vorsatz for­ dert, einem anderen Schaden zuzufügen). Noch weiter begrenzt ist soziale Verpflichtung zur Hilfe: Sie entsteht nur „bei Unglücksfällen oder gemei­ ner Gefahr oder Not“, ist dann allerdings auch strafrechtlich abgesichert (vgl. § 323c StGB). Sieht man von den genaueren positiv-rechtlichen ­Regelungen ab, wird man sagen können, dass es außer der allgemeinmenschlichen Pflicht zu prosozialem Verhalten aufgrund von Binnenkate­ gorisierungen Kontakte geben kann, die auch rechtlichem Schutz unerlie­ gen.642 Deshalb ist eine lediglich negative Regel, niemand solle sich ei­ genmächtig über die Autonomie eines anderen hinwegsetzen,643 jedenfalls zu eng. Sie ist durch die Regel zu ergänzen, dass jeder bei der Verfolgung seiner eigenen Interessen die Auswirkungen auf fremde und Gemein­ schaftsinteressen mit berücksichtigen soll. •• Stufe 4: Sind Mitglieder einer sozialen Gemeinschaft (sozial)genetisch, (rechts)vertraglich oder durch die Eigenmacht eines von ihnen miteinan­ der verbunden, muss die staatliche Rechtsordnung solche Verbindungen (Konjunktionen), gleichgültig ob sie freiwillig oder unfreiwillig zustande gekommen sind, ebenfalls berücksichtigen: Sie muss gewährleisten, dass die sich hieraus ergebenden besonderen Verpflichtungen zur Kooperation 642  So setzt beispielsweise das deutsche BGB zwar in § 241 Abs. 1 Satz 1 das Bestehen eines Schuldverhältnisses voraus, kennt daneben aber auch Vertrauenstatbe­ stände, die sich praeter legem als rechtlich bedeutsam herausbilden und u. U. zu ge­ wohnheitsrechtlichen Ansprüchen führen. Ein seit Langem anerkanntes Beispiel ist das vorvertragliche Verschulden, das früher seine Grundlage in der richterlichen Rechtsfortbildung besaß, jetzt aber als „rechtsgeschäftsähnliches Schuldverhältnis“ in das staatliche Schuldrecht (§ 311 Abs. 2 BGB) integriert worden ist. Noch im status nascendi befindet sich die Schutzwirkung gewisser Verträge zugunsten von Personen, die keine Partner des Vertrages, aber sozial Betroffene sind (vgl. oben Fn. 608/9). 643  J. G. Fichte (1796), § 8: „Eine Anzahl freier Wesen vereinigen sich, heißt: Sie wollen miteinander leben. Aber sie können gar nicht beieinander bestehen, wenn nicht jeder seine Freiheit durch die Freiheit aller Übrigen beschränkt.“



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einerseits, zur Lösung andererseits erfüllt, und dass vor allem Streit über ihren Inhalt oder ihre Grenzen friedlich und nicht auf Kosten der Gemein­ schaft gelöst werden. •• Stufe 5: Schließlich muss die staatliche Rechtsordnung, sofern mehrere Bürger sich zu einer ‚Gesamtperson‘ (z. B. Handelsgesellschaft) vereinigt haben, diese Interpenetration als neues soziales Element anerkennen und ihr eine Rechte- und Pflichtenpositionen verschaffen, die derjenigen von natürlichen Personen entspricht. Gleichzeitig muss sie für Rückentwick­ lungen juristisch vorsorgen: Diese müssen sich entweder durch Austritt aus einer Gesellschaft, durch Abbruch oder Kündigung einer Vertragsbe­ ziehung oder durch Anfechtung einer ungewollt eingegangenen Bindung herstellen lassen. (γγ) Fazit: Die Untersuchung der Frage, was den Frieden ausmacht, der die unverzichtbare Grundlage für den Ausgleich zwischen den Kulturen ist, führt ab der 3. Entwicklungsstufe sowohl internationaler als auch interperso­ naler Kontakte zur Bejahung seiner Notwendigkeit, ohne dass sich besondere Vorkehrungen oder gar Anstrengungen des Rechts hierauf richten müssten.644 Die weitere Frage, ob schon allein der Frieden i. S. des Unterbleibens kriege­ rischer oder aggressiver Akte als Grundlage von Gerechtigkeit ausreicht, führt ab der 4. Stufe zu einer verneinenden Antwort: Ab dieser Stufe müssen vielmehr friedensbewahrende Anstrengungen unternommen und u. a. auch das Recht eingesetzt werden, um einerseits gegen feindliche Akte vorzusor­ gen – durch Diplomatie auf internationaler, durch Klugheit auf interpersona­ ler Ebene – und um andrerseits dort, wo ein Friedensbruch bereits eingetreten ist, die Wiederherstellung herbeizuführen. Diplomatie hat sich auf zwischenstaatlicher Ebene seit dem Altertum u. a. zur Vor­ sorge gegen den Bruch friedlicher Beziehungen entwickelt. Am Beginn standen das Absenden und Empfangen von Botschaften von Königshof zu Königshof; die weitere Entwicklung reichte bis zur Einrichtung von selbstständigen Ministerien im Inland und ständigen Institutionen (‚Botschaften‘) im Ausland. Dass Diplomatie Erfolge vorzuweisen hat, beweisen u. a. die vielen zwischenstaatlichen Verträge, die der Si­ cherung oder Wiederherstellung des Friedens dienten und die meistens so abgefasst waren, dass sie die gemeinsamen Vorteile des friedlichen Verhältnisses zwischen den Völkern in den Vordergrund stellten und für widersprechende Interessen einen Aus­

644  So auch K. Engisch (1971), S. 279 ff. m. Nachw., zusammenfassend S. 281: „Am ehesten lässt sich wohl mit einiger Vorsicht sagen, dass die zu allen Zeiten dem Rechte zukommende Funktion, eine dauerhafte friedliche Gemeinschaft zwischen den Rechtsgenossen, den sozialen Gruppen, am Ende aber auch den Völkern und Staaten zu begründen und aufrechtzuerhalten, ein Recht richtig macht, das eben diese Funk­ tion erfüllt, und ein Recht unrichtig macht, das den fundamentalen existenziellen sittlichen Forderungen widerstreitet.“

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gleich vereinbarten.645 Damit solche Verträge nicht gebrochen werden, benutzte man früher die Diplomaten als Geiseln (und bestand deshalb darauf, dass nur hohe Persön­ lichkeiten die Verträge unterschreiben)646, während es heute Brauch ist, im Streitfall die Verträge Gerichten (oder gerichtsähnlichen Institutionen) zwecks Auslegung vor­ zulegen. Lieber von Klugheit statt von Diplomatie spricht man, wenn es im nationalen Be­ reich gilt, den Frieden zu bewahren oder wiederherzustellen. Speziell im Bereich des Rechts besteht ein Mittel der Klugheit in der Kunst, den Weg zu den einschlägigen Rechtsnormen und von ihnen zum gerechten Urteil zu finden. Die Römer sahen die Beherrschung dieser Kunst als Vorbedingung sowohl für die abstrakt-gerechte Norm­ setzung („ius est ars boni et aequi“) als auch für die gerechte Normanwendung („iuris prudentia est … humanarum rerum notitia“) an.647 Die Ansicht hat m. E. bis heute ihre Geltung nicht eingebüßt.

Zu ergänzen bleibt, dass zur Wiederherstellung eines gebrochenen Frie­ dens oft weniger konziliante Mittel als Diplomatie oder Klugheit vonnöten sind. Zwar heißt es in Art. 1 Abs. 1 der UN-Charta, dass Streitigkeiten aus­ schließlich „durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen“ sind. Doch geht die Beschränkung auf „friedliche Mittel“ („peaceful means“) fehl, sobald eine Terrorbande nur mittels Waffengewalt zerschlagen und ein Schreckensregime nur durch den Einmarsch einer bewaffneten Armee beseitigt werden kann. Dem Wortlaut der UN-Charta zu Trotz ist das als ultima ratio inzwischen auch anerkannt und wird selbst ohne eine entsprechende Anordnung des Si­ cherheitsrates von den Weltmächten geübt.648 Umso wichtiger ist dann frei­ lich, dass nicht nur die Mittel selbst, sondern auch die Art ihres Gebrauchs den „Grundsätzen der Gerechtigkeit“ entsprechen. Als Maßstab wird man – ebenso wie im interpersonalen Bereich, wo renitente Unruhestifter und Rechtsbrecher zur Raison zu bringen sind – die allgemeinen Grundsätze der Reziprozität und der Kausalität zu beachten haben: dass Angriff und Abwehr 645  Urkundlich belegt sind aus der Antike vor allem Verträge über den Beginn oder das Ende eines Kriegszustandes sowie über den beschworenen Inhalt von Friedens­ verträgen (vgl. oben G 4 k). In der Neuzeit treten Abmachungen u. a. zur Errichtung von gemeinschaftlichen Institutionen hinzu, um dem Frieden Dauer zu verleihen, etwa Vereinbarungen eines ständigen Jugendaustauschs oder eines Austauschs von Wissenschaftlern für gemeinsame Forschungsprojekte, ferner die Begründung von Städtepartnerschaften u. a. m. 646  Die Römer forderten von den unterworfenen Stämmen in Germanien häufig Geiseln, meist Kinder des Stammeshäuptlings oder nahe Verwandte. Diese wurden dann nicht als Gefangene gehalten, sondern als eine Art Gäste, die u. a. in den Genuss römischer Erziehung und Lebensart kamen. 647  Dig. 1,1,1 und 1,1,10.2. 648  Wobei für die Angemessenheit primär Grundsätze des Nutzens maßgeblich sind. Vgl. dazu oben 1 c β ββ; K. Ipsen (2004), § 52 Rn. 49 ff.; A. Pradetto (2008); A. von Arnauld (2016), Rn. 1127 ff.



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zueinander in einem angemessenen Verhältnis stehen sollen649 und dass alle Abwehrmittel sich nur gegen diejenigen Staaten bzw. gegen diejenigen Per­ sonen richten dürfen, von denen Gefahr für den Frieden ausgeht. Diplomatie und Klugheit sind dennoch gefragt, nämlich wenn es die Erforderlichkeit der Mittel zur Beseitigung der Friedensgefährdung bzw. zur Beendigung des Friedensbruchs abzuwägen gilt. (ε) Entwicklungstrends zur Gewinnung von Gerechtigkeit im hoheitlichen Rechtsbereich. Auf der Erörterung der Frage, wann und in welchem Umfang der Frieden für einen rechtlich geordneten kulturellen Ausgleich innerhalb und zwischen den Nationen vorhanden sein oder generiert werden muss, baut die Frage auf, welche Normen den Raum des Friedens mit Gerechtigkeit füllen sollen? Zwecks Beantwortung teile ich den Raum des Friedens in ­einen hoheitlichen Sektor (Staatsrecht, Strafrecht und Verwaltungsrecht) und in einen privaten Sektor (bürgerliches Recht) auf. (αα) Staatsrecht. Während zu Beginn der Neuzeit noch allein die äußere Sicherheit und die innere Ordnung von der Staatsmacht erzeugt werden mussten, haben danach einerseits die Integration der Nationalstaaten in eine staatliche Gemeinschaft und andererseits ihre Aufgabenerweiterung durch das soziale Element das Eindringen internationaler wie auch ziviler Trends zur Folge gehabt. So haben internationale Trends nach dem Zweiten Weltkrieg den National­ staaten ihre Souveränität teilweise genommen, indem sie sie in völkerrechtli­ che Systeme eingliederten. Am weitesten ist diese Entwicklung in Europa fortgeschritten, wo einerseits die Territorien der Staaten klein, andererseits ihre ökonomischen Kräfte groß waren. Global waren ihre Kräfte allerdings nur relativ groß und nicht ausreichend, um jedem Staat auf dem Weltmarkt eine gesicherte Stellung zu verschaffen. Deshalb wurde um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts der Zusammenschluss der west- und mitteleuro­ päischen Staaten zu einer Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) als unausweich­ lich erkannt und vollzogen. Einige Jahrzehnte später verbanden sich dann in einem zweiten Schritt die Staaten auch zu einer politischen Union (EU). Dieser Schritt wurde indessen nur noch halbherzig getan, denn zumindest in den Augen großer Teile der Bevölkerung reichten die Wirtschaftsinteressen europäischer Staaten für ei­ nen auch politischen Zusammenschluss nicht aus. Waren doch die weit in die Vergangenheit zurückreichenden unterschiedlichen Landeskulturen, Sprachen 649  Es muss stets das „relativ mildeste Mittel“ zur Abwehr eines Angriffs einge­ setzt werden, welches den größtmöglichen Abwehrerfolg bei geringstmöglicher („schonendster“) Schädigung des Angreifers bewirkt (vgl. H.-H. Jescheck/Th. Weigend, 1996, S. 343).

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und nicht zuletzt auch Rechtsordnungen dem wirtschaftlichen Zusammen­ schluss zum Trotz erhalten geblieben und standen als eher zentrifugale Mächte einer politischen Vereinheitlichung entgegen. Anstelle eines kollek­ tiv-europäischen Bewusstseins bildeten sich denn auch in Teilen der Bevöl­ kerung Bestrebungen heraus, ihren Staat aus den Fesseln einer politischen Union mit anderen Staaten zu befreien.650 Diese Entwicklung ist bisher nicht abgeschlossen, und erst die Zukunft wird lehren, ob es gelingt, den starken ökonomischen Sinn einer Europäischen Gemeinschaft um einen einigerma­ ßen gleich starken politischen Sinn zu ergänzen. Denn generell gilt: •• Denationalisierung und Globalisierung nutzen vor allem der Wirtschaft und da vor allem den großen Wirtschaftskonzernen, weil diese ihre Wa­ renproduktion rationalisieren und auf dafür günstige Standorte verteilen können und weil ein von Grenzkontrollen und Zollschranken befreiter Handel überdies den Absatz ihrer Waren erleichtert. Beispielsweise haben Fusionen in der Automobil-, Telekommunikations- und Phar­ maindustrie die Entwicklungskosten für neue Automobile, Mobilfunkanlagen, Fernsehgeräte und Arzneimittel gesenkt und Parallelentwicklungen unnötig ge­ macht oder begrenzt. Weltweit tätige Handelsfirmen haben ferner die Zahl der an­ gebotenen Produkte fast ins Grenzenlose steigern können und sind logistisch den­ noch bei minimalem Kostenaufwand mit allen Produkten überall präsent geblieben.

•• Dagegen befördern Nationalisierung und Partikularisierung die soziale und politische Selbstgewissheit, weil die lokalen Probleme spezifischer und ihrer Bevölkerung vertrauter sind als diejenigen großflächiger Einhei­ ten und daher demokratisch leichter entschieden werden können. Auch binden lokalkulturelle Traditionen die Bürger enger aneinander als welt­ läufige Zivilisationen, die eher der Wunsch intellektueller Kreise sind. Hingegen spielt das militärische Gewicht von Staaten, solange es das der übrigen unierten Staaten nicht weit überragt, heute kaum noch eine Rolle.651 Kriegerische Konflikte zwischen den Weltmächten sind unwahrscheinlich geworden, und die Eindämmung lokaler Kriege ist einem Verbund kleinerer Staaten oft eher möglich als einer Weltmacht.

Was für die Territorialstaaten gilt, gilt tendenziell auch für ihre Rechtsord­ nungen: •• Das nationale Wirtschaftsrecht tendiert dazu, internationaler zu werden. Schon heute richtet sich sein Inhalt weniger an nationalen als an inter- und 650  In Europa ist es zu Segregationsbestrebungen in Großbritannien, Spanien, auf dem Balkan und im Kaukasus gekommen. Weltweit hat sich die Zahl der Staaten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs von 74 auf 195 mehr als verdoppelt. Z. Baumann (1995) spricht von einer „Glokalisierung“. 651  Hinzu hätten militärische Gründe kommen können; doch diese hatten bereits zuvor durch den Zusammenschluss mit der Großmacht USA in der North Atlantic Treaty Organization – NATO eine befriedigende Lösung gefunden.



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transnationalen (bzw. transsozialen) Belangen aus. Diese Tendenz wird angesichts der Internationalisierung der Produktion, der Globalisierung des Handels und der weltweiten Wanderungsbewegung von Arbeitskräften wahrscheinlich unumkehrbar sein, weshalb sich das nationale Wirtschafts­ recht auch in Zukunft darauf beschränken wird, den täglichen Bedarf der Endverbraucher lokal und mittels Binnenhandel zu organisieren, während die Organisation der übrigen wirtschaftlichen Bedürfnisse und der Schutz vor daraus folgenden gesundheitlichen Gefahren eine internationale Auf­ gabe bleiben wird. •• Das staatsbürgerliche Recht652 geht den umgekehrten Weg: Sein Kern bleibt das individuelle Persönlichkeitsrecht, das in konzentrischen Kreisen die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, sodann die Gestaltung einer eigenen Rechtssphäre mit eigener Familie und persönlichem Eigentum und schließlich die sozialen Freiheiten der Meinung und des Glaubens, der Versammlung und Vereinigung sowie als oft nur selten wahrgenomme­ nes politisches Recht das Wahlrecht umfasst (in Deutschland: Art. 1, 2, 6, 14, 4 f. und 8 f. GG).653 Es war deshalb wohl kein Zufall, dass zeitgleich mit dem Erstarken der internationalen Wirtschaftsmächte bürgerliche Organisationen aus der Sorge heraus entstanden, dass diese Mächte zwar dem reichen Teil der Menschheit zu noch mehr Wohlstand verhelfen, den armen Teil aber Hunger und Elend ausliefern werden. Ein Teil dieser Organisationen setzte sich daher die Auf­ gabe, der Mangelernährung und der medizinischen und technisch/technologi­ schen Unterversorgung von Bevölkerungen entgegenzuwirken. Ein anderer Teil prangerte in der Voraussicht, dass der Wohlstand gegenwärtiger Genera­ tionen irreparable Schäden zulasten künftiger Generationen mit sich bringen werde, die Vernichtung von Wäldern und Tierarten sowie die allgemeine Vergiftung der Umwelt mit Pestiziden an und rief zu einem an Gesundheit und Nachhaltigkeit anstatt an wirtschaftlichem Profit orientierten Handeln auf.654 Noch andere Organisationen sorgten sich, dass die Gier nach kurzzei­ tigen materiellen Werten beständige immaterielle Werte verkommen lasse, und widmeten sich infolgedessen dem Erhalt und der Pflege nationaler Kul­ turdenkmäler.655 Angesichts der massiven Unterstützung all dieser Organisa­ 652  Hier verstanden als Summe aller privaten und politischen Rechte der Bürger von Nationalstaaten und beschränkt auf deren Grenzen. 653  Vgl. dazu den von mir herausgegebenen Sammelband „Persönlichkeit, Familie, Eigentum“ (1987). 654  Bekannte Organisationen sind Greenpeace und Médicins sans frontières. Siehe dazu auch A. von Bogdandy (1999), S. 64. Zu ihrer völkerrechtlichen Legitimation vgl. Th. Schweisfurth (2006), Teil 1 Rn.  148 ff. 655  Insofern unterscheidet man zwischen dem Schutz der Weltkulturgüter und dem Schutz der nationalen Kulturgüter, weiterhin zwischen dem Schutz der Kulturgüter

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tionen in der Bevölkerung blieb schließlich auch den Regierungen der Natio­ nalstaaten nichts übrig, als sich ihren Bestrebungen anzuschließen und die „Nichtregierungsorganisationen“ (NRO, engl. NGOs) als den eigenen Orga­ nisationen gleichwertige Rechtssubjekte anzuerkennen.656 Politisch bemühten sie sich, einen Kompromiss zwischen wirtschaftlicher Prosperität, sozialen Belangen und Erfordernissen des Natur- und Kulturschutzes zu finden und schrieben dieses Bemühen teilweise sogar in ihren Gesetzen fest. Allerdings kann kein Kompromiss den Wertkonflikt lösen, der zwischen den materiellen Gütern, die das menschliche Leben erhalten, und den imma­ teriellen Gütern, die das menschliche Leben lebenswert machen, entsteht, wenn nicht alle Bedürfnisse gleichmäßig befriedigt werden können. Denn entsprechend der menschlichen Bedürfnishierarchie, worin die vitalen Be­ dürfnisse an erster Stelle stehen, neigen nicht nur die Staaten, sondern auch die Bürger dazu, der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse einen vor­ dringlichen Wert einzuräumen. Die Ernährung und Behausung von immer mehr Menschen gilt infolgedessen global als das vordringliche politische Gebot, hinter dem die Erhaltung und Vermehrung der immateriellen Güter zurückzutreten habe. Die Bedeutung auch dieser Güter – einer als schön empfundenen Umwelt, sozialer Harmonie, religiöser Geborgenheit, künstleri­ scher Erfindung, wissenschaftlicher Erkenntnis u. a. m. – tritt erst dann wie­ der ins Zentrum des Bewusstseins, wenn auch die ärmsten Völker reich ge­ nug geworden sind, um sich diese Güter leisten zu können; dagegen spielt die von den satten Völkern beklagte ‚Umweltkatastrophe‘ im Denken hun­ gernder Völker kaum eine Rolle. Dennoch wird irgendwann ein Punkt er­ reicht, an dem die Situation kippt und die Gefahr entsteht, dass das um der Versorgung mit materiellen Werten willen vernachlässigte Angebot an imma­ teriellen Werten von Organisationen übernommen wird, die Pseudowerte anpreisen und nicht davor zurückschrecken, um deretwillen sogar zur Zerstö­ rung der materiellen Lebensgrundlagen aufzurufen. Als Gegenwehr bleibt dann den Staaten dort, wo die Entwicklung sich schleichend vollzieht, nur noch die nachhaltige Aufklärung der Bevölkerung, wo sie sich dagegen ge­ vor Verfall und Zerstörung und ihrem Schutz vor Abwanderung ins Ausland. Zentrale rechtliche Regelungen fehlen. Die international bedeutendste Organisation ist zwei­ fellos die UNESCO, die allerdings nicht nur das Kulturerbe, sondern auch das Natur­ erbe schützt, indem sie Stätten, die aufgrund ihrer Einzigartigkeit, Authentizität und Integrität weltbedeutend sind, in eine Liste von Welterbestätten einträgt. Geschützt werden die Weltkulturgüter gegen Vernichtung, Beschädigung und Diebstahl durch die eng mit der UNESCO verbundene Blue Shield International Organisation. 656  Vgl. (a) Europäisches Übereinkommen über die Anerkennung der Rechtsper­ sönlichkeit internationaler nichtstaatlicher Organisationen (SEV-Nr. 124), zur Zeich­ nung aufgelegt am 24.04.1986; (b) Empfehlung CM/Rec (2007) 14 des Minister­ komitees an die Mitgliedstaaten über den rechtlichen Status der Nichtregierungsorga­ nisationen in Europa.



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waltsamer Methoden bedient, die ebenso gewaltsame Gegenwehr mittels Polizei und Militär. Das sollte m. E. auch hinsichtlich der schleichenden psychischen Bemächtigung der Bevölkerung mittels Werbung für industrielle Massenprodukte gelten, die nicht das Ziel hat, das menschliche Wohlbefinden zu vermehren, sondern Bedürfnisse zu wecken, die einem schnellen Verfall unterliegen, damit die Industrie schon für die Bedürfnisse danach planen kann. Denn durch die Überschwemmung des Marktes mit derlei Produkten werden Ressourcen verschwendet, die später fehlen, um die wahr­ haft wichtigen Bedürfnisse zu befriedigen. Die Staaten sind sich dessen teilweise bewusst und treffen Vorsorge, indem sie die Verwendung nur begrenzt verfügbarer Rohstoffe kontingentieren oder zumindest Maßnahmen zur Wiederverwendung des Industriemülls einleiten. Teilweise aber liefern sie sich auch dem blinden Profitstre­ ben von Wirtschaftsunternehmen und der Gedankenlosigkeit eines Teils der Bevölke­ rung aus und lassen es ‚gehen, wie’s eben geht‘.

(ββ) Strafrecht. Auch das nationale Strafrecht muss mit supranationalen und internationalen Trends versöhnt werden. An den Rändern seines interna­ tional weitestgehend einheitlichen Kernbereichs müssen manche alten Straftatbestände aufgehoben und durch neue ersetzt werden, im Vordergrund der Erneuerung muss dabei in den Industriestaaten das nationale Wirtschaftsstrafrecht stehen. Dieses muss insbesondere Verstöße gegen die neuen Geund Verbotsnormen des Zivil- und Verwaltungsrechts tatbestandlich erfassen, darunter viele, deren Begehung nicht nur einzelnen Wirtschaftsbetrieben, sondern darüber hinaus ganzen Wirtschaftszweigen (wie etwa dem Bankund Börsenwesen, der Kreditwirtschaft oder der Versicherungswirtschaft) schaden. Erheblich verschärft werden muss ferner das Steuer- und Subventi­ onsstrafrecht. Aber auch Schädigungen der Allgemeinheit durch Verstöße gegen das Umweltrecht sowie von Verbrauchern durch Verstöße gegen das Lebensmittelrecht wogen oft schwer genug, dass sie eine kriminologische Erfassung und strafrechtliche Aufarbeitung erforderten. Entsprechend dem Ziel der vorliegenden Untersuchung soll wiederum das geneti­ sche Schema angeführt werden, dem die Erfassung und Aufarbeitung von kriminellen Verstößen folgt und Tatbestände zur Bekämpfung herausgebildet werden.657 Auf einer 1. Stufe steht danach die Feststellung eines Idealzustands, nämlich beispielsweise der ‚natürlichen‘ Konkurrenz zwischen Marktteilnehmern im politischen Rahmen einer sozialen Wettbewerbswirtschaft. Da dieser Zustand erhaltenswert ist, weil er den Wettbewerb nicht der „unsichtbaren Hand Gottes“658 überlässt, sondern seine Freiheit und Fairness rechtlich absichert, findet auf einer 2. Stufe ein doppelter kritischer Pro­ zess statt. Man befragt zunächst die Realität, inwieweit das vorgestellte Ideal bereits 657  Das u.  a. von N. Hartmann (1949, S. 192 ff.) benutzte Schema hat bereits H. Welzel (1969, § 8 I) ins Strafrecht übernommen und seiner viel diskutierten ‚fina­ len Handlungslehre‘ zugrunde gelegt. Seinen Ursprung hatte es in der biologischen Forschung. 658  Dieses Bild ist erstmals von A. Smith (1776), book I, ch. 7, verwendet worden.

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durch natürlich vorhandene Tendenzen im Markt abgesichert ist oder ob zusätzlich kulturelle Energien bereitgestellt werden müssen, um Abweichungen zu korrigieren und ob, wenn ja, die bereitgestellten zivil- und verwaltungsrechtliche Normen ausrei­ chen, um diese Funktion zu erfüllen?659 Wenn das nicht der Fall ist, kann auf einer 3. Stufe das schärfere Geschütz des Strafrechts aufgefahren werden, um vorhandene Missstände zu beseitigen oder befürchtete gar nicht erst aufkommen zu lassen.

In der Folgezeit hat sich allerdings herausgeschält, dass gewisse wirt­ schaftliche Missstände mit den Mitteln des nationalen Strafrechts nicht wirk­ sam genug bekämpft werden können. Um Erfolg zu haben, musste man es stattdessen mit den Mittel des internationalen Strafrechts versuchen. Als Gegner stand die sogen. ‚Schattenwirtschaft‘ fest, die fast ebenso weltweit verbreitet ist wie die legale Wirtschaft und zu deren Zerschlagung es deshalb auch einer weltweiten staatlichen Zusammenarbeit bedurfte.660 Schwerpunkte des Angriffs mussten die internationale Korruption, die Umweltschädigung, der Terrorismus, die Geldwäsche und der illegale Waffenhandel, Mittel zu ihrer Bekämpfung grenzüberschreitende Maßnahmen sein, die zur Bestrafung aller Täter und Teilnehmer an einem dieser Delikte führten ‒ gleichgültig, welcher Nation sie angehörten und in welchem Staat sie sich aufhielten. Das gemeinsame Vorgehen folgte dem soziogenetischem Schema: Den Beginn machte eine adjunktiv abgestimmte Gesetzgebung zur Bekämpfung der überall auf­ getretenen Missstände. Abgelöst wurde dieses Stadium durch die Konstituierung völkervertragliche Pflichten zur Schaffung inhaltlich übereinstimmender strafrechtli­ cher Normen und zur Gründung von internationalen Institutionen zur Kriminalitäts­ bekämpfung. Weil der Erlass der hierfür erforderlichen Normen den nationalstaatli­ chen Parlamenten vorbehalten war, ging die Kooperation zunächst nicht über die Form der Konjunktion nationalstaatlichen Strafrechts hinaus. Die Möglichkeit für ein drittes Stadium der Interpenetration ergab sich nur dort, wo die Zusammenarbeit in ein gemeinsames Konzept eingebettet werden konnte, welches auch eine supranatio­ nale Strafgesetzgebung umfasste. Innerhalb Europas wurde dieses Konzept 2008 durch die Institutionalisierung eines europäischen Parlaments ermöglicht, welches die Europäische Union in einen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (Art. 67 Abs. 1 AEUV) verwandelte und auch zur supranationalen Strafgesetzgebung ermächtigt war (Art. 83 Abs. 1 AEUV), beschränkt freilich auf Mindestvorschriften

659  So die Fragestellung des Bundesministeriums der Justiz an die Sachverständi­ genkommission zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität – Reform des Wirt­ schaftsstrafrechts – in der Zeit von 1972 bis 1978, die unter dem Generalthema stand: „Ist es für einen wirksamen Verbraucherschutz und einen funktionsfähigen Wettbe­ werb unter Berücksichtigung zivil-, verwaltungs- und verfahrensrechtlicher Möglich­ keiten geboten, zusätzliche Straf- und Bußgeldtatbestände zu schaffen?“ 660  Um besonders weitreichende kriminelle Organisationsstrukturen zu zerschla­ gen und die Rädelsführer aus dem Verkehr zu ziehen, hat man in einigen Bereichen, etwa denen des Drogenanbaus und Drogenhandels, sogar den Einsatz von Militär als erforderlich angesehen. Diesen Militäreinsatz mussten allein diejenigen Nationalstaa­ ten organisieren, in deren Souveränitätsbereich er sich abspielte.



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für besonders schwere Kriminalität mit zusätzlich „grenzüberschreitender Dimen­ sion“.

Außerhalb des Wirtschaftsstrafrechts haben Verpflichtungen zu überein­ stimmender Strafgesetzgebung ferner die Vereinten Nationen auf den Weg gebracht. Zunächst sahen sie sich aufgrund ihrer Charta zwar beschränkt auf Maßnahmen zur Wahrung des „Weltfriedens“ und der „internationalen Si­ cherheit“. Als dieser Rahmen sich aber immer deutlicher als zu eng erwies, sprengten sie ihn im Interesse von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit, indem sie die Wahrung des ‚Weltfriedens‘ weit auslegten und darunter die Abwesen­ heit nicht nur von bewaffneten Auseinandersetzungen (‚negativer Friedens­ begriff‘), sondern auch von konkreten Ursachen für bewaffnete Auseinander­ setzungen (‚positiver Friedensbegriff‘) und schließlich sogar von abstrakten Gefahren für den Weltfrieden fassten, sodass am Ende selbst ökonomische, ökologische und soziale Ursachen (beispielsweise schwere Menschenrechts­ verletzungen)661 als konfliktträchtig und international zu bekämpfen einge­ stuft wurden.662 Hinter dieser Tendenz zur extensiven Auslegung der UN-Charta stand unverkenn­ bar das Bedürfnis, den rechtlichen Rahmen für das Eingreifen der internationalen Staatengemeinschaft gerade in Bezug auf schwere Menschenrechtsverletzungen zu erweitern. Dass dieses Bedürfnis gleichwohl aufgrund der (zu) engen Formulierung der UN-Charta nur schwer zu befriedigen ist, habe ich bereits dargelegt.663 Deshalb ist wichtig, dass die Weltgemeinschaft außerhalb der UN-Charta immerhin berechtigt war, Menschenrechtsverletzungen für strafwürdig zu erklären, sodass sich die Not­ wendigkeit nationalstaatlicher Legitimation nur auf die Strafbedürftigkeit dieser Taten zu beschränken braucht.664 Außerstrafrechtlich war der menschenrechtliche Schutz ohnehin bereits mehrfach ergänzt worden: in Europa durch eine Menschenrechtskonvention (EMRK), der sich

661  Gegenüber Menschenrechtsverletzungen an Bürgern durch den eigenen Staat wurde der Einsatz physischer Gewalt erlaubt (vgl. SR Res. 418 [1977]). Die Gefahr einer gewaltsamen Intervention gegen Menschenrechtsverletzungen seitens anderer Staaten reichte dagegen als Legitimation für ein Eingreifen der UN nicht aus. Insge­ samt dazu J. D. Aston (2002). 662  Vgl. dazu M. Herdegen (1995), S. 107, 113 ff.; M. Lailach (1998), S.  49 ff. 663  Siehe oben 5 b ε. 664  Bedeutung besitzt der weitergehende Schutz in Europa allerdings nur, soweit er jene Lücke im Menschenrechtsschutz schließt, die die europäischen Nationalstaaten in ihren Grundrechtskatalogen gelassen haben, weil sie Menschenrechtsverletzungen durch überstaatliche und internationale Institutionen nicht für möglich hielten und daher nicht für rechtswidrig erklärt haben – obwohl sie inzwischen sogar schon vor­ gekommen sind. Vgl. dazu die Übersicht bei M. Ruffert/Ch. Walter (2009), Rn. 526 ff., 549 ff.; ferner E.-U. Petersmann (2000); D. Frank (1999). Ob ein solcher Schutz auch durch die analoge Anwendung nationaler Grundrechte hergestellt werden kann, ist zweifelhaft (vgl. BVerfGE 89 155 ff., 175, sowie Ch. Walter, 2004b, S. 66 ff.).

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allerdings nicht alle europäischen Staaten angeschlossen haben;665 in Amerika durch eine 1959 beschlossene Interamerikanische Menschenrechtskonvention (AMRK), der aber gleichfalls nicht alle mittel- und südamerikanische Staaten beigetreten sind; in Afrika durch eine 1986 in Kraft getretene „Charta der Rechte der Menschen und der Völker“, deren Geltung jedoch auf die Mitgliedstaaten der Organisation für afrikani­ sche Einheit (OAU) beschränkt ist. Auch auf diese Vereinbarungen können notfalls strafrechtliche Verurteilungen gestützt werden. Für Asien fehlt allerdings eine ent­ sprechende Konvention, sodass dort der Schutz der Menschenrechte bisher die größ­ ten Lücken aufweist. Insgesamt bleibt noch viel zu tun: Vor allem erscheint mir – in Analogie zum Si­ cherheitsrat – die Einrichtung eines Humanitären Rates innerhalb der Vereinten Nati­ onen erforderlich, der befugt sein muss, ein Mandat für Maßnahmen zum Schutz von Menschenrechten sowohl an hoheitliche als auch an private, aber international als gemeinnützig anerkannte, Organisationen (etwa an das Rote Kreuz, an den Roten Halbmond oder an Médicins sans frontières) zu erteilten. Zusätzlich muss er die mi­ litärische Unterstützung der von ihm angeordneten Maßnahmen mandatieren dürfen, wenn die humanitäre Intervention eines solchen Schutzes bedarf und der Sicherheits­ rat der Erteilung eines solchen Mandats nicht widerspricht.

(γγ) Verwaltungsrecht. Noch stärker als das nationale Strafrecht ist das nationale Verwaltungsrecht von der Tendenz zur Globalisierung, gleichzeitig aber auch zur Einbeziehung privat-ökonomischer Trends erfasst und umge­ staltet worden. Die Entwicklung ging im monokratischen Staat des Spätabso­ lutismus vom ‚Recht der Polizey‘ (ius politiae) aus, alle hoheitlichen Maß­ nahmen zu ergreifen und durchzusetzen, die der Wohlfahrt des Gemeinwe­ sens dienen. Die Bürger waren damals als Angehörige des Gemeinwesens Nutznießer der polizeilichen Maßnahmen. Das änderte sich im liberalen Rechtsstaat. Dieser rückte die bürgerliche Freiheit und Selbstbestimmung in den Vordergrund, wodurch die Bürger nicht nur einen Anspruch auf polizei­ liche Maßnahmen zu ihren Gunsten erhielten, sondern auch auf einen Schutz gegen polizeiliche Willkür zu ihrem Nachteil. Gleichzeitig wurde der polizei­ liche Schutzbereich allerdings auf die Herstellung und Erhaltung von innerer Sicherheit und Ordnung begrenzt (§ 14 Abs. 1 PreußPVG), während die Aufgaben der sozialen Wohlfahrt separaten öffentlichen, privaten oder kirch­ lichen Institutionen zufielen.666 Das änderte sich abermals, als nach dem 665  In Europa bestanden Bemühungen für einen vertraglichen Beitritt der Europäi­ schen Union zur EMRK; doch sind diese Bemühungen aufgrund eines 2014 publi­ zierten Gutachtens des Europäischen Gerichtshofs zum Stillstand gekommen. 666  Die Generalklausel in § 10 Teil II Titel 17 des Preußischen Allgemeinen Land­ rechts von 1794 lautete: „Die nöthigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung und zur Abwendung der dem Publico, oder einzelnen Mit­ gliedern desselben, bevorstehenden Gefahren zu treffen, ist das Amt der Polizey.“ In der zweiten Hälfte des 19. Jh.s spaltete sich dann die Meinung hinsichtlich des Um­ fangs des polizeilichen Rechts: Die einen erstreckten den Umfang nach landesväter­ licher Art auch auf die Fürsorge für das gemeine Wohl, die andern dagegen be­



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Zweiten Weltkrieg der Staat als Sozialstaat auch die Aufgaben der sozialen Wohlfahrt übernahm, wodurch die Bürger nunmehr auch Ansprüche gegen ihn auf soziale Leistungen erhielten. Allerdings steigerte sich dadurch der Verwaltungsaufwand immens, weil von nun an die staatswirtschaftliche und die privatwirtschaftliche Sphäre der Bürger nicht mehr streng getrennt waren. An das ursprünglich umfassende ‚Recht der Polizey‘ knüpfen heute noch die pri­ vatrechtlichen Konzepte der Policy und der Governance an: Sie umfassen das Recht mächtiger Wirtschaftsunternehmen, in Eigenregie sowohl Ordnungs- als auch Wohl­ fahrtsmaßnahmen zugunsten ihrer Mitglieder vorzunehmen. Die Unterschiede zu früher liegen nicht nur im Kreis der Nutznießer, sondern auch in den normativen Vorgaben: Während die hoheitlichen Maßnahmen der Polizei sich auf spezielle Ho­ heitsrechte des Landesherrn bzw. auf die innere Souveränität des Staates stützen konnten, müssen die Maßnahmen der privatwirtschaftlichen Institute (z. B. der Welt­ bank) sich auf reziproke Verpflichtungen stützen, z. B. für die Gewährung eines Kre­ dits oder für eine andere Förderungsmaßnahme. Und während die hoheitlichen Maß­ nahmen der Polizei bereits als staatliche Aufgaben nach Art und Umfang legitimiert waren, bedürfen die Maßnahmen der privatwirtschaftlichen Verbände667 der Legiti­ mation durch Transparenz und Effizienz, Rechtssicherheit, Beachtung sittlicher Grundsätze (Korruptionsbekämpfung, Achtung der Menschenrechte), evt. Partizipa­ tion der Bevölkerung sowie durch eine gute Haushaltspolitik – kurzum durch ‚Good Governance‘668.

Schauen wir wiederum besonders auf die soziogenetische Entwicklung in­ ternationaler verwaltungsrechtlicher Vorgänge. Unterschiedliche nationale Verwaltungen bearbeiten die in ihren Aufgabenbereich fallenden gleichen Vorgänge höchstwahrscheinlich stets auf gleiche Weise (also parallel). Wie­ derholen sich gleiche Vorgänge allerdings auch jenseits der nationalen Grenze und werden sie dort anders behandelt, dann wird die diesseits ständige Gleichbehandlung zweifelhaft und muss nunmehr verstärkt argumentativ be­ gründet werden (Adjunktion). Kommt man diesseits und jenseits der Grenze schränkten ihn auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Die letztgenannte Meinung setzte sich durch, sodass das Preußische Polizeiverwal­ tungsgesetz von 1931 in § 14 Abs. 1 verkündete: „Die Polizeibehörden haben im Rahmen der geltenden Gesetze die nach pflichtgemäßem Ermessen notwendigen Maßnahmen zu treffen, um von der Allgemeinheit oder dem einzelnen Gefahren ab­ zuwenden, durch die die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bedroht wird.“ Da dem Staat aber die Fürsorge für das gemeine Wohl von privaten Institutionen nicht voll­ ständig abgenommen werden konnte, blieb sie als hoheitliche Aufgabe erhalten. Nur waren für ihre Bewältigung eben nicht mehr die Polizei-, sondern spezielle Sozialbe­ hörden zuständig. 667  Dazu A. Benz (2004). 668  In diesem Sinne wird der Begriff vor allem in Afrika gebraucht, wo es noch keine Rechtsstaatlichkeit in unserem Sinne gibt. Er beruht hier auf Vorschlägen der Weltbank zur Verbesserung staatlicher Rahmenbedingungen für wirtschaftliche Ent­ wicklung, insbesondere durch „accountability, publicly known rules, information, and transparency“ im öffentlichen Sektor.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

nach ausgiebiger Prüfung zum Ergebnis, dass die gleichen Vorgänge doch besser eine einheitliche Lösung finden sollten, empfiehlt sich ein zwischen den Verwaltungsbehörden vereinbartes Lösungsmodell (Konjunktion). Und erlangen die Vorgänge im Lauf der Zeit eine hohe überregionale oder gar eine globale Bedeutung, empfiehlt sich die Gründung einer internationalen Institution. Diese kann dann ganz formell einen Vorschlag für die internatio­ nale Behandlung derartiger Vorgänge ausarbeiten, die nationalen Parlamente können den Vorschlag anschließend beraten und bei Konsens können sie ihn staatenübergreifend zu einer internationalen Konvention ausbauen (Interpenetration). Die Umsetzung der Konvention kann man abschließend empirisch kontrollieren und, wenn die Ergebnisse den internationalen Anforderungen diesseits und jenseits der Grenzen der sozialen Gerechtigkeit entsprechen, als legitime Weiterbildung des internationalen Rechts stabilisieren. Die Behand­ lung der Vorgänge gilt dann als endgültig geklärt und verliert konsequent an politischer Bedeutung.669 Generell hat sich das Internationale Verwaltungsrecht derart aus dem nati­ onalen Verwaltungsrecht in drei Phasen entwickelt:670 In der ersten Phase bestand seine Hauptaufgabe noch in der Behebung von Kollisionen zwischen parallel nebeneinander verlaufenden Tätigkeiten national unterschiedlicher Verwaltungsbehörden – das Internationale Verwaltungsrecht war Kollisionsrecht. In der zweiten Phase trat die Aufgabe der Koordination von Tätigkei­ ten mehrerer Verwaltungsbehörden unterschiedlicher Nationalität hinzu – das Internationale Verwaltungsrecht wurde zum Kooperationsrecht. Und in einer dritten Phase fügte man dem Internationalen Verwaltungsrecht die Aufgabe der Vereinheitlichung des Verwaltungshandelns von grenzüberschreitenden Behördennetzwerken und internationalen Institutionen hinzu (Beispiel: Inter­ 669  Vgl. dazu auch E. A. Nadelman (1990), p. 494 f.: „Most global prohibition re­ gimes, including those targeted against piracy, slavery, and drug trafficking, evidence a common evolutionary pattern consisting of four or five stages. During the first stage, most societies regard the targeted activity as entirely legitimate under certain conditions and with respect to certain groups of people; states often are the principal protagonists and abettors of the activity … During the second stage, the activity is redefined as a problem and as an evil – generally by international legal scholars, re­ ligious groups, and other moral entrepreneurs – and explicit government involvement in the activity is gradually delegitimized … During the third stage, regime proponents begin to agitate actively for the suppression and criminalization of the activity by all states and the formation of international conventions…If the efforts of the regime proponents prove successful, a fourth stage begins. During this stage, the activity becomes the subject of criminal laws and police action throughout much of the world, and international institutions and conventions emerge to play a coordinating role … In some cases, a fifth stage is attained, during which the incidence of the proscribed activity is greatly reduced, persisting only on a small scale and in obscure locations.“ 670  Zum Folgenden M. Ruffert (2007), S. 398 ff.



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nationale Finanzmarktaufsicht) – das Internationale Verwaltungsrecht wurde zum Interpenetrationsrecht für „Rechtsverhältnisse, die staatliche Grenzen durchdringen und ihre Bedeutung übersteigen“671. Soll es zur Einbeziehung auch privater Interessen in das Internationale Verwal­ tungsrecht kommen, bietet sich abermals der Begriff ‚Governance‘ an – diesmal als ‚International‘ oder ‚Global Governance‘. ‚Global Governance‘ ist somit die Kunst, unterschiedliche staatliche und private Akteure in ein Verwaltungsnetzwerk derart zu integrieren, dass sie den globalen Herausforderungen erfolgreich begegnen können. Und ‚Good Global Governance‘ zeichnet sich folglich dadurch aus, dass sie – ebenso wie die nationale ‚Good Governance‘ – Grundsätzen der Gerechtigkeit und der Ver­ pflichtung auf Partizipation aller Beteiligten am Gesamterfolg genügt.672

(δδ) Völkerrecht. Vor ähnlichen, wenngleich nochmals schwieriger zu lö­ senden Entwicklungsproblemen wie das Verwaltungsrecht hat das Völker­ recht als zwischenstaatliches Recht gestanden. Schwieriger zu lösen waren die Probleme, weil in das Völkerrecht ein Ensemble souveräner Staaten ein­ zubinden war, die auf ihre nationale Eigenständigkeit pochten und sich dazu umso mehr berechtigt fühlten, als es originär ihnen allein zukam, ‚Recht‘ zu produzieren – und dieses Recht überdies allein dann ‚richtig‘ war, wenn es auf der eigenen traditionellen Kultur beruhte und den eigenen nationalen Gegebenheiten angepasst war. Natürlich wussten die Staaten von jeher, dass sie Teile einer größeren (Welt-)Gemeinschaft sind. Deshalb war ihnen von jeher auch ein Trend zur Internationalisierung eigen − der sich seit dem 19. Jh. nicht nur in einer anschwellenden Zahl formeller Verträge und ge­ meinsamer Institutionen, sondern auch in einem sich ständig verstärkenden informellen sozialen und kulturellen Austausch manifestierte. Doch zum Er­ gebnis, ihren gemeinsamen Institutionen in den Gründungsverträgen Völkerrechtssubjektivität beizulegen, kam man erst seit der Mitte des 20. Jh.s.673 Allerdings wurde die Bedeutung dieser Qualifikation alsbald dadurch relati­ viert, dass sie zum einen auch privaten Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zukommen konnte, sofern diese entsprechend dem Willen ihrer Gründer grenzüberschreitend tätig waren und übernationale Interessen vertra­ ten, und dass man sie zum anderen selbst Individuen mit der Begründung

671  M.

Ruffert (2007), S. 401. enthält das Cotonou-Abkommen, das die Zusammenarbeit zwi­ schen der Europäischen Union und einer Gruppe von Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifiks (AKP-Staaten) regelt und das im Jahr 2000 für eine Dauer von 20 Jahren geschlossen wurde, verbindliche Vorschriften in Bezug auf Good Governance, Achtung der Menschenrechte und Demokratie. Auf einen Verstoß gegen die im Ab­ kommen verankerten Grundwerte kann die EU mit der Aussetzung der finanziellen Unterstützung reagieren. Gemäß Art. 60 der Wiener Konvention über das Recht der Verträge (WVK) kann das Abkommen als ultima ratio auch gekündigt werden. 673  E. Klein (2007), Rn. 94; A. von Arnauld (2016), Rn. 116. 672  Beispielsweise

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zusprach, sie seien Subjekte von globalen Menschenrechten und genössen daher als solche internationalen Schutz.674 Im vorliegenden Zusammenhang steht indessen nicht die inflatorische Ver­ mehrung der Völkerrechtssubjekte im Zentrum, sondern der Entwicklungs­ gedanke, der unabhängig von der Zahl der völkerrechtlichen Subjekte ist. Er entspricht, wie nicht anders zu erwarten, dem soziogenetischen Schema: Am Beginn steht ein ‚adjunktives‘ Völkerkoordinationsrecht (international law of coexistence); anschließend durchläuft er (2) ein (‚konjunktives‘) Völkerko­ operationsrecht (international law of co-operation); und schließlich mündet er in (3) einem (‚interpenetrativen‘) Völkergemeinschaftsrecht (international community law).675 Das bedeutet: In der ersten Entwicklungsphase (vom Völkerkoordinationsrecht zum Völkerkooperationsrecht) tragen die Staaten dem Umstand Rechnung, dass ihre Aufgaben nicht mehr allein darin beste­ hen können, ihre Souveränität durch territoriale und inhaltliche Abgrenzung gegen andere Staaten zu verteidigen und zu diesem Zweck Verteidigungs­ bündnisse zu schließen (Beispiel: NATO), sondern dass auch die kulturellen und wirtschaftlichen Interessen ihrer Bürger nach außen zu vertreten und zu diesem Zweck Kultur- und Wirtschaftsabkommen zu schließen sind. In der zweiten Entwicklungsphase (vom Völkerkooperationsrecht zum Völkerge­ meinschaftsrecht) tragen die Staaten dann zusätzlich der Notwendigkeit Rechnung, Projekte von gemeinsamer Bedeutung, die sie einzeln nicht schul­ tern können, gemeinsam auf den Weg zu bringen (Beispiel: Maßnahmen zum Schutz der Umwelt) sowie ihre gemeinschaftlichen Interessen durch überein­ stimmende (‚multilaterale‘) gesetzliche Regelungen nach außen abzusichern und diesen Regelungen auch faktisch eine stärkere Bedeutung zuzuweisen (Beispiele: internationales Steuerrecht, internationale Verfolgung völker­ rechtlicher Verbrechen). Ihren Höhepunkt erreichen die staatlichen Koopera­ tionsbemühungen allerdings erst in einer dritten Entwicklungsphase: Die Staaten bilden größere Einheiten (Beispiele: suprastaatlich die EU, völker­ 674  Noch weitergehend sieht A. Peters (2014) den individualen Menschen sogar als primäres Völkerrechtssubjekt an. M. Payandeh (2010, S. 439 ff. m. w. Nachw.) wiede­ rum will auch die „internationale Gemeinschaft“ der Staaten als Völkerrechtssubjekt anerkennen. Als Belege führt er allerdings − außer einer gelegentlichen Rechtsbin­ dung auch dissentierender Staaten an Normen der Staatengemeinschaft – nur die Konzeptionen eines ius cogens und einer Verpflichtung erga omnes an. Beides sind jedoch Fälle, die rechtstheoretisch fragwürdig sind. Die von ihm gegenüber der lang­ dauernden Völkergewohnheit als Rechtsquelle geäußerten Bedenken (S. 291 ff.) gel­ ten daher m. E. verstärkt auch gegen die von ihm bejahte Völkergemeinschaft als Rechtsquelle. Die Entstehung von Normen im internationalen Gemeinschaftsrecht (S. 454 ff.) vollzieht sich somit nicht weniger obskur als dies nach seiner Meinung im Sog des Völkergewohnheitsrechts der Fall ist. 675  Dazu und zum Folgenden u. a. W. Friedmann (1964), p.  60 ff.; D.-E. Khan/ A. L. Paulus (1998), S. 181 ff.; M. Nettesheim (2002), S.  570 f.



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staatlich die UNO), in deren Sog selbst außenstehende Staaten mit hineinge­ zogen werden – zwar nicht mittels Zwangseinung, wohl aber mittels Erwei­ terung des Geltungsbereichs eines die Staaten dominierenden Gewohnheits­ rechts. Entsprechend dieser Entwicklung hat sich die Funktion des Völkerrechts verändert: Als Recht koordinierter Staaten hatte es noch lediglich die Funk­ tion, die staatlichen Kompetenzbereiche gegeneinander abzuschirmen und die Staaten vor Einmischungen anderer Staaten in ihre inneren Angelegenheiten zu hindern. Als Recht kooperierender Staaten hatte es bereits die zusätzliche Funktion, gemeinsame wirtschaftliche Bedürfnisse und kulturelle Interessen von Staaten und ihren Bürgerschaften zu ordnen und deren Verwirklichung voranzutreiben. Und als Recht der einen großen Völkergemeinschaft kamen ihm schließlich die globalen Funktionen zu: kulturelle Menschheitswerte676 der Vergangenheit vor Vernichtung oder Beschädigung zu bewahren, gegen­ wärtige Menschheitswerte zu Rechtsgütern zu verfestigen und zukünftigen Menschheitswerten den Boden vorzubereiten. Dadurch wurde auch eine glo­ bale Gerechtigkeit erstmals nicht nur gegenüber einzelnen Menschen, Grup­ pen von Menschen oder menschlichen Populationen zum Ankerwert, sondern auch zur globalen Verpflichtung gegenüber der Menschheit insgesamt. In gleicher Weise veränderte sich auch die organisatorische Grundlage des Völkerrechts. Während sie im ersten Stadium noch ohne internationale Insti­ tutionen auskam, waren gerade diese im zweiten Stadium die Foren der Zu­ sammenarbeit: der UNO-Sicherheitsrat, die UNESCO sowie verschiedene internationale Gerichte (Beispiel: IGH). Das dritte Stadium änderte daran nichts mehr, erweiterte jedoch den Kranz der Rechte und Pflichten, in den die Staaten nunmehr auch ohne ihre formelle Zustimmung eingebunden wer­ den konnten, wenn das Völkerrecht Gerechtigkeit gegenüber der gesamten Menschheit verlangte. Durch die internationalen Organisationen (Beispiel: UNESCO677) und internationalen Gerichte konnten von jetzt an Rechte und Pflichten festgestellt werden, sodass den Organisationen und Gerichten Rechtsschöpfungsaufgaben zukamen (Beispiel: Verbot von Folter um ihrer selbst willen). 676  Diese verstanden im weiten Sinne, sodass etwa auch Kultur- und Naturdenk­ mäler darunter fallen. Tätig auf dem Gebiet des Schutzes von kulturellen Gütern ist insbesondere die UNESCO (vgl. oben bei Fn. 545). Der Schutz von Naturdenkmälern ist derzeit noch Sache der Staaten. 677  Beispiel (wikipedia „UNESCO-Welterbe“): Im Mai 2012 stellten die Palästi­ nenser den Antrag auf Aufnahme der Terrassen von Battir südlich von Jerusalem in die UNESCO-Welterbeliste. Weil genau dort die Waffenstillstandslinie verlief, plante Israel den Bau eines Schutzzaunes. Im Juni 2014 nahm die UNESCO das Gebiet so­ wohl in die Welterbeliste als auch in die Rote Liste des gefährdeten Welterbes auf. Im Januar 2015 untersagte folglich der Oberste Gerichtshof in Israel den Bau der Mauer.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

(ζ) Entsprechende Entwicklungstrends gab es auch im privaten Rechtsbereich. Dennoch ging das Privatrecht sie anders, nämlich individualisierend, an. Im Bereich der Familien hatte sich in den Industriestaaten (auf die ich die folgende Darstellung beschränke) die Tendenz zu Kleinfamilien- und Einzel­ personen- bzw. Alleinerziehenden-Haushalten entwickelt, die in immer klei­ neren Wohnungen mit immer weniger Kindern einen vor allem auf sich selbst bezogenen Lebensstil pflegten. Und da die zunehmende psychische Individualisierung die natürliche Verlässlichkeit (Erwartbarkeit) im sozialen Verhalten verminderte (‚entropische Tendenz‘), vermehrte sie gleichzeitig den Bedarf an kulturellen Ordnungsnormen. In der sozialen Realität wirkte sich diese Entwicklung zum einen auf die Erziehung der Kinder aus, denen die Erwachsenenwelt (innerhalb des ihnen zugänglichen Ausschnitts) nur noch als wenig verlässlich dargestellt werden konnte. Zum anderen sah sich die staatliche Gesetzgebung veranlasst, zur Erhöhung der Verlässlichkeit zu­ mindest neue Normen zu schaffen. Dabei konnte sie sich auf Entwicklungs­ vorgänge in den rechtlichen Randbereichen stützen. In Wirtschaft und Handel entwickelten sich sowohl zum Zwecke der Ratio­ nalisierung immer größere Unternehmensformen als auch zum Zwecke der Diversifizierung immer spezieller ausgerichtete betriebliche Untereinheiten. •• Einerseits schlossen sich Kleinhandelsgeschäfte und Handwerksbetriebe zu Personal- oder Kapitalgesellschaften zusammen, um mithilfe leistungs­ fähigerer Maschinen und gestaffelter Arbeitsabläufe kostengünstiger wirt­ schaften zu können. Im Einzelhandel ging die Tendenz von kleinen (‚Tante-Emma‘-)Läden zu Handelsketten und zu Filialen großer Firmen, weil diese nicht nur preisgünstiger einkaufen, sondern mithilfe einer raffi­ niert ausgearbeiteten Logistik auch eine immer reichere Auswahl an Wa­ ren feilhalten konnten. Das dahinterstehende Gesetz lautete: Maschinen­ arbeit und bessere Logistik ersetzen Hand- und Kopfarbeit und verbilligen die Kosten. Dieses Gesetz wirkte sich langzeitlich auf alle Wirtschafts­ zweige aus, sodass der Einsatz von Maschinen und Logistik zum Sollwert für alle sich wiederholenden Betriebsabläufe und damit verbunden für den Kostenfaktor ‚Arbeit‘ wurde. Für das Recht ergab sich daraus die Konse­ quenz, dass es entweder den Trend zur Maschinenarbeit und ausgeklügel­ ten Logistik unterstützen oder ihn durch arbeitsentlastende Regelungen überflüssig machen musste.678 678  Ausnahmen gab es dennoch; sie mussten aber entweder durch die höhere kul­ turelle Wertschätzung von individueller handwerklicher oder künstlerischer Arbeit oder durch die soziale Fürsorge für bestimmte Personengruppen (z. B. Behinderte) begründet sein.



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•• Andrerseits entstanden immer wieder Kleinunternehmen mit geschultem Personal, oft Ein-Mann-Betriebe, die ihre Waren oder Dienstleistungen auf ganz spezielle Bedürfnisse einstellten und sie dadurch vermarkteten, dass sie sich einen speziell hierauf bezogenen Kundenkreis schufen. Für das Recht ergab sich daraus die Aufgabe, es sie vor Verdrängung und un­ lauterem Wettbewerb zu schützen. Im Bereich der Rechtsgeschäfte prägte die Grundeinheit des Vertrages zwar nach wie vor das Werden und Bestehen gesicherter kommunikativer Verbindungen. Doch verminderte die zunehmende Individualisierung auf­ grund der Vertragsfreiheit die verlässliche Erfüllung der übernommenen vertraglichen Verpflichtungen, sodass es innerhalb von Wirtschaft und Han­ del eines immer stärkeren Gegengewichts in Form von Formularverträgen und typisierten Allgemeinen Geschäftsbedingungen bedurfte. Außerhalb von Wirtschaft und Handel stieg der Gebrauch von Formularverträgen zwar ebenfalls an, doch enthielten die meisten Verträge Öffnungsklauseln für speziel­ le Wünsche; manchmal unterbreiteten sie hierfür sogar Vorschläge. Beispiele waren etwa die Musterverträge für außereheliche Lebensgemeinschaften.

Im Zuge der Globalisierung machten Wirtschaft und Handel von den er­ weiterten Möglichkeiten zu einer inter- und transsozialen Gesetzgebung Ge­ brauch. Federführend waren insofern die wirtschaftlichen Interessenverbän­ de.679 Sie hatten ihre Mitglieder organisatorisch so weit im Griff, dass sie deren Interessen nach außen hin auch ohne ausdrückliche Befragung vertre­ ten konnten und deshalb beispielsweise gegenüber der öffentlichen Hand als offiziöse Verhandlungsführer auftreten durften. Darin waren sie dann oft so erfolgreich, dass sie quasigesetzliche Normen durchsetzten: ein sogen. ‚soft law‘, das in Corporate Governance Kodizes niedergelegt wurde.680 Die Be­ folgung dieser Kodizes war, juristisch gesehen, zwar ‚freiwillig‘; sie zog aber bei Verstößen Sanktionen nach sich: etwa die Nichtberücksichtigung bei künftigen Ausschreibungen oder die Streichung von Zahlungsvergünstigun­ gen bei der Abwicklung von Aufträgen. Intern erstellten die Verbände norma­ tive Ordnungen, die auch Nichtmitglieder einhalten mussten, sofern sie Ver­ träge entweder mit ihnen oder ihren Mitgliedern abschlossen. Und für Strei­ tigkeiten zwischen ihnen oder ihren Mitgliedern schufen sie Institutionen, vor denen Schiedsverfahren stattfanden mit dem Ziel, Kompromisse zu errei­

679  Beispiele für Interessenverbände sind im nationalen Bereich der Allgemeine Deutsche Automobilclub (ADAC), im internationalen Bereich der Verband für die Vergabe von Namen und Adressen im Internet (Internet Corporation for Assigned Names and Numbers – ICANN). 680  Dazu J. Köndgen (2006), S. 495.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

chen, die für alle Seiten tragfähig waren und daher den Gang zu den ordent­ lichen Gerichten erübrigten.681 (η) Gesetzmäßigkeiten im Verhältnis der Rechtsbereiche zueinander. Der großen Zahl parallel laufender Rechtsentwicklungen entsprach eine ebensol­ che Fülle an parallelen Beziehungen zwischen einerseits mehreren nationalen Rechten und andrerseits hoheitlichen und privaten Rechtsbereichen. Ich greife diejenigen heraus, die in den Industriestaaten im Vordergrund standen.682 Das Verhältnis der Staaten zueinander wurde von den Prinzipien der Sou­ veränität und der Gleichheit beherrscht, woraus sich ein allseitiges Interven­ tionsverbot ergab.683 Verboten war den Staaten jede Ausübung physischer (insbes. militärischer) Gewalt oder wirtschaftlichen Drucks auf die innere Ausgestaltung (die domaine réservé) eines anderen Staates, etwa durch ein wirtschaftliches Embargo oder auch nur dessen Androhung. Ausnahmen be­ standen lediglich dort, wo entweder das Völkergewohnheitsrecht684 einem anderen Staat Pflichten erga omnes auferlegt hatte, wo vertragliche Ver­ pflichtungen (etwa aufgrund eines Darlehens) zu erfüllen waren oder wo der eigenen Souveränität vorrangige Fremdinteressen gegenüberstanden. Im Verhältnis der Staaten zu ihren Bürgerschaften stand einerseits den Staaten das Recht zur Gesetzgebung und damit zur Einwirkung auf die Pri­ vatsphäre der Bürger zu, andererseits den Bürger das Recht zur Kontrolle der staatlichen Gesetzgebung, woraus sich als Quintessenz das Rechtsstaatsprin­ zip (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG) ergab: Die Staaten durften verlangen, dass jede die Öffentlichkeit berührenden Betätigung ihrer Bürger sich in den gesetz­ lichen Grenzen hält, und die Bürger durften verlangen, dass jede auf ihre Privatsphäre einwirkende Gesetzgebung sich in den verfassungsmäßigen Grenzen hält und dass der Staat seine Zwecke, soweit sie ihre Privatsphäre berührten, stets mit geeigneten und erforderlichen Mitteln verfolgt. Entspre­ chendes galt für die Umsetzung der Gesetze durch die Verwaltung: Die Bürger durften verlangen, dass die Verwaltung diejenigen Mittel auswählt, 681  Weitere Gebiete globalen Privatrechts erschloss sich die Technik: etwa für Te­ lekommunikationen und technische Standards. 682  Die Entwicklungen in den failed states des afrikanischen, teilweise aber auch des südamerikanischen Kontinents und der Inselstaaten bleiben also außer Betracht. Die Zahl dieser Staaten ist ungewiss. Im Jahrbuch „Dritte Welt“ von 2001 hieß es, dass es „40, 50, möglicherweise sogar 80 ‚Länder‘ auf der Welt“ gebe, „über die entweder keine, nur sehr lückenhafte, unzuverlässige, völlig veraltete oder rein virtu­ elle Daten vorliegen, mit deren Hilfe doch Nationalstaaten oder Nationalökonomien abgebildet werden sollen“ (U. Menzel, 2001, S. 24). 683  UN-Resolution 2625 (XXV), p. 6: „Every State has an inalienable right to choose its political, economic, social and cultural systems, without interference in any form by another State.“ 684  Vgl. zum Völkergewohnheitsrecht oben 1 c β γγ.



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die zum Erreichen der gesetzlich vorgegebenen Zwecke nicht nur geeignet, sondern für die Bürger auch so wenig belastend wie möglich sind.685 Und als Summe ergab sich daraus, dass sowohl Regierung als auch Verwaltung an einem möglichst breiten Zusammenwirken mit der Bürgerschaft interessiert sein mussten. Beispielsweise sollten die Staaten die Bereitschaft der Bürgerschaft zur Zahlung von Einkommensteuern fördern, indem sie die Aufgaben benannten, die sie mithilfe der Steuern zu erfüllen gedachten. Entsprechend sollten sie die Bereitschaft der Wirt­ schaftsunternehmen zur Zahlung von Körperschaftssteuern heben, indem sie sie an der Vorbereitung der Steuergesetze und der darin vorgesehenen Verteilung der Steuer­ sätze beteiligen. Bei Eingriffen in die Unternehmensfreiheit sollten sie sich u. a. auf den Sachverstand der Wirtschaftsverbände stützen, damit umgekehrt diese anschlie­ ßend die Staaten bei der Umsetzung der damit verfolgten Zwecke berieten.686

Entsprechend stellte sich für die internationale Gesetzgebung die Frage, ob und inwieweit auch transsoziale Unternehmen in die Beratungen einbezo­ gen werden sollten.687 Dies erschien jedenfalls dort angemessen, wo entwe­ der internationale Interessenverbände bereits Regelwerke erstellt hatten (wie etwa die Leges mercatoria, sportiva, informatica u. a.) oder wo ehemals vorhandene nationalstaatliche Normen inzwischen durch internationale Han­ delsbräuche ersetzt worden waren. Denn auch im internationalen Bereich galt, dass es globalen Gemeinwohlinteressen nützt, wenn die Staatengemein­ schaft die Adressaten ihrer Normen an deren Ausarbeitung beteiligt, und dass der Sachverstand der Adressaten oft geeignetere und mit geringeren Voll­ zugskosten verbundene Regelungen hervorbringt, als es der Sachverstand von Bürokraten vermag.688 Bereichsspezifisch bedurfte es in der Vergangenheit einer besonders engen Zusammenarbeit zwischen Staat und Wirtschaft bei der Weiterentwicklung 685  BVerfGE

192 f.

30 292, 316; 33 171, 187; 67 157, 173; u. ö. Ferner BVerfGE 81 156,

686  Denn an der Vorbereitung eines Gesetzes beteiligte Wirtschaftsverbände sehen nicht nur sich selber zur Vertragstreue, sondern auch ihre Mitglieder zu regelkonfor­ mem Verhalten verpflichtet. Nachweise zur Diskussion bei K. Nowrot (2006) S. 475 ff. 687  Dazu K. Nowrot (2006), S. 471 f. m. Nachw. 688  Ein anderes Problem besteht darin, wie man transsoziale Großunternehmen in praxi zur Berücksichtigung nationaler Gemeinwohlinteressen und zur Achtung der Menschenrechte ihrer ausländischen Arbeitnehmer veranlassen kann. Dieses Problem lässt sich nicht allein dadurch lösen, dass man sie an der Formulierung ihrer interna­ tionalen Pflichten beteiligt, sondern dass man sie darüber hinaus in die internationale Staatenverantwortung einbezieht. Das kann entweder geschehen, indem man ihnen – entgegen der heute noch vorherrschenden Auffassung ‒ dieselbe (passive!) Völker­ rechtsqualität wie den Staaten zuschreibt (so K. Nowrot, 2006, S. 484 ff., 695 ff.) oder indem man aus ihrer marktbeherrschenden Stellung eine besondere Pflichtenstellung herleitet (dazu BVerfG in NJW 1990, S. 1469 f., 1470; NJW 1994, S. 36 ff., 38; NJW 1996, S. 2021 u. ö.).

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

des Rechts der abhängigen Arbeit sowie bei der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrung, Behausung und öffentlichen Gütern. Das Arbeitsrecht war früher national ausschließlich privatrechtlich als Dienstvertragsrecht ausgestaltet. Im Verlauf der industriellen Revolution hatte sich jedoch der Sozialstaat als Schutzmacht der ‚kleinen Leute‘ in seine Gestaltung eingemischt. Und schließlich beließ er nur die Kleinbetriebe in der ausschließlich privaten Sphäre, während er innerhalb der größeren Be­ triebe eine hoheitliche Sphäre von der privaten abtrennte.689 Von der gesetz­ lich geordneten Materie blieben in der privaten Sphäre nur die Faktoren Be­ triebskapital und Leitungsbefugnisse sowie die Gewinne und Verluste der Geschäftstätigkeit erhalten; den wichtigen Faktor Arbeit dagegen unterstellte der Staat seiner Kontrolle. Dabei hatte er allerdings zu berücksichtigen, dass die Arbeitnehmerschaft ihrerseits diesem Faktor bereits durch die Bildung von Gewerkschaften zu einem Gewicht verholfen hatte, das dem des privaten Kapitaleinsatzes entsprach. Deshalb konnte der Staat die Verhandlungen zwi­ schen Arbeitgebern und Arbeitnehmern über die Lohn- und sonstigen Ar­ beitsbedingungen grundsätzlich aus einer neutralen Perspektive verfolgen. Als Wächter über die soziale Balance brauchte er sich nur dort einzumischen, wo es ausnahmsweise entweder den Gewerkschaften an Macht fehlte, um Lohnbedingungen durchzusetzen, oder wo umgekehrt die Arbeitgeber gegen­ über dem Lohnstreik eines kleinen, aber wesentlichen Teils ihrer Belegschaft machtlos waren. Aktiv werden musste er also vor allem, um überbetriebliche Gefahren einzudämmen, die aus der industriellen Revolution entstanden wa­ ren, oder um die Verwendung neuer Techniken zu untersagen, solange es den Betrieben noch an Sicherungsvorkehrungen ermangelte.690 International691 kam die Verrechtlichung des Arbeitsrechts nur sehr all­ mählich in Gang – weshalb man das Wirken des soziogenetischen Ablauf­ 689  Da Großbetriebe im Rahmen der Industrialisierung entstanden waren und zu­ nächst reichen Unternehmerfamilien, später privaten Aktionären gehörten, hatte es das Recht mit Staatsbetrieben nur ausnahmsweise zu tun. 690  Die Aufgaben des Arbeitsschutzes sind heute auf Staat, Versicherungen und Arbeitnehmervertretungen unterschiedlich verteilt. In Deutschland ist seit 1996 das Arbeitsschutzrecht in einem eigenen Gesetz geregelt (Gesetz über die Durchführung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes zur Verbesserung der Sicherheit und des Ge­ sundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit – Arbeitsschutzgesetz). Adressat seiner Normen ist der Arbeitgeber. Beaufsichtigt wird seine Umsetzung zum einen durch ein duales System von Staat (Gewerbeaufsicht bzw. Ämter für Arbeitsschutz) und Unfallversicherungsträgern, zum anderen in allen größeren Betrieben durch den Betriebsrat. In Spanien tritt dagegen an die Stelle des Betriebsrats einesteils eine uni­ tarische Arbeitnehmervertretung, die alle betrieblich Beschäftigten vertritt, andernteils eine gewerkschaftliche Arbeitnehmervertretung in Betrieben ab 250 Arbeitnehmern, deren Delegierte von den Gewerkschaftsmitgliedern gewählt werden. 691  Zum Folgenden u. a. S. Böhmert (2002), S. 27 ff.



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schemas abermals gut verfolgen kann. Am Anfang gab es eine Regelung des gesetzlichen Arbeitsschutzes lediglich isoliert in einigen Industriestaaten. Anlass für die ersten internationalen Regelungen war, dass man die Parallelität der Aufgaben bemerkte, welche die industrielle Revolution allen Indus­ triestaaten stellte.692 Es folgten daher unverbindliche Vereinbarungen zwi­ schen den Staaten etwa zum Erlass übereinstimmender Arbeitsschutznormen und zur Kontrolle ihrer Umsetzung in den Betrieben693 (Adjunktion). Ver­ bindliche Übereinkommen (Konjunktionen) entstanden nach der Gründung einer Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz (erste bila­ terale Verträge seit 1904, erste von der Vereinigung entworfene Gesetze 1906).694 Echter Schwung kam in die internationale Gesetzgebung aber erst nach dem Ersten Weltkrieg, als eine Internationale Gewerkschafterkonferenz die International Labour Organization (ILO) gründete und sechs Überein­ kommen ausarbeitete, die u. a. die Einführung des 8-Stunden-Arbeitstages und der 48-Stunden-Arbeitswoche vorsahen. Diese Übereinkommen erstark­ ten dann (als Bestandteile des Versailler Friedensabkommens!) zu internatio­ nal geltendem Recht (Penetration). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die ILO zur ersten Sonderorganisation der UNO und zum Schutzmantel, unter dem die von allen Völkern erstrebte Weltfriedens­ ordnung ihren Platz fand. Und da diese ohne soziale Gerechtigkeit unmöglich ­erschien, nahmen die Völker sie als Forderung in die Präambel der ILO auf und verwirklichten sie zunächst durch einen Ausgleich der Machtverhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.695 In andere Bereiche strahlte die Forderung eher als Kampfbegriff aus. Sie setzte sich aber schließlich nahezu weltweit durch und wurde in den staatli­ chen Verfassungen zur hoheitlichen Aufgabe aller Sozialstaaten.696

Eine dem Arbeitsrecht in etwa vergleichbare Entwicklung nahm in vielen Staaten das Wohnungsmietrecht. Weil die Wohnungsnot in Deutschland nach den Zerstörungen zweier verlorener Weltkriege besonders groß war und das am Ende des 19. Jh.s entstandene Bürgerliche Gesetzbuch die soziale Schutz­ bedürftigkeit von Mietern unberücksichtigt gelassen hatte, bestand hier er­ höhter Nachholbedarf. Deshalb steuerte der Staat einer ausbrechenden Woh­ 692  Ein solcher Anlass lag der Einberufung zu einer „Internationalen Konferenz zur Regelung der Arbeit in gewerblichen Anlagen und Bergwerken“ nach Berlin durch Kaiser Wilhelm II. 1890 zugrunde. 693  Vgl. dazu M. R. Kern (1991). S. 323 ff., Zusammenfassung S. 353 f. 694  Ihr Inhalt betraf das Verbot der industriellen Nachtarbeit von Frauen und die Verwendung von Phosphor in der Zündholzindustrie. 695  Dazu diente u.  a. das Recht der Arbeitnehmer auf Mitbestimmung, das in Deutschland in allen größeren Kapitalgesellschaften (als ‚Mitbestimmung im Unter­ nehmen‘) und durch Belegschaftsvertretungen in allen größeren Betrieben (als ‚Mit­ bestimmung im Betrieb‘) vorgesehen ist – letzteres allerdings abgestuft für wirt­ schaftliche, technisch-organisatorische, personelle und soziale Angelegenheiten. 696  Siehe dazu schon oben 1 a β.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

nungsnot nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zum einen durch die Vertei­ lung von Wohnraum entgegen, zum anderen durch den Schutz des vorhan­ dene Wohnraums vor Kündigung der Mieter und vor unangemessener Erhöhung des Mietpreises. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Situation noch schlimmer, weil für eine Unzahl von aus ihren Wohnungen Ausgebombten oder aus ihrer Heimat Vertriebenen in den oft bis zu achtzig Prozent zerstörten Städten kaum noch freier Wohnraum zur Verfügung stand. Daher lockerte der Staat diesmal zuerst den Mieterschutz, um den Bau von Mietwohnung anzukurbeln. Bald darauf führte er jedoch wieder eine Miet­ preisbindung für einen Teil der Wohnungen (sogen. ‚Sozialwohnungen‘) ein und reformierte schließlich das Mietrecht insgesamt so weit, dass es sozial einigermaßen gerecht und marktwirtschaftlich einigermaßen wirksam war.697 Weitere Interventionen des Staates in den Bereich der Privatwirtschaft waren in der Folgezeit immer dann erforderlich, wenn sich Engpässe bei der Versorgung mit Nahrung und öffentlichen Gütern wie Wasser, Elektrizität, Wärme, Verkehrs- und (Tele-)Kommunikationsmitteln ergaben. Vorausschau­ end wurden dann die privaten Anbieter vom Staat mit einer Preisbindung (etwa für Grundnahrungsmittel) oder einem Abschlusszwang gegenüber je­ dermann unterworfen. War die Versorgung auch danach noch nicht optimal, trat der Staat entweder stellvertretend selber als Anbieter auf oder behob etwa bestehende Informationsdefizite bei den Verbrauchern, um diese vor einer Übervorteilung zu bewahren. Durchbrochen wurde die Grenze zwischen der staatlichen und der privaten Sphäre ferner, wenn private Personen oder Institutionen entweder eine be­ herrschende Stellung im Fürsorgebereich des Sozialstaats erreichten oder wenn der Staat Aufgaben der sozialen Fürsorge privaten Wirtschaftsunter­ nehmen von sich aus anvertraute und sich auf die Aufsicht über ihre Erfül­ lung zurückzog. Das erste war bei einer monopolartigen Verfügung der Wirtschaft über ein öffentliches Gut (z. B. Telekommunikation) der Fall, das zweite dort, wo der Staat entweder keine finanziellen Ressourcen oder keine Fachkräfte zur Bewältigung einer sozialen Aufgabe zur Verfügung hatte oder die Schwerfälligkeit seines Beamtenapparats ein sachgerechtes Management zur Bewältigung der Aufgabe nicht zuließ. In Deutschland wurden beispielsweise die staatlichen Eisenbahnen, die Post und die Telefongesellschaften teilweise in private Aktiengesellschaften überführt, im Aus­ land auch kleinere Flughäfen. Größere Flughäfen sowie Autobahnen wurden haupt­ sächlich dort privatisiert, wo Bau und Betrieb seitens des Staates entweder nicht kostendeckend waren oder wo größere Sanierungsmaßnahmen anstanden. Weltweite 697  Ausführlich zur Entwicklung des Mietrechts in Deutschland V. Emmerich (2014), Vorbem. zu § 535 BGB. Eine Härteklausel enthält das neue Recht in § 574 Abs. 1 BGB.



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Beachtung fand die Privatisierungswelle, die während der Regierungszeit von Marga­ ret Thatcher Großbritannien überrollte und dort u. a. den gesamten Verkehrsbereich erfasste. Inzwischen ist als Folge einer Reihe von Verkehrsunfällen im Eisenbahnbe­ reich eine Rückentwicklung eingetreten. Geblieben ist es dagegen bei einer Privatisie­ rung vieler Betriebe aus dem Energiebereich, der Telekommunikation und der Trink­ wasserversorgung.

Ein Zusatzbedarf nach staatlicher Regelung innerhalb eines überwiegend privatrechtlich geregelten Bereichs ergab sich schließlich gegen Ende des 20. Jh.s, als – hauptsächlich in den Ländern der europäischen Peripherie – Public-Private Partnerships gegründet wurden, an denen, wie der Name sagt, aufgrund von übereinstimmenden Interessen sowohl Privatpersonen als auch die öffentliche Hand maßgeblich beteiligt waren.698 An sich waren Partnerschaften zwischen dem Staat und Privatpersonen keine Neu­ heit (weshalb es verfehlt ist, wenn man sie heute manchmal als ‚modische Kumpanei‘ diffamiert). Denn weder im Altertum noch jemals danach gab es einen starken Trennstrich zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre. In Attika beispiels­ weise war nur, was sich im οἶκος abspielte, der öffentlichen Beurteilung entzogen; was sich außerhalb zutrug, konnte dagegen öffentlich kontrolliert werden – und zwar vor Gericht selbst dann, wenn es nicht gesetzwidrig war.699 Staat und Gesellschaft waren nach allgemeiner Meinung füreinander da und hatten einen legitimen Anteil am Recht des jeweils anderen. Erst die Territorialstaaten verstärkten die Trennung zwischen Staat und Gesellschaft derart, dass sie durch die Gründung von PublicPrivate Partnerships teilweise zurückgenommen werden musste. Und obwohl der Staat in der Regel das Heft in den Partnerships in der Hand behielt, machte die Rücknahme der Trennung die Grenzziehung zwischen öffentlichem und privatem Recht unklar.700 698  Vgl. zu ihnen schon oben 5 a ε αα. Zum Folgenden Th. Krumm (2016), S. 73 ff. Der öffentliche Partner konnte sich als aktiver Staat präsentieren, der dringende, aber noch nicht durchfinanzierte Aufgaben anpackt und seine Effizienz dadurch erhöht, dass er technische und betriebswirtschaftliche Aufgaben an einen privaten Unterneh­ mer abgibt. Der private Unternehmer konnte seinen Vorteil darin sehen, dass er so­ gleich eine sichere Auslastung seiner betrieblichen Kapazität erreichte und entspre­ chende Einnahmen erzielte. Darüber hinaus erlangte der Private ein mit der öffentli­ chen Aufgabe verbundenes positives Image und erschloss sich möglicherweise neue Märkte. Generell lässt sich das Eindringen privater Macht (von Institutionen, Familien oder Einzelpersonen) insbesondere bei den failed oder fragile states beobachten. 699  Dazu A. Lanni (2015), p. 47: „While conduct that did not affect public interest was not directly regulated by statute, in practice the courts enforced norms of private conduct. The broad approach to relevance in Athenian courts meant discussion of the parties‘ character and private conduct was common in court speeches and likely in­ fluenced court decisions.“ p. 38: „The operation of informal means of social control (such as social sanctions and gossip) and the formal court system were so interde­ pendent that the traditional dichotomy between ‚private‘ and ‚public‘ … does not apply to the Athenian legal system.“ 700  Ph. Genschel/B. Zangl (2007), S. 10: Der Staat „wird vom Herrschaftsmonopo­ litisten zum Herrschaftsmanager.“

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

Regeln für die Gründung von Public-Private Partnerships gibt es bis heute nur spärlich. Im Allgemeinen bleibt die Gründung und inhaltliche Ausgestal­ tung dem Ermessen der Beteiligten überlassen.701 Nach einer Studie der Europäischen Investitionsbank702 begannen die meisten eu­ ropäischen Länder mit Gründungen von Public-Private Partnerships im Bereich der Infrastruktur und da vor allem im Verkehrssektor (Straßen, Brücken, Eisenbahnen). Erst anschließend dehnten sie die Gründungen auch auf andere Sektoren (Bau von Schulen und Krankenhäusern, Sicherheitsdienstleistungen, Facility Management) aus. Im weiten Abstand folgten dann Abfallentsorgung, Umweltschutz, Energieversorgung und sozialer Wohnungsbau.

Noch immer ungeregelt ist derzeit die Verteilung der Rechtsetzungsbefug­ nisse zwischen Staat und Wirtschaft, wo sich diese nicht (nur) auf staatliche Territorien, sondern (auch) auf das worldwide net erstrecken. Dass gleich­ wohl auch in der Welt der Bits und Bytes Normen erforderlich sind, wenn der Umgang der Beteiligten geordnet sein soll, ergibt sich daraus, dass jenseits der physischen Welt ebenfalls die Tendenz zum Ordnungsverlust ­ (2. Hauptsatz der Thermodynamik) besteht. Will man daher die immaterielle Welt nicht dem Chaos überlassen, muss man sich zu einer Zuständigkeitstei­ lung zwischen Staat und Privatwirtschaft sowohl für den Erlass von Normen (jurisdiction to prescribe) als auch für die Erzwingung von Normengehorsam (jurisdiction to enforce) entschließen. Voraussetzung ist freilich, dass die In­ formationstechnik die technischen Voraussetzungen dafür geschaffen hat. Informationstechniker können im Internet zwar Barrieren errichten, die unüber­ windbar sind und dann keiner normativen Sicherung mehr bedürfen. Doch wenn solche Barrieren fehlen oder zu schwach sind, um den Angriffen von ‚Hackern‘ standzuhalten, öffnet sich ein nahezu grenzenloser Raum der Freiheit nicht nur zum gewollten Datenaustausch, sondern auch zum ungewollten Datenmissbrauch. Und dann müssen sich Staat und/oder Gesellschaft diesem Treiben entgegenstellen. Bisher geht die faktische Wirksamkeit von Normen, welcher Provenienz auch immer, über einen moralischen Appell allerdings kaum hinaus. Denn die Identität desjenigen, der in das technische Sicherheitssystem eines Datennetzes widerrechtlich eingedrungen ist, wird anschließend von ebendiesem Sicherheitssystem weitestgehend geschützt. Dem Netzbetreiber (provider) ist seine Identität nur so weit bekannt, wie dies „für die Begründung, inhaltliche Ausgestaltung, Änderung oder Beendigung eines Vertrags­ verhältnisses über Telekommunikationsdienste“ erforderlich ist (vgl. §§ 95 und 3 Nr. 3 TKG). Hat er sein Kennwort (u. U. mehrfach) geändert, kann seine Spur im Internet nicht mehr verfolgt werden, sodass er sich vor strafrechtlicher Verfolgung sicher weiß. Nur wenn es nicht um den Schutz vor Datenmissbrauch geht, sondern um die strafrechtliche Verfolgung von ins Netz eingespeisten kriminellen Informatio­ 701  „There is no common policy between EU member states on the desirability of the PPP mechanisms. Some countries, e. g. the UK and Spain, have made substantial use of the mechanism. Others have not used it at all“ (European Investment Bank, 2005). 702  European Investment Bank (2004).



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nen und Meinungen, hat der Netzbetreiber den Zugriff: Dann kann er sie löschen oder mit einem caveat versehen. Aber – muss er das? Die Frage wird derzeit nicht einheit­ lich beantwortet.703

(θ) Zusammenfassung der evolutiven Gesetzmäßigkeiten im heutigen Recht. Ich schließe meine Ausführungen mit einem Überblick über die Ge­ setzmäßigkeiten, welche die Entwicklung normativer Organisation von ihren ersten Anfängen bis zu den heutigen nationalen und internationalen Rechts­ normen als vorläufigen Endprodukten bestimmt haben. Da die Anfänge bis heute weitestgehend im Dunkeln liegen, lege ich ihnen zwei nicht allzu ge­ wagte, weil naturwissenschaftlichen Erkenntnissen nicht vorgreifende, Thesen zugrunde: •• 1. These: Die Evolution begann, als die Zufuhr von Energie in das Chaos anorganischer Masse erste organische Verbindungen erschuf. Die Existenz dieser organischen Verbindungen war jedoch fragil; denn sobald sie Macht über das Chaos gewonnen hatten, tendierte ihre Energie dazu, schwächer zu werden und schließlich zu erlöschen. Die organischen Verbindungen hatten, anders gewendet, nur die Kraft, das Chaos der toten Materie zu überwinden, nicht aber, es auszulöschen. Mehr noch − die tote Materie blieb die Voraussetzung für ihre Kraft; denn die organischen Verbindun­ gen brauchten sie nicht nur zu ihrer Entstehung, sondern auch, um existent zu bleiben: Sie brauchten sie, um sie als Lebensenergie für ihren Fortbe­ stand zu ‚verwerten‘ (und sie dann ‚entwertet‘ an die tote Materie zurück­ zugeben). Thermophysikalisch ausgedrückt: Sobald organische Verbindun­ gen tote Materie nicht mehr in Energiespender verwandeln konnten (1. Hauptsatz), tendierten sie mangels Energiezufuhr zum Abbau ihrer Ordnung (2. Hauptsatz)704 − bis der Tod ihre Materie wieder in Besitz 703  Zur deutschen Rechtslage: Das Telemediengesetz(TMG) unterscheidet drei Gestaltungen, in denen ein Dienstanbieter im Internet in Erscheinung treten kann: Als Content Provider stellt er eigene, u. U. aber auch fremde, Informationen bereit; er ist nach den allgemeinen Gesetzen für die eigenen Informationen unbeschränkt, für die fremden Informationen dagegen nur beschränkt mangels Disclaimers verantwortlich (vgl. § 7 Abs. 1 TMG). Als Host Provider stellt er Speicherplatz zur Verbreitung von fremden Informationen zur Verfügung; er ist nicht verantwortlich, wenn er von rechtswidrigen Informationen keine Kenntnis hat oder wenn er unverzüglich tätig wird, um die Informationen zu entfernen oder den Zugang zu ihnen zu sperren (§ 10 Satz 1 TMG). Als Access Provider stellt er nur den Netzzugang zur Nutzung fremder Informationen bereit; er haftet dann für den Inhalt der im Netz übermittelten Informa­ tionen grundsätzlich nicht (§ 8 TMG). 704  E. Mayr (2003), S. 25: „Evolution schafft Ordnung. Deshalb wird manchmal behauptet, sie stehe im Widerspruch zum ‚Entropiegesetz‘ der Physik, wonach alle Entwicklungsvorgänge zu einer Zunahme von Unordnung führen. In Wirklichkeit existiert dieser Widerspruch nicht: Das Entropiegesetz gilt nämlich nur für geschlos­ sene Systeme, die Evolution einer biologischen Art findet aber in einem offenen System statt, in dem Lebewesen auf Kosten der Umwelt eine Entropieabnahme her­

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nahm. Erhalten blieb nur, was sie zuvor als organischen Nachwuchs er­ zeugt hatten. •• 2. These: Was für jeden einzelnen Bioorganismus gilt, gilt auch für alle Gesamtheiten (Einheiten) von Bioorganismen. Sie entstanden infolge von Energiezufuhr, und zwar entweder unmittelbar aus der anorganischen Masse oder aus einer Mehrzahl von organischen Elementen heraus. Sie existierten kraft einer Sozialenergie, die entweder gleichzeitig mit der in­ dividuellen Lebensenergie entstand oder sich (wahrscheinlich) nachträg­ lich aus ihr herausbildete.705 Und sie fielen wieder zurück ins Chaos, so­ bald die Energie, die sie zusammenhielt, erlosch − es sei denn, dass sie auf­grund von nachwachsenden organischen Ordnungen und der in ihnen enthaltenen Sozialenergie überlebten. Wir befinden insoweit freilich derzeit innerhalb eines wissenschaftlichen Ignoramus, wenn nicht gar Ignorabimus: Wie Mückenwolken, Fischschwärme und Vogel­ züge einst entstanden sind und welche Kräfte heute ihren Zusammenhalt bewirken, wissen wir nicht oder allenfalls ansatzweise und werden es vielleicht niemals ganz erfahren können. Denn der Sinn und Zweck, den solche Zusammenschlüsse haben, erklärt noch nicht ihre Genese. Sinnvoll ist z. B., dass die Anführer eines Vogelzugs von Zeit zu Zeit durch (im Voraus ausersehene?) andere Vögel ersetzt werden, damit der Zug insgesamt nicht ermattet. Doch wie es dazu einst kam und aufgrund welcher Mechanismen es heutzutage geschieht, ist ungewiss.

Auf der Grundlage der beiden genannten Thesen lässt sich der Mensch als ein Wesen bezeichnen, das über die energetische Ausstattung sowohl indivi­ dueller als auch sozialer Wesen verfügt und diese Energien evolutionär nutzt, um sowohl sein individuelles Leben zu gestalten als auch sein Dasein in Gruppen zu organisieren. Als Quelle seiner Energie dient ihm tote (genauer: getötete) organische Substanz aus seiner Umwelt, die er als Nahrung verwer­ tet und anschließend entwertet an seine Umwelt wieder abgibt. Als Indivi­ duum benutzt er seine Energie, um die (relativ706) homogenen Zustände sei­ ner Umwelt in eine Vielzahl differenzierter Zustände zu zerlegen und sie gemäß teils angeborenen (natürlichen), teils (sozial) erworbenen Sollmustern (Normen) neu zu formen. Aktualgenetisch geschieht dies teils aufgrund von ererbten, teils erlernten Prozessen, teils auch aufgrund von ‚Versuch, Irrtum beiführen können, wobei die Sonne für ständige Energiezufuhr sorgt.“ Die Aussage ist m. E. nicht ganz exakt: Das Entropiegesetz gilt auch in offenen Systemen; sie führt zwingend allerdings nur in geschlossenen Systemen zu größerer Unordnung und schließlich zum Chaos, während in offenen Systemen eine ordnende Gegensteuerung diese Entwicklung verhindern kann. 705  Dazu É. Durkheim (1895/1999), S. 186 f., 187: „Die Gesellschaft ist nicht bloß eine Summe von Individuen, sondern das durch deren Verbindung gebildete System stellt eine spezifische Realität dar, die einen eigenen Charakter hat.“ 706  D. h. in Relation zu den nachfolgenden Zuständen.



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und Selektion‘; soziogenetisch geschieht es zu dem Zweck, sein soziales Umfeld teils kennenzulernen, teils es aktiv nach dem Schema von ‚Berüh­ rung, Verbindung und Vereinigung‘ (‚Adjunktion, Konjunktion und Interpe­ netration‘) in den Griff zu bekommen. Das Wirken sowohl der aktualgenetischen als auch der soziogenetischen Prozesse lässt sich innerhalb der menschlichen Ontogenese gut beobachten. Aktualgenetisch sind alle Prozesse von Beginn an auf den Erwerb von Ordnung (abnehmende Entro­ pie) in den Bewegungen, in den Darstellungen (Kinderzeichnungen!) und in den Kommunikationen mit anderen ausgerichtet. Soziogenetisch ist das Verhältnis von Neugeborenen zu ihresgleichen noch interesselos, sie leben sozial isoliert; später ah­ men sie einander nach, was zu parallelem Verhalten führt; im weiteren Verlauf nehmen sie bewussten Kontakt zueinander auf und reagieren aufeinander, sodass es zu spiele­ rischen Interaktionen kommt; noch später verbinden sie sich zu gemeinsamen Aktio­ nen, es entstehen Gruppen mit gemeinsamen Zielen und gemeinsamen Tätigkeiten zur Zielerreichung; und schließlich, zu Beginn der Schulzeit, vereint sie die Einheit eines Regelspiels, dessen Normen sie (zumindest anfangs) für unverbrüchlich halten. Entsprechende soziogenetische Entwicklungsprozesse lassen sich innerhalb der menschlichen Phylogenese verfolgen: Familien lebten zunächst, sofern es die Um­ weltverhältnisse erlaubten oder erforderten, isoliert voneinander (z. B. die Inuit); konkrete Anlässe führten jedoch immer wieder auch zu Kontakten und zu Gemein­ samkeiten, angesichts schwer allein durchzuführender Aktionen (etwa Jagd auf Groß­ wild) darüber hinaus zu Zusammenschlüssen, und der Austausch von Frauen schließ­ lich zu Großfamilien und Sippen. Volksgruppen lebten als Horden meistens isoliert und gingen beim Umherziehen sich bewusst aus Wege. Kontakte infolge der Not­ wendigkeit engeren Zusammenrückens führten jedoch entweder zu bewusster Ko­ existenz oder (öfters) zu parallelen Formen des Verhaltens und der Aufgabenbewälti­ gung: man blieb zwar für sich, sah aber Vorteile voneinander ab und vermied Nach­ teile (Parallelgesellschaften). Die intensivere Begegnung zweier oder mehrerer Kul­ turen führte regelmäßig zu einem Prozess der Akkulturation, d. h. der Reaktion aufeinander und der Anpassung unterschiedlicher Lebensformen aneinander. Akkul­ turationen wiederum führten zwar nicht zum Verlust eigener kultureller Besonderhei­ ten, konnten aber mit kulturellen Gemeinsamkeiten verbunden und u. U. durch die Besinnung auf ein gemeinsames kulturelles Erbe noch verstärkt werden. Geschah dies, kam es häufig zur Begründung gemeinsamer kultureller Institutionen und Nor­ men, nach denen die Verhaltensweisen aller Kulturteilnehmer wahrgenommen und beurteilt wurden.

Phylogenetisch werden dem Menschen wie allen höheren sozialen Bio­ organismen die Fähigkeiten zur Ordnung sowohl des eigenen Lebens als auch des Gemeinschaftslebens bereits im Erbgut mitgegeben ‒ mehr oder weniger feste Aktionsmuster als Ethogramm, Interaktionsmuster als Sozio­ gramm. Die Aktionsmuster sind so aufgebaut, dass ankommende Meldungen innerhalb der Sinnesorgane auf Sollmuster treffen707 und dort die Bereitschaft 707  I. Eibl-Eibesfeldt (1987), S. 138, 184: In den Sollmustern „sind gewissermaßen die Normen des Verhaltens kodiert“.

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zu einer mehr oder weniger vorgegebenen Reaktion auslösen. Gespeichert sind diese Sollmuster in einem arteigenen Gedächtnis, das aus teils ererbtem Wissen, teils aus Informationen besteht, die hauptsächlich innerhalb von so­ gen. Prägungsphasen hinzuerworben werden. Die Interaktionsmuster sind zwar gleich aufgebaut, erlauben aber jedem Individuum, sich durch Verglei­ che zusätzlich am Verhalten anderer Mitglieder desselben Sozialsystems zu orientieren und seinerseits individualtypische Variationen innerhalb der art­ typischen Sollmuster zu erzeugen. Gespeichert werden diese Variationen dann in einem weiteren arteigenen Gedächtnis,708 das innerhalb einer Prä­ gungsphase ferner Informationen über typische Variationen seitens der ande­ ren Mitglieder des Sozialsystems sammelt und es erlaubt, diese zu system­ typischen Veränderungen zusammenzusetzen. Wie differenziert, aber auch determinierend ererbte Interaktionsmuster sein können, lässt sich an sozial lebenden Insekten studieren. Sozial lebende Wirbeltiere besitzen stattdessen neben ihrem ebenfalls ererbten ein unterschiedlich großes Repertoire an erlernten und im Gedächtnis abgespeicherten Verhaltens- und Interaktionsmus­ tern. Und der Mensch ragt aus dem Tierreich nochmals heraus, weil er eine besonders große Vielfalt an Verhaltens- und Interaktionsmustern (‚Konven­ tionen‘) erlernen und speichern kann. Erblich enthalten die menschlichen Gedächtnisse nur wenige feststehende (‚instinktive‘) sowie eine etwas grö­ ßere Anzahl vager (‚instinktoider‘) Sollensanforderungen. Doch kann der Mensch diese relativ wenigen Sollensanforderungen sowohl in den Zeiten der Prägung als auch noch lange danach durch weitere ergänzen: Sein Gehirn stanzt sich diese gleichsam als Markenzeichen derjenigen Sozialkultur ein, in die er ‚enkulturiert‘ ist. Schon nichtmenschliche Primaten folgten zwei feststehenden sozialen Sollmustern, die auch im Menschen wirken und ein grundsätzlich richtiges Sozi­ alverhalten garantieren. Sie besagen: (1) Du sollst die Erfolge von Aktionen ihren Urhebern zurechnen (‚Kausalitätsmuster‘). (2) Du sollst auf die Erfolge von Aktionen ihrer sozialen Bedeutung gemäß adäquat reagieren (‚Rezipro­ zitäts-‘ bzw. ‚Adäquitätsmuster‘). Beide Muster liegen den menschlichen Sozial- und Rechtsordnungen zugrunde und sollen deshalb im Folgenden analysiert werden. Das Reziprozitätsmuster besagt, dass allen Chaostendenzen innerhalb von sozialen Systemen Ordnungstendenzen von mindestens adäquater Stärke entgegengesetzt werden sollen, damit in den Systemen eine interne ‚soziale Harmonie‘ entsteht bzw. erhalten bleibt. Das Prinzip verlangt beispielsweise als Gegengewicht zur Zunahme von sozialem Chaos infolge der Geburt eines strampelnden und lallenden Säuglings nach dem Einfluss elterlicher Sorge, damit der Neuling geordnete Bewegungen und klare sprachliche Laute ent­ 708  Ich

folge hier A. Giddins (1997), S. 96 ff.



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wickeln kann; es verlangt als Gegengewicht zur kriminellen Handlung eines Übeltäters nach dem Einfluss staatlicher Sorge, damit der Täter den ange­ richteten Schaden wiedergutmacht und sich künftig rechtstreu verhält. Auf der Ebene von Populationen verlangt das Prinzip, dass die Entwicklung der Mitgliederzahl durch eine entsprechende Entwicklung der Konstruktivität der sozialen Verhältnisse ausgeglichen wird und dass insbesondere ab einer schwer überschaubaren Zahl an Mitgliedern Normen eingesetzt werden, die ausgehend von konkreten Einzelweisungen sich über konkrete Sollmustern zu abstrakten Sozialordnungen steigern. Diese Steigerung folgt der Erkennt­ nis, dass die in immer größeren sozialen Systemen entstehende Überra­ schungsfülle an Interaktionen von individuellen Systemgedächtnissen nicht mehr zu bewältigen ist und daher nur noch durch eine allgemeine Kommuni­ kationsordnung mit Sanktionen für ihren Bruch geordnet und gesichert wer­ den kann.709 Ihre Parallele hat diese sozialnormative Entwicklung in der sozialökonomischen Entwicklung. Für eine geringe Bevölkerungszahl können noch Familien- oder mittel­ ständische Unternehmen die Grundversorgung übernehmen, ihr weiterer Bedarf kann ggf. durch Importe befriedigt werden. Doch je zahlreicher die Bevölkerung wird, desto größere Konzerne bzw. desto mehr organisatorisch aufeinander abgestimmte Wirtschaftsunternehmen müssen sich dieser Aufgabe unterziehen. Gesteuert werden kann die Wirtschaft folglich in kleinen Staaten mittels einer geringen Zahl an Nor­ men, während die Entwicklung im Übrigen den natürlichen Kräften des Marktes überlassen werden kann. In den größeren Staaten bedarf es dagegen zur Steuerung starker und genau ineinandergreifender Mechanismen, um denselben Ordnungseffekt zu erreichen. Dazu zwei Beispiele: Ein riesiger Staat mit über 1,3 Milliarden Einwohnern ist China. Der Versorgung seiner Bevölkerung dient eine „sozialistische Marktwirtschaft“. Die folgende Darstel­ lung entnehme ich (gekürzt und leicht verändert) dem Internet:710 Die in China in den vergangenen Jahrzehnten aufgebaute sozialistische Marktwirt­ schaft sollte ursprünglich bis 2020 vollständig gefestigt sein. Infolge der CoronaPandemie hat sich die Festigung jedoch um einige Jahre verschoben. Grundlegend für sie ist einerseits die Rolle des Marktes bei der Verteilung von Ressourcen, andrerseits das System der Globalsteuerung durch den Staat. Während es zuvor nur eine einzige Eigentumsform gab, nämlich das Staats- bzw. Kollektiveigentum, können jetzt mehrere Wirtschaftsformen nebeneinander bestehen und miteinander in Konkurrenz treten. Zurzeit erwirtschaften Betriebe in Staatsbesitz, in gemisch­ tem Eigentum und in Privateigentum jeweils ungefähr den gleichen Anteil am BIP. Während in den Grundindustrien (dem Bahnwesen, der Luftfahrt, der Post und der Telekommunikation, der städtischen Wasser-, Strom- und Gasversorgung) sowie in dazu oben 6 c β. china-guide/wirtschaftssystem-in-china.html. Es bleibt dahingestellt, in­ wieweit die Darstellung geschönt ist. Wichtig ist an dieser Stelle, dass sie eine Vor­ stellung davon vermittelt, wie künftig zumindest idealerweise die Rollen der hoheit­ lichen Gewalt und der privatwirtschaftlichen Macht verteilt sein sollen. 709  Vgl.

710  www.

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der Forschung und Bildung, in der Landesverteidigung und im Finanzsektor Staatsbetriebe dominieren, betätigen sich in traditionellen Branchen wie Einzelhan­ del, Gastronomie, Dienstleistungen und Reparaturen hauptsächlich private Betrie­ be, die zusätzlich aber immer mehr auch in die technologieintensiven Branchen vorrücken. Im Außenhandel sind die privaten Unternehmen den staatlichen Unter­ nehmen hinsichtlich ihres Steueraufkommens und der Zahl ihrer Beschäftigten deutlich überlegen. In Zukunft sollen nach Möglichkeit das bisher starke Wirt­ schaftswachstum aufrechterhalten und die Wirtschaftsstruktur weiter ausgebaut werden. Einerseits soll die Transformation des Wirtschaftsmodells von einer Staats- zu einer gemischten Wirtschaft vollendet, also die Funktion des Marktes und die innere Dynamik der Wirtschaft gefördert, andrerseits die Globalsteuerung des Staates verbessert werden. Ziele bleiben die Absicherung des Lebensstandards der Bevölkerung, die Steigerung der wirtschaftlichen Effizienz und die Förderung von sozialer Gerechtigkeit, gesellschaftlicher Harmonie und politischer Sicherheit. Ein Staat von mittlerer Größe ist Deutschland. Er hat eine „sozialen Marktwirt­ schaft“. Ihre Darstellung entnehme ich (ebenfalls gekürzt und leicht verändert) dem Wirtschafts-Duden:711 Merkmale der sozialen Marktwirtschaft Deutschlands sind u. a. die freie wirtschaft­ liche Betätigung einschließlich der Möglichkeit, einen eigenen Gewerbebetrieb zu gründen sowie Privateigentum an den Produktionsmitteln zu erwerben, die freie Preisbildung für Güter und Leistungen am Markt, das Gewinnstreben als Leistungs­ anreiz und das Recht von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, über ihre jeweiligen Verbände die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung ohne staatlichen Eingriff zu regeln (Tarifautonomie). Die wirtschaftspolitischen Aufgaben des Staates bestehen in der Schaffung eines rechtlichen Rahmens für das privatwirtschaftliche Handeln, in der Gewährleistung eines fairen Wettbewerbs durch eine funktionsfähige Wettbe­ werbsordnung sowie in der Förderung der wirtschaftlichen Betätigung durch eine aktive Wirtschafts-, Konjunktur- und Steuerpolitik. Die soziale Aufgabe des Staates besteht in der Knüpfung eines Netzes von Sozialleistungen, das Alte, Kranke, Ein­ kommensschwache und Arbeitslose vor wirtschaftlicher Not schützt. Der Staat greift also auch in der nicht-sozialistischen Marktwirtschaft aktiv durch konjunkturpoliti­ sche, wettbewerbspolitische und sozialpolitische Maßnahmen aktiv in das Wirt­ schaftsgeschehen ein, wenn schwächere Anbieter oder Nachfrager durch marktwirt­ schaftlich vertretbare Maßnahmen geschützt werden müssen (z. B. beim Verbraucher­ schutz oder innerhalb der Wettbewerbsgesetzgebung). Die Ziele der sozialen Markt­ wirtschaft sind weitestgehend dieselben wie die der sozialistischen Marktwirtschaft: Zum einen wird die umfassende Versorgung der Bevölkerung mit Gütern durch eine leistungsfähige Wirtschaft erstrebt, zum anderen die Wirtschaft rechtlich gegen ruinö­ sen und unlauteren Wettbewerb abgesichert, zum dritten die Ballung wirtschaftlicher Macht so weit wie möglich verhindert und zum vierten die Bevölkerung vor unsozi­ alen Auswirkungen von Marktprozessen (z. B. Arbeitslosigkeit) bewahrt. Ohne dass ich es hier genauer darlegen muss, zeigt ein Vergleich beider Beispiele, dass die konstruktiven Unterschiede zwischen den Systemen einer sozialistischen 711  Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag, Mannheim 2013.



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Marktwirtschaft für ein Riesenreich und einer sozialen Marktwirtschaft für weitaus kleinere Reiche weniger politisch als durch die unterschiedliche Größe und Anzahl der sozialen Elemente bedingt sind, die eine stärkere Steuerungsleistung des größeren und volkreicheren Staates erfordern.

Ergänzt wird das Reziprozitätsmuster durch das Kausalitätsmuster, näm­ lich durch die Verbindung von Erfolgen mit menschlichen Handlungen, wo­ durch u. a. die soziale Verantwortung von Personen für soziale Ereignisse und Zustände begründet wird. Zweck der Muster ist es, aus der meist un­ übersehbaren Zahl von Ursachen für ein soziales Ereignis oder einen sozialen Zustand diejenigen herauszufiltern, die soviel an Gewicht haben, dass eine sozial adäquate Reaktion das soziale Gleichgewicht wiederherstellen muss: z. B. eine Ersatzpflicht für eine verursachte Sachbeschädigung, eine Bestra­ fung für eine vorsätzlich zugefügte Körperverletzung.712 Das hierfür zusätz­ lich zur Kausalität eingeführte Konzept der sozialen Verantwortung wird dabei durch den sozialen Grundkonsens begründet, dass Interaktionen scha­ densfrei verlaufen sollen und deshalb jedermann ein rücksichtsvolles Verhal­ ten schuldet („quidquid agis, prudenter agas et respice finem“)713. Die Bedeutung der Kausalität geht über die aktualgenetische Begründung von rechtlicher Haftung für Schadensfolgen freilich weit hinaus. Sie umfasst ganze Reihen von Zuständen, die sowohl historisch aufeinander folgen als auch genetisch miteinander verbunden sind. Je nach phylogenetischem oder ontogenetischem Trend kann man diese Reihen entweder als ‚anagenetisch‘ (d. h. als Aufwärtsentwicklungen zu differenzierteren Zuständen und zuneh­ mender Konstruktivität) oder als ‚katagenetisch‘ (d. h. als Abwärtsentwick­ lungen zu undifferenzierteren Zuständen und abnehmender Konstruktivität) bezeichnen. Die Biologie führt uns Beispiele für beide Entwicklungsarten vor Augen, stellt dabei allerdings die Erforschung genetischer Aufwärtsent­ wicklungen in den Vordergrund, weil dazu offenbar ein genereller biotischer Trend besteht. Psychologie und Kulturologie tun sich mit einer solchen Trendfeststellung dagegen schwerer. Doch scheint mir auch innerhalb der Psychologie die Bejahung einer Anagenese zu überwiegen, während es in der Kulturologie zu so vielen und zu so starken Abwärtsbewegungen gekommen ist, dass zur Feststellung eines historisch insgesamt überwiegenden Auf­ wärtstrends eine gute Portion Optimismus gehört. Als Beispiele stelle ich die Abwärtsentwicklungen voran: 1. Biotische Funktionen – Körperteile, Nervenbahnen u. a. – wurden ausgeschieden, sobald die Lebewesen sie nicht mehr brauchten: Bei den Walen verschwanden die Hinterbeine und die Fähig­ keit zur Speichelbildung, nachdem sie im Eozän ins Meer zurückgingen. Beim (Vor-) Menschen verschwand die Behaarung als Teil des Schutzes gegen den Temperatur­ 712  Vgl.

dazu E.-J. Lampe (2007), S. 488. im Einzelnen J. Siegrist (1970).

713  Dazu

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wechsel, nachdem er sich zu bekleiden, ferner der beim Klettern auf Bäume nützliche Schwanz, nachdem er aufrecht zu gehen gelernt hatte. Innerhalb seines Gehirns bilde­ te sich das Riechhirn zurück, nachdem die Augen die Führung übernommen hatten.714 Und nachdem die Schrift erfunden ward, dürfte die durchschnittliche Gedächtnisleis­ tung des Menschen nachgelassen haben − aufgrund der Erfindung von elektronischen Speichermedien sie wird wahrscheinlich nochmals einen Schwund erleiden. – 2. Kulturelle Errungenschaften des Menschen sind ebenfalls verschwunden, nachdem sie nicht mehr gebraucht wurden: so etwa 99 % der geschätzten 500.000 Sprachen, die der Mensch im Laufe seiner Evolution verwendet hatte,715 sowie 99,9 % der ge­ schätzten 100.000 Glaubenssysteme,716 von denen lediglich 10 noch über die ganze Erde verbreitet sind. Von den technischen Geräten war der Schreibmaschine ein schnelles Ende beschieden, nachdem der Computer erfunden war. Öffentliche Telefo­ nanlagen verschwanden weitgehend aus dem Straßenbild, nachdem kleine Taschen­ computer das Telefonieren praktisch von jedem Ort aus ermöglichten. – 3. Rechtliche Institutionen (einschließlich Normen) verschwanden, sobald es keine sozialen Tatbe­ stände mehr gab, auf die sie anwendbar waren. So sind u. a. alle strafrechtlichen Sonderregelungen für das Duell aufgehoben worden, nachdem es unüblich wurde, sich zu duellieren. Wechsel- und Scheckrecht verloren ihre Bedeutung, seit es üblich wurde, Geldsummen elektronisch zu transferieren. Zusammenbrüche ganzer Kulturen haben darüber hinaus zum Zusammenbruch auch der sie stützenden Rechtsordnungen geführt: Sowohl am Ende des Dreißigjährigen Krieges als auch nach dem Zweiten Weltkrieg lag nicht nur ganz Deutschland in Trümmern, sondern auch ein wesent­ licher Teil seiner Rechtsordnung. Höherentwicklungen fallen allemal mehr ins Auge, weil das Neue gegenüber dem Alten das größere Interesse einfordert: 1. Im Bereich der Biologie waren Höherent­ wicklungen die Grundlage für die Abstammungslehre, weil sie das Wachsen von Stammbäumen und die Aufeinanderfolgen von primitiven zu komplexeren Systemen besser darstellten als der umgekehrte Vorgang. – 2. Im Bereich der Kultur gab es jene Höherentwicklungen, von denen ich Bruchstücke in den Abschnitten F und G als historischen Prozess dargestellt und deren genetische Gründe ich in den Abschnitten H und J benannt habe. Die Quintessenz: Kulturell hat die menschliche Evolution zwar nicht erst mit der Sesshaftigkeit der Menschen im Gebiet des fruchtbaren Halb­ monds begonnen, doch hat sie sich von dort aus während der sogen. Achsenzeit revo­ lutionär beschleunigt und nach allen Seiten hin verbreitet. – 3. Das Recht hat gegen Ende der Achsenzeit an dieser Verbreitung teilgenommen. Wesentlich beschleunigt hat sich seine Entwicklung aber vor allem, als in der Neuzeit die technisch/technolo­ gische Revolution die Wirtschaft weltweit ankurbelte und der weltweite Handel die Völker vereinte.

Speziell auf das Recht bezogen lässt sich die Frage, ob es sich neuzeitlich eher anagenetisch oder katagenetisch entwickelt hat, entsprechend den allge­ meinen kulturologischen Bedenken für eine Entscheidung nicht ohne Zögern beantworten. Nationalstaatlich gab es Höhen und Tiefen, und unschwer las­ dazu L. Radinsky (1975). Pagel (2000), p. 395. 716  E. O. Wilson (1998), S. 325. 714  Siehe 715  M.



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sen sie sich auch für heute noch nachweisen: Ein Teil der Weltbevölkerung lebt zwar in Staaten, die einem Optimum an Rechtssicherheit und sozialer Gerechtigkeit nahekommen, ein anderer Teil ist dagegen Willkürregimen und korrupten Politikern ausgeliefert. Deshalb müssen wir innerhalb der national­ staatlichen Entwicklungen einerseits Anagenesen, andrerseits Katagenesen registrieren. Sieht man allerdings auf den Trend vom Altertum bis heute, kann man m. E. der Rechtserkenntnis und der Rechtsverwirklichung eine Höherentwicklung zuerkennen. Trotzdem sollen interne Differenzierungen nicht unterschlagen werden: •• Die nationalstaatlichen Rechtsordnungen tendieren, was ihren Inhalt anbe­ langt, heute in unterschiedliche Richtungen: Sie schaffen eine Aufwärtsbe­ wegung durch neue Rechtsinstitute und Normen, soweit es um die Ordnung ihrer wirtschaftlichen und technisch/technologischen Bereiche geht. Dage­ gen überwiegt eine allgemeine Abwärtsbewegung im Statusbereich, wo viele der früheren Differenzierungen mit ihren sorgsam ausformulierten subjektiven Rechten und Pflichten verloren gegangen sind. Neues Terrain gewinnen fast alle nationalen Rechtsordnungen ferner aufgrund ihrer Be­ teiligung an internationalen Institutionen und überstaatlichen Bündnissen. Dagegen erleidet ihre nationale Eigenheit entsprechende Einbußen.717 Zusammengefasst ist aufgrund der erhöhten rechtlichen Verarbeitung der sozialen Realität an einer Anagenese aber m. E. nicht zu zweifeln. •• Das internationale Recht hat sich per saldo ebenfalls breiter und höher entwickelt. In manchen Bereichen haben neue Rechtssatzungen bewusst die nationalstaatlichen Grenzen gesprengt: Internationale Organisationen haben Gestaltungsaufgaben (etwa im Umweltschutz) übernommen; Nicht­ regierungsorganisationen (NGOs) haben – u. a. aufgrund von Abmachun­ gen gemäß Art. 71 UN-Charta – international wirksame Berechtigungen erworben, andere private Organisationen haben für Wirtschaft und Technik globale Standards und Normen entwickelt, sodass neue „Rechtsschichten“ entstanden sind.718 Auch das Völkerrecht und das Völkervertragsrecht ha­ 717  Beispielhaft sei nochmals an die Versorgung der Bevölkerung in den Bereichen Gesundheit, Pflege und Alterssicherung erinnert. Hier überall sind soziale Standards entstanden, hinter denen kein Staat zurückbleiben darf. Darüber hinaus haben Staat und Markt vielerorts einander in die Hände gespielt: Private Versicherungsunterneh­ men sind zu Helfern bei der Erfüllung sozialpolitischer Aufgaben geworden, private Organisationen haben helfend eingegriffen, wo es Staaten nicht gelang, ein Mindest­ niveau bei der Versorgung ihrer Bevölkerung zu erreichen – sei es aufgrund plötzli­ cher Naturkatastrophen (z. B. Überschwemmungen oder Erdbeben), sei es aufgrund von bewaffneten Kämpfen rivalisierender Gruppen. 718  Vgl. M. Ruffert (2012), § 17 Rn. 26 ff. (in Bezug auf das Verwaltungsrecht). Allerdings fehlt diesen „Rechtsschichten“ im Unterschied zum nationalstaatlichen Recht die demokratische Legitimation.

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ben (etwa durch die weltweite Tätigkeit von UN-Sonderorganisationen)719 an Wirkung gewonnen. Nur in wenigen Bereichen ist es bei einer ver­ stärkten Diffusion ausländischen Rechts in die nationalen Rechtsordnun­ gen sowie bei einer vagen Ausbreitung von Völkergewohnheitsrecht ge­ blieben. Insgesamt überwiegt also auch hier die Anagenese. •• Erstmals einen supranationalen Rechtsbereich hat die Europäische Union geschaffen: Ihr Primärrecht720 wirkt unmittelbar in die nationalen Rechts­ ordnungen hinein, da es auch ohne staatliche Übernahme allen Bürgern der Union Rechte gewährt.721 Außerhalb der Europäischen Union finden sich dagegen nur in der WTO (umstrittene) Ansätze zu einem supranatio­ nalen Recht.722 Da die Entwicklung vom Nullpunkt ausging, lässt sich ihr dennoch die anagenetische Tendenz nicht absprechen. Auf Einzelheiten komme ich später (unten 7) nochmals zurück. Als Fazit halte ich an dieser Stelle lediglich fest: Geht man davon aus, dass eine gene­ tische Kausalität nur innerhalb eines Erklärungskontextes eine Rolle spielt und dass kulturell nur ein größerer Untersuchungszeitraum uns festzustellen erlaubt, ob eine anagenetische Entwicklung stattgefunden hat oder ob sie von einer katagenetischen Entwicklung durchkreuzt und abgebrochen wurde, dann lässt sich eine bisher ungebrochene Anagenese der Rechtsentwicklung bejahen. Problematisch wird die Einschätzung lediglich, wenn man kleinere Entwicklungsabschnitte ins Auge fasst: Dann müssen wir viele kulturelle Entwicklungen und auch solche im Recht als katagenetisch, d. h. als gegen­ über dem zuvor erreichten Stand als einen ‚Abstieg‘, einstufen. Nicht mit der Frage nach der Anagenese einer Rechtsentwicklung zu ver­ wechseln ist die Frage nach der Irreversibilität seiner Entwicklung, die sinn­ voll überhaupt nur bezüglich einzelner Zweige des Rechts gestellt werden kann. Und ebenso, wie nur differenziert gefragt werden kann, kann auch nur differenziert geantwortet werden. • Irreversibel sind zweifellos einige neuzeitliche wirtschaftliche Entwicklungen ver­ laufen. So haben feudale Systeme sich in kapitalistische, kapitalistische Systeme sich aber nicht in feudale verwandelt. Das wird sich vermutlich auch in Zukunft nicht ändern. Irreversibel ist folglich auch die neuzeitliche wirtschaftsrechtliche Entwicklung verlaufen: Allein auf Macht beruhende (power-oriented) Wirtschafts­ Material hierzu bei W. Fikentscher (2016), p. 191 ff. sind die beiden Verträge über die Errichtung (EUV) und die Ar­ beitsweise der Union (AEUV) sowie gem. Art. 6 EUV die Charta der Grundrechte und die Konvention der Menschenrechte (EMRK). 721  Vgl. u. a. EuGH v. 1.7.1969 (Rs 2/69 und 3/69) zur Warenverkehrsfreiheit; v. 4.4.1974 (Rs 167/73) zur Arbeitnehmerfreizügigkeit; v. 21.6.1974 (Rs 2/74) zur Nie­ derlassungsfreiheit; v. 3.12.1974 (Rs 33/74) zur Dienstleistungsfreiheit; v. 4.6.2002 (RsC 367/98) zur Kapitalverkehrsfreiheit. 722  Vgl. oben 1 c β αα sowie 4 c bb β. 719  Reiches

720  Primärrecht



K. Entwicklungstendenzen im neuzeitlichen Recht 975 ordnungen haben sich in rule-of-law bestimmte,723 rule-oriented dagegen nicht in power-oriented Ordnungen verwandelt.

• Reversibel sind dagegen die neuzeitlichen machtpolitischen Entwicklungen verlau­ fen. Einerseits haben sich Diktaturen in parlamentarische Demokratien, umgekehrt aber auch parlamentarische Demokratien in Diktaturen verwandelt.724 Lediglich ein allgemeiner Trend zu Demokratien ist konstant geblieben (und wird sich vermutlich fortsetzen).725 Reversibel ist daher auch die staatsrechtliche Entwicklung verlaufen: Einerseits haben sich nationale Willkürregime an rechtliche Grundsätze gebunden, andrerseits haben law-oriented Regime (meist infolge von Umstürzen) ihre recht­ liche Bindung verloren und sind zu power-oriented Regimen geworden. Lediglich ein allgemeiner Trend zur Rechtsstaatlichkeit und insbesondere zur Akzeptanz von Menschenrechten hat sich konstant erhalten (und wird sich vermutlich fortsetzen). • Im Verhältnis zwischen Wirtschaft und Politik haben einerseits Diktaturen zur Staatswirtschaft, andrerseits Demokratien zur Marktwirtschaft tendiert; es wurden aber in jede Staatswirtschaft auch marktwirtschaftliche Elemente eingebaut, in jede Marktwirtschaft auch staatswirtschaftliche. Eine an die Staatsmacht gebundene Wirtschaft war überall stark von hoheitlichen, meist auch rechtlich gestützten Wei­ sungen (beispielsweise hinsichtlich Art und Menge der zu produzierenden Güter) abhängig, eine freie Marktwirtschaft dagegen vom Wettbewerb der Teilnehmer am Marktgeschehen – dessen Freiheit staatlich durch gesetzliche Regeln geschützt und nur um der Fairness willen begrenzt wurde.

Als irreversibel können wir danach vor allem festhalten, dass der Wandel der Rechtsordnungen den Entwicklungen von Wirtschaft, Technik und Politik sowie ihrem unterschiedlichen Verhältnis zueinander gefolgt ist. Darüber hi­ naus sind rechtliche Entwicklungen zwar überwiegend irreversibel gewesen, wenn sie der wirtschaftlichen Entwicklung zu kapitalistischen und rule-­ oriented Systemen folgten; sie waren dagegen reversibel im Hinblick auf den Einfluss machtpolitischer Entwicklungen. (ι) Künftige Entwicklungen. Inwieweit die Rechtsentwicklung sich zukünf­ tig der wirtschaftlichen Integration, ihren Idealen und Strukturvorgaben un­ terwerfen wird, lässt sich m. E. nicht sicher vorhersagen. Nur wahrscheinlich ist daher: (1) dass die demographischen Veränderungen, welche die Mensch­ heitsgeschichte seit dem frühen Altertum begleitet haben, sich auch in Zu­ kunft fortsetzen, wenngleich abschwächen werden, ohne dass ihre Probleme durch Migration oder durch Kolonisation gelöst werden können – die Be­ siedlung der Erdpole oder gar fremder Planeten wird wohl auf immer der 723  Konsequent am Recht orientiert war allerdings erst die WTO, später dann die Declaration on the Rule of Law in International Trade der International Law Association aus dem Jahre 2000 (Report of the 69th Conference, p.  193 ff.). 724  K. von Beyme (2000), S.  209 f. 725  T. Franck (1992), p. 47 ff.; A. Giddens/Ch. Fleck/M. Egger de Campo (2009), S. 808 ff. Insgesamt hat sich die Zahl der Demokratien in der Welt in den letzten Jahrzehnten nahezu verdoppelt.

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Fantasie vorbehalten bleiben; (2) dass die Entwicklung grosso modo dem Trend zur Globalisierung und Internationalisierung weiterhin folgen und dementsprechend global geltenden materiellen Rechten und Pflichten726 als auch Prozessgrundsätzen zu noch höherer Bedeutung verhelfen wird; (3) dass das hoheitliche Recht sich mit dem privaten Recht, von dem es sich einst emanzipiert hatte, noch enger als bisher verbinden wird, da den meisten Staaten die finanziellen Mittel zur Befriedigung der globalen Zukunftsaufga­ ben fehlen und sie deshalb auf die wirtschaftliche Hilfe besser ausgestatteter Privatgesellschaften angewiesen sein werden; und (4) dass die Ausbreitung des Rechts in immaterielle Bereiche (wie z. B. in das worldwide net) sich fortsetzen wird, weil nur noch von dort aus der Ordnungsbedarf der Erdbe­ völkerung befriedigt werden kann. Weiterhin wird das immer mehr anschwellende Recht, um beherrschbar zu bleiben, seinen hierarchischen Überbau in Zukunft mit ziemlicher Sicherheit noch weiter verstärken müssen. Hilfreich werden dabei autochthon aus dem Rechtssystem heraus entwickelte Metanormen sein, deren Aufgabe darin be­ stehen wird, einerseits der nationalen Gesetzgebung Richtlinien zur Lösung international aufgetretener Probleme vorzugeben und andrerseits die dazu benötigten Normen in das nationale Rechtssystem einzubinden, um Kollisio­ nen zu vermeiden.727 Soweit es sich um Kollisionsnormen handelt,728 werden sie auf übiquitären soziopsychischen Strukturen erwachsen müssen: (a) auf der gestaltenden Kraft räumlicher und zeitlicher Nähe, (b) auf der engen Verwandtschaft (oder Nachbarschaft) zu sozial imponierenden Werten, (c) auf der Vormacht kulturübergreifender Prinzipien vor kulturspezifischen Ten­ denzen, (d) auf der Übermacht größerer gegenüber kleineren sozialen Einhei­ ten (aber auch auf den Schutzmechanismen kleinerer Einheiten gegenüber größeren)729, etc. Manche Kollisionsnormen waren bereits dem Altertum be­ 726  Vgl. dazu G. Samsa (2007), S. 207: „Globale Rechte zielen auf eine Ausbuch­ stabierung dessen, was unter Würde und Gerechtigkeit zu verstehen ist.“ Schon jetzt ist es nach Art. 1 Nr. 3 UN-Charta Aufgabe aller unter dem Dach der UNO vereinten Staaten, „die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen“. 727  Zum Konkretisierungsspielraum und den damit verbundenen Kompetenzpro­ blemen vgl. A. Röthel (2004). 728  Metanormen knüpfen niemals unmittelbar an (gegenwärtige) Tatsachen, son­ dern stets an (zukünftige) Rechtsfolgen von Tatsachen an. 729  Beispiele: (a) Gemäß § 244 BGB können Fremdwährungsschulden im Inland in nationaler Währung beglichen werden. – (b) Die Heirat einer zweiten Frau vor ei­ nem deutschen Standesbeamten ist auch dann unzulässig, wenn das insoweit maßgeb­ liche (Art. 13 EGBGB) ausländische Recht sie erlaubt (Art. 6 EGBGB). – (c) Gemäß Art. 25 Satz 2 GG gehen die Allgemeinen Regeln des Völkerrechts den einfachen deutschen Gesetzen vor. – (d) Art. 31 GG: „Bundesrecht bricht Landesrecht.“



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kannt: etwa lex specialis derogat legi generali, lex superior derogat legi inferiori und lex posterior derogat legi priori.730 Andere und insbesondere solche, die den modernen Staatsaufbau widerspiegeln, lassen sich heute den Staatsverfassungen entnehmen (z. B. Art. 31 GG: „Bundesrecht bricht Lan­ desrecht“). Weitere müssen noch erdacht werden, etwa im Hinblick auf die Rechtssetzung internationaler Organisationen und auf die Rechtsbeziehungen zwischen hoheitlichen und privaten Institutionen. Gemeinsam muss ihnen sein, sich auf jene Wertauszeichnungen und Gesetzmäßigkeiten zu stützen, die das ‚gerechte und billige‘ Denken steuern.731 Insbesondere wird die künftige Entwicklung sich mit dem Problem beschäftigen müssen, wie neue Rechtsbereiche und für sie zuständige Gerichtsbarkeiten gegenein­ ander abzugrenzen sind. Derzeit sind unnötige Überschneidungen vorhanden etwa zwischen den Normen zur Regelung des internationalen Handels (Zuständigkeit des WTO-Panels) und den Normen zur freien Benutzung der Meere (Zuständigkeit des Internationalen Seegerichtshofs)732 sowie entsprechend zwischen der Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs (IGH) und der des Internationalen Seegerichtshofs. Ganz allgemein ist ferner das Fehlen klar gegeneinander abgegrenzter gerichtlicher Zuständigkeiten ein Missstand, dem künftig vor allem Vorlageverfahren bei Oberge­ richten (etwa entsprechend dem Art. 234 EG-Vertrag) werden abhelfen müssen.733

Zu vermuten ist weiterhin eine gewisse Beharrlichkeit der gegenwärtigen Trends. So lässt sich beispielsweise ein weiterer Niedergang der nationalen Souveränität erwarten: Die meisten Staaten werden zu größeren wirtschaftli­ chen und in der Folge auch politischen Einheiten zusammenwachsen, ihre Grenzen werden noch durchlässiger, das Herrschaftsmonopol noch stärker durchlöchert werden.734 Dennoch werden sie nicht absterben, wie Karl Marx glaubte vorhersagen zu können; ihr politischer und rechtlicher Souveränitäts­ anspruch wird sie auch künftig noch als eine dünne Hülle umschließen. Und die darin lebenden Völker werden die Existenz ihres Staates wahrscheinlich weiterhin als ein probates Mittel ansehen, um sich zu organisieren, während sie kulturell eine noch größere Freiheit vom Staat suchen und stärker noch als bisher auf die Anerkennung ihrer kulturellen Eigenständigkeit pochen werden.

730  Der letztgenannte Satz galt nicht immer. Früher gab man dem älteren Gesetz den Vorrang vor dem jüngeren. Der heutige Vorrang des jüngeren Gesetzes lässt sich mit dem inzwischen erwachten Glauben an den geschichtlichen Fortschritt begrün­ den. 731  Beispiele oben K 3 a. 732  Vgl. dazu mit weiteren Einzelheiten M. Ruffert (2000), S. 141 f. 733  Ch. Walter (1996), S. 370. 734  Zur „Aushöhlung des Nationalstaates“ vgl. die m. E. großenteils überzeugende Analyse von B. Jessop (2007), S. 227 ff.

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7. Ergebnis: Die Verrechtlichung735 der neuzeitlichen Lebenswelt Recht lässt sich heute nur noch als Teil einer menschlichen Gesamtordnung denken: als das schärfste legitime Mittel zur Organisation von sozialen Gemeinschaften, die aufgrund ihrer natürlichen Lebenskraft das drohende Chaos zwar bereits besiegt und den Umriss einer natürliche Sozialordnung hergestellt haben, jedoch zur Festigung ihrer Ordnung sowie zur Ausbildung ihres speziellen Charakters noch weiterer Normen bedürfen. Zwei Arten von Gesetzen, unterschieden durch das Ausmaß ihrer Determi­ nationskraft, haben das natürliche Zusammenleben der Menschen in geistiger Gemeinschaft dann bereits geordnet: •• einesteils zwingende Gesetze, die sowohl jeder menschlichen Willkür Grenzen setzen und Sätze begründen wie „duorum vel plurium in solidum dominium esse non potest“ („eine Sache kann gedanklich nicht im Allein­ eigentum zweier oder mehrerer Personen stehen“) und „ultra posse nemo obligatur“ („über das ihm Mögliche hinaus soll niemand verpflichtet wer­ den“); •• andernteils programmierende Gesetze, die jedes menschliche Denken, je­ de Motivation und jedes Handeln in eine naturhaft bzw. geistig zwar vage vorgegebene Richtung lenken, aber zum Überdenken und zur Übermotiva­ tion noch einen Freiraum lassen.736 Im Folgenden werde ich mich in den Freiraum der letztgenannten Gesetze des Menschen versetzen und ihn nach Breite, Höhe und Tiefe vermessen, um dessen weitere Ordnung durch das vom Menschen gesetzte Recht zusam­ menfassend darzustellen. In der Breite ist der Raum mit den Feldern besetzt, auf denen das Recht das menschliche Zusammenleben geordnet hat. Die Höhe des Raumes gibt an, auf welche Weise und mit welcher Intensität das Recht dort tätig geworden ist. Und die als Fundament in Anspruch genom­ mene Tiefe des Raums zeigt an, welche sittliche Qualität die integrative Wirkung des Rechts dabei erzeugt hat. a) Verrechtlichungsbreite (differenzierender Aspekt) Als ‚Verrechtlichungsbreite‘ bezeichne ich innerhalb des gedanklichen und motivationalen Freiraums menschlicher Gemeinschaften jenen Bereich, der 735  Der Begriff ‚Verrechtlichung‘ wird hier und im Folgenden im Sinne einer Ein­ bindung der sozialen Verhältnisse in einen Komplex von judiziablen Rechtsnormen verstanden. Nicht mitgemeint sind dagegen (unverbindliche) Standards für Verhal­ tensweisen und Erzeugnisse, gütliche Schlichtungen von Streitigkeiten u. a. m. 736  Zu solchem ‚negativem Naturrecht‘ vgl. E.-J. Lampe (1988a).



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im Laufe der Evolution durch rechtliche Normen geordnet worden ist. Wich­ tigster Grund für die Verrechtlichung war, dass sowohl die Vermehrung der Menschen als auch die Anonymisierung ihrer sozialen Beziehungen die Ge­ fahr heraufbeschworen hatten, ohne Zufuhr weiterer rechtlicher Ordnungs­ normen ins Chaos zu versinken oder zumindest gravierende Ungerechtigkei­ ten in Kauf nehmen zu müssen. Zur Erinnerung: Ursprünglich, d. h. zur Zeit der frühantiken Staaten, war der Ver­ rechtlichungsbereich nicht etwa deshalb gering, weil das Leben ungeordnet verlaufen wäre, sondern weil Brauchtum und Sitte prärechtlich das erforderliche Maß an Ord­ nung stifteten. Erst seit der Achsenzeit überzog auch in der Antike ein allmählich dichter werdendes rechtliches Normennetz den Sozialbereich737: Statusnormen be­ stimmten die Entscheidungen der Stadtbürger, Verhaltensnormen das Leben der Land­ bauern, Befehlsnormen die Arbeit der Dienstleistenden (Hörigen, Lehnsmänner, Hin­ tersassen) usf. In den neuzeitlichen Territorialstaaten gingen die meisten dieser kon­ kreten Normen allerdings verloren. An ihre Stelle traten abstrakte Normen, die in Kontinentaleuropa meistens in Gesetzen zusammengefasst waren, in den CommonLaw-Ländern meistens in Sammlungen konkreter gerichtlicher Entscheidungen, die als precedents für neue, aber ähnliche Fälle galten und dadurch ebenfalls einen abstrakte(re)n Charakter erhielten (remedies precede rights).

Abstrakt-rechtlich geordnete Staaten, die außer ihren Bürgern auch ihre Organe an das Recht gebunden haben, kann man als ‚Rechtsstaaten‘ bezeich­ nen. Ihre Wurzeln gehen zurück auf den Beginn der Neuzeit, ihr Schutz be­ zog sich anfangs (idealtypisch) nur auf die abstrakte Freiheit des Bürgers und schloss darin lediglich deren konkrete Grundlagen ein: Leib und Leben sowie Hab und Gut. Später bewahrten die Staaten ihre Bürger jedoch auch vor Übervorteilung bei Interessenkonflikten, und nochmals später gaben sie vor, das gesamte gesellschaftliche Dasein fürsorglich ordnen zu können. Sie wurden zu ‚Sozialstaaten‘, und deren Internationalisierung verbreiterte den Schutz sogar über den nationalstaatlichen Raum hinaus: Die Europäische Union beispielsweise schuf nicht nur einen überstaatlichen „Raum der Frei­ heit, der Sicherheit und des Rechts“, sondern verkündete auch, darin umfas­ send „soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz“ (Art. 3 Abs. 2 und 3 EUV) zu gewähren. Das Völkerrecht schließlich globalisierte den sozialen Schutz insoweit, als es mithilfe der evolutionären Kraft des Begriffs ‚menschliche Würde‘ allen Menschen einen Anspruch auf ein ‚menschenwürdiges Dasein‘ zuerkannte. Bemerkenswert ist allerdings, dass das Völkerrecht daraus keine globalen Pflichten ableitete. Seine Vertreter legten den Anspruch auf ‚menschenwürdiges Dasein‘ zwar 737  Während soziale Normen ungeregelten, diffusen und meistens nicht einzelnen Akteuren zurechenbaren Prozessen entspringen, werden Rechtsnormen (im Regelfall) von Institutionen in einem förmlichen Verfahren gesetzt und durchgesetzt. Soziale Normen gelten somit meistens dezentral, rechtliche Normen meistens zentral.

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in die UN-Charta hinein,738 buchstabierten aber als zuständig für dessen Erfüllung allein die Nationalstaaten heraus. Die Weltgemeinschaft war dadurch des Nachden­ kens enthoben, wie sie das Kapital für ein weltweit ‚menschenwürdiges Dasein‘ (bzw. was man darunter versteht) aufbringen soll. Für Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht ein individuales Grundrecht auf ein ‚menschenwürdiges Dasein‘ zwar nicht aus der Menschenwürde, wohl aber aus der Sozialstaatsklausel des Art. 20 Abs. 1 GG hergeleitet. Was seine Breite anbelangt, hat es dazu nicht nur die Sicherung der physischen Existenz, sondern auch eine Min­ destteilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben gerechnet739 und weiterhin gefordert, dass die dafür bestimmten staatlichen Leistungen realitätsge­ recht und nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und Berechnungs­ regeln „an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehen­ den Lebensbedingungen“ ausgerichtet werden sollen.740 Es hat damit die bereits frü­ her geäußerte Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts bestätigt: dass die Aufgabe, das Maß erforderlicher Sozialleistungen zu konkretisieren, an den nationalen Gesetz­ geber weiterzureichen sei − weil dann die Aufgabe vom theoretisierenden Kopf auf die praktischen Füße gestellt wird und man erwarten kann, dass sie im Kampf der Parteien um das Maß ihrer Realisierbarkeit auf dem Boden der wirtschaftlichen Mög­ lichkeiten ankommt.741

Es versteht sich von selbst, dass die Empfänger staatlicher Sozialleistun­ gen es als gut und richtig empfanden, dass ihre soziale Absicherung zu den 738  Vgl. E. Riedel (1989), S. 12 ff. Ansätze für soziale Menschenrechte, auf die die Generalversammlung der UN wiederholt Bezug genommen hat, enthält die „Allge­ meine Erklärung der Menschenrechte“ vom 10.12.1948. Dort heißt es in Art. 25 Abs. 1: „Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet.“ Und in Art. 22: „Jeder hat als Mitglied einer Gesellschaft … in den Genuss der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen, die für seine Würde und die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit we­ sentlich sind.“ 739  BVerfGE 1 97, 104 f.; 40 121, 133; 113 88, 108 f.; 123 276, 363; 125 175, 222: Die Sozialstaatsklausel verpflichte den Staat, seinen Bürgern in erster Linie Freiheit von Not und in zweiter Linie die angemessene Beteiligung am allgemeinen Wohl­ stand zu gewähren. Die erste Aufgabe betreffe die Bewältigung persönlicher Beein­ trächtigungen durch Krankheit, Alter, Invalidität, Arbeitslosigkeit etc. Die zweite Aufgabe sei juristisch schwerer zu umgrenzen und stehe daher im ständigen Streit der um ihre Abgrenzung ringenden politischen Parteien. Sie verpflichte den Staat zwar nicht zur allgemeinen ‚Gleichmacherei‘, aber auch nicht zur allgemeinen Besitz­ standswahrung (vgl. BVerfGE 22 180, 204, 212 ff.; 100 271, 284; 102 254, 298; u. ö.). 740  BVerfGE 125 175, 222. Siehe ferner oben Fn. 451, 458, 464. 741  BVerwGE 1 159, 162. Das Gericht hatte zu entscheiden, ob ein Bürger die Verfügung eines Trägers der Sozialfürsorge anfechten dürfe. Das Gericht bejahte dies mit der Begründung, dass der bedürftige Mensch kein „Objekt“ behördlichen Han­ delns sei, sondern den Behörden des Staates als ein „Subjekt“ entgegentrete und aus eigenem Recht handle. Daraus war abzuleiten, dass an die Stelle der früheren „Auf­ träge“ an eine obrigkeitliche Armenpflege nunmehr subjektive „Ansprüche“ auf Sozi­ alhilfe getreten sind und dass deren Umfang durch eine Vielzahl von Gesetzesnormen geregelt werden muss.



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Staatsaufgaben gehört. Ihr Glaube, dass sie dadurch gesichert sei, war indes nur so weit berechtigt, wie dem Staat die Organisation des allgemeinen ­Lebensbedarfs oblag; denn Wasserzuleitung, Abwasserableitung, Gas, elek­ trische Energie, Post, Eisenbahn, Straßenbahn, später auch Telekommunika­ tion, Fernsehen, usw. zu organisieren, kostete wenig Geld. Probleme zeigten sich erst, wenn der Staat den allgemeinen Lebensbedarf seiner Bürger nicht nur organisieren, sondern auch finanzieren und darüber hinaus die Stabilität bürgerlicher Lebensläufe sichern sollte. In der vorsozialstaatlichen Vergan­ genheit hatten, wenn Mitbürger in Not waren, private oder kirchliche Institu­ tionen Hilfe angeboten. Als im späten 19. Jh. die Zahl der Zahlungsunfähigen immer größer wurde und nur die wenigsten noch von ihrer Familie oder aus der Nachbarschaft Unterstützung erhielten, reichte deren Hilfe aber nicht mehr aus. Selbst die privaten ‚Wohltätigkeitsvereine‘, wie man sie in Deutschland nannte, sowie die ‚Armenpflege‘ betreibenden kommunalen Gemeinden gelangten dann an ihre Grenzen. Das Eingreifen des Staates wurde also erforderlich. Wie aber, wenn auch dessen Kassen leer waren? Drei Faktoren erwiesen sich für eine staatliche Sozialpolitik als problema­ tisch: das explosive Bevölkerungswachstum als Folge hygienischer und me­ dizinischer Fortschritte; der Verstädterungsprozess als Folge von Industriali­ sierung und Zusammenballung der Arbeitskräfte an wenigen Standorten; die neue Form der abhängigen Arbeit mit den Folgen einer überlegenen Macht­ position der Arbeitgeber auf der einen und einer vom Lohneinkommen ab­ hängigen, politisch deklassierten Arbeiterschaft auf der anderen Seite. Diese drei Faktoren zusammen bürdeten den Staaten in der Tat die Lebensrisiken ihrer Bürger auf, und zwar sowohl der arbeitenden als auch der vom Arbeits­ einkommen abgeschnittenen Ehefrauen, Kinder und Alten. Doch sie überfor­ derten die Staaten damit auch. Sehr schnell verlagerten daher die Staaten, um ihre sozialpolitische Verantwortung zu reduzieren, die Vorsorge auf selbst­ ständige Versicherungsträger, in die nicht sie, sondern die Versicherten selbst solidarisch ihre Beiträge einzahlen mussten – und zwar nicht, wie früher, nur für den Fall ihres Todes zugunsten der Hinterbliebenen („Lebensversiche­ rung“), sondern auch für den Fall ihrer eigenen Arbeitslosigkeit oder Arbeits­ unfähigkeit („Arbeitslosenversicherung“). Die Staaten standen dann nur noch gewährleistend beiseite und wurden lediglich dort tätig, wo das Versicherten­ kollektiv nicht genügend Beiträge aufbringen konnte, um das Risiko der ­Arbeitslosigkeit oder -unfähigkeit zu kompensieren, und wo selbst die Rück­ lagen der Versicherungsträger für die Versorgung der Hinterbliebenen auf­ gebraucht waren. Damit war das Risiko von den Staaten zwar nicht ganz gewichen, doch wurde es nur noch im Falle eines unvorhergesehenen wirt­ schaftlichen Niedergangs akut.

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Der Fehler, der die Sozialstaaten dem ‒ wenn auch geringen ‒ praktischen Risiko eines wirtschaftlichen Fiaskos aussetzte, lag darin: Man hatte überse­ hen, dass das natürliche Instrumentarium eines Staates, die Ausbildung von rechtlichen Institutionen und der Erlass von rechtlichen Gesetzen, zwar ge­ eignet ist, soziale Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten, nicht aber, Wohlstand zu erschaffen − dass dessen Grundlagen vielmehr von der Wirt­ schaft herrühren müssen. Ein Staat ist lediglich auf die Funktionen begrenzt, für die er geschaffen wurde: für militärischen Schutz nach außen, für politi­ sche Herrschaft und Friedenssicherung nach innen ‒ für soziale Steuerung, Disziplinierung und Kontrolle. Für den ihm fremden Zweck der ökonomi­ schen Wohlfahrt dagegen taugt er ex origene nicht; denn er besitzt weder einen Zugang zum Lebensschicksal seiner Bürger noch kann er seine Bürger zwingen, ihr Leben so zu führen, als verlaufe es vor den Schranken eines Gerichts und lasse sich auf seine Konformität mit den ökonomischen Mitteln kontrollieren, die dem Staat für das allgemeinen Wohlergehen seiner Bürger zur Verfügung stehen. Der moderne Sozialstaat bedarf deshalb (mindestens) der Ergänzung durch eine bürgerliche Sozialmoral, die es ihm gestattet, das Heft der sozialen Fürsorge teilweise wieder zurück in die Hände seiner Bür­ ger zu legen. Er muss seine Bürger aufrufen dürfen, die persönliche Nähe zu ihren Mitbürgern wiederzufinden und ihnen – innerhalb oder außerhalb be­ stehender Wohlfahrtsverbände – mit sozialen Leistungen zur Hilfe zu kom­ men, wenn sie in Not geraten. Kurz gesagt: Ebenso wie dem Rechtsstaat die Erziehung seiner Bürger zur Befolgung von Rechtsgesetzen obliegt, muss dem Sozialstaat die Erziehung seiner Bürger zur Befolgung von Sozialmoral aufgegeben werden. Und ein sozialer Rechtsstaat musste folglich beides verbinden: die Erziehung seiner Bürger zum Gehorsam gegenüber den staat­ lichen Gesetzen und zur Herstellung sozialer Verhältnisse. Für einige soziale Betätigungsfelder sei dies demonstriert: • Armenfürsorge: Sie war im Mittelalter eine Aufgabe der Städte und Gemeinden, der diese u. a. mit dem Bau von Armenhäusern nachkamen. Untergebracht wurden dort allerdings nur Alte und Sieche, während man die noch Arbeitsfähigen in Arbeitshäusern zusammenfasste, um sie jederzeit in den Wirtschaftsprozess re­ ­ integrieren zu können. In der Neuzeit sorgten dann bis ins 19. Jh. hinein private Wohlfahrtsorganisationen und Kirchen für die Armen. Erst gegen Ende des 19. Jh.s betrachtete man die Armenfürsorge auch als Aufgabe des Staates und schrieb ihre Erfüllung in Rechtsnormen fest. Deutschland beispielsweise führte die Renten- und Invalidenversicherung ein und baute sie vor und nach dem Ersten Weltkrieg aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg überlagerte in ganz Europa dann der Sozialstaat den Rechtsstaat, worin jedem ein Rechtsanspruch auf ein menschenwürdiges Dasein zustand – unabhängig davon, ob er zuvor in die staatlichen Sicherungssysteme eingezahlt hatte oder nicht. Doch die bedingungslose Erfüllung dieses Anspruchs erwies sich teilweise als unmöglich. Allenthalben waren die Bürgergemeinden wieder gefragt: Tafeln zur kostenlosen Essensausgabe entstanden, Kammern zur



K. Entwicklungstendenzen im neuzeitlichen Recht 983 unentgeltlichen Weitergabe gebrauchter Kleidung wurden errichtet. Unbesiegt blieb allerdings die Wohnungsnot.

• Kranken- und Altenpflege: Die Entwicklung verlief entsprechend. Das Mittelalter verstand sie noch als Aufgabe der Nächstenliebe innerhalb einer von ‚selbstver­ ständlicher‘ Sittlichkeit geprägten Lebenswelt. In der Neuzeit wurde sie teilweise zur Aufgabe von privaten Wohlfahrtverbänden. Schließlich nahmen sich wiederum die mehr und mehr zu Sozialstaaten mutierten Rechtsstaaten ihrer an: Sie stellten hierfür eigene ‚Leistungsträger‘ zur Verfügung und überwachten deren Tätigkeit, damit die pflegerischen Wohltaten allen zugutekamen. Die Kosten dafür explodier­ ten jedoch, da auch immer mehr technische Hilfsmittel zur Verfügung standen, die oft nur von speziell ausgebildeten Pflegepersonal bedient werden konnten. Zumin­ dest auf Dauer wird daher ein Sozialstaat die (sittliche und daher unbezahlte) Nächstenliebe von Verwandten und Nachbarn nicht voll ersetzen können. Stattdes­ sen wird er sich vor allem auf die Organisation der medizintechnischen Versorgung von Kranken und Pflegebedürftigen sowie auf den Aufbau und Ausbau von Pflege­ einrichtungen beschränken müssen. Eine Mindestabsicherung für die Kosten von Kranken- und Alterspflege muss zusätzlich jedem Bürger obliegen und Gegenstand staatlicher Gesetze sein. • Arbeitswelt: Sie wurde die längste Zeit von der Autonomie der Beteiligten und von dem für Kleingruppen typischen Treue- und Schutzgedanken beherrscht, in selte­ nen Fällen darüber hinaus von (privaten) Rechtsnormen geprägt. Erst seit dem Ende des 19. Jh.s wurde auch sie vom Staat geregelt und überwacht. Mindestar­ beitsbedingungen, Mindestlöhne und eine Mindestsicherung vor alters- und krank­ heitsbedingter Arbeitsunfähigkeit wurden zu Bestandteilen staatlicher Gesetze. Seither ist ein juristischer Schutzschirm vorhanden. Allerdings lässt sich das Ar­ beitsklima davon nicht beeinflussen, weshalb es besonders in Großbetrieben oft stärker durch die gegensätzlichen Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern geprägt wird als von wechselseitiger Fürsorge, Treue und Vertrauen. Das Herz der Wirtschaft ist deshalb das mittelständische Unternehmen geblieben, in dessen Auf­ bau und Struktur der Staat sich nicht mehr als unbedingt nötig regelnd einmischt. Seine Gesetzgebung ist daher weitgehend auf Großbetriebe ausgerichtet. Sie bleibt jedoch kooperativ, da die Interessen der Arbeiter und Angestellten von eigenen Organisationen gegenüber der Geschäftsleitung vertreten werden. • Kindererziehung: Sie war früher vollständig der Familie überlassen, die auf außer­ familiäre Ressourcen zwar zurückgreifen konnte, aber dazu i. d. R. nicht genötigt war. Insbesondere die Sozialisation der Kinder fand daher ganz überwiegend inner­ halb der Kernfamilie statt, wo die Eltern-Kind- und Geschwisterbeziehungen den Ton angaben, von wo aus aber auch das Verhalten zur übrigen Verwandtschaft ge­ prägt wurde. Sie beruhte weitgehend auf der verpflichtenden Einhaltung familiärer Gewohnheiten und Rituale, die den Kindern soweit wie möglich den Eindruck ei­ ner geordneten Lebenswelt vermittelten. Erst seit dem 20. Jh. wurde die Kinderer­ ziehung zusätzlich zur Aufgabe des Staates, der es übernahm, nicht nur die seit längerem bestehenden öffentlichen Schulen und die privaten Einrichtungen für Vorschulkinder zu fördern, sondern auch eine Fülle neuer Institutionen insbesonde­ re für sportliche und musische Betätigungen zur Verfügung zu stellen. Die indivi­ duelle Förderung in der Familie können die staatlichen Einrichtungen allerdings nicht ersetzen, sie können nur deren Fehlen teilweise ausgleichen.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

• Für die Weiterbildung der Heranwachsenden und Erwachsenen übernahm der Staat zusätzlich die Finanzierung von weiterführenden Schulen und Hochschulen, ferner von spezifischen Ausbildungsstätten und Seminaren für den Weg in den Beruf und für die Weiterbildung im Beruf. Die allgemeine Bildung der Bevölkerung förderte der Staat, durch finanzielle Unterstützung bestehender und zu gründender kulturel­ ler Einrichtungen, wobei die Verwendung der zur Verfügung gestellten Mittel zwar teilweise staatlich überwacht, teilweise aber auch der spontanen Gestaltung an­ heimgegeben war. Insgesamt wurde hier also der Weg zur Privatisierung und Indi­ vidualisierung mit Erfolg beschritten; er harrt aber noch der Befestigung und einer gewissen Anleitung auch für den Zugang zur Hochkultur, an der in Deutschland gegenwärtig nur etwa fünf Prozent der Bevölkerung teilhaben.

Fazit: Größtmögliche bürgerliche Freiheit verbunden mit einem Höchst­ maß sowohl staatlicher Ordnung, aber auch Fürsorge – so wird man die Richtung definieren können, in die die Gesetzgebung der Sozialstaaten sich seit etwa 150 Jahren voranbewegt hat. Auf diesem Wege sind die sozialen Verhältnisse inzwischen breit, oft jedoch bis zu einer ‚Ultrasozialität‘742 ver­ staatlicht und verrechtlicht worden, die das Vermögen der Staaten überschrei­ tet. Die Bürger können heute kaum noch überblicken, in welches Ausmaß staatlicher Fürsorge sie eingebunden sind. Sie merken allein, ob die soziale Ordnung des Staates speziell für sie passt und ihnen genügend Sicherheit bietet, um ihr Eigenleben zu verwirklichen.743 Deshalb haben sie zwar grundsätzlich als einen Fortschritt akzeptiert, dass manche der weichen Rol­ lenbilder und der flexiblen Sozialbindungen früherer Zeiten sich verflüchtigt haben und staatlich normierte härtere Folien an deren Stelle getreten sind. Nichtsdestoweniger ist ein Rest an Lebensangst vor dem Versagen des Rechtsstaates als Sozialstaat ihnen geblieben. Denn je tiefer der Rechtsstaat sich der Fürsorge für die sozialen Verhältnisse aller Bürger bemächtigt, desto stärker müssen seine Grenzen hervortreten. Und gelegentlich hat sich denn auch die hässliche Kehrseite des Rechts gezeigt, dass summum ius summa iniuria ist, weil es die individuelle Seite höchstpersönlicher Zuwendung von sich ausschließt, statt sie zu animieren und sie in sich einzuschließen. b) Verrechtlichungshöhe (integrierender Aspekt) Alle breit aufgestellten Rechtsordnungen weisen die Tendenz auf, ihre Normen auf jeweils logisch übergeordneter Ebene zusammenzufassen bzw. sie in die jeweils begrifflich höhere Einheit zu integrieren. Sie folgen damit einem Mechanismus des Lebens, wonach Probleme zunächst in einzelne Elemente ausdifferenziert und die Elemente anschließend auf der hierarchisch 742  Vgl.

Ch. Antweiler (2009), S.  306 f. dazu etwa J. Habermas (1995), S.  522 ff.

743  Siehe



K. Entwicklungstendenzen im neuzeitlichen Recht 985

höheren Ebene wieder zusammenfügt und von dort aus gelöst werden.744 In Anlehnung an die Reine Rechtslehre745 kann man sich jede der heutigen Rechtsordnungen daher als in sechs Ebenen zu einer Pyramide geschichtet vorstellen: Die Spitze bildet das Bekenntnis zu einem rechtlich geordneten Gemeinwesen (z. B. „Rechtsstaat“); auf der Ebene darunter stehen Bekennt­ nisse zur Struktur seiner Ordnung (z. B. zu einer Staatsverfassung) sowie den wesentlichen Wertüberzeugungen, denen die Ordnung dienen soll (z.  B. Gleichheit aller, Freiheit des Einzelnen; rechtliche Kontrolle der Staats­ macht); noch eine Ebene tiefer werden die gesetzlichen und gewohnheits­ rechtlichen Institute benannt, die dem Gemeinwesens sein Gepräge geben sollen; auf einer vierten Ebene werden diese Institute dann durch die Normen näher bestimmt, die aus ihnen abgeleitet werden können und die sie mit der konkreten Realität verbinden. Während der Blick insoweit von oben auf das Pyramidenmodell fällt, wendet er sich auf der fünften Ebene der konkreten Realität selber zu, auf deren festem Grund das Modell steht: auf das Gemein­ wesen, das vom Recht geordnet werden soll. Und auf der sechsten Ebene entsteht dann die grundlegende Frage, ob die Ordnung des Gemeinwesens auf den einzelnen Ebenen der Pyramide den sozialen Problemen, die recht­ lich zu lösen sind, ‚gerecht‘ wird. Auf diese Frage werde ich allerdings erst im letzten Teil meiner Untersuchung (unten c) eingehen. Eingeräumt sei zunächst noch, dass das vorgestellte Pyramidenmodell durch ein anderes, noch stärker gestaffeltes, ersetzt werden kann.746 Im vorliegenden Zusammenhang reicht die vorgestellte Staffelung jedoch m. E. aus, um zumin­ dest ein zentrales Charakteristikum der Rechtsevolution darzustellen, nämlich die unterschiedliche Geschwindigkeit, mit der diese sich auf jede der genann­ ten Ebenen erstreckt hat: Wie für jedes hierarchisch aufgebaute System gilt nämlich auch für das Rechtssystem, dass seine auf den höheren Ebenen ste­ henden Elemente weniger evolutiv veränderbar sind als die auf den unteren Ebenen – dass also beispielsweise die Stabilität des Rechtsstaats größer ist als die seiner Rechtsgrundsätze, dass diese wiederum beständiger sind als die ein­ zelnen Rechtsinstitute, die Stabilität z. B. des Kreditwesens747 beständiger als die der einzelnen Bankinstitute, die Stabilität des Verkehrswesens beständiger als die der eingesetzten Verkehrsmittel usw.; und dass die Stabilität der Rechts­ elemente auf den höheren Ebenen daher vom Staat eher garantiert werden kann als die der unteren Elemente ‒ die Stabilität eines Rechtsinstituts also eher als der stabile Bestand der daraus abzuleitenden Normen. oben 6 c θ. (1960), S. 228 ff. im Anschluss an A. Merkl (1918). 746  Siehe etwa in B. Rüthers/Ch. Fischer/A. Birk (2018), Rn.  272 f. 747  BVerfGE 90 145 ff., 204, hat es als elementaren Wert des Gemeinschaftslebens anerkannt. 744  Vgl.

745  H. Kelsen

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

Beispiele: 1. Der Staat kann das Rechtsinstitut der Ehe eher garantieren als deren Beschränkung auf die Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau. – 2. Der Staat kann die Institution der freien Wirtschaft eher garantieren als die Geltung seiner Leitideen (etwa die eines fairen Wettbewerbs), die Geltung seiner Leitideen eher als Art und Umfang der Kontrollmaßnahmen zu ihrem Schutz.

Ich betrachte nunmehr das Pyramidenmodell im Einzelnen und nehme den Zugang zunächst von der Spitze aus. (1) Die Spitze der Pyramide bildet eine autochthone Entscheidung. Sie gilt dem in erster Linie mit dem Mittel des Rechts geordneten Staat, dem Rechtsstaat. Völker, die sich für ihn entschieden haben, taten dies nicht etwa völlig freiwillig, sondern motiviert durch Entwicklungen innerhalb der sozialen und politischen Realität, insbesondere aufgrund der Veränderung staatlicher Ein­ heiten zu immer größeren, intern immer stärker vernetzten und somit immer komplexeren Systemen. Solche Systeme ließen sich anders als durch eine bürokratisch organisierte, mit einem Gewaltmonopol ausgestattete und vom ‚Recht‘ legitimierte Organisation nicht mehr ordnen. Gleichwohl ist die kon­ krete rechtsstaatliche Organisation, wie wir sie heute kennen, kein zwingen­ des und möglicherweise auch kein endgültiges Produkt der Entwicklung. Denn der ‚westliche‘ (‚bürgerliche‘) Rechtsstaat zeugt von Uneindeutigkeit und daher auch von Verwundbarkeit. Einerseits setzen die in Art. 16 der fran­ zösischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte benannten Prinzipien eines Rechtsstaats – der Schutz der individuellen Rechte und die Teilung der staatlichen Gewalten748 – notwendig ein hohes Maß an gesellschaftlicher Differenzierung und politischer Institutionalisierung voraus, das nur von ei­ ner technisch unterstützten Kultur erreicht werden kann; andererseits haben diese Voraussetzungen die seinerzeit revolutionär erzeugten Prinzipien aber nicht zu notwendigen Folgen. Andere Staaten der Gegenwart haben schon heute den Rechtsstaat ‚westlicher‘ Prägung weder verwirklicht noch für verwirklichenswert gehalten: Beispielsweise widerspricht der forcierte Schutz von individualen Rechten dem Staatsverständnis vieler asiatischer749 und die Gewaltenteilung dem Staatsverständnis vieler indigener Völker.750 Die islamische Staatstheorie lehnt das ‚westliche‘ Rechtsstaatsverständnis 748  Art. 16 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte lautet: „Toute société dans laquelle la garantie des droit n’est pas assurée, ni la séparation des pouvoir déterminée, n’a point de constitution.“ 749  Nicht nur wird der im anglo-amerikanischen Rechtskreis geltende Grundsatz der Rule of Law i. S. des kontinentaleuropäischen Rechtsstaatsgrundsatzes abge­ schwächt, sondern auch dem Billigkeitsgrundsatz eine höhere Bedeutung als im ‚westlichen‘ Rechtsverständnis zugestanden. 750  Ethnologische Untersuchungen belegen, dass es bei den Naturvölkern traditio­ nell keine Gewaltenteilung gibt (vgl. etwa M. Gluckman, 1955, p. 27; L. Mair, 1962, p. 141, 148). Die Einrichtung unabhängiger, an das Gesetz gebundener Gerichte in Afrika ist zumeist das Werk der Kolonialmächte (vgl. L. Mair, 1962, p. 263).



K. Entwicklungstendenzen im neuzeitlichen Recht 987

ebenfalls ab, soweit es sich mit der islamischen Religion nicht verträgt.751 Und die Staatstheorie der sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas einschließlich der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) sah vollends im ‚bürger­ lichen‘ Rechtsstaat nur das „Trugbild von Demokratie zur Rechtfertigung der Macht des Kapitals“752 und stellte ihm den ‚sozialistischen‘ Rechtsstaat gegenüber, der dem Recht die Sicherung der im Sinne des Marxismus geordneten sozialökonomischen Verhältnisse auferlegte.753

Deshalb erhebt sich die Frage: Ist die Entscheidung für den Rechtsstaat ‚westlicher‘ Provenienz an der Spitze der Pyramide wenn schon nicht die einzige, so doch wenigstens die beste aller möglichen Alternativen? Betrach­ tet man die ihm gegenübergestellten Alternativen, fällt auf, dass diese alle­ samt nicht den Staat als Mittel des Rechts zur Organisation von sozialen Verhältnisse, sondern umgekehrt das Recht als Mittel des Staates zur Schaf­ fung von sozialenVerhältnisse einsetzen – dass ihnen also primär eine Sozi­ alphilosophie zugrunde liegt, welche den Staat ermächtigt, philosophisch festgeschriebenen Zielen das geltende Recht zu unterstellen. So waren bei­ spielsweise vom Staat zu erstrebende Ziele im ehemaligen ‚Ostblock‘ die Erschaffung eines sozialistischen Gattungsmenschen und dessen sozialöko­ nomische Gleichheit, und Aufgabe des Rechts war es konsequent, die sozia­ len Verhältnisse auf diese Ziele hin auszurichten. So sind vom Staat mit Hilfe seines Rechts zu erstrebende Ziele in den Theokratien des Nahen Ostens die Erschaffung bzw. Bewahrung der sozialen Zustände, die einst als gottgewollt 751  Aus der göttlichen Herkunft aller Rechtsgesetze leitet sie die Führungsbefugnis der theologisch gebildeten Rechtsgelehrten ab (‚Theokratie‘). Die für liberale westli­ che Verfassungen charakteristischen Prinzipien der Trennung von Staat und Kirche, der Glaubensfreiheit, der Gleichheit unterschiedlicher Bekenntnisse etc. sind mit dem islamischen Rechts- und Staatsverständnis unvereinbar. Vgl. K.-H. Göbel (1984), bes. S.  51 ff., 131 f., 196, 207 f. 752  So das Staatsrechtslehrbuch der DDR, 1977, S. 321. 753  Bemerkenswert ähnlich sind allerdings insoweit die Äußerungen des sowjeti­ schen Marxisten Tumanow und des Verfassers eines der bekanntesten Staatsrechts­ lehrbücher der Bundesrepublik Deutschland (E. Stein). Tumanow äußerte 1991 auf der Tagung zur Ehren des 50. Jahrestages der Großen Sozialistischen Oktoberrevolu­ tion: „Der Staat kann kein anderes als das Recht fixieren, das durch die sozialökono­ mische Ordnung der Gesellschaft bedingt ist; er kann ihm keine anderen Prinzipien und Werte beimessen als jene, die sich aus dem Charakter der bestehenden gesell­ schaftlichen Verhältnisse ergeben.“ Bei E. Stein klang das im selben Jahr ganz ähn­ lich (a. a. O. 131991, S. 155): „Die meisten Gesetze sind das Produkt von Interessen­ kämpfen, bei denen sich regelmäßig die Interessen der Träger gesellschaftlicher Macht durchsetzen. Um diese Produkte der Interessenkämpfe geht es bei der Herr­ schaft der Gesetze, die als Herrschaft des ‚Rechts‘ ausgegeben wird, weil dieser Aus­ druck mit Gerechtigkeit assoziiert wird und daher den garstigen Machtprozess ver­ deckt, der die Gesetze hervorbringt.“ Dieser seinerzeit gegen das „Großbürgertum“ gerichtete Passus wurde später dem jeweiligen Zeitgeist anverwandelt und schließlich (vgl. 212010) gestrichen.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

offenbart und festgeschrieben wurden (allerdings inzwischen mit westeuro­ päischen Rechtsvorstellungen durchmischt sind). Somit liegt der Mangel der den ‚westlichen‘ Rechtsstaat ablehnenden Auffassungen darin, dass sie die Ordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse einer rechtlich unkontrollierten Staatsmacht ausliefern, bevor sie dem Staatsrecht die Sicherung der von der Staatsmacht verordneten sozialen Verhältnisse überlassen. Selbst wenn man diesen ‚Mangel‘ nicht als einen Wertemangel ansieht, sondern ihn wertfrei als das ‚Fehlen‘ einer Oberherrschaft des Rechts über eine totalitäre Phi­ losophie bzw. Theologie begreift, wird man wenigstens seine rechtshistorischen Fol­ gen zu bedenken haben. Bisher war eine Folge, dass die von der marxistischen Sozi­ alphilosophie beherrschten Völker gegen deren Ziele aufbegehrten und die ‚sozialis­ tischen‘ Rechtsstaaten der DDR und des ‚Ostblocks‘ an diesem Aufbegehren zugrun­ de gingen. Und heute ist eine Folge, dass die islamistisch regierten Völker sich in einer schweren Sinnkrise befinden und nach gerade jenen Werten verlangen, die in den europäischen Rechtsstaaten inzwischen verwirklicht worden sind. Gewiss ist die Möglichkeit einer besseren Verwirklichung des Rechtsstaats als derjenigen in seiner ‚westlichen‘ (‚bürgerlichen‘) Form damit nicht als unmöglich nachgewiesen. Den­ noch ist es unwahrscheinlicher geworden, dass entweder ein überwiegend sozialisti­ scher Staat marxistischer Provenienz sich jemals wird verwirklichen lassen (wie eini­ ge Anhänger des sozialistischen Gedankens immer noch hoffen) oder dass eine Weltreligion das allein selig machende Muster des modernen Staates offenbaren kann. Die aufgrund der technisch-technologischen Revolution geschaffenen ökonomischen und sozialen Verhältnisse sind zu komplex geworden, als dass sie von einer philoso­ phischen oder theologischen Gesellschaftstheorie aus befriedigend organisiert werden könnten und vom Recht lediglich gesichert werden müssten. Wenn dennoch einige asiatische Staaten, insbesondere China, daran glauben, dann mit Zweifeln vermischt. Ohne schwere Menschenrechtsverletzungen sind sie bisher nicht ausgekommen.

Mögen daher die beiden Prinzipien des ‚westlichen‘ Rechtsstaats, der Schutz individueller Rechte und die Teilung staatlicher Gewalten, nicht die einzigen einen Rechtsstaat charakterisierenden Prinzipien sein ‒ dass das Recht den Staat und nicht der Staat das Recht beherrschen soll, das wenigs­ tens gehört als oberstes Prinzip an die Spitze einer Rechtsstaatspyramide. (2) Gehen wir also davon aus, dass jener Rechtsstaat der beste ist, der auf philosophische oder theologische Vorgaben für die Herrschaft des Rechts über die sozialen Verhältnisse verzichtet, sondern allein das Recht selber als oberste Instanz gelten lässt. Und gehen wir weiter davon aus, dass gewisse Entscheidungen, die über die Art eines solchen Rechtsstaates getroffen wer­ den müssen – zum einen über seine Struktur,754 zum anderen über seine 754  Beispielsweise setzt Art. 20 Abs. 1 GG eine vorverfassungsrechtliche Entschei­ dung für eine „Bundesrepublik“ Deutschland voraus. Genauer wäre es gewesen, le­ diglich die Entscheidung für eine Bundesstaatlichkeit vorauszusetzen, weil nur inso­ weit die Struktur des Staatsgebildes betroffen ist. Dem entsprechend wird in Art. 79 Abs. 3 GG auch nur eine Veränderung der Bundesstaatlichkeit durch Eingriffe in ihre Verfassung ausgeschlossen. Diese kann in einer rechtsstaatlichen Verfassung jedoch



K. Entwicklungstendenzen im neuzeitlichen Recht 989

rechtliche Organisation und Kontrolle – ebenfalls an die Spitze gehören. Dann bleibt die Entscheidung über die Art der Rechtsherrschaft im Staat − ob durch einen Monarchen oder durch Aristokraten, ob unmittelbar durch das Volk oder mittelbar durch Abgeordnete des Volkes (entweder in einem Parla­ ment oder in einer zwischen Monarchie, Aristokratie und Demokratie vermit­ telnden Institution) ‒ der nächstunteren Pyramidenstufe vorbehalten. Steigen wir daher auf diese hinab, um der Art der Herrschaft unter dem Schilde des Rechts eine staatliche Ordnungsstruktur und einen sozialgerechten Inhalt zu geben. Wiederum mag es dafür mehrere Alternativen geben; mir selbst er­ scheint als ‚richtig‘ jedoch nur eine: die sokratische (und später auch römi­ sche) der Besinnung auf die menschliche Vernunft.755 Die Begründung hier­ für lautet, dass, seit die Menschen die Vernunft entwickelt haben, sie nicht mehr ein instinktoid-gefühlsmäßig determiniertes, sondern durch ihren Geist gesteuertes bzw. kontrolliertes Leben führen und ihrem Leben und ihrer Um­ welt einen Sinn geben können. Die Evolution hat offenbar darin den mensch­ lichen Fortschritt erkannt. Was aber ‚ist‘ diese Vernunft? Eine exakte Analyse lässt sich nach heutigem Er­ kenntnisstand nicht geben. Mit einiger Sicherheit handelt es sich aber um ein geisti­ ges Zentrum, das den externen Reizeinstrom aus der Umwelt und dessen interne Verarbeitung in den unterschiedlichen Hirnregionen zusammenfasst und abschließend dazu Stellung bezieht. Wesentlich ist dabei die Mitwirkung des präfrontalen Kortex: Dort nämlich laufen die einfließenden Informationen zusammen und dort werden sie zunächst in einen Handlungsplan756 und sodann in eine Handlungsentscheidung über­ geführt. Allerdings ist nicht jede Verhaltensentscheidung, die dort generiert wird und die der Einzelne für vernünftig hält, auch aus ‚höherer Sicht‘ vernünftig, sondern nur diejenige, die zusätzlich einen externen Anerkennungsprozess durchlaufen und dabei einen der logischen Evidenz verwandten Charakter an Notwendigkeit erlangt hat.757

Bald haben die Menschen freilich auch bemerkt, dass mit ihrer Fähigkeit zu vernünftigen Entscheidungen keineswegs ein Wille zu vernünftigem Hanvariabel ausgestaltet werden, auch beispielsweise die hierarchische Struktur entweder einer Monarchie oder einer Aristokratie erhalten und mithilfe einer entsprechend ge­ steuerten Bürokratie verwirklicht werden. 755  In diesem Sinne begreift etwa E.-W. Böckenförde (1991, S. 145 f.) den Rechts­ staat als einen Staat der Vernunft und die Regelung der Staatstätigkeit als nach Ver­ nunftgrundsätzen geordnet. Böckenfördes Konkretisierung der Vernunftgrundsätze ist freilich deutlich zeitbezogen: „Dazu gehören an erster Stelle die Anerkennung der grundlegenden staatsbürgerlichen Rechte wie bürgerliche Freiheit, Rechtsgleichheit, Garantie des Eigentums; ferner die Unabhängigkeit der Richter, verantwortliche Re­ gierung, Herrschaft der Gesetze, Vorhandensein einer Volksrepräsentation und deren Teilnahme an der gesetzgebenden Gewalt.“ 756  Der Handlungsplan wird auf der Grundlage der gegenwärtig vorhandenen oder vorgestellten Situation sowie der antizipierten positiven und negativen Konsequenzen erstellt. 757  W. Wundt (1918), S. 346.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

deln verbunden ist. Denn evolutionär hatte ihr Handeln zwar die instinktivgefühlsmäßige Determination eingebüßt, ohne jedoch eine den Verlust aus­ gleichende Determination durch die Vernunft gewonnen zu haben. Daher stand der vernünftig handelnde Mensch nur als Ideal vor ihnen,758 real stan­ den sie dagegen vor der Aufgabe, dieses Ideal zu verwirklichen. Aber wie? Indem sie in sich selbst nach dem Antrieb suchten, der sie zur perfekten Annäherung an das Ideal lenkt? Indem sie dem mahnenden Anruf einer me­ taphysischen Macht Gehör schenkten? Oder indem sie sich der strengen Zucht eines von seiner eigenen (‚höheren‘) Vernunft überzeugten ‚Impera­ tors‘ unterwarfen? Im Laufe ihrer Geschichte haben sie all diese sozialmorali­ schen,759 theologischen und positivistischen Antriebsgründe durchgespielt; aber sie haben ihnen letzthin nicht weitergeholfen, weshalb sie sich mehr „zur Freiheit verurteilt“760 als vom Zwang der Antriebe ‚befreit‘ fühlten. Denn alles, was ihnen von den ehemals instinktiv richtigen Antworten auf äußere Reize geblieben war, antwortete nunmehr auf den Anruf von Verhal­ tensfragen einerseits mit den egoistischen Motiven des natürlichen Begehrens oder Abwehrens und andrerseits mit moralischer, theologischer oder antiau­ toritärer Skepsis, ohne dass sich daraus eine klare Richtung ergab. Als rich­ tungweisend übrig blieb nur der allem Leben immanente Ordnungstrieb. Doch Ordnung kann entstehen, indem man sich entweder nach fremd- oder selbstgesetzten Regeln richtet oder indem man sich wie die Masse seiner Mitmenschen verhält und einfach mitläuft.761 Welche Alternative sollten sie also wählen? Hierauf muss die Verfassung eines Rechtsstaats zumindest eine Teilantwort geben. Denn sie gibt dem Staat sowohl das Recht als auch die Pflicht, seine Normen gegen alle anderen Normen durchzusetzen. Daraus folgt, dass der Staat seine Bürger anhalten muss, sich jedenfalls nicht im Strom der Masse zu verlieren, sondern das Verhalten denjenigen Maximen zu unterstellen, die seiner (also der staatlichen) Ordnung zugrundeliegen. Freilich muss er den Bürgern dann auch die Gewissheit geben, dass diese Maximen solche der Vernunft sind ‒ dass m. a. W. jede seiner Normen durch einen Satz der Ver­

E.-J. Lampe (1985a), passim. hier i. S. sowohl von tatsächlichem Brauch als auch normativer Sitte (lat. mores). 760  J.-P. Sartre (1943/1993), oben Fn. 309. 761  Beispiele: Abstrakte, aber konkretisierbare Regeln enthalten die Normen der staatlichen Gesetze. Konkrete, aber verallgemeinbare Grundsätze enthalten Gerichts­ entscheidungen, die gleichzeitig als precedents für künftige Fälle gelten. Beide erlau­ ben den Schluss vom Sollen aufs Sein. Orientierungen am realen Verhalten der Mit­ menschen bleiben dagegen vollständig innerhalb der Seinsordnung und stehen daher außerhalb des Rechts. 758  Dazu

759  ‚Moralisch‘



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nunft fundiert wird. Für diese Gewissheit bedarf es aber einer zusätzlichen Instanz. Welcher Art diese sein kann, •• ob das im Staat organisierte Volk selber – weil es in der Vergangenheit gezeigt hat, dass es nicht nur eine Rechtsüberzeugung (opinio necessitatis) zu generieren, sondern sie auch durch langdauernde Übung (longa consuetudo) zum Gewohnheitsrecht auszubauen in der Lage ist,762 •• ob einige auserwählte Bürger, die sich entweder in der Wissenschaft vom Recht (scientia iuris) oder in der Kunst des guten und gerechten Handelns (ars boni et aequi), oder in beidem hervorgetan haben, sodass das Volk auch ferner auf deren Vernunfterkenntnis vertraut, oder •• ob ein Herrscher, von dem das Volk (und natürlich auch er selbst) über­ zeugt ist, dass seine Macht überragender Vernunft entstammt (‚sic iubeo, ita ius esto‘), das muss letztens dahinstehen. Es kann dies aber auch, wenn die staatliche Verfassung gleichzeitig (und zumal in den letzten beiden Alternativen) das Volk vor den Folgen seines Irrtums so weit wie möglich schützt: teils durch allgemeine Grundrechte, teils durch das individuelle Recht zur Gehorsams­ verweigerung. Zu den Grundrechten müssen die rechtliche Gleichheit aller Bürger, die rechtliche Würde des einzelnen Bürgers und die größtmögliche soziale Freiheit des gesamten Volkes bei gleichzeitig bestmöglicher Siche­ rung seiner Lebensgrundlagen gehören. Und das Recht zur Gehorsamsver­ weigerung gegenüber staatlichen Anordnungen (insbesondere denen eines Diktators) muss sich aus den gleichen Rechten aller Bürger, aus dem indivi­ duell erworbenen Recht des einzelnen Bürgers oder aus den ‚guten Sitten‘ des gesamten Volkes herleiten lassen. Im Einzelnen kann das hier nicht belegt werden. Vollständig auflösbar ist die Problematik sicherer Vernunftherrschaft ohnehin nicht. Hinzuweisen ist lediglich auf die Ausnahmen, welche die Bürger dann hinnehmen müssen, wenn sie den Staat mit dem Schutz der inneren Sicherheit (Institutionalisie­ rung u. a. von Polizeibehörden), der inneren Ordnung (Institutionalisierung von Ordnungs- bzw. Verwaltungsbehörden)763 und der äußeren Sicherheit

762  Die „Staatsgewalt“ des Volkes reicht in Deutschland nur so weit, dass es die Vertreter wählen kann, welche in den Parlamenten jene Gesetze beschließen, die dann die Ausübung staatlicher Gewalt gestatten. Dagegen hat das Volk auf die „vollzie­ hende Gewalt“ und auf die „Rechtsprechung“ unmittelbar keinerlei Einfluss, da we­ der die Vollzugsbeamten noch die Richter von ihm gewählt werden. Vgl. auch oben Fn. 456. 763  Allerdings wird eine Aufgabentrennung zwischen Polizei, Sicherheits- und Ordnungsbehörden kaum irgendwo exakt, manchmal auch gar nicht durchgeführt.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

(Waffenproduktion sowie die Ausrüstung eines Heeres)764 betraut haben, und auf die weiteren Ausnahmen, wenn sie den Staat als Sozialstaat welcher Art auch immer verstehen. Dann nämlich muss die Staatsverfassung alle Frei­ heitsbeschränkungen enthalten, die dem Staat die Erfüllung dieser Aufgaben erlauben. (3) Im Einzelnen müssen sämtliche Freiheitsbeschränkungen dann auf der nächstunteren dritten Pyramidenstufe von der Vernunft konkretisiert werden. Im Hinblick auf einen nur liberalen Staat ist der Aufwand dafür nicht beson­ ders groß und deshalb ziemlich leicht zu bewältigen. Weitaus größer ist er jedoch im Hinblick auf den Sozialstaat. Denn dessen Aufgabe, eine sozial gerechte Ordnung zu schaffen, kann kein Staat ohne erhebliche Eingriffe in die Freiheit seiner Bürger bewältigen. Und der Vernunftgebrauch seiner Re­ gierung versagt überdies, wenn es um die sozialmoralischen Wertmaßstäbe geht, aufgrund deren soziale Schwerpunkte gesetzt werden sollen; denn diese ergeben sich einerseits aus den Bedingungen der natürlichen, sozialen und kulturellen Umwelt (z. B. Veränderungen des Klimas, Alterung der Bevölke­ rung, Fortschritten der Technik) und andrerseits aus deren Verarbeitung durch die im Volk vorherrschenden religiösen und ideologischen Wertsysteme (Christentum, Islam, Buddhismus u. a.; Liberalismus, Marxismus, Faschis­ mus u. a.) – aus Systemfaktoren also, deren Bedeutung die Vernunft zwar in Rechnung stellen, denen sie aber keine exakten Messwerte entnehmen kann. Deshalb richtet sich, wie viele soziale Bedürfnisse der Staat nicht nur befrie­ digen soll, sondern auch kann, am Ende weniger nach den Maßstäben der Vernunft als nach dem Ausmaß der ihm zur Verfügung stehenden sach­lichen und finanziellen Mittel. Und die Gerechtigkeitsfrage lautet am Ende nicht: Wo überall soll der Staat für soziale Gerechtigkeit sorgen?, als vielmehr: Welche steuerlichen Einnahmen muss der Staat auf der Haben-Seite erzielen,765 um auf der Soll-Seite die aus dem Volk an ihn herangetragenen Wünsche nach sozialer Gerechtigkeit zu erfüllen? Darauf zu antworten, ist in den Parlamenten aller Sozialstaaten denn auch ein Thema der nicht immer von bloßer Vernunft diktierten Diskussionen.766 764  Die äußere Sicherheit des Staates durch Streitkräfte wird teilweise statt in den Verfassungen nur in eigenen Wehrgesetzen geregelt. Da sie aber Einfluss auch auf die innere Sicherheit des Staates hat (vgl. etwa Art. 79 Abs. 2 des Österreichischen Bun­ des-Verfassungsgesetzes), ist die Trennung inkonsequent. 765  In der deutschen Verfassung wird dieser wichtigste Anspruch des Staates ge­ genüber seinen Bürgern mehr vorausgesetzt als formuliert und ausgestaltet. Insbeson­ dere fehlen jegliche Angaben zur Begrenzung der den Bürgern zumutbaren Steuer­ last ‒ ein Eingeständnis gesetzgeberischer Feigheit! Umso ausführlicher wird statt­ dessen die Verteilung der erhobenen Steuern zwischen Bund und Ländern geregelt (Art.  104a ff. GG). 766  Allerdings gilt auch: Je mehr soziale Aufgaben juristisch festgeschrieben sind, desto leichter lassen sich juristische Normen für das Einsammeln der dafür gebrauch­



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(4) Während auf der dritten Pyramidenstufe lediglich Schwerpunkte der nationalen Rechtsordnung formuliert werden müssen, kommt es auf einer vierten Stufe weitergehend darauf an, den Schwerpunkten in Rechtsinstituten praktische Bedeutung zu ver­leihen. Dazu besteht ein Zwang, wenn es um existenzielle menschliche Gemeinschaftswerte geht, deren Realisierung und Abgrenzung in ihrem Mit- und Gegeneinander den Inhalt einer Rechtsord­ nung ausmachen muss; dagegen besteht Freiheit, wenn spezielle nationale Bedürfnisse oder Interessen befriedigt werden sollen. Rechtsinstitute können dann entweder aus dem Volke heraus erwachsen oder auf der Grundlage von gegenwärtigen Bedürfnissen oder Interessen von den Verwaltungsbehörden oder Gerichten geformt werden. Die Existenz einer allgemeinen opinio iuris ist für sie zwar nicht Voraussetzung, aber genügend, wenn sie entweder auf lange andauernder Übung (longa consuetuda) beruht oder ein aktueller Be­ darf sie ersetzt.767 Fehlt sie, muss schöpferisch gehandelt werden. Die Bedeutung eines Rechtsinstituts erweist seine Kraft zur Ausstrahlung in den Normenbereich. Ist sie stark, bleibt vom Institut nichts übrig, was nicht in den Fang­ armen der Normen gelandet ist. Im Bereich des strafrechtlichen Vermögensschutzes beispielsweise wird sie außer vom zentralen Tatbestand des Betrugs von den Ergän­ zungsnormen des Kreditbetrugs, des Subventionsbetrugs, des Kapitalanlagenbetrugs, des Versicherungsbetrugs aufgefangen; ferner schlägt sie sich in den selbstständigen Tatbeständen des Diebstahls und der Unterschlagung, der Untreue und Veruntreuung, der Hehlerei, der Fälschung von Urkunden (in gewinnsüchtiger Absicht) u. a. m. nie­ der. Manchmal verhindert allerdings die Ausstrahlung anderer Rechtsgüter die Refle­ xion entweder ganz oder teilweise. Ein markantes Beispiel bietet das Völkerstrafrecht, das außer dem Tatbestand des Völkermordes eine Reihe von Begehungsweisen um­ fasst, deren Unrechtsschwere die meisten Rechtsgutsverletzungen des traditionellen Strafrechts weit überragt. Vertreibungen aus der Heimat, Versklavung von Menschen und Menschenhandel, Internierung von ganzen Personengruppen in Lagern u. a. ge­ hörten dazu, im weiteren Sinne aber auch das Freisetzen von Kernenergie und die Auslöschung der menschlichen Persönlichkeit durch ‚Gehirnwäsche‘. Ein Großteil dieser Taten wurde zwar schon vor dem Zweiten Weltkrieg von den damals nur vage ausgebildeten Instituten der Verbrechen gegen die Menschheit und gegen die Mensch­ lichkeit erfasst, jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu Normen ausgebildet. Da einige dieser Taten aber vor und im Zweiten Weltkrieg von den Machthabern in Deutschland und ihren Handlangern begangen und ausdrücklich nicht nur als straf­ frei, sondern sogar im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie als konsequent und nützlich bewertet wurden, ergab sich die Frage: Durften diese Verbrechen, nachdem ihr Charakter weltweit deutlich und ihr Ausmaß öffentlich wurden, angeklagt und von ten Mittel begründen. Deshalb wird der Sozialstaat von beiden Seiten bedrängt: von Seiten derer, die seiner Leistungen bedürfen, und von Seiten derer, die dafür zahlen sollen. 767  Gelegentlich werden neben einer solchen ‚Vorübung‘ (consuetudo) neuerdings noch weitere Gründe für die Ausbildung von institutionellem Recht anerkannt: etwa eine Rechtsüberzeugung, die sich im Ausland oder in der nationalen oder internatio­ nalen Wissenschaft herausgebildet und Anklang gefunden hat.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

Gerichten abgeurteilt werden? Oder stand dem der Grundsatz nullum crimen sine lege praevia entgegen? Nach herrschender Ansicht waren die Institute der Menschlich­ keits- und Kriegsverbrechen, wie sie später genannt wurden, schon vor und während des Dritten Reiches stark genug, um sich in Strafnormen widerzuspiegeln; dass sie dennoch im Detail weltweit nicht kodifiziert waren, stand aufgrund ihrer Schwere der Aburteilung nach dem Zweiten Weltkrieg nicht entgegen, da ein Vertrauen in ihre Straflosigkeit keinen rechtlichen Schutz verdient hätte.768

(5) Freilich wird erst auf der fünften Pyramidenstufe des kontinentaleuro­ päischen Rechts endgültig sichergestellt, welche Teile der materiellen Rechts­ institute in Normen umgesetzt werden sollen. Darüber hinaus finden erst auf dieser Stufe Verfahrensordnungen zur Anwendung des materiellen Rechts, ferner private Geschäftsnormen und Verträge, wenn diese die private Realität zur Normativität des staatlichen Rechts hin öffnen, ihren Platz. Der Blick wandert deshalb auf dieser Ebene zwischen den staatlichen und den privaten Sollensordnungen hin und her, geleitet durch heuristische Programme, die sich in Alternativen verzweigen, um bedacht, bewertet und akzeptiert oder verworfen zu werden. Trifft der Blick dabei auf eine Leerstelle, müssen die Richter sich in die Position des Gesetzgebers versetzen und so entscheiden, wie dieser es ihrer Meinung nach getan hätte, wenn er im Lande gewesen wäre.769 Die Verwaltungsbehörden dagegen müssen diejenigen Entscheidun­ gen treffen, von denen sie überzeugt sind, dass sie zu den Marksteinen stän­ diger Verwaltungspraxis gehören sollen. Das kann auch versuchsweise ge­ schehen; denn die Verwaltungsbehörden verfügen i. d. R. über ein Verfahren der ‚Irrtumsbeseitigung‘ (: vorläufige Regelung, die revidiert werden kann)770, das ihnen erlaubt, auch dann eine Entscheidung zu treffen, wenn sie deren Folgen nicht überblicken. Während die Gerichte, deren Entscheidungen end­ gültig sind, in solchen Fällen auf Vergleichsvorschläge an die Parteien aus­ weichen müssen. Auf dieser Stufe grenzt das kontinentaleuropäische Recht eng an das an­ glo-amerikanische Recht und eröffnet den Verwaltungsbehörden und Gerich­ ten jene Freiheit, welche dort von vornherein offensteht. Die Stellung der Richter im anglo-amerikanischen Rechtsraum ist insofern freier als die der kontinentaleuropäische Richter, als ihnen erspart bleibt, was jene müssen: nämlich ihre Entscheidungen primär aus den staatlichen Gesetzen abzuleiten (vgl. Art. 20 Abs. 3 und 97 Abs. 1 GG)771. Stattdessen dürfen sie primär den Eingebungen im Einzelnen H.-L. Schreiber (1976), S.  209 ff. schon Aristoteles, NE 1137b, später das Schweizerische Zivilgesetzbuch in Art. 1 Abs. 2 (s. oben Teil III Fn. 898). 770  Vgl. dazu oben K 6 c γ (5). 771  Genauer: Sie dürfen es zwar auslegen, aber von ihm nur abweichen, wenn es der Staatsverfassung widerspricht (vgl. etwa BVerfGE 82 6, 12 f.; 92 1, 13 ff.; 96 375, 394 f.; 122 248, 283). 768  Dazu 769  So



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ihrer Vernunft (reason) folgen. Der darin liegende Unterschied ist dennoch nicht so groß, wie es zunächst scheint. Denn auch im kontinentaleuropäischen Rechtsraum ist ja Vernunft die Basis des Rechts. Zwar entsteht auf ihr zunächst der Bau einer norma­ tiven Rechtsordnung, den das anglo-amerikanische Rechtssystem so nicht kennt. Gleichwohl wirkt die Rechtsvernunft auch hier bis in die unterste Ebene hinein, weil die Gerichte die parlamentarischen Gesetze ja verfassungskonform auszulegen haben und die in der Verfassung liegende Vernunft sich somit bis in die konkreten Entschei­ dungen hinein mitteilt. Der Unterschied reduziert sich folglich auf den weiteren Kompetenzbereich, den die fehlende Bindung an abstrakte Normen den anglo-ameri­ kanischen Richtern eröffnet.772 Doch schrumpft selbst dieser Unterschied, weil an die Stelle der Normbindung ja die Bindung an die precedents derjenigen Gerichte tritt, die einen ähnlichen Sachverhalt schon entschieden hatten, weshalb deren Rechtsauf­ fassung als „ratio decidendi of the case“ dient.773 Gleichwohl besitzt das Mehr-Ebenen-System des kontinentaleuropäischen Rechts m. E. einen praktischen Vorteil, weil die abstrakt-normative Regelung eines konkreten Rechtsproblems hier in etwa bekannt ist, bevor die konkreten Folgerungen daraus gezogen werden. Das ermöglicht es zum einen den Adressaten der Normen, von ihrer Handlungsfreiheit einen vorhersehbar richtigen Gebrauch zu machen, und es ver­ pflichtet zum anderen die Gerichte auf ein Modell der öffentlichen Ordnung, das sie nur zu interpretieren brauchen, um zu rechtsbeständigen Folgerungen zu gelangen. Wie wichtig beides ist, beweist das anglo-amerikanische case law dadurch, dass es ein annähernd entsprechendes Maß an Vorhersehbarkeit auf der Grundlage von Nach­ schlagewerken entwickelt hat, welche die Konsequenzen der gerichtlichen Bindung sowohl an eigene Vorentscheidungen als auch an die Entscheidungen höherer Gerich­ te aufzeigen.774 772  Im Bereich des Common Law wird das Recht der Verwaltung meist durch Agencies geschaffen, die vom Parlament (in England) oder vom Kongress (in den USA) in Form von rules, regulations, orders oder decisions eingesetzt werden. Die Kontrolle über die Einhaltung des Rechts wird aber wie bei uns von den Gerichten ausgeübt. 773  Unterschiedlich ist also lediglich der Übergang von der dritten zur vierten Stufe: Im case law leitet ihn die Logik, weil hier die Gerichte eine Rechtsregel je­ weils im Hinblick auf ihre Anwendung im konkreten Fall bilden und den konkreten Fall anschließend mit Rücksicht auf die zuvor von ihnen gebildete Regel entscheiden. Im kontinentaleuropäischen Recht leitet ihn dagegen allenfalls scheinbar die Logik; denn die Gesetzes‚bindung‘ der Rechtsprechung, die den Übergang von den gesetz­ lichen Normen zu den gerichtlichen Urteilen leitet, ist keine logische, sondern eine hierarchische: Sie unterwirft die gerichtliche Rechtssetzungsmacht der Oberhoheit der parlamentarischen. Art. 97 Abs. 1 GG (: die Richter sind „dem Gesetze unterworfen“) determiniert mithin das Denken der Richter nicht, sondern verlangt Gehorsam. 774  Die Stare-Decisis-Doktrin wird vom Supreme Court damit gerechtfertigt, dass sie „promotes the evenhanded, predictable, and consistent development of legal principles, fosters reliance on judicial decisions, and contributes to the actual and perceived integrity of the judicial process“ (Zitat aus www.law.cornell. edu/wex/ stare_decisis). Ihre Durchsetzung verlangt allerdings eine regelmäßige Berichterstat­ tung über die ergangenen Entscheidungen; und das Auffinden der für einen Rechtsfall einschlägigen Entscheidungen gehört alsdann zu den zeitlich aufwändigsten Tätigkei­

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

(6) Auf der sechsten Stufe richtet sich der Blick schließlich auf die Realität des sozialen Lebens, in die „lebendiges Recht“ eingebracht werden soll: durch Entscheidungen der Gerichte, durch Akte der Verwaltungsbehörden, durch Rechtsgeschäfte der Bürger. Sie ist nicht nur die reale Basis, sondern auch der logische Grund aller rechtlichen Operationen, und ihre Gestalt, so­ weit vom Recht geformt, ist der einzig gültige Nachweis für Gerechtigkeit. Im letzten Abschnitt meiner Untersuchung werde ich mich daher der Frage zuwenden, ob der Aufstieg in das Mehr-Stufen-System des kontinentaleuro­ päischen Rechts bis an dessen pyramidale Spitze mit seinem bedingungs­ losen Bekenntnis zum Recht als oberster Macht im Staat zur gerechten Ge­ staltung auch der sozialen Realität führt oder zumindest führen kann und somit der Rechtsstaat kontinentaleuropäischer Prägung die gerechte Lösung aller Rechtsprobleme, der Sozialstaat darüber hinaus die gerechte Lösung aller Sozialprobleme anbieten kann. c) Verrechtlichungstiefe (sozialethischer Aspekt) Breite und Höhe der Verrechtlichung zeigen die legale Einwirkung des Rechts auf das soziale und politische Leben in den Staaten der Neuzeit an. Ihre Legitimation erhält diese Einwirkung durch den Beitrag, den sie zum gemeinen Wohl der Völker leistet. Und die Probe darauf liefert die Lösung der (α) individualen, (β) nationalen und (γ) globalen Gerechtigkeitsaufgaben, die sich den neuzeitlichen Staaten stellen. Abschließend wird das folglich mein Thema sein. Zunächst eine Vorbemerkung: Die neuzeitlichen Staaten setzen sich nach einer von Georg Jellinek entwickelten Lehre aus drei Faktoren zusammen: aus einem umgrenzten „Staatsgebiet“, aus einem darin siedelnden „Staats­ volk“ und aus einer das Volk beherrschenden „Staatsmacht“.775 Von diesen Faktoren sind die beiden ersten problemlos. Der dritte Faktor „Staatsmacht“ ist dagegen problematisch, weil er niemals isoliert vorkommt, sondern stets zusammen mit einem ‚Regime‘, das der faktischen ‚Staatsmacht‘ zur legiti­ men ‚Staatsherrschaft‘ verhilft.

ten der englischen und amerikanischen Richter und Anwälte. Trotz inzwischen gut organisiertem Reporting müssen dazu in England Hunderte von Bänden seit 1220 (in den USA seit 1754) durchgesehen werden. Deshalb kommt in beiden Staaten der Sekundärliteratur eine immense Bedeutung zu, die aber ebenfalls ständig anschwillt und trotzdem nur einen geringen Teil des empirischen Rechtsstoffs bewältigen kann. Inwieweit die elektronischen Medien insoweit künftig Abhilfe schaffen, bleibt abzu­ warten. 775  G. Jellinek (1960).



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Staatliche Regime unterscheiden sich danach, wem sie den Zugang zur Staatsmacht gewähren: einem Einzelnen (‚Autokratie‘), einer Oberschicht (‚Aristokratie‘) oder dem Volk insgesamt (‚Demokratie‘); und wem sie eine institutionelle Kontrolle der Zweige der Staatsmacht zuweisen: die Kontrolle der Regierung einem Parlament, die Kontrolle der Verwaltung einem Rech­ nungshof, die Kontrolle der Rechtsprechung einem Obergericht. Staatliche Regime legitimieren die Herrschaft des Staates, wenn sie die Tätigkeiten der Staatsmacht innerhalb des Staatsgebiets auf das Wohl des Staatsvolks sowie auf die Erfüllung seiner inter- und supranationalen Ver­ pflichtungen ausrichten. Daraus ergeben sich teils Übereinstimmungen, teils Unterschiede: Ein Teil der hoheitlichen Tätigkeiten ist global identisch, so­ dass alle staatlichen Regime insoweit denselben Legitimationsanforderungen unterliegen; ein anderer Teil ist unterschiedlich, weil er jeweils ein besonde­ res Staatsgebiet und ein besonderes Staatsvolk betrifft, weshalb jedes staat­ liche Regime insoweit besonderer Legitimation bedarf. Beispiele: 1. Bezogen auf das Staatsgebiet ist es Aufgabe aller Regime, die Staats­ macht zum Schutz des Weltklimas zu verpflichten. Dagegen ist es Aufgabe nur be­ sonderer nationaler Regime, der Staatsmacht den Schutz ausschließlich im Staatsge­ biet vorkommender Tier- und Pflanzenarten aufzuerlegen.776 – 2. Bezogen auf das Staatsvolk ist es Aufgabe aller Regime, für die Anerkennung der Gleichheit seiner Mitglieder als Trägern universeller Rechte zu sorgen und folglich zu postulieren, dass „alle Menschen vor dem Gesetz gleich“ sind.777 Aufgabe nur besonderer nationaler Regime ist es dagegen, nationale Eigenschaften entweder unter einen besonderen staatlichen Schutz zu stellen oder sie zum Gegenstand von besonderen Ansprüchen, Freiheitsrechten oder Verboten zu machen.778 Dabei sind als universell einzustufen sowohl alle metaphysischen Eigenschaften der Menschen779 als auch alle physischen 776  Das deutsche Grundgesetz trifft diese Unterscheidung nicht, sondern bekennt sich undifferenziert zum Schutz der „natürlichen Lebensgrundlagen“ (Art. 20a GG). Richtiger wären wohl Bekenntnisse sowohl zum Schutz der menschlichen Umwelt als auch zum Schutz der Natur innerhalb des deutschen Staatsgebiets gewesen (worin dann auch der Tierschutz sinnvoll hätte integriert werden können). Jedes Mehr ist symbolische Gesetzgebung. 777  So Art. 3 Abs. 1 GG. Das deutsche Regime erkennt die humane Gleichheit der Geschlechter (in Art. 3 Abs. 2 GG) mit Recht auch dann an, wenn das in anderen Staaten nicht geschieht. Sowohl die biotischen als auch die psychischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen spielen in der neuzeitlichen Staaten sozial nur noch ausnahmsweise eine Rolle, die weder eine moralische noch eine soziale und deshalb auch keine juristische Abwertung rechtfertigen. 778  Zu den nationalen Eigenschaften gehört insbesondere die durch Geburt oder Verleihung erworbene Staatsbürgerschaft, aus der spezielle Bürgerrechte (z. B. zur freien Wahl von Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte, vgl. Art. 12 GG), aber auch Bürgerpflichten (z. B. Kriegsdienst) erwachsen. 779  Die deutsche Rechtsprechung beschränkt die Anerkennung der Gleichheit auf die Eigenschaften „Menschenwürde“ und „Freiheit“ (BVerfGE 5 85 ff., 205; 6 273 ff., 275).

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

und psychischen Eigenschaften, die beiden Geschlechtern gemeinsam sind780 – und zwar auch dann, wenn sie auf unterschiedliche Art, in unterschiedlicher Mischung und mit unterschiedlicher Stärke in jedem Einzelnen wiederkehren. Über die Befunde der Psychologie hierzu habe ich in meiner Rechtsanthropologie, über die Befunde der Ethologie haben u. a. Margaret Gruter und Hagen Hof in ihren Veröffentlichungen berichtet.781 – 3. Schließlich ist es bezogen auf die Staatsmacht eine Gerechtigkeits­ aufgabe aller Regime, den Zugang zu ihr und die Kontrolle ihrer Ausübung gleichar­ tig zu organisieren: den Zugang zu einer Autokratie beispielsweise von einem Plebis­ zit abhängig zu machen; für die Zugehörigkeit zu einer Aristokratie ein Auslesever­ fahren bereitzustellen; für die Demokratie eine Wahlordnung zu entwerfen, worin die aktive und die passive Wahlberechtigung festgeschrieben und Vorkehrungen getroffen werden, dass die Wahl frei und geheim verläuft.

(α) Individuale Gerechtigkeit unter den Bedingungen des neuzeitlichen Staates. Obwohl jedes Staatsvolk sowohl in seinem gemeinsamen Wesen als auch in den interpersonalen Beziehungen seiner Mitglieder von anderen ab­ weicht, gilt rechtlich überall der Gleichheitssatz: Alle Staatsbürger sind vor den Gesetzen gleich, und folglich sind sie es auch auch in ihren Beziehungen zueinander. Daraus hat jedes staatliche Regime zu folgern, dass es bei einem Streit zwischen Staatsbürgern über den Inhalt ihrer Beziehungen zuvörderst den Streitenden selber dessen Beilegung überlassen muss, weil sie diejenigen sind, die am ehesten zu einer individuellen Beendigung imstande sind. Erst wenn der Streit die Öffentlichkeit erreicht, etwa weil er nicht nur verbal, sondern gewaltsam ausgetragen wird oder weil die Streitenden auf andere Weise den öffentlichen Frieden gestört haben, muss jedes Regime dafür sor­ gen, dass sich entweder unparteiische Dritte in den Streit einmischen können oder dass eine öffentliche Institution als Schiedsrichter oder Richter bereit­ steht, damit die Unruhe aus der Öffentlichkeit wieder herausgenommen wird und Frieden an ihre Stelle tritt. Alle staatlichen Regime müssen daher erstens vorsorglich materielle Hilfe durch privatrechtliche Gesetzesnormen (dritte und vierte Stufe der Gesetzespyramide) bereitstellen, die der ‚allgemeinen 780  Unzutreffend Ch. Antweiler (2009), S. 301: „Über Universalien gibt es viele verstreute Einzelbeobachtungen, aber insgesamt wissen wir noch wenig empirisch Gesichertes über sie.“ Vgl. aber auch a. a. O. Kap. 6 (insbes. 6.3, 6.8). 781  Die psychologischen Befunde zu den sogen. menschlichen Grundbedürfnissen (basic needs) habe ich 1970 nach damaligem Stand referiert. Auf ihrer Grundlage habe ich postuliert, dass deren Befriedigung von den Rechtsordnungen unterschieds­ los gewährleistet werden muss (E.-J. Lampe, 1970a, S. 230 ff.). Hierzu verweise ich insbesondere auf mein Referat zur Sozialpsychologie des US-Amerikaners O. Klineberg (a. a. O. S. 231‒236). Hinzufügen möchte ich meinem Referat, dass Menschen­ rechte auch hinsichtlich derjenigen Eigenschaften weltweit anzuerkennen sind, die wir mit der Verwurzelung des Menschen in seiner speziellen natürlichen und sozio­ kulturellen Umwelt verbinden, insbesondere mit Heimat, Sprache und Kultur. Die ethologischen Befunde haben M. Gruter (1976; 1993) und H. Hof (1996) eben­ falls als für das (nicht nur deutsche) Recht verbindlich erklärt. Weitere Nachweise aus der US-amerikanischen Literatur bei W. Fikentscher (2016), p. 240 ff.



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Meinung‘ (opinio necessitatis) im Volk Ausdruck geben. Falls dies nicht ausreicht bzw. die Parteien nach individueller Vermittlung verlangen, müssen alle Regime zusätzlich prozessuale Hilfe durch spezielle Rechtspflegeorgane anbieten, sodass die Beendigung des Streits zur öffentlichen Angelegenheit werden kann. Zwei wichtige Ausnahmen, die sich international bewährt haben, gibt es allerdings auch in Deutschland: •• Zum einen sind landesgesetzlich durch die Justizverwaltungen Gütestellen (§ 15a EGZPO) eingerichtet worden, die u. a. bei geringwertigen vermö­ gensrechtlichen sowie bei nachbarrechtlichen Streitigkeiten zunächst an­ gerufen werden müssen. Ferner hat die private Wirtschaft (Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern, Innungen) Gütestellen geschaffen, an die Verbraucher ihre Beschwerden richten können. Da außerdem für Streitigkeiten zwischen Wirtschaftsunternehmen vermehrt die Zuständigkeit von privaten Schiedsgerichten vereinbart wird, deutet sich ein all­ mählicher Übergang von der staatlichen auf die private Rechtspflege und damit von der abstrakt gerechten Gesetzesanwendung (rule of law) auf konkret gerechte Billigkeitsentscheidungen an. Diese Entwicklung ist zu begrüßen, weil sie die Rechtsprechung über private Streitigkeiten im Sinne der Gewaltenteilung dem Staat zunächst entzieht782 und es einer bürgernahen Justiz ermöglicht, ex aequo et bono zu entscheiden. Erst wenn auf privatem Wege kein Frieden erreicht werden kann, muss eine staatliche Gerichtsbarkeit zuständig werden.

•• Zum anderen werden Streitigkeiten, die einer schiedlichen Beilegung im besonderen Maße bedürfen, den lokalen Amtsgerichten zugewiesen (u. a. §§ 23‒23d GVG): so vor allem familiäre und Nachbarschaftsstreitigkeiten, Mietstreitigkeiten und verbraucherrechtliche Streitigkeiten.783 Allerdings gewährleistet allein eine Zuständigkeitsverteilung noch keine bürgerna­ he Justiz; vielmehr muss diese mit einer bürgernahen Besetzung der Richterbank einhergehen. Das kann zum einen durch eine Aufteilung in Fachgerichtsbarkeiten geschehen,784 zum anderen durch eine verstärkte Einbeziehung von Laienrichtern mit speziellen Erfahrungen hinsichtlich der strittigen Sachverhalte: z. B. von Hand­ werkern für die Beurteilung von behaupteten handwerklichen Mängeln, von Bank­ fachleuten bei Streitigkeiten etwa über Verbraucherkredite, von Medizinern bei der 782  Der deutsche Staat hat – im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten (Frankreich, Spanien, Italien, Norwegen, Dänemark, Niederlande) – immer noch ei­ nen erheblichen Einfluss bei der Besetzung zumindest der höheren Richterämter. Der deutsche Rechtszustand widerspricht infolgedessen den Kriterien der Europäischen Union zur Aufnahme neuer Mitgliedsländer, dass in ihnen nämlich „die für die Aus­ wahl und Laufbahn der Richter zuständige Behörde von der Exekutive unabhängig sein“ soll. Siehe dazu wikipedia Art. „Richterwahlausschuss“. 783  Dazu jetzt auch ein neuer Referentenentwurf des Gesetzes über die alternative Streitbeilegung in Verbrauchersachen (Veraucherstreitbeilegungsgesetz ‒ VSBG). 784  Weber-Grellet, ZRP 2013, S. 110.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

Reklamation von ärztlichen Behandlungsfehlern, usf. Eine solche Ergänzung der rechtskundigen Richter durch sachkundige Laien hat sich international vor allem dann bewährt, wenn sie schon am Anfang einer gerichtlichen Auseinandersetzung steht, wo das Verfahren noch von juristischen Argumenten frei ist.785 Insbesondere können die Laienrichter dann schon bei einer vorbereitenden Beweisaufnahme zu­ gegen sein und durch Fragen helfen, den Sachverhalt nach allen Seiten aufzuklä­ ren. Denn selbst wenn sie am Ende nicht selber (mit)entscheiden, verstärken sie die Sachkunde des Gerichts und machen Sachverständigengutachten entbehrlich.786

(β) Soziale Gerechtigkeit unter den Bedingungen des neuzeitlichen Staates. Außerhalb der Beilegung individuellen Streits ist es Aufgabe eines jeden Sozialstaates, für allgemeine Sicherheit, Ordnung und soziale Wohlfahrt zu sorgen. Während das Problem der staatlichen Sicherheit und Ordnung in letzter Zeit immer mehr internationalisiert worden ist (weshalb ich erst im nächsten Abschnitt darauf eingehen werde), ist das Problem der sozialen Wohlfahrt eine primär nationalstaatliche Aufgabe geblieben. Zwei Fragen stehen bei seiner Lösung im Zenit: Woher bekommt der Staat die nötige Energie, um auf seinem Territorium oder von ihm ausgehend sozialen Wohl­ stand zu generieren? Und: Wie kann er den gewonnenen sozialen Wohlstand im Volk gerecht verteilen? Die Antwort auf die erste Frage, die grundlegend auch für die zweite ist, muss idealerweise ein Verfahren benennen, das mit einem minimalen Einsatz an Arbeitsenergie und einem minimalen Wertver­ lust an Umwelt ein Maximum an sozialem Wohlstand erzeugt. Dazu müssen die Naturwissenschaftler wissenschaftliche Erkenntnisse beisteuern, welche Arbeitsreserven vorhanden sind und unter welchen Randbedingungen ihr Einsatz den besten Erfolg liefert. Hier ist für nähere Ausführungen dazu nicht der Ort. Die Antwort auf die zweite Frage nach der gerechten Vertei­ lung des gewonnenen Wohlstands müssen dagegen Vernunfterkenntnisse liefern:787 Forderungen der natürlichen Vernunft (der ratio naturalis) nach einer Beschränkung des Wohlstandsbegehrens auf das Maß dessen, was die natürliche Umwelt ohne dauernden Wertverlust hergibt (dazu unten αα); Forderungen der utilitären Vernunft (der ratio utilitatis) nach der Aufteilung des gewonnenen Wohlstands zwischen Staat und Bürgerschaft gemäß dem mehr-Nutzen-als-Schaden-Prinzip (dazu unten ββ); und Forderungen der so­ zialen Vernunft (der ratio aequitatis) nach der Verteilung des bürgerlichen Teils am Wohlstand nach dem Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit (dazu unten γγ). Hierauf will ich im Folgenden eingehen, allerdings mit der Ein­ schränkung, dass jedem staatlichen Regime ein Freiraum verbleiben muss, sich volitiv zu entscheiden, wie die unterschiedlichen Anforderungen der Vernunft an die Wohlstandsverteilung zu gewichten sind (dazu unten δδ). 785  M.

Zwickel/R. Montagnon (2013). Zöller/R. Greger (2018), § 402 Rn. 7 ZPO. 787  Vgl. oben K 1 d. 786  R.



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(αα) Die Wohlstandsgewinnung wird durch die ratio naturalis auf der Grundlage erstens des Reichtums an natürlichen Reserven (insbes. Rohstof­ fen) begründet, über die ein Volk verfügt. Sie wird gleichzeitig aber auch begrenzt durch das Bewusstsein von der Endlichkeit dieses Reichtums. Inso­ weit ist in letzter Zeit sichtbar geworden, dass die Begehrlichkeit vieler Völker das Maß dessen, was die Natur ohne dauernden Wertverlust hergibt, weit übersteigt und dass infolgedessen ein Teil des natürlichen Reichtums bereits auf immer verloren ist. Einige der auf der Erde vorkommenden Grundstoffe sind vollständig verbraucht, andere werden der Erde derzeit noch bedenkenlos entzogen, um daraus Produkte herzustellen, die ihren Er­ werbern keinen Wert, sondern nur ihren Produzenten Profit bringen. Die Besinnung auf die Gefahr derartigen Profitstrebens ist inzwischen zwar ge­ wachsen und hat in vielen Staaten zu gegensteuernden Maßnahmen geführt, doch sind bisher gerade große Staaten wie China, die USA und Russland nur Trittbettfahrer dieser Besinnung geblieben.788 Zweitens ist Grundlage des nationalen Wohlstands der Reichtum an menschlicher und tierischer Arbeitskraft, der durch den Einsatz von techni­ schen Geräten und elektrisch betriebenen Maschinen einerseits verstärkt, andrerseits um die zur Erzeugung der technischen Geräte und der Elektrizität benötigten Mittel vermindert wird. Deshalb wird es heute mehr denn je als wichtig angesehen, dass die Mittel zur Elektrizitätserzeugung von der Natur in Form von Wind- und Wasserkraft bereitgestellt werden, ohne dass dadurch an anderer Stelle ein Energieverlust eintritt. (ββ) Für die Organisation der Wohlstandsaufteilung zwischen Staat und Bürgerschaft gemäß der ratio utilitatis ist die bereits im römischen Recht angelegte Differenzierung zwischen öffentlichem und privatem Eigentum zum weltweiten Gerechtigkeitsproblem geworden. Der ursprüngliche, gene­ tisch verfestigte Begriff des ‚Gehörens‘ bezog sich noch ausschließlich auf privat genutzte Gegenstände sowie auf deren private Erzeugung als rechtfer­ tigende Grundlage. Dieser Begriff war unproblematisch, behielt aber nur so lange seine Geltung, wie innerhalb umherziehender Horden lediglich wenige eigene Erzeugnisse mitgeführt werden konnten. Als später die Völker sess­ haft wurden und das Land unter sich aufzuteilen begannen, musste man den Begriff erweitern. Bei einigen Völkern gehörte dann das Land entweder den Göttern, die es geschaffen, oder den Ahnen, die es urbar gemacht hatten ‒ die Familien, die es bearbeiteten, waren lediglich ihre zeitlichen Nutznießer. Bei anderen Völkern gehörte das Land dagegen den Familien, und zwar entweder als Eigentum oder als Besitz aufgrund eines Nutzungsvertrages mit

788  Dazu

schon oben 6 c ε αα a. E.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

einem der big men, der es erworben und umzäunt hatte,789 um es zur Bear­ beitung weiterzugeben ‒ woraus dann aufgrund der unterschiedlichen Größe und Fruchtbarkeit des besessenen Landes sozial das entstand, was J.-J. Rousseau als den Ursprung der (ökonomischen) Ungleichheit unter den Menschen ansah: die bürgerliche Gesellschaft. Inzwischen hat sich in den meisten Territorialstaaten der Neuzeit ein zwi­ schen Eigennutz und Gemeinnutz gespaltener Eigentumsbegriff entwickelt, welcher der – heute vom Landbesitz weitgehend unabhängigen – ökonomi­ schen Ungleichheit der Menschen gegensteuert. Danach gehören, entspre­ chend dem Ursprung des Eigentums, die eigene Arbeit790 und deren Produkte zwar noch ausschließlich ihrem Schöpfer; doch bereits der Ort, wo gearbeitet wird, sowie ein Teil der Sachen, die darauf erarbeitet werden, unterliegen sozialer Bindung bzw. steuerlicher Erfassung durch den Staat.791 In Ausnah­ mefällen hat der Staat auch auf sonstige Teile des Eigentums den direkten Zugriff.792 Und selbst die persönliche Arbeitskraft bleibt von der staatlichen Besteuerung nur so lange verschont, wie sie nicht (mehr oder weniger frei­ willig) zum Lohnerwerb verwendet wird.793

789  J.-J. Rousseau (1755), 2. Teil: „Der erste, der ein Stück Land umzäunte und auf den Einfall kam zu sagen, dies gehört mir, und einfältige Leute antraf, die es ihm glaubten, war der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft.“ 790  Niemand darf gezwungen werden, seinen Lebensunterhalt durch Arbeit zu ver­ dienen; ‚Zwangsarbeit‘ darf nur gerichtlich angeordnet werden (Art. 12 Abs. 2 und 3 GG). 791  In Deutschland: Grundeigentum unterliegt einer regelmäßig zu zahlenden Grundsteuer, Produktionseigentum einer Gewerbesteuer. Die Begründungen für diese Steuern sind freilich unklar. Beide beruhen offenbar auf den Gedanken, dass, wer für die Allgemeinheit etwas leisten kann, auch etwas leisten soll (sogen. Leistungsfähig­ keitsprinzip), und dass die Höhe seiner Leistung durch das sogen. Äquivalenzprinzip bestimmt werden soll, wonach der Nutzen des Staates für den Steuerpflichtigen von diesem durch entsprechende steuerliche Leistungen an den Staat auszugleichen ist. Der spezielle Bezug zur Grundsteuer wird durch die Lage des Grundstücks in einer Gemeinde begründet, deren Grund und Boden genutzt wird (vgl. BVerfGE 120 1, 39 f.) – worin sich wahrscheinlich die uralte Vorstellung vom Gemeindeeigentum Bahn bricht. Der spezielle Bezug zur Gewerbesteuer wird dagegen durch den Schutz begründet, den der Gewerbetreibende in den Grenzen des Staates genießt – auch dies eine uralte Vorstellung, die der Erhebung der Gewerbesteuer schon im Altertum zu­ grunde lag. 792  Begründet wird der direkte Zugriff auf das persönliche Eigentum der Bürger mit dem Charakter des Staates, der nicht nur ein Sozialstaat, sondern zugunsten der Allgemeinheit auch ein Sozialisierungsstaat ist (vgl. Art. 14 Abs. 3 GG). 793  Diese Art der Fürsorge auf der einen und der Sozialisierung auf der anderen Seite führt dazu, dass jeder, der seine Arbeitskraft eingebüßt hat, einen Anspruch auf staatliche Hilfe erhält, wogegen jeder, der seine Arbeitskraft dem Markt und damit auch der Sozialisierung entzieht, keine sozialstaatliche Sicherung zu beanspruchen



K. Entwicklungstendenzen im neuzeitlichen Recht 1003

Dem somit dringenden Erfordernis, einen Ausgleich zwischen der privat­ rechtlichen Zuordnung des Eigentums und dem Zugriffsrecht der öffentlichen Hand herbeizuführen, trägt gegenwärtig das Verfassungsrecht Rechnung (vgl. etwa Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG). Dieses garantiert einerseits jedem Bürger einen Bereich eigenverantwortlicher Daseinsgestaltung und wirtschaftlicher Freiheit zum Eigentumserwerb, andererseits der öffentlichen Hand das Recht zu Eingriffen in das persönliche Eigentum, sofern die Eingriffe für das Ge­ meinwohl erforderlich sind und die Freiheit der individuellen Daseinsgestal­ tung des Eigentümers nicht „unangemessen“ beeinträchtigen. Die entschei­ dende Frage lässt es dabei allerdings offen: Welche Freiheitsbeeinträchtigun­ gen der Lebensgestaltung sind ‚angemessen‘, welche ‚unangemessen‘? Auch die Rechtsprechung überlässt die Antwort der Einzelfallbeurteilung. Wegwei­ send merkt sie immerhin an, dass „dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mit seinen Anforderungen an ein hinreichendes Maß an Rationalität (Eignung und Erforderlichkeit) und an Ausgewogenheit beim Ausgleich zwischen den beteiligten individuellen Belangen und denen der Allgemeinheit“ entschei­ dende Bedeutung zukommen muss.794 Dreierlei soll mithin die Praxis beach­ ten: (1) dass im Bereich des Eigentumsschutzes häufig individuelle und sozi­ ale Belange einander gegenüberstehen, (2) dass zwischen ihnen ein „ausge­ wogener Ausgleich“ hergestellt werden muss, und (3) dass ein „hinreichendes Maß an Rationalität“ bzw. Vernunft (ratio) den Ausgleich leiten soll. Danach liegt es allerdings nahe, dass die zur Herstellung eines „ausgewogenen Aus­ gleichs“ aufgerufenen Juristen sich zunächst an die Verwalter der ratio, an die Sozialphilosophen, wenden und anfragen, welches Maß an Rationalität sie als erforderlich ansehen und ob sie dafür Kriterien zur Verfügung stellen können. Problematisch sei nicht der Ausgleich zwischen den individuellen Belangen und den klassischen der Allgemeinheit: der außenstaatlichen Lan­ desverteidigung sowie der innerstaatlichen Ordnung und Sicherheit, die alle­ mal den Vorrang haben; problematisch sei vielmehr der Ausgleich zwischen den individuellen Belangen und der staatlichen Aufgabe zur Herstellung von sozialer Gerechtigkeit, insbesondere zugunsten von Solidarität in Schadens-, Risiko- und anderen Bedarfsfällen sowie zugunsten der Befreiung von den merkantilen Mechanismen dort, wo ihr Wirken in soziale Ungerechtigkeit einzumünden droht. Ich nehme diese Anfragen im Folgenden auf und referiere die ‒ auf die innerstaat­ liche Wirtschaftsordnung bezogenen ‒ Antworten, die drei der derzeit wohl bekann­ testen Sozialphilosophen, John Rawls, Roland Dworkin und Amartya Sen, mit den Mitteln ihrer Vernunft gegeben haben.

hat. Im Einzelnen sind jedoch die gesetzlichen Regelungen von Staat zu Staat unter­ schiedlich. 794  Zum Ganzen vgl. BVerfGE 115 97, 113.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

• Gemäß der politischen Theorie der „Justice as fairness“ von John Rawls soll über den „ausgewogenen Ausgleich“ zwischen den individuellen und den Belangen der Allgemeinheit ausschließlich aus der Perspektive der Gesellschaftsmitglieder ent­ schieden werden. Diese sollen sich hinter einem „Schleier der Unkenntnis“ („veil of ignorance“) befinden und zwar Kenntnis von der allgemeinen Funktionsweise eines Wirtschaftssystems haben, jedoch weder mit ihren eigenen Eigenschaften noch mit der sozialen und ökonomischen Stellung, die sie darin einnehmen wer­ den, bekannt sein. Rawls behauptet, ihre Antwort zu kennen: Vernünftigerweise würden sie sich für zwei Prinzipien entscheiden, nämlich (a) für das Prinzip des allgemein gleichen Rechts auf immaterielle Grundgüter sowie (b) für ein Diffe­ renzprinzip hinsichtlich materieller Grundgüter, welches soziale Ungleichheiten des Vermögens, Einkommens und des sozialen Status nur dann zulässt, wenn sie „den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen [realisierbaren] Vorteil bringen“.795 Danach sei es die Aufgabe des Staates, Ungleichheiten, die diesem Differenzprinzip widersprechen, durch Umverteilung zu beseitigen. ‒ Kritik: Ich halte schon das von Rawls gewählte Szenarium für ungeeignet, um über die Ver­ mögensverteilung in einem Sozialstaat zu entscheiden, und ich halte deshalb auch jedes Vorauswissen, wie eine gerechte Entscheidung der Gesellschaftsmitglieder lauten müsse, für unmöglich. ‚Menschen ohne Eigenschaften‘, wie Rawls sie für sein Szenarium voraussetzt, können m. E. überhaupt keine Entscheidungen treffen (und hinter einem Vorhang der Unwissenheit schon gar nicht), da alle menschli­ chen Entscheidungen durch die Eigenschaften ihrer Urheber bedingt sind. Wenn Rawls gleichwohl seinen Vernunftmenschen eine Entscheidung zuschreibt, dann muss er ihnen auch die dafür erforderlichen persönlichen Eigenschaften zuschrei­ ben. Und ohne dies kenntlich zu machen, geschieht das auch: Er lässt sie aufgrund ihrer Unkenntnis mit dem Schlimmsten rechnen und lieber alle Lebenschancen ausschlagen, als sich auch nur dem kleinsten Risiko auszusetzen. Vernunftmen­ schen mit einer solchen Eigenschaft kennt die Realität aber so gut wie nicht, und schon gar nicht reihenweise. Trotz aller Vernunft ist der reale Mensch vielmehr zu sehr homo ludens, als dass er Zeit seines Lebens jedem Wagnis aus dem Wege ginge. Und wenn er der Lust am Spiel erliegt und einen Teil seines Kapitals dafür einsetzt, dann wählt er gewöhnlich auch nicht diejenige Lotterie, die ihm mit der größtmöglichen Sicherheit den kleinstmöglichen Gewinn bringt, sondern diejenige, die ihm die Chance auf einen Millionengewinn verspricht − damit er wenigstens einmal in seinem Leben von einem Millionärsdasein träumen darf.796 Ein solcher 795  J. Rawls (1975) geht es zwar primär nicht um die Verteilung von Gütern, son­ dern von Freiheiten, weshalb er im strengen Sinne kein Utilitarist ist. Doch leistet sein Grundsatz „Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System glei­ cher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist“ (S. 81) ohne Zuhilfenahme weiterer Prämissen keine Entscheidungshilfe in prak­ tischen Fällen. Deshalb muss Rawls seine Verteilungsgerechtigkeit letzten Endes doch auf die Güterverteilung konzentrieren, vgl. a. a. O. S. 336. Zum „Schleier der Unkenntnis“ vgl. a. a. O. S. 159 ff. Zur zusätzlichen Voraussetzung der „Vernünftigkeit der Vertragspartner“ vgl. a. a. O. S. 166 ff. Aus neuerer Zeit vgl. ferner J. Rawls (1992), S.  261 ff. 796  Auch sonst bleibt m. E. bei Rawls infolge seiner Absage an den Utilitarismus allzu vieles offen. U. a. ergibt sich für die konkreten Zwischenwerte vom oberen



K. Entwicklungstendenzen im neuzeitlichen Recht 1005 Traum ist für ihn nämlich wichtiger als eine Realität, die alles im Grau in Grau und damit im Chaos, worin niemand etwas Besonderes zueigen hat, verschwim­ men lässt.

• Roland Dworkin kommt dem Problem der Vermögensverteilung durch den Staat m. E. näher, indem er die Diskussion lediglich der „persönlichen Handicaps“ hinter einen Schleier des Nichtwissens verbannt und dafür ein staatliches Versicherungs­ modell empfiehlt, das alle Betroffenen vor den Folgen ihrer „Handicaps“ schützt. Zusätzlich plädiert er dafür, dass man bei der Bewertung von Gütern auch die in­ dividuellen Vorlieben berücksichtigen solle, und schlägt dafür als Gedankenexperi­ ment eine Auktion vor, worin jeder solange mitbietet, bis sein Anteil am Gesamt­ vermögen aufgezehrt ist. ‒ Kritik: In diesem Szenarium bleibt zunächst unklar, über welche persönlichen Eigenschaften die Menschen eigentlich diskutieren und welche davon sie als „Handicaps“ nicht den Marktmechanismen, sondern einer staatlich versicherten (marktexternen) Existenzform unterstellen sollen.797 Ferner: Wann soll ein Handicap vom Staat wie ausgeglichen werden? Stellt sich nicht manche als ‚Handicap‘ versicherte Eigenschaft als entscheidender Vorteil im Leben heraus, z. B. im Krieg, wo extreme Kurzsichtigkeit vielleicht vor einem lebensge­ fährlichen Fronteinsatz schützt? Entsprechendes gilt für das Gedankenexperiment: Wann soll die fiktive Auktion stattfinden, damit sie mehr widerspiegeln kann als einen Augenblicksstatus sowohl im Leben des Einzelnen als auch der Gesellschaft? Und wie soll das Experiment praktisch umgesetzt werden? • Noch ein Stück weiter in die von Dworkin gewiesene Richtung geht der Philosoph und Ökonom Amartya Sen. Zutreffend weist er zunächst darauf hin, dass viele Güter in den Händen unterschiedlicher Personen einen unterschiedlichen Wert be­ sitzen und dass man deshalb bei ihrer Verteilung ihren ökonomischen Wert nicht zum alleinigen Maßstab für Gerechtigkeit machen dürfe.798 Stattdessen plädiert er Rand der Verteilungsskala bis hinab zu dem unteren Grenzwert solange nichts, wie nicht Steuergelder, sondern mit Steuermitteln erworbene Güter gerecht verteilt und zu diesem Zweck mit Wertauszeichnungen versehen werden sollen. Welche Güter eignen sich überhaupt dafür, damit alle von ihnen gleichermaßen profitieren? Wie ist ihr Wert im Verhältnis zueinander anzusetzen? Und welche Institution im Staat soll die Aufgabe der Verteilung übernehmen? Der Disput über die gerechte Verteilung wird dies alles offenbar der „Vernünftigkeit“ der konkret Betroffenen überlassen müssen, die aber keine Kriterien an die Hand bekommen. 797  R. Dworkin (2011, S. 81 ff.) hält diejenige staatliche Verteilung von sozialen Gütern für gerecht, die vorhandene Begabungsmängel kompensiert, sodass jede sozi­ ale Ungleichheit ausschließlich auf ungleiche Chancen zur (Lebens-?)Leistung bei vermutetem gleichem Ehrgeiz zurückgeführt werden muss. Dies zu erkennen, dürfte allerdings an einem Handicap des staatlichen Verteilungsapparats (und anschließend der Gerichte!) scheitern. 798  A. Sen geht von folgendem Beispiel aus (2010, S. 41): Drei Kinder streiten miteinander, welchem von ihnen eine Flöte gehören soll. Das erste Kind kann als einziges Flöte spielen, das zweite ist so arm, dass es sich keine Flöte kaufen kann, und das dritte hat die Flöte selber angefertigt. Der Utilitarist, schreibt Sen, werde die Flöte alsdann dem ersten Kind zusprechen, der ökonomische Egalitarier dem zweiten Kind und der Libertäre dem dritten. Aber es sei offensichtlich, dass keiner die allein überzeugende Lösung des Verteilungsproblems zu bieten vermag. Danach ist eine

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

dafür, die Aufmerksamkeit lieber auf die Chancengleichheit aller zu richten: dass die Menschen mithilfe ihrer wirtschaftlichen Güter ihr persönliches Lebensideal verwirklichen können (equality of capabilities).799 ‒ Kritik: Kann die staatliche Gewähr unumschränkter Chancengleichheit zur Verwirklichung des individuellen (augenblicklichen?) Lebensideals eines jeden wirklich erstrebenswert sein? Muss nicht der Staat zwischen den Lebensidealen differenzieren, die zu erreichen er je­ dem die gleiche Chance eröffnen soll? Oder soll gleichgültig sein, ob ein junger Mann Chef eines Industrieunternehmens oder eines Callgirlrings werden will? Ob einer jungen Frau der Sinn nach dem Augenblicksruhm eines Models oder dem Ansehen einer Ärztin steht? Und bedarf es nicht zusätzlich zu dieser Bewertung auch noch derjenigen, die schon bei Dworkin eine Rolle spielte: inwieweit nämlich jemand begabt ist, das angestrebte Lebensideal auch zu erreichen?

Als Fazit meine ich zu erkennen, dass sich aufgrund von reiner Nutzen­ rationalität bisher keine realitätsnahen Kriterien für eine gerechte Sozialpoli­ tik jenseits der Marktmechanismen haben entwickeln lassen800 und dass man um eine Anknüpfung an eine spezifische ökonomische Realität offenbar nicht herumkommt. Daher fragt es sich, ob man nicht erst von einer solchen öko­ nomischen Realität aus versuchen soll, sozialpolitische Gerechtigkeitsforde­ rungen an das Marktgeschehen heranzutragen? Insofern käme dann vor allem die Forderung an den Staat in Betracht, diejenigen Mängel im Passungsge­ füge zwischen Angebot und Nachfrage am Markt auszugleichen, die er als entweder sozial oder individual ungerecht erkennt. In etwa könnte man fol­ gendermaßen formulieren: •• Jeder Sozialstaat soll gemäß der ratio utilitatis eine der Vollbeschäftigung höchstmöglich nahe kommende Situation am Arbeitsmarkt erstreben so­ wie dafür sorgen, dass möglichst alle arbeitsfähigen und arbeitswilligen differenzierende juristische Lösung, wie etwa § 950 BGB, Art. 14 Abs. I 2 GG sie bereits bieten, die überlegene: dass der Hersteller eines Gegenstandes zwar das Ei­ gentum erwirbt, das Eigentum aber dem Wohl der Allgemeinheit dienen soll. Konkret durchgeführt wird sie von Staaten und privaten Stiftungen, die zwar Eigentümer wert­ voller Musikinstrumente sind, sie aber an hervorragende In­strumentalisten ausleihen, damit diese sie in der Öffentlichkeit vorführen können. Vollkommene Gerechtigkeit erreichen freilich auch sie nicht. Aber nach Sen kommt es darauf auch nicht an; denn für eine vollkommene Gerechtigkeit sei unsere Welt nicht gemacht. 799  A. Sen (2010), S. 258 ff. mit Nachw. 800  Mit Recht haben m. E. die kommunitaristischen Strömungen innerhalb der Phi­ losophie darauf hingewiesen, dass es bei fast allen Fragen der sozialen Gerechtigkeit um materielle und ideelle Güter geht, die die menschliche Gesellschaft produziert, und dass es deshalb auch die Aufgabe der Gesellschaft ist, diese Güter zu bewerten und anschließend die Chancen, sie zu erlangen, gerecht zu verteilen. Hinzuzufügen ist allerdings noch, dass es keine Gesellschaft gibt, deren Bewertungskriterien für mate­ rielle und ideelle Güter mit denen anderer Gesellschaften voll übereinstimmen, und dass folglich jede Gesellschaft auch unterschiedliche Chancen eröffnen muss, wie man die Güter erlangt ‒ und jeder Staat eine unterschiedliche Qual hat, wie er sie verteilen soll.



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Bürger dort einen für sich und ihre Familie ausreichenden Lebensunterhalt verdienen können. •• Der Sozialstaat soll zu diesem Zweck am Arbeitsmarkt ein Passungsgefü­ ge zwischen dem Angebot an Lohnarbeit und der Nachfrage gewährleis­ ten, das es optimal vielen arbeitsfähigen und arbeitswilligen Bürgern ge­ stattet, ihre Bedürfnisse und Interessen zu befriedigen. •• Größere Sozialstaaten sollen ihren Bürgern eine größere Auswahl an Be­ friedigungschancen für ihre Bedürfnisse und Interessen gewähren als kleinere Staaten. Beispiel: Der deutsche Staat muss seinen Bürgern größere Chancen bieten als der luxemburgische Staat, bei hinreichendem Talent Opernsänger zu werden.

Kommt der Staat diesen Geboten nach und mangelt es dennoch an einem alle Wünsche und Fähigkeiten der Bürger abdeckenden Passungsgefüge, fällt die Verantwortung auf die Bürger, sofern sie bei der Wahl ihrer Ausbildung oder ihrem Wunsch nach Erwerbstätigkeit sich nicht zumutbar an die vom Staat gewährten Angebote halten. Dagegen trifft den Staat die Verantwor­ tung, wenn er nicht dafür sorgt, dass alle Bürger den gleichen Zugang zu den von ihm gewährleisteten Chancen des Arbeitsmarktes haben.801 Abgesehen von diesen Fällen hat m. E. die Gesellschaft als zwischen dem einzelnen Bürger und dem Staat vermittelnde Instanz die organisatorische Verantwor­ tung zu tragen; denn die Mängel im Passungsverhältnis sind dann ein inner­ gesellschaftliches Problem, das weder der Staat noch der Einzelne lösen kann, sondern auf dessen Lösung sie allenfalls hinwirken können – aber auch sollen.802 Ich fasse zusammen: Die Organisation der Wohlstandsaufteilung zwischen Staat und Bürgerschaft ist ungerecht, wenn sie zu einem Missverhältnis zwi­ schen den Bedürfnissen und Interessen der Bürger auf der einen Seite und den dafür bestehenden Befriedigungschancen am Arbeitsmarkt auf der ande­ ren Seite führt: wenn entweder der vom Staat gewährleistete soziale Rahmen zu eng ist, um den individuellen Bedürfnissen und Interessen der Bürger gerecht zu werden, oder wenn nicht allen Bürgern die gleichen Chancen zur Selbstverwirklichung geboten werden, obwohl sie ihre Wünsche und Fähig­ keiten in den Rahmen eingepasst haben. Sinn und Aufgabe einer gerechten Sozialpolitik ist es daher, innerhalb eines genügend weiten gesellschaftlichen Rahmens die zur Verfügung stehenden Mittel zur Herstellung und Verteidi801  Dies betrifft beispielsweise den Zugang von Frauen und Angehörige von völki­ schen Minderheiten zum Arbeitsmarkt. 802  Insgesamt ist hierzu ein von M. Gollwitzer u. a. (2013) herausgegebener Sam­ melband schienen. Vgl. dort insbesondere S. Lotz über die „Gerechtigkeit im Sozial­ staat“ (S.  139 ff.).

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

gung von Chancengleichheit am Markt bereitzustellen, damit möglichst viele indivi­duelle Bedürfnisse und Interessen von Bürgern die gleiche Chance zur Verwirklichung haben. Dagegen schadet es der Gerechtigkeit nicht, wenn ein Staat, der die Freiheit seiner Bürger ernst nimmt, ihre Bedürfnisse und Inte­ ressen dem Wettbewerb auf dem ‚Markt des konkurrierenden Miteinanders‘ überlässt und nur dann helfend eingreift, wenn außergewöhnliche Gründe die Bürger hindern, darauf Fuß zu fassen und ihre Persönlichkeit zu entfalten. Wann ein solcher Eingriff erforderlich ist, ist ein Problem der ratio aequitatis, das zusätzlich zu erörtern ist. (γγ) Die Notwendigkeit einer Wohlstandsverteilung innerhalb der Bürger­ schaft gemäß der ratio aequitatis betrifft zum einen den individualen Be­ reich, worin die Vergabe staatlicher Leistungen an die Bürger sich gemäß der‚austeilenden Gerechtigkeit‘ (iustitia distributiva) und der Austausch von Leistungen seitens der Bürger untereinander sich gemäß der ‚ausgleichenden Gerechtigkeit‘ (iustitia commutativa) vollziehen soll. Sie betrifft zum ande­ ren den sozialen Bereich, worin dem Staat u. a. die Aufgabe zufällt, ein Ge­ gengewicht gegen die immer stärkere Stratifikation der Bevölkerung in Arm und Reich zu schaffen (iustitia socialis). Und sie betrifft zum dritten den Bereich regelnder Eingriffe des Staates in das Marktgeschehen, um einen fairen Wettbewerb sicherzustellen (iustitia correctiva). Historisch hatte sich die ratio aequitatis auf der Grundlage von Reziprozität bereits im frühen Altertum als Tugend entwickelt. Platon stellte sie an die Spitze aller Tugen­ den, weil er die Rechtschaffenheit darin erblickte, dass jeder nach seinen Fähigkeiten das Seinige leistet, und es dem Staat obliege, ungleiche Leistungen aufgrund unglei­ cher Fähigkeiten ungleich zu remunerieren.803 Aristoteles verstand Rechtschaffenheit dagegen als eine Tugend, die auch in Bezug auf andere ausgeübt werden kann804, und unterschied dann, ob das Verhältnis, falls quantitativ in Schieflage, numerisch (arith­ metisch) auszugleichen war, oder ob ihm, falls qualitativ unterschieden, proportional unterschiedliche Folgen zuteilwerden sollen ‒ beispielsweise den unterschiedlichen Verdiensten der Bürger um den Staat unterschiedliche staatliche Belohnungen. Ferner differenzierte er das Konzept noch in eine ‚positive‘ und eine ‚negative‘ Reziprozität je nachdem, ob es den Bereich des Guten oder den des Bösen betraf: ob das Recht in seinem Verhältnis zur Pflicht oder das Unrecht in seinem Verhältnis zu Schadenser­ satz und Strafe.805

803  Platon,

Politeia IV 10: 433a (τὸ τὰ αὑτοῦ πράττειν); Nomoi 757c. NE V 3 (1130a): πρὸς ἕτερον γὰρ ἐν κοινωνίᾳ ἤδη ὁ ἄρχον. 805  Aristoteles, NE V 8 ff. Für wenig förderlich halte ich die schwer abgrenzbare Unterscheidung von positiver (generalizated), ausgeglichener (balanced) und negati­ ver (negative) Reziprozität je nachdem, ob sie sich über einen längeren oder kürzeren Zeitraum (z. B. ‚Generationenvertrag‘ oder Handkauf) mit oder ohne persönlichen Kontakt erstreckt. Nachweise dazu bei W. Fikentscher (2016, p. 386 ff.), der seiner­ seits noch weitere Unterscheidungen hinzufügt. 804  Aristoteles,



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Im individualen Bereich verlangt die ratio aequitatis, dass Hilfsleistungen an einzelne Bürger (seitens des Staates auch Subventionen an einzelne Wirt­ schaftsunternehmen) gemäß der Bedürftigkeit (need-rule) vergeben werden. Zu diesem Zweck müssen zuvor die dem Staat zur Verfügung stehenden Mittel und der Bedarf der Bürger nach Hilfen verglichen werden, sodass anschließend eine proportional gerechte Verteilung stattfinden kann.806 Fer­ ner verlangt die ratio aequitatis, dass der Rechtsverkehr der Bürger unterei­ nander vom Reziprozitätsgrundsatz bestimmt wird. Zu diesem Zweck bedarf es regelmäßig eines Marktes, der durch einen Veranstalter bereitgestellt wird und auf dem im Wettbewerb Leistungen angeboten und nachgefragt werden, damit sich für sie ein fairer Preis herausbilden kann. Das Zusammenwirken der hieran beteiligten Kräfte organisiert eine ‚Marktordnung‘. Der sich he­ rausbildende Preis gilt als gerecht (‚leistungsgerecht‘), wenn der Wettbewerb sowohl auf der Anbieter- als auch auf der Nachfragerseite frei ist. Märkte gab es im Altertum für häufig vorkommende Alltagsgeschäfte wie etwa für Lebensmittel und einfache Gebrauchsgegenstände sowie für Dienstleistungen (z. B. Personen- oder Warenbeförderung). In der Neuzeit hat sich diesen Leistungen eine Fülle weiterer hinzugesellt, sodass es Märkte für Waren und Leistungen fast jeder Art gibt. Sofern auf ihnen anfangs noch kein Preisgefüge besteht, erschwert dies aller­ dings die Feststellung der Gerechtigkeit von Leistung und Gegenleistung. Deshalb achten die meisten Veranstalter darauf, dass innerhalb angemessener Zeit ein Wettbe­ werb zustande kommt und nicht die einseitige Überlegenheit eines Warenanbieters den Preis diktiert.

Im sozialen Bereich der persönlichen Dienstleistungen mangelt es häufig an organisierten Märkten für den Leistungsaustausch. Deshalb hat es die ratio aequitatis hier oft schwer, zur Geltung zu kommen. Trotzdem muss sich jeder Mensch auf einen dieser ‚Märkte‘ begeben. Denn zumindest am Ende der Pubertätsperiode muss er den ihm vertrauten privaten Bereich mit einer relativ stabilen Zahl bekannter Sozialpartner verlassen und in den ihm noch unvertrauten öffentlichen Bereich mit einer großen, schnell wechselnden Zahl von Verhandlungspartnern wechseln. Einerseits wird für ihn dort wich­ tig, was er schon in der Jugendzeit gelernt hat, nämlich wann das Reziprozi­ tätsgesetz gilt und wann nicht:807 wann das Gesetz ihn verpflichtet, den Nutzen von Leistungen durch Gegenleistungen zu entgelten, die gemäß der iustitia commutativa ihrem Wert entsprechen,808 und wann gerade das Ge­ dazu und zum Folgenden S. Lotz (2013), S. 140 ff. (1974), S. 120: „Sprach- und institutionengeschichtliche For­ schung hat gezeigt, dass das indoeuropäische Vokabular von schenken und tau­ schen … Mechanismen der Gegenseitigkeit expliziert.“ Reziprozität war, kurz gesagt, von Anfang an Gerechtigkeit des Austausches. 808  Wer den Mechanismus missachtete, der riskierte den Abbruch der bilateralen Beziehung und darüber hinaus soziale Gruppensanktionen; denn Empathie veranlasste die übrigen Gruppenmitglieder, sich mit dem in seiner Erwartung auf Reziprozität 806  Vgl.

807  H. H. Ritter

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

genteil gilt und er keinesfalls eine Gegenleistung erbringen darf, weil der Partner seine Leistung als (ideelle) Gabe gedacht hat.809 Andrerseits wird für ihn dort wichtig, was er erst neu lernen muss: dass in einer Welt mit schnell wechselnden unpersönlichen Kontakten grundsätzlich eine kurzfristige (und deshalb empathielose)810 Kosten-Nutzen-Analyse den Umgang bestimmt, ei­ genes positives Verhalten also nur einzusetzen ist, wenn eine entsprechend positive Reaktion des Verhandlungspartners und somit mittelbar ein eigener Nutzen erzielt werden soll. Allerdings birgt der Lernerfolg die Gefahr, dass er ‚Wie du mir, so ich dir‘ (‚tit for tat‘)811 als Grundregel für schlechthin alle sozialen Beziehungen – auch für auf Dauer angelegte Geschäftsbeziehun­ gen  ‒ gebraucht und dass er überdies ‚Eine Hand wäscht die andere‘ in sie mit einbezieht. Doch das wäre fatal; denn Kumpanei auf Kosten anderer vergiftet die soziale Atmosphäre. Arbeiten auf dem Dienstleistungsmarkt mehrere Personen an einer Auf­ gabe zusammen, wird für die Verteilung ihres Arbeitsertrags gewöhnlich die Gleichheitsregel (equality-rule) als gerecht angesehen (iustitia distributiva). Wurde allerdings eine möglichst hoher Arbeitsertrag angezielt und soll auch weiterhin der Eifer der Mitarbeiter angespornt werden, kann ein Leistungs­ lohn gemäß der Input-Output-Relation (equity-rule) die Gleichverteilung verdrängen. Steht umgekehrt das Wohl der Mitarbeiter nebst der Fürsorge für die schwächeren unter ihnen im Mittelpunkt und tritt die Bedeutung des Ar­ beitsertrags dahinter zurück, wird oft nicht nur die Beschäftigung nach der Befähigung, sondern auch die Vergütung nach der Bedürftigkeit (need-rule) gestaffelt sein.812 Doch können unterschiedlich vorhandene Ressourcen und Arbeitsziele auch zu anderen Ergebnissen führen. Damit ist bereits die Weiche in Richtung auf die umverteilende Sozialpolitik gestellt. Sie nimmt sich, sofern sie auf eine möglichst weite Resonanz stoßen will, zweckmäßig der Begrenzungen am oberen und am unteren Rand Verletzten zu solidarisieren und ihm bei der Sanktionierung seiner Erwartungsenttäu­ schung beizustehen. Vgl. dazu J. Hammer/H. Keller (1997), S. 159 ff., 160: „Als er­ füllende Instanz wird dabei das Gewissen betrachtet. … Richard Alexander (1987) spricht in diesem Zusammenhang vom Gewissen als dem ‚inneren Polizisten‘, wel­ cher das Individuum davor bewahrt, in seinem Egoismus so weit zu gehen, dass es ihm im Endeffekt schaden würde.“ 809  Wer diesen Mechanismus missachtete, verstieß ebenfalls gegen eine Erwar­ tungshaltung; denn Leistungen etwa von Höherrangigen an Niederrangige (oder von Älteren an Jüngere) hatten oft eine andere soziale Funktion als Leistungen von Nie­ derrangigen an Höherrangige, und dieser Unterschied durfte nicht missachtet werden, weil andernfalls Unwillen entstand. 810  Dazu R. Cohen (1972), p. 44 ff. 811  R. Axelrod (1988), S. 98 ff. 812  M. Deutsch (1975).



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der Vermögensverteilung an und versucht, durch Umverteilung von oben nach unten gemäß der Bedürftigkeit (need-rule) eine Gegenbewegung gegen die sich ständig weiter öffnende Schere zwischen den Reichsten und den Ärmsten innerhalb einer Sozietät zu erzeugen. Dass die Schere sich ständig weiter öffnet, ist in einer prosperierenden Volkswirtschaft unvermeidlich, fällt doch bei gleichem prozentualem Anteil am gesellschaftlich produzierten Gewinn mit mathematischer Sicherheit für die Reichen in absoluten Zahlen mehr ab als für die Armen. Und da somit der Milliardär, dessen Vermögen im Jahr um 5 % steigt, mehr gewinnt als der Arme, der den gleichen prozen­ tualen Zuwachs erhält, wird eine höhere Besteuerung des Vermögensgewinns der Reichen im Verhältnis zu dem der Armen i. d. R. als sozial gerecht ange­ sehen. Im Rahmen einer iustitia socialis ist alsdann lediglich strittig, ob die höhere Besteuerung am Vermögen der Reichen oder am Gewinn oder an beidem anzusetzen hat.813 Im Bereich der ausgleichenden Sozialpolitik ist gegenüber früher eine Ver­ änderung eingetreten, weil der Austausch zwischen den Anbietern und den Verbrauchern von Produkten fast ausschließlich über Händler verläuft und der Staat infolgedessen in der Lage ist, ausgleichende Normen sowohl für den allgemeinen Handelsverkehr als auch für spezielle Handelsmärkte zu erlassen. Dadurch kann er nicht nur gegen extreme Preisausschläge, sondern auch gegen die Überteuerung knapper, aber allgemein benötigter Waren und Leistungen vorgehen. So kann er z. B. auf den Märkten für Mietwohnungen und für Lohnarbeit in das Marktgeschehen eingreifen und dadurch Unbe­ haustheit und Arbeitslosigkeit bekämpfen. Er kann darüber hinaus reziproke Angemessenheit für abhängige Arbeit durch einen Mindestlohn und für die Nutzung kleiner Wohnungen durch einen Höchstmietpreis (oder durch eine Mietpreisbremse) erzwingen. Im Bereich der Versorgung kann er ferner so­ wohl den Zugang zu elementaren Lebensgütern (z. B. Wasser und Elektrizi­ tät) als auch zu Leistungen des gehobenen Lebensbedarfs (z. B. zu Schwimm­ bädern, Museen und Bibliotheken) durch eigene Institutionen sichern oder bereichern. Und für allgemein wichtige soziale Leistungen kann er die pro­ portionale Gerechtigkeit durch die Beschränkung auf Nutzungsgebühren er­ reichen, die lediglich den Kostenaufwand ausgleichen: so beispielsweise für den öffentlichen Nahverkehr, für den Betrieb von Forschungs- und Lehran­

813  Eine ‚reine‘ Vermögenssteuer ist ebenso ungerecht wie eine reine ‚Einkom­ menssteuer‘, da mit Notwendigkeit weder ein hohes Einkommen das Vermögen stark vermehrt noch eine starke Vermögensvermehrung ein hohes Einkommen zur Grund­ lage haben muss. Der wohl richtige Ansatz sowohl beim Einkommen als auch beim Vermögen (z. B. Senkung der Einkommenssteuer bei gleichzeitiger Erhöhung der Vermögenssteuer) ist allerdings sowohl mathematisch als auch finanzpolitisch nur schwer zu bewältigen.

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Teil IV: Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht

stalten und für Angebote zur Sicherung des öffentlichen Informationsinteres­ ses durch Nachrichten. (δδ) Toleranz und Billigkeit gemäß der ratio voluntatis. Dem Konzept allgemeiner Reziprozität steht – wahrscheinlich von jeher, bewusst aber erst seit neuerer Zeit – das volitive Konzept der Toleranz gegenüber. Ursprüng­ lich vor allem auf den religiösen Glauben bezogen, erlangte das Konzept überall dort Bedeutung, wo außerhalb des naturwissenschaftlichen Bereichs Meinungen die Stelle von Erkenntnissen vertreten. Im Rechtsbereich legiti­ miert es Abweichungen von der reziproken Gleichheit zwischen Leistungsan­ spruch und -schuld, wenn keine mathematisch exakten Geldsummen einander gegenüberstehen; im Unrechtsbereich legitimiert es Abweichungen zwischen Rechtsverletzungen und ihrer Wiedergutmachung, wenn, wie üblich, der alte Zustand nicht exakt wiederhergestellt werden kann; und generell legitimiert es die Geltung voneinander abweichenden (Rechts-)Meinungen, wenn alle zu ‚vertretbaren‘ Ergebnissen führen. Beispiele: 1. Es gibt keine eindeutig ‚richtige‘ gesetzgeberische Entscheidung, welche Konzernbildungen erlaubt, welche verhindert werden sollen. − 2. Es gibt keine eindeutig ‚richtige‘ Auslegung der strafgesetzlichen Norm über den Versuch, wenn ein flüchtender Täter mit dolus alternativus seine letzte Kugel auf einen menschlichen Verfolger und den ihn begleitenden Hund abfeuert, um einen von ihnen zu treffen, jedoch beide verfehlt.814 − 3. Besonders umstritten, aber umso mehr die Toleranz von Meinungen herausfordernd, ist die Stellungnahme zum Problem der Strafe für einen Mord. Die deutsche Verfassung verbietet die Todesstrafe; auch sonst ist sie in Europa weitgehend abgeschafft, in der übrigen Welt vielfach geächtet. Da­ gegen darf sie in der Mehrzahl der außereuropäischen Staaten auch heute noch ver­ hängt und meistens auch noch vollstreckt werden. Als Gründe für ihre Ächtung wer­ den zumeist Forderungen der Humanität und der Menschenwürde genannt. Beide Forderungen bedürfen jedoch eher einer rationalen Begründung, als dass sie diese liefern. Richtig mag zwar sein, dass die Todesstrafe letzthin keine abschreckende Wirkung auf potentielle Täter entfaltet; doch würde dieses Argument die Abschaffung der Todesstrafe nur dann begründen, wenn die Abschreckung anderer ihre einzige Funktion wäre. Vom reinen Nutzenstandpunkt kann die Hinrichtung eines für schul­ dig befundenen Mörders dagegen befürwortet werden, wenn seine Organe für Trans­ plantationen gebraucht werden, um menschliches Leben zu retten. Auch moralisch kann dann der Mörder selbst es als richtig empfinden, dass seine Tat, die (mindestens) ein Menschenleben ausgelöscht hat, durch die Rettung (mindestens) eines Menschen­ lebens gesühnt wird. Das Problem der Todesstrafe ist also komplizierter, als es allge­ mein dargestellt wird. Allein von einer utilitaristischen Moralphilosophie aus kann es allerdings nicht gelöst werden. 814  Beispiel: Ein Wilderer wird vom Förster und seinem Hund verfolgt. Er schießt seine letzte Kugel auf die Verfolger, um entweder den Förster oder den Hund zu tö­ ten. Ich habe dieses Beispiel vor über sechzig Jahren gebildet (vgl. E.-J. Lampe, 1958); über die Vielzahl der inzwischen vertretenen und großenteils ‚vertretbaren‘ Meinungen informiert u. a. W. Beulke (2018), § 7 II 4.



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Lediglich ein herausgehobener Spezialfall der Toleranz ist m. E. die seit Alters bestehende Forderung nach Billigkeit. Sie billigt einerseits das Abwei­ chen von der geraden Linie der Reziprozität, setzt der Abweichung anderer­ seits aber eine Grenze, wo die von der Reziprozität gewährleistete Linie un­ sichtbar zu werden droht. Billigkeit verlangt mithin, dass die streng reziproke Gerechtigkeit dort zu weichen hat, wo eine andere als die mathematisch exakt ausgleichende Rechtsfolge zu einer ‚tieferen‘ Befriedigung im Rechtsbe­ wusstsein führt und der Mensch als sittliche Persönlichkeit das Verlassen des abstrakten Rechtsstandpunkts höher stellt als dessen Behauptung. Wann das der Fall ist, ist freilich schwierig zu entscheiden und verlangt neben detail­ lierter Kenntnis der dafür in Betracht kommenden Sachverhalte ein hohes Maß an innerer Entscheidungssouveränität. (γ) Globale Gerechtigkeit unter den Bedingungen neuzeitlicher Staaten. Die politische Entwicklung in der Neuzeit ist durch eine Verminderung der Zahl der Staaten und vice versa durch das Entstehen großer und mächtiger Staaten geprägt. So schrumpfte die Zahl allein der europäischen Staaten von mehr als 500 im 16. Jh. – davon fast die Hälfte auf der italischen Halbinsel – auf heute etwa ein Zehntel; dagegen wuchsen sowohl die militärische Macht als auch die wirtschaftliche Stärke einzelner europäischer Staaten so weit an, dass ihre gegeneinander geführten Kriege im 20. Jh. als ‚Weltkriege‘ in die Geschichte eingehen konnten. Heute laufen vereinheitlichende Bestrebungen überwiegend darauf hin, eine globale Wirtschaftsordnung, eine militärische Weltmacht und ein alle Staaten umfassendes System der Freiheit, der Sicher­ heit und des Rechts zu schaffen. Zusammengefasst werden diese Bestrebun­ gen im Begriff ‚globalization‘, der zwar nicht die Überwindung, wohl aber den allmählichen Bedeutungsverlust nationalstaatlicher Souveränität ein­ schließt und das internationale Zusammenwachsen nationalstaatlicher Funk­ tionen zu einem die öffentliche Diskussion beherrschenden Dauerthema ge­ macht hat. Dass staatliche Funktionen bereits zusammengewachsen sind, schlägt sich in der großen Zahl bereits bestehender internationaler Institutionen nieder. Besonders groß ist der Anteil an Institutionen, die staatliche und nicht-staat­ liche Aufgaben vereinigen – man vermutet derzeit ihre Zahl als weit über zehntausend.815 Die verbleibende Zahl rein staatlicher Organisationen wird dann mit ziemlicher Sicherheit noch übertroffen von der Zahl rein privater Organisationen; doch ist die getrennte Zählung schwierig, weil viele Akteure sich weder der staatlichen noch der privaten Sphäre exakt zuordnen lassen. Dass insgesamt eine evolutionäre Bewegung am Werke ist, davon zeugt zu­ sätzlich die steigende Flut von internationalen Konferenzen, die von durch­ schnittlich 510 in den Jahren 1958 bis 1982 auf 4.727 im Zeitraum von 1983 815  Quelle:

wikipedia.org/wiki/Globalisierung#Internationale_Organisationen.

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bis 2007 und auf 4.820 allein im Jahre 2013 angestiegen ist.816 Allein diese Zahlen belegen, dass nur die großen und mächtigen Staaten fast überall dabei sein können und dass folglich allein sie einen bestimmenden Einfluss auf die Arbeit der meisten internationalen Institutionen und auf die Ergebnisse der meisten internationalen Konferenzen ausüben. So ist denn auch einer der Haupteinwände gegen die Globalisierung, dass sie den ohnehin großen und mächtigen Staaten noch mehr Einfluss auf der Weltbühne verschaffe und das Gefälle zu den kleinen Staaten noch mehr vertiefe. Schon allein aus diesem Grunde ist das Problem der Gerechtigkeit auch dort allgegenwärtig, wo seine Lösung weder im Zentrum der Arbeit internationaler Institutionen noch auf der Agenda internationaler Konferenzen steht. Vorliegend stellen sich im Hinblick auf die globale Rechtsentwicklung zwei Fragen: (1) Inwieweit müssen die innerstaatlichen Determinanten der Gerechtigkeit durch Determinanten aus einer internationalen Gerechtigkeit ergänzt werden? (2) Inwieweit spielen diese Determinanten auch für die Ent­ wicklung der internationalen Beziehungen eine Rolle?817 Berechtigen sie zum Beispiel (oder verpflichten sie sogar) einzelne Staaten bzw. einzelne internationale Organisationen, unter Missachtung der äußeren Souveränität und der inneren domaine réservé anderer Staaten (a) Menschenrechtsverlet­ zungen und andere schwerste Verbrechen zu unterbinden sowie (b) höchste kulturelle Werte der Weltgemeinschaft vor dem drohenden Verfall zu bewah­ ren?818 (αα) Die Bedeutung der ersten Frage nach einer Erweiterung der nationalen Souveränität durch Determinanten einer internationalen Gerechtigkeit sei nur kurz an zwei Problemen verdeutlicht: Sollen sich inländische Rechte und Pflichten auch auf ausländische Bürger erstrecken, wenn sie eingewan­ dert sind um zu bleiben? Und: Sollen die Rechte inländischer Bürger vom Heimatstaat auch dann geschützt werden, wenn sie sich im Ausland aufhal­ ten? Das erste Problem hat angesichts der weitgehenden Freizügigkeit der Weltgesellschaft und der infolgedessen vermehrten Migration von Bürgern insbesondere aus ärmeren Ländern in reiche viel an Bedeutung gewonnen. Gelöst wird es heute unterschiedlich: Strafrechtlich werden Ausländer grund­ sätzlich gleich Inländern behandelt, wenn sie entweder Straftaten begehen oder Opfer von Straftaten werden (vgl. § 3 StGB). Verwaltungsrechtlich da­ gegen können Inländer und Ausländer ungleich behandelt werden; denn ge­ genüber den Verwaltungsbehörden eines Staates haben Ausländer nur dann 816  Quelle:

Bundeszentrale für politische Bildung. A. Bleckmann (1995), S. 696 f.; M. Nettesheim (2002), S. 570. 818  D.-E. Khan/A. Paulus (1998), S. 230. 817  Dazu



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einen Anspruch auf Gleichbehandlung, wenn ihre unterschiedliche Behand­ lung diskriminierend wirkt.819 Zumindest hat sich diese Differenzierung für ausländische Wirtschaftsunternehmen weltweit durchgesetzt; für natürliche Personen liegt sie jedoch ebenfalls nahe (vgl. in diesem Sinne Art. 26 IPbpR, ferner für Europa auch Art. 14 EMRK, Art. 18 AEU, für Deutschland auch Art. 3 Abs. 3 GG).820 Das zweite Problem hängt eng mit dem ersten zusammen, hat aber je nach Materie unterschiedliche Lösungen zur Folge: Strafrechtlich haben Bürger grundsätzlich keinen Schutzanspruch ihres Heimatlandes, wenn sie Taten begehen, die entweder gleichermaßen im Inland wie im Ausland mit Strafe bedroht sind (in diesem Sinne § 7 Abs. 1 StGB) oder international geschützte Rechtsgüter (in diesem Sinne § 6 StGB) oder Rechtsgüter der Menschheit verletzen. Vor strafrechtlicher Verfolgung für Taten, die nur im Ausland straf­ bar sind, werden sie dagegen geschützt, soweit internationale Abkommen bestehen (so etwa Art. 5 Abs. 1 lit. c UN-Anti-Folterabkommen). Verwal­ tungs- bzw. wirtschaftsrechtlich821 unterliegen alle Bürger (Inländer wie Ausländer) dagegen dem Recht des Staates, in dem sie sich aufhalten (Terri­ torialprinzip). Verliehene Rechte (etwa gewerbliche Schutzrechte und Urhe­ berrechte) können sie allerdings nur in dem Staat in Anspruch nehmen, der sie ihnen verliehen hat (Herkunftsprinzip),822 andere Rechte nur dort, wo ihre Folgen sich auswirken.823 Und steuerrechtlich hat den ersten Zugriff auf ein Steuersubstrat derjenige Staat, der die Erwirtschaftung der Steuerquelle durch Bereitstellung seiner Infrastruktur ermöglicht hat (Quellen- bzw. Territorial­ prinzip). 116 96 ff., 129 f. oben Fn. 83. Ferner BVerfGE 51 1 ff., 28 ff.; 90 27 ff., 37; 129 78 ff., 97 f.; 130 240 ff. 255; EuGH in NvwZ 2009 379; DVBl 2011 887. Auf den systematischen Charakter des Diskriminierungsverbots nimmt das Bundesverfassungsgerichts Bezug, wenn es (in BVerfGE 131 239 ff., 256) darauf abstellt, ob im konkreten Fall „eine … Ungleichbehandlung zur Diskriminierung einer Minderheit führt“. Als unzulässiges Differenzierungsmerkmal wird in Art. 3 Abs. 3 GG die Staatsangehörigkeit allerdings nicht genannt. 821  Vgl. dazu Th. Enders (2016). 822  So kann ein Erfinder den ihm erteilten Patentschutz nur in dem Staat in An­ spruch nehmen, der ihm das Patent erteilt hat. Will er auch im Ausland Schutz genie­ ßen, muss er das Patent auch dort beantragen. Aufgrund des Verbots von Ausländer­ diskriminierungen ist ihm ein solcher Antrag allerdings auch dann zu erlauben, wenn das Patentrecht einen Patentschutz nur für Inländer vorsieht (vgl. Art. 2 Abs. 1 der Pariser Verbandsübereinkunft). 823  So wirkt eine Wettbewerbsabsprache sich in allen Ländern aus, wo ein Wettbe­ werb zwischen den an der Absprache beteiligten Unternehmen stattfindet, ein Wettbe­ werb zwischen zwei US-amerikanischen Unternehmen also auch in Deutschland, so­ dass das in Deutschland geltende Verbot einer solchen Absprache auch dann wirksam ist, wenn die Absprache in den USA vereinbart wurde. 819  BVerfGE 820  Vgl.

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(ββ) Ausführlicher möchte ich zur zweiten Frage nach der Begrenzung der staatlichen Souveränität durch internationale Gerechtigkeit Stellung bezie­ hen: Verschließt die Achtung staatlicher Souveränität den Blick auf alles, was im Innern eines fremden Staates vor sich geht? Oder sind beispielsweise materielle Not einer Bevölkerung oder die Verletzungen ihrer Menschen­ rechte so beachtliche Angelegenheiten, dass sie Eingriffe in einen fremden Souveränitätsbereich gestatten? Zum Problem, ob und wieweit die Verletzung von Menschenrechten Ein­ griffe in den Souveränitätsbereich eines fremden Staates erlaubt, habe ich mich bereits oben 5 b ε ausführlich geäußert und festgestellt, dass die juris­ tische Situation hier zwar noch unbefriedigend ist, die Praxis aber sich um die juristischen Grenzen einer i. d. R. nicht erbetenen Hilfe nicht sonderlich schert, sondern eingreift, sobald schwerstes Unrecht ruchbar wird und von der betroffenen Staatsmacht kein schützendes Eingreifen zu erwarten ist. Ergänzend eingehen muss ich auf das Problem, ob und wieweit auch materielle Not einer Bevölkerung hilfswilligen Staaten die Verletzung der Sou­ veränität eines Staates erlaubt. Schon die genaue Darstellung des Problems ist kompliziert, weil materielle Not drei Gründe haben kann: die Ausbeutung des vorhandenen Reichtums durch fremde Mächte; die Ausbeutung des vor­ handenen Reichtums durch eine korrupte Herrscherclique; das Fehlen jegli­ chen Reichtums entweder von Natur aus oder infolge einer plötzlichen Kata­ strophe. Die Lösung des Problems ist allerdings noch komplizierter, weil die Hilfe erforderlich werden kann entweder im Rahmen einer prosperierenden Entwicklung der Weltwirtschaft oder eines eher depressiven Abschnitts. Hinsichtlich des ersten Grundes, der ausbeuterischen Kolonialisierung, ist heute anerkannt, dass ebenso, wie die nationale Gerechtigkeit den Schutz der schwachen vor den starken Mitbürgern,824 die internationale Gerechtigkeit den Schutz der schwachen vor den starken Staaten erheischt. Erstaunlich ist lediglich, dass diese Erkenntnis lange hat auf sich warten lassen. Denn noch am Beginn der Neuzeit (also Anfang des 16. Jh.s) hatten einige der star­ ken Staaten Europas (Spanien, Portugal, England, Frankreich und die Niederlande) keine Bedenken, große Teile der Erde zu kolonialisieren und den dort lebenden schwachen Völkern u. a. ihre Kultur- und Bodenschätze wegzunehmen. Dieser Ab­ schnitt der Geschichte lief erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (also Mitte des 20. Jh.s) aus. Er wurde abgelöst durch eine umfassende Dekolonialisierungsbe­ wegung, welche die Bindung der Kolonien an die Kolonialmächte zwar nicht besei­ tigte, wohl aber grundlegend umgestaltete. 824  Die „Witwen und Waisen“ werden öfters erwähnt. So rühmt z. B. König Uru­ kagina von Lagaš, dass aufgrund seiner Gesetzgebung „die Mächtigen künftig nicht länger Witwen und Waisen gegenüber ungerecht sein können“, und Hammurapi nennt als ein Motiv seiner Gesetzgebung, „die Witwen und Waisen zu schützen und zu verhindern, dass der Starke den Schwachen unterdrückt“.



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Heute sehen sich die ehemaligen Kolonialmächte eher als Schutzmächte ihrer früheren Kolonien an. Außer Landes gebrachte Kulturschätze werden allmählich (wenngleich zögerlich) zurückgegeben, sofern ihr Erhalt auch am Ort der Wegnahme gesichert ist.825 Eine Entschädigung für die unentgeltlich weggenommenen Bodenschätze wird dagegen allgemein (weil zu teuer) ver­ weigert. Den zweiten Grund für die Not eines Volkes, die Korruption der eigenen Herrscher, sieht man heute zwar als eine innerstaatliche Angelegenheit an, welche die ungefragte Einmischung fremder Staaten nicht erlaubt. Doch steht die Staatengemeinschaft bereit, den betroffenen Völkern bei deren eige­ ner Korruptionsbekämpfung zu helfen. Zu diesem Zweck wurde 2003 auf völkerrechtlicher Ebene eine Konvention gegen Korruption (United Nations Convention against Corruption, UNCAC) verabschiedet, die 2005 in Kraft trat und bis Dezember 2015 von 178 Staaten sowie der Europäi­ schen Union ratifiziert wurde.826 In ihr haben sich die ratifizierenden Staaten ver­ pflichtet, die Korruption in allen ihren Ausprägungen strafrechtlich zu bekämpfen sowie international bei der Ermittlung und Rückführung illegal erworbener Vermö­ genswerte zusammenzuarbeiten und Personen auszuliefern, die sich der Korruption schuldig gemacht haben. Ferner haben die 34 Mitgliedsstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sowie sieben weitere Län­ der ein Übereinkommen zur Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr (Convention on combating bribery of foreign public officials in international business transactions) ratifiziert, das es ihnen ermög­ licht, die Bestechung ausländischer Amtsträger als Inlandstat zu verfolgen und da­ durch die Korruption im globalen Kontext zu bekämpfen.

Die praktischen Erfolge der Korruptionsbekämpfung lassen dennoch zu wünschen übrig, zumal sich die Korruption teilweise bis in die Behörden, die sie an sich bekämpfen sollen, fortsetzt. In vielen Ländern mit einem hohen Armutsanteil müssen deshalb auch heute noch arme Haushalte durchschnitt­ lich mehr als 10 % ihres Einkommens für die Bestechung von Amtsträgern ausgeben, während der Prozentsatz der reichen Haushalte zwischen 4 und 6 % liegt.827 Soweit schließlich die materielle Not einer Bevölkerung Folge einer Um­ welt ist, die ihr überdurchschnittlich harte Lebens- und Entwicklungsbedindazu B. Savoy (2018). Konvention stellt eine umfassende Antwort auf das globale Problem dar. Sie betrifft alle Arten von Korruption und regelt u. a. die internationale Zusammenar­ beit (technische Unterstützung und Informationsaustausch) bei ihrer Bekämpfung so­ wie die Rückgewähr von Vermögensgegenständen an ihre rechtmäßigen Eigentümer, insbesondere auch Staaten, denen sie rechtswidrig entzogen wurden. 827  Die Weltbank zitiert hierfür Paraguay und Sierra Leone (www.worldbank.org/ en/topic/governance/brief/anti-corruption). 825  Vgl. 826  Die

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gungen auferlegt, ist das helfende Eingreifen fremder Staaten bis heute rechtlich ungeregelt geblieben, dennoch angesichts sich neuerdings häufender örtlicher Naturkatastrophen höchst brisant. Was zunächst die Verpflichtung zum Eingreifen anbelangt, ist unstrittig, dass ausländische materielle Not der inländischen nicht gleichgestellt werden kann. Denn ein inländisches Hilfs­ gebot entspringt teils aus der natürlichen Solidarität der Staatsbürger mit­ einander, teils aus ihrer Loyalität mit dem Staat. Dafür fehlt es im internati­ onalen Bereich an entsprechenden Pendants. Deshalb wird, wenn überhaupt, allenfalls eine moralische Verpflichtung (insbesondere, aber nicht nur) der reichen Industriestaaten bejaht, arme Staaten (Entwicklungsländer) in speziel­ len Notsitationen (lange Trockenheit, vulkanische Aktivitäten, Überschwem­ mungen u.dgl.) wirtschaftlich zu unterstützen. Als verstärkender Ansatz für eine moralische Verpflichtung bietet sich die ehemals entschädigungslose Ausbeutung der natürlichen Bodenschätze einiger Völker an. Doch verschafft dieser Ansatz eben nur diesen Völkern einen moralischen Anspruch auf ausgleichende Gerechtigkeit. Die übrigen Völker können lediglich vom weltweit anerkannten Recht auf ein menschenwürdiges Dasein und daraus folgenden Ver­ pflichtungen zu mitmenschlicher Hilfe profitieren; doch ist der Umfang der daraus folgenden (allenfalls moralischen) Pflichten vage. Eher erzeugt ein die Staaten nicht nur gegeneinander abgrenzendes, sondern auch miteinander verbindendes Völkerrecht eine Verpflichtung zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit, woraus dann auch eine (freilich wiederum nur moralische) Verpflichtung zum Transfer wirtschaftlicher Leis­ tungen oder technischen Know-Hows folgt.

Selbst wenn man eine moralische Pflicht fremder Staaten oder gar der Weltgemeinschaft zur wirtschaftlichen Hilfe an arme Staaten bejaht, muss ihr Ausmaß doch wesentlich von der Entwicklung der Weltwirtschaft abhängig sein. Seit Jahren steht deshalb die Tätigkeit der Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO) in der Kritik. Sie habe in ihrer Präambel zwar anerkannt, „dass es positiver Bemühungen bedarf, um den Entwick­ lungsländern, insbesondere den am wenigsten entwickelten unter ihnen, ei­ nen den Erfordernissen ihrer wirtschaftlichen Entwicklung entsprechenden Anteil am Wachstum des internationalen Handels zu sichern“828, gleichwohl habe sie ihre Politik allein auf die Belange der reichen Länder ausgerichtet und dadurch die Ungleichheiten in der Welt noch verstärkt, statt sie auszu­ 828  „… that there is a need for positive efforts designed to ensure that developing countries, and especially the least developed among them, secure a share in the growth of international trade commensurate with the needs of their economic devel­ opment“. Diese die Pareto-optimale Verteilungsstruktur einschränkende Gerechtig­ keitsforderung ist selbst bei J. Rawls (1993, p. 75 f.) auf Skepsis gestoßen, weil nach seiner Meinung die internationale Gemeinschaft nicht fähig sei, Grundsätze gerechter Distribution zu entwickeln. Dennoch haben sich in vielen internationalen Überein­ kommen Sonderregelungen für Entwicklungsländer durchgesetzt (vgl. etwa oben Fn. 523).



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gleichen. Ferner habe sie generell wirtschaftspolitische Belange über Interes­ sen an einer intakten Umwelt gestellt, was ebenfalls die armen Länder härter treffe als die reichen. Diese Vorwürfe sind indes nur teilweise berechtigt.829 •• Richtig ist, dass die Entscheidungen der WTO häufig vom Druck der mächtigen Staaten beeinflusst wurden: etwa beim Arbeitsschutz und ande­ ren sozialpolitischen Fragen. Einschränkend ist dazu jedoch zu bemerken, dass mitursächlich für den Einfluss der mächtigen Staaten der Abstim­ mungsmodus innerhalb der WTO ist, der nicht, wie in Demokratien üb­ lich, Stimmenmehrheit genügen lässt, sondern die volle Übereinstimmung aller Mitglieder erfordert – weshalb bereits eine einzige abweichende Stimme eine Entscheidung verhindern kann. Wenn davon vor allem die mächtigen Staaten Gebrauch gemacht haben, dann deshalb, weil viele Entscheidungen sie am stärksten getroffen hätten. Richtig ist auch, dass Umweltschutzmaßnahmen von der WTO häufig vor allem als Handels­ hemmnisse eingestuft worden sind: so etwa die Maßnahmen zur Reinhal­ tung der Luft, zum Tierschutz und zur Beschränkung der Gentechnik. Davon sind, auch das ist richtig, einige der armen Länder besonders stark betroffen worden; teilweise haben sie aber einen finanziellen Ausgleich erhalten. •• Unrichtig ist dagegen, dass die Armut und Not einiger Entwicklungslän­ der Folgen einer Weltökonomie sind, für die die WTO die politische Ver­ antwortung trägt. Vielmehr hat sich erstens die Lebenserwartung der Menschen in den ärmsten Ländern genau so erhöht wie in den reichen Ländern;830 zweitens hat die Zahl der hungernden Menschen weltweit abgenommen, obwohl die Weltpopulation angestiegen ist;831 und drittens hat sich, wie der von den Vereinten Nationen aufgestellte Entwicklungs­ index (Human Delopment Index, HDI) bescheinigt, auch der Entwick­ lungsstand der armen Länder ständig erhöht.832 Folgenden P. Singer (2004), S. 51 ff. nahm die durchschnittliche Lebenserwartung in der Welt von 1950–2015 um 24 % zu, in Deutschland allerdings nur am 13 % und in Schweden um 10 %, in Somalia dagegen um 20 % und in Nigeria um 18 %. In absoluten Zahlen lag die Le­ benserwartung in den armen Ländern freilich durchschnittlich immer noch niedriger als in den reichen Ländern; doch ist dies auf die dort noch immer weitaus höhere Kindersterblichkeit zurückzuführen. 831  Nach den Angaben der Welthungerhilfe hat die Zahl der als unterernährt gel­ tenden Menschen seit 1990 kontinuierlich abgenommen – bis 2014 insgesamt um 39 %. Heute liegt die Zahl bei weniger als 10 %. 832  Aus dem Human Development Report der UN von 2014, p. 33, sei zitiert: „The Human Development Index (HDI) has been an important measure of progress − a composite index of life expectancy, years of schooling and income. This year’s Re­ port presents HDI values for 187 countries. The global HDI is now 0.702, and most developing countries are continuing to advance, though the pace of progress remains 829  Zum 830  So

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•• Wenn dennoch die Schere zwischen reichen und armen Ländern sich bis heute weiter geöffnet hat, dann liegt das daran, dass die Entwicklung in den reichen Ländern schneller vorangegangen ist als in den armen – und zwar gleichgültig, ob man absolute Zahlen oder die unterschiedliche Kaufkraft für den Lebensunterhalt zugrunde legt. Deshalb spricht alles dafür, dass die Öffnung der Schere keine ökonomischen, sondern lediglich mathematische Ursachen hat und lediglich psychisch als ungerecht wahr­ genommen wird. Sie ist in Wahrheit die Folge davon, dass der prozentual gleichmäßig wachsende Reichtum in der Welt von den armen Menschen am wenigsten wahrgenommen wird, weil diese ihren Blick allein auf die absolute Summe des Geldvermögens richten – und da sind nun einmal 5 % Aufschlag auf ein kleines Vermögen weniger als 5 % Aufschlag auf ein großes. Würde man die Entwicklungsdynamik des globalen Wirtschaftens mit rechtlichen und politischen Instrumenten einhegen und kontrollieren, entstünde dagegen die Ge­ fahr, dass die ökonomisch starken Akteure, die zu den Gewinnern des globalen Wett­ bewerbs zählen, das Schicksal der ökonomisch schwachen Akteure ihren Interessen unterordnen. Das hätte zur Folge, dass selbst dort, wo überwiegend staatsinterne Gründe für soziale Missstände verantwortlich sind, sich deren negative Wirkungen noch erheblich verstärken. Denn es ist ein verhängnisvoller Irrtum zu glauben, dass Konflikt- und Krisenzonen, in denen weitverbreitete Armut herrscht, sich allein auf­ grund von Globalisierungsbestrebungen zu prosperierenden Ökonomien entwickeln.

Zusätzliche Maßnahmen seitens der internationalen Gemeinschaft zu de­ nen der WTO, um Armut und Unterernährung (nebst vielfältigen damit ein­ hergehenden Mangelerscheinungen) zu bekämpfen, müssen sich vor allem der Sonderbedingungen annehmen, die in ökonomisch schwachen Gegenden meistens vorherrschen. Außer auf den Schutz oder die Wiederherstellung vorhandener natürlicher Lebensgrundlagen müssen sie sich auf Verbesserun­ gen im Bereich von Bildung und Ausbildung und auf die Errichtung effizien­ ter sozialer Sicherungssysteme konzentrieren. Diese Maßnahmen können je­ doch nur dann Erfolg haben, wenn auch diejenigen von ihnen profitieren, die auf die maßgeblichen Politikkonzepte zur Verbesserung der sozioökonomi­ schen Situation Einfluss ausüben. Das aber sind nicht die Armen im Lande, sondern die Reichen und (deshalb) Mächtigen. Darum ist es wichtig, dass gerade auch sie rechtzeitig in die Gestaltung des Evolutionsprozesses einbe­ zogen werden und dass man ihnen klar macht, dass dieser Prozess ihre Stel­ lung nicht schwächt, sondern stärkt – und stärken muss, weil es eine Lehre highly uneven. The lowest regional HDI values are for Sub-Saharan Africa (0.502) and South Asia (0.588), and the highest is for Latin America and the Caribbean (0.740), followed closely by Europe and Central Asia (0.738). The very high human development group − as measured by the HDI ‒ has a value of 0.890, considerably higher than that of the medium and low human development groups. But lower hu­ man development groups continue to converge with the higher levels.“



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aus der Vergangenheit ist, dass jede soziale Evolution unvermeidlich zur Steigerung der Stratifikation führt. Eine andere Lehre aus Vergangenheit ist freilich auch, dass soziale Evolution un­ vermeidlich die Umwelt destruiert. Das zeigt sich u. a. darin, dass von den bisher auf der Erde entdeckten 118 Elementen einige heute kaum noch natürlich vorkommen, weil ihr Vorrat bei der Herstellung technischer Geräte inzwischen weitgehend ver­ braucht wurde. Während aber ausgestorbene Tier- und Pflanzenarten von der Natur ständig durch neue ersetzt werden können, ist das bei Elementen unmöglich; sie können allenfalls aus dem Zerfall anderer Elemente entstehen. Indes ist nicht nur die Entreicherung der Erde ein drängendes Problem, sondern auch ihre Anreicherung mit Abfällen, das noch verschärft wird, weil es zwar alle Territorialstaaten gesondert be­ trifft, aber nur global gelöst werden kann. Ich bin hierauf in den vorangegangenen Abschnitten meiner Untersuchung mehrfach eingegangen833 und wiederhole deshalb hier nur, dass zwar auf vielen Konferenzen Absichtserklärungen sowohl hinsichtlich der Abfallentsorgung als auch hinsichtlich einer prozentual gerechten Verteilung der Anstrengungen zur Reinhaltung der Luft und des Wassers festgeschrieben worden sind, dass diese Vereinbarungen aber nur zustande kamen, weil ihre Verletzung nicht sanktioniert wurde und sie daher oft nicht eingehalten, sondern an künftige Generati­ onen weitergereicht werden. Unter dem Aspekt einer auf Nachhaltigkeit angelegten Entwicklungsstrategie, die dem Verelendungsdruck in vielen Regionen Afrikas, Lateinamerikas und Asiens ent­ gegenwirken will, bietet die Globalisierung demnach zwar partielle Chancen. Ange­ sichts des eben skizzierten Aufgabenspektrums wäre es jedoch verfehlt, diese Wir­ kung allein von einer möglichst ungehinderten Deregulierung auf den Güter-, Arbeitsund Finanzmärkten zu erwarten; denn eine solche Deregulierung ermöglicht vor allem die rasche Flucht von Spekulationskapital und spitzt krisenhafte Entwicklungen eher noch zu. Vielmehr müssen immer wieder aktive Engagements im Vordergrund stehen, durch die die sozioökonomisch schwachen Völker und Staaten in die Lage versetzt werden, sich aus eigener Kraft zu konsolidieren. Freilich laufen solche Engagements so lange ins Leere, wie eine übermäßige Schuldenlast Investitionen vor allem in die ‚Humanressourcen‘ verhindert. Eine großzügige Entschuldung, wie sie für das Jahr 2000 von vielen Nichtregierungsorganisationen sowie von kirchlichen Organisationen gefordert wurde, kann daher – zusammen mit Projekten, die diese Entlastung den Armen tatsächlich zugute kommen lassen – zu einer Schlüsselfrage für den Erfolg entwicklungspolitischer Zusammenarbeit und damit für mehr internationale Gerech­ tigkeit in der Zukunft werden.

833  Vgl.

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