Historiogenese des Rechts: Der Beitrag des Rechts zur sozialen Evolution des Menschen (Historische Rechtsanthropologie) [1 ed.] 9783428583362, 9783428183364

Die Untersuchung gibt Antwort auf die Frage, inwieweit sowohl Veränderungen innerhalb der menschlichen Psyche als auch v

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Historiogenese des Rechts: Der Beitrag des Rechts zur sozialen Evolution des Menschen (Historische Rechtsanthropologie) [1 ed.]
 9783428583362, 9783428183364

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Historiogenese des Rechts Der Beitrag des Rechts zur sozialen Evolution des Menschen (Historische Rechtsanthropologie) Von Ernst-Joachim Lampe

Duncker & Humblot · Berlin

ERNST-JOACHIM LAMPE Historiogenese des Rechts

Historiogenese des Rechts Der Beitrag des Rechts zur sozialen Evolution des Menschen (Historische Rechtsanthropologie)

Von Ernst-Joachim Lampe

Duncker & Humblot · Berlin

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„Wer das innere Wesen des Rechts … theoretisch verstehen will, für den gibt es keinen besseren Weg als den, die Entwicklung dieser Kulturerscheinung in den verschiedenen Kulturkreisen vergleichend zu verfolgen.“ 

H. Maier (1914), S. 14

Vorwort Fragen nach der Entwicklungsgeschichte des Rechts können heutzutage nicht mehr unabhängig von der Evolution der menschlichen Natur durch­ dacht und beantwortet werden. Denn die Rechtsgeschichte setzt die Linie der menschlichen Evolution zwar nicht geradlinig fort; zu deutlich ist der Sprung, der sie abgekoppelt hat. Doch fallen immer wieder Parallelen ins Auge, die zwischen beiden bestehen. Das ist kein Wunder, denn jede Entwicklung muss in dem Stoff angelegt sein, aus dem sie hervorgegangen ist, sonst wäre die gesamte Evolutionslehre auf bloße Beschreibung anstelle von Erklärung an­ gewiesen. Im Kosmos musste also von Anfang an der Stoff vorhanden gewe­ sen sein, der kraft seiner inneren Dynamik den Menschen, und im Menschen von Anfang an der Stoff, der kraft seiner inneren Dynamik das Recht hervor­ gebracht hat. Und obgleich sowohl der Gang der natürlichen Evolution bis zur Genese des Menschen, der Gang der menschlichen Entwicklung bis zur Genese des Rechts und schließlich der Gang der rechtlichen Entwicklung bis hin zur Genese der heutigen Rechtsordnungen (auch) aus einer ununterbro­ chenen Folge von Zufällen bestanden haben mag, ist offenbar eine innere Dynamik zur Höherentwicklung permanent darin wirksam gewesen. Diffe­ renzierung und Integration waren offenbar jene Eigenschaften der Evolution, deren Wirken in der Natur sich in der Kultur und folglich auch im Recht wiederholt hat. Deshalb bildeten sowohl die menschliche Genese als auch die Geschichte des Rechts Entwicklungsreihen von einfachsten Anfängen bis zu immer höheren Formen aus. Verbindet man aufgrund dieser einheitlichen Entwicklungsdynamik die Darstellungen von Genese und Geschichte miteinander, muss man deren Aufgaben allerdings schärfer trennen, als das bisher geschehen ist. Die Auf­ gabe der geschichtlichen Darstellung muss sich dann auf den Bericht be­ schränken, was im Laufe der Zeit geschah sowie wann und wo es geschah, und die Aufgabe der genetischen Darstellung muss auf die Erklärung be­ grenzt bleiben, warum das Spätere sich aus dem Früherem so und nicht an­ ders entwickelt hat. Die Geschichte darf m. a. W. keine Genese, die Genese keine Geschichte kennen, sondern beides zusammen erst muss das Ganze ergeben, das Geschichte hat und das Genese ist: das Werden in Zeit und Raum. Meine Untersuchung, die laut ihrem Motto „das innere Wesen des Rechts“ betrifft, folgt dieser Aufgabenteilung. Sie erfasst einesteils die ge­ schichtlichen Daten und andernteils die dynamischen Ursachen, die für „die Entwicklung dieser Kulturerscheinung“ maßgeblich waren. Und sie sieht den

VIII Vorwort

Wert dieser Aufgabenteilung darin, dass sie der Genese nicht nur – wie sonst in den geschichtlichen Abhandlungen – eine dienende Funktion zur Erklä­ rung der geschichtlichen Ereignisse, sondern eine eigenständige Bedeutung zuweist und erlaubt, nach den Gesetzmäßigkeiten jener Prozesse des Wer­ dens zu fragen, für die die geschichtlichen Geschehnisse den empirischen Beleg darstellen. Die Gesetzmäßigkeiten genetischer Prozesse konnten bisher freilich erst teilweise erforscht werden. Denn je weiter die Entwicklung voranschritt und ihren Schwerpunkt zunächst vom biologischen auf den psychologischen und sodann vom psychologischen auf den kulturologischen Bereich verlagerte, desto mehr gerieten die antreibenden Kräfte miteinander in eine Gemenge­ lage, die schwer zu entwirren war. Deshalb kann heute die Forschung für die Entwicklung im biologischen Bereich zwar gut bestätigte Gesetzmäßigkeiten vorweisen, doch für die Entwicklungen im psychischen und erst recht im kulturellen Bereich muss sie eher Ratlosigkeit anmelden. Das ist kein Wun­ der, denn wenn es hier Gesetzmäßigkeiten gibt, sind die Möglichkeiten zu ihrer Erkenntnis begrenzt, weil nur in der Biologie ein Zwang zur Generie­ rung des Gleichen besteht, wogegen in der Psychologie der Zwang zum Erlernen von Ähnlichem überwiegt und in der Kultur gar ein Zwang zu ­ schöpferischer Freiheit das Feld beherrscht. Nur das Gleiche, nicht auch das Ähnliche und schon gar nicht das schöpferisch Einmalige lässt sich indessen in wissenschaftliche Formeln fassen. Deshalb haben alle Versuche, durch Übertragung der im biologischen Bereich geltenden Entwicklungsgesetze auch die psychischen und kulturellen Entwicklungsprozesse zu erklären, sich in der Vergangenheit als nicht zielführend erwiesen, sondern nur die selbst­ verständliche Erkenntnis bestätigt, dass unter komplexeren Verhältnissen differenziertere Tendenzen oder gar Einmaligkeiten die Entwicklung beherr­ schen. Der Titel meiner Untersuchung ist daher nicht so zu verstehen, dass ich die Erkenntnisse zur Darwinschen Evolutionstheorie als biologische Variante ei­ ner Allgemeinen Evolutionstheorie begreife, die sich per analogiam auch auf die Rechtsentwicklung anwenden lässt. Vielmehr bezeichnet er den Versuch einer Antwort auf die Frage, inwieweit auch Veränderungen innerhalb der menschlichen Psyche sowie vom Menschen schöpferisch gestaltete Verände­ rungen seines Umfelds die Genese des Rechts vorangetrieben und dabei ge­ wisse Regelhaftigkeiten gezeigt oder erzeugt haben. Denn es war zu berück­ sichtigen, dass ebenso, wie die Bioevolution Ursachen hatte, die in der unbe­ lebten Natur noch keine Rolle spielten, die Psychoevolution wiederum Ursa­ chen hat, die biologisch unbedeutend sind, und die Rechtsentwicklung vor allem auf schöpferischen Prozessen beruht, die weder biologisch noch psy­ chologisch erfasst und erklärt werden können. Deshalb kann die Genese des Rechts letzthin nur als das Produkt auch einer Rechtsgeschichte vollständig

VorwortIX

erklärt werden, die ihrerseits vom menschlichen Augenblickswillen geformt wurde − weshalb beide, Genese und Historie des Rechts, zusammengeführt werden müssen, damit die Rechtsentwicklung als Historiogenese, als das gemeinsame Produkt beider, verständlich wird. Einer kurzen Erläuterung bedarf noch der Untertitel meiner Untersuchung. Er postuliert zunächst als inneres Wesen des Rechts, dass es eine Macht zur Ordnung menschlicher Gemeinschaften und daher Bestandteil einer spezi­ fisch sozialen Evolution ist. Deren Untersuchung kann dann nicht nur als Makroevolution auf die Weltbevölkerung oder einzelne ihrer Populationen, sondern auch als Mikroevolution auf soziale Gruppen und einzelne ihrer In­ stitutionen bezogen werden. Meine Untersuchung umfasst beides: Sie beginnt mit der Makroevolution der sozialen Ordnung innerhalb der einst weltweit verbreiteten Wildbeuterhorden; sie geht voran zur sozialen Ordnung der Ackerbau und/oder Viehzucht betreibenden Stammesvölker und endet − vor­ erst − bei der sozialen Ordnung der vorindustriellen Protostaaten. Insoweit erörtere ich nur die ersten Anfänge der Rechtsentwicklung: ihre Gemeinsam­ keiten und umfeldbedingten Verschiedenheiten. Für die weitere Untersuchung der Makrogenese der Weltbevölkerung als auch der Mikrogenese einzelner politischer oder rechtlicher Institutionen wähle ich anschließend wegen der genauer bekannten Tatsachengrundlage die nähere Vergangenheit und Gegen­ wart aus. Dabei richte ich den Blick speziell auf die modernen Industrie­ nationen; denn in ihnen hat die neuzeitliche Entwicklung ihren Schwerpunkt gefunden und es den Menschen gestattet, sich mittels einer technisch/techno­ logischen Revolution von ihren biotischen und psychischen Grundlagen weitgehend zu lösen und damit ohne Kontrolle ‚von unten‘ Macht über den Erdball zu gewinnen. Gleichzeitig hat sie ihnen aber auch die Grenzen ihrer Macht aufgezeigt: dass sie in kosmische Gesetze eingebunden geblieben sind und, da diese sie nicht hindern, ihre erworbene Macht gegen sich selber ein­ zusetzen, Gefahr laufen, wieder in jenes Chaos hinabzustürzen, aus dem sie einst aufgestiegen sind. Wollen sie dieser Gefahr entgehen, müssen sie daher eine ihnen ebenfalls zugewachsene Fähigkeit einsetzen: sich an Normen zu binden, die ihnen ein eindeutig selbstzerstörerisches Verhalten untersagen, und diese Bindung in die Praxis des Überlebens umzusetzen. Denn ebenso, wie wissenschaftliche Erkenntnis den Umgang mit der Realität aufs Äußerste verbessert, verbessert normative Erkenntnis den Umgang der Menschen mit­ einander und damit ihr Überleben.

Ernst-Joachim Lampe

Inhaltsübersicht Teil I

Entwicklung 

1

A. Historie, Genese, Historiogenese– Versuche einer Begriffsklärung –  . . . . . . 1. Was ist Historie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Was ist Rechtsgeschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Was ist Genese? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Was ist Historiogenese? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Was ist Historiogenese des Rechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 3 5 8 12

B. Die Aufgabe: Erforschung der Historiogenese des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Konkretisierung der Aufgabe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Formulierung einer kulturenübergreifenden Typologie rechtlicher Ordnungen und Institutionen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Aufweis von Gesetzmäßigkeiten für die Entstehung, den Wandel und den Untergang rechtlicher Ordnungen und Institutionen  . . . . . . . 2. Die methodische Lösung der Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14 14

C. Genetische Materialien zur Rechtsgeschichte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Humangenetische, ökogenetische und soziogenetische Ursachen  . . . . . . a) Biogenetische Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Psychogenetische Ursachen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ökogenetische und soziogenetische Ursachen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Kulturelle Diffusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Humangenetische Gesetzmäßigkeiten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wirken die biologischen Evolutionsgesetze fort?  . . . . . . . . . . . . . . . . b) Worin liegt die Bedeutung der psychologischen Evolutionsgesetze? . c) Welche Bedeutung hat soziales Lernen für die Evolution kultureller Artefakte?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Materielle Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Strukturelle Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Öko- und soziogenetische Gesetzmäßigkeiten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Spezifisch rechtsgenetische Gesetzmäßigkeiten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28 28 29 30 35 38 40 40 42

D. Bisherige Untersuchungen zur Historiogenese des Rechts (Auswahl)  . . . . . . 1. Untersuchungen zum Einfluss humangenetischer Faktoren  . . . . . . . . . . . a) Biogenetische Untersuchungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Psychogenetische Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70 70 71 72

15 18 23

44 45 48 59 66

XII Inhaltsübersicht c) Ethnogenetische Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Eigene Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Neueste Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Exkurs zur Sprachentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Untersuchungen zum Einfluss öko- und soziogenetischer Faktoren  . . . . a) Ökogenetische Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Soziogenetische Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ökonomische Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Untersuchungen zum Einfluss autochthoner Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung und Überleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73 73 75 80 85 85 92 95 98 109

Teil II

Historische Entwicklung des Rechts 

112

E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen  . . . . . . . . 1. Was ist ‚Recht‘? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Induktive Bestimmungen des Rechtsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Legalistische Definitionen des Rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Funktionalistische Definitionen des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vermittelnde Auffassungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Deduktive Bestimmungen des Rechtsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Typologische Bestimmungen des Rechtsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anthropologische Bestimmung der Begriffskonstanten . . . . . . . . . . . . b) Soziologische Bestimmung der Begriffskonstanten . . . . . . . . . . . . . . . c) Kulturelle Bestimmung der Begriffsvariablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Philosophische Bestimmung des ‚Rechtlichen im Recht‘ . . . . . . . . . . 5. Protostaatliches, staatliches und poststaatliches (‚gubernatives‘) Recht . . 6. Hoheitliches und privates Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

112 112 115 116 117 119 119 121 123 124 127 128 130 138

F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Materialien, Methoden und Ziele der vorliegenden Untersuchung  . . . . . 2. Prästaatliche Entwicklungen von Recht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Rechtsentwicklung innerhalb von Horden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Rechtsentwicklung innerhalb von Stammesgesellschaften  . . . . . . c) Die Rechtsentwicklung innerhalb von Häuptlingsschaften . . . . . . . . . d) Die Rechtsentwicklung innerhalb von Königreichen . . . . . . . . . . . . . . 3. Prästaatliche Entwicklungen von Rechtsinhalten (Überblick) . . . . . . . . . . 4. Leitlinien der (vor)geschichtlichen Entwicklung eines prästaatlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

140 140 150 150 162 178 191 202 229

InhaltsübersichtXIII G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Rechtsentwicklung in Ägypten und Mesopotamien  . . . . . . . . . . . . . 2. Die Rechtsentwicklung in Indien und China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Rechtsentwicklung in Griechenland und Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Inhaltliche Entwicklungen des protostaatlichen Rechts im Überblick  . . . a) Verfassungs- und Verwaltungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Statusrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Familienrecht (Ehe- und Kindschaftsrecht)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Sachenrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Vertrags- und Haftungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Gesellschaftsrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Rechtsverwirklichung (Prozess- und Vollstreckungsrecht) . . . . . . . . . . j) Beweisrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . k) Kriegseröffnungs-, Beute- und Friedensvertragsrecht  . . . . . . . . . . . . . 5. Leitlinien der protostaatlichen Rechtsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

233 240 259 275 292 295 299 304 311 317 319 324 324 330 335 338 339

Teil III

Genetische Entwicklung des Rechts 

H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts(I: Ursachen) . 1. Rückschau und Vorschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anthropologische Faktoren der Rechtsgenese  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bedürfnisse, Bestrebungen und Interessen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wahrnehmungs- und Denkprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Entmythologisierung der Wahrnehmungs- und Denkprozesse . . . bb) Genese neuartiger Wahrnehmungs- und Denkprozesse  . . . . . . . . c) Bewertungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Streben nach Gerechtigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ausdifferenzierungen der Gerechtigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Sicherung der Gerechtigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Begründungen der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Der Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Schrift   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Genese der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Bedeutung der Schrift für die Genese des Rechts  . . . . . . . . . . . . 3. Weitere Faktoren für die Rechtsgenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ökologische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Soziologische und ökonomische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Reaktionen auf die Bevölkerungsvermehrung  . . . . . . . . . . . . . . . bb) Erfordernisse der Außenverteidigung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

355 355 357 362 362 382 382 386 405 406 407 418 422 448 451 451 454 462 462 470 471 476

XIV Inhaltsübersicht cc) Erfordernisse einer breiten Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Religiöse Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Politische Faktoren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zusammenfassung aller Faktoren, die zur Rechtsgenese beigetragen haben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Autochthone Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Adjunktionen   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konjunktionen   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Interpenetrationen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

479 483 494 498 502 504 506 507

J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts(II: Gesetzmä­ ßigkeiten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 1. Das Recht als hyperzyklisches System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 2. Gesetzmäßigkeiten in der Genese von Rechtsbewusstsein . . . . . . . . . . . . 514 a) Gesetzmäßigkeiten in der individualen Ontogenese  . . . . . . . . . . . . . . 514 aa) Emotivistische Theorien zur moralischen Ontogenese . . . . . . . . . 515 bb) Kognitivistische Theorien zur moralischen Ontogenese  . . . . . . . 518 cc) Volitivistische (‚personalistische‘) Theorien zur moralischen Ontogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532 b) Gesetzmäßigkeiten in der sozialen Ontogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534 aa) Nativistische Theorien zur moralischen Ontogenese  . . . . . . . . . . 534 bb) Konditionierungs- und Lerntheorien zur moralischen Onto­ genese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 cc) Identifikationstheorie zur moralischen Ontogenese . . . . . . . . . . . . 540 c) Gesetzmäßigkeiten in der aktional- und interaktional-moralischen Genese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542 d) Zusammenfassende Stellungnahme zur Bedeutung der vorgenannten Theorien für die Rechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 3. Gesetzmäßigkeiten in der Genese von Verrechtlichungsprozessen . . . . . . 557 a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 b) Sechs Phasen innerhalb der historischen Genese . . . . . . . . . . . . . . . . . 558 c) Quantitative Ursachen und qualitative Folgen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562 4. Ergebnisse der historischen Genese  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578 a) Die Entwicklung einer machtgestützten Herrschaft  . . . . . . . . . . . . . . 578 b) Die Entwicklung eines abstrakt-schriftlichen Gesetzesrechts  . . . . . . . 585 c) Die Entwicklung eines den Rechtsnormen zugrunde liegenden Menschenbildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 d) Partikulare Themen in der Historiogenese des Rechts (Auswahl) . . . . 598 5. Abschluss: Soziogenese, Anagenese, Orthogenese und Irreversibilität in der frühantiken Rechtskultur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 a) Rechtsordnungen als evolutionäre Systeme  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 b) Die Soziogenese der Rechtskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612 c) Die Anagenese der Rechtskultur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626 d) Die Orthogenese von Rechtskulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638

InhaltsübersichtXV e) Die Irreversibilität der Rechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Zusammenfassung: Phasen und Mechanismen der Rechtsentwick­ lung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Phasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Mechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Anhang: Die Entwicklung von Rechtswissenschaft und Jurisprudenz in den frühantiken Rechtskulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Präzedenzien und Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Rechtsordnung als Schöpfung der Rechtswissenschaft . . . . . . . . . c) Recht vs. Billigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

657 662 663 665 671 671 674 686

Teil IV

Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht 

K. Entwicklungstendenzen im neuzeitlichen Recht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entwicklungstendenzen innerhalb der staatlichen Verbände und ihres Rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Parallelentwicklungen von Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konjunktionen von Staaten (‚Globalisierung‘) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Interpenetration von nationalstaatlichen Institutionen und Rechts­ normen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entwicklungstendenzen innerhalb der Privatunternehmen und ihres Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wirtschaftliche und politische Macht – ein Rückblick . . . . . . . . . . . . . b) Die nationale Entwicklung von privatem Unternehmensrecht . . . . . . . c) Die Entwicklung von inter- bzw. transsozialem Verbandsrecht . . . . . . d) Rechtliche Entwicklungen infolge von Diffusion (insbesondere aus der anglo-amerikanischen Rechtskultur) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Entwicklungstendenzen innerhalb des prozessualen Rechts   . . . . . . . . . . a) Aufgabe: Herstellung von Rechtssicherheit im staatlichen Bereich  . . aa) Die Abgrenzung des rechtssicheren Zentralbereichs von den Randbereichen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Herstellung von Rechtssicherheit in den Randbereichen  . . . cc) Die Herstellung von Rechtssicherheit im zwischenstaatlichen Bereich  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Aufgabe: Herstellung von Gerechtigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gerechtigkeit aufgrund einer philosophischen Entscheidungs­ theorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gerechtigkeit aufgrund prozessualer Zuständigkeitsregelungen und Hierarchieprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Gerechtigkeit aufgrund von richterlichem Judiz . . . . . . . . . . . . . .

689 689 689 690 705 714 727 730 731 734 742 747 750 752 753 754 755 767 775 776 777 780

XVI Inhaltsübersicht dd) Zusammenfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Entwicklung hybriden (hoheitlich-privaten) Rechts (A: Ausgangspunkte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das hoheitliche Rechtsmonopol aufgrund staatlicher Eigenmacht (‚Souveränität‘) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das private Rechtsmonopol aufgrund persönlicher Eigenmacht (‚Rechtsfähigkeit‘) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Entwicklung hybriden (hoheitlich-privaten) Rechts (B: Tendenzen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die nationale Entwicklung hybriden Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die internationale Entwicklung hybriden Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Legitimationsprobleme hybriden Rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Evolutions- und Devolutionsgesetze im Recht der Neuzeit  . . . . . . . . . . . a) Randbedingungen für den Wandel des Rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wandlungen des Rechts aufgrund seiner Randbedingungen . . . . . . . . c) Gesetzmäßigkeiten des rechtlichen Wandels  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Ergebnis: Die Verrechtlichung der neuzeitlichen Lebenswelt  . . . . . . . . . a) Verrechtlichungsbreite (differenzierender Aspekt) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verrechtlichungshöhe (integrierender Aspekt)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verrechtlichungstiefe (sozialethischer Aspekt)  . . . . . . . . . . . . . . . . . .

783 784 785 792 798 799 823 839 858 864 864 885 917 978 978 984 996

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1022

Inhaltsverzeichnis Teil I

Entwicklung 

A. Historie, Genese, Historiogenese– Versuche einer Begriffsklärung –  . . . . . . 1. Was ist Historie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Was ist Rechtsgeschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Was ist Genese? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Was ist Historiogenese? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Was ist Historiogenese des Rechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 1 3 5 8 12

B. Die Aufgabe: Erforschung der Historiogenese des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1. Die Konkretisierung der Aufgabe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 a) Formulierung einer kulturenübergreifenden Typologie rechtlicher Ordnungen und Institutionen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 b) Aufweis von Gesetzmäßigkeiten für die Entstehung, den Wandel und den Untergang rechtlicher Ordnungen und Institutionen  . . . . . . . 18 (α) Erster Einwand: Leugnung jeder Gesetzmäßigkeit . . . . . . . . 19 (β) Zweiter Einwand: Behauptung einer zu großen Komplexität der Einflussfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2. Die methodische Lösung der Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 C. Genetische Materialien zur Rechtsgeschichte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Humangenetische, ökogenetische und soziogenetische Ursachen  . . . . . . a) Biogenetische Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Psychogenetische Ursachen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ökogenetische und soziogenetische Ursachen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Kulturelle Diffusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Humangenetische Gesetzmäßigkeiten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wirken die biologischen Evolutionsgesetze fort?  . . . . . . . . . . . . . . . . b) Worin liegt die Bedeutung der psychologischen Evolutionsgesetze? . c) Welche Bedeutung hat soziales Lernen für die Evolution kultureller Artefakte?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Materielle Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Subjektiv-strukturelle Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Strukturelle Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Objektiv-strukturelle Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Strukturelle Vereinigungstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Öko- und soziogenetische Gesetzmäßigkeiten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28 28 29 30 35 38 40 40 42 44 45 48 48 50 53 59

XVIII Inhaltsverzeichnis (α) Kulturökologische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Soziobiologische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Auswirkungen auf die Evolution von Normen . . . . . . . . . . . . 4. Spezifisch rechtsgenetische Gesetzmäßigkeiten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59 64 65 66

D. Bisherige Untersuchungen zur Historiogenese des Rechts (Auswahl)  . . . . . . 1. Untersuchungen zum Einfluss humangenetischer Faktoren  . . . . . . . . . . . a) Biogenetische Untersuchungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Psychogenetische Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ethnogenetische Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Eigene Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Neueste Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Helmut Helsper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Alexandre von Rohr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Christoph Henke  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (δ) Marie Theres Fögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Exkurs zur Sprachentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Untersuchungen zum Einfluss öko- und soziogenetischer Faktoren  . . . . a) Ökogenetische Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Bedeutung der natürlichen Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Bedeutung des sozialen Milieus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Bedeutung des geistigen Milieus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Niklas Luhmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Soziogenetische Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Max Weber  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ökonomische Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Nutzenökonomische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Evolutionsökonomische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Bioökonomische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Untersuchungen zum Einfluss autochthoner Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Der Trend zur Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Maßstäbe für die austeilende Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . (γ) Maßstäbe für die ausgleichende Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . (δ) Maßstäbe für die Verfahrensgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung und Überleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70 70 71 72 73 73 75 76 76 77 78 80 85 85 85 87 89 92 92 93 95 95 96 96 98 99 101 104 108 109

Teil II

Historische Entwicklung des Rechts 

112

E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen  . . . . . . . . 112 1. Was ist ‚Recht‘? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 2. Induktive Bestimmungen des Rechtsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

InhaltsverzeichnisXIX a) Legalistische Definitionen des Rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Funktionalistische Definitionen des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vermittelnde Auffassungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deduktive Bestimmungen des Rechtsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Typologische Bestimmungen des Rechtsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anthropologische Bestimmung der Begriffskonstanten . . . . . . . . . . . . b) Soziologische Bestimmung der Begriffskonstanten . . . . . . . . . . . . . . . c) Kulturelle Bestimmung der Begriffsvariablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Philosophische Bestimmung des ‚Rechtlichen im Recht‘ . . . . . . . . . . Protostaatliches, staatliches und poststaatliches (‚gubernatives‘) Recht . (α) Die Entstehung von Protostaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Protostaatliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Staatliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (δ) Das Recht staatsähnlicher Gebilde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ε) Poststaatliches (‚gubernatives‘) Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hoheitliches und privates Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

116 117 119 119 121 123 124 127 128 130 130 133 135 136 137 138

F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Materialien, Methoden und Ziele der vorliegenden Untersuchung  . . . . . (α) Rechtserkenntnisquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Erkenntnisquellen speziell für das Prärecht und das Früh­ recht indigener Völker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Der Aufbau der vorliegenden Untersuchung . . . . . . . . . . . . . (δ) Drei Thesen zu Beginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Prästaatliche Entwicklungen von Recht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Rechtsentwicklung innerhalb von Horden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zusatz: Die Komantschen als Beispiel einer kriegerischen Horde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zusatz: Die !Kung als Beispiel einer friedlichen Horde . . . . . . b) Die Rechtsentwicklung innerhalb von Stammesgesellschaften  . . . . . . Zusatz: Die Nuer als Beispiel einer segmentären Stammes­ gesellschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Rechtsentwicklung innerhalb von Häuptlingsschaften . . . . . . . . . (α) Genese von Häuptlingsschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Institutionalisierung von Herrschaftsfunktionen . . . . . . . . . . . (γ) Institutionaliserung von Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatz: Die Dschagga als Beispiel einer Häuptlingsschaft . . . . . . d) Die Rechtsentwicklung innerhalb von Königreichen . . . . . . . . . . . . . . Zusatz: Die Edo als Beispiel eines afrikanischen Königreiches . . (α) Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Familienrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Sachenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (δ) Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

140 140 140

3. 4.

5.

6.

143 145 146 150 150 156 159 162 169 178 178 180 182 182 191 196 197 198 199 200

XX Inhaltsverzeichnis (ε) Obligationenrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ζ) Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (η) Rechtsverwirklichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Prästaatliche Entwicklungen von Rechtsinhalten (Überblick) . . . . . . . . . . (α) Soziale und politische Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Verwandtschaftliche Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Sachenrechtliche Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (δ) Erbrechtliche Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ε) Obligationenrechtliche Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ζ) Strafrechtliche Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (η) Strukturen der Konfliktbeilegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (θ) Die Entwicklung eines gerichtlichen Beweisverfahrens . . . . 4. Leitlinien der (vor)geschichtlichen Entwicklung eines prästaatlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

200 201 201 202 204 206 211 214 215 217 223 226

G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Städte als Keimzellen von Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Frühantike Protostaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Probleme der Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Rechtsentwicklung in Ägypten und Mesopotamien  . . . . . . . . . . . . . (α) Politische Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Wirtschaftliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Rechtsbegriff und rechtliche Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . (δ) Gesetzgebung und Rechtsprechung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ε) Rechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Rechtsentwicklung in Indien und China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Politische Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Wirtschaftliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Rechtsbegriff und rechtliche Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . (δ) Gesetzgebung und Rechtsprechung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ε) Rechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Rechtsentwicklung in Griechenland und Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Politische Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Wirtschaftliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Rechtsbegriff und rechtliche Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . (δ) Gesetzgebung und Rechtsprechung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ε) Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ζ) Rechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Inhaltliche Entwicklungen des protostaatlichen Rechts im Überblick  . . . a) Verfassungs- und Verwaltungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Statusrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Persönliche Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Politische Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

233 233 236 238 240 240 244 246 250 252 259 259 264 265 268 269 275 275 278 280 283 286 289 292 295 299 299 302

229

InhaltsverzeichnisXXI (γ) Soziale Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Familienrecht (Ehe- und Kindschaftsrecht)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Verhältnis von Mann und Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Stellung der Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Kinderlosigkeit, Adoption, Leviratsehe . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Sachenrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Grundeigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Fahrniseigentum  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Gesetzliches Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Testamentsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Vertrags- und Haftungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Verbindlichkeit von Verträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Haftung für Vertragsverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Gesellschaftsrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Rechtsverwirklichung (Prozess- und Vollstreckungsrecht) . . . . . . . . . . (α) Verfahrensarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Die Vollstreckungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Gerichtsaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . j) Beweisrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . k) Kriegseröffnungs-, Beute- und Friedensvertragsrecht  . . . . . . . . . . . . . 5. Leitlinien der protostaatlichen Rechtsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Entwicklung der sozialen Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Entwicklung der politischen Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Entwicklung des Schriftgebrauchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (δ) Entwicklung von Gesetzeskodizes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ε) Ewiges Recht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ζ) Was also treibt die Rechtsgeschichte an? . . . . . . . . . . . . . . . .

302 304 305 309 310 311 311 315 317 317 318 319 319 321 324 324 330 330 333 334 335 338 339 339 341 345 347 350 352

Teil III

Genetische Entwicklung des Rechts 

355

H. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts(I: Ursachen) . 355 1. Rückschau und Vorschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 (α) Die Faktoren und Randbedingungen für die Rechtsentwick­ lung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 (β) Die Stufen der Rechtsgenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 (γ) Die Funktionen des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 2. Anthropologische Faktoren der Rechtsgenese  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 a) Bedürfnisse, Bestrebungen und Interessen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 (α) Vital-organische Bedürfnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363

XXII Inhaltsverzeichnis (β) Bestrebungen zu personaler Entfaltung und sozialer Integ­ ration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 (γ) Interessen an Existenzerhellung und metaphysischer Integ­ ration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 (δ) Der Einfluss der Bedürfnisse etc.auf die Rechtsentwicklung. 376 b) Wahrnehmungs- und Denkprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 aa) Entmythologisierung der Wahrnehmungs- und Denkprozesse . . . 382 bb) Genese neuartiger Wahrnehmungs- und Denkprozesse  . . . . . . . . 386 (α) Genese eines neuen Selbstbewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 (β) Genese eines neuen normativen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . 388 (αα) Genese normativer Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 (ββ) Genese normativer Sätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 (γ) Bedeutung abstrakt-normativen Denkens für das Recht . . . . 398 (δ) Bedeutung logischer Schulung für die Geltung abstrakten Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 c) Bewertungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 aa) Streben nach Gerechtigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 bb) Ausdifferenzierungen der Gerechtigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 (α) Materiale Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 (αα) Ausgleichs- und Austeilungsgerechtigkeit . . . . . . . . . . . 407 (ββ) Abstrakte und konkrete Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . 409 (γγ) Herstellende und vorsorgende Gerechtigkeit . . . . . . . . . 410 (δδ) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 (β) Formale Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 (αα) Grundlinien der Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 (ββ) Völkertypische Einzelheiten der Entwicklung  . . . . . . . 415 cc) Sicherung der Gerechtigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 dd) Begründungen der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 (α) Magisch-holistisches Weltbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 (β) Egozentrisches Weltbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 (γ) Egozentrisch-holistisches Weltbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 (αα) Gründe für seine Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 (ββ) Soziale Folgen seiner Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 (δ) Weltbild und rechtliche Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 (ε) Die bleibende Bedeutung von Kausalität und Reziprozität für die Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 (αα) Negative Reziprozität und Kausalität im Unrecht . . . . 437 (ββ) Positive Reziprozität und Kausalität im Recht . . . . . . . 438 (ζ) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 (η) Verbleibende Problembereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 (αα) Reziproke Gleichheit innerhalb von nicht-verwandt­ schaftlichen Näheverhältnissen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443

InhaltsverzeichnisXXIII (ββ) Reziproke Gleichheit innerhalb von hierarchischen Verhältnissen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γγ) Reziproke Gleichheit im Verhältnis zu Göttern und Geistern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Der Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Schrift   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Genese der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Bedeutung der Schrift für die Genese des Rechts  . . . . . . . . . . . . 3. Weitere Faktoren für die Rechtsgenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ökologische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Soziologische und ökonomische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Reaktionen auf die Bevölkerungsvermehrung  . . . . . . . . . . . . . . . bb) Erfordernisse der Außenverteidigung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Erfordernisse einer breiten Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Religiöse Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Politische Faktoren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zusammenfassung aller Faktoren, die zur Rechtsgenese beigetragen haben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Psychogene Faktoren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Endogene Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Autochthone Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Adjunktionen   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konjunktionen   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Interpenetrationen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . J. Das genetische Werden des prä- und protostaatlichen Rechts (II: Gesetzmäßigkeiten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Recht als hyperzyklisches System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gesetzmäßigkeiten in der Genese von Rechtsbewusstsein . . . . . . . . . . . . a) Gesetzmäßigkeiten in der individualen Ontogenese  . . . . . . . . . . . . . . aa) Emotivistische Theorien zur moralischen Ontogenese . . . . . . . . . (α) Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Die Relevanz für die Rechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kognitivistische Theorien zur moralischen Ontogenese  . . . . . . . (α) Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (αα) Jean Piaget . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ββ) R. L.Selman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γγ) Lawrence Kohlberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Relevanz für die Rechtsentwicklung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Volitivistische (‚personalistische‘) Theorien zur moralischen Ontogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

444 446 448 451 451 454 462 462 470 471 476 479 483 494 498 499 501 502 504 506 507 510 510 514 514 515 515 515 517 518 518 518 521 523 528 529 532 532

XXIV Inhaltsverzeichnis (β) Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Relevanz für die Rechtsentwicklung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gesetzmäßigkeiten in der sozialen Ontogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Nativistische Theorien zur moralischen Ontogenese  . . . . . . . . . . (α) Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Relevanz für die Rechtsentwicklung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Konditionierungs- und Lerntheorien zur moralischen Ontogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Relevanz für die Rechtsentwicklung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Identifikationstheorie zur moralischen Ontogenese . . . . . . . . . . . . (α) Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Relevanz für die Rechtsentwicklung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gesetzmäßigkeiten in der aktional- und interaktional-moralischen Genese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Hierzu vertretene Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Relevanz für die Rechtsentwicklung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassende Stellungnahme zur Bedeutung der vorgenannten Theorien für die Rechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Bedeutung für die Anagenese von Rechtsbewusstsein . . . . . . (β) Bedeutung für die Orthogenese von Rechtsbewusstsein . . . . (γ) Bedeutung für die Konditionierung von Rechtsverhalten . . . 3. Gesetzmäßigkeiten in der Genese von Verrechtlichungsprozessen . . . . . . a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sechs Phasen innerhalb der historischen Genese . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Quantitative Ursachen und qualitative Folgen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Erste und zweite Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (β) Dritte Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Vierte Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (δ) Fünfte Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ε) Sechste Phase  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnisse der historischen Genese  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Entwicklung einer machtgestützten Herrschaft  . . . . . . . . . . . . . . (α) Die Entwicklung einer machtpolitischen Grundlage . . . . . . . (β) Die Entwicklung eines machtpolitisch gestützten Rechts . . . (γ) Hoheitliche und private Rechtsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Entwicklung eines abstrakt-schriftlichen Gesetzesrechts  . . . . . . . (α) Städte als territoriale Zentren der Rechtsentwicklung . . . . . .

533 533 534 534 534 536 537 537 537 539 540 540 540 541 541 542 542 544 544 545 546 550 554 557 557 558 562 562 564 567 571 576 578 578 578 581 583 585 585

InhaltsverzeichnisXXV (β) Die Entstehung eines Rechts „ohne Ansehen der Person“ . . 586 c) Die Entwicklung eines den Rechtsnormen zugrunde liegenden Menschenbildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 (α) Kultur, Zivilisation und Recht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 (β) Kultur, Sozialstruktur und Recht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 (γ) Sozialstruktur und Weltbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592 (δ) Recht und Menschenbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 594 (ε) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 d) Partikulare Themen in der Historiogenese des Rechts (Auswahl) . . . . 598 (α) Intrasoziale Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 (β) Internationale Handelsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 (γ) Außenpolitische Schutz- und Trutzmaßnahmen . . . . . . . . . . . 605 5. Abschluss: Soziogenese, Anagenese, Orthogenese und Irreversibilität in der frühantiken Rechtskultur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 a) Rechtsordnungen als evolutionäre Systeme  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 b) Die Soziogenese der Rechtskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612 (α) Der Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 (β) Die Soziogenese eines mündlichen Prärechts und Früh­ rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 (γ) Die Soziogenese eines verschrifteten Rechts . . . . . . . . . . . . . 617 (αα) Soziogenese des materiellen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . 617 (ββ) Soziogenese des formellen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 624 c) Die Anagenese der Rechtskultur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626 (α) Rückbeziehung auf Systembegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626 (β) Rückbeziehung auf die reziproke Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . 628 (γ) Rückbeziehung auf die symmetrische Gerechtigkeit . . . . . . . 634 (δ) Rückbeziehung auf das Gefühl von Rechtssicherheit . . . . . . 635 d) Die Orthogenese von Rechtskulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638 (α) Orthogenese als linearer Richtungstrend . . . . . . . . . . . . . . . . 638 (β) Globale Orthogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643 (αα) Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643 (ββ) Höherentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 648 (γ) Ethnische Orthogenesen und Radiation . . . . . . . . . . . . . . . . . 653 (δ) Der Schwerpunkt der Höherentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . 654 e) Die Irreversibilität der Rechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657 (α) Grundlagen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657 (β) Strukturelle Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659 (γ) Inhaltliche Irrelevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 662 f) Zusammenfassung: Phasen und Mechanismen der Rechtsentwick­ lung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 662 aa) Phasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663 bb) Mechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665

XXVI Inhaltsverzeichnis 6. Anhang: Die Entwicklung von Rechtswissenschaft und Jurisprudenz in den frühantiken Rechtskulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Präzedenzien und Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Rechtsordnung als Schöpfung der Rechtswissenschaft . . . . . . . . . (α) Die Entwicklung abstrakter Rechtsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . (β) Die Entwicklung abstrakter Rechtsnormen . . . . . . . . . . . . . . (γ) Die Entwicklung eines abstrakten Rechtssystems . . . . . . . . . c) Recht vs. Billigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

671 671 674 677 678 680 686

Teil IV

Soziogenetische Entwicklungen im neuzeitlichen Recht 

K. Entwicklungstendenzen im neuzeitlichen Recht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entwicklungstendenzen innerhalb der staatlichen Verbände und ihres Rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Parallelentwicklungen von Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Vom personalistischen zum institutionalistischen Staat . . . . . (β) Vom liberalen zum sozialen Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Vom Sozialstaat zum Wohlfahrtsstaat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . (δ) Weitere inflationäre Zunahme von Rechtsgesetzen . . . . . . . . b) Konjunktionen von Staaten (‚Globalisierung‘) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Staatliche Kooperation durch politische Koordination . . . . . . (β) Staatliche Kooperation durch nationalgesetzliche Koordination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (γ) Staatliche Kooperation durch vertragliche Koordination . . . . c) Interpenetration von nationalstaatlichen Institutionen und Rechtsnormen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (α) Pakte zwischen den Nationalstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (αα) Internationales Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ββ) Transstaatliches (transnationales) Recht . . . . . . . . . . . . (β) Überstaatliche Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (αα) Supranationale Institutionen und ihr Recht . . . . . . . . . . (ββ) Globale Institutionen und ihr Recht (Völkerrecht) . . . . (γγ) Völkergewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (δδ) Globale Vertragsstandards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (εε) Bremsklotz nationalstaatliche Souveränität . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entwicklungstendenzen innerhalb der Privatunternehmen und ihres Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wirtschaftliche und politische Macht – ein Rückblick . . . . . . . . . . . . . b) Die nationale Entwicklung von privatem Unternehmensrecht . . . . . . . (α) Erste Periode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

689 689 689 690 690 697 702 704 705 708 708 711 714 714 714 716 717 717 719 720 724 725 727 730 731 734 735

InhaltsverzeichnisXXVII (β) Zweite Periode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 735 (γ) Dritte Periode  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 738 c) Die Entwicklung von inter- bzw. transsozialem Verbandsrecht . . . . . . 742 (α) Bedeutung einer inter- bzw. transsozialen Wirtschaft . . . . . . 743 (β) Staatliche Grenzen für ihre Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745 d) Rechtliche Entwicklungen infolge von Diffusion (insbesondere aus der anglo-amerikanischen Rechtskultur) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 747 e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 750 3. Entwicklungstendenzen innerhalb des prozessualen Rechts   . . . . . . . . . . 752 a) Aufgabe: Herstellung von Rechtssicherheit im staatlichen Bereich  . . 753 aa) Die Abgrenzung des rechtssicheren Zentralbereichs von den Randbereichen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 754 bb) Die Herstellung von Rechtssicherheit in den Randbereichen  . . . 755 (α) Konflikte zwischen den hoheitlichen Normen . . . . . . . . . . . . 755 (β) Konflikte zwischen privaten Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 757 (γ) Konflikte zwischen hoheitlichen und privaten Normen . . . . . 758 (δ) Konflikte zwischen nationalen und transsozialen (multinati­ onalen)Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 759 (ε) Konflikte zwischen hoheitlichen und sittlichen Normen . . . . 760 (ζ) Konflikte zwischen hoheitlichen und religiösen Normen . . . 763 (η) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 766 cc) Die Herstellung von Rechtssicherheit im zwischenstaatlichen Bereich  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 767 (α) Normenkonflikte im hoheitlichen Bereich . . . . . . . . . . . . . . . 768 (β) Normenkonflikte im privaten Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 769 (γ) Normenkonflikte im gemischt hoheitlich-privaten Bereich . . 771 (δ) Normenkonflikte im gemischt national-völkerrechtlichen Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 772 (ε) Normenkonflikte im gemischt privat-transsozialen Bereich . 774 (ζ) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 775 b) Aufgabe: Herstellung von Gerechtigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 775 aa) Gerechtigkeit aufgrund einer philosophischen Entscheidungsthe­ orie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 776 bb) Gerechtigkeit aufgrund prozessualer Zuständigkeitsregelungen und Hierarchieprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 777 (α) Sach- und Rechtskunde der Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 777 (β) Neutralität (Unparteilichkeit) der urteilenden Richter . . . . . . 777 (α) Auf der programmatischen Ebene  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 780 cc) Gerechtigkeit aufgrund von richterlichem Judiz . . . . . . . . . . . . . . 780 (β) Auf der begrifflich-gedanklichen Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . 781 (γ) Auf der teilautonomen Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 782 (δ) Verhältnis der Rechtsebenen zueinander  . . . . . . . . . . . . . . . . 782 dd) Zusammenfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783

XXVIII Inhaltsverzeichnis 4. Die Entwicklung hybriden (hoheitlich-privaten) Rechts (A: Ausgangspunkte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 784 a) Das hoheitliche Rechtsmonopol aufgrund staatlicher Eigenmacht (‚Souveränität‘)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 785 (α) ‚Isolierte‘ und ‚parallele‘ hoheitliche Rechtsordnungen . . . . 786 (β) Begegnungen hoheitlicher Rechtsordnungen (‚Adjunktion‘) . 788 (γ) Verbindend geltendes hoheitliches Recht (‚Konjunktion‘) . . . 790 (δ) Einheitlich geltendes Reichsrecht (‚Penetration‘) . . . . . . . . . 791 b) Das private Rechtsmonopol aufgrund persönlicher Eigenmacht (‚Rechtsfähigkeit‘) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 792 (α) Von der staatlichen Souveränität ausgenommene (‚isolierte‘) Rechtsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 792 (β) Berührung privater Rechtsbereiche miteinander und mit dem Staat (‚Adjunktion‘) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 794 (γ) Verbindung privater Rechtsbereiche miteinander und mit dem Staat (‚Konjunktion‘) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 795 (δ) Vereinigung privater Rechtsbereiche miteinander und mit dem Staat (‚Interpenetration‘) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 797 5. Die Entwicklung hybriden (hoheitlich-privaten) Rechts (B: Tendenzen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 798 a) Die nationale Entwicklung hybriden Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 799 (α) Alleingeltung von hoheitlichem Recht (‚Isolation‘) . . . . . . . . 799 (β) Parallelgeltung von hoheitlichem und privatem Recht . . . . . 803 (γ) Adjunktion von hoheitlichem und privatem Recht . . . . . . . . 806 (αα) Hoheitliche Einwirkungen auf die Privatsphäre . . . . . . 806 (ββ) Privatrechtliches Eindringen in die Staatssphäre  . . . . . 809 (δ) Konjunktion von hoheitlichem und privatem Recht . . . . . . . 813 (ε) Interpenetration von hoheitlichem und privatem Recht . . . . . 815 (αα) Interpenetration auf der institutionellen Ebene . . . . . . . 815 (ββ) Interpenetration auf der Gesetzgebungsebene . . . . . . . . 820 b) Die internationale Entwicklung hybriden Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 823 (α) Akteure (Übersicht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 823 (β) Supranationale und internationale Akteure . . . . . . . . . . . . . . . 825 (γ) Transsoziale Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 828 (δ) Hybride Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 832 (ε) Zusatz: Hybrides Völkerrecht zum Schutz von Menschen­ rechten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 835 c) Legitimationsprobleme hybriden Rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 839 (α) Grenzen der demokratischen Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . 839 (β) Verfahren als Ersatz demokratischer Legitimation . . . . . . . . . 847 (γ) Hybride Gerechtigkeit als Ausdruck der Sozialstaatlichkeit . 851 d) Zusammenfassung   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 858 (α) Verbindungen zwischen hoheitlichen und privaten Rechts­ subjekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 858

InhaltsverzeichnisXXIX (β) Die Hyperstruktur hybriden Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 860 (γ) Wechselseitige Kontrolle hoheitlicher und privater Rechts­ subjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 861 6. Evolutions- und Devolutionsgesetze im Recht der Neuzeit  . . . . . . . . . . . 864 a) Randbedingungen für den Wandel des Rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 864 (α) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 864 (β) Bevölkerungsveränderungen, insbesondere durch Migration . 866 (γ) Wirtschaftliche Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 873 (δ) Umweltveränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 876 (ε) Psychische Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 878 (ζ) Verwissenschaftlichung, technisch/technologische Revolu­ tion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 881 b) Wandlungen des Rechts aufgrund seiner Randbedingungen . . . . . . . . 885 (α) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 885 (β) Entwicklungen aufgrund von Bevölkerungsveränderungen . . 887 (γ) Entwicklungen aufgrund von wirtschaftlichen Veränderun­ gen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 890 (αα) Entwicklungen im Recht des internationalen Warenund Dienstleistungshandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 892 (ββ) Entwicklungen im internationalen Kommunikations­ recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 894 (γγ) Entwicklungen im internationalen Transportrecht . . . . . 895 (δδ) Souveränitätsverluste der Nationalstaaten als Folgen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung . . . . . . . . . . . . 897 (δ) Entwicklungen aufgrund von Umweltveränderungen . . . . . . 899 (ε) Entwicklungen aufgrund von psychischen Veränderungen . . 902 (αα) Leitbilder ersetzen Abbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 902 (ββ) Erstreckung des Eigentums auf Geisteswerke . . . . . . . . 905 (γγ) Erstreckung der Vergeistigung auf Zahlungsmittel . . . . 907 (δδ) Das ‚geistige Reich‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 909 (ζ) Entwicklungen aufgrund von wissenschaftlichen und tech­ nologischen Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 910 (αα) Einflüsse auf die Industrieprodukte . . . . . . . . . . . . . . . . 911 (ββ) Einflüsse auf die menschliche Umwelt . . . . . . . . . . . . . 912 (γγ) Einflüsse auf den Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 914 c) Gesetzmäßigkeiten des rechtlichen Wandels  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 917 (α) Rechtsordnungen als sich wandelnde Teile humaner Systeme . 917 (β) Rechtsordnungen als sich wandelnde Teile sozialer Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 921 (γ) Rechtsordnungen als sich wandelnde Teile staatlicher Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 923 (δ) Rechtsordnungen als sich wandelnde Macht- und Gerech­ tigkeitssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 933

XXX Inhaltsverzeichnis (αα) Internationale Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 937 (ββ) Nationale Analyse  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 939 (γγ) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 941 (ε) Entwicklungstrends zur Gewinnung von Gerechtigkeit im hoheitlichen Rechtsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 943 (αα) Staatsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 943 (ββ) Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 947 (γγ) Verwaltungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 950 (δδ) Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 953 (ζ) Entwicklungstrends im privaten Rechtsbereich . . . . . . . . . . . 956 (η) Gesetzmäßigkeiten im Verhältnis der Rechtsbereiche zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 958 (θ) Zusammenfassung der evolutiven Gesetzmäßigkeiten im heutigen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 965 (ι) Künftige Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 975 7. Ergebnis: Die Verrechtlichung der neuzeitlichen Lebenswelt  . . . . . . . . . 978 a) Verrechtlichungsbreite (differenzierender Aspekt) . . . . . . . . . . . . . . . . 978 b) Verrechtlichungshöhe (integrierender Aspekt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 984 c) Verrechtlichungstiefe (sozialethischer Aspekt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 996 (α) Individuale Gerechtigkeit unter den Bedingungen des neuzeitlichen Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 998 (β) Soziale Gerechtigkeit unter den Bedingungen des neuzeit­ lichen Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1000 (αα) Wohlstandsgewinnung gemäß der ratio naturalis . . . . . 1001 (ββ) Wohlstandsaufteilung gemäß der ratio utilitatis . . . . . . 1001 (γγ) Wohlstandsverteilung gemäß der ratio aequitatis . . . . . 1008 (δδ) Toleranz und Billigkeit gemäß der ratio voluntatis . . . 1012 (γ) Globale Gerechtigkeit unter den Bedingungen neuzeitlicher Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1013 (αα) Erweiterung der nationalen Souveränität durch inter­ nationale Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1014 (ββ) Begrenzung der staatlichen Souveränität durch inter­ nationale Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1016 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1022

Teil I

Entwicklung A. Historie, Genese, Historiogenese – Versuche einer Begriffsklärung – 1. Was ist Historie? In der Vorrede zu seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ stellte Hegel den später berühmt gewordenen Satz auf: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“1 Es hieße, den Sinn dieses Satzes missverstehen, wollte man ihm Hegels Meinung entnehmen, dass Vernunft und Realität sich decken. Seinem auf die Erkenntnis des absoluten Geistes gerichteten Blick war keineswegs entgangen, dass manches in der Relativität der Erscheinungen nicht so vernünftig war, wie es sein sollte.2 Aber er meinte, dem im positivistischen Sinne Seienden infolge der Zufällig­ keit seiner Existenz nicht den emphatischen Namen des Wirklichen zuspre­ chen zu dürfen.3 Wahrhaft wirklich war für ihn allein dasjenige, worin die Vernunft sich hervorbringt. Als Ort solcher Selbstproduktion der Vernunft sah er die Weltgeschichte an: Dass es darin „vernünftig zugegangen sei, diese Überzeugung und Einsicht ist eine Voraussetzung in Ansehung der Ge­ schichte als solcher überhaupt“4. Der von Hegel begründeten Unterscheidung zwischen den Begriffen einer positiven (positivistischen) und einer geschichtlichen Wirklichkeit entspre­ chen unterschiedliche Methoden der Begriffsbildung. Der Begriff der positi­ ven Wirklichkeit wird von der Erfahrung aus gebildet. Positive Wirklichkeit ist die Summe des Erfahrbaren, des auf die Sinne ‚Wirkenden‘ und von die­ sen als ‚wirklich‘ Wahrgenommenen. Ein solcher Begriff hat seine Grenzen; 1  G. W. F. Hegel

(l821), S. XIX. (1830), § 6. 3  G. W. F. Hegel (1830), § 6: „Im gemeinen Leben nennt man etwa jeden Einfall, den Irrtum, das Böse und was auf diese Seite gehört, sowie jede noch so verküm­ merte und vergängliche Existenz zufälligerweise eine Wirklichkeit. Aber auch schon einem gewöhnlichen Gefühl wird eine zufällige Existenz nicht den emphatischen Namen eines Wirklichen verdienen; – das Zufällige ist eine Existenz, die keinen grö­ ßeren Wert als den des Möglichen hat, die so gut nicht sein kann, als sie ist.“ 4  G. W. F. Hegel (1840), 5.20. 2  G. W. F. Hegel

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Teil I: Entwicklung

denn als wirkend erfahren wird nur das Einzelne der Erscheinungswelt, das sich zwar mit einem Namen belegen, nicht aber begrifflich fassen lässt. Den anderen Teil der Wirklichkeit versuchte Hegel, als Vernunft in den (Be-)Griff zu bekommen. Methodisch entstand damit indes ein Problem: Welche Er­ kenntnismittel stehen der Vernunft zur Verfügung? Es ist bekannt, dass Hegel insoweit höchst einfach auf eben diese Vernunft zurückverwies: Die Vernunft erkenne sich selbst in der Wirklichkeit, da sie es sei, die aus dem Strom zu­ fälliger Erscheinungen die ‚Wirklichkeit‘ (im Hegelschen Sinne) hervor­ bringt.5 Damit aber geriet er in einen Zirkel, der für seine Philosophie ver­ hängnisvoll wurde und deren fast allgemeine Ablehnung begründet hat. Doch wie kann man den Zirkel vermeiden? Was die Historie anbelangt, bot sich ein Weg, den Heinrich Rickert beschritt.6 Er stellte der naturwissen­ schaftlichen Begriffsbildung, die er als generalisierend bzw. „nomothetisch“ bezeichnete, die individualisierende bzw. „idiographische“ Begriffsbildung gegenüber, die für die historischen Wissenschaften typisch sei. An der Fran­ zösischen Revolution beispielsweise interessierten den Historiker nicht die allgemeinen Züge, die sie mit anderen Revolutionen gemeinsam hat, sondern die individuellen Besonderheiten. Zwar könne der Historiker ebenso wenig wie der Naturwissenschaftler das Individuelle unmittelbar im Begriff erfas­ sen; doch ergebe die Vielzahl der allgemeinen Elemente für ihn ein Ganzes, das historisch unverwechselbar nur einmal existiert. Selbstverständlich halte der Historiker dann längst nicht alles für aufzeichnungswürdig, was je ge­ schah.7 Vieles erscheine ihm zu ‚gleichgültig‘, zu ‚banal‘, als dass es der 5  G. W. F. Hegel (1807), Abschnitt V: „Die Vernunft ist die Gewissheit des Be­ wusstseins, alle Realität zu sein.“ 6  Zum Folgenden H. Rickert (192l), S.  197  ff. und passim; aber auch schon R. von Jhering (1907/1993), S. 58 ff., 58: „Auf der niedrigsten Stufe der Geschichts­ schreibung vollzieht sich bereits die Scheidung zwischen wesentlichen und unwesent­ lichen, geschichtlichen und ungeschichtlichen Ereignissen.“ In einem Zirkel verfängt sich dagegen vom Standpunkt seiner analytischen Philosophie A. C. Danto (1980), indem er die Aufgabe der Geschichtsschreibung in der Rekonstruktion und Erklärung geschichtlicher (!) Vorgänge sieht (S. 404 f.): Erklärungen „werden verwendet, um Veränderungen zu erklären, und zwar – was überaus charakteristisch für sie ist – um­ fassende Veränderungen, die innerhalb von Zeiträumen stattfinden, die, verglichen mit der Dauer eines Menschenlebens, gewaltig sind. Es ist Aufgabe der Geschichte, uns diese Veränderungen offenbar zu machen … und [sie] gleichzeitig mit der Ent­ wicklung dessen, was sich zugetragen hat, zu erklären.“ Die Romanistin M. Th. Fögen (2003) sieht dementsprechend die Aufgabe des Rechtshistorikers darin, den „er­ zählerischen Überbau ‚abzutragen‘ “, den die Texte der antiken Geschichtsschreiber mit sich geführt haben (S. 3). Sie erzählt deshalb die „römischen Rechtsgeschichten“ nach, um anschließend darin (oder darunter) die ‚römische Rechtsgeschichte‘ aufzu­ spüren und um zu erklären, weshalb „das Recht so wurde, wie wir es in jeweiligen historischen und gegenwärtigen Situationen vorfinden“ (S. 17, Nachw. in Fn. 30). 7  H. Rickert (1921), S. 244 ff., 256 ff.



A. Historie, Genese, Historiogenese3

Geschichte oder gar ihren Marksteinen zuzuordnen wäre. Nur Weniges be­ sitze genügend Wert, um dem Schleier des Vergessens, den die Zeit allmäh­ lich über das Gewesene breitet, entrissen und der Nachwelt überliefert zu werden. Was aber besitzt diesen Wert? Hier antwortete Rickert als Neukan­ tianer sehr formal: das, wofür in der Kulturgemeinschaft, in welcher der Forscher lebt, ein allgemeines Erkenntnisinteresse besteht.8 Damit waren die Begriffe ‚Wert‘ und ‚Interesse‘ in die Methodenlehre ein­ geführt, wo sie im Folgenden von den Sozialwissenschaften unter Einschluss der Rechtswissenschaften aufgegriffen werden konnten. 2. Was ist Rechtsgeschichte? Auch die Sozialwissenschaften erschließen aus dem Strom zufälliger Er­ scheinungen ihre ‚Wirklichkeit‘. Aber während die Geschichtswissenschaften sie meist aus einmaligen Ereignissen abstrahieren, abstrahieren die Sozialwis­ senschaften sie aus sich ähnlich9 wiederholenden Vorgängen.10 Ihre Begriffs­ bildung entspricht daher zumindest teilweise der naturwissenschaft­lichen – sie ist generalisierend hinsichtlich der zugrunde gelegten Befunde, und sie ist „nomothetisch“ hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen den Befunden.11 Anders als die Naturwissenschaften bedienen sich die Sozialwissenschaften jedoch keiner einheitlichen Methode der Begriffsbildung, sondern je nach ­Erkenntnisinteresse einer wertfreien oder einer wertbezogenen. Die erste Me­ thode ist die der empirischen Sozialwissenschaften, die somit den Naturwis­ senschaften nahestehen. Die zweite Methode dagegen ist die der normativen Sozialwissenschaften (Kulturwissenschaften), zu denen auch die Rechtswis8  H. Rickert (1921), S. 245 ff. Ich gehe hier nicht auf die Fragen ein: Ob es über­ haupt ‚die‘ Geschichte gibt oder ob wir uns mit mehreren Arten von Geschichte ab­ zufinden haben? Ob es ‚geschichtslose Völker‘ gibt, oder ob alle Völker eine Ge­ schichte durchlaufen? Ob Geschichte nur das ist, was Menschen (zielgerichtet?) ma­ chen oder auch das, was sie ziellos, zufällig herbeiführen? Auch das, was sie zwar nur erfahren, aber einen ‚geheimen Sinn‘ darin vermuten, der für sie wichtig ist? usf. Solche Fragen mögen sich einer Geschichtsanthropologie stellen, aber in diese hier einzudringen, ist nicht mein Ziel. 9  Im Sinne von R. Boudon/F. Bourricaud (1992), S. 165 ff., ist ‚Ähnlichkeit‘ hier als ‚strukturelle Gleichheit‘ zu begreifen. 10  Ob dieser Gegensatz absolut ist, bleibe hier dahingestellt. 11  Wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass die heutigen Sozialwissenschaftler nicht (wie noch K. Marx) nach Gesetzen suchen, welche die historische Entwicklung determinieren, sondern nur nach solchen, die sie programmieren. „One of the impor­ tant differences between the 19th- and 20th-century forms of evolutionism is the shift from deterministic to probabilistic formulation“ – so zutreffend G. Lenski (1976), p. 557. Verneinend allerdings selbst insoweit R. A. Nisbet (1969), p. 3 ff. und passim; gegen ihn jedoch zutreffend G. Lenski, op. cit.

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Teil I: Entwicklung

senschaft gehört; sie heben sich durch den Wertbezug ihrer Begriffe von den empirischen Sozialwissenschaften und erst recht von den Naturwissenschaften ab und stehen folglich insoweit den historischen Wissenschaften nahe. Nun geht das Interesse der normativen Sozialwissenschaften allerdings auch auf die historische Wirklichkeit menschlicher Gesellschaften. Daher umschließen sie neben ihrer dogmatischen auch eine eigene historische For­ schungsrichtung: die Sozialgeschichte. Einen Ausschnitt davon stellt die Rechtsgeschichte dar. Sie ist die Geschichte der Vergesellschaftungsformen (Ehe, Familie, weitere Personenverbände, genossenschaftliche und herr­ schaftliche Organisationen), der Besitzverfassungen (Grundeigentum, Fami­ liengüterrecht, Vererbung), der sozial anerkannten Verhaltensregeln (Vertrag, Delikt, Rechtsstreit, Vollstreckung) sowie der sozialpsychologischen Grund­ lagen für die Anerkennung all dieser Formen und Verhaltensregeln (Überzeu­ gung, Rechtsbewusstsein). Ihre Methode ist daher grundsätzlich die der all­ gemeinen Geschichtswissenschaft: sie ist individualisierend bzw. ‚idiogra­ phisch‘ sowie auf kulturelle Werte bezogen.12 Als Geschichte kultureller Gesellschaftsformen und Verhaltensregeln bedarf sie jedoch zusätzlich zum allgemeinen kulturhistorischen Wertbezug eines speziellen Bezugs auf jene sozialen und politischen Institutionen, die für die Entwicklung von (Proto-) Staaten und des spezifisch (proto-)staatlichen Rechts bedeutsam waren.13 12  So zunächst auch F. Wieacker (1967), S. 17: „Die Rechtsgeschichte ist, wie jede Geschichtsschreibung, idiographische Wissenschaft, d. h. sie hat es zu tun mit individu­ ellen Vorgängen und Zuständen der geschichtlichen Welt.“ Dann allerdings schränkt er ein: „System, Lehrsätze und Begriffe, d. h. die Dogmatik einer jeweils geltenden Rechtsordnung, sind streng genommen nicht Gegenstand ‚idiographischer‘ Darstellung (im Sinne Rickerts): sie haben als solche so wenig Geschichte wie die Naturgesetze oder die logischen Sätze – mag auch ihr Erscheinen im Bewusstsein des Dogmatikers und der Rechtsgenossen geschichtlich und geschichtlichem Wandel unterworfen sein. Ihre ‚Entwicklungen‘ sind in Wahrheit nur Wandlungen im Bewusstsein, in den Über­ zeugungen und den Verhaltensregeln geschichtlicher Rechtsgemeinschaften.“ Wie­ ackers Platonische Auffassung von den juristischen Dogmen teile ich nicht. Den Unter­ schied zwischen der allgemeinen Geschichte und der Rechtsgeschichte sehe ich aus­ schließlich darin, dass sich jene auf empirische, diese auf normative Tatsachen bezieht (oder, wenn man den Begriff ‚Tatsache‘ vermeiden will: auf normative Konstrukte). Im Übrigen stimme ich aber mit ihm überein: So wenig sich die Geschichte für bloß empi­ rische (Natur-)Ereignisse interessiert, so wenig interessiert sich die Rechtsgeschichte bloß für das Kommen und Gehen von normativen Konstrukten). Und ebenso wie für die Geschichte empirische Tatsachen erst auf der Ebene sozialer Bedeutung zu ‚Tatsa­ chen‘ werden, so werden für die Rechtsgeschichte normative Konstrukte erst auf der Ebene von Gewohnheits- oder Gesetzesrecht zu bedeutsamen ‚Normen‘. Ereignisse ohne überregionale Bedeutung sind für die Geschichte, Normen ohne überregionale Bedeutung sind für die Rechtsgeschichte uninteressant. 13  Zum Ganzen auch M. Bretone (1998), S. 30 f. Zur einstweilen noch bedeutungs­ losen Unterscheidung zwischen Protostaaten und Staaten siehe meine Ausführungen unter E 5.



A. Historie, Genese, Historiogenese5

Diese Institutionen unterlagen einem historischen Wandel. Doch da sie als Auswahl- und Deutungsmodelle für das historische Material logisch zwin­ gend auf einer höheren Stufe standen als das Material selbst, unterlagen sie – zumindest hypothetisch – anderen, weniger vom Zufall beherrschten, m. a. W. stärker kausalgesetzlichen Wandlungen als das Material. 3. Was ist Genese? Mit kausalgesetzlich verlaufenden Wandlungen haben sich bisher vor allem die evolutiven Biowissenschaften beschäftigt.14 Sie unterscheiden zwischen (1) der Stammesentwicklung oder Phylogenese (einschließlich der Anthropogenese), (2) der Individualentwicklung oder Ontogenese, (3) der Erlebnis- und Verhaltensentwicklung oder Aktualgenese und schließlich (4) der Entwicklung sozialer Biosysteme oder Soziogenese15. In sämtlichen Fällen bezeichnet ihr Begriff ‚Entwicklung‘16 oder ‚Genese‘ Veränderungsreihen, für die gewisse Gesetzmäßigkeiten kennzeichnend sind oder, vorsichtiger ausgedrückt, ge­ wisse Trends, nach denen sie verlaufen. Für die Phylogenese, also die Entwicklung ‚von einem Ei zum anderen‘, kann als Trend angenommen werden, dass sie orthogenetisch, d. h. ausschließ­ lich in die einmal eingeschlagene Richtung,17 und irreversibel, d. h. unum­

14  Freilich nicht nur sie, denn alles Seiende ist sowohl Gewordenes als auch Grundlage für künftig Werdendes. Der gesamte Kosmos lässt sich nur als ein Wer­ dender und alles darin Vorhandene nur als ein Gewordenes und wieder Vergehendes, in anderem Wiederauferstehendes begreifen (1. Hauptsatz der Thermophysik bzw. Energieerhaltungssatz der Mechanik). 15  Hierbei übergehen sie allerdings, dass die Soziogenese sich als Gruppen- und Populationsgenese, Berührungs- und Beziehungsgenese vollziehen kann. Vgl. dazu noch unten K 6 c. 16  Als ‚Entwicklung‘ (= Genese auf einer Zeitschiene) bezeichne ich im Folgenden jede nachhaltige Veränderung bzw. (gleichbedeutend) Wandlung eines realen, d. h. materiellen oder immateriellen (geistigen), Zustands auf einer Zeitschiene, während ich als ‚Evolution‘ (ohne Zusatz) nur die irreversible Höherentwicklung (‚Anage­ nese‘) bezeichne. 17  Der Orthogenese (grundlegend zu ihr H. Werner, 1957) liegt, das sei ausdrück­ lich betont, kein ‚Richtungsplan‘ einer übernatürlichen Macht zugrunde, der einfache Formen veranlasst, sich in gerader Richtung zu komplexeren Formen (etwa des Kör­ perbaus) zu entwickeln. Sie beschreibt lediglich den biotischen Trend aller Lebewe­ sen, auf Umweltveränderungen durch Ausdifferenzierung neuer Eigenschaften (Mutation) und Integration der mutierten Eigenschaften in die Einheit des Organismus zu reagieren – weshalb die Struktur der Organismen tendenziell komplexer wird. Dieser in den Organismen angelegte Entwicklungstrend führt, das sei weiterhin betont, kei­ neswegs immer zum Ziel. Im Gegenteil ist das Aufkommen einer neuen komplexeren Organismusgruppe ein außerordentlich seltenes Ereignis, das dann freilich für den

6

Teil I: Entwicklung

kehrbar,18 verläuft, also zwar kausal, aber kausalgesetzlich nicht nach der For­ mel S1 ® S 2 ® S3 ®  ® S n-1 ® S n ,19

(1)

sondern aufgrund von Mutation und Selektion nach der Formel (2)

S1 ®

S¢ S1¢ S¢ Þ S 2 ® 2 Þ S3  S n-1 ® n-1 Þ S n .20 + x1 + x2 + xn-1

Die Darwinsche Evolutionstheorie nahm an, dass Mutationen ungerichtet erfolgen, Selektionen dagegen durch die Umwelt determiniert würden – was konkret bedeuten würde, dass jeweils nur die der Umwelt angepassten Indivi­ duen einer Art überleben und ihr genetisches Material an die Artgenossen weitergeben können. Aufgrund dieser Annahmen lässt sich jedoch die Ortho­ genese als Entwicklungstrend nicht erklären.21 Ferner bleibt ein weiterer Ent­ wicklungstrend unerklärt: die Anagenese, d. h. der Trend zur Ausbildung im­ mer speziellerer organismischer Funktionen, die durch weitere, ebenfalls neu ausgebildete Funktionsträger in den Gesamtorganismus integriert werden.22 Alle Theorien, die sowohl die Orthogenese als auch die Anagenese bejahen (und gleichzeitig die Orthogenese auf anagenetische Prozesse be­schränken)23, berücksichtigen deshalb zusätzlich eine Eigendynamik der innerorganismi­

Fortgang der Evolution einzig zählt, während eine Unmenge von Misserfolgen der Preis ist, den die Natur dafür bezahlt. 18  J. Monod (1975), S. 113: „Jede einfache, punktuelle Mutation … ist unumkehr­ bar. … Jede merkliche Evolution … setzt jedoch eine große Anzahl unabhängig von­ einander erfolgender Mutationen voraus, die nach und nach in der ursprünglichen Art sich häufen und dann – immer noch zufällig – durch den mit der Geschlechtlichkeit entstandenen ‚genetischen Gezeitenstrom‘ rekombiniert werden. Wegen der Fülle der unabhängigen Ereignisse, aus denen sie hervorgeht, ist eine solche Erscheinung sta­ tistisch irreversibel.“ 19  Im Fall statistischer Gesetze ist ein probabilistischer Index zu ergänzen. 20  S1  , S n sowie S1¢ , S n¢-1 bezeichnen hierbei Sachverhalte, die aus den vorange­ henden Zuständen erklärt werden können, während x1  , xn-1 zusätzliche genetische Informationen darstellen, die eingeschoben werden müssen, um den nachfolgenden Zustand zu erklären. 21  Ebenfalls nur eine Teilerklärung liefert die Zusatzannahme, dass jede Gerichtet­ heit der Evolution durch die Stabilität der Selektionskräfte erzeugt werde. Vgl. etwa G. Schurz (2011), S. 135 f., 191 f. 22  Wegweisend K. E. von Baer (1828), nach dessen Theorie basale Strukturen früh entwickelt und später lediglich ausdifferenziert werden. 23  H.-D. Schmidt (1977), S. 386 f.



A. Historie, Genese, Historiogenese7

schen Entwicklung – ohne allerdings bisher eine allgemein anerkannte Erklä­ rung dafür gefunden zu haben.24

24  Noch nicht erkannt wurde die Problematik im Zeitalter der Aufklärung, die des­ halb jeden Fortschritt auf die Veränderungen des menschlichen Geistes beschränkte, während sie in der nicht-menschlichen Natur nur einen ewigen Kreislauf am Werke sah. Vgl. A. R. J. Turgot (1750/1990), S. 140: „Die Erscheinungen der Natur, die konstanten Gesetzen unterliegen, sind in einen Kreislauf immerwährend gleicher Um­ wälzungen eingeschlossen. … Die Abfolge der Menschen hingegen bietet von einem Jahrhundert zum anderen ein immer neues Schauspiel.“ Die menschliche Gattung besitze eine nur ihr eigene Triebkraft, sich zu perfektionieren, indem sie nach immer vollkommeneren Erkenntnissen strebt. Vgl. allerdings auch ders. (1753/1990), S. 168 ff., wo er (S. 168) auch den Tieren eine geschichtliche Entwicklung zubilligt und somit zur Unterscheidung zwischen einer geschichtsfähigen Natur des Organi­ schen und einer unhistorischen Natur des Mechanischen vorstößt. Gleichzeitig trägt er dort der Ungleichzeitigkeit der menschlichen Entwicklung in unterschiedlichen geographischen Räumen Rechnung (S. 169, 182 ff.). Genauer erkannt wurde die Besonderheit der menschlichen gegenüber der tieri­ schen Entwicklung hundert Jahre später, dann jedoch mit unterschiedlichen Konse­ quenzen. A. R. Wallace (1870/2001) nahm an, dass der menschliche Geist von den Gesetzen der Evolution ausgespart bleibe. Darwin selbst dagegen verwarf die Begren­ zung der Evolution auf die biotische Entwicklung und bezog die Entwicklung der Psyche in seine Evolutionstheorie mit ein, ohne insoweit allerdings ein Forschungs­ programm zu entwerfen. Der Vorstoß zur Einbeziehung der Kultur in die Evolution des Menschen gelang erst in neuester Zeit, indem man dem Hervorgehen von Lebe­ wesen mit differenzierten Bau- und Funktionsweisen sowie aufeinander aufbauenden Hierarchieebenen durch ein zwar von der Biologie ausgehendes Differenzierungssys­ tem Rechnung trug, das jedoch zur weiteren Entwicklung spezifisch kultureller For­ men des sozialen Daseins bedarf. Dadurch verlagerte man die evolutive Aufgabe des Menschen von der äußeren Anpassung an die jeweiligen Umweltbedingungen auf die Entwicklung innerer Funktionssysteme, welche nicht mehr die Früchte von Umwelt­ veränderungen, sondern von überwiegend inneren Gesetzmäßigkeiten sind. Vgl. dazu beispielsweise H.-R. Duncker (1998), S. 20: Nur aufgrund „eines komplementären Denkens sowohl in einer darwinistischen Weiterentwicklung von Merkmalen wie zugleich in den zunehmenden funktionellen Verknüpfungen ihrer Leistungen, wo­ durch die phänomenologisch neuen Funktionssysteme und Fähigkeiten entstehen, ist die Komplexität der menschlichen Erscheinung zu erfassen und damit seine über die Biologie weit hinausgehende Eigenständigkeit in seinen sozialen und kulturellen Leistungen.“ Die Aufgabe, auch Mechanismen der inneren Selektion in den Evolutionsvorgang einzubeziehen, hat zuerst die Systemtheorie der Evolution durch die Annahme einer zur äußeren Selektion hinzutretenden „inneren Selektion“ zu lösen versucht (vgl. dazu R. Riedl, 1975, S. 287 ff., 298): Diese innere Selektion begrenze die Wirkung äußerer Selektionsfaktoren auf Veränderungen, die sich in die Entwicklung des Gesamtorganis­ mus einfügen lassen, ohne die innere Stimmigkeit der Untersysteme negativ zu beein­ flussen. Ein empirischer Nachweis von inneren Selektionsfaktoren ist bisher allerdings nicht gelungen. Siehe dazu K. Eder (1987); F. M. Wuketits (1989), S. 137 ff. Insgesamt werde ich auf die Problematik einer Weiterentwicklung der Evolutionstheorie im letz­ ten Teil meiner Untersuchung zurückkommen (vgl. unten K 6 c).

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Teil I: Entwicklung

Eine solche Erklärung wäre auch für die Soziogenese wichtig, weil sich die Problematik hier wiederholt. Ansatz der Selektion ist hier sowohl die überindividuelle Gruppe (bzw. Population) als Einheit eines Genpools als auch das Individuum als Element innerhalb dieses Genpools. Neben die Genselektion tritt hier folglich die Gruppenselektion: Selegiert werden dieje­ nigen Gruppen, die intrasozietär für das Überleben in der Umwelt gerüstet sind. Und weil unbestritten ein altruistisches und kooperatives Verhalten der Gruppenmitglieder dazu gehört, sind es diejenigen Gruppen, deren Genpool die im Verhältnis zur Gesamtzahl größte Anzahl von altruistischen und ko­ operierenden Teilen bzw. Mitgliedern hervorbringt. Unbeantwortet bleibt wiederum die Frage, warum überhaupt einzelne Arten von Lebewesen einem orthogenetischen Trend zu sozialen Bindungen und darüber hinaus zum sozi­ alen Zusammenleben gefolgt sind und warum das Zusammenleben einiger von ihnen vom anagenetischen Trend bestimmt wurde, die Beziehungen zu­ einander immer differenzierter und komplexer auszugestalten, sodass dann immer zahlreichere soziale Mechanismen nötig wurden, um die Komplexität wieder zu reduzieren – zum Beispiel ein hierarchisches Organisationsgefüge und eine dahinter stehende geballte Macht. Neuere Theorien nehmen hier wiederum eine (auf Lernen gestützte) Eigendynamik an, für die sie jedoch noch keine allgemein akzeptierte Erklärung anbieten können.25 4. Was ist Historiogenese? Kommen wir auf die Rechtsentwicklung zurück. Es ist leicht zu bemerken, dass sie sich weder allein der Phylo- noch allein der Soziogenese unterord­ nen lässt. Der Grund liegt darin, dass das Recht weder ein natürliches noch ein sozial-empirisches, sondern ein sozial-normatives (soziokulturelles) Phä­ nomen ist. Will man die Begriffe ‚Entwicklung‘ und ‚Genese‘ dennoch auch auf geschichtliche Veränderungsreihen im Recht anwenden, muss man sie daher sozial-normativ interpretieren. Und um dies zu verdeutlichen, erscheint es zweckmäßig, statt von einer Rechtsentwicklung oder Rechtsgenese besser von einer Historiogenese des Rechts als Teil einer soziokulturellen Entwick­ 25  Die meisten Anthropologen nehmen an, dass Differenzierungen innerhalb des Gehirns zu besseren geistigen Leistungen führen und dass bessere geistige Leistungen einen evolutiven Vorteil bringen. Allerdings bedingt ein größeres Gehirn einen größe­ ren Kopf, und ein größerer Kopf erschwert den Geburtsvorgang. Überdies verlängert ein komplizierteres Gehirn die Kindheit, sodass der Nachwuchs längerer elterlicher Pflege bedarf. Sozialwissenschaftlich bessere Anwendungsmöglichkeiten erlaubt m. E. eine mittels Computersimulation gewonnene Theorie von S. A. Kauffmann (1993; 1995; 2000), wonach die Evolution zusätzlich zur äußeren Selektion auf einer spontanen inneren Organisation als endogenem Faktor beruht. Diese bringe das Sys­ tem an den Rand des Chaos und steigere dadurch seine dynamische Fähigkeit zur Selbstorganisation.



A. Historie, Genese, Historiogenese9

lung zu sprechen. Doch ist mit der terminologischen Klarstellung nicht viel gewonnen, solange man nicht weiß, was unter einer Historiogenese und einer soziokulturellen Entwicklung im Gegensatz zu einer Phylogenese und einer Soziogenese zu verstehen ist. Was also sind die beiden? Im Gegensatz zur Phylogenese vollzieht sich die Historiogenese nicht nur mittels individueller Verknüpfung ‚von einem Ei zum anderen‘, sondern auch mittels überindividueller Verknüpfung von menschlichen Adultformen. Und im Gegensatz zur Soziogenese verknüpft die soziokulturelle Entwicklung Adultformen weder infolge ihrer Zugehörigkeit zu einer biotischen Fort­ pflanzungsgemeinschaft, sondern infolge ihrer Zugehörigkeit zu einer geis­ tig-seelischen Kulturgemeinschaft,26 noch infolge einer aktualgenetisch her­ gestellten sozialen Gemeinsamkeit, sondern infolge ihrer gemeinsamen Ein­ gebundenheit in einen sozialen Herrschaftsraum. Weil aber die menschlichen Adultformen eine je eigene, voneinander weitgehend unabhängige Ontoge­ nese durchlaufen, verändert sich die Kultur historisch nicht nach der linearkausalen Formel (3)

W1 ® W2 ® W3 ® Wn-1 ® Wn ,

sondern aufgrund einer Unmenge kumulativer, für einander zufälliger Ein­ flüsse, die sich zwar weitgehend, aber niemals vollständig neutralisieren.27 In ihrer Gesamtheit erzeugen sie infolgedessen Veränderungen, die je nach der schöpferischen Vielfalt einer Gesellschaft zwar mal langsamer, mal schneller verlaufen, insgesamt jedoch eine gewisse Stetigkeit in der Geschwindigkeit wie in der Ausrichtung besitzen: (4)

W1 ®

W¢ W1¢ W¢ Þ W2 ® 2 Þ W3 ® Wn-1 ® n-1 Þ Wn .28 + x1 + x2 + xn-1

26  Zur Koevolution von Genen und Kultur allgemein vgl. P. Barth (1915), S.  160 ff.; R. Hernegger (1989), S. 45 ff.; J. Y. Sasaki (2013), p. 64: „Cultural psy­ chology provides an explanatory framework for understanding meaningful variation in thought and behavior across cultures, and neuroscience offers explanations of how the brain and genes underlie psychological processes. By combining these two per­ spectives into a new field, cultural neuroscience may be well equipped to investigate the mind more completely, as arising from multiple interacting forces within and be­ yond the individual.“ 27  Vermutet wird beispielsweise ein Langzeit-Trend zu demokratischen politischen Strukturen von J. Z. Xue (2013). 28  W W sowie W ¢W ¢ 1 n 1 n-1 bezeichnen hierbei die kulturell werthaften Zustände, die aus den vorangehenden Zuständen erklärt werden können, während x1  xn-1 die kulturellen Mittelwerte von individuell-schöpferischen Einflüssen bezeichnen, die zur Begründung der nachfolgenden Zustände eingeschoben werden müssen.

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Teil I: Entwicklung

Die Veränderungen erscheinen daher dem Auge der Gegenwart zwar als zufällig, ‚spontan‘; im Rückblick jedoch erkennt man einen irreversiblen Trend, der die Wiederkehr stilistisch29 gleicher kultureller Formen aus­ schließt. Um eine Erklärung dafür ist man abermals verlegen. Man hat auf die ungeheure Komplexität selbst der einfachsten Kulturen hingewiesen, die eine komplette Wiederholung im Laufe der Geschichte schon rein statistisch ausschließt.30 Wenn gleichwohl manche Kulturerscheinungen (wie etwa das Barock) immer wiederkehrten, dann jeweils ausgehend von einer anderen Entwicklungsstufe, wodurch sie sich in ihrer Qualität notwendig unterschie­ den. Indes versagt diese Erklärung, wenn man auf Kulturentwicklungen trifft, die unabhängig voneinander dieselbe Richtung eingeschlagen, oder auf Stil­ entwicklungen innerhalb von Kulturen, die sich gleich oder zumindest ähn­ lich wiederholt haben (etwa vom Barock zum Rokoko). Die Wissenschaft muss also auch hier nach einem überzeugenden Konzept noch fahnden.31 Für einen weiteren kulturellen Trend ist die Wissenschaft eine überzeu­ gende Erklärung bisher ebenfalls schuldig geblieben: für die Anagenese, ge­ nauer für die kulturelle Höherentwicklung aufgrund von Differenzierung, Spezialisierung und Integration in übergeordnete Einheiten.32 Erklären kann sie lediglich das Wie der Entwicklung: Die Kultur verknüpft die erwachse­ nen Glieder einer Gesellschaft, weil sie die gesellschaftlich erarbeiteten Kulturleistungen als Anforderungen an die nachfolgende Generation wieder­ kehren lässt und damit einen wesentlichen Einfluss auf deren Heranwachsen und damit auf die Historiogenese der Gemeinschaft insgesamt ausübt.33 Zu­ 29  Vgl. K. Zeitlinger (1986), S. 214: „Geist tritt immer in Form von Stil auf, in dem sich das Verhältnis von Geist und Wirklichkeit spiegelt. Stil zeigt sich schon in den frühesten Kulturen und erst recht in den Hochkulturen der Menschheit.“ Ähnlich schon A. Weber (1931), S. 289. Zur Geschichte des Stilbegriffs und seinen Konnota­ tionen vgl. H. U. Gumbrecht (2006), S. 159 ff. 30  Dazu schon J. G. Herder (1784–1791/1906), S. 157: „Das haben alle Gattungen menschlicher Aufklärung gemein, dass jede zu einem Punkt der Vollkommenheit stre­ bet, der, wenn er durch einen Zusammenhang glücklicher Umstände hier und dort erreicht ist, sich weder erhalten noch auf der Stelle wiederkommen kann, sondern eine abnehmende Reihe anfängt. … Als Homer gesungen hatte, war in seiner Gattung kein zweiter Homer denkbar.“ 31  Zum Stand der Forschung vgl. M. Harris (1989), S. 436 ff.; St. K. Sanderson (1991); M. Schmid (1998). Vgl. auch unten J 5 d α: Orthogenese als linearer Rich­ tungstrend. 32  Gemeint sind etwa eine verfeinerte Technik, eine größere Vielfalt an Waffen-, Werkzeug- und Apparateformen mit spezieller Funktion, Gesamtheiten wie Jagdge­ räte, Kriegswaffen, Ackergerätschaften, Baumaterialien usw. 33  Übereinstimmend G. Dux (2000), S. 274 ff. (zu seiner „historisch-genetischen Theorie der Kultur“ vgl. noch unten bei Fn. 84). Kultur ist somit Aktualisierung eines kollektiven Gedächtnisses. Ihre Bedeutung kommt sowohl in der antiken Terminolo­ gie (παραδιδόναι, ‚tradere‘ von ‚transdare‘) als auch in deren neusprachlichen Äqui­



A. Historie, Genese, Historiogenese11

gute kommen ihr dabei zwei spezifisch menschliche Fähigkeiten: die zum Lernen durch Imitation intentionalen Verhaltens (vor allem seitens der Kin­ der) und die zum gezielten Unterricht (vor allem seitens der Erwachsenen), der insbesondere das (den Tieren unbekannte) Gesolltsein von Formen des Verhaltens umfasst.34 Allerdings ‚mutiert‘ das Gelernte jeweils, weil jedes Individuum kraft einer Fähigkeit zur kulturellen Invention dazu tendiert, es seinen eigenen – evolutiv von Generation zu Generation weiterentwickel­ ten – Bedürfnissen und Fähigkeiten anzupassen.35 Auf diese Weise entstehen immer neue sozialrelevante Einsichten und Artefakte, die von anderen Indi­ viduen übernommen und die wiederum an künftige Generationen weiterge­ geben werden. Man kann dies als (genetisch und soziokulturell basierte) „kumulative Evolution“ bezeichnen.36 Evolutive Veränderungen sind umso leichter möglich, je formbarer die Materie ist, an der sie sich vollziehen. Solange der Mensch mit Steinen han­ tierte, konnte er wenig verändern; die Evolution der Steinwerkzeuge vollzog sich daher nur langsam. Als der Mensch sich dagegen leichter formbaren Materialien zuwandte, konnte die Evolution an Tempo zulegen. Vollends in Trab kam sie aber erst, als der Mensch sein Schöpfertum von der Fertigung von Artefakten auf die Kreation von Methoden zur Fertigung von Artefakten verlagerte, m. a. W. in die rein geistige Ebene vorstieß und hier ein ‚Material‘ vorfand, das nahezu beliebig formbar und vermehrbar war. Zu diesen geisti­ gen Methoden gehörte u. a. die soziale Organisation von Fertigkeiten, um (etwa mittels Arbeitsteilung) Gemeinschaftsprodukte hervorzubringen. Vom Zeitpunkt ihrer Erfindung an verhalf der Mensch der Evolution zu jener atemberaubenden Geschwindigkeit, die wir mit dem Namen ‚Revolution‘ belegen können (dazu unten B 2 [3]).

valenten (‚überliefern‘, ‚transmettre‘, ‚hand down‘) zum Ausdruck. Hinzuweisen ist aber auch auf die weit verbreitete Synonymität von παραδιδόναι und διδάσκειν bzw. ‚tradere‘ und ‚docere‘ – lehren als weitergeben, lernen als empfangen. 34  Dazu M. Tomasello (2002), S. 49 ff. 35  Die menschliche Psyche ist ein evolutiv ziemlich neues Phänomen. Sie hat sich auf der Grundlage physiologischer und biochemischer Prozesse im Gehirn herausge­ bildet und entwickelt sich auf dieser Grundlage auch noch weiter. Ihr enger Zusam­ menhang mit einer physiologischen Grundlage ergibt sich daraus, dass durch die Reizung gewisser Hirnareale psychische Wirkungen evoziert werden können, dass isolierte organische Defekte des Gehirns spezifische psychische Ausfälle hervorrufen und dass es immer häufiger gelingt, auch für normale psychische Vorgänge physiolo­ gische Grundlagen zu identifizieren. 36  So M. Tomasello (2002), S. 50: Mehrung und Häufung der Kulturgüter. Siehe ferner R. Boyd/P. J. Richerson (1985), ch. 3; Ch. Antweiler (1988); P. J. Richerson/ R. T. Boyd/J. Henrich (2003). Andere Autoren sprechen von „akkumulierender Evo­ lution“, meinen aber dasselbe.

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Teil I: Entwicklung

Sobald eine individuelle Kultur37 infolge der Akkumulation von materiel­ len und immateriellen Gütern immer reicher wird, kommt es zu einer Diskre­ panz: Die geistig-seelische Entwicklungskapazität ihrer Mitglieder zum Kulturerwerb stößt an eine natürliche Grenze,38 es kommt zur Ausdifferen­ zierung von (oft miniaturhaften) Subkulturen sowie zum Niedergang oder Abbruch einzelner kultureller Entwicklungen und zum vereinfachten Neube­ ginn. Parallel dazu entsteht das Bedürfnis nach übergeordneten Leitwerten und institutionellen Regeln, um die Gesamtkultur eines Volkes als die höhere, anagenetisch gewordene Einheit erscheinen zu lassen und nicht als ein mul­ tikulturelles Konglomerat. 5. Was ist Historiogenese des Rechts? Die Historiogenese des Rechts, als letzter hier zu erörternder Begriff, ist ein spezielles Beispiel für die Historiogenese von Kultur.39 Sie weist einige Besonderheiten auf. Denn was sich als Recht entwickelt, sind nicht einfach kulturelle Artefakte, sondern Institutionen40 – d. h. kulturelle Artefakte, die 37  Die Problematik der Unterscheidung zwischen einer individuellen Kultur und der gesamtmenschlichen Kultur kann hier nicht erörtert werden und braucht es auch nicht, weil jedenfalls individuelle (nationale) Rechtskulturen sich aufgrund ihrer Sat­ zungen klar voneinander unterscheiden, während es sonst nichts gibt, was nur in einer Kultur bei allen Mitgliedern vorkommt und bei keinem Mitglied einer anderen Kultur (vgl. Ch. Antweiler, 2009, S. 139 ff., 32 ff.). Die Eigenständigkeit von Kulturen wird daher weniger durch ihre Güter und Werte als vielmehr durch deren Hierarchie be­ gründet. Vgl. E. Holenstein (1998), S. 240: „Was zwei Kulturen unterscheidet, ist weniger die An- oder Abwesenheit bestimmter Eigenschaften als vielmehr die unter­ schiedliche Dominanz von annähernd universal gegebenen Eigenschaften.“ 38  Vgl. zum Stand einer Kultur und zum kulturellen Stand ihrer Mitglieder G. Simmel (1908/1957), S. 94: „Zum mindesten geht die geschichtliche Entwicklung darauf, die sachlich schöpferische Kulturleistung von dem gesamten Kulturstand der Indivi­ duen mehr und mehr zu differenzieren. Die Dissonanzen des modernen Lebens – ins­ besondere das, was sich als Steigerung der Technik jedes Gebietes und als gleichzei­ tige tiefe Unbefriedigung an ihr darstellt – entspringen zum großen Teil daraus, dass zwar die Dinge immer kultivierter werden, die Menschen aber nur in geringerem Maße imstande sind, aus der Vollendung der Objekte eine Vollendung des subjektiven Lebens zu gewinnen.“ 39  Zum Recht als Kulturerscheinung vgl. die Nachweise bei G. Sprenger (1991), S.  134 ff. 40  Der Begriff ‚Institution‘ besitzt keine allgemein anerkannte Bedeutung und wird deshalb auch von mir in einem wechselnden Sinne gebraucht. Meistens verstehe ich den Begriff im weiten Sinne als „the humanly devised constraints that structure poli­ tical, economic and social interactions, [which] consist of both informal rules (sanc­ tions, taboos, customs, traditions, and codes of conduct), and formal rules (laws, property rights)“ (D. C. North, 1991, p. 97). Gelegentlich verstehe ich den Begriff jedoch auch (im Anschluss an M. Hauriou, 1925) im engeren Sinne als eine unter



A. Historie, Genese, Historiogenese13

soziale Verbindlichkeit beanspruchen und deren Verbindlichkeit einer Kultur als so wichtig erscheint, dass sie ihre Durchsetzung der Herrschaft von Nor­ men unterlegt und spezielle Machtmittel, um sie durchzusetzen, entwickelt. Die Erforschung dieser Artefakte ist alsdann eine Aufgabe, in die sich Historiogenese, Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung teilen. Die Rechts­ geschichte beschäftigt sich vorwiegend diachronisch mit der Erforschung des Werdens von rechtlichen Institutionen und Normen innerhalb empirischer Rechtsordnungen,41 die Rechtsvergleichung vorwiegend synchronisch mit der Erforschung von Übereinstimmungen und Differenzen von rechtlichen Institutionen und Normen in verschiedenen Rechtsordnungen, die dasselbe Regelungsproblem zu lösen versuchen. Die historiogenetische Forschung beschäftigt sich dagegen sowohl mit den diachronischen Faktoren, die für die Entwicklung maßgeblich wurden, als auch mit den synchronischen Faktoren, die von dieser Grundlage aus in ausgewählten Rechtsordnungen zu entweder gleichen oder unterschiedlichen rechtlichen Institutionen oder Normen ge­ führt haben. Vor allem aber bezieht sie zusätzlich zwecks Erklärung der diachronischen Entwicklung gleicher Faktoren die genetische und soziale Evolution des Menschen in die Betrachtung ein, die auch die Entwicklung der Bedürfnisse und Interessen und ihrer Befriedigung umfasst, sodass man in Kürze sagen kann: Die Aufgabe der historiogenetischen Erforschung des ‚Rechts‘ besteht darin, die Gesamtheit derjenigen Faktoren zu erfassen, die aufgrund gleicher Bedingungen zu gleichen und aufgrund unterschiedlicher einer Leitidee stehende und mit normativer Kraft ausgestattete Organisation von Mit­ teln, die entweder einem gesellschaftlichen Kollektiv zur Interessenbefriedigung (‚so­ ziale Institution‘) oder einem Staat zur Erfüllung seiner staatlichen Herrschaftsauf­ gabe (‚politische Institution‘) dienen (dazu E.-J. Lampe, 2008, S. 80 ff.). Welcher Sinn jeweils gemeint ist, ergibt sich aus dem Zusammenhang oder wird von mir ei­ gens angezeigt. 41  Vgl. F. Wieacker (1967), S. 15 Fn. 5: „Ziel und Methode der Rechtsgeschichte sind keine anderen als die der allgemeinen Geschichte: … Sie will durch Erschlie­ ßung der geschichtlichen Dimension des Rechts vergangene (und möglicherweise noch geltende) Rechtsordnungen besser verstehen. … Sie hat durchweg Sachverhalte und Texte zum Gegenstand, die auf eine Ordnung des menschlichen Zusammenlebens durch das spezifische Mittel des Rechts, d. h. durch allgemeine und durchsetzbare äußere Verhaltensgebote (und nicht etwa durch Gewalt, Orakelsprüche, religiöse oder sittliche Vorstellungen oder durch Wirkungen auf Trieb und Gefühl) ausgingen …“ Weitergehend meint G. Dulckeit (1950, S. 10), die Rechtsgeschichte habe auch die Aufgabe, die Entfaltung des Rechtsbegriffs darzustellen. Hiergegen ist jedoch einzu­ wenden, dass die Entfaltung des Rechtsbegriffs allenfalls die Aufgabe einer „Univer­ salrechtsgeschichte“ (L. Wenger, 1927) sein kann, wenn diese sich die Aufgabe stellt, „womöglich die Rechte aller Völker zu erforschen, der lebenden wie der toten, und zwar nicht nur, was die objektive Rechtsordnung, sondern auch was die Betätigung der Rechtsordnung im subjektiven Rechtsleben betrifft“ (J. Kohler, 1915, S. 1, 14, 16 ff.).

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Teil I: Entwicklung

Bedingungen zu unterschiedlichen historischen Entwicklungen von ‚Rechtsordnungen‘, d. h. ausdifferenzierten Gesamtheiten (‚Kodifikationen‘) recht­ licher Institutionen und Normen zwecks Befriedung menschlicher Bedürfnisse und Interessen, geführt haben.

B. Die Aufgabe: Erforschung der Historiogenese des Rechts Nachdem ich den Begriff ‚Historiogenese des Rechts‘ umrissen habe, stelle ich mir die Frage, wie sich ihre Erforschung methodisch bewältigen lässt. Ich erleichtere mir die Antwort zunächst, indem ich sie in den Teilen II und III meiner Arbeit schwerpunktmäßig auf Rechtskulturen des frühen Al­ tertums beschränke und von ihnen diejenigen auswähle, die uns schriftliche Zeugnisse hinterlassen haben, sodass deren Geschichte teilweise bereits er­ forscht (und bisweilen sogar in universalgeschichtlicher Absicht verglichen42) worden ist. Die hochkomplizierte Aufgabe, die Historiogenese des Rechts in der Neuzeit (seit Mitte des 17. Jh.s) und der Gegenwart zu erforschen, ver­ schiebe ich auf einen abschließenden Teil IV. 1. Die Konkretisierung der Aufgabe Die Methode der historiogenetischen Erforschung des Rechts muss ihrer Aufgabe angepasst sein, die äußere (historische) Entwicklung des Rechts auf übereinstimmende innere (genetische) Faktoren und auf gleiche (Umwelt-)Be­ dingungen, Unterschiede in der Rechtsentwicklung dagegen auf entweder un­ terschiedliche innere (genetische) Faktoren oder auf die Einwirkung unter­ schiedlicher (Umwelt-)Bedingungen zurückführen. Sie entspricht daher in etwa der Methode der vergleichenden Erforschung der Sprachentwicklung, die es ebenfalls einerseits mit inneren (genetischen) Faktoren, andererseits mit Ein­ flussfaktoren aus der natürlichen und sozialen Umwelt zu tun hat.43 Sie muss 42  Dazu J. G. Lautner (1933). Er unterscheidet zwischen einer allgemeinen antiken Rechtsgeschichte, deren Hauptaufgabe „die Herausarbeitung der den verschiedenen Rechtssystemen innewohnenden übereinstimmenden Rechtsgedanken“ sei (S. 37), und einer vergleichenden antiken Rechtsgeschichte, deren Aufgabe u. a. darin bestehe, unsichere oder bruchstückhafte Überlieferungen einer Rechtsordnung durch einen Blick auf andere, auf gleicher Kulturstufe stehende Rechtsordnungen zu sichern oder zu ergänzen, sofern dort gleichartige Rechtsprobleme unter gleichartigen Umständen gelöst werden mussten. Die Methoden beider Forschungsrichtungen können nach seiner Meinung nebeneinander bestehen, da „Untersuchungen der universalrechtsge­ schichtlichen Methode … auf den Forschungsergebnissen von Arbeiten im Sinne der komparativen Methode aufbauen“ (S. 72 f.). 43  Das Bestreben, die historische und vergleichende Rechtswissenschaft zu einer – der vergleichenden Sprachwissenschaft entsprechenden – „vergleichenden Rechtsge­



B. Die Aufgabe: Erforschung der Historiogenese des Rechts 15

•• eine Typologie rechtlicher Institutionen und Normen zugrunde legen. Da Typen das Ergebnis von (wertenden) Abstraktionen sind, müssen alle Be­ sonderheiten rechtlicher Institutionen und Normen, die auf atypische Ur­ sachen zurückzuführen sind, ausgeschieden werden (dazu unten a). •• Veränderungen in den Typen rechtlicher Normen und Institutionen auf das Wirken innerer (genetischer) Faktoren und/oder äußerer Umwelteinflüsse zurückführen. Sie muss insbesondere deutlich machen, dass analytisch isolierte gleiche Faktoren in den untersuchten Rechtsordnungen gleiche Effekte, unterschiedliche dagegen unterschiedliche Effekte hervorgebracht haben, weshalb die Veränderung eines der Faktoren konsequent zu einer Veränderung der entsprechenden Rechtsordnung führen musste (dazu un­ ten b α). •• nachweisen, dass Übereinstimmungen von rechtlichen Institutionen und Normen nicht lediglich Auswirkungen entweder von Diffusion oder kultur­ übergreifenden Willensentscheidungen sind, die statt so auch anders hätten ausfallen können und deshalb ausschließlich ein Teil der Rechtsgeschichte sind (dazu unten b β). Diesen Anforderungen kann die Forschung in ihrer gegenwärtigen Früh­ phase nur annähernd gerecht werden, sodass Abstriche – wie die erwähnte Beschränkung auf frühantike Rechtsordnungen – nicht nur notwendig sind, sondern auch Freiräume für weitere Forschungen schaffen. a) Formulierung einer kulturenübergreifenden Typologie rechtlicher Ordnungen und Institutionen Bereits die Schwierigkeiten, die sich der Formulierung einer kulturüber­ greifenden Typologie rechtlicher Institutionen und Normen entgegenstellen, sind gewaltig. Den Vertretern eines strengen ‚kulturellen Relativismus‘ gal­ ten sie für schlechterdings unüberwindbar, weil dafür die Unterschiede zwi­ schen den einzelnen Kulturen viel zu groß seien. Sofern im Einzelfall Über­ einstimmungen beständen, seien sie entweder das Ergebnis von Zufällen oder aber der ‚Diffusion‘, d. h. der Verbreitung einer kulturellen Errungenschaft von einem Volk auf das andere.44 schichte“ zusammenzuführen, um „die Naturgesetze festzustellen, welche die Ent­ wicklung des Rechtsphänomens bestimmen und beherrschen“, finden wir klar formu­ liert bei M. Rotondi (1933), S. 15 ff. Die Bedenken hiergegen finden wir, ebenso klar formuliert, u. a. bei W. Mincke (1984), S. 318 ff. (dazu unten a a. E.). 44  Kritisch Ch. Thies (2004), S. 116 f. Er stellt neben (a) die historische Erklärung des Diffusionismus (Beispiele: Demokratie und Wissenschaft, die seit dem 5. Jh. v. u. Z. von Griechenland aus in fast alle Kulturkreise vorgedrungen sind) als Alternativen (b) die ökologische Erklärung des Funktionalismus (Beispiele: Bewässe­

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Teil I: Entwicklung

Dieser kulturelle Relativismus hatte seinen Ursprung in den Feldforschungen von Ethnologen, die, überwältigt von der Mannigfaltigkeit der Kulturen und der Unter­ schiedlichkeit der darin vertretenen Anschauungen, nicht nur jeden ‚Ethnozentrismus‘ bei der Bewertung von Kulturen ablehnten, sondern anfänglich auch das Vorhanden­ sein unterschiedlicher kultureller Institutionen und Normen zum Abgrenzungskriteri­ um zwischen eigenständigen Kulturen machten. Inzwischen hat man den empiristi­ schen Ansatz jedoch als zu einseitig erkannt. Er war Folge einer Blickverengung auf die Eingeborenenstämme Afrikas und Australiens, auf die Indianerstämme Nordame­ rikas und auf die Inselbewohner des Pazifiks. Die kulturelle Einheit von stärker zivi­ lisierten, komplexen und für kulturellen Austausch offenen Kulturen erschien als eine Randerscheinung und verleitete dazu, die Fülle der allen Menschen gemeinsamen Eigenschaften in ihrer Bedeutung zu verkennen.45

Wenn ein kultureller Relativismus heute noch vertreten wird, stützt er sich auf die Annahme, dass nicht der Mensch die Kultur, sondern die Kultur den Menschen forme. In reiner Form wird diese Annahme zwar nur noch selten vorgetragen;46 aber dass ein starkes Determinationsgefälle von der Kultur zum Individuum besteht, erscheint zumindest den Vertretern der ‚Cultural Anthropology‘ als offensichtlich. Die menschliche Seele, wesentlicher Faktor für alles Kulturelle, besitzt nach ihrer Meinung eine nahezu unbeschränkte ‚Plastizität‘; kulturelle Universalien hätten daher nicht in übereinstimmenden psychischen Strukturen des Menschen ihre Ursache, sondern in historischen Zufälligkeiten oder Diffusionen. Dabei übersehen sie jedoch, dass die Einheit der modernen, zivilisationsgeprägten Kultur nicht in einer erworbenen, son­ dern in einer ursprünglichen Einheit des Kulturellen seinen Ursprung haben muss. Wie sonst sollten kulturelles Verständnis, kultureller Austausch und wechselseitige kulturelle Beeinflussung, also Diffusion, jemals möglich ge­ wesen sein? Der menschlichen Seele wohnt offenbar eine große Anzahl von Faktoren inne, die sämtlich zur Kultur hinleiten und anschließend in deren Erzeugnissen Ausdruck finden. Die Kulturrelativisten schätzen den Wir­ kungsbereich dieser Faktoren viel zu klein ein.47 rungslandwirtschaft in Verbindung mit Städtebau in allen Flussuferkulturen) und (c) die anthropologische Erklärung etwa des Strukturalismus (Beispiele: Gemeinsamkei­ ten in den Tiefenstrukturen der Sprachen, Mythen und Moralsysteme aller antiken Kulturen) und fährt fort: „Wahrscheinlich spielen alle drei Möglichkeiten in der Menschheitsgeschichte eine Rolle.“ 45  Vgl. dazu jetzt Ch. Antweiler (2009). 46  Ehemals waren F. Boas (1858–1942) und seine Schüler Vertreter dieser Extrem­ position; in Deutschland stand ihr A. Gehlen nahe. „ ‚Es gibt nichts, was es nicht gäbe‘ – das ist sozusagen der abstrakte Ertrag dieser Kulturforschung“ (A. Gehlen, 1961, S. 22). Schlechthin alle seelischen Bedürfnisse und Intentionen seien dem Men­ schen anerzogen. Der Mensch sei in positiver Wertung mithin als das absolut kultu­ roffene, in negativer Wertung als das restlos manipulierbare Wesen zu begreifen. 47  Nach einer gemäßigten Position (vertreten vor allem von A. I. Hallowell, A. L. Kroeber, E. Sapir und C. Geertz) sind die Bedürfnisse und Intentionen des Menschen



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Ziel einer vergleichenden Untersuchung der Rechtsentwicklung kann aller­ dings auch nicht sein, rechtliche Institutionen und Normen in möglichst vie­ len Kulturen unverändert wiederzufinden, um eine von außerrechtlichen Gegebenheiten weitgehend unbeeinflusste Genese des Rechts nachzuweisen. Mannigfaltige Gründe stünden einem solchen Versuch entgegen. Zum einen bestehen zwischen den Rechtsbegriffen unterschiedlicher Sprachen unver­ meidbare Bedeutungsunterschiede. Das Wort ‚König‘ beispielsweise besitzt eine andere Bedeutung als das Wort ‚rex‘ und das Wort ‚šarrum‘; das eine Wort kann daher nur notdürftig als Übersetzung für das andere dienen. Selbst innerhalb derselben Sprachgeschichte haben sich die Bedeutungen von Wör­ tern gewandelt: Das Wort ‚Eigentum‘ bezeichnete beispielsweise in der mit­ telhochdeutschen Sprache noch ein ‚besonders freies Besitzrecht‘ und ließ damit seine Herkunft vom althochdeutschen Wort ‚eigan‘ (= ‚in Besitz ge­ nommen‘, ‚besessen‘; vgl. noch heute ‚leibeigen‘) erkennen; in der gegen­ wärtigen Juristensprache48 bedeutet es dagegen das rechtliche Gehören von Sachen im Gegensatz zum bloßen ‚Besitz‘. Ähnlich haben sich im romani­ schen Rechtskreis die Begriffe ‚dominium‘, ‚esse in bonis‘49 und ‚possessio‘ gewandelt. Gleichwohl sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Rechtskulturen nicht derart stark ausgeprägt, dass die eigene (scil. deutsche) Sprache schlechthin außerstande wäre, das in einer fremden Sprache Ge­ meinte einigermaßen zuverlässig zum Ausdruck zu bringen. Denn eine ‚Fa­ milienähnlichkeit‘ besitzen die gegenübergestellten Rechtsbegriffe allemal; und was sie voneinander trennt, können erklärende Zusätze behutsam heraus­ heben.50 Damit ist auch schon gesagt, dass man einerseits mit normativen und ins­ titutionellen Kernbereichen zu rechnen hat, die über alle Kulturen hinweg in der Menschheit verankert sind und die deshalb – unabhängig voneinander – in (fast) allen Völkern ab einem gewissen Enwicklungstand funktional glei­ dagegen zwar primär naturhaft determiniert und kulturell lediglich überdeterminiert. Nichtsdestoweniger wird die kulturelle Überdetermination als so bedeutsam und als so variantenreich begriffen, dass der kulturelle Relativismus auch für diese Position der beherrschende Aspekt bleibt. Der Mensch gilt innerhalb dieser Position als ein „kulturelles Artefakt“ (C. Geertz, 1992, S. 72 ff.). Zutreffend wendet W. Rudolph (1971), S. 63, dagegen jedoch ein: „Der Mensch als das (biotisch) ‚nicht festgestellte Tier‘ … kann auch durch die kulturelle Prägung nicht zu einem ‚Gewohnheitstier‘ ‚festgestellt‘ werden. … Keine Kultur kann sich erlauben, die ihr angehörigen Men­ schen so zu gängeln, dass sie unfähig zu Entscheidungen, d. h. zu Urteilen und Wer­ tungen, werden.“ 48  Die Alltagssprache ist nicht so genau. Doch würde jede rechtsvergleichende Untersuchung uferlos werden, wenn sie außer der Juristensprache auch noch die des Alltags berücksichtigte. 49  = ‚im Besitz der Güter (einer Erbschaft) sein‘. 50  Das übersieht W. Mincke (1984), S.  320 f.

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Teil I: Entwicklung

che oder zumindest gleichartige Rechtserscheinungen hervorgebracht haben. Man denke an die Ehe als ein fest geknüpftes Band zwischen zwei Menschen (bisher Mann und Frau); an die Ausbildung von Familien, in denen der Vater, an Sippen (bzw. Clans), in denen der Älteste, an Stämme, in denen der Häuptling eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Herrschaftsposition in­ nehatte; an den religiösen Kult, der zunächst den Ahnen, dann den Hausgöt­ tern, dann den Stammes- oder Stadtgöttern und schließlich dem einen Welt­ gott galt; an die Herausbildung von Vermögensrechten, deren Innehabung sich von der Gemeinschaft über Zwischenstufen allmählich auf den Einzel­ nen verlagerte; und an das Entstehen von förmlichen Gerichten sowie von geregelten Verfahren, worin Streitigkeiten verhandelt und verglichen oder entschieden werden.51 Solche universell gewordenen Rechtserscheinungen zu erkunden und ihre funktionale Äquivalenz, aber auch ihren Wandel im Laufe der Zeiten genauer herauszuarbeiten, ist eine durchaus lösbare Aufgabe der (historischen) Rechtsvergleichung. Es steht andererseits freilich auch fest, dass äußere Einflüsse, etwa militärische Gewalt, das Eindringen fremder Rechtsanschauungen, die spontanen Willensbekundungen einzelner Machtha­ ber oder gewisse Modeerscheinungen die Entstehung, den Wandel oder den Untergang von Rechtsinstituten verursachen können. Diese Einflüsse menschlicher Willkür oder Gewalt sind, weil zufällig und daher (fast) aus­ schließlich der Geschichte zugehörig, aus der historiogenetischen Untersu­ chung auszuscheiden;52 hierbei kann die Rechtsvergleichung wertvolle Hilfe leisten. b) Aufweis von Gesetzmäßigkeiten für die Entstehung, den Wandel und den Untergang rechtlicher Ordnungen und Institutionen Die Möglichkeit, durch den Aufweis von Gesetzmäßigkeiten die Entste­ hung, den Wandel und den Untergang typischer rechtlicher Institutionen und Normen zu erklären,53 ist wiederholt verneint worden. Zur Begründung der Verneinung wurden zwei Argumentationen vorgetragen: Einzelheiten dazu unten G 4 i. Lautner (1933), S. 42. 53  Nach dem Hempel-Oppenheim-Schema gilt eine Tatsache dann als erklärt, wenn sie deduktiv aus einer Kombination von Aussagen über Einzelfaktoren mit Gesetzes­ aussagen abzuleiten ist. Benötigt werden danach (a) eine Klasse von Faktenaussagen F , F … F und 1 2 n (b) eine Klasse von Gesetzesaussagen G , G … G , um 1 2 n (c) ein Ereignis E deduktiv als Konsequenz hieraus zu erklären. Dieses Schema lässt sich für Erklärungen innerhalb der Historiogenese des Rechts aus zwei Gründen nur mit Einschränkungen anwenden. Zum einen würde es hier Erklärung und Voraussage gleichsetzen: Nur wenn ein gemäß dem Schema erklärtes E vorausgesagt werden kann, gälte es als erklärt. Die meisten historischen Erklärun­ 51  Einige 52  J. G.



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(α) Erster Einwand: Leugnung jeder Gesetzmäßigkeit. Am häufigsten fin­ den wir eine Behauptung, die auf die Leugnung jeder wie immer gearteten Gesetzmäßigkeit in der Rechtsentwicklung hinausläuft. Menschliche Ge­ schichte, heißt es, sei kein sich selbst entwickelnder Prozess, bei dem die Menschen lediglich interessierte Zuschauer sind; sie werde vielmehr von den Menschen ‚gestaltet‘.54 Und was für die allgemeine Geschichte gelte, müsse genauso für die Rechtsgeschichte gelten: Aus eigener Kraft vermöge sie nicht voranzuschreiten; vielmehr komme freies menschliches Wirken darin zum Ausdruck und bringe jeden Fortschritt hervor. Kurz gesagt: Das Recht entwickle sich nicht – es werde entwickelt. Wer gleichwohl von einer ‚Evo­ lution des Rechts‘ spreche, tue das in einem metaphorischen Sinne.55 Darauf ist zu erwidern: Wenn das Recht sich nicht entwickelt, sondern le­ diglich ‚entwickelt wird‘ – wer hat dazu die Macht? Derjenige, der dazu ei­ gens berufen ist, es zu schaffen, abzuändern oder aufzuheben: der ‚Gesetzge­ ber‘? Das hieße, lediglich ein Abstraktum an die Stelle jener mit sagenhafter Macht ausgestatteten Personen setzen, die angeblich früher den Menschen das Recht ‚gaben‘ und, wenn nötig, es ‚entwickelten‘– etwa des Sonnengot­ tes Re, des Kreterkönigs Minos oder des Göttervaters Zeus –, ohne dass diesem Abstraktum ein höherer Erklärungswert zukäme. Und es hieße vor allem verdecken, dass der konkrete Gesetzgeber von einem Jahrzehnt aufs andere wechseln kann und die Frage dann offenbleibt: ob nicht innerhalb der immerwährenden Folge von Gesetzgebern sich etwas entwickelt, das über diese Folge hinausweist und sie zu einer übergreifenden Einheit verbindet? Auf all diese Fragen erhalten wir die beste Antwort von jenen Völkern, deren Recht nicht auf Gesetzgebungsakten, sondern auf ständiger Übung oder auf Gerichtsentscheidungen beruht. Bei ihnen zeigt sich, dass es vor allem die immerwährenden Versuche zur Anpassung an die Erfordernisse des sozialen Lebens gewesen sind und weniger Versuche zur freien Daseinsgestaltung, welche das Recht vorangetrieben haben – weshalb menschliche ‚Gestaltung‘ gen enthalten indessen kein Voraussageelement; ihre Erklärung lässt vielmehr die Zukunft offen. Zum anderen ließe das Schema nur unzweifelhafte Erklärungen zu. Die meisten historischen Erklärungen können indes angezweifelt werden, indem an­ dere Fakten oder andere Gesetzmäßigkeiten für E angeführt werden. Durch die An­ gabe von historischen Fakten und historischen Gesetzmäßigkeiten muss E daher be­ reits dann als erklärt gelten, wenn deren Angabe einen Beitrag zu seinem Verständnis leistet. Näher dazu D. W. Theobald (1973), S. 150 ff. 54  G. Wiswede/Th. Kusch (1978), S. 63 ff.; H. Esser (2000), S. 349 ff.; u. a. 55  Im Hinblick auf die Kulturgeschichte vgl. O. Spengler (1923), S. 28: „Die Menschheit hat kein Ziel, keine Idee, keinen Plan, so wenig die Gattung der Schmet­ terlinge oder der Orchideen ein Ziel hat. ‚Die Menschheit‘ ist ein leeres Wort.“ Im Hinblick auf die Rechtsgeschichte vgl. E. B. Gager (1919), p. 618: So wenig wie ein Haufen Ziegel die Tendenz in sich trägt, ein Haus zu werden, so wenig trägt das Recht als solches eine ‚Tendenz‘ in sich.

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Teil I: Entwicklung

nur ein in der Rechtsgeschichte wirksamer Faktor war und wahrscheinlich nicht einmal der wichtigste. Was aber sind dann jene ‚Erfordernisse des sozialen Lebens‘, die den ver­ mutlich wichtigeren Faktor bilden? Werden sie nicht ebenfalls von den Men­ schen ‚gestaltet‘? Oder werden sie den Menschen von der Natur – der eige­ nen oder der sie umgebenden – vorgegeben, etwa durch die Ausbreitung einer Seuche oder durch eine Veränderung des Klimas? Die Antwort lautet: Beides ist der Fall oder kann es sein. Einesteils schaffen sich die Menschen selber ihre sozialen Probleme, die sie anschließend mithilfe von Rechtsnormen zu lösen versuchen; anderenteils stehen sie vor Problemen, die sie nicht, zumin­ dest nicht bewusst und auf keinen Fall planvoll, geschaffen haben. Ein Beispiel: In Altmesopotamien und Altägypten trocknete die Erde nach der Eiszeit aus und verengte den Lebensraum. Es entstanden Wüsten, die die Menschen zwangen, sich in den Flusstälern und Oasen anzusiedeln, anstatt wie bisher als Jäger und Sammler frei umherzuschweifen. Um die verringerten Jagdmöglichkeiten zu kompensieren, mussten die Menschen Tiere domestizieren, und um dieselbe Menge an Früchten wie bisher zu ernten, mussten sie den Boden kultivieren und zu diesem Zweck den Wasserhaushalt regulieren. Das alles taten sie und lösten damit die Pro­ bleme, die ihnen ihre Umwelt vorgab. Aber sie lösten sie so erfolgreich, dass sie im verengten Lebensraum sich explosionsartig vermehrten – und damit sich selber wie­ der neue Probleme schufen. Denn mittelbar zwangen sie sich dadurch, ihre Siedlun­ gen zu verdichten sowie Städte zu gründen und diese durch Mauern gegen feindliche Übergriffe abzusichern. Dazu bedurften sie freilich vieler weiterer Fortschritte: in der Güterproduktion, in der Kapitalakkumulation, in der Technik, in der Organisation und in der Verwaltung. Das aber war wiederum Auslöser für die Erfindung der Schrift. Und infolge der Erfindung der Schrift entstand nunmehr etwas ganz Neues: eine staatlich durchorganisierte Gesellschaft. Sie war die bestmögliche Form der Anpas­ sung an die neue Situation: beruhend auf einer autoritären Macht, die mittels ver­ schrifteter genereller Normen das soziale Leben ordnete, durch Androhung von Sanktionen die Ordnung festigte und durch ihre metaphysische Legitimation sich als gemeingültig etablieren konnte. Diese Macht war das Recht.

Führen wir uns nunmehr die innere Entwicklung und deren Konsequenzen vor Augen, die sich anschloss, als das Recht – teils ungeplant, teils aufgrund vorausschauender Planung – entstanden war. Im Laufe der Zeit wurde es, da man seine Vorteile erkannt hatte, immer mehr zur bewussten Gestaltung der nahen und ferneren Zukunft eingesetzt. Die Möglichkeit hierfür schuf eine höhere Geistesbildung, die in den Tempeln und Schulen vermittelt wurde, wo man das Wissen der damaligen Zeit sammelte und es an die nachfolgende Generation weitergab. Die Normen des Rechts konnten daher nunmehr den Bau von Gemeinschaftseinrichtungen, die Abschöpfung von Wasser aus Flüssen und Kanälen, die Bevorratung mit Getreide, die Leistung von sozia­ len und militärischen Diensten und vieles andere organisieren, was der Vor­ aussicht und dem Willen eines Stadtherrn, eines Königs oder einer Beamten­



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schaft entsprang und seine Legitimation im Nutzen für die Gemeinschaft fand. Auch trat an die Stelle religiöser häufig eine weltliche Formenstrenge: etwa für die Eheschließung und Ehescheidung, für die Ehelichkeit und Erb­ folge von Kindern, für die Adoption, für den Abschluss und die Sicherung von Verträgen, für die Rechtsfolgen bei Vertragsverletzungen u. a. m. Auch hoheitliche Befehle – für die Bewässerung und die Bebauung des Bodens, für die Beschäftigung von Arbeitskräften, für die Bevorratung mit Produkten, für den Schutz des Hausfriedens, für den Frieden in der Stadt u. a. m. – ergin­ gen streng förmlich und wurden mit vorbestimmten Sanktionen für den Fall ausgestattet, dass sie nicht befolgt würden, damit sie sich formelhaft im Be­ wusstsein der Menschen einnisten konnten. Das Recht erreichte auf diese Weise einen hohen Differenzierungsgrad und konnte so den immer komple­ xer werdenden sozialen Verhältnissen gerecht werden. Methodisch gesehen, liegt in der Zweckbewusstheit, mit der die Normen der Rechts allmählich gesetzt wurden und worin sie sich von denen der Sitte klar unterschieden, ein nicht wegzudiskutierender Unterschied zur biologischen Evolution, weil diese ohne bewussten Zweck verläuft. Dennoch zwingt dieser Umstand uns nicht, der Ent­ stehung und dem Wandel des Rechts den Namen ‚Evolution‘ zu versagen; denn deren wesentlichen Charakteristiken – Anagenese und Irreversibilität – haben auch den Gang durch die Geschichte mitbestimmt. Freilich darf man auch niemals aus den Augen verlieren, dass es sich bei der rechtlichen um eine spezifisch menschliche Art der Evolution handelte56 – um eine Evolution nämlich, die sich nicht durch geneti­ sche Anpassung des Menschen an die Umwelt, sondern durch die kulturelle Anpas­ sung der Umwelt an den Menschen, an seine Bedürfnisse und an seinen Gestaltungs­ willen, vollzog.57

(β) Zweiter Einwand: Behauptung einer zu großen Komplexität der Einflussfaktoren. Gegen die Redeweise von einer ‚Historiogenese des Rechts‘ richtet sich noch eine andere Argumentation. Sie lautet: Selbst wenn das Recht aufgrund von Anagenese und Irreversibilität evolviere, sei doch die Vielzahl bzw. Komplexität der Einflussfaktoren so ungeheuer groß, dass sie verhindert, die exakten Gründe für bestimmte Effekte festzustellen. Denn selbst dort, wo eine Entwicklungsübereinstimmung besteht, die sich als Aus­ fluss einer Gesetzmäßigkeit deuten lässt, sei man niemals sicher, ob sie nicht in Wahrheit das Produkt eines Zusammenwirkens von ganz unterschiedlichen Faktoren und somit bloßer Zufall ist. Folgende Möglichkeiten seien nämlich nicht auszuschließen: Die übereinstimmenden Entwicklungen haben eine

56  Übereinstimmend W. J. Brown (1920), p. 398: „ ‚Legal evolution‘ is evolution of a particular character, if it be conceded that legal change exhibits the processes which constitute the stock in trade of the evolutionist in biology.“ Vgl. ferner E.-J. Lampe (1993), S. 207 ff. 57  Th. Dobzhansky (1966), S. 165 f. Zur selektiven Leistung der Kultur vgl. W. Rudolph (1971), S.  66 ff.

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Teil I: Entwicklung

andere als die angenommene Ursache.58 Oder sie haben verschiedene Ursa­ chen, die dennoch zur gleichen Entwicklung führen, weil eine Zusatzursache den Unterschied der Ursachen ausgleicht.59 Oder sie können durch eine we­ niger komplexe Ursache als die angenommene begründet sein. Wegen dieser Eventualitäten sei es methodisch unzulässig, von der Gleichheit einer Ent­ wicklungsreihe auf die Gleichheit der Faktoren, die sie bewirkt haben, zu­ rückzuschließen. Die Redeweise von einer ‚Evolution des Rechts‘ sei also zwar nicht notwendig falsch, wissenschaftlich aber letzthin unergiebig. In der Tat ist der angeführte Einwand nicht ganz unberechtigt. Indessen weist er nur auf eine methodische Schwierigkeit hin, welche die Auffindung von Gesetzmäßigkeiten innerhalb komplexer Zusammenhänge überall beglei­ tet; er legitimiert dagegen den Wissenschaftler nicht, die Suche nach Gesetz­ mäßigkeiten in der Rechtsentwicklung gar nicht erst in Angriff zu nehmen und sich stattdessen aufs Faulbett zu legen. Aber sie warnt immerhin: Ent­ deckt der Wissenschaftler eine Regelmäßigkeit, der er Gesetzescharakter zu­ schreibt, so ist er nur berechtigt, sie als eine Erklärungshypothese anzubieten. Denn das von ihm gefundene Gesetz ‚gilt‘ nur solange, bis es durch neue Erkenntnisse modifiziert oder falsifiziert wird.60 Das freilich ist letzthin ebenfalls ein evolutiver Prozess (und überdies das Schicksal der meisten wissenschaftlichen Erkenntnisse). Zumindest eine Einschränkung ist indessen noch zu beachten: Selbst wenn eine evolutive Gesetzmäßigkeit für das Recht nachgewiesen oder wenigstens wahrscheinlich gemacht wird, ist damit noch nichts über ihre Bedeutung für den historischen Prozess der Rechtsentwicklung ausgesagt. Denn innerhalb eines historischen Prozesses können die vorangegangenen Zustände die nachfolgenden niemals vollständig, sondern stets nur ausschnittsweise erklä­ ren, so dass zur Vervollständigung zusätzliche Antecedensbedingungen ein­ geschoben werden müssen.61 Demnach hängt es auch von der Art und vom 58  Beispiel: Die agnatische Verwandtschaftsstruktur verschwindet regelmäßig, so­ bald ein Staat mit einer stratifizierten Gesellschaftsstruktur entsteht. Gleichwohl braucht weder die Entstehung eines Staates noch die einer stratifizierten Gesellschaft die Ursache für das Verschwinden der agnatischen Verwandtschaftsstruktur zu sein. 59  Beispiel: Staaten mit einer rechtlichen Ordnung entstehen regelmäßig dann, wenn die Bevölkerung innerhalb eines Gebietes über ein gewisses Maß anwächst. Gleichwohl kann auch ohne das Anwachsen der Bevölkerung ein rechtlich geordneter Staat entstehen: etwa wenn der Druck von außen so stark wird, dass die vorhandene Bevölkerung ihm nur durch eine von Rechtsnormen gestützte straffe staatliche Orga­ nisation begegnen kann. 60  Vgl. dazu auch oben Fn. 53. 61  Vgl. das Schema (4) oben A 4. Partielle Erklärungen werden von W. Stegmüller (1983), S. 146, wie folgt charakterisiert: „Das vorgeschlagene Explanans reicht nicht aus, um das Explanandum-Phänomen in all den Hinsichten, in denen es beschrieben wird, zu erklären, vielmehr liefert es nur eine Erklärung für einige dieser Aspekte. Da



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Gewicht der zusätzlichen Bedingungen ab, welchen Erklärungswert eine evolutive Gesetzmäßigkeit für einen historiogenetischen Prozess besitzt. Sind Antecedensbedingungen z. B. übereinstimmende Willensentscheidungen von zur Gesetzgebung berechtigten Potentaten, dann dürfen ihre Folgen, selbst wenn die Entscheidungen zusätzlich in vergleichbaren Situationen getroffen wurden, i. d. R. nur der historischen, nicht auch der genetischen Seite der Entwicklung zugerechnet werden. Denn obwohl menschliche Evolution mit­ samt ihren Produkten eng mit der Geschichte verzahnt ist, muss eine histori­ sche Serie gleicher Willensentscheidungen von einer genetischen Serie glei­ cher natürlicher Abläufe unterschieden werden. Z. B. führt Diffusion zu Ver­ änderungen, ohne dass ein evolutionärer Prozess dabei im Spiele ist.62 Trotz dieser Einschränkung bleibt indessen zu bedenken,63 dass zum einen derlei Erkenntnisprobleme in jede Gewichtung einfließen, die zusätzliche Antecedensbedingungen berücksichtigen muss, um eine bestimmte Folge gesetzmäßig abzuleiten, und dass zum anderen die Bewertung der Antece­ densbedingungen stets auf den Präferenzen gründet, welche Rolle man ihrem historischen und welche man ihrem genetischen Anteil zuschreibt. Werden diese Präferenzen offengelegt und sind sie, wie vorliegend, eindeutig auf die Darstellung eines evolutiven Prozesses gerichtet, dann liegt das Schwerge­ wicht der Rollenzuschreibung projektbezogen auf dem genetischen Anteil der Antecendensbedingungen, weshalb dieser zwar an Bedeutung verlieren, je­ doch, sofern vom historischen abtrennbar, im Rahmen der Erklärung von Rechtsevolution berücksichtigt werden darf. 2. Die methodische Lösung der Aufgabe Dennoch bedarf die Lösung der Aufgabe, die Historiogenese des Rechts zu erforschen, methodisch in einem ersten Teil der Sichtung des historischen Materials. Aus diesem Material können sodann (a) im Wege der phänomena­ der Erklärungsvorschlag aber meist so dargeboten wird, dass im Hörer oder Leser der Eindruck entsteht, als seien alle Hinsichten befriedigend erklärt worden, so verbindet sich mit den partiellen Erklärungen eine Irrtumsgefahr: Es wird ein stärkerer Erklärungswert vorgetäuscht als wirklich vorliegt.“ 62  W. E. Mühlmann (1984), S. 226: „Der Pflug ist aus der verlängerten Hacke ent­ standen, vor die man ein Zugtier spannte, aber dieser Fortschritt setzte eine bestimmte soziale Situation voraus, nämlich das Zusammentreffen von Hackbauern und Rinder­ züchtern. … Die logische Kette Hacke–Pflug besagt lediglich, dass irgendwann und irgendwo dieser Schritt einmal (genetisch) getan werden musste, sie besagt aber nicht, dass jede menschliche Gruppe (historisch) durch die frühere Stufe hindurch­ musste. Es kann z. B. ein Stamm ohne Kenntnis des Hackbaus den Pflug direkt als Zivilisationsimport übernehmen, z. B. Wildbeuter aus Indien.“ 63  Vgl. dazu Th. Haussmann 1991, S. 101 ff.

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len Gestaltbildung diejenigen Elemente herausgehoben werden, die sich aufgrund ihrer Einfachheit oder periodischen Wiederkehr dem Bewusstsein besonders stark einprägen und sich daher als Leitbilder zur Typenbildung eignen, und (b) diejenigen begrifflichen Bezeichnungen ausgewählt werden, die mit der geringstmöglichen Informationsvermehrung auskommen, um die rechtlich relevanten Zustände und Vorgänge der sozialen Welt gedanklich herauszuheben und zu ordnen. Begriffe der höchsten Redundanzstufe haben alsdann die besten Chancen, zu Oberbegriffen zu werden, Begriffe einer je­ weils geringeren Redundanzstufe müssen sich mit dem Status von Unterbe­ griffen begnügen. Doch sind beide Arten von Begriffen erforderlich, um jene Begriffspyramide zu erzeugen, die zur Darstellung hierarchisch aufgebauter Rechtsordnungen benötigt wird. In einem zweiten Teil können sodann diejenigen Gesetzmäßigkeiten her­ ausgehoben werden, welche zur Entstehung und Wandlung von Rechtsbe­ wusstsein sowie zur Ausbildung rechtlicher Institutionen und Normen geführt haben. Dies erfordert sechs methodische Schritte:64 (1) Zunächst ist der Ausgangszustand zu identifizieren, der einer Untersu­ chung zugrunde gelegt werden soll: die Existenz einer menschlichen Population und ihrer normativen Ordnung in einem bestimmten Zeit­ punkt (abgeschwächt: innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens). Von der Population müssen wir aus der Geschichte Kunde haben, von seiner Ordnung entweder aus schriftlichen Zeugnissen oder zumindest aus nor­ mativen Begriffen in ihrer Sprache. Daneben werden als Quellen auch für zuverlässig gehaltene Berichte zeitnaher Schriftsteller über die Be­ handlung von Streitigkeiten und andere Vorfälle von rechtlicher Relevanz anerkannt. Da sowohl der Entstehung als auch dem Wandel rechtlicher Institutionen und Normen soziale Bedürfnisse oder Interessen zugrunde liegen, identifizieren sie sowie die Organisation zu ihrer Befriedigung den Ausgangszustand mit. (2) Sodann ist derjenige Zustand einer normativen Ordnung als Zielzustand zu identifizieren, bis zu der die Entwicklung verfolgt werden soll. Wird die eigenständige Entwicklung der Ordnung durch eine gleichartige fremde Ordnung abgelöst (z. B. eine indigene Rechtsordnung von einer Kolonialmacht zugunsten ihrer eigenen außer Kraft gesetzt) oder wird die Entwicklung eines heimischen Instituts durch das Eindringen eines fremden obsolet, dann ist damit der Endpunkt der Untersuchung eben­ falls im Voraus fixiert. Im Übrigen kann der Forscher überall dort einen Endpunkt setzen, wo es ihm sinnvoll erscheint bzw. wo sein Erkenntnis­ 64  Ich lehne mich im Folgenden an das Sieben-Stufen-Modell von R. C. Clark (1981, p. 1256 ff.) an.



B. Die Aufgabe: Erforschung der Historiogenese des Rechts 25

interesse erlischt. Außerdem kann er seine Untersuchung, soweit es ihm sinnvoll erscheint, in Stadien einteilen: vom Anfangszustand a bis b, von dort bis c usf. bis zum Endzustand n – die mesopotamische Rechtsent­ wicklung etwa in die sumerisch-akkadische und die babylonische, die ägyptische in die des Alten und die des Mittleren Reiches. (3) Zwischen dem Ausgangs- und dem Zielzustand muss sich eine Differenz identifizieren lassen, die sich als normative Entwicklung (Wachstumsoder Verfallserscheinung) interpretieren lässt. Den Begriff ‚Evolution‘ wird man ausschließlich für eine Wachstumsentwicklung im Sinne einer irreversiblen Anagenese zu reservieren haben, also eines Wandels zu größerer Bestimmtheit, größerer Ungleichartigkeit und größerem Zusam­ menhalt im Sinne der Definition von R. L. Carneiro:65 „Evolution is a change from a relatively indefinite, incoherent homogeneity to a relatively definite, coherent heterogeneity, through successive differentiations and integrations.“ Eine evolutionäre Entwicklung ist oft schwer von einer revolutionären zu unter­ scheiden. Während es bei jener um eine allmähliche Veränderung geht, stellt diese eine plötzliche Umwälzung der Verhältnisse dar, bei der die neu hinzukom­ menden Elemente die vorhandenen wesentlich überwiegen.66 Für die Beurteilung ist die geschichtliche Perspektive unmaßgeblich; denn den Zeitgenossen wird eine evolutionäre Entwicklung oft als revolutionär erscheinen. Aber auch aus der ungeschichtlichen Per­spektive werden Fragen offenbleiben: War beispielsweise der Übergang von der Klassenjustiz zur Gleichheit aller vor dem Gesetz ein evolutionärer oder war er ein revolutionärer Vorgang? Von einer kulturellen Evolution ist ferner die Vervollkommnung einzelner kultu­ reller Elemente (z. B. einzelner technischer Geräte innerhalb einer allgemeinen technischen Höherentwicklung) zu unterscheiden. Lediglich als Vervollkomm­ nung einer Rechtsordnung stellt sich z. B. die Reaktion auf den Umfang des Außenhandels mittels Verbesserung der Standardverträge dar. Rechtsevolution ist dagegen die Entwicklung von Standardverträgen und ihre Einbettung in eine globale Ausrichtung des Vertragsrechts, worin sich die Verträge entweder im Gleichschritt mit den übrigen Merkmalen der Rechtsordnungen entwickeln oder aber ihnen so voranschreiten, dass die Entwicklung insgesamt davon profitiert.

(4) Nachdem man mittels der Schritte 1–3 eine rechtliche Evolution identifi­ ziert hat, muss man in einem 4. Schritt nach den genetischen Faktoren Ausschau halten, welche die Evolution vorangetrieben haben.67 Für Ent­ 65  R. L. Carneiro (1973b), p. 90, im Anschluss an H. Spencer. Vgl. im Übrigen die Ausführungen oben A 4. 66  Vgl. oben A 4 (4). 67  Dies kann auch rückblickend geschehen, nachdem man – gemäß Schritt 6 – eine Gesetzmäßigkeit gefunden hat, die offenbar zu dem vorgefundenen Zielzustand hin­ geführt hat. Th. Mommsen (1905, S. 199) hat dieses Verfahren als das „Erkennen des

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Teil I: Entwicklung

wicklungen innerhalb der Struktur rechtlicher Normen68 wird man vor al­ lem auf psychische, für Entwicklungen ihres Inhalts vor allem auf sozio­ kulturelle Faktoren abzustellen haben69 – auch wenn, wie anzuneh­men,70 zwischen den psychischen Faktoren auf der einen und den soziokulturel­ len Faktoren auf der anderen Seite Wechselwirkungen bestanden haben. Als Beispiel diene die Erfindung der Schrift: Sobald die rechtlichen Normen schriftlich aufgezeichnet wurden, mussten sie nicht mehr als psychische Ge­ dächtnisinhalte überliefert und gelernt werden. Sie brauchten daher nicht mehr vorzugsweise die Struktur von einfachen Sprichwörtern oder Merkversen zu ha­ ben, sondern konnten detaillierter, komplexer, aber auch abstrakter werden.71 Die Erfindung der Schrift wiederum hing u. a. davon ab, dass ein die psychische Merkfähigkeit übersteigendes Maß an empirischen Daten sozial relevant wurde und daher ein soziokulturelles Mittel gefunden werden musste, um die Datenflut zu bewältigen.

(5) Des Weiteren müssen die Randbedingungen (Antecedensbedingungen) identifiziert werden, aufgrund deren die angenommenen Gesetzmäßigkei­ ten wirksam geworden sind. Neben sozialen und kulturellen Errungen­ schaften, etwa der Arbeitsteilung, kommen auch ephemere Ereignisse wie z. B. der Einfall einer feindlichen Horde, eine lange Trockenperiode oder die Ausbreitung einer Seuche innerhalb der Bevölkerung für die Rechtsentwicklung in Betracht. Nicht zu berücksichtigen sind dagegen persönliche Willensentscheidungen einzelner Personen (etwa von Herr­ schern), die nicht überwiegend Reaktionen auf äußere Umstände waren. (6) Schließend ist noch zu untersuchen, ob der für die Evolution in (3) und (4) postulierten Ursächlichkeit eine allgemeine Regel (Gesetzmäßigkeit) zugrunde liegt, die von der gleichen Ausgangslage aus unter gleichen Randbedingungen wieder zum gleichen Zielzustand führen würde. Erfor­ derlich für diese Untersuchung ist ein Vergleich mit Entwicklungen in anderen Rechtsordnungen, die unter vergleichbaren Randbedingungen stattgefunden haben. Führte z. B. die Ausbreitung der Schriftkunde über­ all zu Veränderungen im gerichtlichen Verfahren (etwa zur Zurückdrän­ gung des Ordals), dann kann dies als allgemeine Regel postuliert werden. Gewesenen aus dem Gewordenen mittels der Einsicht in die Gesetze des Werdens“ bezeichnet. Ähnlich bereits J. Kohler (1897), S. 194 f. 68  Ausschließlich auf langfristige Strukturveränderungen des gesamten Rechtssys­ tems wird die Rechtsevolution von R. Voigt (2003, S. 252) begrenzt. Indessen kann man z. B. den Übergang von mündlichen zu schriftlichen Normen, der zweifellos ei­ nen evolutionären Fortschritt darstellt, nicht als Strukturveränderung des Rechts anse­ hen. 69  Übereinstimmend W. Wundt (1918), S. 348. 70  Siehe unten D 2 c. 71  Siehe dazu unten C 2 c.



B. Die Aufgabe: Erforschung der Historiogenese des Rechts 27

Die Benutzung der vorstehend dargestellten methodischen Schritte führt, das sei nochmals betont, nicht zu stringenten Ergebnissen, wie wir sie von einigen Naturwis­ senschaften her kennen. Sie hebt aber die bisher getrennt betriebene Rechts(ent­ wicklungs)geschichte und Rechtsvergleichung aus ihrem überwiegend geisteswissen­ schaftlichen Niveau heraus und nähert sie den Naturwissenschaften so weit an, dass sie sich ihnen als Teile einer empirischen Rechtswissenschaft (verstanden als Gegen­ satz zur Jurisprudenz)72 zur Seite stellen lassen. Der Anwendung der Methode stellen sich allerdings Schwierigkeiten entgegen, die zumindest derzeit noch unüberwindlich sind. Sie beginnen mit der geschichtlichen Abgrenzung des zugrunde zu legenden Zeitraums: Wollten wir von den Anfängen des Rechts ausgehen, müssten wir festlegen, wann das Recht entstanden ist. Das aber ist schon deshalb unmöglich, weil Recht nicht überall zeitgleich und auch nicht auf ei­ nen Schlag entstanden ist, sondern sich allmählich aus den Sittenordnungen der Völ­ ker heraus entwickelt hat. Auch ist nirgends ‚das‘ Recht entstanden, sondern die eine oder die andere Sittennorm ist als Rechtsnorm stärker ins allgemeine Bewusstsein getreten. Weitere Schwierigkeiten stehen dem Vergleich von Rechtsentwicklungen entgegen. Welche Zeitabschnitte soll man dafür auswählen? Die Rechtsordnungen unterschiedlicher Völker sind weder gleichzeitig entstanden noch haben sie sich im gleichen Tempo entwickelt. Entschließt man sich deshalb, für jedes Volk eine dem gleichen Enwicklungstand entsprechende Zeitspanne zugrunde zu legen, schafft man sich neue Probleme, weil man nunmehr vor der Aufgabe steht, an den kulturellen Enwicklungstand einen Maßstab anzulegen, ohne hierfür klare Kriterien zu besitzen. So ist etwa die ägyptische Rechtsentwicklung mit der mesopotamischen nur begrenzt vergleichbar, schon weil der Enwicklungstand beider Völker niemals exakt gleich war und eben deshalb die Entwicklung teilweise anders verlief. Eine weitere Schwierigkeit bietet die Verwendung des vorliegenden Textmaterials. So sehr wir es begrüßen dürfen, wenn uns Texte aus frühantiker Zeit überkommen sind, so sehr müssen wir uns hüten, sie für eine getreue Spiegelung des lebendigen Rechts innerhalb der sozialen und politischen Realität zu nehmen. Gerade Staats­ inschriften übermitteln uns eher ein Wunschbild denn ein Abbild dessen, was tatsäch­ lich der Fall war oder von Rechts wegen der Fall hätte sein sollen. Und zusätzlich mahnt uns die an Ferdinand de Saussure anknüpfende Strukturale Anthropologie, je­ den Text auf das System zu beziehen, dessen Teil er ist und auf das hin er zu inter­ pretieren ist.73 Ich werde die genannten Schwierigkeiten nicht durchweg lösen können; aber ich werde versuchen, mir im weiteren Verlauf meiner Untersuchung ihrer bewusst zu bleiben und Wege zu finden, sie bestmöglich zu überwinden, ohne dass mein wissen­ schaftliches Ziel einer Historiogenese ‚des‘ Rechts mir aus den Augen gerät.

näher E.-J. Lampe (2014). de Saussure (1931); C. Lévi-Strauss (1977).

72  Dazu 73  F.

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Teil I: Entwicklung

C. Genetische Materialien zur Rechtsgeschichte Die menschliche Entwicklung vollzog sich, soweit wir zurückblicken kön­ nen, in der Weise, dass entweder von Gruppen oder von Einzelnen ihrer Angehörigen innovative Effekte ausgingen. Deshalb werde ich im Folgenden versuchen, einen Überblick über die Voraussetzungen für diejenigen innova­ tiven Effekte zu geben, welche die normative Ordnung des menschlichen Gemeinschaftslebens vorantrieben und die somit entweder dem Recht oder einer seiner Vorstufen zuzurechnen sind. Dabei ist zusätzlich zu beachten, dass innovative Effekte von Gruppen oder Einzelnen zwar ausgehen können, darüber hinaus aber der positiven Selektion seitens der Gemeinschaft unter­ liegen, und dass, ob diese sie selektiert oder nicht, von einer Vielzahl weite­ rer Faktoren abhängt: etwa von der Macht und dem Ansehen derer, von denen die Effekte ausgehen, flankierend von der generellen Bereitschaft der Ge­ meinschaft zur Übernahme neuer Effekte, speziell von der Möglichkeit zur Einpassung der Effekte in den Ist-Zustand der Kultur sowie von ihrer vermu­ teten Nützlichkeit für die Zukunft. Wo immer neue soziale Normen geschaf­ fen wurden, waren sie deshalb nicht nur Innovationen einzelner Gruppen oder Persönlichkeiten, sondern wesentlich auch Maßnahmen der Akzeptanz durch die Gemeinschaft. Und da sie dem psychischen Bereich angehörten, drückte sich die Akzeptanz der Gemeinschaft vor allem darin aus, dass sie sozial handlungsleitend wurden. Transsozial konnten sie sich anschließend (z. B. durch Diffusion) verbreiten, und sie taten dies, wenn sie den Bevölke­ rungsgruppen, die sie übernahmen, einen Vorteil gegenüber denen verschaff­ ten, die sich nicht nach ihnen verhielten und infolgedessen (z. B. im Kampf um Lebensraum) das Nachsehen hatten. 1. Humangenetische, ökogenetische und soziogenetische Ursachen Während die Voraussetzungen für normatives Verhalten heute global im menschlichen Gehirn gespeichert sind (unten a), gilt das für die rechtlichen Normen selbst nicht. Diese müssen vielmehr nachgeburtlich erlernt und im Gedächtnis abgespeichert werden (unten b). Angeregt, aber auch begrenzt wird das Erlernen und Abspeichern rechtlicher Normen durch das soziale und politische Umfeld, worin der Mensch aufwächst. Dieses Umfeld ist i. d. R. nicht nur unterschiedlich, sondern auch in einer ständigen Entwick­ lung begriffen, weshalb man es als Randbedingung für konkretes rechtsnor­ matives Denken und Verhalten einzuordnen hat (unten c).



C. Genetische Materialien zur Rechtsgeschichte 29

a) Biogenetische Ursachen Biogenetisch kommt der heutige Mensch nicht mit einer Psyche als tabula rasa auf die Welt,74 sondern versehen mit einer großen Anzahl von Instinkt­ residuen, die ihn auf das Überleben in einer sozialen Umwelt vorbereiten und ihm erlauben, sich darin soziokulturell weiterzuentwickeln.75 Als Er­ wachsener ist er also das Produkt nicht nur seiner biosozialen Speziesge­ schichte (Anthropogenese), sondern auch seiner soziokulturellen Individual­ geschichte (Ontogenese). Diesen von seiner Geschichte ‚geschichteten‘ Cha­rakter erfasst heute die wissenschaftliche Anthropologie, indem sie zwi­ schen den ererbten biopsychischen Faktoren, die im Laufe eines jeden Men­ schenlebens ausreifen und keiner Lernvorgänge bedürfen, und den durch Lernen erworbenen soziokulturellen Faktoren, welche die Psyche eines jeden Menschen prägen, unterscheidet sowie gleichzeitig annimmt, dass ererbte wie erlernte Faktoren sich wechselseitig beeinflussen. Die Geschwindigkeit der ausschließlich biotischen Evolution ist meistens gering gewesen. Deshalb dürfen wir vermuten, dass die menschliche Genera­ tionenfolge der letzten ca. 40.000 Jahre nicht ausreichte, um den Menschen biotisch so signifikant zu verändern, dass auch seine Rechtsentwicklung da­ von betroffen war.76 Vielmehr fand in dieser Zeit die Evolution fast aus­ schließlich im psychischen und soziokulturellen Bereich statt, indem der Mensch sich aus der Macht seiner biotischen Determinanten allmählich be­ freite und seine weitere Entwicklung vor allem auf die Kulturierung sowohl seiner selbst als auch seiner Umwelt ausrichten konnte. Die Entwicklung rechtlicher Normen war in diesen Kulturierungsprozess eingeschlossen, hatte aber keine spezifisch hirnphysiologische Grundlage.

74  So noch Thomas von Aquin, Summa theologiae I, 79, 2: „Intellectus humanus … in principio est sicut tabula rasa, in qua nihil scriptum est.“ Vgl. auch Aristoteles, De anima III 4 (430a). 75  A. Gehlen (1986b), S. 129 ff. Zu einseitig ist es, wenn R. Dawkins (1976) den Menschen als eine genetisch programmierte „Überlebensmaschine“ (survival machine) bezeichnet. Diese Einseitigkeit, die man schon im 18. Jh. beim französischen Arzt J. O. de Lamettrie (1748/1985) angekreidet hat, gilt heute allgemein als über­ holt. Mit Recht vorsichtig daher P. Finke (2005), S. 39 f.: Der Mensch ist nicht nur ein Teil der Natur geblieben, sondern hat auch seine neu erworbenen Fähigkeiten letztlich von dieser ererbt und sie zwar erheblich, aber nicht gänzlich umgestaltet; biologische Erkenntnisse darf man deshalb „für die Gewinnung eines neuen Bildes menschlicher Aktivitäten [nur] bis zu einem gewissen Grade fruchtbar machen.“ 76  Dazu R. Boyd/P. J. Richerson (1985; 2005); M. Tomasello (1999), p. 2 f.; ferner unten 2 a.

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Teil I: Entwicklung

Bis zur Zeit vor etwa 40.000 Jahren hatte der Mensch zwar gewisse kulturelle Fähigkeiten entwickelt,77 doch beschränkte sich die Entwicklung hauptsächlich auf die biogenetische Einpassung in die Umwelt: etwa im Körperbau, in der Blutzusam­ mensetzung und in der Hautfarbe. Erst danach übernahmen mehr und mehr psycho­ genetische Komponenten das Kommando und bewirkten mittels Variation und Selek­ tion des jeweils Überlebensnützlichen jenen steilen kulturellen Anstieg, aus dem auch die Normen hervorgingen. Bis zur Zeit vor ca. 15.000 Jahren war die Entwicklung allerdings primär auf die Weiterentwicklung der schon zuvor erworbenen normativen Fähigkeiten zur technischen Herstellung von Werkzeugen (aus Stein, Knochen oder Holz) gerichtet, die vor allem der Nahrungsgewinnung, Bekleidung und Behausung dienten. Es entstanden neue oder verbesserte Werkzeuge zur Jagd, zum Zerlegen der Beute, zum Abschaben der Felle, zum Abschneiden von Pflanzen usw.78 Sozialer Normen bedurfte man hauptsächlich, wenn man, wie z. B. für die Jagd, eine bestimm­ te Art der Zusammenarbeit regeln musste. Im Wesentlichen gleichzeitig erstreckte sich der Gebrauch der Werkzeuge jedoch auch schon auf den Krieg gegeneinander. Die für solche Kriege erforderlichen Normen entsprachen wahrscheinlich im Wesent­ lichen denen, die auch zur Ordnung der Jagd auf größere Tiere diente. Und wie man bei der Jagd desto erfolgreicher war, je bessere Waffen man benutzte und je besser man organisiert war, galt das auch für den Krieg: Kriege führten infolgedessen regel­ mäßig zur Ausrottung der schwächer bewaffneten und schlechter organisierten Men­ schengruppen und damit auch zur kulturellen Selektion. Dadurch schloss der Mensch nicht nur die Entwicklung neuer biologischer Spezies neben homo sapiens sapiens aus,79 sondern innerhalb der eigenen Spezies weitgehend auch die Entwicklung von technisch- und/oder sozial-normativ zurückgebliebenen Spezies. Die Zukunft gehörte den (handwerklich und organisatorisch) Tüchtigen.

b) Psychogenetische Ursachen Die Psychogenese des Menschen in den letzten ca. 15.000 Jahren beruht nur zu einem geringen Anteil auf strukturellen hirnphysiologischen Veränderun­ gen, hauptsächlich dagegen auf der quantitativen Zunahme der Neuronenver­ bände, weshalb psychische Prozesse eher auf die Hirnphysiologie strukturie­ rend eingewirkt haben als umgekehrt. Doch wie immer man das Verhältnis beurteilt, tut man gut daran, in Bios und Psyche ein sich wechselseitig bedin­ gendes und anregendes Kontinuum zu sehen – weshalb noch heute beispiels­ weise sowohl die somatische Belastbarkeit des Menschen eine Grenze für seine Psyche bildet (rechtlich z. B. ‚ultra vires nemo obligatur‘) als auch um­ 77  Nachweise bei M. Pagel (2012). Siehe zum Zeitraum von 40.000 Jahren unten Fn. 109. 78  F. Facchini (2006), S. 110 f., 119 f. 79  Außerhalb von Afrika war es offenbar zu Verpaarungen gekommen zwischen homo sapiens sapiens und homo sapiens denisova (ausgestorben vor ca. 40.000 Jah­ ren) sowie homo sapiens sapiens und homo sapiens neanderthalensis (ausgestorben vor ca. 30.000 Jahren). Aber das lag weit zurück. Weitere Verpaarungen von homo sapiens sapiens mit anderen Spezies sind bisher nicht bekannt geworden.



C. Genetische Materialien zur Rechtsgeschichte 31

gekehrt die psychische Belastbarkeit eine Grenze für das menschliche Soma (rechtlich z. B. ‚Angststarre‘ als Ausschluss rechtlicher Handlungsfähigkeit). Die anfängliche Entwicklung einer Psyche diente allen höheren Lebewesen dazu, ihr Verhalten an diejenigen natürlichen Umweltbedingungen anzupas­ sen, für die der zeitliche Spielraum einer biogenetischen Anpassung zu kurz war. Die weitere Entwicklung bestand dann in der Differenzierung (: in der thematischen Erweiterung) der Anpassungsleistungen, wobei es homo sapiens sapiens gelang, das weiteste Spektrum abzudecken: Er konnte Hitze wie Kälte ertragen, Hunger und Durst durch unterschiedlichste Nahrungsmittel stillen, sowohl in nahrungsreichen als auch in nahrungsarmen Landstrichen siedeln, Erkenntnisse nicht nur über die Gesetzmäßigkeiten der Natur, sondern auch zu ihrer Beherrschung gewinnen u. a. m. Bei allen sozialen Lebewesen dienten die psychischen Entwicklungen darüber hinaus zur Herstellung von sozialen Kontakten zu Ihresgleichen: zu Interaktionen und Kommunikationen. Denn im Gegensatz zu Organismen mit einfacher Struktur (z. B. zu den sozialen Insekten) waren diese ihnen lediglich als ein mehr oder weniger festes Funda­ ment (‚instinktoid‘) angeboren. Speziell beim Menschen beruhten sie •• auf der Neigung zu einem harmonisch geordneten Zusammenleben, die allerdings interne und externe Konkurrenz nicht ausschloss; •• auf der Neigung zur kulturellen Ordnung seiner sozialen Umwelt, z. B. auf der Tendenz, Gegenstände durch die (miteinander verwandten) Konzepte des ‚Gehörens‘ (: mein Haus, meine Familie) und ‚Gehorchens‘ (: mein Chef, mein Hund) einander ‚normativ‘ zuzuordnen; •• auf der Neigung, zukünftige Erwartungen auf frühere Erkenntnisse zu gründen, z. B. aufgrund früherer Erfahrungen Informationsdefizite hin­ sichtlich der Zukunft auszugleichen; •• auf der Neigung, zwei aufeinander folgende Zuständen mittels gedank­ licher Konzepte zu verbinden, z. B. als ‚kausalen‘ Grund eines sozialen Prozesses eine Person als ihren ‚Urheber‘ zu identifizieren und als ‚rezip­ roke‘ Folge eine adäquate Sanktion (im positiven Falle eine Belohnung, im negativen eine Strafe o. ä.) zu erwarten oder diese sogar selbst zu ver­ längern und zu vollziehen. Auf diesem Fundament globaler Neigungen erwuchsen mit der Zeit aller­ dings so viele persönliche Neigungen (und Abneigungen), dass sie, um ihre Gemeinverträglichkeit zu gewährleisten, von einer Ordnungsmacht beherrscht werden mussten. Als solche boten sich ‒ auf der Grundlage der die lebende Natur auszeichnenden generellen und der das soziale Zusammenleben aus­ zeichnenden speziellen Ordnungstendenz80 ‒ soziale Normen an. Deren Aus­ 80  Zur allgemeinen Tendenz zum Ordnungsgewinn bzw. zum ‚Komplexitätsabbau‘ vgl. noch unten J 2 d β.

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Teil I: Entwicklung

arbeitung erstreckte sich auf sämtliche Bereiche der menschlichen Psyche, also sowohl den Gefühls-, Verstandes-, Willens- als auch den Ich- (bzw. Selbst-)Bereich. Die weitere Aufgliederung ergibt Folgendes: (1) Im (vierdimensionalen) Gefühlsbereich81 lösten Typen von Zuständen bzw. Ereignissen unter gleichen Randbedingungen bei den meisten oder bei bestimmten Gruppen von Menschen gleiche Wirkungen aus, sodass diese normativ festgeschrie­ ben werden konnten – so etwa • in der Dimension ‚Lust vs. Unlust‘ gleiche Lust- oder Unlustgefühle; • in der Dimension ‚Erregung vs. Beruhigung‘ gleiche psychische Erregungszustän­ de, die allesamt ins Stadium der Beruhigung zurückzukehren trachteten; • in der Dimension ‚Dominanz vs. Submission‘ gleiche Ordnungstendenzen, die die Komplexität der wahrgenommenen Zustände bzw. Ereignisse reduzierten, indem sie ihre Eindrucksstärke hierarchisch gliederten; • in der Dimension ‚Kontrolle vs. Beliebigkeit‘ gleiche Beherrschungstendenzen, die dem entscheidungsfähigen ‚Ich‘ einer ‚Person‘ einen Weg mittlerer Voraussicht zwischen den Polen (unerreichbarer) vollständiger Kontrolle über die Zustände bzw. Ereignisse einerseits und (willenlosem) Ausgeliefertsein an ihre Überra­ schungsfülle andererseits ebneten. (2) Den rationalen Bereich82 beherrschte allenthalben die Tendenz, wahre bzw. richtige Urteile über Zustände bzw. Ereignisse zu bilden. Gewonnen wurden solche Urteile, indem sich das Denken durch einen ‚Suchraum‘ hindurch den Weg zur ‚Lö­ sung‘ der sich stellenden ‚Probleme‘ bahnte. Aufgrund dieser übereinstimmenden Tendenz ließ sich ein in etwa gleicher Erkenntnisgewinn bei allen Menschen erwar­ ten, der notfalls miteinander abgestimmt und sodann zur Grundlage von Normen ge­ macht werden konnte. Generell leitend waren • das Gesetz der Berührung: Zwei Gedanken, die zeitlich und örtlich bereits einmal verbunden aufgetreten sind, haben die Tendenz, wieder gemeinsam aufzutreten; • das Gesetz der Gleichheit bzw. Ähnlichkeit: Zwei Gedanken werden umso wahr­ scheinlicher miteinander verknüpft, je ähnlicher entweder die Eigenschaften von oder die Relationen zwischen den Zuständen oder Ereignissen sind, die von ihnen erfasst werden; • das Gesetz der Konvergenz: Das Zusammenwirken der Gesetze der Berührung und der Gleichheit erzeugt die Tendenz, nach Gründen für Zustände bzw. Ereignisse zu suchen und hierfür die Kategorien der Kausalität und der Reziprozität auszubilden; • das Gesetz der Bekräftigung: Es besteht die Tendenz, den von der Realität bestä­ tigten und somit erfolgreichen Gedankenoperationen das Prädikat der Richtigkeit und somit normative Kraft zu verleihen.

81  Zum 82  Zum

Folgenden näher E.-J. Lampe (1991), S. 224 f. m. Nachw. Folgenden näher E.-J. Lampe (1988), S. 130 ff. m. Nachw.



C. Genetische Materialien zur Rechtsgeschichte 33

(3) Im Ich-Zentrum schließlich wurden bei allen Menschen Willensprozesse ausge­ löst, die sich sowohl der Informationen bedienen, die von den Wahrnehmungsorganen über den Hypothalamus und das limbische System laufen, also insbesondere die subjektive Betroffenheit anzeigen, als auch derjenigen, die von den Rezeptoren un­ mittelbar an die zuständigen Hirnrindenpotentiale geleitet werden, also primär der objektiven Orientierung dienen. Weil die Informationen beider Kanäle (von Ausnah­ mefällen abgesehen) die Verhaltensreaktionen nicht determinieren, muss das IchZentrum noch den internen Akt der Willkür beisteuern, d. h. unter den vorhandenen Reaktionsmöglichkeiten diejenige Reaktion auswählen, die zur Ursache der Reak­ tionswirklichkeit werden soll. Zusätzlich wirken hierbei gewisse Gesetzmäßigkeiten des Sollens auf den Entscheidungsakt ein, die sich der – aus der Realität übernomme­ nen, sie aber überhöhenden – Konzepte der Kausalität und Reziprozität bedienen und sich in die Tendenzen zum Wahren, zum Guten, zum Schönen und zum Heiligen aufschlüsseln lassen.83

Eine Erklärung, nicht wie, sondern warum es zur normativen Ordnung der menschlichen Beziehungen kam, hat Günter Dux vorgelegt und in vielen Einzelbeiträgen erläutert bzw. gegen Einwände verteidigt.84 Dux geht davon aus, dass der Mensch die sozial-normative Ordnung seines Da­ seins nicht ererbt haben kann, sondern sie erst erschaffen musste. Wie das geschah, könnten uns allerdings, meint er, weder die Humanbiologie noch die Soziobiologie sagen. Der Anschluss an die Naturgeschichte des Menschen müsse vielmehr, bedingt durch den Mangel an instinktiver Determination (und hieraus folgender Variabilität) der Antworten auf Erwartungen von Artgenossen, autogen-konstruktiv gewesen sein: gedankliches Erfassen der konstruktiven Möglichkeiten, die sich der Reaktion auf eine Situation im sozialen Umfeld bieten, und sprachliche Beschränkung auf die im Verhältnis zu den Mitgliedern der Gemeinschaft kommunizierbaren und verantwort­ baren Möglichkeiten.85 Damit seien die individuellen Möglichkeiten freilich erschöpft gewesen. Ein soziales Zusammenleben hätten die Mitglieder deshalb nur gemeinsam mithilfe von „Organisationsmedien“ erzeugen können: Wahrheit (als Bedingung für die Schaffung einer gemeinsamen Welt), Ideen (als Vergegenwärtigung der sinnhaften Verfassung einer sozialen Welt), soziale Vernunft (als Verständigung über gemeinsa­ me bzw. reziproke Interessen) und Macht (als kulturelle Form der Selbstbehauptung durch den Willen). Diese Mechanismen hätten sich als lebensdienlich bzw. Fitness fördernd erwiesen, weshalb ihre Beachtung von jedermann erwartet worden sei – sie wurden ‚normativ‘.

83  Es muss betont werden, dass diese Tendenzen ich-bezogen sind, also nur das für mich Wahre, Gute, Schöne und Heilige betreffen. Allerdings geht es mir niemals nur um mich, nur um Ich-Verwirklichung, sondern auch um Selbst-Verwirklichung, d. h. um die Verwirklichung der selbst gewählten oder sozial aufgegebenen Ideale. Verrat an diesen Idealen ist Selbstverrat. 84  Zum Folgenden vor allem G. Dux (2000) und (2001). 85  G. Dux (2001) S. 26 f.: Sprache ist „die erworbene Möglichkeit der Verständi­ gung“ mit anderen und damit „die Bedingung der Möglichkeit für das gesellschaft­ liche Zusammenleben“.

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Teil I: Entwicklung

An der Dux’schen Theorie überzeugt, dass der durch Instinkte nicht ‚fest­ gestellte‘ Mensch gewisser „Organisationsmedien“ bedurfte, um sein Sozial­ verhalten vorausberechenbar zu gestalten. Doch lässt sie (vor dem Hinter­ grund der generellen Tendenz zum Abbau von Ordnung86) die Frage offen, welche evolutionäre Kraft in der Lage war, diese Organisationsmedien zu entwickeln?87 Ich habe diese Kraft (ich nenne sie ‚Lebenskraft‘) aus einem dem biologischen analogen psychologischen Hyperzyklus von Wille und so­ zialer Neigung hergeleitet.88 Hieran halte ich fest. Denn die Herleitung ist zwar theoretisch-spekulativ; aber zu einem Mehr sind wir m. E. aufgrund der überlangen Zeit, die seit dem ersten Hervortreten von Normen verflossen ist, nicht in der Lage. Es bleibt dann noch die Frage nach dem Inhalt der Sozialnormen. Begrün­ dend dafür waren m. E. die menschlichen Bedürfnisse nach Behauptung in der Umwelt, nach Aneignung von Ressourcen aus der Umwelt, nach Fami­ lienbildung, nach Egalität einerseits, Hierarchiebildung anderseits, nach Gleichheit im Austausch und nach Gerechtigkeit bei der Verteilung usw., deren Geltung teils biopsychisch, teils kulturell verfestigt,89 deren Ausfor­ mung deshalb teils einheitlich, teils sozial unterschiedlich war. Sitte und Recht nahmen sie später (als „negatives Naturrecht“90) auf, wobei die Auf­ gabe, ein harmonisches soziales Zusammenleben zu ermöglichen und Dis­ harmonien mit Sanktionen zu belegen, aufgrund der exponentiellen Vermeh­ rung der Menschen von der Sitte immer stärker auf das stärker formalisierte und mit Sanktionen ausgestattete Recht überging. 86  Zur allgemein wirksamen Tendenz zum Ordnungsabbau (‚Entropiegesetz‘) vgl. unten J 5 f bb (2). 87  Zutreffend bemerkt H.-J. Niedenzu (2012, S. 336), dass „die Funktionalität ei­ nes Phänomens nicht schon die Erklärung von dessen Genese ist“. Die Argumentation müsse umgekehrt ansetzen, „nämlich dass mit der Vergrößerung des Gehirns und dem medialen Verbund von Denken und Sprache eine neue Möglichkeit entstand, die so­ zialen Verkehrsverhältnisse mittels begrifflich-symbolischer Kommunikation auf eine flexiblere Basis zu stellen und zu reorganisieren“. 88  E.-J. Lampe (1987), S. 70 f.: „Substanzen sind erstens die – in Konkurrenz zu­ einander stehenden – Einzelwillen der Menschen und zweitens die menschliche Nei­ gung zur sozialen Lebensweise. Die Normen entstanden aus einer Verkoppelung bei­ der ‚Substanzen‘ als ‚hyperzyklische‘ Organisationsgesetze, die über die Konkurrenz von Einzelwillen die Kooperation und über die individuellen sozialen Neigungen die allgemeine soziale Verbindlichkeit stellten. Das Wollen wurde dadurch zum Sollen, die Neigung zur Pflicht.“ Näheres dazu unten J 1. 89  F. J. Ayala (1987), p. 237: „Moral codes, like any other cultural systems, de­ pend on the existence of human biological nature and must be consistent with it in the sense that they could not counteract it without promoting their own demise. Moreover, the acceptance and persistence of moral norms is facilitated whenever they are consistent with biologically conditioned human behaviours.“ 90  E.-J. Lampe (1988), passim.



C. Genetische Materialien zur Rechtsgeschichte 35

Folgende Tendenzen lagen der inhaltlichen Entwicklung rechtlicher Normen zu­ sätzlich zugrunde: (1) im Bereich des Rechtsgefühls91 die Tendenzen zur Differenzierung • zwischen (formellem oder informellem) Recht und Unrecht, • zwischen Rechtsgrund und Rechtsfolge, • zwischen Rechtsanspruch und Rechtspflicht, • zwischen der Ordnungs- und der Freiheitsfunktion des Rechts; (2) im Bereich des rechtlichen Denkens92 die Tendenzen • zur Wiederholung bereits früher aufgetretener Gedankenverbindungen zwecks For­ mulierung von generellen (Gesetzes-)Aussagen, • zur Verknüpfung ähnlicher Wahrnehmungen zwecks Einbindung ähnlicher Sach­ verhalte in einen identischen begrifflichen Rahmen („Tatbestand“), • zur Zusammenfassung sich wiederholender Ereignisfolgen zwecks Bildung von konditionalen (‚immer wenn …, dann …‘-)Normen, • zur Bekräftigung erfolgreicher Gedankenverbindungen zwecks Begründung der (Soll- bzw. Darf-)Geltung von Normen; (3) im metaphysischen Rechtsbereich die Tendenzen • zum Wahren zwecks Überzeugungsbildung in Bezug auf einen rechtlich relevanten Sachverhalt (‚A hat an B den Hengst H verkauft‘), • zum Richtigen zwecks Findung der Rechtsfolge für einen rechtlich relevanten Sachverhalt (‚B soll an A einen Kaufpreis zahlen‘), • zum Geheiligten zwecks Sanktionierung der Folgeentscheidung (‚Der Folgeaus­ spruch soll [in Ewigkeit] beständig sein‘).

Die rechtlichen Normen mussten innerhalb der Ontogenese erlernt werden, wodurch regelmäßig zunächst die Meinung entstand, dass nur diese Normen und sie nur in dieser sprachlichen Fassung ‚richtig‘ seien. Unter dem Ein­ fluss des Handels und der vermehrten Kenntnis auch fremder Kulturen ent­ wickelte sich jedoch die Fähigkeit, auch fremde Normen als ‚richtig‘ zu be­ greifen und sie zumindest als für fremde Kulturen gültig zu akzeptieren. c) Ökogenetische und soziogenetische Ursachen Außer endogenen (‚psychogenetischen‘) waren für die Normentwicklung exogene (‚ökogenetische‘ und soziokulturelle) Ursachen relevant.93 Als E.-J. Lampe (1991), S. 226 ff. m. Nachw. E.-J. Lampe (1988), S. 147 ff. 93  Der die Soziologie seit mehr als 150 Jahren beherrschende Streit um die Erklä­ rung der soziokulturellen Entwicklung scheint mir heute im Sinne einer sowohl sub­ jektive als auch objektive Faktoren berücksichtigenden Vereinigungstheorie entschie­ 91  Vgl. 92  Vgl.

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Teil I: Entwicklung

Randbedingungen94 beeinflussten sie sowohl das Werden als auch den Inhalt der Normen.95 Beispiele: 1. Klimatische Bedingungen beeinflussten die Bevölkerungsdichte, wes­ halb in gemäßigten Zonen mehr Menschen lebten als in extrem warmen und in ex­ trem kalten. Die Bevölkerungsdichte wiederum beeinflusste Art und Inhalt der Sozi­ alnormen: (a) Dichte Besiedlung führte zur Anonymität der Sozialbeziehungen und erforderte abstrakte Sozialnormen; die durch Anonymität erhöhte Chance, sich der sozialen Verantwortung zu entziehen, erforderte eine strengere Kontrolle ihrer Befol­ gung und schärfere Sanktionen gegen ihre Übertretung. (b) Geringe Bevölkerungs­ dichte ermöglichte die Individualisierung der sozialen Normen; ihre Einhaltung konnte i. d. R. leicht kontrolliert werden, was wiederum einen erheblichen Ermessens­ spielraum für die Sanktionierung angesichts einer Übertretung eröffnete. – 2. Das soziokulturelle Niveau beeinflusste die Zahl der Verhaltensnormen und die Komple­ xität der sozialen Ordnung: Kulturen, welche – etwa durch Erziehung in (Tempel-) Schulen – die Intelligenzentwicklung förderten, waren zu einer komplexer strukturier­ ten Sozialordnung mit einer größeren Anzahl von Normen befähigt als Kulturen, die keine Schulung der Intelligenz kannten.

Von ihren Randbedingungen, insbesondere von denen der „Kulturumwelt“96, hing insgesamt die Entwicklungshöhe des normativen Niveaus ab. In den ca. 6 Millionen Jahren, seit sich der Mensch von den übrigen Primaten ab­ spaltete, hat sich diese Entwicklung immer mehr in die Höhe geschraubt.97 Während der Mensch in den ersten 4 Millionen Jahren noch kaum Fertigkeiten erwarb, die über die der übrigen Primaten wesentlich hinausgingen, gewann seine Entwicklung an­ schließend an Fahrt und zog in den letzten 250.000 Jahre nochmals kräftig an. In diesem, schon verhältnismäßig engen, Zeitraum flexibilisierte sich das menschliche Sozialverhalten; gleichzeitig verlagerten sich die prägenden Einflüsse vom endogen sozialpsychischen auf den exogen soziokulturellen Bereich. In den letzten 40.000 Jahren erhöhte sich die Zahl der soziokulturellen Faktoren nochmals, und entspre­ den zu sein. Vgl. dazu die noch heute gültigen Ausführungen von F. Engels (1925/1978), S. 498: „Naturwissenschaft wie Philosophie … kennen nur Natur einer­ seits, Gedanken andererseits. Aber grade die Veränderung der Natur durch den Menschen … ist die wesentlichste und nächste Grundlage des menschlichen Denkens, und im Verhältnis, wie der Mensch die Natur verändern lernte, in dem Verhältnis wuchs seine Intelligenz. Die naturalistische Auffassung der Geschichte, … als ob die Natur ausschließlich auf den Menschen wirke, die Naturbedingungen überall seine ge­ schichtliche Entwicklung ausschließlich bedingten, ist daher einseitig und vergisst, dass der Mensch auch auf die Natur zurückwirkt, sie verändert, sich neue Existenzbe­ dingungen schafft.“ 94  Vgl. oben B 2 [5]. 95  Th. Dobzhansky (1975), S. 18: „Ähnliche Gene können in unähnlichen Umwel­ ten verschiedene Wirkungen haben, ebenso wie unähnliche Gene in ähnlichen Um­ welten.“ 96  A. Gehlen (1986a), S.  337 f. 97  Das menschliche Erbgut hat sich seit der Abspaltung von den übrigen Primaten dagegen nur um wenig mehr als ein Prozent verändert.



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chend stiegen auch die Zahl und die Differenziertheit98 der das Sozialverhalten len­ kenden Normen an. Und seit etwa 15.000 Jahren verdichtete sich die Kulturierung des menschlichen Sozialverhaltens derartig, dass soziale Stratifizierung nebst Nor­ menhierarchisierung gegensteuern mussten.

Zuerst waren es vor allem die Quantität und Qualität der Nahrungsgrund­ lagen, die geographische Gliederung des Siedlungsraumes, die Bodenbe­ schaffenheit, das Klima und die Wasservorräte, die eine herausragende Be­ deutung für die Kultur- und Normentwicklung besaßen. Dann traten infolge der Sesshaftigkeit die Kulturierung des Bodens, die Domestizierung von Tieren und eine immer größere Anzahl technischer Erfindungen (z. B. des Pfluges) hinzu. Und in den letzten 15.000 Jahren verstärkten Urbanisierung, Alphabetisierung, Errichtung von Schulen, Ausbildung einer gelehrten Pries­ terschaft, Gründung von Märkten und Geldwährungen, Aufklärung der Be­ völkerung mithilfe schriftlicher Medien und viele weitere Faktoren die Ent­ wicklung, sodass es schon fast unmöglich ist, ein einigermaßen vollständiges Bild von den äußeren Umständen zu entwerfen, unter denen die antiken Hochkulturen ihre Sitten- und Rechtsordnungen erzeugten. Denn man muss die genannten Randfaktoren ja nicht nur in das Bild eines sozialnormativ geordneten Gemeinschaftslebens einbringen, sondern zusätzlich berücksichti­ gen, dass es darin außer zu linearen Kausalbeziehungen auch zu zirkulären Mustern kam, worin die Randfaktoren die sozialen Normen, die sozialen Normen aber wiederum die Randfaktoren veränderten.99 Heute ist daher je­ der Forscher, der die Gesamtheit der antiken Sitten- und Rechtsordnungen darstellen will, gezwungen, aus der Unzahl der seinerzeit vorhandenen Rand­ faktoren die ihm wesentlich erscheinenden auszuwählen und seine Schluss­ folgerungen auf Näherungswerte zu beschränken100 – um schließlich zu hoffen, dass diese Näherungswerte dem ‚wahren Bild‘ der antiken Verhält­ 98  Differenziertheit ist das Ergebnis der Ausbildung einer immer größeren Mannig­ faltigkeit von Eigenschaften oder Funktionen. In der Phylogenese wird sie entweder durch die Ausbildung neuer oder durch die Aufspaltung vorhandener Eigenschaften oder Funktionen erzeugt, wobei man zwischen horizontaler, vertikaler und funktiona­ ler Differenziertheit unterscheidet. Für jede ihrer Arten gibt es eine große Anzahl geschichtlicher Belege: für die horizontale Differenziertheit die Aufspaltung in Stadtund Landbewohner, für die vertikale Differenziertheit die Herausbildung hierarchi­ scher Machtstrukturen, für die funktionale Differenziertheit die Ausbildung von Ar­ beitsteilung und die Entstehung typisch ländlicher und typisch städtischer Berufe. 99  Daraus ergeben sich komplexe Entwicklungsmodelle, worin die Akteure einer­ seits unterschiedliche, sowohl ihren Bedürfnissen als auch ihrer Umwelt angepasste Sozialisationsmuster erzeugen, andererseits ihr äußeres Erscheinungsbild und Verhal­ ten (so gut es geht) daran anpassen. Einzelheiten zu den Entwicklungsmodellen etwa bei L. R. Bergman/R. B. Cairns/R. B. Nilsson, L.-G. & L. Nystedt (2000). 100  Dasselbe gesteht R. McC. Adams (1966, p. 174 f.) bereits für seinen Vergleich zwischen den Entwicklungen im antiken Mesopotamien und im vorspanischen Me­ xiko zu.

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nisse wenigstens in etwa entsprechen. Der Blick auf die neuzeitlichen Ver­ hältnisse im letzten Teil meiner Untersuchung wird dieses Problem nochmals verstärken. d) Kulturelle Diffusion Kulturelle Diffusionen, die in diesem Zusammenhang ebenfalls zu erwäh­ nen sind, haben eine teilweise nur historische, teilweise aber auch genetische Bedeutung. Aus ihnen ergibt sich jene Unschärfe, welche die Eigenständig­ keit vieler antiker kultureller Entwicklungen infrage stellt. Die folgende Darstellung kann sie nicht ganz vermeiden, obwohl ich wechselseitige Be­ fruchtungen aufgrund meiner Auswahl innerhalb der antiken Kulturen best­ möglich auszuschließen versucht habe. Diffusionen durchbrechen zwar die Evolution nicht – vielmehr liefert gerade die biotische Evolution den Beweis dafür, dass sich die unermessliche Fülle von Pflanzen- und Tierarten nicht linear aus einem einheitlichen Urzustand aufgrund von Verzweigungen ent­ wickelt hat, sondern dass Vermischungen von miteinander reproduktionsfähi­ gen Arten kräftig daran mitgearbeitet haben.101 Und deshalb schadet es grundsätzlich nicht, wenn für Entwicklungen im kulturellen Bereich Diffu­ sionen ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Doch lässt sich das historisch zweifellos vorhandene Gewicht beispielsweise von Prägung, Konditionie­ rung, Beobachtung und Imitation102 genetisch kaum abschätzen, wenn es durch Diffusionen immer wieder beeinflusst wurde. Und da es mir im Fol­ genden darauf ankommt, genetische Gesetzmäßigkeiten aufzuzeigen, muss ich durch Diffusionen erzeugte Einflüsse so weit wie möglich auszuschließen versuchen. Ich habe infolgedessen auf eine Einbeziehung derjenigen Rechts­ ordnungen verzichtet, die in einer besonders intensiven Berührung mit ande­ ren Rechtskulturen gewachsen sind ‒ diesem Verzicht fiel insbesondere die israelische Rechtsordnung zum Opfer.103 Ein Rückgang auf einen einheitlichen Ursprungsort, von dem aus sich alle Rechtsordnungen entwickelt haben, war dagegen unmöglich, weil die meis­ ten Rechtsordnungen örtlich und zeitlich unabhängig voneinander entstanden sind. Ihre Vorläufer waren zwar überall Urnormen, deren Wurzeln weit zu­ 101  Jüngst ist das sogar für die Entstehung des europäischen Menschen nachgewie­ sen worden: Er war das Produkt einer Vermischung von homo sapiens sapiens mit homo sapiens neanderthalensis. 102  L. Cavalli-Sforza/M. W. Feldman (1981), p. 53 ff.; ferner B. Rensch (1970) so­ wie (1991), S. 142 ff. 103  Allerdings nur teilweise! Zwar wurde die israelische Rechtsordnung sowohl vom mesopotamischen als auch vom ägyptischen Recht stark beeinflusst. Doch war angesichts der guten Quellenlage (AT der Bibel!) die Verlockung zu groß, immer wieder auf in ihr sichtbar werdende Determinanten hinzuweisen.



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rück in eine vorgeschichtliche Vergangenheit und in einen gemeinsamen Boden reichen, deren Keime aber von Anbeginn durch spezielle Umwelten beeinflusst wurden.104 Deshalb leben pränormative Organisationsmechanis­ men zwar sowohl in den Urnormen als auch in allen späteren Sitten- und Rechtsordnungen fort, und selbst moderne Rechtsordnungen stehen noch unter ihrem Einfluss.105 Doch haben sie Veränderungen durchlaufen, die sich mangels historischem Material nicht nachvollziehen lassen. Lediglich soweit nachweislich übereinstimmende tatsächliche zu nachweislich übereinstim­ menden normativen Entwicklungen geführt haben, musste ich sie zur Be­ gründung oder Begrenzung von Gesetzmäßigkeiten verwenden. Das wich­ tigste Beispiel ist die exponentielle Vermehrung der Menschen und ihr Zu­ sammenleben in immer engeren Räumen, auf die ich schon hingewiesen habe und im weiteren Verlauf meiner Untersuchung noch wiederholt zurück­ kommen werde. In neuhistorischer Zeit haben die diffundierenden Einflüsse allmählich überhandgenommen und nahezu alle nationalen Rechtsordnungen stark ver­ ändert. Meistens haben sich die Veränderungen – ebenso wie die entspre­ chenden Bastardisierungen in der Biologie – als erfolgreich erwiesen. Bei­ spiele liefern die Einflüsse europäischer Rechtsordnungen auf verschiedene asiatische und afrikanische Rechte,106 aber auch die Einflüsse fremder Rechtsordnungen auf das deutsche Zivilprozessrecht.107 Zuletzt jedoch haben sich die meisten Einflüsse in Globalisierungsbestrebungen aufgelöst – darauf werde ich im letzten Teil meiner Untersuchung eingehen. An dieser Stelle sei lediglich erwähnt, dass rechtliche Regelungen, die aufgrund von Diffusion zurückgedrängt oder gar ersetzt wurden, oft latent erhalten geblieben sind – sei es, weil man sie aus Gründen der Tradition bewahrte und sich bei bestimm­ 104  Zu ihrer Entwicklung aus pränormativen Bedingungen vgl. insbesondere H.-J. Niedenzu (2012). 105  Das ist die Situation, von der u. a. die von mir entwickelte Lehre vom „negati­ ven Naturrecht“ ausgeht (vgl. E.-J. Lampe, 1988). Was das Verhältnis der fortwirken­ den pränormativen zu den normativen Faktoren anbelangt, besteht offenbar eine Wechselwirkung, die mal den einen, mal den anderen Faktoren einen bestimmenden Einfluss zuweist. 106  In Asien wurden etwa die Rechtsordnungen Japans und Vietnams von verschie­ denen europäischen Rechten befruchtet: so der Inhalt des japanischen Bürgerlichen Gesetzbuchs vom französischen, der Aufbau vom deutschen Recht. In Afrika war der Einfluss der europäischen Kolonialmächte auf die dortigen Stammesrechte dagegen eher bescheiden. Die meisten afrikanischen Völker blickten auf eine überwiegend gewohnheitsrechtliche und mündliche Rechtstradition zurück. Das schriftliche euro­ päische Recht galt in den kolonialisierten Gebieten daher nur alternativ neben den Stammesrechten und wurde meistens auch nur dann genutzt, wenn es im Einzelfall den Klägern einen größeren Vorteil brachte. Vgl. dazu unten K 3 a bb ε. 107  Nachweise bei Ch. Althammer (2012).

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ten Anlässen noch an sie erinnerte, sei es aber auch, weil man sie vergessen und sie deshalb nicht entsorgt hatte. Auch diese Einnischung alten Rechts in ein modernes Recht hat ihr Pendant in der Natur, nämlich in der ‚Annidation‘ von Teilen einer Art z. B. durch Wegzug vom Festland auf eine abgeschiedene Meeresinsel. Beispiele für die Einnischung nach außen abgeschirmter Sozialsysteme sind kleine gegen die Au­ ßenwelt nahezu hermetisch abgeschlossene Gemeinschaften wie etwa die der AmischLeute (Amish people), die in einer Jahrhunderte alten, vorwiegend religiös begründe­ ten Ordnung verharrt haben, abgeschottet gegenüber den hochzivilisierten und hoch­ technisierten Kulturen der USA und Kanadas. Sie kennen selbst heute noch außer den biblischen Geboten keine feststehenden Normen, erst recht keine klare Unterschei­ dung zwischen Sitte und Recht. Neue Normen beschließen sie bei Bedarf, alte bleiben bestehen, bis sie von der Gemeinde abgeändert oder aufgehoben werden. Normenver­ stöße ahnden sie mit dem Ausschluss aus der Gemeinde und schützen sich so vor Veränderungen.

2. Humangenetische Gesetzmäßigkeiten a) Wirken die biologischen Evolutionsgesetze fort? Auch wenn die Evolution des Menschen seit der Nacheiszeit, also innerhalb der letzten 10.000 Jahre, zu keinen ins Gewicht fallenden körperlichen Veränderungen geführt hat, besitzen die biologischen Evolutionsgesetze – Mutation und Selektion als Mechanismen, Anagenese und Orthogenese als Trends108 – doch nach wie vor Rele­ vanz. Für die Entwicklung von Sozialnormen könnten sie während dieser Zeit109 allerdings nur bedeutsam geworden sein, weil die Evolution des soziokulturellen ­ 108  E.-J. Lampe (1987), S. 47 ff. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass auch eine mithilfe der qantitativen Modelle der Genetik durchgeführte Untersuchung von L. Cavalli-Sforza/M. W. Feldman (1981) zum Ergebnis kommt, dass in der kulturellen wie in der biotischen Evolution prinzipiell vergleichbare Mechanismen (Mutationen, Se­ lektionen, Transmissionen, Strömungen [drifts]) wirksam gewesen sind (p. 53 ff.). 109  Anders stellt sich die Situation lediglich dar, wenn man einen Zeitraum von ca. 40.000 Jahren zugrunde legt. Dieser Zeitraum umfasst etwa zweitausend Generationen, in denen sich die Erbanlagen durchaus verändern konnten und dies auch mit Sicherheit getan haben, was körperliche Merkmale (Hautfarbe, Behaarung, Körperbau) anbelangt (hierzu L. Cavalli-Sforza, 1999, S. 22 ff.). Zudem haben vor etwa 40.000 Jahren (viel­ leicht auch schon einige tausend Jahre früher) zwei wichtige Entwicklungen begonnen: Es kam zu Migrationsbewegungen und zu künstlerischen, technischen und sozialen Neuerungen, indem Steinwerkzeuge variabler und differenzierter hergestellt und Kno­ chen, Elfenbein, Geweihe, Muscheln zu Projektilen, Harpunen, Knöpfen, Ahlen, Na­ deln und Ornamenten umgestaltet wurden (F. Facchini, 2006, S. 110 f., 119 f.). Über die Gründe für diese Entwicklungen herrscht Unklarheit. Man vermutet, dass eine Begriffssprache seinerzeit die von Lauten begleitete Gebärdensprache ersetzte und so­ wohl das Denken als auch die Kommunikation grundlegend veränderte (vgl. etwa M. C. Corballis, 2002). Die Entwicklungen dauerten etwa 10.000 Jahre. Anschließend verlangsamten sie sich wieder, doch kam von nun an die kulturelle Evolution insge­ samt schneller voran als die biotische, sodass die Umwelt des Menschen sich mehr und mehr von derjenigen unterschied, auf die hin der Mensch biotisch angepasst war.



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­ ebens in der biotischen Evolution seines Gehirns dem Grunde nach mit angelegt L ist110 und sich möglicherweise dort über Veränderungen vollzogen hat. In der Annahme, dass die menschlichen Gehirne sich allmählich entwickelt haben und dass diese Entwicklung mutmaßlich bis heute nicht zum Stillstand gekommen ist, liegt einer der wesentlichen Unterschiede zwischen der Anthropologie des 18. Jh.s und der heutigen. Zur Zeit der Aufklärung war man sich einig, dass der Fortschritt der Menschheit auf den gleichbleibenden Fähigkeiten der Menschen und auf einer prozen­ tual gleichbleibenden Anzahl besonders befähigter Menschen111 beruhe. Diese Kon­ stanz garantiere einen in etwa gleichbleibenden kulturellen Fortschritt in der mensch­ lichen Geschichte. Doch dieses Erklärungsmuster geriet in ein Dilemma. Denn um die tatsächlichen Fortschritte begreifbar zu machen, mussten die Aufklärer ein spezifisches Fortschrittsvermögen unterstellen, das der Geschichte vorgelagert ist.112 Dass es aber dieses Vermögen in der angenommenen Form nicht gibt, gilt heute als nachgewiesen.

Ob es während letzten 10.000 Jahre zu neuronalen Veränderungen im Ge­ hirn gekommen ist und ob sie für die Normenentwicklung bedeutsam gewor­ den sind, lässt sich heute nur durch einen Gehirnvergleich von Mitgliedern kulturell unterschiedlich entwickelter Populationen überprüfen. Solchen Un­ tersuchungen stehen heute indes moralische und ideologische Bedenken ent­ gegen. Doch selbst wenn man die Untersuchungen durchführen würde, wären wir derzeit noch unfähig, die kulturelle Relevanz etwa ermittelter Unter­ schiede zu deuten.113 Und auch wenn wir diese Fähigkeit hätten, müssten wir berücksichtigen, dass beispielsweise die Gehirne heutiger Ureinwohner Aus­ traliens nicht mehr mit denen der Einwanderungsgeneration übereinstimmen, sondern sich in der Zwischenzeit den Umweltbedingungen ebenfalls ange­ passt haben, sodass ein Vergleich ihrer Gehirne etwa mit den Gehirnen von heutigen Europäern keinen Aufschluss über eine etwaige evolutionäre Ge­ setzmäßigkeit gibt.114 Für die Entwicklung von Rechtsnormen hatten diese vorgeschichtlichen Entwick­ lungen keinerlei Bedeutung, da sich die sozialen Beziehungen der Menschen in dieser Zeit nicht wesentlich veränderten. Es blieb beim Zusammenleben in Horden und ei­ nem die Mindestvoraussetzungen für ein Zusammenlebens regelnden Brauchtum, über dessen Inhalt wir nur Vermutungen anstellen können. Erst die neolithische Re­ volution bedeutete die nochmalige Beschleunigung des kulturellen Wandels, an dem dann auch das Recht teilnahm. 110  Mit Recht weist Th. Dobzhansky (1965, p. 212) darauf hin, dass die biotische Evolution der Menschheit zwar langsamer verlief als die kulturelle Evolution, dass „nevertheless, biological changes did not cease when culture emerged; cultural evolu­ tion is superimposed on the biological and the inorganic: The evolutionary changes in different dimensions are connected by feedback relationships.“ 111  So etwa A. R. J. Turgot (1750/1990), S. 140 f. 112  J. Rohbeck (1990), S. 54 f. 113  Dazu R. Feustel (1986), S. 185. 114  Jedes Gehirn besitzt kraft der Plastizität seiner Nervenzellen die Fähigkeit, sich so zu ‚verdrahten‘, dass es an die jeweilige Umwelt möglichst gut angepasst ist.

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b) Worin liegt die Bedeutung der psychologischen Evolutionsgesetze? Weit näher als eine Homologie zwischen kultureller und biotischer Ent­ wicklung liegt die zwischen kultureller und psychischer Entwicklung. Denn die Kultur beruht vorwiegend auf psychischen Potentialen. Und obwohl die Psyche des Menschen mit ihren neuronalen Grundlagen eng verbunden ist, ist anzunehmen, dass der Enwicklungstand einer Kultur zumindest vorder­ gründig weitestgehend vom Entwicklungstand der psychischen Potentiale abhängt. Allerdings sind die Gründe, die für eine homologe Evolution von Psyche und Kultur sprechen, derzeit ebenfalls noch ungesichert. Im Hinblick auf die Entwicklung des Rechtsbewusstseins muss man daher frei von wissenschaft­ lich erarbeiteten Vorgaben prüfen, ob die Evolution rechtlicher Institutionen und Normen – d. i. ihre Ausdifferenzierung und Integration in das Gemein­ schaftsleben – jenen Gesetzen folgte, die generell die psychische Entwick­ lung vorangetrieben haben. Man muss also fragen, ob der Evolution des Rechts •• innerhalb des Gefühlsbereichs eine immer klarere Fähigkeit zugrunde lag, (objektives) Recht und Unrecht, Rechtsgrund und Rechtsfolge, (subjekti­ ves) Recht und Pflicht sowie Freiheit und Ordnung zu unterscheiden; •• innerhalb des rationalen Bereichs eine Erweiterung der Fähigkeit korres­ pondierte, Allgemeinbegriffe sowie generelle Regeln zu bilden, die es er­ lauben, soziale Prozesse zu identifizieren, sie Personen als Urhebern zuzu­ rechnen und zweckmäßig darauf zu reagieren; •• innerhalb des Ich-Zentrums eine immer differenziertere Unterscheidung zwischen Gut und Böse sowie ein Wille entsprachen, die subjektive Ver­ antwortlichkeit dafür und die soziale Reaktion darauf gerecht zu bemessen und zu verteilen. Falls man danach eine homologe Evolution von Psyche und Recht grundsätzlich bejaht, muss man zweierlei beachten: zum einen, dass die Evolution in jedem der psychischen Bereiche nicht gleich schnell verlaufen sein muss, sondern dass sie ins­ besondere im Gefühlsbereich langsamer vorangekommen sein kann als im rationalen Bereich;115 und zum anderen, dass die Evolution in jedem der Bereiche mitbestimmt wurde von ihren äußeren Randbedingungen. Dass diese Randbedingungen die psychi­ sche Evolution beeinflussen, ergibt sich bei höheren Tieren aus einem Vergleich zwischen der Menge und Qualität der Lernleistungen und den Anforderungen, welche die natürliche Umwelt an sie stellt. Dass sie verstärkt auch die psychische Evolution des Menschen beeinflusst haben, ergibt sich daraus, dass die menschliche Sozialisa­ Ob und wie sich hieraus genetische Dispositionen entwickeln, ist bisher noch unge­ klärt. 115  Vgl. dazu W. F. Ogburn (1957).



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tion fast ganz aus dem Erlernen von ‚Umwelt‘ besteht.116 Insoweit besteht kaum Streit. Dagegen ist das Ausmaß des Einflusses, die innerpsychische Faktoren einer­ seits, äußere Randbedingungen andererseits auf die Kulturentwicklung ausgeübt ha­ ben, heftig umstritten. Wissenschaftler, die die Psyche von ihrer neuronalen Basis aus betrachten, setzen das Ausmaß des psychischen Einflusses hoch an; Wissenschaftler, deren Blick auf die Fähigkeit zum Lernen und die tatsächlich erbrachten Lernleistun­ gen ausgerichtet ist, neigen dagegen zur Vernachlässigung des innerpsychischen Ent­ wicklungsanteils. Im Einzelnen: • Organismische Theorien betonen die Wichtigkeit der Ausreifung erbmäßig ange­ legter psychischer Faktoren. Ihre Anhänger finden wir unter den Ethologen, die sich um die Konditionalanalyse des menschlichen Verhaltens bemühen,117 unter den Tiefenpsychologen, die in der Tiefe der menschlichen Seele die Vergangenheit des Menschengeschlechts wirken sehen,118 und unter den Vertretern der evolutio­ nären Erkenntnistheorie.119 • Mechanistische Theorien betonen die Prägung des Menschen durch seine Um­ welt:120 im extremen Maße die traditionellen Lerntheoretiker, nach deren Ansicht „nicht der Mensch auf die Welt einwirkt, sondern die Welt auf den Menschen“121; im minderen Maß die modernen Lerntheoretiker, die eine aktive Bedeutung des angeborenen kognitiven Systems auf die Entwicklung anerkennen und den Men­ 116  Für Nachweise steht eine reichhaltige entwicklungspsychologische Literatur zur Verfügung, die hier nicht aufgelistet werden kann. 117  N. Tinbergen (1979); K. Lorenz (1979); D. Morris (1968); weitgehend auch I. Eibl-Eibesfeldt (1987), z. B. S. 768: „Selbst wenn wir Freunde besuchen, befolgen wir bestimmte, im Grunde aggressionsbeschwichtigende, Rituale, z. B. des Geschenk­ überreichens, die ihre Parallelen in den beschwichtigenden Grußritualen der Tiere finden.“ S. 777 f.: „Tiere laufen bei Gefahr zur Mutter, und sie tun es auch, wenn sie dafür bestraft werden. … Der Mensch ist ähnlich veranlagt, und darin liegt die Ge­ fahr der in der anonymen Gesellschaft unterschwellig stets vorhandnen Angst: Sie fördert die Bereitschaft der Menschenmassen, sich der Führung von Personen mit ‚Charisma‘ anzuvertrauen – in Krisenzeiten geradezu blindlings.“ 118  S. Freud (1930/1974), S. 191; ähnlich aber auch schon G. W. F. Hegel (1840/ 1970), S. 105. 119  K. Lorenz (1973); G. Vollmer (1975). 120  So bereits die französischen Empiristen, z. B. P. H.Th. d’Holbach (1770/1960), S. 132: „Alle Ideen, Begriffe, Seins- und Denkweisen der Menschen werden erwor­ ben. … Die physischen Ursachen, die dauernd auf ihn [den Menschen] wirken, üben auf seinen Organismus notwendig Einfluss aus und bewirken, dass er … mit zwanzig Jahren nicht mehr derselbe ist, der er bei seiner Geburt war.“ Später die US-amerika­ nischen Behavioristen, z. B. J. B. Watson (1914/1997), S. 123: „Gebt mir ein Dutzend gesunder, wohlgebildeter Kinder und meine eigene Umwelt, in der ich sie erziehe, und ich garantiere, dass ich jedes nach dem Zufall auswähle und es zu einem Spezia­ listen in irgendeinem Beruf erziehe, zum Arzt, Richter, Künstler, Kaufmann oder zum Bettler und Dieb, ohne Rücksicht auf seine Begabungen, Neigungen, Fähigkeiten, Anlagen und die Herkunft seiner Vorfahren.“ 121  B. F. Skinner (1971), p. 211.

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schen innerhalb seiner biologisch vorgegebenen Grenzen auch schöpferisch tätig sehen.122

Trotz ihrem unterschiedlichen Blickwinkel stimmen alle Wissenschaftler aber überein, dass die psychische Evolution des Menschen sich aufgrund ei­ ner Verflechtung von internen (angeborenen) und externen (durch Umwelter­ fahrung erworbenen) Einflüssen vollzogen hat, dass allerdings die soziale Evolution überwiegend durch Lernen vorankam.123 Diese Einigkeit schließt indes nicht aus, dass die Bedeutung des sozialen Lernens für die Evolution soziokultureller Artefakte und somit auch für die Evolution von Institutionen und Normen für das menschliche Zusammenleben unterschiedlich bewertet werden kann. c) Welche Bedeutung hat soziales Lernen für die Evolution kultureller Artefakte? Generell war Lernen für die soziale Evolution von Bedeutung, weil es den Menschen erlaubte, Artgenossen als intentionale Wesen zu erkennen, sich mit ihren Intentionen zu identifizieren, die darauf beruhenden Verhaltensstrate­ gien zu reproduzieren und darauf in typischer Weise zu reagieren. Infolge­ dessen war es ihnen auch möglich, Verhaltenstraditionen aufzubauen sowie Artefakte in Form von sozialen Institutionen und Normen zu erzeugen (bzw. schon vorhandene zu verbessern)124, die an die nachfolgende Generation weitergegeben und über eine historische Zeitspanne hin akkumuliert werden konnten.125 Strittig ist unter den Psychologen allerdings, ob, was die Evolu­ 122  A.

Bandura (1979), S. 23 ff. näher J. Hill (1978). Siehe ferner unten J 2 b bb. 124  Man spricht hier von „kultureller Auslese“, vgl. L. Cavalli-Sforza/M. Feldman (1981), p.  15 f.; W. H. Durham (1991), p. 161 ff. 125  M. E. überzeugend M. Tomasello (2002), S. 14 f.: „Die grundlegende Tatsache besteht darin, dass Menschen die Fähigkeit besitzen, ihre kognitiven Ressourcen in einer Weise zu bündeln, die anderen Tierarten abgeht. … Keine der komplexesten Artefakte oder sozialen Praktiken des Menschen, einschließlich der Werkzeugherstel­ lung, der symbolischen Kommunikation und der sozialen Institutionen, wurden ein für alle Mal zu einem einzigen Zeitpunkt von einem Einzelnen oder einer Gruppe von Individuen erfunden. Vielmehr war es so, dass ein Individuum oder eine Gruppe zu­ nächst eine primitive Version des jeweiligen Artefakts oder der betreffenden Praxis erfand und spätere Benutzer eine Veränderung oder ‚Verbesserung‘ einführten, die dann von anderen manchmal unverändert viele Generationen lang übernommen wurde. Dieser Prozess, der manchmal ‚Wagenhebereffekt‘ (‚ratched effect‘) genannt wird, setzte sich über einen historischen Zeitraum fort. Der Vorgang kumulativer kul­ tureller Evolution erfordert nicht nur Erfindungsgabe (die bis zu einem gewissen – freilich beschränkten – Grade auch die nicht-menschlichen Primaten besitzen), son­ dern auch und ebenso sehr zuverlässige soziale Weitergabe, die ähnlich wie ein Wa­ genheber das Zurückfallen verhindern kann, sodass das gerade erst erfundene Artefakt 123  Dazu



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tion anbelangt, entweder die Produkte des Lernens oder die Art, wie sie er­ zeugt wurden, in den Vordergrund zu rücken sind. Die dazu vertretenen Theorien kann man in materielle und strukturelle einteilen. Der Übersicht­ lichkeit halber werde ich sie zunächst ohne Bezug auf die Evolution speziell rechtlicher Institutionen und Normen darstellen.126 aa) Materielle Theorien Materielle Theorien lesen die Evolution allein von den Ergebnissen des sozialen Lernens – von den kulturellen Artefakten und speziell den sozialen Institutionen und Normen – ab. Sie wurden insbesondere vom Briten Edward Burnett Tylor und vom US-Amerikaner Lewis Henry Morgan vertreten. Tylor ging davon aus, dass die im Laufe der soziokulturellen Evolution hervorgebrachten Institutionen des Menschen „so deutlich nacheinander ge­ schichtet sind wie die Erde, auf der er lebt“ und dass sie einander „auf dem ganzen Globus in grundsätzlich der gleichen Reihung folgen – unabhängig von den vergleichsweise oberflächlichen Unterschieden von Rasse und Spra­ che, geformt jedoch von der gleichartigen Menschennatur“127. Jede Gleichar­ tigkeit in den Institutionen lasse sich auf das Wirken gleichförmiger Ursachen zurückführen. Auf welche ‒ darauf legte sich Tylor nicht fest. Er nahm ledig­ lich eine „regelrechte Kausalität“ an, „die die Erscheinungen des Menschen­ lebens hervorbringt“, sowie „Gesetze der Beharrung und Diffusion, denen zufolge sich diese Erscheinungen auf bestimmten Kulturstufen als beständige Grundzüge der Gesellschaft festsetzen“128. Zur Rangordnung der kulturellen Institutionen, die er verglich, nahm er nicht Stellung. Das tat erst Morgan, indem er die Gesellschaften als Ganze und nicht nur einzelne ihrer Institutionen untersuchte.129 Er unterschied drei „ethnische oder die soziale Praktik die neue und verbesserte Form einigermaßen zuverlässig beibehält, bevor eine weitere Modifikation oder Verbesserung hinzukommt.“ 126  Zur Bedeutung für die Produktion speziell rechtlicher Normen vgl. unten D. 127  E. B. Tylor (1888/1994), p. 269. Tylor stützte sich auf die Untersuchungen von Geologen seiner Zeit (z. B. Ch. Lyell), woraus sich seine bildhafte Darstellung erklärt, während die Theorie Darwins eher den Vergleich mit einem sich verzweigenden Baum nahegelegt hätte. 128  E. B. Tylor (1871/1994), p. 12. Dazu St. Diamond/B. Belasco (1980), p. 557: „Ultimately, therefore, Tylor’s evolutionism must be seen as an inevitable progress, a natural course embracing all peoples in a determined movement toward greater ration­ality on the evolutionary scale.“ 129  Ansätze finden wir bereits beim Schotten J. F. McLennan, der die Evolution der Menschenrassen von einem Zustand der Wildheit ausgehen und sie dann in hö­ here, stärker vergeistigte Zustände aufsteigen ließ. McLennan führt dies (1865/1886) am Beispiel der Paarbildung näher aus: Anfangs hätten die Horden, um Stärke zu

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Perioden“, welche den jeweiligen Entwicklungsstand der Völker widerspie­ geln: Wildheit, Barbarei und Zivilisation.130 Als Kriterien für den Übergang von der ursprünglichen Wildheit zur Barbarei benannte er u. a. die Erfindung der Töpferei, für den Übergang von der Barbarei zur Zivilisation u. a. die Erfindung der Schrift. Diese Kriterien waren beliebig und konnten daher durch andere ersetzt werden. Einige Wissenschaftler taten das denn auch. L. A. White beispielsweise hielt ein tech­ nologisches Kriterium für ausschlaggebend: die pro Kopf und Jahr verarbeitete Ener­ giemenge. Entwicklung ist es nach seiner Meinung, wenn „die Energiemenge, die man pro Kopf und Jahr verarbeitet, sich vergrößert; oder wenn die Effizienz der technischen Mittel, die diese Energie in Arbeit umsetzen, verbessert wird, oder wenn beweisen, ihren weiblichen Nachwuchs so weit dezimiert, dass nur wenige Frauen übrig blieben, um die herum sich dann die männlichen Partner scharten. Dieser Zu­ stand archaischer Polyandrie sei später dahingehend evoluiert, dass sämtliche männli­ chen Partner einer Frau von einer Mutter abstammen, also Brüder sein mussten. Und daraus sei wiederum die spätere Sitte des Levirats entstanden: wonach, wenn ein Ehemann starb, dessen Bruder verpflichtet war, die Witwe zu heiraten. 130  Zur Geschichte: Der Neapolitaner G. Vico hatte in seiner „Scienza nuova“ (1725) eine zyklische Entwicklungstheorie entworfen, wonach alle Völker drei Sta­ dien durchlaufen: das sakrale, das heroische und das humane Stadium. Danach seien die Völker erlahmt und in die Barbarei zurückgefallen; das Spiel habe aufs Neue begonnen – corsi e ricorsi. Auf ihn gestützt unterschied der schottische Historiker und Philosoph A. Ferguson in seinem „Essay on the History of Civil Society“ (1767) ebenfalls drei Stadien, die er jedoch mit der Entwicklung der ökonomischen Verhält­ nisse in Verbindung brachte: Das erste Stadium der Wildheit hätten die Jäger und Sammler bestimmt; sie hätten funktional selbstständig gearbeitet und außer an ihrer persönlichen Habe kein Eigentum gekannt. Im zweiten Stadium, dem der Barbarei, hätten dann Arbeitsteilung und Sacheigentum bei den Hirtengesellschaften einen be­ herrschenden Einfluss gewonnen; es seien Abhängigkeitsverhältnisse entstanden, die vordem unbekannt waren. Das dritte Stadium, das der Zivilisation, habe schließlich die komplexen Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse durch Rechtsgesetze gefestigt. Näher dazu W. Ch. Lehmann (1930); H. H. Jogland (1959). Morgan (1871, p. 8) übernahm von Ferguson die drei Stadien der Wildheit, Barba­ rei und Zivilisation, interpretierte sie aber teilweise anders: Die Wildheit sei gekenn­ zeichnet gewesen durch Jagen und Sammeln sowie durch die grundsätzliche Gemein­ samkeit aller Güter und Promiskuität; für die Barbarei seien charakteristisch gewesen Siedlung, Haustierzähmung und Gartenbau, Eisenbearbeitung, Eigentum der Stämme oder Clans, patriarchalische Familienstruktur; die Zivilisation schließlich sei bestimmt gewesen durch Ausbildung einer Schriftkultur, zunehmende Technisierung, Privatei­ gentum, staatliche Institutionen, monogame Familienstruktur. Im Unterschied zu Fer­ guson stellte Morgan außerdem weniger den Entwicklungsgedanken als vielmehr den des Fortschritts ins Zentrum seiner Theorie. Morgans Ideen wurden vor allem von F. Engels in seiner Abhandlung über den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates (1884) propagiert. Vgl. dazu und zur (fehlenden) marxistischen Rechtsentwicklungslehre L.-J. Constantinesco (1983), S. 45 ff. Ähnlichkeit mit Morgans Auffassung besitzt die über einzelne Epochen hinausreichende Gliederung der menschlichen Entwicklung in Vorzeit, Kul­ tur und Zivilisation von O. Spengler (1923), S. 71.



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beide Faktoren gleichzeitig wirksam sind“131. Andere Wissenschaftler versuchten, präzisere Maßstäbe bereitzustellen – so etwa R. L. Carneiro, der u. a. auch das Recht bei der vergleichenden Bestimmung der Kulturhöhe eines Volkes gewichtete.132

Die Evolutionisten trauten jedem Volk eine eigenständige Entwicklung zu. Sie standen damit im Gegensatz zu den (radikalen) Diffusionisten, welche meinten, dass alle bedeutenden kulturellen Fortschritte einzig auserwählten Völkern zu verdanken seien und sich von ihnen aus über die ganze Welt verbreitet (diffused) hätten.133 Lord Raglan beispielsweise verstieg sich zur Behauptung, dass „Wilde niemals etwas erfinden oder entdecken“134. Indes – befand sich nicht die Menschheit insge­ samt einmal im Zustand der Wildheit? Folgte man seiner Ansicht, wäre ihr Aufstieg zur Zivilisation ein Wunder, einzig erklärbar durch den Eingriff einer höheren Macht: eines Gottes oder eines Weltgeistes.135

Der Haupteinwand gegen alle materiellen Theorien136 liegt auf der Hand: Sie sind außerstande, diejenigen Komponenten verlässlich zu benennen, die 131  L. A. White (1943), p. 338; idem (1959), ch. 2. Whites Formel lautet: E x T → P (E = energy, T = technology, P = production). In die gleiche Richtung arbeiteten M. D. Sahlins/E. R. Service (1960) sowie G. Lenski (1973). Zur Kritik an White vgl. Ch. Guksch (1982), S. 78: Seine These sei „mit ihrem Allgemeinheitsanspruch so grundlegend, dass sie – obschon richtig, da sie keiner physikalischen Theorie wider­ spricht – unbrauchbar ist: sie kann nur die Forschungsstrategie leiten …, aber nicht die Entwicklung einer speziellen Kultur erklären“. St. Diamond/B. Belasco (1980, p. 559 f.) beurteilen die Theorie als „a special case of Social Darwinism wedded to the second law of thermodynamics“, und meinen, dass man die soziale Evolution nicht in ein wissenschaftliches Prokrustesbett pressen dürfe. Zum zweiten Hauptsatz der Thermophysik und seine Bedeutung für die Erklärung der Rechtsentwicklung siehe unten J 2 d γ sowie K 6 c α. Vgl. ferner J. W. Raum (1995), S. 264. 132  R. L. Carneiro (1973a), p. 864 f.; (1973b), p. 106; (1996). 133  Zum Diffusionismus vgl. auch U. Wesel (1984), S. 526 f. 134  Lord Raglan (1939), p. 170. 135  Die (radikalen) Diffusionisten haben stattdessen ein einzigartiges Zusammen­ treffen verschiedener Umstände als Erklärung bemüht. Sie konnten jedoch niemals den Ort bestimmen, an dem es zu dem einzigartigen Zusammentreffen gekommen ist. 136  Zu ihnen gehört auch die marxistische Theorie, wonach Geschichte das Ergebnis eines ständigen Kampfes der sozialen Klassen um die Kontrolle über Produktionsmit­ tel ist. „Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt“ (K. Marx, 1859/1964, S. 839). Sämtliche Kulturen hätten die Phasen eines primitiven Kommunismus, der Sklavenhaltergesell­ schaft, des Feudalismus, des Kapitalismus und des Kommunismus durchlaufen. Verwandt mit der marxistischen Theorie ist der Kulturmaterialismus von M. Harris (1989). Danach dominieren die materiellen Zwänge des Lebens das Denken und Ver­ halten der Menschen. Diese Zwänge ergäben sich „aus der Notwendigkeit, Nahrung, Wohnung, Werkzeuge und Maschinen zu produzieren und die menschliche Bevölke­ rung innerhalb der von der Biologie und der Umwelt gesetzten Grenzen zu reprodu­ zieren“ (S. 445). Zu Harris ausführlich St. K. Sanderson/A. S. Alderson (2005), p.  22 ff.

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über die Höhe einer Kultur entscheiden. Die Ägypter kannten beispielsweise bis zur 2. Zwischenzeit keine Räderfahrzeuge – doch standen sie deshalb kulturell niedriger als die Völker der nordsyrischen Steppen, die den Räder­ karren schon fünfzehnhundert Jahre früher benutzten? Selbst wenn man, um diesem Einwand zu entgehen, sämtliche Errungenschaften einer Kultur zu­ sammenzählt, steht man nicht besser da: Man hat dann entweder ein unge­ wichtetes Zufallsprodukt in der Hand oder muss sich das Produkt aus der eigenen Erkenntnisperspektive erst noch bilden, indem man entscheidet, was wichtig ist, was nicht.137 bb) Strukturelle Theorien Die strukturellen Evolutionstheorien stellen im Gegensatz zu den materiel­ len die Evolution des Lernens selbst in den Vordergrund. Sie lassen sich in drei Klassen einteilen, die allerdings nicht exakt zu trennen sind: subjektivstrukturelle, objektiv-strukturelle und subjektiv-objektiv-strukturelle Vereini­ gungstheorien. (α) Innerhalb der subjektiv-strukturellen Theorien ist am bedeutsamsten die von Jean Piaget auf kognitionspsychologischer Grundlage entwickelte „genetische Erkenntnistheorie“.138 Ihr Grundgedanke ist: Die historiogeneti­ schen Verlaufsmuster lassen sich aufgrund von Gesetzmäßigkeiten rekonstru­ ieren, die wir heute noch in der menschlichen Ontogenese feststellen können. Und da das Denken (das Piaget in den Vordergrund stellt) ontogenetisch drei gesetzmäßig aufeinander aufbauende Stadien durchläuft – ein prä-operationa­ les, ein konkret-operationales und ein formal-operationales Stadium139 –, 137  Dies gilt als Einwand auch gegen den Versuch von R. L. Carneiro (1973a), einen „Index der kulturellen Akkumulation“ aufzustellen und den Wert einer Kultur an der Gesamtzahl der indizierten Merkmale zu messen, denen man darin begegnet. Zur Kritik vgl. etwa J. W. Raum (1995), S.  264 f. 138  Vgl. zum Folgenden insbesondere J. Piaget (1950/1975). Zur Bedeutung der „genetischen Erkenntnistheorie“ speziell für die Entwicklung des moralischen Be­ wusstseins vgl. unten J 2 a bb. 139  Hauptmerkmal des prä-operationalen Stadiums (Kinder von 2 bis 7 Jahren) ist die Umwandlung der sensorischen und motorischen Schemata aus den ersten (sensu­ motorischen) Welterfahrungen in innere Vorstellungen und in die Fähigkeit, mit den Vorstellungen wie mit realen Dingen umzugehen (Beispiele: Die Namen der Dinge sind deren Eigenschaften. Denken ist eine Eigenschaft des Sprechens, man denkt mit dem Mund). Hauptmerkmal des konkret-operationalen Stadiums (Kinder von 7 bis 11 Jahren) ist das Sich-Lösen-Können von der vorgestellten Realität und die Fähig­ keit, die Realität selbst zum Gegenstand mentaler Operationen zu machen (Beispiel: Die Flüssigkeitsmenge bleibt gleich, wenn man sie von einem Behälter in einen mit anderen Abmessungen gießt). Hauptmerkmal des formal-operationalen Stadiums (Ju­ gendliche von 11 bis 15 Jahren) ist das Sich-Lösen-Können auch von der Realität und



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müssen in der Historiogenese die Kulturen entsprechende Stadien durchlau­ fen haben. In der Tat liegt einigen ethnologischen Untersuchungen eine vergleichbare Annah­ me zugrunde. Die Untersuchungen von J. G. Frazer, L. Lévy-Bruhl und Ch. R. Hall­ pike seien genannt. Nach Frazer140 hat die Geschichte der Menschheit drei Phasen durchlaufen: Ma­ gie, Religion und Wissenschaft. Das magische Denken schrieb sich Macht über natür­ liche Abläufe zu und versuchte, sie durch rituelle Praktiken zu betätigen.141 Das reli­ giöse Denken vermutete die Macht zur Veränderung bei den Göttern; deshalb ver­ suchte der religiöse Mensch, die Götter durch Gebete wunschgemäß zu beeinflussen. Das wissenschaftliche Denken erkannte all dies als irrig und suchte nach physikali­ schen und chemischen Gesetzen in der Natur, um mit ihrer Hilfe die gewollten Wir­ kungen zu erzeugen. Lévy-Bruhl142 verwarf den evolutionären Universalismus. Stattdessen unterschied er traditionale und zivilisierte Völker und sah jene in einem „prälogischen“, magischmystischen Denken gefangen, während diese alles Magisch-Mystische im Laufe der Geschichte abgestreift und durch ein „logisches“, begrifflich-abstraktes Denken er­ setzt hätten. Ähnlich behauptete Hallpike143 (ausdrücklich mit Bezug auf die Stadientheorie Piagets), dass das Denken der traditionalen Völker im niederen Stadium eines präoperationalen Symbolismus stecken geblieben sei, während zivilisierte Industrienatio­ nen das Stadium des formal-logischen Denkens erklommen hätten.

Mängel besitzen die auf den Strukturwandel des Subjekts zentrierten gene­ tischen Theorien in zweierlei Hinsicht: Zum einen sind sie außerstande, eine Erklärung für die Verzweigung der menschlichen Sozialkulturen zu geben.144 die Fähigkeit, bloß gedankliche Konstrukte zum Gegenstand logischer Operationen zu machen (Beispiel: Für die Geschwindigkeit einer Pendelschwingung können meh­ rere Faktoren entscheidend sein: die Länge des Fadens, die Höhe, aus der das Pendel losgelassen wird, die Kraft beim Anstoßen des Pendels, das Gewicht des schwingen­ den Gegenstands. Anders als konkret-operativ denkende Kinder stellen sich formaloperativ denkende Jugendliche zunächst die möglichen Einflussfaktoren der Pendel­ geschwindigkeit vor, variieren dann einen Faktor nach dem anderen, beobachten je­ weils das Ergebnis und identifizieren dann den relevanten Faktor, d. i. die Fadenlänge). 140  J. G. Frazer (1928/1991). 141  Frazer unterschied genauer noch zwischen Nachahmungs- und Übertragungs­ magie: Jene gehe davon aus, durch Nachahmung eine natürliche Wirkung herbeifüh­ ren zu können, z. B. durch rituelle Vernichtung eines Bildes die abgebildete Person selbst. Diese glaube, durch rituelle Manipulation an Dingen, die raumzeitlich einmal verbunden waren, eine Wirkung übertragen zu können, z. B. eine Wunde durch Ölen der Tatwaffe zu heilen. 142  L. Lévy-Bruhl (1910/1926; 1922/1927; 1927/1930). 143  Ch. R. Hallpike (1979/1994). 144  Zur Einteilung der Evolutionstheorien in Verzweigungs- und Stufentheorien vgl. J. W. Raum (1995), S. 255 f.

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Zum anderen ignorieren sie die Bedeutung von Außeneinflüssen auf die Kul­ tur. Die Umwelt spielt bei ihnen, soweit überhaupt, eine lediglich vom Sub­ jekt her konstruierte passive Rolle. Sowohl das erfahrungsbedingte Lernen als auch sämtliche historisch, sozial und individuell beeinflussten Soziali­ sationsprozesse erscheinen ihnen daher als „oberflächlich“ gegenüber der „transzendentalen“ Ebene der Stadienstrukturen.145 (β) Den subjektiv-strukturellen stehen die objektiv-strukturellen Theorien gegenüber. Sie legen ihrer Deutung der soziokulturellen Evolution einzig die objektiv-sozialen Mechanismen zugrunde, denen nichts Psychisches beige­ mengt ist – obwohl auch für sie die Lernfähigkeit der menschlichen Psyche die Ursache für jede soziokulturelle Evolution ist. Zu messen sei ein sozio­ kultureller Fortschritt am Übergang von weniger komplexen zu komplexeren Formen der sozialen Beziehungen bzw. am Übergang von Kulturen mit Normen, die von allen zu befolgen sind, zu solchen mit Normen, die aus­ schließlich für bestimmte Personengruppen gelten. Eine Analogie zur biopsy­ chischen Evolution ergebe sich dadurch, dass einfache soziale Verbände, bestehend aus Familien und Sippen, weder vollständig verschwinden, sobald ein komplexeres Entwicklungsstadium erreicht ist, noch lediglich als Fossi­ lien aus der Vergangenheit weiterleben, sondern modifiziert werden und in dieser modifizierten Form in neue übergeordnete Konfigurationen, etwa Bürgerschaften oder Volksgruppen, eingehen, die dann neue, emergente Or­ ganisationsformen aufweisen.146 Genauer noch sind danach statische (evolutionsfeindliche) und dynamische (evolutionsfreundliche) Kulturen147 zu unterscheiden. • Innerhalb einer im Wesentlichen statischen (‚verkrusteten‘) Kultur mit einem evo­ lutionsfeindlichen (‚konservativen‘) Wertesystem werden etwaige destabilisierende Faktoren148 möglichst eliminiert, um das soziale Gleichgewicht zu erhalten. Treten Wirkungen ein, welche die Eliminationskraft des kulturellen Systems überfor­ dern – etwa infolge abrupten Zerfalls eines Wertesystems oder gravierender Verän­ derungen der Umwelt –, kommt es zum kulturellen Zusammenbruch149 mit der Folge, dass entweder bisher nur latent vorhandene stabilisierende Kräfte an die Stelle der überforderten treten oder ein völlig neues (etwa durch Kolonisation von

H. Aebli (1978). Steward (1955a, p. 51 f.) spricht von „levels of sociocultural integration“, in denen nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Differenzen zwischen den Kulturen zum Ausdruck kommen. 147  Zu statischen und dynamischen Gesellschaften vgl. W. F. Ogburn (1969), S. 82 ff. (mit sehr negativer Charakteristik der dynamischen Gesellschaften). 148  „Störfaktoren“ – vgl. G. Wiswede/T. Kusch (1978), S. 86. 149  Vgl. T. Parsons/E. A. Shils (1962), p. 107 f.: Soziale Systeme brechen zusam­ men, wenn die funktionalen Voraussetzungen wegfallen, die ihren Bestand sichern. 145  Vgl.

146  J. H.



C. Genetische Materialien zur Rechtsgeschichte 51 einem Mutterstaat importiertes) kulturelles System die Stabilisation übernimmt. Eine eigentliche soziokulturelle Evolution bleibt dagegen aus.

• Innerhalb einer dynamischen Kultur mit einem evolutionsfreundlichen (‚offenen‘) Wertesystem begegnet man dagegen destabilisierenden Faktoren mittels einer akti­ ven (prä)adaptiven Kontrolle. Einerseits bemüht man sich um die Sozialisation und Integration der ‚Abweichler‘, andererseits stellt man verschärfte Sanktionen für integrationsunwillige ‚Abweichler‘ zur Verfügung.150

Welche Bedingungen im Einzelnen erforderlich sind, damit eine Kultur als dynamisch und evolutionsfreundlich angesehen werden kann und welche evolutiven Mechanismen in ihnen wirken müssen – darüber gehen die Mei­ nungen auseinander.151 • Nach der ‚Theorie der strukturellen Differenzierung‘152 bedeutet ‚sozialer Wan­ del‘153 (a) Teilung eines sozialen Systems in mehrere Einheiten, die sich in ihrem strukturellen Aufbau sowie in der Funktion, die sie ausüben, unterscheiden und dadurch (b) das Anpassungsvermögen an die Umwelt des Systems erhöhen.154 Bedingungen für sozialen Wandel seien (a) eine (wenn auch primitive) Technolo­ gie, (b) ein Komplex kultureller Werte, (c) eine einheitliche Sprache zur Kommu­ nikation und (d) eine (wenn auch primitive) Differenzierung von Verwandtschafts­ rollen.155 Als ‚evolutiv‘ erscheint der Theorie ein sozialer Wandel, wenn die Funktionen des Systems ausdifferenziert werden entweder (a) durch Einführung von „Universalien“156 wie etwa nicht-verwandtschaftlichen Schichtungs- und ­Prestigestrukturen, bürokratischen Organisationsformen, einem Marktsystem, oder (b) durch Schaffung von kulturellen Wertzuwächsen wie etwa einer Schriftsprache oder einem Rechtssystem.157 Da die Ausdifferenzierung sozialer Funktionen indes­ sen nicht nur die Komplexität des Systems, sondern auch seinen Integrationsbedarf steigert, müssen übergreifende Normensysteme ihn befriedigen, die auf generelle Situationen anwendbar sind und dadurch die Komplexität reduzieren.158 Insgesamt begreift diese (hochkomplizierte) Theorie also das Wesen der sozialen Evolution als Prozess der strukturellen Differenzierung verbunden mit einer normativen Ge­ neralisierung. ‚Dynamisch‘ ist für sie eine Sozialkultur, die sowohl zur Ausdiffe­ 150  T.

Parsons (1971/2000), S. 26 ff.; N. J. Smelser (1959), p. 10 f. Folgenden M. Schmid (1982), S. 145 ff., 176 ff.; ders. (1998). 152  Hauptvertreter sind É. Durkheim (1893/1999); T. Parsons (1971/2000); N. J. Smelser (1959); S. N. Eisenstadt (1969), S. 75 ff. 153  Der Begriff ‚sozialer Wandel‘ (‚social change‘) wurde in spezifisch soziologi­ scher Bedeutung erstmals von W. F. Ogburn (1922, p. 56 ff.) verwendet. Er wollte mit ihm die seinerzeit mit dem Begriff ‚soziale Evolution‘ assoziierten Bedeutungen der ‚Höherentwicklung‘ und des ‚sozialen Fortschritts‘ vermeiden. Zur Geschichte des Begriffs siehe J. S. Roucek (1969/1981). 154  T. Parsons (1966), p. 22 f.; idem (2000), p. 41. 155  T. Parsons (1964/1969), S. 58; (1966), p. 30 ff. 156  T. Parsons (1964/1969), S.  55 ff. 157  T. Parsons (1964/1969), S. 72; (2000), p. 29 ff. 158  Im Einzelnen dazu T. Parsons (1951), p. 37 ff.; (1966), p. 9 f. 151  Zum

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renzierung ihrer systemischen Strukturen als auch zur Ausbildung von normativen Regeln fähig ist, welche die ausdifferenzierten Strukturen reintegrieren. Kritisch ist dazu anzumerken, dass in einigen Situationen allerdings gerade eine Verringerung der sozialen Komplexität gegenüber Veränderungen der Umwelt ad­ aptiv ist: beispielsweise ein nationales Zusammenstehen (gegenüber einem kriege­ rischen Angriff) statt der Bewahrung eines hochkomplexen Systems wechselseiti­ ger Kontrolle der unterschiedlichen Binnensysteme.159 Insoweit bedarf die Theorie mindestens einer immanenten Korrektur.160 • Die ferner zu nennende ‚Theorie der strukturellen Selektion‘ beschränkt sich da­ rauf, den sozialen Wandel zu erklären, ohne das Problem der kulturellen Evolution in sich aufzunehmen. Teilweise angelehnt an die biologische Evolutionstheorie begreift sie den sozialen Wandel als eine Folge von blinden sozialen Variationen, die den Selektionskriterien der sozialen Umwelt unterliegen.161 Und da, wie ihre Vertreter meinen, die Umwelt keiner Evolution unterliegt, gibt es für sie keine evolutionären ‚Gesetzmäßigkeiten‘. Dass in der Vergangenheit unleugbar immer komplexere soziale Systeme entstanden sind und es regelmäßig zu einer soziokul­ turellen Evolution kam, erscheint ihr deshalb als eine lediglich kontingente Folge von Mechanismen, die eine Komplexitätssteigerung begünstigten und anders gear­ tete soziale Mechanismen ausschalteten.162 ‚Dynamisch‘ ist für sie mithin jede Kultur, die sich der Umwelt anpasst – gleichgültig ob dies durch eine Steigerung oder durch eine Verringerung ihrer Komplexität geschieht.

Sämtliche objektiv-strukturellen Theorien weisen typische Mängel auf, die sich durch eine immanente Korrektur nicht beheben lassen. Ihr Hauptmangel besteht darin, dass sie die Bedeutung psychogener Phänomene für die sozio­ kulturelle Evolution entweder leugnen oder ignorieren. Das Subjekt schrumpft bei ihnen zu einem passiven Teil innerhalb des sozialen Systems zusammen und vermag daher nur, dessen Veränderungen staunend zu bewundern und allenfalls marginal zu beeinflussen. Daher ist das Fazit aus der Analyse sowohl der subjektiv-strukturellen als auch der objektiv-strukturellen Theorien: Beide Theoriestränge müssen un­ terstellen, dass die soziale Ordnung einer Population und die psychische Struktur ihrer Mitglieder einander entsprechen und dass daher Veränderungen der psychischen Struktur sich regelmäßig in Veränderungen der sozialen Ordnung (so die subjektiven Theorien), Veränderungen der sozialen Ordnung sich regelmäßig in Veränderungen der psychischen Strukturen (so die objek­ tiven Theorien) niederschlagen. Bewertet man diese Annahmen allerdings als fiktional, kann man die Theorien nur noch als einander ergänzend aufrecht­ 159  Zutreffend bemerkt M. Schmid (1982), S. 172, dass somit „kontingente Um­ weltfaktoren darüber entscheiden, ob die Erhöhung von Differenzierungsleistungen anpassungsrelevant ist oder nicht“. 160  Vgl. dazu D. Rüschemeyer (1974), S. 279 ff.; idem (1977), p. 1 ff. 161  Dazu D. T. Campbell (1965). 162  H. Esser (2000), S. 356 ff.



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erhalten. Und das bedeutet: Einesteils sind an jeder sozialen Evolution Indi­ viduen mit bestimmten psychischen Dispositionen beteiligt;163 soziale Errun­ genschaften sind also stets auch die Außenseite von psychischen Veränderun­ gen.164 Andernteils ist die Evolution der Psyche stets auch ein Produkt sozi­ aler Enkulturation; die psychischen Dispositionen der Individuen entwickeln und wandeln sich also mit Art und Veränderung des soziokulturellen Um­ felds.165 (γ) Zusammengeführt werden beide Theoriestränge von den strukturellen Vereinigungstheorien. Diese sehen die gesellschaftliche Evolution als Folge einer Koproduktion von subjektiv- und objektiv-strukturellen Faktoren an: Ohne durch soziale Institutionen stimuliertes Lernen gäbe es keine kognitive Entwicklung, und ohne kognitive Entwicklung gäbe es keinen sozialen Fort­ schritt; jede langfristige gesellschaftliche Höherentwicklung sei also eine Ko-Evolution. Allerdings wird die so hergestellte Harmonie brüchig, sobald als Motor des evolutiven Wandels primär objektive oder subjektive Faktoren in Betracht gezogen werden.166 Primär auf objektive Faktoren als Motor stellen diejenigen Theorien ab, welche für die soziokulturelle Evolution vor allem das (durch den urge­ schichtlichen Fertilitätstrieb bedingte) Bevölkerungswachstum verantwortlich machen.167 Ihnen zufolge waren segmentäre (d. h. aus autonomen, gleich strukturierten Gruppen bestehende) Gesellschaften168 das Ergebnis einer niedrigen Bevölkerungsdichte sowie eines Nahrungserwerbs, der einerseits 163  D. Lerner (1958), p. 78: „Social change operates through persons and places. Either individuals and their environments modernize together or modernization leads elsewhere than intended. If new institutions of political, economic, cultural behavior are to change in compatible ways, then inner coherence must be provided by the personal matrix which governs individual behavior.“ 164  F. H. Harbison (1973), p. 3 („Human resources – not capital, nor income, nor material resources – constitute the ultimate basis for the wealth of nations.“), 112 ff. Einschränkend G. W. Oesterdiekhoff (1997), S. 249 ff. 266: „Auch wenn kognitive Strukturen einen kausalen Einfluss auf die zivilisatorische und materielle Entwick­ lung einer Gesellschaft ausüben, so lassen sich aus methodischen Gründen keine präzisen Aussagen über die Determinationsstärke des psychologischen Faktors ma­ chen.“ 165  Eine Gesetzmäßigkeit zwischen der Art der Enkulturation und späteren Cha­ rakteristika der Psyche ist zwar oft behauptet worden, lässt sich aber nicht nachwei­ sen. So trifft beispielsweise die Behauptung, dass eine repressive Erziehung einen aggressiven Charakter erzeuge, auf die Kinder der Ngoni (einer Volksgruppe der Bantu im Südosten von Sambia) nicht zu. Die Ngoni waren früher zwar Krieger, le­ ben jetzt aber friedlich von Viehzucht und Ackerbau und werden als freundlich, erfin­ derisch und glücklich beschrieben. 166  Vgl. D. T. Campbell (1965), p. 28. 167  Siehe E. Boserup (1965); L. Cavalli-Sforza (1999), S. 188 ff. 168  Näher dazu unten F 2 b.

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keinen hohen Arbeitsaufwand erforderte, dessen Ertrag andererseits so gering war, dass er keinen zu hortenden oder zu verteilenden Überschuss ergab. Als die Bevölkerung sich jedoch über einen kritischen Punkt verdichtete, sei es zur Übernutzung der wildlebenden Tier- und Pflanzenarten gekommen. Da­ her habe man, um die nötige Nahrung zu produzieren, die Zahl der Nutztiere mittels Domestikation erhöhen und ernährungswichtige Pflanzen kultivieren müssen. Zusätzlich habe man zwecks Arbeitserleichterung mechanische Ge­ räte (Grabstock, Hacke, Holzpflug) herstellen und zwecks Ertragssteigerung die Böden künstlich wässern und düngen müssen. Dadurch sei es zu einem wirtschaftlichen Surplus gekommen, das die Bevölkerung habe weiter wach­ sen lassen, sodass nunmehr die soziale Kontrolle der – in immer größeren Dörfern und Städten lebenden – Menschen sowie die Lösung der sich ver­ stärkenden Konflikte um bebaubares Land und persönliches bzw. Familien­ eigentum zum Problem wurden. Um auch dieses Problem zu lösen, seien schließlich auf der Grundlage von Technologie, Verkehrswesen, Schrift- und Rechtskunde Staaten mit einer stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft entstanden. In den Staaten habe eine beherrschende Oberschicht einer ihr ergebenen Unter­ schicht (dem ‚gemeinen Volk‘) gegenübergestanden Die Regierenden hätten ökono­ mische Leistungen und die Abtretung von Rechten verlangt, dafür aber versprochen, die Ordnung im Innern aufrecht zu erhalten und den Schutz nach außen zu gewähr­ leisten (etwa ab 3000 v. u. Z.).169 Darüber hinaus sei es zu sozialen Maßnahmen ge­ kommen, die das Wohlstandsgefälle abmilderten, sowie zu ersten Ansätzen von Sozial­staatlichkeit.170

Parallel zu diesen objektiv-strukturellen Veränderungen sowohl durch die Verdichtung der Bevölkerung171 als auch durch die Technisierung der Pro­ duktion von Nahrungs- und Gebrauchsmitteln sei ein Wandel im Bewusstsein der Menschen entstanden:172 Städtisches Wohnen habe ein städtisches (‚zivi­ lisiertes‘) Bewusstsein hervorgebracht, Arbeitsteilung eine unterschiedliche Wertschätzung geleisteter Arbeiten, die Ausbildung sozialer Klassen und 169  Dazu G. Lenski (1973), S. 296: „Zur regierenden Klasse zu gehören, war gleichbedeutend mit dem verbrieften und durch die höchste Macht im Land garantier­ ten Recht darauf, am wirtschaftlichen Surplus, den die Bauernmassen und die Hand­ werker in den Städten produzierten, zu partizipieren. Das war der Lohn dafür, dass die Angehörigen dieser Klasse für die Aufrechterhaltung der Autorität des bestehen­ den Regimes im Allgemeinen und des Herrschers im Besonderen sorgten und ihr die nötige Geltung verschafften.“ 170  Näher dazu vor allem unten G 1–3 und K 1 a. 171  O. D. Duncan/A. J. Reiss jr. (1956), p. 67 ff. 172  K. Marx/F. Engels (1845–46/1971), S. 55: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht.“



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Stände ein Klassen- und Standesdünkel, usw.173 Diese Bewusstseinsverände­ rungen hätten die objektiven Veränderungen sowohl begleitet als auch inner­ lich bejaht und dadurch gestützt. • Am weitesten in der Anerkennung der produktiven Rolle des Bewusstseins ging August Comte, indem er nicht nur drei historische Epochen der Menschheitsge­ schichte annahm, sondern auch drei konvergierende Weisen des Denkens. Im „Kindesalter der Menschheit“ habe ein „theologisches oder fiktives Denken“ vor­ geherrscht, das sich natürliche Erscheinungen als Folge der Einwirkung von über­ natürlichen Kräften vorstellte.174 Im zweiten Stadium sei die Erkenntnis gereift, dass bewegende Ursachen des Weltgeschehens nicht transzendente Wesen, sondern abstrakte innerweltliche Kräfte sind, die vom Menschen gelenkt und zu Verände­ rungen der Gesellschaftsordnungen benutzt werden können.175 Im dritten Stadium sei auch diese Annahme als irrig erkannt und von einem wissenschaftsorientierten Denksystem abgelöst worden, wonach der Mensch aufgrund seiner Kenntnis der Naturgesetze in der Lage ist, auf die Außenwelt lenkend einzuwirken und u. a. ein Optimum an Wohlstand und sozialer Befriedigung zu erzeugen.176 • Weniger weit als Comte entfernte sich Herbert Spencer vom objektiven Ausgangs­ punkt, indem er die Evolution der Kooperationsformen mit einer Evolution des Den­ kens verband, ohne zwischen ihnen eine Wirkungsrichtung zu behaupten.177 Entspre­ chend der organisatorischen Integration menschlicher Bedürfnisse und Tätigkeiten habe es nacheinander drei Stadien der Kooperation gegeben: primitiv, militant und industriell.178 Ihnen hätten, aufeinander aufbauend, drei Denkweisen entsprochen:179 eine unreflektierte gemäß der Sitte, eine abstrakt auf soziale Gesetze reflektierende, und eine konkret auf ein System frei ausgehandelter Verträge setzende.180 173  K. Marx/F. Engels (1971), S. 23: „Die Moral, Religion, Metaphysik und sons­ tige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewusstseinsformen … haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklich­ keit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens. Nicht das Bewusstsein be­ stimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein.“ Im Gegensatz zu Marx hob Mao die Macht des revolutionären Bewusstseins hervor. Vgl. dazu R. Inglehart (1998), S. 20 f. 174  A. Comte (1830–42/1923), Bd. II S. 1 ff. 175  A. Comte (1923), Bd. II S. 362 ff. Comte meinte damit die neuzeitlichen Staats­ philosophien, die mithilfe abstrakter Prinzipien (etwa des Vertragsprinzips) die Ge­ sellschaftsordnung konstruieren wollen. 176  A. Comte (1923), Bd. III; vgl. auch Bd. I S. 214 f. 177  H. Spencer (1876 ff., 1882), vol. II-2, §§ 567 ff. 178  Unter „militant“ verstand Spencer (1882) das zwanghafte Moment zur Koope­ ration und zum Zusammenhalt in einer wenig differenzierten Gesellschaft (nach Art einer ‚Horde‘); unter „industriell“ verstand er die freiwillige und friedliche Arbeitstei­ lung der Gesellschaftsmitglieder zur Produktion von Gegenständen, die der Befriedi­ gung verfeinerter Bedürfnisse dienen (vgl. vol. II-2, p. V, ch. XVII–XVIII). 179  H. Spencer (1876 ff., 1882), vol. II-2, § 576. 180  Diesem Ansatz folgt heute noch eine Systemtheorie, die als Maßstab für die gesellschaftliche Entwicklung den Differenzierungsgrad der sozialen Funktionen und,

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Teil I: Entwicklung

• Diese Dreiteilung reduzierte wiederum Émile Durckheim auf zwei Idealtypen von Gesellschaftssystemen: auf ein „niederes“ und auf ein „höheres“ System. Er hielt aber an der gleichzeitigen Entwicklung organisatorischer und kommunikativer Komplexität fest. Das niedere System sei ausgezeichnet durch eine eher unreflek­ tierte, erzwungene („mechanische“) Solidarität, die sich in Bräuchen und Sitten niederschlägt, das höhere dagegen durch eine eher reflektierte und internalisierte („organische“) Solidarität, die sich rechtlichen Regelungen unterwirft.181 Die Ent­ wicklung sei von der „mechanischen“ zur „organischen“ Solidarität verlaufen und mit einer entsprechenden psychischen Evolution verbunden gewesen.182

Weniger vielgestaltig als die bisher genannten sind die primär auf subjektive Faktoren abstellenden Evolutionstheorien. Ihr gemeinsames Kennzeichen ist, dass sie die kulturelle Entwicklung als ein Produkt des menschlichen Geistes ansehen und somit dessen Autonomie gegenüber den objektiven Ver­ änderungen in der Sozialstruktur behaupten.183 Während in der Naturge­ schichte gemäß dem Prinzip der natürlichen Auslese die stärkeren, weil der Umwelt besser angepassten Individuen den Weg der Entwicklung bestimm­ ten, hätten in der Kulturgeschichte Wertideen, Weltdeutungsmodelle (Ideolo­ gien) oder zweckrationale Vorgaben die Entwicklung vorangetrieben.184 Im Laufe der Zeit hätten diese immer mehr an Bedeutung gewonnen, weil neue Erkenntnisse inzwischen durch Schriften und andere Kommunikationsmittel universell verbreitet wurden und in dieser Form auch die nachfolgenden Ge­ nerationen zuverlässig erreichen konnten.185 darin eingeschlossen, der gedanklichen Reflexion zugrunde legt (vgl. J. D. Y. Peel, 1969). 181  É. Durkheim (1893/1999). 182  Nach Durkheim konnte das kontraktuelle Element – im Gegensatz zu Spencers Ansicht – nur aus einem veränderten Kollektivbewusstsein heraus entstehen. 183  Als vorwärtstreibend wird das ‚symbolische Denken‘ mittels einer Kombina­ tion ‚frei geschaffener‘ Zeichen genannt (vgl. L. v. Bertalanffy, 1970, S. 49 ff.). Ein solches Denken repräsentiere nicht nur (i. S. einer Abbildtheorie) die Situationen oder Objekte der realen Welt, sondern mache „die Existenz oder das Auftreten dieser Situ­ ationen oder Objekte erst möglich“, weil es „ein Teil jenes Mechanismus [ist], durch den diese Situationen oder Objekte geschaffen werden“ (G. H. Mead, 1973, S. 117). Da der Mensch in seiner Sprache die reale Welt transzendiere, verlaufe sein Leben primär innerhalb einer kulturellen Sphäre, die zwar in mannigfacher Weise von den Strukturen der Realität beeinflusst wird, jedoch ihre Ordnung und ihr Ziel letzthin durch gesellschaftliche Ideen und Werte erhält (T. Parsons, 1975, S. 14 ff.; P. Meyer, 1982, S.  113 ff.). 184  Vgl. K. R. Popper/J. C. Eccles (1977: „Pilot-Funktion“ des Geistes); D. T. Campbell (1974), p. 179 ff.; H. Plotkin (2001). Dazu R. Inglehart (1998), S. 28, 327 ff., 448 ff. 185  Man hat versucht, die Weitergabe von Wissen an die folgenden Generationen mit der Weitergabe des genetischen Materials gleichzusetzen, indem man die Wissens­ einheiten als „Kulturgene“ (C. L. Lumsden/E. O. Wilson, 1981), „Meme“ (R. Dawkins, 1976; W. G. Runciman, 2009, p. 53 ff.; G. Schurz, 2011, S. 207 ff.) u. ä. bezeichnete.



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• Als bedeutender Vertreter dieser Richtung unterschied Alfred Weber drei Ebenen des Fortschritts: eine gesellschaftliche, eine zivilisatorische und eine kulturelle. Auf jeder dieser Ebenen hätten unterschiedliche psychische Kräfte die Evolution angetrieben und eine fortschreitende Rationalisierung und Differenzierung der subjektiven Handlungsschemata bewirkt.186 Auf der gesellschaftlichen Ebene habe die „Totalität der naturalen menschlichen Trieb- und Willenskräfte“ die Entwick­ lung universell und unumkehrbar von niederen zu immer höheren Stadien ge­ führt – „von Naivität zu Bewusstheit, von Dumpfheit zu immer intensiverem und ausgebildeterem Aufgehellt-sein aller Daseinssphären“187. Auf der zivilisatorischen Ebene seien in einem unumkehrbar fortschreitenden Intellektualisierungsprozess Werkzeuge, wissenschaftliche Methoden sowie Prinzipien der Organisation entwi­ ckelt worden, welche die Kontrolle über die natürliche und die soziale Umwelt ausdehnten. Und auf der kulturellen Ebene habe der Volksgeist kraft inneren Dran­ ges mittels Umformung des Vorgefundenen188 ständig neue symbolische Formen (Kulturgüter) hervorgebracht. Ob die vormaligen Triebkräfte dabei unterschwellig weiterwirkten oder ob sie abstarben, erfahren wir von Weber nicht.

Zwischen den jeweils an unterschiedliche Grenzen stoßenden objektiven und subjektiven Theorien steht nochmals eine vermittelnde Theorie, die objektive (institutionelle) und subjektive (psychische) Evolutionsfaktoren als im Wesentlichen gleich verteilt und in Wechselwirkung zueinander stehend an­ sieht: die Zivilisationstheorie von Norbert Elias.189 Sie nimmt an, dass einer­ Dadurch wird jedoch der Unterschied beider Evolutionsprozesse eher verwischt als ein Erkenntnisgewinn erreicht; denn Wissenseinheiten sind im Gegensatz zu biogeneti­ schen Einheiten nicht rigide, sondern ständig veränderbar, und ihre Übertragung ge­ schieht im Wege postnataler Instruktion anstelle von pränataler Prägung. Deshalb for­ dert Ch. Weinberger (1983, S. 201 f.) mit Recht, zwischen der biogenetischen Übertra­ gung von „Informationen“ und der soziokulturellen Weitergabe von „Wissen“ oder „Kenntnissen“ streng zu unterscheiden. Vollends verfehlt ist es, wenn man die soziokulturelle Evolution als Bildung und Weitergabe von „normativen Genen“ begreift (so aber B. Giesen/C. Lau, 1981, S. 229 ff.). Denn durch die Weitergabe von Normen wird die Vermehrung von Er­ kenntnissen keineswegs immer gefördert, sondern oft behindert. 186  A. Weber (1931), S. 286 ff. 187  A. Weber (1950), S. 26. 188  Nach A. Weber (1931, S. 290) ist die Kultur im Gegensatz zur Zivilisation nicht „fortschrittlich“; vielmehr gibt es „nur verschiedene Kulturphysiognomien der verschiedenen Geschichtskörper und Zeiten und in ihnen Aufstiegs-, Abstiegs- und Vollendungsepochen“. Denn (S. 291) jede Kulturproduktivität ist „stets ein unerwartet neu aus der Spontaneität der menschlichen Seele Erwachsendes“, dessen Entstehung nicht prognostiziert werden kann. 189  N. Elias (1939/1976). Zu Vorläufern der von ihm erstmals in größerem Zusam­ menhang entwickelten Zivilisationstheorie vgl. S. Jaeger (1986). Als heutige Vertreter der Wechselwirkungslehre können u. a. die im Sammelband von K.-S. Rehberg (1996) vereinigten Autoren angesehen werden. Eine Widerlegung von Elias’ Zivilisationsthe­ orie hat H. P. Duerr (1988 ff.) unternommen; kritisch hat sich u. a. auch G. Oesterdiekhoff (2000) geäußert. Beachtung verdient, dass Elias seine Entwicklungstheorie auf das Mittelalter und die Neuzeit Westeuropas bezogen und damit das Missver­

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seits Institutionen und Figurationen190 Anreizbedingungen für die psychische Entwicklung der Bevölkerung gewesen seien; andererseits habe die psychi­ sche Entwicklung der Bevölkerung aber auch selbst neue, weiterreichende Institutionen und Figurationen hervorgebracht. In der Geschichte ließensich folglich sowohl eine soziogenetisch bedingte Differenzierung und Integration psychischer Funktionen nachweisen als auch eine psychogenetisch bedingte Entstehung von differenzierteren Sozialsystemen – die dann ihrerseits den psychischen Differenzierungs- und Integrationsprozess gestützt hätten usf. Soziogenetisch seien Staatenbildung, Mechanisierung und Kulturierung des Lebens Produkte dieser Wechselprozesse gewesen, psychogenetisch Intellek­ tualität bzw. Rationalität des Weltbildes und des davon abhängigen Handelns. Übereinstimmendes Ziel der Entwicklung war jedoch in jedem Stadium, für den Menschen ein kompossibles Maximum an Gleichgewicht zu erzeugen „zwischen den gesamten Anforderungen seiner sozialen Existenz auf der ei­ nen Seite und seinen persönlichen Neigungen und Bedürfnissen auf der anderen“191. Dieser letztgenannten Vereinigungstheorie, welche die Verteilung der An­ teile von Psychogenese und Soziogenese je nach der historischen Situation als offen ansieht, dürfte der Vorzug vor allen Theorien zukommen, die sich für ein Überwiegen entweder der psychischen oder der sozialen Anteile ent­ schieden haben, ohne hierfür hinreichende Gründe angeben und absichern zu können. Dahinstehen kann dagegen, ob – wie bei Elias – die Tiefenpsy­ chologie einen besseren Ansatz zur wissenschaftlichen Analyse des psychi­ schen Anteils liefert oder ob – wie Georg W. Oesterdiekhoff in seiner Kritik des Elias’schen Werkes meint192 – der genetischen Erkenntnistheorie von Piaget der Vorrang einzuräumen ist. Dahinstehen kann ferner, ob Elias über­ haupt seinen Anspruch eingelöst hat, erstmals eine universalhistorische Ana­ ständnis gefördert hat, dass die Entwicklung zur Zivilisation erst im Mittelalter be­ gonnen habe. Dies lässt sich angesichts der bekannten Zivilisationshöhe in zumindest einigen der antiken Staaten (dazu unten G) nicht aufrechterhalten. Am wahrschein­ lichsten ist die Annahme, dass der Zivilisationsprozess mit der Gründung von Städten (civitates) eingesetzt hat, d.s. nicht weniger als fünf Jahrtausende vor dem Zeitraum, den Elias seiner Untersuchung zugrunde gelegt hat. 190  Unter „Figurationen“ versteht Elias (im Anschluss an G. Simmel) von indivi­ duellen Menschen gebildete „Interdependenzen“, bei der die Identität der Individuen gleichgültig ist (Beispiel: Arbeitsteilung); unter „Figurationsanalyse“ versteht er ein auf das Aufspüren solcher zwischenmenschlichen Zusammenhänge bzw. tatsächlichen „Interdependenzgetriebe“ gerichtetes Verfahren. 191  N. Elias (1939/1976), Bd. 2, S. 454. Dieser Fortschrittsoptimismus von Elias wird von H. P. Duerr (1990, S. 20 ff., 353 ff.; 1993, S. 20 ff.) allerdings mit der Be­ hauptung kritisiert, dass Stämme und Dörfer zivilisiert, Städte dagegen dezivilisiert hätten, sodass insgesamt ein Verfall zu diagnostizieren sei. 192  G. Oesterdiekhoff (2000) S. 135 ff.



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lyse der Zivilisationsentwicklung zu liefern. Für die nachfolgende – hier al­ lein zu behandelnde – historiogenetische Rechtstheorie ist dies gleichgültig, weil sie ein viel kleineres Spektrum umfasst als eine Zivilisationstheorie: Das Recht beschränkt sich auf die normative Ordnung des sozialen (und teilweise auch des politischen) Umgangs miteinander, seine Antriebskraft ist der feste Wille zur Gerechtigkeit der sozialen (und politischen) Verhältnisse; der große Rest der Zivilisation bleibt dagegen außen vor. Deshalb werde ich meiner folgenden Untersuchung die Vereinigungstheorie von Elias mit dieser Einschränkung zugrunde legen (siehe unten H 1) und den übrigen Theorien nur Aufmerksamkeit schenken, soweit sie zusätzliche Detailbeiträge geleistet haben. 3. Öko- und soziogenetische Gesetzmäßigkeiten Sowohl rechtliche Ordnungsnormen als auch ein ihnen entsprechendes Gerechtigkeitsbewusstsein entwickeln sich innerhalb von Rahmenbedingungen. Im Anschluss an Charles de Montesquieu und A. R. J. Turgot lassen sich diese in natürliche, soziale und kulturelle Bedingungen unterteilen.193 Und für die Entwicklung kann ihnen eine entweder fördernde oder hem­ mende Bedeutung in unterschiedlicher Stärke zugemessen werden. (α) Kulturökologische Theorie. Eine starke Bedeutung weist den natür­ lichen Rahmenbedingungen die ‚Kulturökologie‘ zu. Ihr Begründer, Julian Haynes Steward, definierte als ihre Methode „die Erforschung der Prozesse, durch die eine Gesellschaft sich ihrer Umwelt anpasst“,194 und als ihr Ziel, den Trend herauszufinden, dem Anpassungen an Umweltbedingungen gehor­ chen. Insoweit falle zunächst auf, dass im selben geographischen Raum – dem biologischen Entwicklungstrend entsprechend ‒ komplexere Organisa­ tionsformen aufeinander folgten.195 Weiterhin entspreche dem Trend, dass frühere Entwicklungsformen nicht einfach aussterben, sobald komplexere erreicht werden, sondern bestehen bleiben und ggf. Spezialaufgaben über­ 193  Ch. de Montesquieu (1748/1965), XIX 4 (: „Mehrere Dinge regieren die Men­ schen: Klima, Religion, Staatsmaximen, Beispiele aus der Geschichte, Sitten, Lebens­ stil. Aus all dem bildet sich als Ergebnis ein Gemeingeist.“); A. R. J. Turgot (1751/1990), S.  166 f. 194  J. H. Steward (1968), p. 337. Weiter heißt es bei ihm: „Its principal problem is to determine whether these adaptations initiate social transformations or evolutionary change. It analyses these adaptations, however, in conjunction with other processes of change. Its method requires examination of the interaction of societies and social in­ stitutions with one another and with natural environment.“ Zusammenfassend zu Stewards Werk: J. W. Raum (1990); Kritik aus darwinistisch-ökologischer Sicht: A. Alland (1970), S. 169. 195  J. H. Steward (1950), p. 106 f.

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nehmen. Und schließlich deute auf eine allgemeine Gesetzmäßigkeit hin, dass eine Reihe konkreter Umweltfaktoren in der Vergangenheit übereinstim­ mende Anpassungen zur Folge hatten. Zum Nachweis für die von ihm sog. ‚multilineare Evolution‘ untersuchte Steward196 die frühantiken Kulturen Mesopotamiens, Ägyptens und Chinas, deren Entwicklung auch für die antike Rechtsgeschichte bedeutsam war.197 Sie haben, so Steward, infolge der Gleichheit ihrer Umweltfaktoren überein­ stimmend vier zeitliche Phasen198 durchlaufen: eine Phase der Formung, eine der regionalen Blütezeit, dann eine der Dunkelzeit und schließlich eine Zeit der zyklischen Eroberungen. (1) In der Phase der Formung (formative era) wurde die Basis für technologische Entwicklungen gelegt, nämlich mit der Bewässerung des Landes, der Kultivierung des Bodens und der Viehhaltung begonnen. Sozialpolitische Einheit war die kleine Ortsgemeinde, deren Mit­ glieder waren Verwandtengruppen bzw. lineages.199 Jede Ortsgemeinde hatte ein religiöses Zentrum, dem gleichzeitig eine integrative Funktion für das Gemeinschaftsleben zukam. Die religiösen Führer organisierten alle wichti­ gen Gemeinschaftsaufgaben, insbesondere den Bau von Kanälen zur Bewäs­ serung des Bodens. (2) Der Phase der Formung folgte allenthalben eine regi­ onale Blütezeit (era of regional development and florescence), worin die Bevölkerung wuchs und gleichzeitig Klassenstrukturen herausbildete. Staats­ gebilde entstanden, die theokratisch geführt wurden; an ihrer Spitze stand eine Priesterschaft, gelegentlich auch ein erfolgreicher Feldherr. Da die Priesterschaft von der übrigen Bevölkerung mit allem Lebensnotwendigen versorgt wurde, hatte sie Muße genug, sich mit Astronomie, Mathematik und schriftlichen Aufzeichnungen zu beschäftigen. Aus der übrigen Bevölkerung ragten die Handwerker heraus. Sie entwickelten sich zu Spezialisten und trieben ihre Kunst auf eine bis dahin unbekannte Höhe. Zu den sozialpolitischen Verhältnissen in den antiken Staaten während ihrer beiden ersten Phasen bemerkt Steward: • Mesopotamien (ca. 4000 – nach 3000): Die Urbanisation beginnt. Es bilden sich mehrere Gemeinden umfassende Staaten, die im Wesentlichen theokratisch geführt werden, deren Führer aber im Krieg auch das Heer anführen. Man baut große Pa­ last-Tempel, die vor allem den Göttern der Landwirtschaft geweiht werden. Noma­ den bedrängen und infiltrieren gelegentlich die Staaten. Wichtigste kulturelle Er­ Folgenden J. H. Steward (1949/1955b); ferner (1955c). zu diesen Kulturen näher unten G 1 und 2. In seinen Vergleich hat Ste­ ward ferner Kulturen Mesoamerikas und Nordperus eingeschlossen. Seine Ergebnisse hat u. a. E. R. Service (1977) übernommen (S. 28); zu den genannten Kulturen vgl. bei ihm S. 217 ff. 198  Voran ging als erste Phase die des Jagens und Sammelns. 199  Verwandtengruppen sind die bilateralen Angehörigen einer Familie, lineages die Angehörigen unilateraler Abstammungsgruppen. Vgl. dazu noch unten F 3 β. 196  Zum 197  Vgl.



C. Genetische Materialien zur Rechtsgeschichte 61 rungenschaften sind eine phonetische Schrift, mathematische Systeme und erste Erkenntnisse in der Astronomie.

• Ägypten (ca. 3600 – nach 3000): Auch hier finden wir Tendenzen zur Urbanisation. Es entstehen mehrere Gemeinden umfassende Staaten mit jeweils einer eigenen Tiergottheit und Herrschaft der Oberhäupter der jeweils angesehensten lineages. Aufgrund von Kriegen kommt es zur Ausdehnung des Staatsgebiets. Je nach ihrem Rang in der Gemeinschaft erhalten die Einwohner unterschiedliche Begräbnisse, die von einem Totenkult zeugen. Man beginnt mit schriftlichen Aufzeichnungen; bleibende kulturelle Bedeutung erlangen kalendarische und numerische Systeme. • China (ca. 3000–2000): Es besteht eine Feudalherrschaft; Leibeigene müssen den Landbesitz des lokalen Herrschers bebauen. Ein göttlicher Monarch herrscht über allen; seine letzte Ruhestätte ist ein tiefes Grab. Knochen werden zur Vorhersage von Regen und für andere Orakelsprüche gebraucht. Drachengottheit; Menschenund Tieropfer. Kriegerische Konflikte werden ausgelöst um Weideland und auf­ grund des Drucks von Vieh treibenden Nomaden. Kulturelle Errungenschaft ist eine Bilder- und Zeichenschrift.

Kennzeichen der sich (3) nach einer dritten (Dunkel-)Zeit anschließenden (4) vierten Phase der zyklischen Eroberungen (era of cyclical conquests) sind die Ausweitung der politischen und ökonomischen Herrschaft über große Gebiete, eine starke Tendenz zur Verstädterung der Bevölkerung, das Entste­ hen eines ausgedehnten Militarismus und die Errichtung von Befestigungsan­ lagen rund um die Städte. Kriegsgötter erhalten im Pantheon der Gottheiten einen prominenten Platz; Priester-Krieger bilden die führende soziale Schicht, zumeist angeführt von einem göttlichen Monarchen, dessen Bedeutung auch noch nach seinem Tode mit einer aufwendigen Grabstätte gewürdigt wird. Die sozialen Klassengrenzen, die zuvor durchlässig waren und tüchtigen Leuten den Aufstieg gestatteten, werden nunmehr hereditär gefestigt. Zur sozialen Entwicklung bemerkt Steward im Einzelnen: • Mesopotamien (frühe sumerische Dynastien – Dynastie von Akkad): Die Städte wachsen und dienen als militärische, politische, religiöse und wirtschaftliche Zen­ tren. Der König ist sowohl religiöser als auch militärischer Führer und herrscht über ein Reich mit vielen Gemeinden. Die soziale Statuszugehörigkeit ist streng geregelt: der König, Repräsentant des höchsten Gottes (manchmal eines Kriegsgot­ tes), steht an der Spitze, die Priesterschaft und der Adel erlangen erblichen Status; Bauern, Handwerker und Lohnempfänger sind entweder einem Tempel zugeordnet oder arbeiten auf privatem Landbesitz; Gefangene werden Sklaven; Soldaten erlan­ gen bisweilen einen eigenen Status. Der Totenkult erlangt eine gewisse Bedeutung. • Ägypten (frühe Dynastien I–IV): Städte werden nach Plan angelegt. Die sozialen Strukturen verfestigen sich. Dem Gottkönig steht die militärische und politische Führung eines Staates zu, der durch Kriege stark vergrößert wird; seine Macht ver­ dunkelt diejenige der Priesterschaft. Ein Erbadel kontrolliert den Reichtum des Landes. Die Theologie gründet sich auf ein Pantheon von allgemeinen Gottheiten und auf einen Totenkult, der sich im Bau von Pyramiden machtvoll zur Geltung bingt.

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• China (Zhōu- bis einschl. Ming-Dynastien): Mit der Zhōu-Dynastie beginnt das Zeitalter der Eroberungen. Städte wachsen, bilden administrative, religiöse und wirtschaftliche Zentren. Ein göttlicher Führer und eine auf ihn eingeschworene Beamtenschaft kontrollieren den Staat. Die Gesellschaft ist streng geteilt in den militärisch und ökonomisch mächtigen Erbadel, Kaufleute, Hörige und Sklaven.

Steward200 erkannte an, dass der Nachweis einer gleichen sozialen Ent­ wicklung innerhalb einzelner Kulturen noch kein Beweis für das Wirken von allgemeinen kulturellen Gesetzmäßigkeiten ist. Auffinden ließen sich solche Gesetzmäßigkeiten jedoch, sobald man die Randbedingungen mitberücksich­ tigte, unter denen sich die untersuchten Kulturen entwickelten: Sie entstan­ den in einem trockenen oder halbtrockenen Gelände und waren daher, wenn sie wachsen wollten, auf die Anlage künstlicher Bewässerungssysteme ange­ wiesen.201 Die Bewässerung des Landes durch Kanäle war in der damaligen Zeit jedoch eine gewaltige Aufgabe: Sie war nur möglich, wenn natürliche Flussläufe das Land durchzogen und die Nahrungsgrundlage für eine größere Bevölkerung verbreiterten. Und sie bedurfte dann detaillierter Organisation und politischer Kontrolle, die ein Herrscher nur im Bunde mit den Göttern ausüben konnte; er musste deshalb zusammen mit seiner Familie die Spitze einer sowohl politisch als auch theokratisch führenden Schicht bilden.202 Waren all diese Voraussetzungen gegeben, war der durch Bewässerung erreichte Produktivitätsgewinn bei der Nahrungsbeschaffung allerdings so groß, dass er nunmehr Arbeitskräfte freisetzte, die sich der Entwicklung neuer Techniken widmen konnten – etwa der Herstellung von Geräten für die 200  Zum Folgenden J. H. Steward (1949), p. 16 ff., sowie die Zusammenfassung p.  22 f. 201  Dies gilt freilich nicht für den Norden von China, dessen regnerisches Klima eine von künstlicher Bewässerung unabhängige Agrikultur erlaubte (vgl. J. H. Steward, 1955c, p. 59). 202  Steward folgt darin, wie er selbst erwähnt (1969, p. 165), der Theorie der „hy­ draulischen Gesellschaft“ von K. Wittfogel (1957/1962). Nach dieser Theorie sind alle originären antiken Staaten (Mesopotamien, Ägypten, China, Indien, Mexiko und Peru) im Zuge des Auf- und Ausbaus von Bürokratien zwecks Steuerung riesiger Bewässerungssysteme entstanden. Der Staat beanspruchte eine Art ‚Obereigentum‘ über Grund und Boden, das Volk wurde auf einen unfreien Status herabgedrückt und der Willkür mächtiger Herrscher und deren Bürokratien ausgeliefert. Diese politische Maschinerie des Staates kam in Gang, als „a number of farmers eager to conquer [agriculturally] arid lowlands and plains [were] forced to invoke the organizational devices which … offer[ed] the one chance to success; they … work[ed] in coopera­ tion with their fellows and subordinate[d] themselves to a directing authority“ (p. 18). Wittfogels Theorie ist heute insoweit allgemein anerkannt, als der Zwang zum Bau größerer Bewässerungssysteme entweder das Bestehen einer zentralen politischen Macht voraussetzte oder aber ihr Entstehen bzw. Ausbau förderte (vgl. E. R. Service, 1977, S. 338 ff.). Ein durchgehender Trend war damit allerdings nicht verbunden (W. P. Mitchell, 1973).



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Hauswirtschaft oder von Waffen für die Kriegsführung. Eine solche Spezia­ lisierung der Handwerksberufe ließ ihre Produkte nicht nur immer zweckmä­ ßiger, sondern auch immer reicher und schöner werden – es bildete sich ein besonderer Sinn für Kunst heraus. Als die Bevölkerung, nachdem die Grenzen der landwirtschaftlichen Pro­ duktivität erreicht waren, immer noch anschwoll, musste man nach mehr Land und nach neuen Produktionsstätten suchen. Und da man sich nur noch in bewohnte Gebiete ausdehnen konnte, begann eine Phase der Kriege und der aufsteigenden und fallenden Reiche (era of rising and falling empires), die von Kriegern und militärischen Führern beherrscht wurde. Von jetzt an kam es deshalb nur noch zu wenigen kulturellen Neuerungen. Jedes Reich erreichte zwar noch eine Blütezeit und einen Gipfelpunkt, was Bewässerung, Bevölkerung und politische Organisation anbelangt; aber es folgte auch jedes Mal eine Periode des Verfalls. Wesentlich ausführlicher im Detail, allerdings im vorliegenden Zusammenhang weniger einschlägig, ist eine vergleichende Untersuchung von Robert Adams zur Entwicklung der Kulturen von Mesopotamien und Zentralmexiko.203 Auch er sah, dass – außer einigen wichtigen Faktoren, welche den Datenvergleich behindern204 – sich eine Fülle fundamentaler Übereinstimmungen feststellen lässt: zentrale Bedeu­ tung des Bewässerungsmanagements für das Anwachsen staatlicher Institutionen, allmähliche Stratifikation der Gesellschaft infolge des Entstehens von politischen und ökonomischen Eliten in den Städten neben den ursprünglichen gleichberechtigten Verwandtschaftsgruppen auf dem Land, zunehmende Bedeutung militärischer Grup­ pen, Spezialisierung der Arbeitsleistung (vor allem bei der Herstellung von Waffen, Geräten für den landwirtschaftlichen und Werkzeugen für den hauswirtschaftlichen Gebrauch), wiederholtes Hineindrängen von Randgruppen in die Führungsschicht. Abschließend aber kam auch er zu dem Ergebnis,205 dass beide von ihm untersuchten „räumlich ausgedehnten, komplexen, langlebigen, innovativen, typisch ‚zivilisier­ ten‘ Gesellschaften fundamental ähnlich waren, was freilich nicht bedeutet, dass es eine alle Einzelheiten umfassende Übereinstimmung gibt – weder in den allgemei­ nen Funktionen noch in den formalen Details. Aber die Ähnlichkeiten sind genü­ gend dicht und zahlreich, um in diesem wie in ähnlichen Fällen den Nutzen … einer eher verallgemeinernden, vergleichenden als Unterschiede betonenden, Gren­ zen setzenden Haltung zu rechtfertigen … So entdecken wir von Neuem, dass so­ ziales Verhalten nicht nur nach Gesetzen verläuft, sondern die Zahl solcher Gesetze sogar begrenzt ist. Im Falle kultureller Subsysteme (z. B. Verwandtschaft) und für ‚Primitive‘ (z. B. Jägerhorden) hat man dies zwar schon immer zugestanden. Doch nicht nur als abstrakter Glaubenssatz, sondern gleichermaßen als gültiger Aus­ gangspunkt für eine detaillierte empirische Analyse einiger der komplexesten und kreativsten menschlichen Gesellschaften trifft das zu.“ Folgenden R. McC. Adams (1966). Adams (1966), p. 35, 51. 205  R. McC. Adams (1966), p. 170, 175. 203  Zum

204  R. McC.

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(β) Soziobiologische Theorien. Im Unterschied zu der kulturökologischen weisen die soziobiologischen Theorien der natürlichen Umwelt eine lediglich begrenzende und daher zweitrangige Rolle zu. An die erste Stelle stellen sie neurologische Prozesse im Gehirn, welche die Produktion und die Entwick­ lung von sozialen Kulturnormen fördern. Ch. J. Lumsden und E. O. Wilson sprechen insoweit von „epigenetischen Regeln“206. Sie erkennen zwar an, dass menschliches Verhalten auch durch die natürliche Umwelt stimuliert wird. Und weil speziesgleiche Individuen über homologe Bedürfnisstruktu­ ren verfügen, verhielten sie sich in gleichen Umweltsituationen gleich, in unterschiedlichen Umweltsituationen verschieden. Doch sei mit der Kultur noch eine weitere Ebene der Verhaltensorganisation entstanden, die von Sys­ temgesetzlichkeiten eigener Art bestimmt werde: von Symbolsystemen und von zugehörigen Grammatiken, mit deren Hilfe der Mensch sein Verhalten von den Stimuli der Umwelt weitgehend abkoppelt und die Bedeutung seiner intern erzeugten soziokulturellen Werte und Normen erhöht. Aber setzen Stimuli aus der natürlichen Umwelt die schöpferischen Kräfte im Menschen dann wirklich nur frei? Weisen sie ihnen nicht vielmehr gleichzeitig auch die Richtung – sodass unterschiedliche Umwelten notwendig zu unterschiedlichen Kulturschöpfungen führen müssen? Diese Frage hatte Steward bejaht.207 Er hatte al­ lerdings, ebenso wie andere Autoren,208 als richtungweisend nur die Stimuli aus der geographischen Umwelt benannt, die Stimuli aus der sozialen Umwelt dagegen nicht einbezogen. Dadurch war er hinter Charles de Montesquieu zurückgefallen,209 dessen 206  Ch. J. Lumbsen/E. O. Wilson (1981), p. 7: „The rules comprise the restrains that the genes place on development … and they affect the probability of using one culturegene as opposed to another.“ Als ‚culturegene‘ ist ein Kultur produzierender Mechanismus im menschlichen Gehirn zu verstehen, der genetisch von einer Genera­ tion auf die andere übertragen wird (siehe dazu oben A 4). Heute verwendet man dafür meistens den von R. Dawkins (1976) gebildeten Begriff „mem“. Vgl. neuer­ dings G. Schurz (2011). 207  J. H. Steward (1955a), p. 30 ff. 208  Von älteren Autoren ist vor allem A. Bastian (1826–1905) zu nennen mit seiner Lehre von den „geographischen Provinzen“ als den „gesetzlich umgrenzten Arealen, innerhalb welcher das organische Leben unter einem charakteristischen Typus er­ scheint“ (1893, S. 36). Die Wechselwirkung zwischen Mensch und geographischer Umwelt wird von ihm allerdings nicht näher ausgeführt (vgl. auch unten Fn. 222). Ferner weist L. H. Morgan (1871/1908) den Unterschieden im geographisch spezifi­ schen Milieu einen (begrenzenden) Einfluss auf die durch Gehirn und Intelligenz gesteuerte Entwicklung zu – so etwa dem Fehlen domestizierbarer Wildformen in der westlichen Hemisphäre auf die Haustierhaltung (wo er als Kriterium für die Mittel­ stufe der Barbarei deshalb statt der Domestizierung von Tieren den Hausbau mit ge­ trockneten Lehmziegeln und die künstliche Bewässerung benennt). Schließlich spielt das geographische Konzept einer spezifischen Kulturlandschaft (cultural area) manchmal eine tragende Rolle, so etwa in der Arbeit von A. L. Kroeber (1939). 209  Ch. de Montesquieu (1748/1965), XIX. Auf ihn geht die Erkenntnis zurück, dass ökologische und soziokulturelle Elemente nicht nur den Gemeingeist eines Vol­



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Untersuchung über den „Geist der Gesetze“ schon Ende des 18. Jh.s erschienen war und gerade die stimulierende Bedeutung sozialer Faktoren in den Vordergrund ge­ rückt hatte. Montesquieu hatte sich ursprünglich als Naturwissenschaftler betätigt, dann aber seine naturwissenschaftliche Fragestellung auf die Erforschung der menschlichen Sitten und Gesetze angewandt. Er fragte statt nach den Erzeugungsursachen für die Naturgesetze nach den Erzeugungsursachen für die menschlichen Sozialgesetze, und er fand diese sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart210 im Gemeingeist der Völker. Diesen Gemeingeist sah er überall geprägt erstens vom Klima und von der Bodenbeschaffenheit der geographischen Umwelt, zweitens aber auch vom Verhältnis zu anderen Völkern, mit denen die Menschen Warenhandel und Wissens­ austausch betrieben, und drittens von der Religion.211

Vor allem dieser umfassende Ansatz Montesquieus verdient es m. E., wei­ terverfolgt zu werden, auch wenn man seine Erklärungskraft nicht überschät­ zen darf. Denn er kann zwar erklären, warum alle Völker meinten, sie stün­ den unter Obhut höherer Wesen: weil sie nämlich allesamt eine in sich abge­ schlossene Welt brauchten, um sich sicher zu fühlen. Aber er kann beispiels­ weise nicht erklären, warum ein Volk Rituale benutzt, um den sehnlich erwünschten Regen zu erzeugen, das Nachbarvolk aber nicht.212 (γ) Auswirkungen auf die Evolution von Normen. Schauen wir nun speziell auf die Entwicklung von Normen. Wir können erkennen, dass diese sich im selben Maße entwickelten, wie die Bedeutung der Stimuli aus der natürlichen Umwelt ab- und die aus ihrer soziokulturellen Umwelt zugenommen hat. Als Jäger und Sammler lebten die Menschen in kleinen Horden fast ausschließ­ lich davon, was ihnen die Natur als Nahrungsgrundlage bot; deshalb waren sie vor allem von der natürlichen Umwelt abhängig und mussten sich hüten, durch ihre Lebensweise die Übereinstimmung mit ihr zu stören. Für ihr Ver­ hältnis zueinander brauchten sie dagegen nur wenige einfache soziale Nor­ men, die kaum aus dem, was zwischen ihnen Brauch war, hervorstachen. Als sie dagegen an den Flüssen auf engerem Raum sesshaft wurden, mussten sie kes, sondern auch dessen Recht hervorbringen. Nach Deutschland kamen seine Ge­ danken u. a. über den Juristen Gustav Hugo, der zusätzlich darauf hinwies, dass der Engländer Edward Gibbon in seinem berühmten Werk „Decline and Fall of the Ro­ man Empire“ (1776–1788) mit seiner Einteilung des römischen Rechts in drei Perio­ den „eben die Methode fortführte, die Montesquieu für das historische Studium von Rechten vorgeschlagen hatte“ (P. Stein, 1981, S. 124). Für eine stärkere Berücksichti­ gung der sozialen Ursachen gegenüber den physischen, die bei Montesquieu im Vor­ dergrund stehen, sprach sich vor allem A. R. J. Turgot (1751/1990) aus. 210  Ch. de Montesquieu (1748/1965), Vorwort. 211  Ch. de Montesquieu (1748/1965), XIV ff. 212  So berichtet M. Douglas (1966, p. 68) vom Glauben der Dinka, „that rain ritu­ als will cause rain“, während E. E. Evans-Pritchard (1956, p. 200) vom Nachbarvolk der Nuer mitteilt, „that they are little interested in the rituals for bringing rain“.

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sich auch normativ klarer voneinander abgrenzen: auf eigenen Feldern mit festen Grenzen Ackerbau betreiben, auf eigenen Wiesen eigenes Vieh hüten, durch eigene technische Erfindungen ihr Arbeitspensum entlasten. Und als ihr Lebensraum nochmals enger wurde, weil sie in Städten lebten, wuchs ihr Bedarf an Organisationsnormen wie nie zuvor. Doch nicht nur das. Die neuen Normen erforderten auch neue Formen der Legitimation, weshalb neue Legi­ timationsstränge entstehen mussten, die von überirdischen Wesen über irdi­ sche Herrscher bis zu den gemeindlichen Ordnungshütern reichten.213 Und um das alles auch gedanklich zu bewältigen, bedurften sie entweder einer Vergrößerung ihrer Gehirnpotentiale oder aber einer Umorganisation ihrer Gehirnfunktionen, indem bisher wenig gebrauchte Potentiale Platz machten für neue. Was seinerzeit geschah und wie es geschah – wir wissen es nicht. Wir wissen auch nicht, ob die Entwicklung vielleicht schon vorbereitend in Gang gekommen war.214 Wir wissen nur, dass der Mensch offenbar genügend Potentiale hatte215 oder hinzuerwarb, um sich den Herausforderungen eines immer differenzierteren Zusammenlebens in immer größeren Gemeinschaf­ ten auf immer engerem Raum mittels einer immer größeren Menge und Vielfalt an Normen erfolgreich zu stellen. Der Weg für die künftige Entwick­ lung bis hin zu den riesigen Massenstaaten der Neuzeit und ihrem hoch aufgetürmtem, von Einzelnen nicht mehr überschaubarem Rechtsmaterial wurde damals jedenfalls freigegeben. Ich werde zum Abschluss meiner Un­ tersuchung eine Skizze von dieser Welt zu geben versuchen (unten K 7). 4. Spezifisch rechtsgenetische Gesetzmäßigkeiten Im Gegensatz zur großen Anzahl von Untersuchungen zu den humangene­ tischen Ursachen und Gesetzmäßigkeiten für die allgemeine soziokulturelle Entwicklung liegen nur wenige Untersuchungen zu etwaigen autochthonen Ursachen und Gesetzmäßigkeiten für die historische Rechtsentwicklung vor. Ansätze finden wir vor allem bei den Rechtshistorikern des 19. Jh.s Friedrich Carl von Savigny und Henry Maine – allerdings undifferenziert unter Hinweis auf das gesamte ‚organische Leben‘, dessen integraler Bestandteil auch das werdende Recht gewesen sei und sich deshalb mit entwickelt habe: für Savi­ gny als Bestandteil der Volkskultur, hervorgebracht vom „stillwirkenden“ Volksgeist, für seinen Schüler Maine als ein Produkt ausschließlich „fort­ schrittlicher Gesellschaften“ („progressive societies“), die dem Recht mehr Einzelnen dazu L. Cavalli-Sforza (1999), S. 188 ff. dazu etwa St. Mithen (1996). 215  Die Beherrschung des Feuers könnte für hirnphysiologische Veränderungen die notwendigen Voraussetzungen geschaffen haben, da es einen höheren Fleischkonsum und damit einen erhöhten Anteil von Phosphorverbindungen in der Nahrung ermög­ lichte. Vgl. dazu J. H. Reichholf (1993), Kap.12. 213  Im

214  Vgl.



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oder weniger weit voraus gewesen seien. Repräsentanten des Volksgeistes wa­ ren für Savigny anfangs die Priester und Laienrichter, später ein abgesonderter gelehrter Juristenstand.216 Maine wurde konkreter und damit folgenreicher. Er arbeitete insbesondere den Unterschied zwischen den frühen Gesellschaften heraus, in denen die persönliche Verwandtschaftsbindung die wesentliche Grundlage des Zusammenhalts darstellte (Statusgesellschaften), und den spä­ teren Gesellschaften, in denen der Zusammenhalt auf unpersönlichen Bindun­ gen und schließlich auf dem Zusammenschluss im Territorialstaat gründete (Vertragsgesellschaften), und er behauptete, dass die Entwicklung im Privat­ recht überall „from Status to Contract“ und damit in Richtung persönlicher Befreiung verlaufen sei.217 Heute erkennt man diese Behauptung zwar nicht mehr als ein strenges Entwicklungsgesetz an, jedoch immer noch als eine zu­ treffende Trendbeschreibung.218 Sie ist m. E. jedoch insofern falsch, als eine Evolution niemals die Ebenen wechseln, mithin niemals von der Ebene des sozialen Status auf die des individuell verpflichtenden Vertrages überspringen kann. Auch war sie niemals eine Einbahnstraße, sondern in ihren Funktionen und Fähigkeiten stets an die Gesamtheit des Organismus rückgekoppelt – wes­ halb der individuelle Vertrag jene sozialen Bindungen wieder in sich aufneh­ men musste, aus denen er sich (scheinbar) emanzipiert hatte.219 Spätere Autoren220 erkannten dem Recht und seinen Prinzipien eine spezi­ fisch eigene Entwicklung zu. Sie äußerten sich aber nicht über eine mögliche Übereinstimmung der vorantreibenden Kräfte. Leopold Wenger erblickte221 das letzte Ziel eines jeden Vergleichs individueller Rechtsentwicklungen zwar noch darin, dass es einer „universalrechtsgeschichtlichen“ Betrachtung des Rechts das Tor öffne infolge „der Aufdeckung von Gesetzen, nach denen sich die Rechtsentwicklung überhaupt vollzieht“.222 Doch schränkte er be­ insbesondere F. C. von Savigny (1814). (1874), p. 170. Auf Maine aufbauend, wenngleich teilweise kri­ tisch, die Untersuchung von N. C. Sen-Gupta (1962), speziell zur Entwicklung des Kontraktes p.  99 ff. 218  Zur Kritik vgl. etwa L. Pospíšil (1982), S. 189 ff.; J. Stone (1976), S. 220 ff. 219  Vgl. dazu unten IV 1 (β). 220  Zu nennen sind Arbeiten von O. Holmes, A. L. Corbin, R. Ch. Clark, die zwar auf den Thesen Savignys oder Maines aufbauen, darüber hinaus aber stärker die Ei­ genentwicklung der gesetzlichen Normen und Prinzipien betonen. 221  Vgl. zusammenfassend L. Wenger (1953), S. 15 ff. (Zitat S. 23). Zu ihm vgl. etwa W. Selb (1993), S.  47 ff., 55 f. m. w. Nachw. 222  Wenger bezieht sich in diesem Zusammenhang u. a. auf die Lehre des Ethnolo­ gen A. Bastian (1881), wonach die Menschen aufgrund ihrer gleichen psychischen Veranlagung in allen Teilen der Erde unabhängig voneinander zu gleichen oder doch ähnlichen kulturellen – und somit auch rechtlichen – Entwicklungen hätten kommen müssen. Alles „ideell Gestaltete“, so hatte Bastian (a. a. O., S. 14 f.) ausgeführt, sei „als ein Produkt des psychischen Wachstumsprozesses aufzufassen, als eine nach dem 216  Vgl.

217  H. S. Maine

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reits ein, dass man in den Vergleich individueller Rechtsentwicklungen dann nur diejenigen einbeziehen dürfe, die auf demselben kulturellen Level statt­ gefunden haben, also etwa nur die eines Naturvolks mit der eines anderen oder die in einer asiatisch-orientalische Despotie mit der in der absolutisti­ schen römischen Kaiserzeit. Und noch vorsichtiger glaubte Paul Koschaker223, selbst dann den Vergleich auf gewisse „Richtungskomponenten“ be­ schränken zu müssen, „die keinen Anspruch auf allgemeine naturgesetzliche Geltung haben, sondern unter bestimmten Verhältnissen typisch auftreten“.224 Werde beispielsweise eine Menschengruppe in ein bestimmtes geographi­ sches, soziales und wirtschaftliches Milieu hineingestellt, dann könne es sein, dass sie zu hierfür typischen Rechtsbildungen gelange: etwa zu be­ stimmten Weisen der Haftung für Schädigungen, zu einem Pfandrecht als bedingte Ersatzleistung für Schulden oder zur Kaufehe als typische Reaktion auf ein patriarchalisches Familiensystem. Aufgabe der Rechtsvergleichung sei deshalb lediglich, möglichst viele solcher typischen Komponenten zu sammeln.225 Doch dabei sei stets zu berücksichtigen, dass die Entwicklung Gesetze des menschlichen Organismus durch äußerlich einfallenden Reiz angeregte Bildung“ (Elementargedanke); es werde nur unwesentlich modifiziert durch die Be­ sonderheiten der geographischen, klimatischen und wirtschaftlichen Bedingungen (Völkergedanke). Einblicke in die Wachstumsprozesse des Menschengeistes gewähre uns vor allem die Betrachtung der Naturvölker; doch auch für die höheren geistigen Stadien der Menschheit gebe sie „Leitungsfäden“ ab (S. 17). Wenger hält diesen Thesen allerdings entgegen, dass Kulturerscheinungen wie das Recht weniger einer naturwissenschaftlichen als vielmehr einer historischen Erklä­ rung bedürften und dass deshalb „gegenüber dem nivellierenden und generalisieren­ den Elementargedanken der individualisierende Völkergedanken stärker hervorgeho­ ben werden“ müsse (S. 14). Man müsse daher „nach einseitigen oder nach gegensei­ tigen Rechtsbeeinflussungen suchen, wie solche vor allem aus Wanderungen, Mischungen, Überlagerungen von Rechtskreisen ermittelbar sind“ (S. 23). Dieser teilweise zutreffenden Kritik lässt sich heute vor allem hinzufügen, dass Bastians Grundthese insoweit überholt ist, als man aufgrund von psychologischen Studien an einerseits US-amerikanischen, andererseits koreanischen und japanischen Jugendli­ chen annimmt, dass das Heranwachsen des Menschen in einer Kultur sein Weltbild und seine Denkungsart wesentlich beeinflusst (vgl. T. Masuda/R. E. Nisbett, 2001; R. E. Nisbett/K. Peng/I. Choi/A. Norenzayan, 2001; zusammenfassend R. E. Nisbett, 2003). Offenbar ist die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns genetisch nur unvoll­ kommen vorgeprägt und weitestgehend epigenetisch entwicklungsfähig und somit unterschiedlichen Umwelt- und Kultureinflüssen gegenüber „plastisch“. Deshalb ist es auch nicht erstaunlich, wenn das Rechtsbewusstsein und die Rechtsinstitute, die ja insgesamt einer Spätphase der kulturellen Entwicklung der Menschheit angehören, bereits in ihren ersten nachweisbaren Anfängen erheblich voneinander abweichen (vgl. dazu schon E.-J. Lampe, 1988, S.  97 ff.). 223  Vgl. insbesondere P. Koschaker (1936; 1938). 224  P. Koschaker (1936), S. 148. 225  Dies entspricht auch der kulturökologischen Auffassung von J. H. Steward (vgl. oben C 3 α).



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durch atypische Umstände abgeändert werden könne: etwa aufgrund der aty­ pischen Veranlagung eines Volkes oder aufgrund des atypischen Verlaufs seiner Geschichte. Koschaker war sich im Klaren, dass solche Einschränkun­ gen „die vergleichende Rechtswissenschaft als besondere historische Diszi­ plin im Grunde negieren“ und dass, wenn „die typischen Komponenten nur relativen Wert“ haben, lediglich „Rechtsgeschichte unter Verwendung der komparativen Methode“ übrig bleibe. Was nach seiner Meinung dennoch gefördert werde, sei eine bessere „Einsicht in die Rechtsbildung“226. Während Wenger und Koschaker die Frage vernachlässigten, welche inne­ ren Kräfte eines Volkes sein Rechtssystem entwickeln und nach welchen Ge­ setzen die Entwicklung verläuft, war die Antwort gerade hierauf das Anliegen Rudolph von Jherings.227 Obwohl er vom römischen Recht und seiner Einzig­ artigkeit ausging, war sein Ziel doch, mehr zu liefern als nur eine „nach Zeit und Inhalt angeordnete Zusammenstellung des rechtshistorischen Materials“, verbreitert etwa durch einen vergleichenden Blick auf fremde Rechtsordnun­ gen. Vor Augen stand ihm vielmehr eine „allgemeine Naturlehre des Rechts“, der er dadurch näher zu kommen hoffte, dass er nicht das römische, sondern das universelle Recht am Beispiel des römischen Rechts untersuchte und des­ halb nicht die individuelle Ausgestaltung, sondern den Geist des römischen Rechts zu seinem Thema machte.228 Denn im Geist des römischen Rechts sah er den Geist des Rechts schlechthin und damit des Rechts eines jeden Volkes Gestalt gewinnen. Was aber machte diesen Geist aus? Nach Jhering waren es „jene treibenden Kräfte des Rechts im tiefsten Innern“, die „zwar den ganzen Organismus durchdringen, aber regelmäßig an keinem einzigen Punkt so deut­ lich hervortreten, dass man sie notwendigerweise wahrnehmen müsste“. Es waren „Qualitäten, Charakterzüge der Rechtsinstitute, allgemeine Gedanken, die als solche keiner Anwendung fähig sind, sondern nur auf die Gestaltung der praktischen Sätze des Rechts einen bestimmenden Einfluss haben“229. Al­ lerdings – wie diese Kräfte das Recht vorantreiben, das blieb bei ihm unklar; denn sein Ausgangspunkt, die Lehre vom Recht „als eines objektiven Organis­ mus der menschlichen Freiheit“230, zwang ihn zu der metaphysischen Deu­ tung, dass der Rechtsgeist ein Teil des „schaffenden Weltgeistes“231 sei, der über die Köpfe der Menschen hinweg die Rechtsgeschichte gestaltet. Damit landete er aber im Reich der Spekulation, worin die wissenschaftliche Diskus­ sion ihm nicht mehr folgen konnte. 226  P.

Koschaker (1936), S. 150. (1907). 228  R. von Jhering (1907), S. VII, 24 f. 229  R. von Jhering (1907), S. 45. 230  R. von Jhering (1907), S. 25. 231  R. von Jhering (1907), S. 89. 227  R. von Jhering

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In neuester Zeit hat man an die Stelle der idealistischen Konzeption J­herings deshalb eine (oder mehrere) sozialwissenschaftliche treten lassen und das Recht sowie seine Entwicklung lediglich von einem Außenstand­ punkt aus betrachtet. Doch dadurch hat man zwar die Seiten vertauscht, ist aber genau so einseitig geblieben (weil außer Recht und Soziologie in den neuen Konzeptionen nichts mehr vorkommt232). Man hat übersehen, dass das Recht so wenig wie der Mensch, der sein Schöpfer ist, der Umwelt passiv gegenübersteht, sondern dass beide die Umwelt formen, sozialfeindliche Zustände und Verhaltensweisen bekämpfen, sozialfreundliche fördern233 und damit auf den Selektionsdruck reagieren, dem der Mensch von Seiten der Umwelt ausgesetzt wird. Dieser Selektionsdruck wird auch die zukünftige Formung des Rechts umso stärker bestimmen, je freier der Mensch glaubt, sich gegenüber seiner Umwelt verhalten zu können. Er ist zwar der Schöpfer seines Rechts und der Dirigent seiner Entwicklung; aber sein (oft verderb­ licher) Einfluss auf die Umwelt begrenzt mittelbar sein rechtliches Schöpfer­ tum und wird auch künftig immer mehr Randbegrenzung sein.

D. Bisherige Untersuchungen zur Historiogenese des Rechts (Auswahl) Abschließend will ich einige Untersuchungen zu den genetischen Voraus­ setzungen der Rechtsgeschichte kurz vorstellen, von denen die meisten deren Zusammenhang mit der frühgeschichtlichen Kulturentwicklung betonen. Ich gliedere sie in (1) Studien zum Einfluss humangenetischer Faktoren und Gesetzmäßigkeiten, (2) Studien zum Einfluss ökologischer und soziokultu­ reller Faktoren und Gesetzmäßigkeiten und (3) Studien zum Einfluss autoch­ thoner Faktoren und Gesetzmäßigkeiten auf die Rechtsentwicklung. 1. Untersuchungen zum Einfluss humangenetischer Faktoren Ausgangspunkt der erstgenannten Gruppe von Untersuchungen ist die Be­ obachtung, dass, wie alle soziokulturellen Erscheinungen, so auch das Recht 232  Siehe dazu etwa T. Parsons (1967) und N. Luhmann (1972; 1993, S. 16: „Der Soziologe beobachtet das Recht von außen, der Jurist beobachtet es von innen.“). Zu Luhmann vgl. noch unten 2 b α. 233  J. Monod (1975, S. 114 f.) bringt dazu den Vergleich mit dem Verteidigungs­ system des Organismus gegen ‚fremde‘ Substanzen (z. B. Bakterien oder Viren) durch Antikörper. Diese sind Eiweißstoffe, die einen in den Organismus eingedrungenen Schadstoff erkennen, wenn sie mit ihm schon zuvor einmal (z. B. durch Impfung) Bekanntschaft gemacht haben, und die die Produktion von Zellen fördern, die den Schadstoff bekämpfen.



D. Bisherige Untersuchungen zur Historiogenese des Rechts (Auswahl) 71

sich im Einklang mit den Menschen, die es setzten und ihm gehorchten, entwickelt hat.234 a) Biogenetische Untersuchungen Der österreichische Zivilrechtsdogmatiker Franz Gschnitzer setzte als „Elementargedanken“ an die Stelle von Jherings „schaffendem Weltgeist“ die Prinzipien der natürlichen (biotischen) Evolution.235 Die Akte des Gesetzge­ bers seien vergleichbar mit biotischen Mutationen:236 Ebenso wie diese un­ terlägen sie „weiterer Auslese, wobei freilich im Großen der Eindruck stetiger Entwicklung in bestimmter Richtung [= Orthogenese] erhalten bleibt“. Auch die biotische Differenzierungstendenz habe im Recht ihre Parallele. Beispiel­ haft lasse sich das an der Gebrauchsüberlassung verdeutlichen: Von der Ur­ leihe führe die Entwicklung über die römische locatio conductio im österrei­ chischen ABGB zur Aufspaltung in den Bestandvertrag, der wiederum in Miete und Pacht divergiert, und in den Lohnvertrag, der sich wieder in den Dienst- und Werkvertrag gabelt, wobei der Dienstvertrag sich zum großen Gebiet des Arbeitsrechts ausgewachsen und auch der Werkvertrag zahlreiche Sonderformen (Beförderungsvertrag, Kommission, Verlagsvertrag) hervorge­ bracht hat. Resümierend schreibt er: „Wenn wir im Recht von Ahnenreihen, Urtypen, Mutationen, Selektion, Adaption, Senilismen sprechen, kann das nur im übertragenen Sinn gemeint sein, weil sich alle diese Vorgänge nur unter Dazwischenkunft des Menschen vollziehen, der die Rechtsinstitute ererbt oder erzeugt. Nicht Vererbung, sondern Tradition finden wir vor. Und doch ist das Gesamtergebnis so, als ob eine biologische Vererbung statt­ gefunden hätte. Ich glaube, dies so erklären zu können: Der Mensch ist nach Na­ turgesetzen gebildet, es ist daher nicht verwunderlich, dass das, was er hervor­ bringt, den gleichen Gesetzen wie er selbst unterworfen ist. Das Gegenteil wäre unnatürlich.“

234  J. Kohler (1923), § 5 II: „Das Recht kann nicht ein gleiches bleiben. Es muss sich der jeweils wandelbaren Kultur anpassen und so gestaltet sein, dass es den wech­ selnden Kulturanforderungen entspricht.“ Ferner E.-J. Lampe (1974), S. 153  ff., 162 ff. 235  F. Gschnitzer (1946). 236  Vgl. aber L. Cavalli-Sforza/M. W. Feldman (1981), p. 65 f.: „Mutation is typi­ cally an error in copy, which as a result is not identical to the master, or it is a chemical change in the master to be copied. … In the cultural process the change is not necessarily a copying error, but can often be directed innovation.“ E.-J. Lampe (1987), S. 26 f.: „Die genetische Differenzierung entsteht … als ein Produkt von Zu­ fall und Notwendigkeit. Die juristische Differenzierung dagegen wird typischerweise weder zufällig noch notwendig herbeigeführt, sondern wohlüberlegt und vernünftig.“

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Einige Jahrzehnte später knüpfte Herbert Zemen – auch er ein österreichi­ scher Zivilrechtler – an dieses Resümee an.237 Allerdings sah er die steigende Komplexität der Rechtskultur und die Vereinheitlichung divergierender Rechtskulturen weniger durch die biotische Evolution begründet als vielmehr durch die „Zielstrebigkeit der menschlichen Natur“238. Und im weiteren Ver­ lauf seiner Arbeit versuchte er sogar, „alle Eigenschaften des [natürlichen] Evolutionsprinzips“ in dieses Konzept einzubeziehen. Das Schwergewicht seiner Untersuchung blieb allerdings eindeutig das Evolutionsgesetz der Di­ vergenz. Denn für entscheidend hielt er, welches von mehreren divergieren­ den Rechten sich durch seine „innere Qualität“ gegenüber dem selegierenden Druck der übrigen behaupten bzw. sogar expandieren kann. Als diese innere Qualität bezeichnete er (anstelle des ökonomischen Nutzens)239 die Fähigkeit des Rechts zur Integration all seiner Institutionen – insbesondere der drei Institutionen der Staatsgewalt (föderatives, Gewaltenteilungs- und Rechts­ schutzsystem) – in ein einheitliches Gesamtsystem und damit die Sicherung einer einheitlichen Rechtsordnung. „Die Spezialisierung und Auffächerung der Rechtsordnung in Disziplinen“ müsse in der dogmatischen Systembil­ dung ihr Gegengewicht erhalten. b) Psychogenetische Untersuchungen Noch einen Schritt weiter als Zemen entfernte sich Georg W. Oesterdiekhoff vom biogenetischen Konzept. Stattdessen unternahm er es, die Entwick­ lung von Rechtseinrichtungen mittels der psychogenetischen Erkenntnistheo­ rie Piagets240 zu erklären: In den frühen Kulturen seien die traditionellen Familienstrukturen und der Ahnenkult, Erfolgshaftung, Racherecht und Or­ dalverfahren Ausflüsse eines präformalen, das Ordalverfahren Ausfluss eines magisch-animistischen Denkens gewesen;241 in den fortgeschrittenen Kultu­ ren dagegen hätten analytisches Denken und wissenschaftliche Weltsicht diese Wirklichkeitskonstruktion überwunden und einem rationalen Rechts­ verständnis Platz gemacht.242

237  H. Zemen 238  Kritisch

(1983). zu diesem Ausgangspunkt meine Besprechung in: ARSP 72 (1986),

S.  144 ff. 239  Zur ökonomischen Theorie des Rechts vgl. unten D 2 a. 240  Zu ihr vgl. oben C 2 c bb α. 241  G. W. Oesterdiekhoff (1997), S. 88 ff., 115 ff. 242  G. W. Oesterdiekhoff (1997), S.  183 ff.



D. Bisherige Untersuchungen zur Historiogenese des Rechts (Auswahl) 73

c) Ethnogenetische Untersuchungen Aus der großen Zahl ethnologischer Untersuchungen243 seien lediglich diejenigen von Paul Vinogradoff und von E. Adamson Hoebel hervorgeho­ ben. Vinogradoff vertrat zur Rechtsevolution die Ansicht, dass rechtliche Prinzipien „veränderliche Entitäten [sind], die verschiedene Entwicklungssta­ dien durchlaufen: undifferenzierten Anfang, allmähliche Differenzierung, Kämpfe und Kompromisse, Wachstum und Verfall“244. Die Gründe für ihren Wandel stimmten mit denen überein, die nach dem heutigen Stand der Evo­ lutionsbiologie in der gesamten Natur gelten. Hoebel stimmte diesem Ansatz in einer Reihe von Einzeluntersuchungen zu245 und kam zu dem Schluss:246 „Wie die Gesellschaft und die Kultur, so ist auch das Recht in seiner Entwicklung dadurch gekennzeichnet, dass es immer komplexer wurde. […] Es ist zugleich die Tendenz offenkundig geworden, das Vorrecht der Verfolgung eines Delikts und der Verhängung rechtlicher Zwangsmaßnahmen vom Individuum und seiner Verwandt­ schaftsgruppe auf beauftragte Repräsentanten der Gesellschaft mit klaren Kompe­ tenzen zu übertragen. […] Richterliche Aufgaben gewinnen allgemein gegenüber der bloßen Rechtsetzung stetig an Bedeutung.“

d) Eigene Untersuchungen Die bisher referierten Äußerungen – mit Ausnahme derjenigen Oesterdiek­ hoffs – beschränkten sich darauf, das Grundmuster der biotischen Evolution (Mutation, Selektion, Stabilisation) auf die Rechtsentwicklung zu übertragen. Bei den Gleichsetzungen ‚rechtliche Neuerungen = Genmutationen‘ und ‚Beibehaltung/Ablehnung solcher Neuerungen = natürliche Auslese‘ handelt es sich jedoch nur um relativ unverbindliche Analogien. Ich selbst habe 243  Auf die große Zahl von Untersuchungen im Sammelband von W. Fikent­ scher/H. Franke/O. Köhler (1980) sei hier nur pauschal hingewiesen. Sie werden je­ weils in den historischen Abschnitten F und G der vorliegenden Untersuchung ausge­ wertet. 244  P. Vinogradoff (1920), p. 160: „Mobile entities, passing through various stages: different beginnings, gradual differentiation, struggles and compromises, growth and decay“. Ähnlich äußert sich wenig später O. Spengler (1923), S. 29: „Jede Kultur hat ihre eigenen Möglichkeiten des Ausdrucks, die erscheinen, reifen, verwelken und nie wiederkehren.“ 245  Hoebels Beweisführung beruhte auf Studien an den indigenen Völkern Ameri­ kas und Afrikas. Andere Forscher, die ihre Untersuchungen auf andere Regionen und weitere Rechtsordnungen erstreckt haben, sind indes zu keinen wesentlich anderen Erkenntnissen gelangt. Vgl. die Literaturhinweise bei U. Wesel (1985), S. 356 ff. Rei­ ches Material aus der Feder älterer „Forschungsreisender und Gelehrter“ überliefert A. H. Post (1894–95/1970). 246  E. A. Hoebel (1968), S. 364, 412 f.

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nachzuweisen versucht,247 dass weitere Gesetzmäßigkeiten der biotischen Evolution248 der Redeweise von einer ‚Evolution [auch] des Rechts‘ mehr Berechtigung verleihen.249 Mein Ausgangspunkt war, dass eine Rechtsordnung zwar – gleich einem biotischen Organismus – ein in sich geschlossenes, nach außen aber offenes System ist, das einerseits aufgrund von Impulsen aus der Umwelt seine Ak­ teure, andererseits aufgrund von Impulsen seiner Akteure die Umwelt verän­ dert.250 Das System lasse darüber hinaus gleich einem Bioorganismus eine Zunahme seines Differenzierungsgrades erkennen (Auseinandertreten von Zivilrecht und Strafrecht, Vertrag und Delikt u. a. m.) mit der Folge, dass Rechtsprobleme nicht mehr aufgrund abstrakter Rechtsprinzipien oder vager Analogien gelöst werden müssen, sondern aufgrund unmittelbar anwendbarer Spezialregelungen. Die aus der biologischen Sphäre bekannte Spezialisation kehre mithin im Recht wieder (lex specialis derogat legi generali). Rückläu­ fig komme es ferner zur Ausbildung von ‚unselbstständigen‘ Normen, deren Funktion darin bestehe, die diversen Spezialnormen in die einheitliche Ge­ stalt eines Rechtsinstituts oder eines Rechtsgesetzes und schließlich in die ‚Einheit der Rechtsordnung‘ zu integrieren. Ohne eine solche Integrationsleistung wäre das Recht von Widersprüchen und bizarren Wucherungser­ scheinungen nicht frei. Und damit die Integration gelingt, gebe es zusätzlich Zentraleinheiten als höchste Kompetenzen bzw. Werte für Gesetzgebung, Gesetzesauslegung und Gesetzesanwendung – etwa die eines obersten Ge­ 247  Zum Folgenden E.-J. Lampe (1987), S. 41 ff., 67 ff. Ob die Annahme homolo­ ger Prozesse in Biologie und Recht auch für die Kultur insgesamt oder nur für ein­ zelne ihrer Bereiche gilt, habe ich nicht erörtert; das Problem kann m. E. nur empi­ risch gelöst werden. 248  Dazu B. Rensch (1991), S.  140 ff.; F. M. Wuketits (1989), S. 87 ff.; (1984), S. 33 ff. 249  Dazu auch Ch. Henke (2010), S. 105 ff. 250  Die These, dass Bioorganismen den von außen auf sie einwirkenden Einflüssen nicht einfach ausgeliefert sind, sondern auch selber ihre Evolution steuern, und dass diese Steuerung an den Veränderungen zum Ausdruck kommt, die sie an der Umwelt vornehmen, ist von mir seinerzeit eher intuitiv als wissenschaftlich entwickelt wor­ den. Die seit den 70er Jahren von der „Senckenbergischen Arbeitsgruppe Phylogene­ tik“ in Frankfurt M. angestellten, in die gleiche Richtung gehenden Untersuchungen waren mir seinerzeit unbekannt. Inzwischen haben sich ihre Ergebnisse (als „Kriti­ sche Evolutionstheorie“ bzw. „Hydroskelett-Theorie“) weitgehend durchgesetzt und zur Annahme einer auf den Organismus zentrierten neuen Evolutionstheorie geführt, wonach Organismen hydraulische, energiewandelnde (1. Hauptsatz der Thermophy­ sik!) Konstruktionen sind, die, statt sich an ihre Umwelt anzupassen, ihren Lebens­ raum nach Maßgabe ihrer Konstruktions- und Funktionsbedingungen selbst erschlie­ ßen. Soweit die Evolution allein auf die Aktivität der Organismen zurückgeführt wird, erscheint mir die Theorie allerdings als zu einseitig. M. E. sind Organismen autonome Subjekte der Evolution, die mit ihrer Umwelt in einem ständigen wechselseitigen Anbzw. Einpassungsprozess stehen. In diese Richtung gehen auch die Ausführungen von F. M. Wuketits (2000), S.  66 ff.



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setzgebers, einer obersten Rechtsprechungsinstanz und einer obersten Leit­ linie für die Auslegung des Rechts (‚Willkürverbot‘). Für all dies fänden sich Parallelen auch in der biotischen Evolution. Der erste Vorteil einer solchen ‚Evolution‘ bestehe darin, dass ein mittels Differenzierung und Spezialisation, Integration und Zentralisation sich ent­ wickelndes Rechtssystem auf intrasozietäre Ereignisse aller Art hochsensibel reagieren kann – dass es m. a. W. jene Plastizität (Anpassungsfähigkeit) ge­ genüber der gesellschaftlichen Umwelt besitzt, die der von Lebewesen ge­ genüber ihrer natürlichen Umwelt gleicht.251 Der zweite Vorteil bestehe darin, dass die ‚Evolution‘ des Rechtssystems eine fortschreitende Rationalisierung ermöglicht: zum einen der sozialen Sachverhalte in schriftlich fixierten ‚Tat­ beständen‘ und ihnen zugeordneten ‚Rechtsfolgen‘, zum anderen der sitt­ lichen Grundlagen in (General-)Klauseln, die durch intellektuelle Begrün­ dung (etwa aus der Natur der Sache bzw. des Menschen) das kompensieren, was ihnen an sittlicher Sanktion inzwischen verloren gegangen ist. Abschließend habe ich noch zu den beiden hoch umstrittenen Fragen Stel­ lung genommen: ob die juristische Evolution insgesamt irreversibel verläuft und ob sie orthogenetisch über alle menschlichen Bemühungen, in sie einzu­ greifen, hinweggegangen ist? Meine Stellungnahme lautet: Anfangs habe zwar noch gegolten, dass die normative Evolution eine Fortsetzung der bio­ logischen Evolution und deshalb gegenüber allen Bemühungen, in sie einzu­ greifen, irreversibel ist. Spätestens seit der Sesshaftigkeit252 aber sei sie bio­ logisch kaum noch determiniert gewesen. Nicht, dass der Mensch sein nor­ matives Zusammenleben nunmehr völlig voraussetzungs- und richtungslos hätte gestalten können; seine Normen blieben vielmehr an die Evolution insbesondere seiner Psyche und seines Geistes gebunden. Aber diese Bin­ dung determinierte die Rechtsentwicklung nicht mehr in dem Maße, dass sie vorhersagbar gewesen wäre; sie gab lediglich ein generelles Spektrum vor, innerhalb dessen ihr Weiterschreiten orthogenetisch auf den einmal einge­ schlagenen Weg begrenzt war (Stichwort: ‚Pfadabhängigkeit‘). e) Neueste Untersuchungen In den letzten Jahren hat die Zahl der Veröffentlichungen zu evolutionären Tendenzen, die die Geschichte des Rechts teils begleiten, teils steuern, zuge­ zusätzlich M. Bock (1997). ersten Formen der Sesshaftigkeit stammen – noch vor Einführung des Ackerbaus – aus der Natuf-Kultur zwischen Euphrat und Sinai (12500–10000). Als erste stadtähnliche Siedlung sind uns Jericho in Palästina (8. bis 6. Jt.) mit ca. 2.000 Einwohnern und Çatal Hüyük in der Türkei (etwa 6200 bis 5400) mit etwa 5–6.000 Einwohnern bekannt. 251  Vgl. 252  Die

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nommen. Einige davon habe ich in der Vergangenheit rezensiert,253 andere will ich im Folgenden kurz referieren. (α) Auf Strukturähnlichkeiten zwischen der biologischen Evolution und der des Rechts hat Helmut Helsper in seiner 1989 erschienenen Monographie „Die Vorschriften der Evolution für das Recht“ hingewiesen. Die Bedeutung seiner mit vielen Beispielen belegten Untersuchung für die Historiogenese des Rechts ist allerdings eng begrenzt. Erwähnt sei darum nur: Gesetzgebung be­ deutet für Helsper „Evolution machen“254, d. h. der bestehenden teleonomen Ausrichtung der natürlichen Evolution sinnorientierte Komponenten hinzufü­ gen, die aufeinander aufbauen und sich ergänzen. Zu den Vorgaben der bioti­ schen Evolution für die Kultur gehöre daher, dass das Erkennen innerhalb komplexer Systeme grundsätzlich auf Hierarchieebenen verteilt und deshalb auf jeder Ebene nur ein Merkmalsausschnitt aus der Fülle der Einzeltatsachen relevant wird: Wie das Tier nur auf diejenigen Signale achten muss, für die ihm die Natur genetische Muster mitgegeben hat, so müsse auch der Mensch als Adressat von Rechtsnormen lediglich auf diejenigen Merkmale reagieren, die der Gesetzgeber seinen Normen zugrunde gelegt hat.255 Entsprechendes gelte für die staatlichen Behörden: Sie bräuchten nur denjenigen Teil der sozi­ alen Umwelt zu verwalten, den sie überblicken, während sie den Rest der Selbstorganisation der daran Beteiligten überlassen dürfen.256 (β) Näher dem hier behandelten Thema steht die Dissertation von Alexandre von Rohr, die sich unter dem Titel „Evolutionsbiologische Grundlagen des Rechts“ allerdings nur mit dem Einfluss des natürlichen (genetischen und neuronalen) Informationsflusses auf das im Übrigen normgelenkte mensch­ liche Verhalten befasst257 und diesen Einfluss am Beispiel des rechtlichen Vertrauensschutzes exemplifiziert. Der Verfasser begreift biotische und kul­ turelle Evolution als eine (koevoluierende) Einheit. Die Bestandteile dieser Einheit, Natur und Kultur, evoluierten allerdings mit unterschiedlicher Ge­ schwindigkeit: der biotische Bestandteil relativ träge, der kulturelle dafür umso schneller, heute in geradezu rasendem Tempo.258 Die Rechtsentwick­ 253  In ARSP 69 (1983), S. 282 ff. (betr. F.-H. Schmidt, Verhaltensforschung und Recht. Ethologische Materialien zu einer Rechtsanthropologie); ARSP 70 (1984), S.  186 ff. (betr. W. Schurig, Überlegungen zum Einfluss biosoziologischer Strukturen auf das Rechtsverhalten); ARSP 71 (1985), S. 131 ff. (betr. E. Quambusch, Recht und genetisches Programm. Ansätze zur Neubelebung des Naturrechtsgedankens); ARSP 72 (1986), S. 144 ff. (betr. H. Zemen, s. o. D 1 b). 254  H. Helsper (1989), S. 89. 255  H. Helsper (1989), S. 73 ff. 256  H. Helsper (1989), S. 123 ff. 257  Die Verhaltensregulation durch das Recht stellt auch die „Rechtsethologie“ von H. Hof (1996) in ihren Mittelpunkt. 258  A. von Rohr (2001), S. 20.



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lung teile die Schnelligkeit der kulturellen Evolution:259 Sie trage mittels ei­ ner ständig anschwellenden Flut von neuen Normen dem sozialen Bedarf nach Festigung der menschlichen Verhaltensplastizität in der Umwelt Rech­ nung. Und ihre Mittel seien überdies dieselben wie die der biotischen Evolu­ tion: nämlich ständige Differenzierung und Spezialisierung des vorhandenen Normenrepertoires. Irreversibel sei dabei die Zunahme an rationaler Begrün­ detheit des Rechts, d. h. das Beruhen auf Informationen, die der Mensch durch sein phylogenetisches Erbe und durch seinen ontogenetischen Erfah­ rungsschatz, vor allem aber durch seine Teilhabe am Informationspool der Kulturgemeinschaft erhält.260 Dies alles schließe eine Rückkehr zu abergläu­ bischen Verhaltensdirektiven aus.261 Das genetische Erbe sei daneben unter­ schiedlich bedeutsam: Subkortikale Informationen bewirkten u. a. die Unter­ scheidung von Recht und Pflicht, darüber hinaus die Achtung von Territoria­ lität, Besitz und Eigentum;262 das genetisch jüngere limbische System gene­ riere darüber hinaus den Sinn für eine optimal gerechte Ressourcenverteilung;263 und dem Erkenntnispotential des Neokortex als jüngstem Teil des Gehirns stehe der gesamte Normenvorrat einer Kultur zur Verfügung einschließlich der Kraft zur Produktion neuer Normen.264 (γ) Noch stärker verbunden der vorliegend behandelten Thematik verbun­ den ist die Arbeit von Christoph Henke „Über die Evolution des Rechts“. Im Gegensatz zur hier gebrauchten Terminologie versteht Henke unter „Rechts­ evolution“ allerdings einen „allmählichen, nicht umkehrbaren Wandel des Rechts … mit bestimmter Richtung“265 und bezieht infolgedessen auch Devo­ lutionserscheinungen in den Begriff ein. Evolutiv sind für ihn alle „Verände­ rungen des Rechts“266, irreversibel allerdings nur die Entwicklungen ganzer Rechtsordnungen, weil jede Rechtsevolution „selbst bei scheinbarer Rückent­ wicklung neue Wege einschlägt“.267 Die einzelnen Rechtsnormen unterstän­ den der Darwinschen Trias von Mutation, Selektion und Stabilisierung, die von ihrer biologisch-genetischen Grundlage abzulösen und als Versuch-undIrrtum-Prinzip zu begreifen seien. Damit weitet Henke das Untersuchungsfeld der Rechtsevolution freilich ins nahezu Unendliche aus – stehen doch fast alle

259  A.

von Rohr (2001), S. 22. von Rohr (2001), S. 36 ff. 261  A. von Rohr (2001), S. 22 f. 262  A. von Rohr (2001), S. 101 f., 72 ff. 263  A. von Rohr (2001), S. 102 ff. 264  A. von Rohr (2001), S. 108 ff., 124 ff. 265  Ch. Henke (2010), S. 26. 266  Ch. Henke (2010), S. 102. 267  Ch. Henke (2010), S. 106. 260  A.

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Rechtsnormen unter dem Vorbehalt ihrer Bewährung.268 Weitere Begren­ zungsprinzipien aufgrund von Orthogenese und Anagenese kommen dagegen bei ihm nicht ins Spiel, die Tendenz von Rechtsordnungen zu höherer Kom­ plexität schlägt er ihrer „Fortschrittlichkeit“ zu.269 Insgesamt enthält seine Un­ tersuchung aber viele neue und beachtenswerte Erkenntnisse, auf die ich im Rahmen der vorliegenden Untersuchung zurückkommen werde. (δ) Unter den in letzter Zeit veröffentlichen Untersuchungen, welche Rechtsgeschichte und Evolutionstheorie bewusst verbinden, m. a. W. „Rechts­ geschichte als Geschichte von der Evolution des Rechts zu (be)schreiben“ suchen, ragt die von Marie Theres Fögen hervor.270 Angeregt vom römischen Geschichts- (und Geschichten-)schreiber Livius, schreibt sie die römische Rechtsgeschichte in mehreren Geschichten auf, worin sie „die Bedingungen der Möglichkeit“ benennt, „dass Recht so wurde, wie wir es in jeweiligen historischen und gegenwärtigen Situationen vorfinden“271. In ihrer ersten Geschichte, auf die ich mich an dieser Stelle beschränke,272 geht es um den Selbstmord der Lukretia nach einer Vergewaltigung durch den Königssohn Sextus Tarquinius, worin Fögen, der Sage folgend, den Ursprung der römi­ schen Republik erkennt. Fögen knüpft dabei an Theodor Mommsens Be­ hauptung an, es bedürfe „keiner Erklärung, aus welchen Gründen in Rom die Consuln an die Stelle der Könige getreten sind; der Organismus der alten griechischen und italischen Politie entwickelt vielmehr die Beschränkung der lebenslänglichen Gemeindevorstandschaft [d. i. des Königstums] auf eine kürzere meistenteils jährige Frist mit einer gewissen Naturnothwendigkeit aus sich selber“.273 Dazu bemerkt Fögen kritisch, dass die Auffassung, die menschliche Geschichte entwickle sich „mit einer gewissen Naturnotwendig­ keit“, inzwischen zerbröselt sei und der Ungewissheit auch über die Entste­ hung der römischen Republik Platz gemacht habe.274 Was stattfand, sei eine im Vorhinein eher unwahrscheinliche Evolution gewesen. Deren ersten Akt, die „Variation“, habe die allgemeine soziale Erregung über den öffentlichen Selbstmord der Lukretia nach ihrer Vergewaltigung gebildet. Als zweiter Akt sei ihm die „Selektion“ aus mehreren Möglichkeiten zur Veränderung der Ch. Henke (2010), S. 134. Henke (2010), S. 125 f. 270  M. Th. Fögen (2003), S. 16. Sehr kritische Besprechung ihres Buches durch H. H. Jakobs in: Savigny-Zeitschr. (romanist. Abt.) 120 (2003), S. 200 ff. 271  M. Th. Fögen (2003), S. 17. Sie stützt sich dabei u. a. auf N. Luhmann (1993 u. ö.) und G. Teubner (1989). 272  Zur zweiten Geschichte von der tugendhaften Verginia vgl. unten H 4 e γ. Zum wissenschaftlichen Ansatz an erzählten Geschichten zum Zwecke der historischen Untersuchung vgl. oben Fn. 6. 273  Th. Mommsen (1856), S. 227 (Hervorhebung von mir). 274  M. Th. Fögen (2003), S. 23 f. 268  Vgl. 269  Ch.



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politischen Realität gefolgt. Dass hierbei die Wahl gerade auf die Republik fiel, sei der Absicht zu verdanken gewesen, durch Umbenennung und Ver­ dopplung der Herrscherstellung eine gewisse Kontinuität zu wahren: An die Stelle des einen sollten nunmehr zwei Herrscher treten, an die Stelle des Königs zwei Konsuln. Die „Restabilisation“ der neuen Republik schließlich sei die Hinrichtung der Söhne des Brutus gewesen, weil sie versucht hatten, die Monarchie wiederherzustellen.275 Allerdings: Zeigt Fögen damit wirklich so etwas wie eine Rechtsevolution auf? Sie unterscheidet zwischen Evolution und Entwicklung: „Entwicklung“ bedeute einen li­ nearen Prozess, der es erlaubt, ein Phänomen auf ein anderes und dieses wiederum auf ein noch früheres zurückzuführen usf.; „Evolution“ dagegen beziehe sich auch auf die Gründe für die Aufeinanderfolge: Sie registriert, dass wir sie „hilflos und ratlos als ‚Zufälle‘ bezeichnen“ müssen.276 War also die dargestellte, mit Lukretias Selbstmord beginnende, Entwicklung Zufall? Aus Sicht der Historiker mögen es Lu­ kretias Vergewaltigung und ihr anschließender Selbstmord gewesen sein. Der nach­ folgenden Entwicklung dagegen lag, wie sowohl Mommsen als auch lange vor ihm schon Machiavelli erkannten, eine in der Verfassung Roms begründete „gewisse Na­ turnothwendigkeit“ zugrunde, weshalb, wenn nicht dieser, so ein anderer Anlass die­ selbe ‚Entwicklung‘ auslösen konnte. Nur aus der Art der römischen Verfassung nämlich erklärt sich, welche Gedanken die damaligen Akteure, an ihrer Spitze Brutus, sich über die Selektion der möglichen Folgen machten, und warum sie in der Hin­ wendung zur Republik das Optimum dessen erkannten, was aus damaliger Sicht die Zustimmung des römischen Volkes zu finden vermochte. Gewiss war es dann keine Naturnotwendigkeit, welche die Entwicklung vorantrieb, wohl aber eine in der dama­ ligen Situation angelegte historiogenetische Notwendigkeit (‚Tendenz‘). Und wenn später das römische Volk dennoch wieder zur Monarchie zurückkehrte und Augustus zum Kaiser krönte, dann war diese Monarchie aufgrund dessen, was ihr voranging, notwendig (‚tendenziell‘) eine andere als diejenige, die einst unter den Königen be­ stand. Denn nichts in der Geschichte wiederholt sich, ihr Verlauf ist so irreversibel wie die Zeit, worin sie geschieht!

Als überwiegend richtig erscheint es mir, wenn Fögen die Bedeutung sozi­ aler und staatlicher Veränderungen auf die Evolution des römischen Rechts als marginal beurteilt: „Das Recht nahm gerade so viel ‚Leben‘ auf, wie es … benötigte, und so viel, wie es verarbeiten konnte und wollte. Es nahm letzthin so wenig Leben auf, dass römisches Recht weitgehend geschichtslos, namenlos und zeitlos erscheint. Es kannte nur seine eigene Zeit, … in der es keine Menschen und keine Ereignisse gab, in der nur eines stattfand: juristi­ sche Dogmatik.“277 Eine spätere Zeit allerdings, das europäische Mittelalter, wurde der historischen Möglichkeiten gewahr, die im römischen Recht ange­ legt waren. Und sie ergriff sie, um soziale Streitigkeiten als juristische aus­ 275  M. Th. Fögen

(2003), S. 25 ff., 27 ff., 56. (2003), S. 18. 277  M. Th. Fögen (2003), S. 210. 276  M. Th. Fögen

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zufechten – etwa indem sie das Verhältnis zwischen Staat und Bürger als ein rechtsvertragliches darstellte. f) Exkurs zur Sprachentwicklung Abschließend zur Untersuchung humangenetischer Faktoren für die Rechtsentwicklung möchte ich kurz noch auf einige Tendenzen in der menschlichen Sprachentwicklung hinweisen: weil zum einen die Sprache für den Menschen als homo loquens eine unentbehrliche Voraussetzung für die soziale Kommunikation278 und für die Entwicklung von Normen war, und weil zum anderen „das Recht wie die Sprache im Bewusstsein des Volkes lebt“279 und deshalb beide, Sprache und Recht, ähnliche Entwicklungen durchlaufen mussten.280 Zunächst: Was ist ‚Sprache‘? Einigkeit besteht hinsichtlich ihrer mechanischen Erzeugung durch den Stimmapparat und ihres mechanischen Vernehmens durch den Hörapparat. Erforscht sind ferner die physiologischen Erfordernisse für bedeutsames 278  A. Allott (1974), S. 124: „Law is an ordered set of rules for the structuring of human behaviour in society. … Language is an ordered set of rules which embodies and structures human communication within a society.“ Zu beachten ist allerdings: Sprache ist nicht nur Mittel des Denkens, sich anderen mitzuteilen, sondern auch Formung des Denkens: zum einen durch die Art und Weise, wie ihr Wortschatz die Welt abbildet oder konstruiert, zum anderen durch die Art und Weise, wie sie sich (schriftlich, mündlich oder durch Gebärden) darstellt. 279  F. C. von Savigny (1814), S. 8. Ferner S. 11: „Dieser organische Zusammen­ hang des Rechts mit dem Wesen und Charakter des Volkes bewährt sich auch im Fortgang der Zeiten, und auch hierin ist es der Sprache zu vergleichen. So wie für diese, gibt es auch für das Recht keinen Augenblick eines absoluten Stillstandes, es ist derselben Bewegung und Entwicklung unterworfen …“ Eingehende Stellung­ nahme dazu bei A. Dufour (1974), der dem Vergleich einen hauptsächlich (wenn auch nicht ausschließlich) rhetorischen Charakter zumisst (p. 168 f.). Zur Rechtsforschung mittels „Etymologie von Rechtsausdrücken“ vgl. B. Grossfeld (1984), S. 165 ff. 280  Was Ch. Darwin (1871/1992), I. Teil, Kap. 3, von den unterschiedlichen Spra­ chen sagt, lässt sich daher ebenso von den unterschiedlichen Rechtsordnungen der Menschen sagen: „Man kann sie entweder natürlich nach ihrer Abstammung oder künstlich nach anderen Charakteren klassifizieren. Herrschende Sprachen und Dia­ lekte verbreiten sich weit und führen allmählich zur Ausrottung anderer Sprachen. Ist eine Sprache ausgestorben, so erscheint sie … gleich einer Spezies niemals wieder. Ein und dieselbe Sprache hat nie zwei Geburtsstätten. Verschiedene Sprachen können sich kreuzen oder miteinander verschmelzen. Wir sehen in jeder Sprache Variabilität, und neue Wörter tauchen beständig auf; da es aber für das Erinnerungsvermögen eine Grenze gibt, so sterben einzelne Wörter wie ganze Sprachen allmählich ganz aus. Max Müller hat sehr richtig bemerkt: ‚In jeder Sprache findet beständig ein Kampf um’s Dasein zwischen den Wörtern und grammatischen Formen statt: Die besseren, kürzeren, leichteren Formen erlangen beständig die Oberhand, und sie verdanken ih­ ren Erfolg ihrer eigenen inhärenten Kraft.‘ … Das Überleben oder die Beibehaltung gewisser begünstigter Wörter in dem Kampfe um’s Dasein ist natürliche Zuchtwahl.“



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Sprechen (‚Broca‘-Zentrum des Gehirns) und für Verstehen von Sprachbedeutung (‚Wernicke‘-Zentrum des Gehirns). Die Sprache selbst wird als ein System von sym­ bolischen Zeichen (Wortschatz, ‚Lexikon‘) begriffen, um insbesondere Mitteilungen zu machen, Erfahrungen auszutauschen und Regeln (u. a. auch rechtliche) vorzuge­ ben. Die konstruktive Verbindung mehrerer symbolischer Zeichen zu einem ‚Satz‘ von Wörtern geschieht nach bestimmten Ge‚setzen‘, die zu einer ‚Satz‘lehre zusam­ mengefasst werden können und auch für das Recht verbindlich ist. Der Grammatiker steht über dem Gesetzgeber! Daneben gibt es Akzidenzien, durch die die einzelnen Sprachen sich unterscheiden: u. a. unterschiedliche Bezeichnungen für die Gegenstän­ de, die der jeweiligen Umwelt oder der gemeinsamen Vorstellungswelt angehören, sowie für die Eigenschaften der Gegenstände und die Relationen zwischen ihnen.

Unstreitig ist, dass die Entstehung der Sprache der des Rechts weit vor­ ausging.281 Eine Protosprache besaß wahrscheinlich bereits Homo rudolfensis vor zwei Millionen Jahren, spätestens aber Homo erectus vor 1,6 Millionen Jahren. Denn das Sozialleben und die Herstellung von Artefakten waren zu dieser Zeit schon so komplex, dass die Verständigung hierüber nicht mehr ausschließlich mittels Gesten erfolgen konnte, sondern zusätzlich282 verbaler Äußerungen bedurfte. Der weitere Verlauf der Sprachevolution283 lässt sich 281  Dagegen wird über den Ursprung der Sprache viel gestritten. Den dazu aufge­ stellten Theorien ist gemeinsam, dass sie weder zu beweisen noch zu widerlegen sind. Als höchst unwahrscheinlich gilt, dass Gott den Menschen die Sprache gab oder dass ein genialer Frühmensch sie erfand. Sprache ist vielmehr ein Produkt der menschli­ chen Evolution, möglicherweise dasjenige Produkt, welches homo einst den entschei­ denden Überlebensvorteil brachte. Eine Kritik der Annahme, dass die menschliche Sprache aus der tierischen Kommunikation hervorgegangen sei und daher zwischen ihr und den niederen Formen der Kommunikation keine wesentlichen Unterschiede, wohl aber eine kontinuierliche Höherentwicklung bestehe, findet sich bei E. H. Lenneberg (1967/1977), S. 277 ff. Er vertritt stattdessen eine Diskontinuitätstheorie, wo­ nach das menschliche Sprachvermögen auf gewisse artspezifische Veränderungen im genetischen Material zurückgeht, die vor der Entstehung menschlicher Rassenunter­ schiede stattgefunden habe und kein Analogon in der tierischen Kommunikation auf­ weise (S. 287 ff.). Neuere Veröffentlichungen, deren Zahl seit den späten 1980er Jahren stark angeschwollen ist, stammen von Vertretern der Evolutionären Anthropo­ logie, Kognitionswissenschaftlern sowie Psycho- und Neurolinguisten. Interessant erscheint mir vor allem die Spiegelneuronen-Theorie: Die (zunächst bei Affen beob­ achtete) Aktivierung motorischer Areale im Gehirn bei der Beobachtung von Greifbe­ wegungen habe sich allmählich auf manuell-faciale Gesten, die zur Kommunikation verwendet wurden, ausgedehnt und sich schließlich auch auf vokalische Gesten er­ streckt (vgl. G. Rizzolatti & W. I. Arbib, 1998; W. I. Arbib, 2005). Die vokal-audito­ rische Modalität der Kommunikation habe anschließend Priorität über die manuellvisuelle gewonnen, weil sie vom Sichtkontakt der Kommunikationspartner unabhän­ gig war. Und sofern mehrere Gruppen von Frühmenschen von ihr Gebrauch machten, könnten von Anfang an mehrere Sprachen entstanden sein. 282  Vgl. dazu D. McNeill (2012). 283  Dazu wiederum E. H. Lenneberg (1967/1977), S. 469 ff.: Wir haben es (a) auf der Ebene der latenten Sprachstruktur mit einer biologischen Evolution auf der Grundlage von mutmaßlichen Veränderungen in der Molekularstruktur des Gehirns

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allerdings nur vage rekonstruieren. Das isolierte Wort dürfte dem Satz vor­ ausgegangen sein. Aufgrund von Computersimulationen284 lässt sich ferner annehmen, dass – entsprechend dem heutigen Spracherwerb des Kindes285 – zunächst einfache, nur Subjekt und Prädikat umfassende Sätze generiert wurden, erst später Sätze mit differenzierterer Syntax. Vor allem in neolithi­ scher Zeit dürften die Sprachen dann wesentlich komplexer und differenzier­ ter geworden sein, indem sie neue Wörter akkumulierten, neue syntaktische Konstruktionen generierten und somit denselben evolutionären Prozess durchliefen wie gleichzeitig die sozialen Verhältnisse. Teilweise ausgeglichen wurden diese Prozesse wahrscheinlich durch Reduktionstendenzen, indem Redundanzen in den sprachlichen Begriffen und Konstruktionen beseitigt wurden286 und generalisierende Begriffe die Kommunikation vereinfach­ ten.287 Beispielsweise konnten an die Stelle von Begriffen, die spezielle Vorstellungen benennen, solche mit allgemeinerem Vorstellungsgehalt treten,288 an die Stelle von beschreibenden zusammenfassende Begriffe,289 an die Stelle von kompletten Aufzäh­ lungen die begriffliche Hervorhebung einer Eigenschaft, welche die übrigen Eigen­ schaften mit ‚vertritt‘.290 sowie einer natürlichen Selektion (insbesondere durch den Grad der Mitteilbarkeit von terms, vgl. J. J. Freyd, 1983) zu tun, welche zu irreversiblen Veränderungen führte, während wir (b) auf der Ebene der realisierten Struktur mit dem Einfluss an­ derer lenkender Tendenzen rechnen müssen, die mit der Sprachfähigkeit meist unmit­ telbar nichts zu tun haben (Veränderungen im Vokabular, Bedeutungserweiterung oder -verengung, Lautverschiebungen u. a.) und z. T. reversibel sind. Aus der Literatur seit der Jahrtausendwende sind insbesondere die Arbeiten von P. F. MacNeilage (2008) und R. P. Botha (2009) zu nennen. 284  J. R. Hurfard (2000); S. Kirby (2002): Leichte Variationen in der Produktion von Zeichen haben in einer über die Jahrtausende hinweg ablaufenden Serie von Lernprozessen zu einer regulären Sprache mit Subjekt und Prädikat sowie am Ende zu einer Sprache mit einer immer größeren kompositionalen Syntax geführt. 285  P. F. MacNeilage (2008), p. 10: „The ontology of speech recapitulates its phy­ logeny – that is, its development retraces, at least to some degree, the steps of its evolution.“ 286  Vgl. dazu schon Ch. Darwin (1871), S. 99. 287  M. Tellerman (2009), p. 193 ff. 288  Beispiel: Ein Stück Land mit Obstbäumen und Blumenbeeten sowie Wegen dazwischen ist ein ‚Garten‘. Bei diesem Beispiel handelt es sich bereits um eine Ge­ neralisation auf höherer Stufe. Denn auch die Begriffe ‚Obstbaum‘, ‚Beet‘ und ‚Blume‘ sind durch Generalisation entstanden. Ferner müssen die in einem Begriff zusammengezogenen Eigenschaften nicht gleichzeitig vorhanden sein, sie können auch (ganz oder teilweise) nacheinander auftreten, z. B. im Begriff ‚Gewitter‘. 289  Beispiel: ‚Wagen‘ für ein Fortbewegungsmittel auf vier Rädern. 290  Beispiel: ‚Quartett‘ ist sowohl ein Musikstück aus mehreren Sätzen, das von vier zumindest teilweise unterschiedliche Instrumente spielenden Musikern vorgetra­ gen wird, als auch die Zusammenfassung der Musiker, die das Musikstück vortragen.



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Unstreitig ist ferner, dass die Evolution der Sprache wesentlich durch die Evolu­tion des (seinerseits von der Sprache beeinflussten) Denkens vorange­ trieben wurde. Das Denken aber wurde von der Wahrnehmung (bzw. Vorstel­ lung) immer unabhängiger,291 bis es schließlich nicht nur vergangene292 und zukünftige, sondern auch hypothetische Situationen293 genauso symbolisch repräsentieren konnte wie real gegenwärtige.294 Die in mehreren Gegenden unabhängig voneinander erfundene Schrift verstärkte diesen Trend noch, weil ihre Präsenz die der bezeichneten Gegenstände vertrat,295 und insbesondere die spätere Lautschrift abstrahierte so vollkommen von der wahrnehmbaren Realität, dass die reale Existenz eines Gegenstands i­nnerhalb von logischen Operationen letzthin gleichgültig wurde.296 Strukturell entwickelte sich die 291  Der Vorrang der räumlichen vor der zeitlichen Welterfassung zeigt sich noch heute daran, dass zeitliche Phänomene grundsätzlich mittels raumbezogener Ausdrü­ cke metaphorisch benannt werden („Vormittag“, „mitten im Krieg“). 292  Viele primitive Gesellschaften passten die Vergangenheit allerdings ständig der veränderten Gegenwart an. So berichten beispielsweise die Anthropologen J. Goody und I. Watt vom Stamm der Gondsha in Ghana: Um die Wende zum 20. Jahrhundert gab es den Mythos, dass der Gründer des Gondsha-Staates, Ndewura Japka, sieben Söhne hatte, die über die sieben Distrikte des Landes herrschten. Sechzig Jahre später waren infolge der politischen Entwicklung zwei der Distrikte weggefallen. Der My­ thos berichtete daher nur noch von fünf Söhnen, die über die fünf Distrikte herrsch­ ten. 293  Viel zitiert wird eine Befragung usbekischer Bauern durch den russischen Neurowissenschaftler A. R. Luria (1976). Er konfrontierte seine Probanden mit Syl­ logismen wie diesem: „Im hohen Norden, wo es Schnee gibt, sind alle Bären weiß. Nowaja Semlja ist im hohen Norden, und dort liegt immer Schnee. Welche Farbe haben dort die Bären?“ Typische Antworten lauteten dann: „Ich weiß es nicht; ich habe einen schwarzen Bären gesehen, ich kenne keine anderen.“ Oder: „Man erkennt die Farbe eines Bären, wenn man ihn anschaut“ (p. 182). Luria meinte, dass die Bauern zur Repräsentation hypothetischer Situationen nicht in der Lage waren, mit­ hin nur präformal denken konnten. M. E. hat Ch. R. Hallpike (1979/1994, S. 584) jedoch mit Recht dagegen eingewandt, dass eine Denkweise latent bereits vorhanden sein kann, bevor sie auf ein logisches Problem angewandt wird. Man solle deshalb auch gegenüber jeder weiteren Anwendung von Piagets Entwicklungstheorie im Rahmen eines Kontexts skeptisch sein, die den ethnologischen Hintergrund nicht berücksichtigt. 294  Vgl. dazu P. Ohler/G. Nieding (1997). 295  Platon (Phaidros 275a) beklagte aus diesem Grunde die Nachteile der Schrift: Sie sei „ein Mittel für das Gedächtnis, nicht für die Erinnerung“. Ihre Verbreitung werde den Seelen Vergessenheit einflößen, weil diese „nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden“. 296  Dass Schrift, Sprache und Kultur in einem engen Zusammenhang stehen, ist zwar unbestritten, doch sind die kulturellen Unterschiede, die sich mit dem Gebrauch verschiedener Schriftsysteme verbinden, bisher unerforscht (vgl. F. Coulmas, 1983, S. 172). W. von Humboldt lobte die Nähe der Lautschrift zu den Gedanken und zu deren Gliederung, die er beide durch die Sprache bedingt sah, „weil Denken ohne Sprache unmöglich ist“ (1824/1963, S. 88 f., 98 f.). Verbunden ist damit freilich eine

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Sprache ferner, indem sie zusätzlich zu Eigennamen Begriffe297 ausbildete sowie Nomina und Verba unterschied und mittels logischer Partikel („und“, „oder“) gedankliche Kombinationen und Ableitungen ermöglichte. Das Recht setzte nicht nur Sprache voraus, sondern wiederholte mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die späteren Teile ihrer Entwicklung.298 Der Schatz an speziell normativen Termini, arm in früher Zeit, wurde reicher, die Dik­ tion stereotyper. Die Zahl seiner zuerst konkret-, später abstrakt-generellen Normen vermehrte sich im selben Maße, wie die Populationen sich vergrö­ ßerten und die sozialen Beziehungen variantenreicher wurden. Die Erfindung der Schrift kam der Präzision und Vielfalt des zuvor nur mündlich tradierten Rechts zugute.299 Wo es, gegen Ende der hier untersuchten Epoche, zu Systematisierungen des Rechts kam, bedienten diese sich der sprachlichen Ten­ denz zur Generalisation und Abstraktion: Anschaulich-konkrete Regelungen wurden von gedanklich-abstrakten abgelöst; symbolische Handlungen verlo­ ren ihre Bedeutung. Man bildete z. B. einen abstrakten Begriff des Eigentums, damit man für die Institution des Eigentums generelle Regeln entwickeln konnte300, man bildete einen abstrakten Begriff des Tausches, um eine Grund­ lage für die Institution des Tausches zu haben und die generellen Rechte und Pflichten der Partner umreißen zu können.

Ferne von jenen Dingen, die begrifflich erfasst und in der Schrift symbolisch zum Ausdruck gebracht werden können. Näher dazu noch unten H 2 d. 297  Man unterscheidet ‚konkrete Begriffe‘, die auf Erfahrung bzgl. der Umwelt zurückgehende Allgemeinvorstellungen bezeichnen, und ‚abstrakte Begriffe‘, die ge­ danklich abgehobene Konzeptualisierungen solcher Vorstellungen benennen. Dazu noch unten J 6 c. 298  Zur Bedeutung symbolischer Handlungen für das alte Recht vgl. F. C. von Savigny (1814), S. 10. 299  Dazu K.-J. Hölkeskamp (1999), S. 273 f.: „Gerade die typischen Charakteris­ tika der Gesetzgebung in archaischer Zeit – die ‚Setzung‘ von präzisen Normen zu eingehend bestimmten und definierten Gegenständen, die Aufzählung und Auffäche­ rung genau formulierter und (bei Strafe) ebenso genau anzuwendender Einzelregelun­ gen und Sanktionsbestimmungen bis hin zu Katalogen fester Strafsätze und Bußen – setzen einerseits das Medium der Schrift schon notwendig voraus. Eben diese Präzi­ sion und die explizite, detailbesessene Vielfältigkeit der Vorschriften werden andererseits erst möglich, wenn das in diesem Medium angelegte Potential für eine bewusst trennscharfe Differenzierung bei gleichzeitiger objektiver Fixierung von Re­ gelungen bereits erkannt ist und voll ausgeschöpft werden kann.“ 300  Ein indogermanisches Wort für ‚Eigentum‘ und ‚Eigentümer‘ gibt es nicht (O. Schrader, 1917–23, S. 231 ff.). Im deutschen Recht ersetzte das tatsächliche Ge­ nussrecht der ‚Gewere‘ das Eigentumsrecht, weil es die bewehrte und gerüstete Hand war, welche die Habe festhielt. Selbst bei den Römern, die das Eigentumsrecht erst­ mals durchbildeten, heißt es in den leges actionis anstelle von ‚Eigentum‘ stets nur ‚hanc rem meam esse‘.



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Sowohl die sprachliche Tendenz zur Generalisation und Abstraktion als auch die Tendenz zur juristisch-präzisen Formulierung sozialer Tatbestände waren im Menschen höchstwahrscheinlich evolutionär angelegt.301 Der Ge­ brauch von Worten für die Kommunikation wie auch die Entwicklung von Bräuchen für die Interaktion entsprangen einem urtümlichen Bedürfnis nach sozialem Kontakt und sozialer Verträglichkeit. Sprachregeln und die Überset­ zung der Bräuche in Sittennormen dienten beide dem Bedürfnis nach Ver­ lässlichkeit auf der verbalen und auf der Handlungsebene. Die vergleichende Analyse der historisch ersten Rechtsordnungen wird zeigen, dass rechtliche Normierungen vor allem denjenigen Interaktionen galten, die sich zuvor ha­ bituell als soziale Bräuche herausgebildet, später als Sitten normative Gestalt erlangt und schließlich der Sicherung gegen Erwartungsenttäuschung bedurft hatten. Und sie wird ferner zeigen, wie sehr die Sprache zunächst durch ein­ fache Worte, später durch rituelle Wortformeln und schließlich durch feier­ liche Schwüre an dieser Entwicklung beteiligt war. Das Recht integrierte also den sprechenden Menschen in den Prozess seiner Entwicklung und institu­ tionalisierte mittels der Sprache dessen soziale Lebensform.302 2. Untersuchungen zum Einfluss öko- und soziogenetischer Faktoren Ökologische und soziokulturelle Randbedingungen haben zusätzlich zu den humangenetischen Faktoren die Rechtsentwicklung vorangetrieben. Hierzu referiere ich diejenigen Theorien, welche vor allem die Einflüsse entweder (a) aus der natürlichen oder (b–c) aus der sozialen Umwelt als Gründe für die Entstehung und Entwicklung von Rechtsnormen benennen.303 a) Ökogenetische Untersuchungen (α) Bedeutung der natürlichen Umwelt. Den starken Einfluss der natür­ lichen Umwelt auf Leben und Kultur der Menschen im frühen Altertum steht 301  Übereinstimmend H. Henkel (1977), S. 360: „In der Sozialität des Menschen ist die ‚Institutionalität‘ mit enthalten. Sie kommt deshalb als Urdrang in allen Sozi­ albildungen zur Geltung.“ Der Tendenz zur Abstraktion haben sich am stärksten die Ägypter widersetzt. Aber auch sie haben am Ende des NR ihren Widerstand aufgeben müssen. 302  R. Smend (1928/1994), S. 136 ff. 303  Gegenüber dem Referat über Theorien zur Evolution der Sozialkultur und ihrer Normen ergibt sich insoweit ein Unterschied, als das Recht nur einen Teil der Kultur und die Rechtsnormen nur einen Teil der Sozialnormen ausmachen. Die ‚Umwelt‘ des Rechts ist also umfangreicher als die der Kultur, die Umwelt der Rechtsnormen umfangreicher als die der Sozialnormen. Die Evolution des Rechts muss sich folglich auch der (außerrechtlichen) Kultur eines Volkes, seine Normen müssen sich auch den (außerrechtlichen) Sozialnormen anpassen.

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im Zentrum der kulturökologischen Theorie von Julian Haynes Steward.304 Ihr zufolge hat insbesondere das Vorrücken der Wüsten, der Zwang zur Mi­ gration, die Ansiedlung an Flussufern und Küsten und die ständig wachsende Bevölkerungsdichte305 damals die Lebensschicksale der Menschen geprägt und sie gezwungen, ihre Probleme schöpferisch zu bewältigen. Im Anschluss an Stewards Theorie ist der Einfluss der natürlichen Umwelt auf die Kultur­ entwicklung von anderen Autoren zwar unterschiedlich beurteilt, aber es ist nie mehr bestritten worden, dass ein solcher Einfluss stets bestanden hat. Hinzuzufügen ist, dass die schöpferischen Mittel zur Bewältigung der Um­ weltprobleme vier Bereichen zugehörten: Wissenschaft, Technik, Organisa­ tion und Kunst, und dass ihr Einsatz nicht immer unproblematisch war. •• Die Wissenschaft diente den Menschen dazu, die Art ihrer Umwelt, deren Gesetzmäßigkeiten und die Möglichkeiten eines Einflusses hierauf zu er­ forschen und als Planungsgrundlage dem eigenen Verhalten zugrunde zu legen:306 etwa die Höhe des Wasserspiegels in kommunizierenden Becken dem Bau von Zisternen. •• Die Mittel der Technik benutzte der Mensch, um die Umwelt zu verändern und sich das Überleben darin zu erleichtern: etwa um Kanäle zur Regula­ tion des Wasserhaushalts zu bauen, um Gerätschaften zur Bebauung des Bodens herzustellen, um Waffen zur Abwehr feindlicher Angriffe zu ent­ wickeln. Allerdings benutzte er lange Zeit nicht alle technischen Erfindun­ gen, die ihm zur Verfügung standen, sondern – soweit dies einfacher oder billiger war – menschliche Arbeitskräfte. •• Konkurrierend zu den Fortschritten in der Technik kam es zu Fortschritten auch in der Organisation. Man erkannte die Vorteile hierarchischer Struk­ turen und nutzte sie: Ein bürokratisch verwalteter Staat konnte die interne gesellschaftliche Ordnung, ein unter einheitlichem Oberbefehl stehendes Heer den externen Schutz vor Feinden besser gewährleisten als jede ande­ re Organisationsform. Allerdings galt auch: Große Mengen an Sklaven können unter dem Druck von Peitschen genauso produktiv und dazu billi­ ger arbeiten als Maschinen, die eine komplizierte Bedienung erfordern. •• Die Künste dienten anfangs ebenfalls in erster Linie dem gesellschaft­lichen Nutzen (Handwerk, Medizin) und erst in zweiter Linie der Befriedigung emotionaler (religiöser und weltlicher) Bedürfnisse. Allmählich erwarben sie sich jedoch eine gewisse Selbstständigkeit und bauten diese noch aus, sobald der gesellschaftliche Wohlstand höher stieg (Musik, Tanz, Dich­ schon oben C 3. Hill (1978, p. 383) erwähnt ferner klimatische, geologische und topographi­ sche Faktoren sowie die Entstehung und Auslöschung biologischer Arten. 306  Vgl. dazu P. Finke (2005), S. 21 ff. 304  Siehe 305  J.



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tung). Allerdings dienten Musik und Tanz in Verbindung mit der Verwen­ dung von Rauschmitteln auch kultisch-rituellen Ausschreitungen. So wie die Sitte nahm auch das werdende Recht die Neuerungen in sich auf und profitierte insbesondere von den organisatorischen Fortschritten. (β) Bedeutung des sozialen Milieus. Auf die Bedeutung des geographi­ schen, sozialen und wirtschaftlichen Milieus für die Rechtsbildung und Rechtsfortbildung hatte bereits Paul Koschaker aufmerksam gemacht, ohne indes die „Einsicht in die Rechtsbildung“307 durch Einzeluntersuchungen der unterschiedlichen Milieus zu fördern. Giorgio del Vecchio308 und Uwe Wesel309 haben inzwischen ebenfalls bestätigt, dass – entsprechend dem MarbeHaffschen Gesetz310 – übereinstimmende Entwicklungen des sozialen Mi­ lieus übereinstimmende Rechtsentwicklungen zur Folge haben. Aber auch sie haben die Übereinstimmungen nicht in größerem Umfang aufgezeigt. Wesel hat als Beleg nur das Institut der Brautpreisleistungen angeführt: in Meso­ potamien (Leges Ur-Namma § 12, Codex Hammurapi § 163), im antiken hebräischen Recht (mohar), bei Homer (ἕδνα) und bei den alten Germanen.311 Eine weitaus grö­ ßere Fülle von Material – freilich nur, soweit es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erforscht und geordnet war – findet sich in dem dreibändigen Werk von Paul Wilutzky.312 Darüber hinaus ist auf die Beiträge in der „Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft“ (ab 1878)313 sowie im „Jahrbuch der Internationalen Vereini­ gung für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre“ (ab 1895 bis 1907)314 hinzuweisen. 307  P.

Koschaker (1936), S. 150. del Vecchio (1962) S. 6: „Es besteht kein Zweifel daran, dass die Grundmo­ tive der menschlichen Seele, aus denen die Regeln des Rechts hervorgehen, wenigstens zum größten Teil gleichförmig und konstant sind. Es ist auch sicher, dass ein und das­ selbe Motiv in sehr verschiedene und sogar gegensätzliche Formeln übertragen werden kann, wenn es sich unter völlig verschiedenen Umständen geltend machen muss.“ 309  U. Wesel (1984), S.  530 f. 310  Vgl. K. Marbe (1919); K. Haff (1915), S. 28 ff.; (1929), S. 10: „Gleichmäßig­ keit des rechtlichen Geschehens bei ähnlichen kulturellen und wirtschaftlichen Bedin­ gungen“. Vgl. auch oben C 3 (α). 311  Tacitus, Germania 18,2: „Dotem non uxor marito, sed uxori maritus offert.“ Dazu U. Wesel (2001), Rn. 180: „Was Tacitus als Mitgift bezeichnet, waren in Wirk­ lichkeit die für segmentäre Gesellschaften mit lineage-Struktur typischen Brautpreis­ leistungen an die Verwandtschaftsgruppe der Frau.“ 312  P. Wilutzky (1903); zu ihm S. Kuck (2001), S. 16 ff. 313  Auswahlweise seien genannt: F. Bernhöft (1880); L. Dargun (1884); K. Friedrichs (1892 und 1897); J. Kohler (1884a; 1884b; 1897 und 1905); Kulischer (1903 und 1905). Vgl. weiterhin das Generalregister zu den Bänden 1–20 in Bd. 20 (1907), S. 345 ff., sowie das Generalregister und insbesondere das systematisch-geographi­ sche Register der Bände 21–50 in Bd. 50 (1936), S. 335 ff. (337 ff.). 314  Zum Zweck des Jahrbuchs F. Bernhöft (1895), S. 1 ff.: Es werden vor allem Gesetzgebung und Literatur der großen Kulturen aus ethnologischer, historischer und dogmatischer Sicht referiert. 308  G.

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Ursächlich für den Mangel an Forschungsarbeiten dürfte sein, dass viele Veränderungen der wirtschaftlichen und sonstigen sozialen Bedingungen so eng mit solchen der Sitte und des Rechts verbunden sind, dass sie kein wis­ senschaftliches Interesse geweckt haben und Gefahr liefen, zu trivialen Er­ kenntnissen zu gelangen. Wenn Eskimos verbieten, Seehunde zu verscheu­ chen, Indianerstämme, Büffel vor Beginn der gemeinsamen Jagd zu vergrä­ men, javanische Eingeborenenstämme, Kokosnüsse aus dem Gemeindebesitz zu stehlen, dann liegt der Schluss allzu nahe, dass dies geschieht, weil die Tiere bzw. Früchte zum einen auf den Territorien der Völker vorkommen und zum anderen den Völkern zur Nahrung dienen. Und ebenso selbstverständ­ lich ist, dass in der Frühantike erst die Existenz einer Bodenkultur das Verbot von Flurschädigungen erforderlich machte und dass erst schiffbare Gewässer und der Betrieb von Schiffen den Erlass von Normen für den Schiffsverkehr veranlassten, usw. Allerdings gab und gibt es auch weniger selbstverständliche Beziehungen zwischen der Umwelt der Völker und ihren Sitten- und Rechtsordnungen, deren Erforschung durchaus der Mühe wert wäre. Wie etwa verhalten sich Umwelt und rechtliche Ordnung zueinander, wenn alle oder auch nur die höheren sozialen Schichten einer Gesellschaft an den realen Einfluss überna­ türlicher Kräfte auf das menschliche Leben glauben: Sind dann Magie, Zau­ berei und Hexerei auch rechtliche Realität? Hat man gar mit Strafnormen gegen ihren Missbrauch zu rechnen? Was geschieht ferner, wenn der allge­ meine Glaube den Göttern Einfluss auf die Rechtsfindung einräumt: Begrün­ det der Glaube überall Ordalverfahren? Und wie steht es, wenn umgekehrt Kulturen mehrheitlich alles Überirdische für einen Gegenstand abergläubi­ scher Anschauungen oder „groben Unverstands“ halten: Gilt dann, dass der Einsatz überirdischer Kräfte zur Begehung von Straftaten nicht pönalisiert wird?315 Oder wird auch dann noch der Eid unter Anrufung höherer Mächte zur Aufklärung von Straftaten benutzt und der Falscheid (‚Meineid‘) schärfer bestraft wird als die uneidliche Falschaussage?316 Problematisch sind ferner die Rechtsverhältnisse beim Zusammenstoß unterschied­licher Kulturen, etwa eines Eingeborenenrechts mit dem Recht einer modernen Zivilisation oder eines religiösen Rechts mit einem laizistischen. Welches der Rechte hat dann den Vorrang? Entscheiden hierüber Macht, Belieben oder kulturelle Regeln, gar das Recht selber? Wahrscheinlich wird bei der Lösung solcher und ande­ rer Probleme sich keine Rechtsordnung von den Wurzeln ihrer Tradition losreißen können, sondern die historisch überkommenen Mittel verwenden.317 315  Vgl. als Teilbeweis gegen eine solche Regel den § 23 Abs. 3 StGB: Beim so­ gen. ‚abergläubischen‘ Versuch „kann das Gericht von Strafe absehen“. 316  So das deutsche Recht, vgl. §§ 153, 154 und 163 Abs. 1 StGB. 317  Vgl. dazu insbesondere A. Watson (1985), p.  12 ff.



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Selbst gleichartige Veränderungen des sozialen Milieus werden deshalb das Recht nicht überall gleichermaßen verändern, sondern zusätzlich die Ei­ genrationalität als Rahmen seiner Veränderlichkeit (als ‚Pfadabhängigkeit‘) berücksichtigen.318 Und letztendlich werden die Veränderungen im Recht auch dann noch Produkte der menschlichen Freiheit bleiben, sodass jede wissenschaftliche Vergleichung auf Unterschiede treffen wird, die in dieser Freiheit und nicht in einer Gesetzmäßigkeit ihre Ursache haben. (γ) Bedeutung des geistigen Milieus. Berechtigt haben einige Autoren ins­ besondere die Erfindung der Schrift als ubiquitär bedeutsam für das geistige Miliueu, aber auch für die Art und Verbreitung des Rechts hervorgehoben.319 Wie es (Ende des 4. Jahrtausends) zur ‚Erfindung‘ der Schrift kam, ist umstrit­ ten.320 Rechtliche Bedürfnisse waren offenbar nicht die Ursache. Stattdessen nimmt man einen engen Zusammenhang entweder mit wirtschaftlichen Erfordernissen oder mit religiösen Praktiken an. Belegen lässt sich die eine Annahme für Mesopotamien, wo die ältesten erhaltenen Urkunden wirtschaftliche Vorgänge betreffen,321 die ande­ re für Alteuropa, wo der älteste Schriftgebrauch offenbar eng mit dem religiösen Le­ ben verbunden war,322 und für China, wo die Schrift offenbar aus der Aufzeichnung 318  Zu neueren Theorien evolutiver Plastizität (Evolutionsfähigkeit) des Rechts vgl. A. Abegg (2006), S.  378 ff. m. w. Nachw. 319  Allgemein: W. J. Ong (1982/1987); J. Goody (1986/1990); J. Goody/I. Watt/ K. Gough (1991). Speziell auf das Recht bezogen: E. R.Service (1977), S. 279 u. ö.; P. Goodrich (1986); L. Kuchenbuch (1993); N. Luhmann (1970), S. 245 ff.; (1993), S.  252 ff.; H. Wimmer (1997), S. 217, 241 ff. Nach H.-J. Gehrke (1994, S. 3 f.) ent­ spricht es einer „Grundannahme“, dass lediglich „mündlich und im kollektiven Be­ wusstsein … verankerte Regeln sich auf die Struktur einer Gemeinschaft anders auswirken als schriftlich fixierte Gesetze“. 320  Die ältere Auffassung, dass die Schrift an einem bestimmten Ort erfunden wurde und sich von dort in alle Welt ausbreitete, ist heute aufgegeben. „Vor dem Hintergrund allgemeiner kulturtheoretischer Überlegungen ist es ohnehin naheliegend davon auszugehen, dass die mentalen Kapazitäten für originelle Schriftschöpfungen in der kulturellen Evolution des Menschen als Spezies angelegt sind und dass ent­ sprechende Fähigkeiten bei den Menschen in vielen Regionen der Welt bereitstanden. Diese Kapazitäten sind voneinander unabhängig in verschiedenen lokalen Gesell­ schaften unter unterschiedlichen soziokulturellen Bedingungen zum Einsatz gekom­ men. Nach heutigen Erkenntnissen gilt also die These von der Polygenese der Schrift“ (H. Haarmann, 2002, S. 34). Den Beginn der Vorgeschichte der Schrift sieht L. S. Vygotsky (1978) dennoch einheitlich in der Geste: Sie sei „Schreiben in der Luft“, Schrift also „fixierte Geste“. Das würde erklären, warum die Symbolschrift überall der Lautschrift voranging und die weitere Kulturgeschichte die Geschichte eines zä­ hen Ringens um die Vorherrschaft zwischen bildlichen und sprachlichen Zeichen ist (W. J. Th. Mitchell, 1990, S. 17 ff., 43). 321  M. Krebernik/H. J. Nissen (1994), S.  281 f. 322  Funde im Vinča-Areal (Serbien, West-Bulgarien und Nordwest-Rumänien) aus der Jungsteinzeit (zumeist aus der Periode zwischen 4500 und 4000) zeigen weibliche Statuetten, die offenbar Weihinschriften oder rituelle Formeln tragen und wohl einst

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von Mustern auf Knochen und auf den Panzern von Schildkröten entstand, die angeb­ lich – nach entsprechender Präparierung lesbare – Weissagungen enthielten.323 Wie auch immer – da in allen frühen Hochkulturen Rechtsprobleme entweder als Voraus­ setzungen oder Folgen wirtschaftlicher Prozesse oder als Divinationsprobleme auftre­ ten konnten, profitierte das Rechtsleben von den Möglichkeiten der Schrift: Man schrieb nicht nur auf, welche Zeichen günstige, welche ungünstige Entwicklungen anzeigen, sondern auch, welche Handlungen günstige und welche ungünstige Rechts­ folgen nach sich ziehen sollen.

Bedeutung erhielt die Schrift vor allem deshalb, weil sie dem Recht Kon­ stanz verlieh:324 Das orale Recht musste im Gedächtnis der Bevölkerung bewahrt werden; es trat außer Kraft, wenn es vergessen oder nicht mehr ge­ braucht wurde, weil die Verhältnisse sich geändert hatten. Das publizierte Recht dagegen konnte an Wänden oder Stelen veröffentlicht werden; es er­ hielt dadurch eine zwar virtuelle, dafür aber zeitlich unbegrenzte Geltung, bis es formell aufgehoben wurde.325 Allerdings hatte das orale Recht den Vorteil der Flexibilität: Es konnte den Umständen des besonderen Falles angepasst werden, weil das Gedächtnis zusammen mit den Worten stets deren Sinn bewahrte und deshalb Abweichungen vom Wortlaut zuließ, wenn sie den Wortsinn nicht antasteten. Und selbst wo erst der tradierte Wortlaut einer Rechtsformel den Rechtssinn erzeugte, war man sich bewusst, dass die For­ mel gleich einer divinatorischen Zauberformel niemals das Ganze des kon­ kreten Rechtsvorgangs erfasste, sondern lediglich jenes symbolische Stück, das einen Vorgang aus dem Alltag heraushob und ihm eine rituelle Weihe

als Votivgaben dienten (dazu H. Haarmann, 1999). Klarer wird die Existenz einer Schrift erst in der frühen minoischen Kultur auf Kreta, wo wir um die Wende vom 3. zum 2. Jahrtausend erste Anzeichen auf Siegeln finden, denen in größeren zeitlichen Abständen drei Schriften folgten: Hieroglyphisch, Linear A und Linear B. Von ihnen konnte bisher allein die etwa ab 1370 v. u. Z. verwendete Linear B entziffert werden. Sie enthält überwiegend Informationen über Verwaltungsaufgaben, Ablieferungen von Wirtschaftsgütern sowie Zuweisungen von Personen, Tieren und Waren. Religiöse Bezüge fehlen vollständig. 323  Vgl. dazu L. Vandermeersch (1974). Im Stadium magischer Zeichen scheint sich die Entwicklung der Induskultur (2900–1900 v. u. Z.) festgefahren zu haben, weil sie uns zwar piktographische, aber keine Schriftzeichen übermittelt hat (vgl. St. Farmer/R. Sproat/M. Witzel, 2004). 324  Die Konstanz betraf sowohl den Gesetzgeber als auch den Inhalt seiner Ge­ setze. Ein Beispiel ist der sagenhafte Vorgang auf dem Berg Sinai, wo Moses von Gott zwei Steintafeln empfing, die beiderseits „mit dem Gottesfinger beschrieben waren“ und die Zehn Gebote für das Volk Israel enthielten sowie verschiedene andere Gesetze und Weisungen einschließlich der Strafen für Verstöße (2. Mose 19 ff.). 325  G. Simmel (1927/1992), S. 429. Welch geringe Wichtigkeit manche antike Ge­ setzgeber der Deklaration ihrer Gesetze allerdings beimaßen, zeigt die berühmte Sage, dass der römische Kaiser Caligula sie zwar an Säulen anbringen ließ, jedoch so hoch, dass niemand sie lesen konnte. Vgl. dazu R. Thomas (1992), p. 84 ff.



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gab.326 Das schriftliche Recht dagegen galt starr; es umfasste nicht nur den idealen Gehalt, sondern auch die reale Gestalt rechtlicher Vorgänge. Es war daher weniger mythisch, weniger divinatorisch, mehr diesseitig, der Sache und ihrem Nutzen zugewandt.327 Allerdings war das ein Nachteil, den man allmählich zu beherrschen lernte und der sich mit Vorteilen verband. Man lernte, dass das schriftliche Recht ausgelegt werden konnte und dass sich in die Auslegung vorteilhaft auch zeitnahe Nutzenüberlegungen einbeziehen ließen. Und man sah generell seinen Vorteil darin, dass es sich schnell und wirksam verändern ließ, weil Änderungen auf demselben Wege wie die ur­ sprüngliche Bekundung erfolgen konnten. Kurzum – die Vorteile des schrift­ lichen Rechts überwogen letzthin seine Nachteile, und die Entwicklung lief darauf hinaus, dass die Schriftlichkeit zur Geltungsbedingung zumindest für gesetzliches Recht erhoben wurde. Für die Verweltlichung des gesetzlichen Rechts war dann die Phonetisierung der Schrift ein weiterer Grund.328 Denn während die symbolische Zeichen benutzende Keilschrift noch für etwas stehen konnte, das durch seinen Ursprung im göttlichen Willen divinatorischen Charakter hatte, war die phonetische Schrift Aufzeichnung des vom Menschen Verlautbarten,329 sodass nur noch der Gebrauch gewisser mündlich auszusprechender Formeln (wie heute noch der Eid) und einige Begriffe (etwa σύμβολον für Vertrag, συμβολαίον für Schuld) daran erinnerten, dass es etwas gab, was das Recht über reines Menschenwerk hinaushob und seinen Wert als Gottesgabe zum Ausdruck brachte – dass der rechtlich zu ordnende Tatbestand im Vordersatz kasuistischer (konditionaler) Normen zwar vom Menschen gesetzt, die den Nachsatz beherrschende ‚Sanktion‘ (bzw. ihr Gesolltsein) aber von einer höheren Macht legiti­ miert wurde.330 326  Dadurch wird verständlich, dass in Athen das nichtschriftliche Recht (die ἄγραφοι νόμοι)  – es entspricht unserem ‚übergesetzlichen‘ Recht  – für höherwertig angesehen wurde als das schriftliche Recht. Siehe dazu J. W. Jones (1956), p. 26 ff. 327  P. Goodrich (1986), p. 27: „Orally transmitted customs as sources of law at least have the benefit of being generally available within societies based upon tradi­ tions of story- and myth-telling. Writing in such cultures was always the monopoly of a restricted elite class and the reduction of oral to written law served to maintain the power and status of the literate classes where literacy was not widespread. The writ­ ten text of law, far from being a clear and accessible statement of law, is rather to be understood as a coded representation of an absent source of speaker. The written text is to be read by specialized interpreters (hierophants/priests) who can, through skill, knowledge and inspiration, decipher the true meaning of the law by going behind it, by penetrating the written word to discover its absolute source in the word of God.“ Siehe ferner M. Th. Fögen (2002), S. 82 ff. 328  Bei der Phonetisierung handelt es sich insofern um eine universalhistorische Entwicklung, als nirgendwo, weder in der Alten noch in der Neuen Welt, die Schrift­ tradition direkt mit der Phonographie einsetzt, sondern ihr überall die Logographie vorausgeht. 329  Vgl. J. Bottéro (1992), p.  98 ff., 105 ff. 330  Zum Ganzen siehe auch N. Luhmann (1970), S. 245 ff.

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b) Soziogenetische Untersuchungen Die Idee vom Fortschreiten der Rechtsentwicklung nach evolutiven Geset­ zen haben auch einige Rechtssoziologen aufgenommen. Ich beschränke meine Darstellung auf die beiden wirkungsmächtigsten von ihnen: Niklas Luhmann und Max Weber. (α) Niklas Luhmann. Für Luhmann hat das Recht keinen erkennbaren An­ fang; denn es ist historisch eingebettet in vorgegebene soziale Strukturen.331 Sein Rekurs auf die biologische Trias – (1) Erzeugung neuartiger Möglich­ keiten (Variation), (2) Auswahl brauchbarer und Abstoßung unbrauchbarer Möglichkeiten (Selektion), (3) Stabilisation der brauchbaren Möglichkeiten innerhalb der Systemstruktur – gilt allerdings vor allem dem Zweck, seine Systemtheorie zu dynamisieren und sie nicht nur auf das bestehende Recht, sondern auch auf dessen Entwicklung anwendbar zu machen. Ansatzweise bereits in seiner ersten Stellungnahme,332 genauer dann innerhalb seiner spä­ teren ausführlichen Behandlung des Themas,333 legt er dar, dass (1) die Erzeugung neuartiger Möglichkeiten, welche die Evolution des Rechts voran­ treibt, soziologisch gesehen aus „unerwarteten normativen Erwartungen“ bestehe. Bei einem Streit um die Berechtigung solcher Erwartungen müssten Interaktionssysteme entweder schlichten oder feststellen, wer im Recht und wer im Unrecht ist. Und da infolge der antagonistischen menschlichen Natur „keine Gesellschaft ihr Recht [ausschließlich] auf Konsens stützen“ könne, hänge die weitere Evolution davon ab, (2) „wie das Problem der sozialen Abstimmung stattdessen gelöst wird“: welche Verfahren die Gesellschaft entwickle, in denen selegiert wird, welche der widerstreitenden Auffassun­ gen dem Recht entspricht. „Der entscheidende Bruch mit älteren Gesell­ schaftsformationen“ trete jeweils dann ein, wenn „in den für Entscheidungs­ selektion ausdifferenzierten Rechtsverfahren nicht mehr nur ad hoc und nicht mehr nur ad hominem argumentiert wird“,334 sondern wenn an die Stelle solcher Argumente die Berufung auf Gesetze tritt, die auch in anderen Fällen angewandt werden können. Von da an fordere die Gerechtigkeit, dass gleiche Fälle gleich und ungleiche ungleich entschieden werden; von da an werde das Recht „selbstreferentiell“, d. h. von juristischen Tatbeständen unabhän­ gig; und von da an komme es zu einer rechtseigenen Evolution, die sich insbesondere in der Ausdifferenzierung von professionellen juristischen Rol­ len, zunächst im römischen Adel, sodann im Bereich des mittelalterlichen 331  N. Luhmann (1993), S. 58: „Die Möglichkeit, Recht als Recht zu erkennen, reicht aus, um Rechtspflege als gesellschaftliche Autopoiesis in Gang zu bringen.“ 332  N. Luhmann (1970/1981). 333  N. Luhmann (1993), S. 239 ff. 334  N. Luhmann (1970), S. 262.



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kanonischen Rechts, niederschlägt. Doch nicht nur durch Variation und Se­ lektion, sondern auch (3) durch die Stabilisierungsfunktion der juristischen Dogmatik werde das Recht differenziert. Denn die Dogmatik garantiere, „dass das Rechtssystem sich in seiner eigenen Veränderung als System be­ währt“, d. h. innere Konsistenz aufweist. Fehlt es daran, verlange die Dogma­ tik nach Veränderung. Insgesamt operiere die Evolution somit zirkulär, „in­ dem sie teils mit Variation auf Außenanstöße reagiert und teils die Stabilisie­ rung zur Motivierung von Innovationen wiederverwendet“.335 Auf die nationale Diskussion hat Luhmanns Übertragung des Darwinschen Algo­ rithmus auf die Rechtsentwicklung zeitweise großen Einfluss ausgeübt und darüber hinaus auch die internationale Diskussion befruchtet.336 Die entscheidende Verände­ rung gegenüber der biologischen Prämisse von der selegierenden Wirkung der Au­ ßenwelt besteht darin, dass Luhmann diese Funktion nunmehr in die Innenwelt des Rechts verlegt. Diese Veränderung ist allerdings, weil sie für die Selektion Entschei­ dungsverfahren auf der Grundlage von abstrakten Gesetzen sowie als stabilisierende Wirkung eine juristische Dogmatik voraussetzt, trotz einigen Hinweisen auf das vor­ klassische Recht allenfalls auf die Evolution des römischen Rechts in Kontinental­ europa anwendbar und auch auf sie erst seit dem 11. Jh.337

(β) Max Weber. Eindeutiger als Luhmann hatte zuvor schon Max Weber der Rechtsentwicklung das römische Recht seit dem 11. Jh. zugrunde gelegt, teils weil es seiner Vorstellung vom Recht als einem formal-rationalen Ord­

335  N.

Luhmann (1970), S. 275, 277. die evolutorisch fundierte Rechtstheorie N. Luhmanns mehr bietet als eine Reformulierung der üblichen juristischen Arbeitsweise in den komplizierten Begriffen seiner Systemtheorie, ist strittig geblieben. Dass das Recht als autochthones soziales System sich mit seinen konkreten sozialen Umwelten beschäftigt und von ihnen ei­ nerseits seine Probleme bezieht, ihnen andererseits aber auch seine Probleme auf­ drängt, ist keine Entdeckung der Systemtheoretiker, sondern allgemeine Meinung. Zur Diskussion in Deutschland vgl. vom systemtheoretischen Standpunkt aus u. a. M. Amstutz (2001 u. ö.); Th. Huber (2007), passim; G. Teubner (1989), passim; Ch. Henke (2010), bes. S. 41 ff., 62 ff., 85 ff. (vgl. zu ihm schon oben 1 f γ); M. Schulte (2011), bes. S. 84 ff. – alle m. w. Nachw. Die internationale Diskussion wird mehr als von Luhmanns Theorie durch die stark mathematisch ausgerichtete Dual inheritance theory und die stärker biologisch fundierte Cultural selection theory geprägt, über die u. a. die Bücher von R. Boyd/P. J. Richerson (1985, 2005) sowie die Untersuchungen von A. Fog (1999), G. K. D. Crozier (2008) und W. G. Runciman (2009) Auskunft geben. Die Entwicklung des Rechts wird dort allerdings nur beiläufig thematisiert; denn „its principal contention is that collective human behaviour-patterns should be analysed as the outwardly observable expression of information affecting phenotype transmitted at the three separate but interacting levels of heritable variation and com­ petitive selection – biological, cultural, and social“ (W. G. Runciman, p. vii). 337  Historisch unhaltbar und widersprüchlich M. Schulte (2011), S. 89: „Am An­ fang war Rom, obwohl wir von Anfang an wissen, dass das Problem des Anfangs ein unlösbares ist und bleibt.“ 336  Ob

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nungssystem338 am besten entsprach, teils weil es aus seiner Sicht eine klare organische Entwicklung zu immer mehr Rationalität und Logizität aufwies.339 Den Beginn dieser Entwicklung sah Weber zum einen in der Orientierung an eindeutigen Tatbestandsmerkmalen, zum anderen in der Ausschaltung aller rational unkontrollierbaren Mittel zur Rechtsschöpfung und Rechtsfindung, etwa von Orakeln und gefühlsmäßigen Wertungen. Innerhalb der Tatbe­ standsmerkmale unterschied er zusätzlich zwischen solchen sinnlich an­ schaulichen Charakters und solchen durch logische Sinndeutung erst zu er­ schließenden. Jene erlaubten nur eine Rechtsschöpfung in Form von Kasuis­ tik und Präjudizien, diese dagegen auch eine juristische Systembildung, d. h. die Zusammenfassung von Rechtsregeln zu einem widerspruchsfreien Gan­ zen.340 Entwickelt habe sich das Recht, indem es vom Bezug auf sinnlich anschauliche Merkmale zum Bezug auf durch Sinndeutung zu erschließende Merkmale überging. Dadurch habe es in Kontinentaleuropa einen „Höchst­ grad methodisch-logischer Rationalität“ erreicht,341 weshalb seine Entwick­ lung im Rechtspositivismus an der Wende vom 19. zum 20. Jh. auf ihrem Höhe- und gleichzeitig Endpunkt angelangt sei. Die treibenden Kräfte der Entwicklung sah Weber in den Veränderungen des Rechtsdenkens: einesteils aufgrund einer an Präjudizien und Analogien gebundenen Behandlung des einheimischen Rechts und der anwaltlichen Schulung von Rechtspraktikern, wie sie idealtypisch in England üblich ist;342 anderenteils aufgrund der Schulung von theoretisch an den Universitäten und anschließend in der Praxis ausgebildeten Juristen, wie sie idealtypisch in Kontinentaleuropa geübt wird.343 Wichtigste Eigentümlichkeiten der univer­ 338  Dazu M. Weber (1960), S. 53: Die Rechtsordnung sei ein logisch in sich wider­ spruchsfreies System von „Sätzen, deren Inhalt sich als eine Ordnung darstellt, wel­ che für das Verhalten eines irgendwie bezeichneten Kreises von Menschen maßge­ bend sein soll“. Die Rechtsdogmatik habe die Aufgabe, diese Sätze „auf ihren richti­ gen Sinn, und das heißt: auf die Tatbestände, welche ihr, und die Art, wie sie ihr unterliegen, zu untersuchen“ und danach zu trachten, „dass sie dadurch in ein logisch in sich widerspruchsfreies System gebracht werden“. Ausführlich zum „Recht als System“ F. J. Peine (1983). 339  Zu Weber u. a. H. A. Hesse (2004), insbes. S. 61  ff. („Maschinenmodell“), 127 ff. („Rechtsprechungsmodell“), 147 ff. („Bürokratiemodell“), 195 ff. (Zusammen­ fassung); Th. Vesting (2015), Rn.  251 ff. m. w. Nachw. 340  M. Weber (1960), S. 102. 341  M. Weber (1960), S. 103. 342  M. Weber (1960), S. 197 ff. 343  M. Weber (1960), S. 201. Eine Sonderstellung räumte Weber (1960, S. 201 ff.) der Rechtslehre in den Priesterschulen und in den an die Priesterschulen angeschlos­ senen Rechtsschulen ein, wo die hinduistische, die islamische und die jüdische Rechtskultur gepflegt wurden. Von dort seien auch religiöse und moralische Postulate vermehrt in das Recht eingedrungen. Sie hätten trotz hoher Rationalität allerdings nicht zu einer systematisch alle Lebensbereiche abdeckenden Rechtsordnung geführt,



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sitären Ausbildung seien der „eminent analytische Charakter“ des Rechtsden­ kens sowie der „abstrakte Charakter der Rechtsbegriffe“.344 Beide Eigentüm­ lichkeiten hätten das römische Recht für die Praxis interessant gemacht, weil sie zum einen ermöglichten, außerordentlich verschiedene Sachverhalte mit einem Begriff zu erfassen, der zu diesem Zweck interpretiert, gedehnt oder erstreckt wird, und zum anderen, den Begriff als Baustein für einen größeren systematischen Zusammenhang, etwa für ein Rechtsinstitut, zu benutzen. c) Ökonomische Untersuchungen (α) Nutzenökonomische Theorien. Ökonomische Theorien des Rechts se­ hen den Zweck von sozialen Normen allein in der Vermehrung des gesell­ schaftlichen Nutzens. Dementsprechend deuten sie die Evolution von Nor­ men als ein Ringen um ein Höchstmaß an sozialem Nutzen: Die effizienteren Normen setzten sich gegenüber den weniger effizienten regelmäßig durch, weil sie größeren Nutzen versprechen. Die Entwicklung verlaufe deshalb in Richtung von Rechtsnormen, weil diese infolge ihrer Ausstattung mit schar­ fen Sanktionen die höchste Effizienz aller Normenarten entfalten. Ökonomische Theorien sind zunächst in den USA entwickelt worden,345 haben später aber auch in Deutschland Beachtung und zunächst sogar An­ klang gefunden.346 Mittlerweile ist die Kritik an ihnen allerdings gewachsen. Man wirft ihnen Einseitigkeit vor, weil sie alle nicht-ökonomischen Motiva­ tionen wie Altruismus, Umverteilung und Paternalismus347 sowie alle (nichtkonsentierten) Gerechtigkeitskriterien aus ihrem Gesichtsfeld verbannen.348 Auf Einzelheiten der Diskussion kann und brauche ich im vorliegenden Zu­ sammenhang nicht einzugehen, da für differenzierte ort- und zeitspezifische Untersuchungen, die sicherlich nötig wären, das erforderliche Material fehlt.349 sondern vor allem zur Anwendung idealer religiös-ethischer Forderungen an die Men­ schen und an ein dafür offenes Recht. 344  M. Weber (1960), S. 209, 213. 345  Grundlegend R. A. Posner (1998; zuerst 1973). Anhänger der Theorie sind u. a. R. Rubin (1977), G. Priest (1977) und R. Cooter/L. Kornhauser (1980). Zusammen­ fassend E. Schanze (1993). 346  Zusammenfassende Darstellungen: H. B. Schäfer/C. Ott (1986); C. Kirchner (1997); M. Adams (2002); A. von Aaken (2003). Vgl. ferner die Beiträge in: H. Assmann/Ch. Kirchner/E. Schanze (1993); Ch. Engel/M. Morlok (1998). 347  Vgl. etwa D. Kennedy (1981 und 1982). 348  K.-H. Fezer (1974); C. R. Sunstein (1994). Zum breiteren Ansatz einer evolu­ torischen Ökonomik vgl. G. von Wangenheim (1995), S. 3 ff. 349  Ausführliche Darstellung und Kritik der philosophischen Grundlagen bei K. Mathis (2009); abgewogene Stellungnahme aus juristischer Sicht bei J. Wieland (2003).

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(β) Evolutionsökonomische Theorien. Eng mit den utilitaristischen sind die evolutionsökonomischen Theorien (evolutionary economics) verwandt,350 die auf Ideen von Joseph Alois Schumpeter und Friedrich A. Hayek351 aufbauen und vor allem Mutations- und Selektionsprozesse auf Handelsmärkten zum Zwecke der Erleichterung und der Absicherung von Transaktionen zum Ge­ genstand haben. Schumpeter hatte Anfang des vorigen Jahrhunderts eine Theorie der wirt­ schaftlichen Entwicklung mittels diskontinuierlicher Veränderungen aufge­ stellt. Dynamische Unternehmer hätten diese Veränderungen herbeigeführt, indem sie sie im Wettbewerb mit anderen Innovationen durchsetzten, dadurch Gewinne erzielten und zum Aufschwung der wirtschaftlichen Konjunktur beitrugen. Hayek übertrug diese Theorie auf die kulturelle Entwicklung mit­ tels eines wettbewerblichen Prozesses von Variation und Selektion bzw. von Versuch und Irrtum, deren Verlauf zufällig sei und deren Ergebnisse (Tech­ nologien, Institutionen u. a.) einer ständigen, gleichwohl unvorhersehbaren Selektion durch den Markt unterlägen. Neuerdings sind die auf das Marktgeschehen bezogenen ökonomischen Evolutionstheorien auch auf andere institutionelle Evolutionsprozesse ange­ wandt worden. In diesem Zusammenhang wird Hayeks These, dass die Ver­ haltensnormen einer Gesellschaft Früchte eines langen Prozesses von Varia­ tion und Selektion seien, allgemein akzeptiert. Zugleich wird sie aber auch auf die Anwendung von Rechtsnormen durch die Gerichte ausgeweitet. (γ) Bioökonomische Theorien. Wiederum eng versandt mit den evolutions­ ökonomischen Theorien sind gewisse bioökonomische Evolutionstheorien. Ausgehend von der Erkenntnis, dass soziale Gruppen sich gegenüber kon­ kurrierenden nur behaupten können, wenn sie im Innern gefestigt und gegen Attacken von außen gewappnet sind, kommen sie zu dem Schluss, dass effi­ ziente juristische Normen hierzu das am besten taugliche Mittel sind und diese daher auch schon im frühen Altertum die Entwicklungsrichtung be­ stimmt haben. Jack Hirshleifer352, ein US-amerikanischer Ökonomie-Professor, hat die Wurzeln des Rechts in der Suche nach einem optimalen Abbau von internen sozialen Konflikten gesehen. Optimal möglich sei der Abbau durch regelmä­ ßige Intervention seitens mächtiger Dritter353 – etwa der Eltern bei Rivalitä­ ten ihrer Kinder oder des Staates bei Streitigkeiten seiner Bürger. Solche In­ die Übersicht von C. Herrmann-Pillath (2002). Schumpeter (1912/2006); F. A. von Hayek (1978); (2003). Zu von Hayek vgl. noch unten K 6 c β. 352  J. Hirshleifer (1980). 353  Siehe dazu auch A. Holtwick-Mainzer (1985). 350  Vgl.

351  J. A.



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terventionen reduzierten auf der einen Seite die Bereitschaft zum Streit und schüfen auf der anderen Seite Vertrauen in die Verlässlichkeit sozialer Ko­ operation und in die Erfüllung wechselseitiger Versprechen. Sozialen Grup­ pen verhälfen sie zu einem Vorteil im Wettstreit mit anderen Gruppen und hätten sich deshalb sozialintern überall durchgesetzt. Drei ethische Regeln hätten sich darüber hinaus allgemein bewährt: die Goldene Regel des Teilens innerhalb der Gemeinschaft, die Silberne Regel der privaten Rechte und die Eiserne Regel der Dominanz.354 Die Entwicklung aller fortgeschrittenen Ge­ sellschaften sei diesen Regeln gefolgt: Ihre Mitglieder hätten überall einer­ seits persönliche Unverletzlichkeit und Eigentum beansprucht, andererseits aber auch überall lernen müssen, dass diese Rechte allen Mitgliedern in gleicher Weise zustehen.355 Hirshleifer hat damit die Dominanz derjenigen Rechtsnormen erklärt, de­ ren Befolgung für den Daseinskampf zwischen Gruppen zentral ist. Da aber der Daseinskampf zwischen Individuen einer Gruppe ebenfalls der Regula­ tion bedarf, um die Fitness zu steigern, hat Richard Epstein356, Rechtsprofes­ sor in Chicago, die Notwendigkeit zum Abbau interner sozialer Konflikte auch darin begründet gesehen, dass die Mitglieder einer Gruppe mit festen Normen besser überleben und mehr Nachwuchs aufziehen können als andere. Vier Normbereiche sind nach seiner Meinung dafür spezifisch relevant: das intrasozietäre Gewaltverbot (mit Ausnahme der Notwehr), das Recht zur Aneignung herrenloser Sachen, die elterlichen Pflichten und die Bindung an Versprechen. Dagegen sei ein Einfluss der biologischen Evolution auf das Privatrecht (entgegen Hirshleifer) zu verneinen. Denn „the gene-environment interactions that drive natural selection are strongest in matters that … come closest to the raw nerve of survival and propagation. The questions of privacy are simply too far removed from these dominating concerns to have much imprint upon the development to tastes for any given normative orders.“357

Hirshleifers und Epsteins Theorien scheinen mir trotz einigen Gegensätzen sich eher zu ergänzen als sich auszuschließen. Dies kann jedoch dahingestellt bleiben, weil beiden Theorien – neben der Einseitigkeit ihrer soziobiologi­ schen Begründung358 – derselbe Mangel anhaftet: dass sie den Daseinskampf 354  J.

Hirshleifer (1980), p. 655. Hirshleifer (1980), p. 653. 356  R. Epstein (1980). 357  R. Epstein (1980), p. 669 p. 358  Eine gründliche Kritik der soziobiologischen Begründung von Rechtsnormen ist hier nicht möglich. Sie erscheint mir allerdings auch nicht erforderlich, solange sich die Soziobiologie mit der Forderung begnügt, dass soziokulturelle Normen gene­ tischen Programmierungen nicht widersprechen dürfen – dass diese Programmierun­ gen also ein Teil des ‚negativen Naturrechts‘ sind und folglich nur in seltenen Fällen 355  J.

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in eine imaginäre Welt verlegen, der nur menschliche Gruppen bzw. Indivi­ duen angehören. Beide übersehen, dass zu jeder menschlichen Sozietät auch eine spezifische natürliche Umwelt gehört und dass ebenso, wie die Men­ schen einen Teil ihrer Bedürfnisse und der Mittel zu deren Befriedigung aus der Umwelt empfangen, sie auch die Normen für ihr Recht teilweise mit Rücksicht auf die Umwelt gewinnen müssen. Menschen, die am Wasser wohnen, brauchen ein anderes Recht als Menschen inmitten festen Landes, Menschen im fruchtbaren Urwald ein anderes als solche in einer kargen Wüste, Menschen in Städten ein anderes als die Bewohner kleiner Dörfer oder jene, die als Nomaden umherziehen. Jede evolutionäre Rechtstheorie muss deshalb zusätzlich zur antagonistischen Natur menschlicher Individuen und Gruppen die Besonderheiten ihrer Umwelt (einschließlich deren u. U. abrupter Veränderung)359 in die Erklärung einbeziehen. Tut sie das nicht, ist sie defizitär. 3. Untersuchungen zum Einfluss autochthoner Faktoren Wie jedem sozialen System liegt auch dem Rechtssystem ex origine ein dynamischer Trend zugrunde. Hier ergibt er sich aus einem Spannungsver­ hältnis zwischen der sozialen Realität und einem Ideal, das der Mensch zwar niemals erreicht, aber auch niemals aus dem Auge verloren hat: dem Ideal vollkommener sozialer Gerechtigkeit. Der dynamische Trend geht dahin, die einen determinierenden, häufiger dagegen einen lediglich programmierenden Einfluss auf die Ausgestaltung rechtlicher Normen ausüben. Geht die Soziobiologie allerdings darüber hinaus und nimmt sie an, dass die Entwicklung des Rechts vonseiten der menschlichen Gene „an die Leine“ genommen wird, sieht sie sich der Frage ausge­ setzt, wie es dann zu einer gegenüber der genetischen viel rascheren kulturellen Ent­ wicklung von Recht überhaupt hat kommen können. Auf diese Frage hat sie bisher keine Antwort gefunden. Vgl. dazu auch M. Tomasello (1999), S. 13 ff., 50 ff. 359  Mit Recht betonen heute auch die Soziobiologen, dass insbesondere die Verän­ derungen der natürlichen Umwelt innovative Kräfte im Menschen freigesetzt haben. (Das Konzept einer Herausforderung seitens der Umwelt und der Antwort seitens der schöpferischen Elite einer Kultur prägte allerdings schon A. J. Toynbee, 1934– 61/1954). Im Einzelnen unterscheiden die Soziobiologen vier Möglichkeiten für Le­ bewesen, auf Umweltveränderungen zu reagieren: (1) Erdulden, wobei zwar ein Teil der Population stirbt, aber die Chance besteht, dass die genetische Ausstattung einiger Individuen ausreicht, um auch in der neuen Umwelt zu überleben und sich zu vermehren; (2) Flucht in ein günstigeres Habitat; (3) Aufbau eines Schutzes (z. B. Anlage tieferer Nester seitens der Vögel für ihren Nachwuchs bei zu kalter oder zu warmer Witterung); (4) aktive Veränderung der Umwelt zum eigenen Nutzen (z. B. Dammbau der Biber). Nur die Menschen haben allerdings die Fähigkeit entwickelt, auf Veränderungen der Umwelt in den beiden zuletzt genannten Weisen zu reagieren: Sie bauen einesteils Häuser und stellen wärmende Kleidung her, sie kultivieren ande­ renteils den Boden, rotten Raubtiere aus usf.



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soziale Realität diesem Ideal bestmöglich anzugleichen. Er findet sich seit prähistorischer Zeit in allen uns noch heute erreichbaren Kulturen.360 Die Untersuchungen des Trends und wie man ihm folgen kann und soll, sind allerdings so zahlreich, dass ich von der bisher befolgten Methode eines ­ Referats von Einzeldarstellungen abweichen und einen pauschalen Überblick geben muss. (α) Der Trend zur Gerechtigkeit ist nachweisbar in allen Kulturen, über die uns Untersuchungen vorliegen. Er wirkt im Verhältnis sowohl von Indivi­ duen als auch von Gruppen zueinander, wird allerdings schwächer, je größer die Gruppen sind und je schwerer er sich folglich verwirklichen lässt. „Gerechtigkeit im Lande sichtbar zu machen“ sah in Babylon Hammurapi als sei­ nen göttlichen Auftrag an.361 Er erfüllte ihn, indem er auf einen Denkstein die Worte seiner Gerechtigkeit (offenbar vor allem Leitsätze seiner gerichtlichen Entscheidun­ gen) schreiben ließ, durch die er „den Entrechteten sowie den Witwen und Waisen“ zur Gerechtigkeit verholfen habe.362 Gerechtigkeit im Lande sichtbar zu machen, verfolgten auch die ägyptischen Pharaonen als Garanten der Ma`at, wie sie die Ge­ rechtigkeit nannten. Sie verwirklichten sie durch Gegensteuerung gegen das ‚Gesetz der Fische‘, wonach die großen die kleinen fressen.363 Und als ein umfassendes Weltprinzip sah die Gerechtigkeit auch der Gott des Alten Testaments an; denn Ge­ rechtigkeit verbinde Himmel und Erde.364

Ein Differenzierungsbedürfnis innerhalb der Gerechtigkeit ergab sich bei der Schlichtung von Streitigkeiten, wo beide Teile Gerechtigkeit für sich in Anspruch nahmen: Gerechtigkeit war in diesem Fall gefragt zunächst als ‚Tugend‘ desjenigen, der einen Streit schlichten sollte; er bewährte die Tu­ gend, wenn er jedem der Streitenden ‚das Seine‘ zuteilte. Gerechtigkeit war danach also die Tugend der ‚Verteilungsgerechtigkeit‘. Später löste man aber die Gerechtigkeit von ihrer Bindung an die Verteilung, indem man sie auch zur verpflichtenden Maxime für den Ausgleich einer Veränderung machte. Gerechtigkeit war dann zusätzlich ‚Ausgleichsgerechtigheit‘. Die Entwicklung lässt sich bei Aristoteles gut verfolgen. Dieser hatte die Gerechtig­ keit zunächst als eine soziale Tugend (ἀρετή) begriffen, „die jegliche Tugend umfasst“365, und sich durch die ursprüngliche Bedeutung von δίκη darin bestätigt ge­ sehen, dass sie sich allein auf die Austeilung bezog, „durch die jeder das Seine erhält und wie es das Gesetz angibt“ (δίκαιον διανεμητικόν, iustitia distributiva). Später 360  Zur Gerechtigkeit als einem weltumspannenden Ordnungsprinzip vgl. H. H. Schmid (1968). 361  CH Prolog. 362  CH Epilog. 363  J. Assmann (1995), S. 226 ff. 364  Auch im Alten Testament bedeutet ‚Gerechtigkeit‘ gemeinschaftsgerechtes Ver­ halten (vgl. etwa 1. Mose 38 26; Hesekiel 45 9 f.). 365  Aristoteles, Pol. 1282b, 14 ff.; NE 1129b, 28 ff.

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fügte er aber der Gerechtigkeit den Aspekt des reziproken Ausgleichs hinzu, wonach bei jedem Vollzug eines Gütertauschs bzw. seiner vertraglichen Vorbereitung gleiche Werte auf beiden Seiten stehen sollen (δίκαιον διορθωτικόν, iustitia commutativa).

Nun müssen allerdings bei der Feststellung, ob ein Ausgleich gerecht ist, jeweils auch die anderen Fälle mitbedacht werden, die ‚in einer Reihe‘ dazu­ gehörten und daher einen Anspruch auf dieselbe Art des Ausgleichs haben. Dieses Mitbedenken führte die Entwicklung auf eine höhere Stufe, weil an­ gesichts einer immer größer werdenden Anzahl ähnlicher Ausgleichsfälle das ihnen Gleiche zulasten der Besonderheiten des einzelnen Falles in den Vor­ dergrund trat. Es bildete sich m. a. W. der Trend zu einer ‚normativen Gerech­ tigkeit‘ heraus, die zur Gleichbeurteilung und Gleichbehandlung grosso modo, des konkreten Falles also als Beispiel für seinesgleichen, verpflichtete. Historisch erschien diese Gerechtigkeit als Forderung spätestens auf der Stufe eines Frührechts.366 Die soziale Gemeinschaft bedurfte ihrer als Maß­ stab einer herrscherlich garantierten Friedensordnung, die sich gleichermaßen auf alle ‚in der Reihe‘ ähnlichen und deshalb der Friedenssicherung gleicher­ maßen bedürftigen Gegenstände und Ereignisse erstreckte.367 Der Maßstab galt im Falle eines Streits sowohl dem Verfahren, das dem Gebot gleicher Fairness gegenüber den Parteien, als auch der Entscheidung, die dem Ziel eines gerechten Ausgleichs zwischen den Parteien unterworfen werden muss­ ten. Bis heute sind die verschiedenen Arten der Austeilungs-, Ausgleichs-, normativen und Verfahrensgerechtigkeiten Gegenstände einer Unzahl theoretischer Erörterungen geblieben, die freilich meistens nur Teile des Gesamtphänomens ‚Gerechtigkeit‘ be­ treffen. Ich fasse im Folgenden ihre mir vorliegend wesentlich erscheinenden Ge­ sichtspunkte zusammen, ohne auf Vollständigkeit Anspruch zu erheben. dazu unten E 5 α. dennoch kleinste Ungleichheiten, wo sie gehäuft auftreten oder eine lange Reihe bilden, Urheber von sozial relevanten Ungerechtigkeiten werden können, sei immerhin angemerkt. Beispiele: 1. Pfennigrundungsfall: Ein Computer wurde vom Täter so manipuliert, dass bei jedem Buchungsvorgang der Betrag stets auf den letzten Pfennig abgerundet und die Differenz auf das Konto des Täters gutgeschrieben wurde. Obwohl die Diffe­ renz zum gerechten Ausgleich im Einzelfall minimal war, nämlich unter einem halben Pfennig lag, erlangte der Täter infolge der Häufung der Fälle eine beträchtliche ihm nicht zustehende Nebeneinnahme. – 2. Schneeballsystem: Allen dem System gegen eine Gebühr beitretenden Teilnehmern werden Gewinne versprochen, sofern sie wei­ tere Teilnehmer zu denselben Konditionen werben. Da die Rahmenbedingungen für das Spiel begrenzt sind, das System aber auf ständiges Wachstum ausgerichtet ist, ist vorab zu erkennen, dass nur die ersten Mitspieler einen sicheren Gewinn erzielen, während die große Masse der späteren Teilnehmer ihren Einsatz verliert. Die an sich nicht gegen die Gerechtigkeit verstoßende Chance, durch Werbung weiterer Mitspie­ ler Geld zu verdienen, wird mithin durch die Wiederholung unter ständig erschwerten Bedingungen ungerecht. 366  Näher 367  Dass



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(β) Maßstäbe für die austeilende Gerechtigkeit. Die hierzu vertretenen Auffassungen hat Ch. Perelman in sechs Forderungen zusammengefasst: „1. Jedem das Gleiche, 2. Jedem gemäß seinen Verdiensten, 3. Jedem gemäß seinen Werken, 4. Jedem gemäß seinen Bedürfnissen, 5. Jedem gemäß sei­ nem Rang, 6. Jedem gemäß dem ihm vom Gesetz Zugeteilten.“368 Ich lasse dahingestellt, ob diese Zusammenfassung erschöpfend ist, lege sie aber im Folgenden zugrunde. Hinreichend lässt sie m. E. jedenfalls erkennen, dass Gerechtigkeitstheorien entweder formal und inhaltsleer sind und deshalb keiner Entwicklung unterliegen (Nr. 1), oder dass sie vom Gefühl gestützt werden und daher dessen Entwicklung teilen (Nr. 2 bis 4)369, oder dass sie auf sozialen oder politischen Vorentscheidungen beruhen und sich infolge­ dessen inhaltlich auch mit ihnen wandeln (Nr. 5 und 6). •• Die Gültigkeit der 1. Forderung „Jedem das Gleiche“ lässt den Inhalt des einem jeden Zuzuteilenden unbestimmt, wenn man ihn mit Perelman so versteht, „dass gerecht sein eine gleiche Behandlung für alle Wesen be­ deutet, die in bestimmter Hinsicht gleich sind“370. •• Die Gültigkeit der 6. Forderung „Jedem gemäß dem ihm vom Gesetz Zugeteilten“ benennt dagegen den Inhalt des Gerechten zwar bestimmt, übernimmt die Bestimmung aber einer gesetzespolitischen Entscheidung. Als Maßstab ist sie deshalb an deren Gerechtigkeit gebunden; ein eigener Maßstand liegt ihr nicht zugrunde. Beispielsweise beruht die in § 1 des deutschen Versorgungsausgleichsgesetzes von 2009 enthaltene Zuteilung der Hälfte der in der Ehezeit erworbenen Anteile von Anrechten auf Versorgung (z. B. aus der gesetzlichen Rentenversícherung) an jeden Ehegatten anlässlich einer Scheidung darauf, dass der Bund als verfassungsrecht­ lich zur Rechtserzeugung legitimierte Instanz diese Norm erlassen hat (vgl. Art.74 Abs. 1 Nr. 1 GG). Falls es zu einem Rechtsstreit kommt, sind die Gerichte an die Gerechtigkeit dieser Zuteilung gebunden (Art. 20 Abs. 2 GG) – gleichgültig, ob ihnen das Ergebnis in concreto als gerecht behagt.

•• Der 5. Forderung „Jedem nach seinen Rang“ liegt ebenfalls eine Vorent­ scheidung zugrunde, die diesmal die Gesellschaft getroffen hat, indem sie sich sozial nach Rängen strukturiert hat. Allerdings kann der Begriff ‚Rang‘ auch in einem sehr weiten Sinne verstanden werden.371 Aristoteles beispielsweise bezog ihn auf die konkrete ‚Würdigkeit‘ einer Person, eine Sache zu erhalten, und meinte, dass die ‚Angemessenheit‘ einer Verteilung darin zutage tritt, ob sie geometrisch entsprechend der ‚Würdigkeit‘ der 368  Ch.

Perelman (1967), S. 153. Gefühlsentwicklung vgl. unten H 2 c. 370  Ch. Perelman (1967), S. 27. 371  Ich werde auf die unterschiedlichen sozialen Ordnungsprinzipien, die damit verbunden werden, später eingehen (vgl. unten G 4 b γ). 369  Zur

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Empfänger erfolge. Doch berücksichtigte er dabei schon, dass die ‚Wür­ digkeit‘ je nach Staat und Gesellschaft (sowie je nach Gruppe innerhalb der Gesellschaft) unterschiedlich ist: In Demokratien werde jedem freien Manne der gleiche Rang zugesprochen, in Oligarchien dagegen der Rang auf Reichtum oder Geburtsadel gestützt und in Aristokraten auf die Tüch­ tigkeit.372 Das aber bedeutet, dass die Strukturierung einer Gesellschaft nach Rängen (nebst deren geschichtlicher ‚Mutation‘) die Verteilungsge­ rechtigkeit bestimmt und das Recht diese Aufgliederung lediglich wider­ spiegeln soll. •• Nicht politisch oder sozial, sondern individuell begründet ist schließlich die heute bedeutendste 4. der von Perelman genannten Forderungen: „Jedem nach seinen Bedürfnissen“. Freilich sind auch ihrer Weisungskraft enge Grenzen gesetzt. Denn es geht ihr (zumindest im normativen Rah­ men) nicht darum, welche ‚Bedürfnisse‘ der Einzelne hat, sondern welcher ‚Bedarf‘ ihm zuerkannt und von einem Staat befriedigt werden soll, der sich als ‚Sozialstaat‘ ausgibt. Es handelt sich also um eine normative Ge­ rechtigkeitsforderung, die mit einem typisch staatlichen Umverteilungs­ problem verbunden ist: Der Staat muss sich die Mittel, die er an einen Teil seiner Bürger verteilt, vom anderen Teil seiner Bürger erst noch beschaf­ fen. Während daher die Verteilung vorhandener Mittel zwecks staatlicher „Daseins­ vorsorge“373 keine unlösbaren Probleme aufwirft, weil alle darin übereinstimmen werden, dass ein Zustand, worin der Bedarf aller vollständig befriedigt ist, der besten aller möglichen Welten entspricht und daher als Ziel anzustreben ist, weist die gerechte Beschaffung der Mittel auf die Grenzen hin, die dem Staat für die Verteilung gesetzt sind. Denn der Staat kann sich die Mittel lediglich durch eine Besteuerung seiner reichen Bürger verschaffen und die Bedarfsbefriedigung da­ nach übernehmen.374 Doch ist er darum auch legitimiert, seine reichen Bürger nach dem Maßstab zu besteuern, den ihm der Bedarf seiner armen Bürger vorgibt? Die Frage bejahen hieße, das Gerechtigkeitsproblem einseitig lösen. Denn die Auf­ erlegung einer Steuerlast an die reichen Bürger einer Gesellschaft unterliegt nicht weniger dem Maßstab der Gerechtigkeit (‚Jedem nach seinem Vermögen‘) als die Verteilung der eingenommenen Steuergelder an die Armen. Deshalb lässt sich die staatliche Legitimation zur Auferlegung von Steuern nur aus einer Gerechtigkeits­ forderung zum sozialen Ausgleich zwischen Reichen und Armen herleiten. 372  Aristoteles, NE 1131a. Ihre Bedeutung erhielt die Lehre des Aristoteles vor allem dadurch, dass Thomas von Aquin sie übernahm und ihre Geltung über das Mit­ telalter hinaus bis auf den heutigen Tag sicherte. Vgl. dazu K. Engisch (1971), S.  150 ff.; W. Kersting (1999), S. 46 ff., jeweils m. w. Nachw. 373  E. Forsthoff (1938). 374  Dies gilt insbesondere im Verhältnis zu den gesellschaftlichen Wohlfahrtsver­ bänden, die andernfalls gefordert wären, weil sie sich früher dieser Aufgabe ange­ nommen hatten. Vgl. dazu im Einzelnen unten K 1 a β.



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•• Die Maßstäbe 2 und 3 („Jedem nach seinen Verdiensten bzw. seinen Werken“) scheinen die klarsten inhaltlichen Verpflichtungen zu enthalten: Normen für die Entlohnung von Arbeits- und Werkleistungen sollen sich nach Leistungsverdienst bzw. Leistungserfolg ausrichten.375 Im Rahmen von Vertragsverhältnissen soll es somit für Lohn und Preis auf Quantität und Qualität der einander wechselseitig geschuldeten Leistungen ankom­ men. Doch welche konkreten Folgen ergeben sich daraus? Ein Blick auf das positive Recht zeigt ein wenig klares Bild. Beispielsweise hat der deutsche Gesetzgeber einerseits zwischen Dienstverträgen und Werkver­ trägen unterschieden und für beide Vertragstypen unterschiedliche Normen erlassen. Andererseits hat er die Grenze zwischen beiden Vertragstypen nicht selber bestimmt, sondern die Bestimmung der Rechtsprechung über­ lassen. Für die Rechtsprechung war die Bestimmung schon deshalb schwierig, weil beim Dienstvertrag der Schuldner sich auch um den Erfolg seiner Arbeit kümmern muss, während er beim Werkvertrag auch verpflichtet ist, die für die Herstellung des Werks berechnete Zeit (jedenfalls sofern er sie seiner Lohnberechnung mit zugrun­ de legt)376 auf das übliche Maß zu beschränken. Zu Missverhältnissen hat die Entlohnung folglich immer dann geführt, wenn entweder der Dienstleistende sich als unfähig oder der Werkunternehmer sich als trödlig erwies. Weitere Schwierig­ keiten gab es bei der Ausrichtung der Entlohnung an der Qualität der Dienste bzw. Werke: Sollen Dienste, die jedermann verrichten kann wie etwa das Fegen vor der Haustür, denjenigen Diensten gleich bezahlt werden, die eine universitäre Ausbil­ dung erfordern? Und sollen Werke, die nur auf der Grundlage einer längeren oder schwierigeren Ausbildung hergestellt werden können, denen im Preis gleichstehen, zu deren Erschaffung lediglich Allerweltsfähigkeiten genügen? Das Gesetz schweigt. Und die Gerichte, die (aufgrund des non-liquet-Verbots) nicht schweigen dürfen, tun sich mit der Entscheidung im Einzelfall schwer.377

auch R. Zippelius (1989), § 16 II 2 (S. 109). ein fester Preis vereinbart worden, wird ihm meistens eine durchschnittliche Arbeitszeit zugrunde gelegt werden. Andernfalls werden Angebot und Nachfrage über den Preis entscheiden oder ein Liebhaberpreis festgesetzt werden. Siehe dazu unten im Text. 377  Für den Werkvertrag verweist § 632 II BGB „bei dem Bestehen einer Taxe [auf] die taxmäßige Vergütung, in Ermangelung einer Taxe [auf] die übliche Vergü­ tung“. Doch kann als Grund für die rechtliche Geltung einer taxmäßigen oder übli­ chen Vergütung lediglich der Vertrauensgrundsatz angeführt werden – und der ist mit dem Gerechtigkeitsgrundsatz nicht identisch. Fehlt es an beidem, geht die Verweisung vollends ins Leere. Stattdessen bleibt die Bestimmung des Preises dann dem Werkun­ ternehmer (§ 316 BGB) überlassen, der sie „nach billigem Ermessen zu treffen“ hat (§ 315 I BGB) – d. h. so, wie sie unter Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen und des in ähnlichen Fällen Üblichen als angemessen erscheint (BAG in EzA § 315 BGB Nr. 32 unter A II 2 a). Das aber heißt: Das mit der Entscheidung über die Lohn­ höhe befasste Gericht muss die Antwort aus dem Hut zaubern. 375  Dazu 376  Ist

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Sehen wir von den Dienst- und Werkverträgen ab und suchen wir nach allgemeinen Kriterien für gerechte Löhne und Preise, stoßen wir abermals ins Leere. Historisch lässt sich nur feststellen, was zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten als gerechter Lohn bzw. gerechter Preis akzeptiert worden ist – und das war höchst unterschiedlich. Daraus lässt sich ablesen, dass das Wertbewusstsein jeweils schwankend war und offenbar von unterschiedlichen Faktoren bestimmt wurde. Mode folgte auf Mode; was das Alter schätzte, wollte die Jugend auf keinen Fall gelten lassen. Und die moderne Industrie hat die Schnelligkeit des Wechsels so­ gar zum Programm erhoben. Lediglich ein Wert wird heute allgemein hochgeschätzt: wie man mit möglichst wenig Aufwand möglichst viel Geld verdient. Doch was ist schnell verdientes Geld wert? (γ) Maßstäbe für die ausgleichende Gerechtigkeit. Die ausgleichende Ge­ rechtigkeit setzt für die Bewertung ‒ sei es von Personen, sei es von Hand­ lungen und Erfolgen ‒ von vornherein keine Maßstäbe, sondern sie setzt sie voraus. Was sie anschließend verlangt, ist Reziprozität, d. h. Übereinstim­ mung beider Maßstäbe: des zuvor (z. B. beim ‚Seinstatbestand‘) angelegten und des nachher (z. B. bei der ‚Sollensfolge‘) für richtig befundenen. Die Diskussion ist insgesamt kaum weniger kontrovers als bei der austeilenden Gerechtigkeit. Fünf Auffassungen und die sich daraus ergebenden Forderun­ gen seien genannt: •• Nach Aristoteles378 besteht Ausgleichsgerechtigkeit in der Herstellung eines arithmetisch „Mittleren“ zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig. Doch wie kann jemand anders als durch die Anlegung eines zuvor als richtig akzeptierten Maßstabs ermessen, ob etwas zuviel und ein anderes zuwenig ist? Linear mag das möglich sein, etwa wenn ein Richter „eine in ungleiche Teile geteilte Linie vor sich hat, von deren größerem Teil er das Stück, um welches er größer ist als die Hälfte, wegnimmt und dem kleine­ ren Teil hinzutut“. Aber welcher Richter hat schon „eine in ungleiche Teile geteilte Linie vor sich“? Die richterliche Aufgabe ist komplizierter: Haben sich die Vertragsparteien über die Höhe des beiderseitigen Aus­ gleichs der Leistungen zuvor geeinigt, dann hat der Richter ihren Partei­ willen zugrunde zu legen, auch wenn Leistung und Gegenleistung nach seiner Überzeugung nicht ausgeglichen sind. Allenfalls bei einer laesio Beim Dienstvertrag ist nach heutigem Recht die Leistung von abhängiger und von selbstständiger Arbeit zu unterscheiden. Für die Bezahlung abhängiger Arbeit gelten i. d. R. Tarifverträge mit quasi-gesetzlichen Vorgaben, während die Bezahlung selbst­ ständiger Arbeit nur teilweise festgelegten Standards folgt (z. B. die Bezahlung ärzt­ licher Leistungen nach den Gebührenordnungen für Ärzte und Zahnärzte). Um die Gerechtigkeit dieser Vorgaben wird im Allgemeinen im Kompromiss zwischen den Interessenvertretungen entschieden. 378  Aristoteles, NE V 1131b–1132b.



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enormis, d. i. einem „auffälligen Missverhältnis“ zwischen einer Leistung und einem vereinbarten Ausgleich, wird ihm eine Korrektur zu gestatten sein.379 Haben die Parteien über die vertragliche Gegenleistung keine Ver­ einbarung getroffen, oder ist eine ungerechtfertigte Bereicherung auszu­ gleichen, ein zugefügter Schaden zu ersetzen oder ein unrechtes Tun zu sühnen, dann steht der Richter statt vor einem mathematischen vor einem realen Problem, und das ist nicht mit der Schere, sondern nur mit der Vernunft (man nennt sie ‚Judiz‘) zu lösen. Betrachten wir das Beispiel der unerlaubten Schädigung. Frühe Gesellschaften er­ blickten den Ausgleich dafür in der Talion, der Vergeltung von Gleichem mit Gleichem. Doch leuchtete schon damals der Talionsgedanke allenfalls als einer der Gesichtspunkte ein, der einem Ausgleich (Schadensersatz bzw. Strafe) zugrunde zu legen ist. Denn selbst wo seine Anwendung naheliegt, nämlich in der Anwendung auf Sachbeschädigung, Tötung und Körperverletzung, erscheint er bedenklich, weil er oft nur eine Verletzung auf die andere folgen lässt. Deshalb erscheint anstelle von Schädigung gegen Schädigung, ‚Leben gegen Leben‘, ‚Auge gegen Auge‘ usf. eine Buße, die zur Versöhnung einlädt, als gerechter – wie überhaupt mildere Sanktionen im Laufe der Geschichte die grausamen meistens verdrängt haben, weil sie der Harmonie des Gemeinschaftslebens besser dienten. Ausgleichung ja, aber nicht immer führt Gleiches sie herbei – Verzeihen ist oft besser als Grollen!

•• Kriterien für einen gerechten Ausgleich sind nach einer zweiten Auffas­ sung ausschließlich dem positiven Gesetz zu entnehmen. Antike Gesetze haben deshalb die Käufer auf dem Markt vor Übervorteilung geschützt, indem sie Preise für häufig gehandelte Waren festsetzten.380 Ferner haben sie die Höhe von Ersatzleistungen für unerlaubte Handlungen bestimmt, z. B. für Körperverletzungen381, aber auch für die Kosten der Ärzte382, weil sich häufig hierüber Streit erhob. Haben die Gesetze damit aber die Gerechtigkeitsfrage beantwortet? Sie haben sie nur vom konkreten auf den generellen Fall verschoben und sind den Nachweis, dass ihre Antwort gerecht ist, schuldig geblieben. 379  Laesio enormis liegt nach Dig. 4, 44, 2, 8 vor, wenn unter dem halben Wert ver­ kauft ist – der Verkäufer erhält dann (nach einem Reskript von Diocletian) das Recht, den Kauf rückgängig zu machen, falls der Käufer nicht den vollen Wert nachzahlt. Anders sowohl in den Voraussetzungen als auch in den Folgen jetzt § 138 II BGB. 380  § 4 des akkadischen Gesetzbuchs von Ešnunna (vgl. dazu unten G 3 δ) lautet „Die Miete für ein Schiff mit [einem Fassungsvermögen von] einem Kor [ca. 300 l] beträgt zwei Liter, und ⅓ Liter beträgt die Miete des Schiffers. Er [der Eigner] fährt [das Schiff dafür] einen vollen Tag.“ 381  Ich zitiere aus dem Codex des Hammurapi § 197: „Wenn ein Bürger einen Knochen eines anderen Bürgers bricht, so soll man ihm einen Knochen brechen.“ § 198: „Wenn er … einen Knochen eines Palasthörigen bricht, so soll er eine Mine Silber zahlen.“ 382  § 221 CH: „Wenn ein Arzt einen gebrochenen Knochen eines Bürgers heilt …, so soll der Patient dem Arzt 5 Scheqel Silber geben.“

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Teil I: Entwicklung

Nur die Verfechter einer Reinen Rechtslehre haben im vergangenen Jahrhundert die Auffassung vertreten, dass Ausgleichsnormen, wenn in den positiven Gesetzen enthalten, die Frage nach ihrer Gerechtigkeit überflüssig machen.383 Doch ihre Auffassung hat berechtigten Widerspruch erfahren. Denn das soziale Leben setzt sich gegen die Anwendung grob ungerechter Normen genauso zur Wehr wie gegen ungerechte Einzelentscheidungen. Und wenn das geschieht, dann müssen auch die Vertreter der Reinen Rechtslehre seinem Votum folgen ‒ weil sie Normen nur dann als gültig anerkennen, wenn diese „im großen und ganzen wirksam sind, das heißt tatsächlich befolgt und angewendet werden“384. Und eben das ist bei grob unge­ rechten Normen nicht der Fall.

•• Nach einer dritten Auffassung folgen Kriterien für einen gerechten Aus­ gleich aus dem im Volk lebendigen Gerechtigkeitsgefühl: ob und inwieweit dieses den Bürger im Gewissen zur Gewährung eines Ausgleichs ver­ pflichtet.385 Diesem noch von F. C. von Savigny als Ideal begriffenen Geltungsgrund kommt allerdings kaum noch Erklärungswert zu, seit die Legitimation zur Rechtserzeu­ gung dem Volke von der staatlichen Gesetzgebung weitgehend genommen wurde. Das Gerechtigkeitsgefühl eines Volkes erzeugt heute nur noch einen winzigen Bruchteil der geltenden Normen. Und wenn dennoch der Ruf nach Gerechtigkeit ertönt, kann man sicher sein, dass dafür nicht das im Volke noch lebendige Gerech­ tigkeitsgefühl die Grundlage bildet, sondern dass sich sozialpolitische Forderungen dieses Gewands bemächtigt haben, um an Legitimität zu gewinnen.

•• Weitaus näher kommt der heutigen sozialen Realität daher eine vierte Auffassung, welche die Gerechtigkeit ausgleichender Rechtsnormen zu­ nächst danach einteilt, ob diese auf Adressaten treffen, die sich vor allem als natürliche Mitglieder eines sozialen Ganzen empfinden, oder auf sol­ che, die sich vor allem als unabhängige Elemente begreifen, aber aus ei­ genem Entschluss sich in eine soziale Abhängigkeit begeben haben.386 Im ersten Falle ergänzen die Rechtsnormen die natürliche Ordnung des Zu­ sammenlebens, die sich aus Verwandtschaft, Nachbarschaft und Freund­ schaft entwickelt hat und die durch eine „gegenseitig-gemeinsame, verbin­ dende Gesinnung“ und „gemeinsame Güter“ charakterisiert wird.387 Ihre Gerechtigkeit ergibt sich dann aus ihrer Übereinstimmung mit dieser na­ türlichen Ordnung. Im zweiten Falle sind die Rechtsnormen dagegen Produkte einer vor allem nach ökonomischen Nutzengesichtspunkten or­ ganisierten Gesellschaft, welche durch eine staatliche Macht einerseits 383  H. Kelsen (1960), S. 201: „Jeder beliebige Inhalt kann Recht sein. Es gibt kein menschliches Verhalten, das als solches, kraft seines Gehalts, ausgeschlossen wäre, Inhalt einer Rechtsnorm zu sein.“ 384  H. Kelsen (1960), S. 219. Vgl. dazu näher E.-J. Lampe (1985a), S. 11 f. 385  Ch. Perelman (1967), S. 40. 386  F. Tönnies (1935/1991), 3. Buch § 4. 387  F. Tönnies (1935/1991), 1. Buch §§ 6, 9, 11.



D. Bisherige Untersuchungen zur Historiogenese des Rechts (Auswahl) 107

zusammengehalten,388 andererseits vor der Unerbittlichkeit einer aus­ schließlich ökonomisch gelenkten Organisation beschützt wird.389 Ihre Gerechtigkeit ergibt sich alsdann aus der richtigen Balance zwischen ökonomischer Vernunft und sozialem Schutz. Diese vor allem in der heutigen kommunitaristischen Literatur390 vertretene Auf­ fassung geht auf Ferdinand Tönnies zurück. Ihr schwebt als Ideal die auf natürlichmoralischer Grundlage stehende Gesellschaft vor. Sie erkennt aber an, dass die heute weitgehend anonyme, funktional ausdifferenzierte Massengesellschaft ein solches Ideal nicht mehr abbildet und dass einzig die willentliche Unterwerfung aller unter die vorherrschenden wirtschaftlichen Notwendigkeiten sowie unter die Schutzmacht eines Sozialstaats die soziale Homogenität – trotz individueller Kon­ kurrenz – zu begründen vermag.391

•• Die Vorherrschaft hat m. E. jedoch eine fünfte Auffassung, die das Ver­ trauen der Bürger in die Richtigkeit des positiven Rechts als den Anker benennt, an den ein Gemeinwesen gebunden ist, und die gesetzliche Aus­ gleichsnormen folglich immer dann als gültiges Recht anerkennt, wenn sie diesem Vertrauen entsprechen.392 Ausdruck hat diese Auffassung in der bekannten Formel Gustav Radbruchs gefunden, wonach „das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist“, und dass es nur dann „als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat“, wenn sein Widerspruch zur Gerechtigkeit „ein unerträgliches Maß erreicht“393. Diese Formel lässt freilich offen, wann ein Widerspruch des Rechts zu den Rechts­ erwartungen der Bevölkerung ein „unerträgliches Maß“ erreicht hat, insbesondere welche Gerechtigkeitsideale es nicht erfüllt (beliebt: Vorstellungen von einer ‚sozi­ alen Gerechtigkeit‘), wer hierfür die Messlatte zur Verfügung stellt und wer be­ stimmt, wann auf deren Skala das Maß der Unerträglichkeit überschritten ist. Kommt dafür allein das Rechtsgefühl „aller billig und gerecht Denkenden“ in Be­ 388  F.

Tönnies (1935/1991), 1. Buch § 25. Sozialstaat, schreibt St. Lessenich (2012, S. 37), „ist in dieser Sichtweise wesentlich ein Instrument zur politischen Begrenzung von Marktmechanismen, ihrer Wirkungsweise und ihres Geltungsbereichs. Er schafft … Sphären der Marktunabhän­ gigkeit für die Angehörigen jener übergroßen gesellschaftlichen Mehrheit, die nichts anderes auf den Märkten anzubieten haben als ihre Arbeitskraft; er ermöglicht ih­ nen … ein Leben auch jenseits des erfolgreichen Verkaufs ihrer Arbeitskraft auf den Arbeitsmärkten.“ 390  Wichtige Vertreter sind Michael Sandel, Alasdair MacIntire, Charles Taylor, André Gorz u. a. Zusammenfassend M. Haus (2003). 391  In der deutschen Rechtsprechung finden sich zwar gelegentlich Anklänge an diese Zweiteilung, jedoch kein klares Bekenntnis zu ihr. 392  Nachweise hierzu finden sich u. a. bei K. Engisch (1977), S. 306 f., und (2005), S.  231 f. 393  G. Radbruch (1946/1999), S. 216. Siehe dazu auch wikipedia: „Radbruch’sche Formel“. 389  Der

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Teil I: Entwicklung

tracht, dann kann jeder mit der Formel gut leben; aber dann fehlt ihr auch nahezu jeder gedanklich objektivierbare Aussagegehalt.

Als Ergebnis bleibt somit festzuhalten, dass die Meinungen, was ausglei­ chende Gerechtigkeit bedeutet und welche Folgerungen sich aus ihr ergeben, sich im Laufe der Zeit zwar gewandelt haben, aber weder einem klaren Ent­ wicklungspfad gefolgt sind noch sich zu einem allgemein befriedigenden (und die Diskussion beendigenden) Ergebnis zusammengefunden haben. Den zur Entscheidung aufgerufenen Rechtspolitikern ist daher heute (d. h. innerhalb der modernen Parteiendemokratie) das Tor zum Feld der Opportunität weit geöffnet. Dennoch hindert sie vor einem allzu unbesonnenen Hineinstürmen in das Feld der unbarmherzige Zwang zur wirtschaftlichen Vernunft394 – so­ dass am Ende die kapitalistische Tendenz zur immer weiteren Öffnung der Schere zwischen Arm und Reich und die basisdemokratische Tendenz, die Schere immer wieder zu schließen, sich in etwa die Waage halten. (δ) Maßstäbe für die Verfahrensgerechtigkeit. Wichtig, aber weniger erör­ tert, weil kaum umstritten, sind die Maßstäbe, die an die gerechte Durchfüh­ rung eines juristischen Entscheidungsverfahrens – heute gewöhnlich als ‚faires Verfahren‘ bezeichnet – anzulegen sind.395 Völlig unbestritten betref­ fen die Maßstäbe die Erforschung der ‚Wahrheit‘, d. h. die Erforschung des Sachverhalts, der einem gerechten Urteil zugrunde liegen soll. Dieser Sach­ verhalt besteht aus entweder strittigen oder unstrittigen Behauptungen von Fakten – wobei zusätzlich noch zwischen entscheidungsrelevanten und -irrele­vanten Fakten zu unterscheiden ist, was freilich ohne voraussschauen­ den Blick auf die entscheidungserheblichen Normen nicht geschehen kann. Die insoweit zu leistende Aufklärungsarbeit obliegt primär den Parteien eines Streits, falls diese um Entscheidung oder Schlichtung ersucht haben (‚da mihi facta, dabo tibi ius‘); sie obliegt primär der entscheidenden oder ihr vorgeschalteten Untersuchungsinstanz, falls entweder die Gesellschaft oder der Staat an der Entscheidung interessiert ist – wie regelmäßig bei der Ab­ urteilung einer Straftat, wenn diese Auswirkungen auf das Gemeinschafts­ leben bzw. die staatliche Ordnung hat. Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung haben sich die Möglichkeiten zur Wahrheitsermittlung einesteils verbessert, weil heute genauere Untersu­ chungsmethoden (z. B. Feststellung von Fingerabdrücken, DNA-Analyse) zur Verfügung stehen als früher. Sie haben sich andernteils verschlechtert, weil sowohl ungewöhnliche Vorfälle als auch die Gründe für gewöhnliche Strei­ tigkeiten in größeren Gesellschaften weniger gemeinbekannt sind als in den kleinen Gemeinschaften der Frühzeit, wo es weiterer Ermittlungen vor einem 394  Vgl. 395  Vgl.

K 3 b.

dazu noch unten K 7 c. zum Folgenden W. Bottke (1991) m. w. Nachw. sowie unten H 2 c und



D. Bisherige Untersuchungen zur Historiogenese des Rechts (Auswahl) 109

Prozess oft gar nicht erst bedurfte. Doch während früher das, was nicht be­ kannt war, sich oft auch nicht ermitteln ließ, die Gerechtigkeitsfrage also unbeantwortet blieb, erlauben heute bessere Ermittlungsmethoden und daher auch bessere Ermittlungschancen, bei einem Versagen ein non liquet als ge­ recht anzunehmen und nach Beweislage, beispielsweise in dubio pro reo, zu entscheiden. Vor allem wenn eine ‚objektiv‘ gerechte Entscheidung über einen Sachver­ halt nicht gesichert ist, müssen die von der Entscheidung Betroffenen in de­ ren verfahrensmäßiges Zustandekommen soweit wie möglich einbezogen werden. Das verlangt zum einen die Gewährung von ‚rechtlichem Gehör‘ insbesondere an die im engeren Sinne Streitbeteiligten (i. e. Kläger und Be­ klagter); das verlangt zum anderen auch, dass ihrem Gehör die gleiche Chance eingeräumt wird, auf die Überzeugung der Richter einzuwirken. Der schon im ältesten Recht geltende Grundsatz audiatur et altera pars muss somit heute durch den Grundsatz der ‚Waffengleichheit‘ verstärkt werden: u. a. also durch die Chance eines Beklagten, sich gegen einen rechtskundigen Kläger mithilfe eines Rechtsanwalts wehren zu dürfen. Sind Interessen drit­ ter Personen oder Institutionen in einen Rechtsfall involviert – etwa in einen Ehescheidungsfall die Interessen der ehelichen Kindern, in ein Verwaltungs­ verfahren die Inte­ressen der betroffenen Bürger –, dann verlangt die Fairness außerdem, dass auch ihnen Gelegenheit gegeben wird, sich zu äußern und sachdienliche Hinweise zu geben, denen das Gericht dann nachgehen muss. Insgesamt kommen heute an der Fairness von gerichtlichen Prozessen keine grund­ sätzlichen Bedenken auf. Anders verhält es sich bei anderen rechtlichen Entschei­ dungsprozessen, insbesondere zur Vorbereitung oder Durchführung von Gesetzen und von Verwaltungsakten. Hierauf werde ich an späterer Stelle eingehen.396

4. Zusammenfassung und Überleitung Was können wir als Gewinn aus den bisherigen Erörterungen mitnehmen? M. E. ist es so viel, dass wir den folgenden Untersuchungen eine Grundlage geben können. Zunächst (oben A) ging es um die Klärung des relativ neuen Begriffs ‚Historiogenese‘. Der Begriff setzt sich aus zwei Teilen zusammen und beinhaltet auch zweierlei: in seinem zweiten Teil die (vor allem psychosoziale) Evolu­ tion (des Rechts), in seinem ersten Teil die Geschichte (des Rechts) ‒ jene seit der Zeit, als der Mensch den Stand eines homo sapiens sapiens erreicht hatte und sich kaum noch biotisch, dagegen immer stärker psychisch und sozial veränderte, diese seit der Zeit, als das menschliche Dasein sich in 396  Vgl.

unten K 5 c β.

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Teil I: Entwicklung

einzelne Geschichten zu zergliedern begann, weshalb es nur teilweise noch typologisch dargestellt werden kann, teilweise dagegen schon eingeteilt auf einzelne Völker dargestellt werden muss. Sobald Evolution und Geschichte (des Rechts) sich zeitlich vereinigten, verliefen sie innerhalb einer Umwelt, deren ‚Koevolution‘ ebenfalls mit in die Darstellung eingehen muss. Für die Erforschung der Historiognese des Rechts (zur Methode oben B) liefern konsequent Evolution und Geschichte nur zusammen das Material. Für die genetische Untersuchung stellen sich dabei die Fragen: Warum brauchte der homo sapiens sapiens für sein Zusammenleben Normen? Wel­ che biopsychischen und welche sozialen Faktoren dienten ihm dafür als Material? Und welche Faktoren aus der Umwelt erzeugten (als Randbedin­ gungen) einerseits Impulse für ihre schöpferische Gestaltung und setzten dieser andrerseits Grenzen? Eine Durchsicht der bisherigen Untersuchungen zur Beantwortung dieser Fragen (oben C 1) legt nahe, als internen Hauptgrund für die Normentwick­ lung die menschliche ‚Anagenese‘ anzunehmen, d. h. die Entwicklung zu höherer Differenziertheit und Komplexität im Fühlen, Denken und Handeln: weil diese einerseits der Anpassung an wechselnde Umweltverhältnisse zu­ gutekam, andererseits aber die Passung der internen mitmenschlichen Bezie­ hungen lockerte. Folgen waren einerseits die starke Vermehrung der Men­ schen sowie ihr Zusammenrücken in immer größeren sozialen Einheiten, andererseits die Stratifizierung der Einheiten, damit sie beherrschbar blieben. Für die Beherrschung kam alsdann lediglich ein psychischer Mechanismus in Betrachtung, der sich evolutionär als Hyperzyklus von individuellem Willen und sozialer Neigung bildete und zunächst Sollnormen als „Organisations­ medien“ erzeugte. Als die Einhaltung dieser Sollnormen danach nicht mehr nur psychisch, etwa durch Lernen, gesichert werden konnte, musste aller­ dings psychischer Zwang hinzutreten, der die Abweichler traf und bis zum Ausschluss aus der Gemeinschaft gehen konnte. Inhaltlich mussten die Nor­ men nicht nur auf die internen sozialen Belange, sondern auch auf die spe­ ziellen Umweltgegebenheiten sowie die konkreten Mittel zu ihrer technischen Beherrschung ausgerichtet werden. Darüber hinaus konnten sie befördert und ergänzt werden durch „kuturelle Diffusion“, d. h. durch die (bisher nur beim Menschen beobachtete) Fähigkeit, kulturelle Errungenschaften von einer Population in eine andere zu übernehmen. Die Frage, ob der skizzierten Entwicklung gewisse Gesetzmäßigkeiten zu­ grunde lagen, die sie als notwendig darstellen, wird bis heute kontrovers diskutiert (dazu oben C 2). Zugestanden werden solche Gestzmäßigkeiten für die interne Entwicklung des Menschen, insbesondere für die seiner geistigen Fähigkeiten, die ihm sowohl handwerklich/technische als auch soziale Kom­ petenzen verschafften. Als vorantreibend erwies sich aber auch die Wechsel­



D. Bisherige Untersuchungen zur Historiogenese des Rechts (Auswahl) 111

wirkung zwischen Mensch und Umwelt, weil sie die Menschen vor immer neue Herausforderungen stellte. Insbesondere erforderte die inflationäre Vermehrung der Menschheit auf immer enger werdendem Raum eine kon­ gruent verdichtete Organisation ihres Zusammenlebens, aber auch eine immer intensivere Ausnutzung aller erreichbaren Umweltressourcen. Beides begrün­ dete den Bedarf nach einer neuen Ordnung, den schließlich nur noch Rechtsnormen aufgrund ihres Zwangscharakters befriedigen konnten. Es war daher konsequent, dass diese sich vor allem in den städtischen Siedlungen heraus­ bildeten, wo das Zusammenleben besonders verdichtet war und daher die Ausnutzung der Umweltressourcen einen Höhepunkt erreichte (oben C 3). Fasst man den Inhalt des bisher gesammelten vorgeschichtlichen und ge­ schichtlichen Materials pauschal zusammen, legt es thesenhaft folgende Ent­ wicklung nahe: Vom natürlichen Sozialtrieb geleitet, konnte die Menschheit ihr Zusammenleben, das infolge des Verlusts von Instinktsicherheit chaotisch zu werden drohte, anfangs durch ein pränormatives Brauchtum so ordnen, wie es ihre Gewohnheiten im wechselseitigen Umgang miteinander bisher ergeben hatten. Als allerdings die naturhafte Kraft des Brauchtums den in immer größeren Verbänden siedelnden Menschen nicht mehr ausreichte und abweichende Gewohnheiten Einzelner die gemeinsame Ordnung immer leichter zu sprengen drohten, mussten normative Sitten kreiert werden, die dafür sorgten, dass das Althergebrachte gegenüber Neuerungen die Oberhand behielt und dass ein Zerbröseln verhindert wurde. Gleichwohl waren es ge­ rade Abweichler von den Sitten, die künftig den Fortschritt anführten – sofern ihre Abweichungen die im Althergebrachten weniger verwurzelte jüngere Generation überzeugten. Das indessen geschah oft nur zufällig und war nicht immer den Erfordernissen einer neuen Zeit angemessen. Deshalb musste früher oder später die Veränderungen der Sittenordnung einer weiteren Ord­ nung unterstellt werden, wozu es jedoch hierarchisch höherer Normen be­ durfte, die vor allem von denen gesetzt werden konnten, die einer hierarchisch höheren Schicht innerhalb der Gesellschaft angehörten (oben C 4). Perennierendes Ziel dieser hierarchisch höheren Rechtsnormen war und blieb es, für eine immer größere und einander immer fremder werdende Zahl von Menschen das Zusammenleben als soziale Gemeinschaft auf immer en­ gerem Raum zu ermöglichen. Es gelang trotz einem sich verstärkenden in­ trasozialen Wettbewerb und der Entdeckung einer immer größeren Welt, die immer weitere auch intersoziale Beziehungen zuließ. Diese weiteren Bezie­ hungen ergaben sich vor allem aus dem kaufmännischen Handel, der sowohl was die gehandelten Waren als auch was die juristischen Handelsverträge anbelangte, immer vielfältiger wurde. Relativ schnell entwickelte sich daher das Recht außer zu einer Ordnung geschlossener Sozialsysteme nebst ihren Umwelten auch zu einer Ordnung weltweit offener Handelssysteme nebst Austauschs von kulturellen Errungenschaften.

Teil II

Historische Entwicklung des Rechts E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 1. Was ist ‚Recht‘? Ich habe den Rechtsbegriff aus meiner Untersuchung bisher ausgeklam­ mert, teils weil er bei den bisher zitierten Autoren nicht im Vordergrund stand, sondern undefiniert als bekannt vorausgesetzt wurde, teils weil eine Diskus­ sion der Angemessenheit des jeweils verwendeten Begriffs die komprimierte Übersicht über das vorhandene Schrifttum zu stark belastet hätte. Doch bevor ich jetzt einen Überblick über das historische Werden des Rechts und die ver­ schiedenen Stufen seiner Entwicklung gebe, muss ich mich zu einer Defini­ tion des Rechtsbegriffs vorarbeiten und insbesondere genauer differenzieren (a) zwischen dem Recht in unserem heutigen Sinne, (b) dem Frührecht als seiner Vorstufe und (c) dem (gubernativen) Spätrecht (‚Governance‘) der Mo­ derne und Postmoderne, worin der Begriff allmählich verschwimmt. Im Zent­ rum wird dabei das Recht ‚in unserem heutigen Sinne‘ stehen; es wird den Kernbegriff des Rechts bilden, von dem ich ausgehe und von dem aus ich die Grenzen zum Frührecht und zum Spätrecht ziehe. Das Kriterium für die Grenzziehung wird das Ausmaß der Ähnlichkeit bilden, die das Frührecht schon und das Spätrecht noch zum ‚Recht in unserem heutigen Sinne‘ besitzt. Zwei Einschränkungen erscheinen mir zusätzlich als notwendig. Erstens begreife ich als Recht ‚in unserem heutigen Sinne‘ ausschließlich das Recht heutiger säkularer Staaten; religiös fundierte Rechte, insbesondere also das islamische und das jüdische Recht, scheide ich also von der Bildung des Kernbegriffs und damit aus der weiteren Untersuchung aus.1 Diese Ein­ schränkung lässt sich m. E. deshalb vertreten, weil spezifisch religiöse Rechte von Prämissen ausgehen, die nur Gläubige anerkennen und die deshalb für 1  Das islamische Recht beruht nicht allein auf dem Koran (der šarī’a) und auf den normsetzenden Reden und Handlungen Mohammeds (der sunna), sondern wird durch den fiķh als die hierauf bezügliche Jurisprudenz der Rechtsgelehrten ergänzt. Iğmā (der Konsens) und qiyās (der Analogieschluss) der islamischen Rechtsgelehrten gehö­ ren deshalb ebenfalls zum Recht. Inwiefern auch die fatwās (Rechtsweisungen) isla­ mischer Geistlicher es ergänzen, ist umstritten.



E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 113

die Erkenntnis des Rechts der gegenwärtigen säkularen Staaten nur eine mit­ telbare Bedeutung haben.2 Zweitens erkenne ich sowohl als Vorstufe des sä­ kularen Rechts unserer Tage (und somit des Kernbegriffs ‚Recht‘) als auch in dessen Nachfolge nur das an, was zuvor dieselben Funktionen wie dieses erfüllt hat und was voraussichtlich auch künftig dieselben Funktionen erfül­ len wird. Die Fragen lauten also: Was bildet aufgrund einer funktionalen Betrachtungsweise eine Vorstufe zu unserem heutigen staatlichen Recht? Und welche hoheitlichen oder privaten Institutionen haben Funktionen unse­ res staatlichen Rechts inzwischen übernommen und werden sie künftig ent­ weder an seiner Stelle oder neben ihm erfüllen? Der ersten Frage werde ich in den Teilen II und III meiner Arbeit nachgehen, der zweiten im Teil IV.3 Aktuell wurde die Problematik, was Recht ‚ist‘, als die Ethnologen bei ihren Untersuchungen der sozialen Ordnung von kolonialisierten Völkern Afrikas, Asiens und des Pazifiks auf eine Gemengelage von Eingeborenen­ recht und europäischem Recht stießen: Das staatliche Recht des Mutterlandes war dort zwar offiziell eingeführt, das Eingeborenenrecht aber nicht schlecht­ hin, sondern nur insoweit außer Kraft gesetzt worden, wie es dem mutterlän­ dischen Recht widersprach.4 Hellsichtig geworden, bemerkten die Ethnolo­ gen, dass das Recht der europäischen Kolonialstaaten keineswegs das erste war, das auf das Eingeborenenrecht einwirkte und es zur Auseinandersetzung zwang. Von wo auch immer Bevölkerungsgruppen eingewandert oder als Missionare oder Händler ins Land gekommen waren, hatten sie ihre eigenen Vorstellungen von ‚Recht‘ mitgebracht und mit ihnen das vorgefundene Recht beeinflusst oder gar umgestaltet. Darüber hinaus aber entdeckten ­Ethnologen und Soziologen auch innerhalb der Makrokulturen der zivilisier­ ten Staaten Mikrokulturen,5 die ein eigenes Recht ausgebildet hatten. Diese Das jüdische Recht (die halacha) umfasst nicht nur die Normen der fünf Bücher Mose (der Tora bzw. des Pentateuch) und deren spätere Auslegung im Talmud, son­ dern auch noch weitere religiöse Bräuche und Traditionen. 2  Zur Bedeutung der Religionen für das staatliche Recht vgl. noch unten H 3 c. 3  Vgl. unten K 4 und 5. 4  Allerdings wurde das mutterländische Recht oft auch mit der Klausel versehen, dass es nur gelten solle, soweit es mit den örtlichen Verhältnissen vereinbar sei. Doch selbst wenn diese Klausel fehlte, wie z. B. in Canada und teilweise in Indien, machten die örtlichen Gerichte oft kraft einer Usance davon Gebrauch. Wie notwendig dieses eigenmächtige Verfahren war, zeigt sich darin, dass – mit oder ohne Klausel – die Anpassung oft so stark wurde, dass anstelle des mutterländischen Rechts überhaupt das Eingeborenenrecht angewendet wurde, und zwar mit der lapidaren Begründung: es werde den Verhältnissen der Eingeborenen am besten gerecht. Dazu auch ­E.-J. Lampe (1974), S.  155 f. m. w. Nachw. 5  Zum Begriff der ‚Kultur‘, der sowohl im Singular als auch im Plural verwendet werden kann, sowie zu den mit ‚Kultur‘ zusammengesetzten Begriffen vgl. W. Fikentscher (2016), p.  75 ff., 112 ff.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

‚subkulturellen‘ Rechte traten dann mit dem Recht der Makrokultur in Kon­ kurrenz, und zwar umso stärker, je intensiver dieses versuchte, verloren ge­ gangenes Terrain zurückzugewinnen. Sie grenzten bestimmte Bevölkerungs­ gruppen aufgrund ihrer besonderen kulturellen, ökologischen oder wirtschaft­ lichen Situation oder auch nur aufgrund ihrer gemeinsamen Überzeugung aus dem Anwendungsbereich des staatlichen Rechts aus und verlangten stattdes­ sen von ihnen die Anerkennung ihres semiautonomen Normenbestands und drohten notfalls mit zivilem Ungehorsam gegenüber der Rechtsordnung des Staates bis hin zum bewaffneten Konflikt. Die Bezeichnungen ‚Subkultur‘ bzw. ‚subkulturelles Recht‘ machen bereits deut­ lich, dass nicht alle Kulturen und alle Rechte gleichen Rang besitzen: Manche Rech­ te, z. B. die (national-)staatlichen, sind gewöhnlich dominant, andere, z. B. solche privater Institutionen, sind ihnen unterworfen. Nicht alle Rechtsordnungen haben überdies denselben Charakter: Die der Makrokulturen sehen meistens Gerichtsverfah­ ren zur Streitentscheidung vor, die der Mikrokulturen meistens Ausgleichsverfahren zur Streitbeilegung (conflict-settlement).6 Europäische Rechtskulturen beziehen sich auf die Gesamtgesellschaft eines Staates, asiatische Rechtskulturen hauptsächlich auf jenen ‚barbarischen‘ Teil, der sich nicht an die ‚guten Sitten‘ der Gesellschaft, ihre Moral und ihre Etikette hält, sondern sich vor den Gerichten streitet. ‚Rechts‘staaten weisen dem Recht eine höhere Bedeutung zu als sozialistische Staaten, die stärker auf Ordnungen vertrauen, die der Gemeinschaft inhärent sind. H. Coing hat daraus die Folgerung gezogen, dass es ‚das Recht‘ im Sinne einer einheitlichen Ordnung über­ haupt nicht gebe. „Was die Kulturgeschichte uns zeigt, ist vielmehr eine Vielzahl von einzelnen Ordnungen, die sich nebeneinander und nacheinander entwickelt haben und in den einzelnen Entwicklungen ganz verschiedene Stufen erreicht haben.“7

Doch mahnen uns die ethnologischen und soziologischen Forschungen wirklich, nicht nur von der einheitlichen Vorstellung, sondern auch vom be­ grifflich einheitlichen Konzept des Rechts Abschied zu nehmen? Oder kön­ nen wir einen Rechtsbegriff definieren, der nur den Kernbereich des Rechts zivilisierter Staaten von heute abdeckt, dagegen einen sinnvoll abgrenzbaren Bereich von Normen ausschließt, die diesem Kernbereich nur nahestehen und folglich sinnvoll zu ihm lediglich in Beziehung gesetzt oder entweder als Vorläufer oder als Nachfolger akzeptiert werden können? Dieses letzte würde voraussetzen, dass es identische Merkmale des Rechts gibt, die sich in der Entwicklung des Rechts ‚genidentisch‘ erhalten und so etwas wie eine ‚Fa­ milienähnlichkeit‘ (aber auch nicht mehr) zwischen kulturell aufeinanderfol­ genden Rechten begründet haben. Ich will versuchen, diese Merkmale im Folgenden aufzuweisen und sie zur Grundlage eines pluralistischen Rechts6  Vgl. auch die Gegenüberstellung von S. Roberts (1981), S. 163 ff.: Aggression in Form des kontrollierten Schlagabtauschs einerseits, Diskussion zwecks Schlichtung andererseits. 7  H. Coing (1993), S.  134 f.



E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 115

begriffs zu machen, der gleichermaßen das Frührecht, das Kernrecht und das (gubernative) Spätrecht abdeckt.8 Methodisch gehe ich so vor, dass ich zunächst die bisherigen Bemühungen der Rechtsethnologen betrachte, mittels Induktion und Abstraktion zu einem gültigen Rechtsbegriff zu gelangen; diese Bemühungen sehe ich als gescheitert an. Ebenfalls als gescheitert halte ich aber auch die von (rechts)philosophischer Seite unternomme­ nen Bemühungen, den Rechtsbegriff mittels Deduktion und Konkretion zu begründen. Notwendig erscheint mir vielmehr eine typisierende Begriffsbildung,9 die um einen rechtlichen Begriffs‚kern‘ als organisatorisches Zentrum herum diejenigen Phänome­ ne anordnet, die funktional auf den ‚Kern‘ bezogen sind.

2. Induktive Bestimmungen des Rechtsbegriffs Die Definitionsversuche der Rechtsethnologen sind relativ jungen Datums und hatten schon deshalb kaum die Chance, das altehrwürdige Problem, was Recht ‚ist‘ (quid sit iuris), zu lösen. Interessanter als ein vollständiger Über­ blick über sie ist deshalb, was die Gründe ihres Scheiterns sind. Rüdiger Schott hat als einheitlichen Grund genannt, dass die sozialen Phänomene, die der Begriff ‚Recht‘ erfasst, zu verschiedenartig sind, um eine feste Definition zu ermöglichen. Er schreibt: „Das Dilemma des Rechtsethnologen liegt darin, dass er über den Schatten seiner eigenen Denkvoraussetzungen springen muss: Wenn er seine Rechtsbegriffe auf fremde Kulturen anwendet, verfremdet er deren Verhaltens- und Denkweisen zu einem zwar uns verständlichen, aber den dortigen Verhältnissen unangemessenen System von Normen. Der umgekehrte Weg: der Ethnologe untersucht die Rechts­ verhältnisse fremder Völker in den ihnen eigenen Begriffen, wie z. B. jir, tar, mbatsav, lässt uns diese Verhältnisse [dagegen] als besonders fremdartig, ‚exotisch‘ erscheinen. In letzter Konsequenz führt diese ‚kulturrelativistische‘ Auffassung [dann] dazu, die Möglichkeit eines Verstehens fremder Rechtsauffassungen über­ haupt zu leugnen, ja zu bezweifeln, ob exotische Völker überhaupt ‚Recht‘ in un­ serem Sinne besitzen.“10

Gemeinsames Motiv für die dennoch unternommenen Definitionsversuche der Ethnologen war, dass sie einerseits einen einheitlichen Begriff ‚Recht‘ beibehalten mussten, um sich weiterhin als Rechtsethnologen bezeichnen zu können, dass sie andererseits den Begriff aber von seiner Bindung an den Staat im modernen Sinne (konkret: an den Territorialstaat) befreien wollten, weil sie andernfalls ständig in rechtsfreie Räume hineingeraten wären. Des­ halb setzten sie für die Existenz von Recht lediglich soziale Einheiten voraus, 8  Die folgenden Ausführungen sind teilweise eine Wiederholung von E ­ .-J. Lampe (1995), S. 12–25. 9  Zum ‚Typus‘ und seiner Bedeutung für die Jurisprudenz vgl. insbesondere K. Larenz (1992), S.  349 ff. 10  R. Schott (1988), S. 167; auch schon ders. (1970), S. 112.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

die ihre internen Angelegenheiten und ihre äußeren Beziehungen selbst ord­ nen.11 Außerhalb dieser für sie notwendigen Voraussetzung gerieten sie dann allerdings miteinander in Streit: die einen definierten das Recht ‚legalistisch‘ bzw. regelzentriert, die anderen definierten es ‚funktional‘ bzw. prozessual. a) Legalistische Definitionen des Rechts Vertreter der ‚legalistischen‘ Position, die auch als ‚rule-centered paradigm‘ bezeichnet wird12, waren vor allem die Rechtsethnologen E. Adamson Hoebel (1954), Leopold Pospíšil (1971) und Ian Hamnett (1977). Für sie war das entscheidende Charakteristikum des Rechts die Verhängung von Sank­ tionen für regelwidriges Verhalten durch eine hierzu befugte Autorität mit dem Ziel der Regelabsicherung bzw. -verstärkung13. ‚Rechts‘forschung hatte somit für sie zum Gegenstand, welche Autoritäten entscheiden und welche Regeln sie bestätigen. Leopold Pospíšil bekannte sich am ausführlichsten zu dieser Position. Er nannte vier „Attribute“, die nach seiner Meinung jedem Recht zueigen sein müssen: „Autorität“, „Intention allgemeiner Geltung“, „obligatio“ und „Sank­ tion“.14 Mittels dieser Attribute lasse sich das Recht definieren als „eine Reihe von Prinzipien institutionalisierter sozialer Kontrolle …, wobei diese Prinzipien im Wege der Abstraktion aus Entscheidungen gewonnen werden, die durch eine rechtliche Autorität (Richter, Häuptling, Vater, ein Tribunal oder ein Rat der Alten) gefällt wurden; bei diesen Prinzipien ist intendiert, dass sie allgemein gelten sollen (d. h. in allen ‚gleichartigen‘ Problemlagen in der Zukunft); sie betref­ fen jeweils das Verhältnis zweier Parteien, die in der Beziehung der obligatio zu­ einander stehen; und sie sind schließlich mit Sanktionen ausgestattet“15.

Die Kritik hat Pospíšils Definition des Rechts nicht gelten lassen. Sie stehe und falle „mit der Konzeptualisierung des Institutionalisierungsgrades der ‚Autorität‘ “. Für die Analyse akephaler Gesellschaften müsse Pospíšil diesen Institutionalisierungsgrad so gering ansetzen, „dass er wahrscheinlich jedes institutionalisierte, asymmetrische Beziehungsgefüge einzuschließen ver­ mag“. Die Entscheidungen von Führern jugendlicher Banden seien dann ebenso ‚Recht‘ wie die von Vätern, Häuptlingen, Abteilungsleitern, Gangs­ terbossen, Gerichten oder Königen. Zwar lasse sich ein derart weiter Rechts­ begriff bilden; doch sei er sinnlos, weil er auch eindeutig illegale Erschei­ etwa M. G. Smith (1974), p. 97 u. ö. Comaroff/S. Roberts (1981), p. 5 ff. 13  R. Schott (1988), S. 163; P. Just (1992), p. 374. 14  L. Pospíšil (1982), S. 65 ff.; er bezeichnet dies als „analytische Konzeption des Rechts“. Ausführlich zu Pospíšil die Diskussion bei W. Fikentscher (2016), p. 24 ff. 15  L. Pospíšil (1982), S. 136. 11  Vgl.

12  J. L.



E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 117

nungen wie etwa „Verbrecherbanden“ umschließe.16 Wolle man die vermisste Einschränkung allerdings darin sehen, dass nur Abstraktionen aus den Ent­ scheidungen „rechtlicher“ Autoritäten das Recht bilden, sei zu bemängeln, dass die Definition tautologisch wird, weil unbestimmt bleibe, was unter ei­ ner „rechtlichen“ Autorität zu verstehen ist.17 Ebenfalls als ungenügend angesehen worden sind die Definitionsversuche von E. A. Hoebel18 und von Ian Hamnett19.

b) Funktionalistische Definitionen des Rechts Die Anhänger einer ‚funktionalen‘ Rechtsbestimmung, die auch als ‚processual paradigm‘ bezeichnet wird,20 verstanden das Recht „aus dem Funk­ tionszusammenhang von sozialen Regeln und Normen mit anderen Lebens­ bereichen (Verwandtschaftsordnungen, Wirtschaft, Religion usw.)“ heraus,21 „ohne a priori festzulegen, welche sozialen Regeln oder Normen als ‚Recht‘ zu gelten haben“.22 Hauptgegenstand ihrer Untersuchungen und daher zentra­ ler Begriff ihrer Rechtsdefinition war der Streit, für dessen Regelung nach ihrer Auffassung das Recht den (im Wesentlichen prozessualen) Rahmen bildet. Sie begriffen ihn als ‚endemic feature of social life‘, der in den ge­ samten sozialen Kontext einzubetten und darin zu untersuchen sei.23 Die Kritik hat dieser Richtung „Substitution von Recht durch Streit“ vor­ geworfen.24 Ihr Vorteil sei zwar, „dass (1) Rechtskonflikte ebenso wie (2) das Recht als Mittel der Konfliktlösung ihren privilegierten Status verlieren und 16  T.

von Trotha (1987), S. 66 f., mit Bezug auf L. Pospíšil (1982: S. 71, 82, 155). von Benda-Beckmann (1986), S. 5. Vgl. ferner die Kritik bei S. Roberts (1981), S. 210, und bei W. Fikentscher (2016), p. 29 f. 18  E. A. Hoebel (1954), S. 26: Rechtsnormen seien diejenigen Normen, die, im Falle ihres Bruchs von einer über den Parteien stehenden Instanz in einem geordneten Verfahren sanktioniert werden. Diese Definition klammert sämtliche staatlichen (auch verfassungsrechtlichen) Organisationsnormen aus dem Rechtsbegriff aus. 19  I. Hamnett (1975), p. 14: „Customary law can be regarded as a set of norms which the actors in a social situation abstract from practice and which they invest with binding authority.“ Diese Definition unterliegt den gegen Pospíšils Definition vorgebrachten Bedenken; insbesondere bleibt unbestimmt, wann eine Norm als „mit bindender Autorität“ ausgestattet ist. 20  J. L. Comaroff/S. Roberts (1981), p. 11 ff. 21  Indem sie die Regeln nämlich als Teil eines funktionalen Ganzen verstehen. Vgl. dazu U. Wesel (1984), S. 534 ff. 22  R. Schott (1988), S. 162. Grundlegend für diese Forschungsrichtung war das Buch von P. H. Gulliver (1963). 23  J. L. Comaroff/S. Roberts (1981), p. 13 p. Einen Überblick über „the basic as­ sumptions of dispute theory“ geben M. Cain/L. Kulcsár (1983), p.  10 ff. 24  T. von Trotha (1987), S. 64; F. G. Snyder (1981), p. 145. 17  F.

118

Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

mithin (3) als Konstitutionsprozesse einer ‚Verrechtlichung‘ erscheinen, des­ sen Bedingungen es zu analysieren gilt, dass insbesondere (4) nicht-rechtliche Formen der Konflikt- und Streitlösung in den Blick geraten (Stichwort: ‚Al­ ternativen zum Recht‘) und dass (5) eine Verlagerung von der Analyse mate­ riellen Rechts zugunsten von Institutionen der Streitregelung und Bedingun­ gen ihrer Formen und Arbeitsweisen erfolgt“25. Dem stehe jedoch der Nach­ teil gegenüber, dass „das Konzept des Rechts selbst abhandenkommt“ und dieser Umstand auch noch als die einzig sinnvolle Antwort auf die unfrucht­ bare Frage nach dem Rechtsbegriff ausgegeben wird.26 Bedenklich erscheine darüber hinaus, dass der Begriff des Streits nicht weniger ungeklärt ist als der des Rechts. Zwar gebe es ausgiebige Diskussionen darüber, wie ‚Streit‘ von verwandten Erscheinungen wie Wettkampf, Meinungsverschiedenheit, Auseinandersetzung, Hader, Kampf usw. abzugrenzen ist.27 So liege nach vorherrschender Auffassung ein ‚Streit‘ z. B. dann vor, wenn ein ursprünglich zweiseitiger Konflikt die Öffentlichkeit erreicht und in ihr (zumeist nach standardisierten Regeln) abgehandelt wird.28 Aber werde denn nicht in allen zivilisierten Staaten der Konflikt mittels Privatisierung und Intimisierung der Familie und des Wohnens der Öffentlichkeit gerade entzogen?29 Würden nicht heute Formen der Konfliktbeilegung geschaffen, um der wachsenden Formalisierung und Bürokratisierung staatlicher Rechtspflege gerade auszu­ weichen – man denke nur an die Schiedsgerichtsbarkeit innerhalb und außer­ halb von betrieblichen Organisationen?30 Könne jene Phase, die dem öffent­ lichen Streit vorangeht, überhaupt sinnvoll abgegrenzt werden, um sie an­ schließend bei der Untersuchung auszuklammern?31 Und vor allem: Lebten nicht Menschen auch außerhalb von Streit nach rechtlichen Regeln, sei es weil sie diese durch Lebenserfahrung und Erziehung verinnerlicht haben, sei es weil sie sich vor einer Sanktion fürchten?32 25  T.

von Trotha (1987), S. 63. T. von Trotha (1987), S. 63, mit kritischem Bezug insbesondere auf R. L. Abel (1974: p. 221 ff.) und S. Roberts (1981: S.  30 ff.). 27  Vgl. M Gluckman (1965), p. 109 p.; ferner M. Cain/K. Kulcsár (1983), p. 10; S. Roberts (1981), S.  46 ff.; R. L. Abel (1974), p.  226 ff.; P. H. Gulliver (1969), p. 14. 28  P. H. Gulliver (1969), p. 14; (1979), p. 75; R. L. Abel (1980), p. 227; F. G. Snyder (1981), p. 147 (zusammenfassend). 29  T. von Trotha (1987), S. 69. 30  Vgl. etwa L. Nader (1978), p.  83 ff. 31  Verneinend etwa J. Starr (1978), p.  125 ff.; B. Yngvesson (1978). 32  N. Rouland (1988), p. 73, der sich deshalb für eine Synthese aus „analyse nor­ mative“ und „analyse processuelle“ entscheidet. Vgl. aber auch E. Ehrlich (1913), S. 17: „Es ist dem Recht weder begriffswesentlich, dass es vom Staate ausgehe, noch auch, dass es die Grundlage für die Entscheidungen der Gerichte oder anderer Behör­ den, oder für den darauf folgenden Rechtszwang abgebe“, sondern dass es im tagtäg­ lichen Leben befolgt wird. 26  So



E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 119

c) Vermittelnde Auffassungen Mittlerweile zeichnet sich daher eine Verbindung zwischen der prozessua­ len und der regelzentrierten Perspektive ab.33 Zum einen wird innerhalb der Erforschung von Streitverfahren auch der Regelanwendung, zum anderen innerhalb der Erforschung der Regelanwendung auch dem staatlichen Recht und – damit verbunden – den staatlichen Gerichtsverfahren wieder mehr Bedeutung zugemessen. Franz von Benda-Beckmann bezeichnet die Vertreter dieser letztgenannten Richtung als „Genremischer“. Sie hätten eingesehen, „dass das ‚Recht‘ von Institutionen, Verbänden, semi-autonomen Bezie­ hungs- und Interaktionsnetzwerken aus einer Vielzahl von Regelungskomple­ xen besteht, wovon das Recht des Staates und der Rechtswissenschaft nur eines ist“34. Sie hielten infolgedessen einerseits Distanz zur herrschenden Ideologie des Westens, die den Rechtsbegriff an den Staat als Souverän kop­ pelt, andererseits aber auch zu jenen Rechtsethnologen, die das Recht als einen (nahezu) ununterscheidbaren Faktor innerhalb der Gesamtheit gesell­ schaftlicher Normen betrachten.35 Wodurch aber hebt sich dann nach Auffassung der „Genremischer“ das Recht von den sonstigen sozialen Normen ab? Masaji Chiba meint, jedes Recht müsse entweder offiziell, d. h. vom Staate gesetzt oder anerkannt, oder zwar inoffiziell sein, aber deut­ lichen Einfluss auf die tatsächliche Geltung des offiziellen Rechts haben.36 Damit macht er jedoch einerseits die Existenz von Recht mittelbar wieder vom Staat abhän­ gig und erhebt andererseits auch bloße Sittennormen, wenn sie die Auslegung staatli­ chen Rechts beeinflussen (vgl. etwa § 138 BGB), in den Rang von Rechtsnormen. S. F. Moore und J. Griffiths sehen stattdessen grundsätzlich alle Selbststeuerungsnor­ men eines ‚sozialen Feldes‘ als Recht an – allenfalls mit der Einschränkung, dass sie hinreichend ausdifferenziert und spezialisierten Funktionären zwecks Kontrolle des Sozialverhaltens überantwortet sein müssen.37 Damit lassen sie indessen das Spezifi­ kum des Rechts unterbelichtet; es geht in der Struktur sozialer Felder und in der dort vorhandenen Autonomie scheinbar auf – in Wahrheit jedoch unter.

3. Deduktive Bestimmungen des Rechtsbegriffs Deduktive Bestimmungen des Rechtsbegriffs nehmen ihren Ausgang meis­ tens bei Immanuel Kant.38 Dieser hielt eine bloß empirische Rechtslehre für J. L. Comaroff/S. Roberts (1981), p. 17 ff. von Benda-Beckmann (1991), S. 103, unter Hinweis auf C. Geertz (1983). 35  F. von Benda-Beckmann (1991), S. 105 f., 112. 36  M. Chiba (1986), p. 6; vgl. auch p. 386: „It is clearly evident, that further steps are necessary before the concept of inofficial law can be finalized“. 37  S. F. Moore (1973), p. 720, 722; J. Griffiths (1986), p. 38 f., 50. 38  I. Kant (1798), Einleitung in die Rechtslehre, § B. 33  Vgl. 34  F.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

so hohl wie den hölzernen Kopf in des Phädrus’ Fabel: „Ein Kopf, der schön sein mag, nur schade! dass er kein Gehirn hat.“ Stattdessen bestimmte er das Recht apriorisch (d. h. unabhängig von jeder Empirie) aus Merkmalen, die er dem menschlichen Bewusstsein entnahm – aus der Freiheit des Menschen, der Gleichheit mit seinen Mitmenschen und der Allgemeinheit der Regeln ihres sozialen Zusammenlebens: „Das Recht ist der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusam­ men vereinigt werden kann.“

Kant ließ unklar, warum uns das menschliche Bewusstsein einerseits ge­ rade zu diesen Begriffsmerkmalen verhilft. Und er ließ auch offen, warum der Rechtsbegriff andererseits gerade durch diese Merkmale vollständig be­ stimmt sein soll. Zum einen stupiert, dass das Recht ein „Inbegriff von Be­ dingungen“ sein soll, während doch das allgemeine Bewusstsein es eher als einen ‚Inbegriff von Normen‘ begreift. ‚Bedingungen‘ sind etwas nur theo­ retisch, nur gedanklich Vorhandenes; Recht aber muss in der sozialen Rea­ lität auch praktisch vorhanden sein – es muss dort wirken und, anders als Sitte und Moral, notfalls auch autoritativ durchgesetzt werden.39 Spätere Definitionen haben deshalb fast stets den sowohl normativen als auch zwin­ genden Charakter des Rechts betont oder zumindest gefordert, dass das Recht für das soziale Erleben „Determinationskraft“ besitzen müsse.40 Wichtiger noch ist, dass der Kantischen Definition jeder Hinweis auf den Zweck des Rechts fehlt und deshalb jeder beliebige Inhalt zum Inhalt einer Rechtsnorm werden kann.41 Spätere Definitionen haben deshalb zumeist den sittlichen oder zumindest den prosozialen Charakter des Rechts betont, der krass unsittliche bzw. asoziale Inhalte aus dem Rechtsbegriff aus­ schließt.42 Die Neukantianer schlossen sich dem Kantischen Apriorismus bei der Bestimmung des Rechtsbegriffs nicht an. Rudolf Stammler, der bekannteste unter ihnen, meinte vielmehr, dass man „stets die Möglichkeit seiner Anwen­ dung im Auge behalten“ müsse.43 Daher ging er von der Erfahrung eines geschichtlich gegebenen Rechts aus und versuchte, diese Erfahrung – ohne

39  G.

Rümelin (1881), S.  326 f. Zippelius (1989), §  4 m. w. Nachw. 41  G. W. F. Hegel (1802/03), S. 461. 42  Zu erwähnen ist hier vor allem die bekannte Formulierung G. Radbruchs (1973, S. 346), dass „man Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren kann denn als Ordnung und Satzung, die ihrem Sinn nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen“. Vgl. ferner G. Rümelin (1881), S.  327 ff. 43  R. Stammler (1928), § 24. 40  R.



E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 121

Rücksicht auf kulturelle Besonderheiten – zu analysieren und das Ergebnis in Definitionsmerkmalen zusammenzufassen.44 Ausgangspunkt seiner Analyse war der Unterschied zwischen kausaler und finaler Bestimmung von Vorgängen in der Zeit. Kausal werde etwas als Wirkung einer vor­ ausgegangenen Ursache erkannt, final dagegen etwas als Mittel für ein zukünftiges Ziel erwählt.45 Da Gegenstand des Rechts nicht die Erkenntnis eines Ursache-Wir­ kung-Zusammenhangs sei, gehörten seine Normen offenbar dem Bereich von Mittel und Zweck an. Und da die Auswahl von Mitteln für einen Zweck vom Wollen getrof­ fen werde, bedeute „der Gedanke des Rechts eine Art des Wollens“, jeder Rechtssatz ein gewolltes Mittel für „ein zu bewirkendes Ziel“.46 Vom Wollen als dem allgemei­ nen Oberbegriff des Rechts gelangte Stammler dann über die weiteren Begriffe des „verbindenden Wollens“, des „selbstherrlich verbindenden Wollens“ zum „unverletz­ lich selbstherrlich verbindenden Wollen“ und damit letztendlich zur Definition des Rechts.

Was Stammler mit seinen Definitionsmerkmalen im Einzelnen meinte, brauche ich hier nicht auszuführen. Denn zu bestreiten ist schon die Mög­ lichkeit, mittels einer Analyse des menschlichen Bewusstseins das Recht zu definieren. Das Recht ist kein Gegenstand allein des Bewusstseins, sondern darüber hinaus des Handelns und noch darüber hinaus der sozialen Interak­ tion und der Verfassung spezifischer sozialer Gebilde. Und es wird überdies nicht nur vom Willen, sondern auch von individuellen Bedürfnissen und so­ zialen Interessen sowie von kulturellen ‚patterns‘ gestützt oder begrenzt.47 Doch wenn weder Induktion noch Deduktion zum Rechtsbegriff führen – welche Methode hilft dann weiter? 4. Typologische Bestimmungen des Rechtsbegriffs Am besten geeignet zur Bestimmung eines einheitlichen Rechtsbegriffs erscheint mir jene Methode zu sein, die Ludwig Wittgenstein begründet hat und die man als ‚typologische Methode‘ bezeichnen kann. Wittgensteins Ausgangspunkt war die scheinbar so plausible These: Wenn wir Gegenstände unter einen gemeinsamen Begriff bringen, dann müssen sie etwas Gemeinsa­ mes haben. Wittgenstein hielt diese These für falsch. Warum sie falsch ist, verdeutlichte er durch Einführung des Terminus „Familienähnlichkeit von Begriffen“48. Anhand des Wortes ‚Spiel‘ wies er nach, dass es unmöglich ist, 44  R.

Stammler (1928), § 5. Stammler (1928), § 25. 46  R. Stammler (1928), § 30. 47  Im Einzelnen habe ich das an anderer Stelle begründet (E.-J. Lampe, 1988, S.  42 ff., 138 ff.). 48  L. Wittgenstein (1969), Nr. 67. 45  R.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

die Gemeinsamkeit aller Spiele – das, was ihr ‚Wesen‘ ausmacht – zu finden. Denn keine Eigenschaft, die als definiens in Betracht kommt, sei allen Spie­ len gemeinsam: weder dass Glück oder Geschicklichkeit eine Rolle spielen, noch dass sie unterhaltend sind, noch dass es Gewinner und Verlierer gibt. Vielmehr sprängen Ähnlichkeiten ins Auge, die einander übergreifen und kreuzen.49 Statt nach Gemeinsamkeiten und allgemeinen Wesenszügen zu suchen, müsse der Philosoph daher die Mannigfaltigkeit von Erscheinungen beachten und sich damit begnügen, dass ihre Ähnlichkeit uns Anlass ist, sie mit demselben Sprachzeichen zu belegen.50 Folgt man dieser Methode, dann kann man auch den Begriff ‚Recht‘ als sprachliche Bezeichnung für eine Mannigfaltigkeit von Erscheinungen neh­ men, die einander ähnlich (‚familienähnlich‘) sind, sodass man auf die ‚klas­ sische‘ Definition des Rechtsbegriffs durch Angabe der notwendigen und hinreichenden Merkmale verzichten kann. Allerdings – bliebe man hierbei stehen, liefe man Gefahr, dass der Rechtsbegriff ausufert, indem eine prinzi­ piell unendliche Anzahl von Ähnlichkeiten in ihn Aufnahme findet. Deshalb muss man innerhalb des Rechtsbegriffs zusätzlich noch abstufen und unter­ scheiden zwischen Eigenschaften, die dem Recht notwendig sind, weil sie ihm von jeher zukamen (‚prototypischen Eigenschaften‘), und Eigenschaften, die ihm nicht notwendig sind, aber ihm später hinzugefügt wurden und heute für eine hinreichende Bestimmung des Rechts gebraucht werden (‚realtypi­ schen Eigenschaften‘).51 Jene lassen sich teils anthropologisch aus der Natur des Menschen, teils soziologisch aus der sozialen Organisation seiner Le­ bensweise begründen, diese ethnologisch durch die Untersuchung jener Fülle von Kulturen, die der Mensch im Laufe seiner kulturellen Entwicklung nach­ einander oder nebeneinander herausgebildet hat. Zusammengehalten werden sie dann durch den philosophischen Telos des Rechts: die ‚Gerechtigkeit‘ bzw. das, was die Geltung des Rechts als Recht begründet.

49  L.

Wittgenstein (1969), Nr. 66. Auffassungen werden in der denkpsychologischen Forschung im Rah­ men des Prototypansatzes (W. Labov, 1973; E. H. Rosch, 1973, 1975) vertreten. Da­ nach gibt es zu vielen Begriffen zwar Gegenstände, die diese in prototypischer Weise repräsentieren, daneben aber auch eine ganze Reihe von Gegenständen, die vom Prototyp mehr oder weniger abweichen. Solche Gegenstände werden dem Begriff aufgrund einerseits perzeptueller, andererseits aber auch funktioneller Merkmale zu­ geordnet, wobei keineswegs alle Merkmale vorliegen müssen, um einen Gegenstand als positives Beispiel für einen Begriff erscheinen zu lassen. E. H. Rosch/C. B. Mervis (1975) haben darüber hinaus nachgewiesen, dass die Begriffszugehörigkeit in vielen Fällen mit dem Prinzip der Familienähnlichkeit korreliert, dass also die Anzahl über­ einstimmender Eigenschaften zwischen Begriffskandidaten und Begriffsmitgliedern über die begriffliche Zuordnung entscheidet (vgl. insbes. S. 603). 51  Siehe dazu auch H. Wennerberg (1967), p.  116 ff. 50  Ähnliche



E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 123

a) Anthropologische Bestimmung der Begriffskonstanten Ich beginne mit dem Aufweis derjenigen Eigenschaften, welche dem Recht von jeher zukamen, weil sie zwingend aus seiner Verbindung mit dem Men­ schen folgten. Da unbestritten von Sachen, Tieren, Wind und Wetter, kurzum von der Natur kein Recht herrührt – wo Naturgesetze walten, ist dem Recht der Zugang versperrt –, muss Urheber des Rechts eine Eigentümlichkeit des Menschen gewesen sein, die ihn über die Natur hinaus hob.52 Diese Eigen­ tümlichkeit war das – dem menschlichen Wollen nahestehende – Sollen. Dass die Psyche des Menschen im Laufe der Entwicklung eine Sollens­ struktur in sich aufnahm, kann als unbestritten gelten. Wie es dazu kam, liegt allerdings weitgehend im Dunkeln und lässt sich wahrscheinlich niemals vollständig aufklären. M. E. muss uns die Vermutung genügen, dass (a) der aus dem allgemein-genetischen Trieb sich fortschreitend herausdifferenzie­ rende individuale menschliche Wille und (b) der zur sozialen Neigung sich abschwächende Sozialinstinkt irgendwann einmal amalgamierten und (c) ein neues Ganzes mit neuen Gesetzmäßigkeiten herausbildeten – das System der sozialen Normen, das an die Stelle des natürlichen Systems instinktiver Ver­ haltenssteuerung trat und, sprachlich geformt, das Gemeinschaftsleben in Zucht nahm.53 Recht lässt sich auf dieser Grundlage definieren als System sozialer Verhaltensnormen, die einem verpflichtenden Gemeinwillen sprachlichen Ausdruck verleihen.54 Diese Definition führt uns allerdings noch nicht bis zum Recht. Die eigentlich rechtlichen Normen mussten auf der genannten Grundlage erst noch entstehen. Doch waren die Weichen bereits so weit gestellt, dass die Rechts­ normen sich auf der Sollensgrundlage ausdifferenzieren, also jene dimensio­ nale Formung in sich aufnehmen konnten, welche die menschliche Psyche insgesamt55 und damit auch das darin enthaltene Sollen charakterisiert: die Dimensionierung in ‚Lust – Unlust‘, ‚Erregung – Beruhigung‘, ‚Submis­ sion – Dominanz‘ und ‚Kontrolle – Kontingenz‘. Auf dieser Dimensionie­ rung beruhen insbesondere jene vier Rechtsdimensionen, die sich bis heute erhalten haben: ‚Recht vs. Unrecht‘, ‚Rechtstatbestand vs. Rechtsfolge‘, ‚Recht vs. Pflicht‘ sowie ‚Rechtskontrolle vs. Rechtsfreiheit‘. Doch hat auch die Mehrdeutigkeit des Rechtsbegriffs darin ihren Ursprung, die in den Attri­ buten ‚objektives‘ Recht (vs. Unrecht), ‚bestimmendes‘ (vs. ‚sanktionieren­ des‘) Recht, ‚subjektives‘ Recht (vs. Pflicht) und ‚Schutz‘- (vs. ‚Freiheits‘-) auch R. Schott (1985), S. 163. genauer dazu unten J 1 sowie E.-J. Lampe (1987), S.  70 ff. u. ö. 54  In diesem Sinne etwa T. O. Elias (1956), p. 55: „The law of a given community is the body of rules which are recognized as obligatory by its members.“ 55  Vgl. oben C 1 b. 52  So

53  Vgl.

124

Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Recht zum Ausdruck kommt. Und endlich folgt daraus, dass eine Rechtsnorm wie etwa die des heutigen deutschen § 212 StGB „Wer einen Menschen tötet, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft“ (genauer: „Wer ei­ nen Menschen getötet hat, soll mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft werden“) viererlei beinhaltet: (a) die Bewertung der Tötung als Un­ recht, (b) die genauen Voraussetzungen und Folgen dieses Unrechts, (c) den (staatlichen) Strafanspruch und die Strafschuld sowie, in Verbindung mit prozessualen Normen, (d) die Kontrolle der Rechtsverwirklichung. b) Soziologische Bestimmung der Begriffskonstanten Soziologisch waren die urtümlichen Sollensnormen (‚Urnormen‘) noch kein Recht. Sie bildeten lediglich die Grundlage, auf der das Recht entstand – wesentlich später als die Urnormen, wesentlich früher aber als die ersten rechtlichen Urkunden, die uns von Rechtsgesetzen Kunde geben, etwa als die leges Urnamma in Altmesopotamien (vor 2100 v. u. Z.) oder das XII-Tafelge­ setz vom Beginn der Römischen Republik (ca. 450 v. u. Z.). Geburtshelfer waren die Verletzer der Urnormen, die ‚Abweichler‘; denn sie lieferten jene Wirkkräfte, die das Recht aus dem sozialen Uterus hervortrieben. Gewöhn­ lich war ihre Wirkung zwar eng begrenzt; doch ganz gelegentlich ‚flippte‘ einer ‚aus‘ und tat etwas, was alle anderen niemals getan hätten: er verhielt sich ‚deviant‘, er ‚spielte verrückt‘ – und dann war die Gemeinschaft ge­ zwungen, Strategien zu entwickeln, wie sie mit ihm fertig wird.56 Das geschah bereits in den vorrechtlichen Gemeinschaften. Hauptsächlich wandte man familiäre Maßnahmen an, die vom Entzug der Aufmerksamkeit bis zur Aussto­ ßung gingen – was in nomadischen Gesellschaften oft gleichbedeutend mit Tod war.57 Solche Maßnahmen schieden indes aus, wenn ein Familienmitglied einer anderen Familie Schaden zufügte oder wenn mehrere Familien miteinander stritten. Zwei streitende Brüder konnten von ihrem Vater getrennt werden; zwei streitende Männer aus nicht verwandtschaftlich verbundenen Familien warfen Vermittlungsprobleme auf. Eine gemeinsame Autoritätsperson gab es nicht – die Familien standen einander im Rang gleich. Manchmal konnte ein Älterer den Streit schlichten, manchmal die gemeinsame Beratung zu einer Übereinkunft führen, manchmal auch ein öffentlicher Wettkampf (Boxen, Ringen, Speerwerfen, Streitgesang) die Entscheidung bringen. Klappte das nicht, dann blieb nur der Krieg – die egalitären Formen der Konfliktbei­ legung hatten ihre Kraft verloren, die kulturelle Evolution war in einer Sackgasse. Nur eine neue soziale Strategie konnte sie hieraus befreien; und deshalb galt der Entwicklung dieser Strategie die Hauptsorge in allen Sozietäten. 56  Der Wert des ‚Streits‘ für die Entwicklung der Gesellschaft wird heute meistens auch von denen anerkannt, welche die Gesellschaft als ‚geordnet‘ definieren. Ihnen kommt es auf das ‚rechte Verhältnis‘ zwischen beiden, Streit und Ordnung, an. Aller­ dings kann dieses Verhältnis unterschiedlich bewertet werden (vgl. dazu unten c). 57  J. Makarewicz (1906), S. 216; E. R. Service (1977), S. 86.



E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 125

Die Suche nach einer neuen Strategie zur Konfliktbeilegung brachte je nach ökologischem und sozialem Umfeld unterschiedliche Ergebnisse hervor und damit auch unterschiedliche Formen sozialer Kontrolle. Auf Dauer am wirkungsvollsten erwies sich jene Strategie, die sich später in hierarchisch aufgebauten Gemeinschaften vollends durchsetzte: die Streitentscheidung durch sowohl mächtige als auch unparteiische Dritte. Sie verlangte nach Autoritätspersonen, deren Autorität nicht genetisch, sondern kulturell be­ gründet war und deren Macht wirkungsvoll durch Zwangsbefugnisse gestützt wurde. In den egalitären Gemeinschaften gab es sie noch nicht. Dort war es mal der Sippenälteste, auf dessen Ansehen und Erfahrung man vertraute, mal ein angesehener ‚Vermittler‘ (Go-between) oder ‚Priester‘ – jedenfalls einer, der ein gutes Gespür für die allgemeine Meinung hatte und sie zu verlautba­ ren verstand, das kontrovers geführte Gespräch zwischen den Parteien zu einem Ergebnis lenken konnte oder in den gemeinsamen Zeremonien Be­ scheid wusste und deshalb berufen war, sich mit den Göttern oder Ahnen zu beraten. Fehlte es an einer solchen Autoritätsperson, dann mussten sich ent­ weder die Oberhäupter der streitbeteiligten Familien zusammenfinden und den Streitfall schlichten oder, falls das nicht gelang, ihn der Gemeinschaft unterbreiten, damit diese ein weiteres Schwelen unterband. Präjudizien für künftige Fälle wurden auf diese Art nicht geschaffen, erst recht keine Nor­ men, die künftig für alle galten. Erst die hierarchische Struktur der Gemein­ schaften veränderte die Situation: Auf ihrer Grundlage unterstanden sowohl die Mitglieder der Gemeinschaft als auch gewisse Sachbereiche der Herr­ schaft eines Anführers (‚Häuptlings‘). Und als es gelang, dessen Herrschaft zu institutionialisieren,58 war entwicklungsgeschichtlich der entscheidende Schritt nach vorn getan.59 Denn die Institutionalisierung war Ausdruck einer neuen Dimension des sozialen Zusammenlebens: der Zivilisation. Was aber bedeutet ‚Zivilisation‘? Kennzeichnend60 für sie war eine neue Form der politischen Organisation,61 welche den Mitgliedern der Gemein­ 58  ‚Institutionalisieren‘ bedeutet entindividualisieren und als gesellschaftliche Funktion auf Dauer stellen. Das Ausmaß der Institutionalisierung unterlag selbstver­ ständlich geschichtlicher Entwicklung, sowohl was die Festigkeit der Institutionen als auch was ihre Macht zur Durchdringung des sozialen Lebens anbelangt. Die Entwick­ lung ging, zumeist kontinuierlich und insgesamt irreversibel, von einem ‚Weniger‘ zu einem ‚Mehr‘. Zum Begriff der ‚Herrschaft‘ vgl. noch unten 2 d. 59  Ich folge insoweit E. R. Service (1977), zusammenfassend S. 374 ff. 60  Der Begriff ‚Zivilisation‘ ist vielseitig einsetzbar. Teilweise wird er in Gegen­ satz zu ‚Kultur‘ gestellt, doch eine solche Entgegensetzung ist hier nicht intendiert. ‚Kultur‘ stellt vielmehr eine Bereicherung der ‚Zivilisation‘ dar, indem sie ihr völki­ sche, ethnische oder nationale Züge verleiht. Vgl. dazu noch unten J 4 c. 61  An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass man zwischen ‚politischem Sys­ tem‘ und ‚Staat‘ zu unterscheiden hat. Ein ‚Staat‘ ist nicht nur eine politische, d. h. auf Dauer angelegte, funktional autonome und mit Herrschaftsbefugnissen ausgestat­

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

schaft Rollen zuwies, sie bestimmten Funktionen verband und gleichzeitig eine oder mehrere Zentralinstanzen schuf, die über die Erfüllung der Funkti­ onen wachten. Sie ermöglichte Gemeinschaften von nahezu beliebiger Größe und Komplexität und stellte deshalb eine neue Entwicklungsstufe im mensch­ lichen Zusammenleben dar. Dass sie es tat, verdankte sie insbesondere jener neuen Art des Sollens, die auf ihrer Grundlage erwuchs: dem rechtlichen Sollen. Das Recht war somit, soziologisch gesehen, ein Produkt der Zivilisa­ tion. Einmal in Gang gesetzt, war der Zivilisationsprozess umfassend. Er ergriff nicht nur die Einzelsubjekte, die zu Personen mit abstrakt gleichen Rechten und Pflichten wurden und deren individuale Macht sich zur entindividuali­ sierten Rechtsmacht wandelte. Er ergriff auch die Gemeinschaft insgesamt, die zur Gesellschaft, zur juristischen Einheit von Rechtsgenossen wurde und deren hierarchischer Bau die politische Herrschaft und schließlich den Staat als deren vorerst bestorganisiertes Produkt hervorbrachte. Individuen und Gemeinschaft waren darin umfassend verortet; sie hatten sich aus ihren ‚na­ iven‘ Verbindungen und Verbänden gelöst und diese in ‚kulturell‘ geformte Beziehungen und Gebilde verwandelt. Und die Organisation dieser Bezie­ hungen und Gebilde – auch die ihres Streits! – war Aufgabe von allgemein­ gültigen (zunächst allerdings: nicht notwendig abstrakten) Rechtsnormen geworden. Damit haben wir die weiteren Merkmale gefunden, die uns für die Rechts­ definition dienen sollen. ‚Recht‘ ist danach eine Summe von sozialen Normen; es bewertet soziale Prozesse und Zustände, knüpft an sie positive oder negative Folgen, begründet Ansprüche und Verpflichtungen und wirkt so als Kontrollinstanz über das soziale Leben; es beruht entweder auf einem sozialen oder politischen Willen (Gemeinschaftswillen oder Willen kompetenter ‚Personen‘, d.s. Individuen oder ‚Organe‘ einer ‚Gesellschaft‘ oder eines ‚Staates‘) oder auf spontanen psychosozialen Prozessen; es wird sprachlich verlautbart und ist im Streitfall unter Einschaltung kompetenter Instanzen nach allgemeinen Verfahrensregeln durchsetzbar.62 tete, Organisation von Menschen innerhalb eines umgrenzten Gebietes, sondern darü­ ber hinaus auch die Heimat einer umfangreichen Bürokratie, die sich insbesondere durch die schriftliche Dokumentation wesentlicher Verwaltungsvorgänge hervortut (vgl. unten 5). Dagegen ist für ein ‚politisches System‘ eine solche Bürokratie nicht erforderlich; ihr genügt das Vorhandensein von – nicht verwandtschaftlich organisier­ ter – Herrschaft. Gesellschaft und Kirche beeinflussen dieses System, sind aber nicht deren Teil. Vielmehr ist es gerade das Kennzeichen eines politischen Systems, dass zwischen seiner Organisation auf der einen Seite, Gesellschaft und Kirche auf der anderen Seite klare Grenzlinien vorhanden sind. 62  Die meisten soziologischen Definitionen des Rechts stimmen mit der hier ge­ gebenen überein, stellen aber ausschließlich auf den Staat und seine Organe, Apparate



E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 127

Diese Definition gilt für die gesamte Rechtsentwicklung – der Rechtsbe­ griff bleibt m. a. W. im Frührecht, Kernrecht und Spätrecht genidentisch, in­ dem er u. a. die Gattung der Rechtsnormen aus der Klasse der Sollensnormen eindeutig abgrenzt. Weitere Begriffsmerkmale schaffen zwar noch Differen­ zierungen, z. B. zwischen staatlichem und privatem, ‚westlichem‘ und ‚östli­ chem‘, analytisch-wissenschaftlichem und holistisch-globalisierendem Recht. Aber diese Differenzierungen beeinflussen nicht mehr den gattungstypischen Charakter des Rechts ‚als solchen‘. Sie schaffen m. a. W. kein neues Recht, sondern nur noch diachron oder synchron zueinanderstehende Rechts‚fami­ lien‘.63 c) Kulturelle Bestimmung der Begriffsvariablen Die vorstehend entwickelte Rechtsdefinition enthält nur die notwendigen, nicht auch die hinreichenden Bestimmungsgründe des Rechts – obwohl die empirischen Rechtsordnungen erst in ihnen ihre sie kennzeichnende Gestalt gewinnen.64 Denn sie vernachlässigt alle soziokulturellen Besonderheiten des Rechts. Diese betreffen zum einen die tragenden Rechtsprinzipien, die in unterschiedlichen Kulturen unterschiedliche Bedeutungen annehmen und damit dem Recht seinen unterschiedlichen Charakter verleihen – man denke etwa an das Gewaltverbot, den Treuegedanken (‚pacta sunt servanda‘), das Prinzip der Verantwortlichkeit, das Konzept des Eigentums und die Fairness im Wettbewerb. Sie betreffen zum anderen die Institutionen für Rechtsset­ zung, Rechtserkenntnis und Rechtsdurchsetzung: Die Form der Verlautba­ rung von Normen etwa ist in den einen Rechtsordnungen so wichtig, dass von ihrer Einhaltung ihre Gültigkeit abhängt; andere Rechtsordnungen dage­ gen vernachlässigen sie. Die Auslegung von Normen wird in den einen Rechtsordnungen den Gerichten anvertraut,65 in den anderen wird sie Herr­ schern, Priestern oder Weisen vorbehalten. Die Durchsetzung von Rechtsnor­ und Stäbe ab. Sie sind daher Variationen eines ‚etatistischen‘ Rechtsbegriffs, oft zu­ sätzlich hingeordnet auf den modernen Territorialstaat. Ihnen entgegen steht die Defi­ nition E. Ehrlichs (1913/1963), der für das ‚Recht‘ auf die Anerkennung von sozialen Normen seitens ihrer Adressaten abstellte und danach unterschied, ob der Bruch einer Norm „Empörung“ oder aber „Entrüstung“, „Ärgernis“, „Missbilligung“, „Lächer­ lichkeit“ oder „kritische Ablehnung“ auslöst. Nur im erstgenannten Fall handle es sich um eine Rechtsnorm, in allen anderen Fällen dagegen um eine Norm der Moral oder der Konvention (S. 132). 63  Zum Begriff ‚Rechtsfamilie‘ vgl. R. David/G. Grasmann (1966), S.  16 ff. 64  Dies ist heute allgemein anerkannt – vgl. etwa H. Coing (1993), S.  131 ff.; M. Chiba (1986), p.  1 ff. 65  Vgl. W. Seagle (1941), p. 34: „The text of law in the strict sense [!] is the same for both primitive and civilized communities: namely the existence of courts.“

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

men obliegt in einem Volke der staatlichen Gewalt,66 im anderen muss ent­ weder der Verletzte selbst oder seine Sippe die Initiative ergreifen,67 im in­ ternationalen Bereich bedarf sie der Initiative der ganzen Nation, usf. Noch einmal: Diese Besonderheiten sind nicht notwendige, sondern zusätzliche Merkmale, die dennoch ein Recht erst wahrhaft zum Recht eines Volkes (ei­ nes Volksteils, einer Völkergemeinschaft) machen, weil hauptsächlich sie das Rechtsbewusstsein der Rechtsadressaten prägen. Auch entsteht und entwi­ ckelt sich erst durch sie das ‚lebendige Recht‘, das der Kultur eines Volkes (eines Volksteils, einer Völkergemeinschaft) zugehört und nicht nur der menschlichen Zivilisation. Kulturbedingt war daher stets auch die Wertschätzung, die dem Recht im öffentli­ chen Leben entgegengebracht wurde. Den Chinesen war das Recht ein Anzeichen von Barbarei; denn im edlen Menschen waltet nach ihrer Meinung ein natürliches Gesetz, das zum Frieden und, wenn es Streit gab, zur Versöhnung verpflichtet. Den Deut­ schen, die den Menschen als frei und nur durch das Recht begrenzt ansahen (vgl. Art. 2 I GG), war dagegen der „Kampf ums Recht“ nötig, um sozialen Frieden zu gewinnen.68 Den Japanern erschien die Gleichheit des Menschen vor den Rechtsge­ setzen als eine Dekapitation ihrer Persönlichkeit, weshalb man das Recht möglichst nur für so depersonalisierte Angelegenheiten wie Handel und Industrie einsetzen solle. Die Deutschen und mit ihnen viele andere Europäer haben dagegen heute kaum Bedenken, das Recht auch zur Regelung von Bereichen einzusetzen, die früher wegen ihrer Intimität dem Recht strikt entzogen waren (z. B. im familiären Bereich). Den afrikanischen Völkern waren gute Beziehungen zu ihren Göttern und Geistern wich­ tiger als die Ausbildung von Rechtspositionen. Den europäischen Völkern dagegen ist die Rechtsstaatlichkeit wichtiger als die Beziehungen zu den transzendenten Mächten, die sie vielmehr der Konkurrenz von Glaubens- und Religionsgemeinschaften über­ lassen.

d) Philosophische Bestimmung des ‚Rechtlichen im Recht‘ So unterschiedlich die kulturellen Besonderheiten des Rechts indes auch sind – sie dienen allesamt einem einheitlichen Ziel: der Herstellung von Gerechtigkeit. Die hier entwickelte Definition des Rechts, die dieses Ziel nicht erwähnt, ist deshalb auch insofern unvollständig. Sie ist es bewusst, denn bei E. A. Hoebel (1954), p. 277. Eigeninitiative zur Rechtsdurchsetzung unterscheidet sich von der ‚Rache‘, weil sie nicht im Zorn der Verletzten oder seiner Angehörigen, sondern in den aner­ kannten Normen der Gesellschaft ihr Maß findet. Vgl. E. A. Hoebel (1954), p.  276 f.; R. Schott (1970), S. 129. 68  R. von Jhering (1874), S. 1 (Motto: „Im Kampfe sollst Du Dein Recht finden.“) und S. 2: „Alles Recht in der Welt ist erstritten worden, jeder Rechtssatz, der da gilt, hat erst denen, die sich ihm widersetzen, abgerungen werden müssen … Darum führt die Gerechtigkeit, die in der einen Hand die Waagschale hält, mit der sie das Recht abwägt, in der anderen das Schwert, mit dem sie es behauptet.“ 66  Vgl. 67  Die



E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 129

der Gerechtigkeit handelt es sich um ein offenes Ziel, das keine klaren Vor­ gaben für die völkischen Rechte enthält, sondern jedem Volk lediglich die­ selbe Aufgabe stellt, um deren Erfüllung es sich sowohl allein als auch ge­ meinsam mit anderen Völkern bemühen muss. Zunächst hatten die Völker die Gerechtigkeit entweder aus der Natur oder aus Gott als ihrem Schöpfer abgeleitet. Das bot sich ihnen an, weil sie sich (zumindest unterschwellig) bewusst blieben, dass soziale Normen die Auf­ gabe haben, unwirksam gewordene Naturgesetze zu ergänzen oder zu erset­ zen – und das schien ihnen am besten möglich, wenn sie deren Vorgaben in sich aufnehmen und deren Charakter lediglich ausdifferenzieren. Daneben war den Völkern aber auch das voluntaristische Element ihrer Rechtssetzung bewusst, selbst wenn sie es als ‚Willen Gottes‘ oder als Willen ihres gottbe­ gnadeten Herrschers ausgaben. Erst später stellten sie dem volutaristischen Element ein rationales zur Seite: die Sachgerechtigkeit. Und erst seither galten Normen vor allem dann als ‚richtiges Recht‘, wenn sie sich ‚in der Sache‘ bewährten und sich das ‚richtige Verhalten‘ im Alltag aus ihnen ab­ leiten ließ.69 Für Krisenzeiten Normen zu entwickeln, erschien dagegen ris­ kant; denn Krisen waren unberechenbar, weshalb das für sie Richtige ad hoc gefunden werden musste – noch heute besteht Krisenmanagement ja vor al­ lem darin, dass man den ‚Ausnahmezustand‘ ausruft, d. h. die für Normalzu­ stände geltenden Normen außer Kraft setzt und stattdessen ad-hoc-Anord­ nungen erlässt. Die Sachgerechtigkeit für Normalzustände dagegen konnte man ermitteln, sofern man gewisse Leitprinzipien als Prämissen akzeptierte: beispielsweise die soziale Gerechtigkeit für das Zusammenleben in der Ge­ meinschaft, die distributive Gerechtigkeit (suum cuique tribuere) für die Aufgabenverteilung innerhalb der Gemeinschaft, die providentielle Gerech­ tigkeit (bzw. iustitia gubernativa) für die Vorsorge auf die Zukunft, die reziproke Gerechtigkeit für den Austausch von Leistungen, aber auch für die Vergeltung von sozialem Fehlverhalten („tit for tat“70), und die symmetrische Gerechtigkeit für die Machtverteilung sowie für die Struktur von Streitver­ fahren zwischen den Parteien.71 69  Der Übergang wird historisch sichtbar, wenn die alttestamentlichen Propheten angesichts der Deportation der Juden ins babylonische Exil nach der Gerechtigkeit Jahwes fragten und diese mangels sachlich erkennbarer Gründe nur dadurch glaubten retten zu können, indem sie eine ‚Schuld‘ Israels postulierten; oder wenn die Vor­ sokratiker das kosmische Recht noch als eine gottgegebene Ordnung begriffen, die von den Priestern zu weissagen war, man später aber das ius gentium aus den Beson­ derheiten herleitete, denen die Völker in weit auseinanderliegenden Ländern Rech­ nung tragen mussten und deren Ordnung zu erklären nunmehr die Aufgabe einer iusti atque iniusti scientia sei. 70  Siehe dazu etwa Axelrod (1987). 71  Siehe unten J 5 b δ ββ.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

5. Protostaatliches, staatliches und poststaatliches (‚gubernatives‘) Recht (α) Die Entstehung von Protostaaten. Gehen wir nochmals zurück zu den Anfängen. Vorgänger unseres (‚klassischen‘) Rechts war etwas, das ich als Frührecht bezeichne, weil es einerseits schon alle prototypischen Merkmale des Rechts besaß, also ‚echtes‘ Recht war, ihm andererseits aber eine Eigen­ schaft fehlte, die für unser heutiges Recht typisch ist: die Monopolisierung seiner normativen Setzung und zwangsweisen Durchsetzung seitens einer staatlich organisierten Macht. Frührecht existierte m. a. W. solange, bis aus hierarchisch organisierten prästaatlichen Einheiten (Häutlingsschaften und Königreichen) erste Staaten (‚Protostaaten‘) wurden.72 Wodurch geschah das? Wir können für die Entstehung weder ein festes Datum noch ein bestimm­ tes Ereignis benennen, etwa den eines gemeinsamen Vertragsschlusses zwi­ schen den Angehörigen eines Volkes. Die zur Zeit der Aufklärung vertretenen sogen. ‚Vertragstheorien‘ zur Staatsentstehung sind überholt. Ihre Vertreter haben zwar für den Abschluss eines staatsbildenden Vertrages niemals ein historisches Datum reklamiert, doch gingen sie immerhin von einem plötzli­ chen Bruch zwischen dem (angeblich) anarchischen Naturzustand, in dem sich die Menschen zuvor befanden, und dem Staatszustand aus, in den sie sich anschließend hineinbegaben. Einen solchen Bruch aber gab es nicht. Denn wenn auch, wie die Theorien richtig annahmen, dem staatlichen ein inferiorer Zustand vorherging, hat nicht ein gewillkürter Akt, sondern eine kontinuierliche soziopolitische Entwicklung die Menschen zur Abkehr von diesem Zustand und zur Schaffung von Staaten geführt.73 Was die Gründe anbelangt, gibt es eine Reihe von Theorien, von denen ich drei nenne: •• Die Eroberungstheorie ist interessant, weil sie auf die erste Voraussetzung für die Staatsentstehung hinweist.74 In ihrer modernen Form (Robert L. Carneiro) sieht sie als Vorläufer der Staaten hierarchisch strukturierte ‚Häuptlingsschaften‘ (chiefdoms) an. Diese seien den nicht hierarchisch 72  Übereinstimmend etwa M. H. Fried (1967), p. 14 ff. (hinsichtlich prästaatlicher Häuptlingsschaften vgl. p. 144 ff.); U. Wesel (2001), S. 65 f.: „In vorstaatlichen Ge­ sellschaften hat es [das Recht] nur Ordnungs- und Gerechtigkeitsfunktion. Mit der Entstehung des Staates erhält es auch Herrschaftsfunktion.“ 73  Vgl. A. Augustinus, De civitate Dei IV 4: Selbst Räuberbanden seien kleine Reiche: „eine Schar von Menschen, geleitet vom Willen eines Führers, die durch ei­ nen Gesellschaftsvertrag zusammengehalten werden.“ Wachse eine solche Schar „der­ art an, dass sie Gebiete besetzt, Niederlassungen gründet, Staaten erobert und Völker unterwirft, dann legt sie sich ganz unverhüllt den Namen ‚Reich‘ bei.“ 74  Wichtige Vertreter: I. Khaldun (14. Jh.), J. Bodin (16. Jh.), R. L. Carneiro (1981).



E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 131

strukturierten ‚Stämmen‘ militärisch überlegen gewesen und hätten sie entweder erobert oder in eine hierarchische Struktur hineingezwungen. – Die Theorie überzeugt insofern, als sie politische Hierarchisierung und Machtkämpfe als Voraussetzungen für die Entstehung von Staaten an­ nimmt. Sie enthält jedoch keine Begründung weshalb Staaten aus den ­hierarchisch strukturierten Häuptlingsschaften hervorgingen. •• Eine Teilbegründung dafür liefert eine zweite Theorie: die Integrationstheorie.75 Sie ist interessant, weil sie in den Staaten nicht nur Ergebnisse eines Kampfes um die Vorherrschaft sieht, sondern auch politische Inte­ grationsgebilde, die ihre hierarchische Struktur mit der Monopolisierung des physischen Zwanges in einem Machtzentrum verbanden und sie da­ durch gegen interne Störungen absicherten.76 Diese Autoritätsstruktur habe auf der Regierungsebene die Zweiteilung der Bevölkerung in eine regie­ rende und eine regierte Klasse, auf der Verwaltungsebene den Ausbau ei­ ner zentral geleiteten Bürokratie und auf der Rechtsebene die Schaffung einheitlich geltender Gesetze und einheitlich urteilender Gerichtshöfe er­ laubt; ferner habe sie durch die einheitliche Ausbildung von Verwaltungs­ beamten und Richtern ermöglicht, dass alle Verwaltungsakte und Rechts­ sprüche als Ausdruck einer einheitlichen Staatsgewalt durchgesetzt werden können. Die Legitimation für ihre Autoritätsstruktur hätten sich die Staaten durch zwei „Gratifikationen“ verschafft: zum einen durch den Schutz der Bevölkerung gegen Feinde und Unruhestifter (rivalisierende Nachbarn ähnlicher Kulturstufe, kriegerische Nomaden, professionelle Beutejäger, Diebe); zum anderen durch die glaubhafte Zusicherung, dass nur ihre Struktur es langzeitig den Bürgern erlaube, über genügend gutes Land als Nahrungs- und Nutzungsgrundlage zu verfügen. – Die Theorie benennt damit weitere Eigenschaften, die Voraussetzungen für das Entstehen staat­ licher Zuständ waren.77 Noch immer greift sie aber zu kurz, weil zum ei­ nen auch Häuptlingsschaften und Königreiche ähnliche „Gratifikationen“ für ihre Mitglieder bereithalten konnten und weil zum anderen große Häuptlingsschaften und Königreiche auch gewisse Verwaltungsstrukturen sowie ein Rechtswesen aufwiesen, das u. a. eine mehrstufige Gerichtsbar­ keit einschloss. Der Unterschied zwischen Häuptlingsschaften bzw. Kö­ nigreichen auf der einen und Staaten auf der anderen Seite besteht auf­ grund dieser Theorie daher in der Monopolisierung von hoheitlicher Macht

u. a. E. R. Service (1977), S. 122 f., 367 ff. diesem Sinne die Definition von M. Weber (1992), S. 158 f.: „Staat ist dieje­ nige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes das Monopol legitimer physischer Gewalt für sich (mit Erfolg) beansprucht.“ 77  Teilweise andere Eigenschaften benennen A. W. Johnson/T. Earle (2000), p. 267. 75  Vertreter 76  In

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

als Voraussetzung innerer Souveränität. Dies aber reicht für die Begrün­ dung staatlicher Souveränität noch nicht aus. •• Deshalb benennt erst die Bürokratietheorie78 das fehlende Mehr: indem sie einerseits an die Integrationstheorie anknüpft, andererseits das organi­ satorische Element bürokratischer Macht nunmehr in den Mittelpunkt stellt. Ihre Vertreter argumentieren, dass zwar schon die Königreiche eine zentral gelenkte Bürokratie sowie eine einheitliche Rechtsordnung zur Stützung des Gewaltmonopols besessen hätten. Doch habe sich die Zu­ sammensetzung der Bürokratie in den Königreichen auf die Königsklientel beschränkt und die Einheit der staatlichen Ordnung infolge der Mündlich­ keit allen Rechts nur in relativ engen Grenzen gewährleistet.79 Erst der staatlichen Bürokratie sei es gelungen, diese Beschränkungen abzuschüt­ teln: Ihre Beamten hätten nach größerer Macht, höherem Prestige, stärke­ rer Sicherheit und gesteigertem Einkommen gestrebt, weshalb es erstens zur Vermehrung ihrer Aufgaben und zur Verstärkung ihrer organisatorischen Autonomie gekommen sei. Weil ferner aufgrund der Einführung der Schrift innerhalb der Verwaltung identische Normtexte den Ton angaben, sei zweitens die Einheit der Rechtsordnung gestärkt worden. Und weil nur eine kleine gebildete Schicht schreiben konnte und deshalb Geschriebenes einen Mehrwert gegenüber dem gesprochenen Wort besaß, sei drittens die Autorität der staatlichen Verwaltung und des Rechts gewachsen. Auf die­ ser Grundlage seien die Beamten in die Lage gekommen, sowohl selber kulturelles Schöpfertum zu entfalten80 als auch andere zu solchem Schöp­ fertum anzuregen.81 M. Weber (1922/2005), S. 671 ff. Bewahrung und Verbreitung der nur mündlich überlieferten sozialen Nor­ men der Rückversicherung durch immer gleiche (‚rituelle‘) Redens- und Verhaltens­ weisen bedurften, betont W. J. Ong (1987), S. 68 ff. 80  Das Inka-Reich, das keine Schrift kannte, war gleichwohl nach heutiger Kennt­ nis ein bis ins Letzte durchorganisiertes Gemeinwesen mit einer so vollständigen Kontrolle über die Bürger, dass deren Arbeitskraft total absorbiert und für staatliche Aufgaben eingesetzt werden konnte. Dies führte jedoch zu einer Schwächung der kreativen Fähigkeiten des Einzelnen: Dieselben Dinge, die vordem die Mayas produ­ ziert hatten, wurden während der Herrschaft der Inka zwar mit immer größerem tech­ nischem Geschick und in immer größerem Stil weiter produziert, aber mit einer fortschreitenden Verminderung ihres künstlerischen Wertes und ihrer Originalität. Darüber hinaus kam es auch zu einer Schwächung der intellektuellen Aktivitäten: Die Inkas brachten weder in den Bereichen der Astronomie und Mathematik noch in der Literatur Bemerkenswertes hervor. Ganz anders die Mayas: Sie hatten zwar bis zur Zeit der spanischen Eroberung kaum technisches Geschick entwickelt, ihre Bauten waren primitiv in der Konstruktion; doch sie besaßen künstlerische Fantasie, ihre Bauten waren reich mit Ornamenten geschmückt. Ferner war ihre politische Organi­ sation zwar auf der Basis von Stammeskulturen stehen geblieben, sodass sie ihre zi­ vilisatorischen Kräfte in endlosen internen Kämpfen vergeudeten; doch sie erzielten 78  Hauptvertreter

79  Dass



E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 133

Dieses Ergebnis ist m. E. überzeugend. Es lässt für die Protostaaten des Altertums folgende Definition zu: Sie waren hierarchische, von einem städtischen Zentrum aus geleitete politische Systeme, die in ihren Bauten und Ämtern sowohl die höchste politische Macht (Herrschaft) als auch das höchste Recht zu deren Ausübung vereinigten. Eine schriftkundige Bürokratie erhob in ihnen die Steuern und vergab gemeinnützige Arbeiten, sicherte ferner die innere Ordnung sowie die Nahrungs- und sonstigen vitalen Bedürfnisse der Bevölkerung (insbesondere durch Förderung der Landwirtschaft). Sie verfügten weiterhin über ein Heer zur Bekämpfung der äußeren Feinde sowie eine Priesterschaft, die durch regelmäßige rituelle Handlungen und Opfer das Wohlwollen höherer Mächte erflehte sowie Kunst und Wissenschaft förderte. (β) Protostaatliches Recht. Noch eine Eigenschaft der antiken Staaten ist wichtig, an die die spätere Entwicklung der Staaten anknüpfen wird: Sie waren i. d. R. imperialistisch und personalistisch organisiert, d. h. in ihrem Zentrum stand eine Persönlichkeit (ein ‚Imperator‘), die über ein Territorium (das ‚Staatsgebiet‘) und dessen Bewohner (das ‚Staatsvolk‘) herrschte, somit die Einheit der Teile,82 den ‚Protostaat‘ (abgeleitet von πρῶτος = erster), konstituierte und ihre Legitimation dazu entweder von den Göttern oder aus ‚unvordenklicher‘ Tradition ableitete.83 große Fortschritte in der Astronomie und in der Mathematik und entwickelten u. a. einen Kalender, dessen Genauigkeit sogar den Gregorianischen übertraf. 81  Angeregt und gefördert wurden seitens der staatlichen Verwaltung Tempelbau­ ten im Bereich der Religion, Steinmetzarbeiten im Bereich der Kunst, die Entwick­ lung der Metallverarbeitung im Bereich der Technik, der Aufbau eines Vermessungs­ wesens im Bereich der Wissenschaft u. a. m. 82  Ich lege die von G. Jellinek (1914/1960, S. 394 ff.) ausgearbeitete Drei-Ele­ mente-Lehre zugrunde, deren sich u. a. auch die völkerrechtliche Definition in der Konvention von Montevideo über die Rechte und Pflichten der Staaten von 1933 (LNTS no. 165) bedient hat: „The State as a person of international law possesses the following qualifications: a) a permanent population; b) a defined territory; c) a government and d) capacity to enter into relations with other States.“ Zur Kritik der Lehre, dass sie zu vage sei, u. a. die Abhängigkeit der Staatsgewalt von den Bürgern und andere Legitimationsprobleme nicht hinreichend zum Ausdruck bringe, siehe D. Kettler (1995). Zur Staatsherrschaft (government) vgl. auch noch unten K 7 c. 83  Das galt schon für die Häuptlingsschaften: „Chiefdoms sind nur lose integrierte Gebilde, deren politische Strukturen fast ausschließlich auf persönlichen Beziehungen beruhen. … [Sie sind daher] jederzeit von Desintegration und Zusammenbruch be­ droht. Um solchen Tendenzen entgegenzuwirken, greifen die Paramount Chiefs zeit­ weise zu besonderen Methoden der Machtdemonstration: In Buganda z. B. konnte der ‚Kabaka‘ ohne besonderen Anlass anordnen, dass 200 oder auch 500 Menschen ge­ fangen und öffentlich hingerichtet wurden. Solche Massenabschlachtungen hatten einzig und allein den Sinn, aller Welt zu zeigen, dass ‚der Kabaka lebt‘ und dass da­ her Ordnung im Lande herrscht“ (H. Wimmer, 2001, S. 105). Brach dennoch die Ord­ nung einmal zusammen, dann trat ein Zustand völliger Rechtlosigkeit an die Stelle:

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Für das Altertum erscheint mir die Verwendung des personalistischen Staatsbe­ griffs als angemessen, obwohl damals durchaus unterschiedliche Formen der Herr­ schaft entstanden.84 Entscheidender Unterschied zu den Staaten der Neuzeit war dagegen die Legitimation der Macht:85 Sie wurzelte seinerzeit in der mythisch-me­ taphysischen Auserwähltheit einer Person und einem gewissen Grad der Anerkennung seitens des Volkes, während sie heute diese metaphysische Wurzel i. d. R. eingebüßt hat und deshalb (‚selbstreferentiell‘) das Volk (bzw. die Nation) an ihre Stelle treten konnte.86

Mit der Entstehung der ersten Staaten ging eine Differenzierung des Rechts in ein protostaatliches (‚öffentliches‘) und in ein nichtstaatliches (‚privates‘) Recht einher. Diese Differenzierung blieb unverändert auch erhalten, als eine weitere hinzutrat: diejenige zwischen Stadtstaaten und Flächenstaaten (die in Deutschland gern als ‚Reiche‘ bezeichnet werden). Die Stadtstaaten bestan­ den aus einer Stadt nebst so viel an Umland, wie zur Versorgung der Ein­ wohner mit Naturalien erforderlich war. In den Flächenstaaten war dagegen das Verhältnis zwischen Stadt und Umland umgekehrt: Das Umland bedurfte so viel an Stadt, wie zur Beherbergung einer Macht- und Verwaltungszen­ trale erforderlich war. Gab es in einem Land mehrere Städte, dann wurde Verbrechen wurden verübt, ohne dass jemand die Täter hinderte, geschweige denn sie aufgrund ihrer Taten verurteilte. 84  Personaler ‚Herrscher‘ konnte in besonders gut organisierten Staaten beispiels­ weise auch das Volk selber sein. Ganz überwiegend waren es dann die Städte, worin statt eines Monarchen eine beschränkte Anzahl von Bürgern, meist Angehörige einer bestimmten Klasse oder Kaste, die Herrschaft ausübten und diese auch auf das Um­ land, im Falle von Athen und Rom (vgl. dazu unten G 3) sogar noch weit darüber hinaus, erstreckten. Als Beispiele aus der Neuzeit können sowohl die oberitalieni­ schen Städte (z. B. Venedig) als auch die nordalpinen Städte (z. B. die Hansestädte) genannt werden. 85  Der Machtbegriff kann (ebenso wie der Staatsbegriff) unterschiedlich definiert werden. Ganz allgemein hielt Th. Hobbes das Streben nach Macht für einen allgemei­ nen Trieb der Menschen (Leviathan, ch. 11, p. 64: „In the first place, I put for a gen­ eral inclination of all mankind, a perpetual and restless desire of power after power, that ceaseth only in death.“). Ebenfalls gefolgt sind dieser Auffassung F. Nietzsche („Grundtrieb nach Macht“; „man nennt diesen Trieb ‚Freiheit‘ “) und A. Adler. Die heutige Politikwissenschaft hat sich dagegen überwiegend zu einem reifizierten Machtbegriff bekannt und ihn zum Hauptinhalt der staatlichen Souveränität gemacht. H. J. Morgenthau (1963), S. 69 ff. u. a. haben Macht geradezu als Mittel der Politik definiert, um Wünsche und Interessen durchzusetzen (69: „Wo immer die letzten Ziele der internationalen Politik liegen mögen, das unmittelbare Ziel ist stets die Macht.“). Stärker zum Recht hin offen ist eine sozial-relationale Auffassung, wonach Macht derjenige Einfluss auf andere ist, der die Menschen zu einem Verhalten veran­ lasst, das sie sonst nicht ausüben würden. Die Staatsmacht besteht danach in der Fä­ higkeit, berechtigt verhängte Sanktionen mittels physischer Gewalt durchzusetzen. Allerdings wird die Machtanwendung nach außen von dieser Auffassung nicht um­ fasst, obwohl sie ebenfalls den modernen Staat charakterisiert. 86  Vgl. Art 20 Abs. 2 GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“



E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 135

diejenige zur Hauptstadt, die der Herrscher sich als Zentrum seiner Regie­ rungstätigkeit erwählte. Meistens war das die größte Stadt, schon weil sie gleichzeitig das Zentrum der Staatsverwaltung war, doch notwendig war das nicht. Das Recht der Stadtstaaten hatte meistens eine größere Zahl an Nor­ men als das der Flächenstaaten, und das Stadtrecht trat außerdem meistens in sich geschlossener auf, sodass es bereits im Altertum den Keim zur Kodifi­ zierung in sich trug. Das Recht der Flächenstaaten dagegen musste auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Stadt- und Landbewohner Rücksicht neh­ men und konnte sich überdies auf dem Lande nur durchsetzen, wenn es sich dort mit den meist noch lebendigen Sittennormen verband. Innerhalb der Frühantike traten diese Unterschiede insbesondere im Verhältnis zwischen dem griechischen und dem indischen Recht zutage. (γ) Staatliches Recht. Akzeptiert man die Bezeichnung der antiken Staaten als Protostaaten, dann sind eigentliche ‚Staaten‘ erst in der europäischen Neuzeit entstanden. Denn im gesamten europäischen Mittelalter blieb es bei der aus der Antike überkommenen Staatsform.87 Erst als nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges (1648) in Münster und Osnabrück der Westfälische Frieden geschlossen wurde, schrieb man den neuen Nationalstaat fest: Man entpersonalisierte die ‚Herrschaft‘ über den Staat88 und institutionalisierte, dass ‚staatlich‘ nunmehr das Attribut eines Territoriums (des ‚Staatsgebiets‘) sei, worin eine durch Gesetze kontrollierte ‚Bürokratie‘ unter der Leitung einer ‚Regierung‘ die Zwangsgewalt (die ‚Staatsgewalt‘) über die Bewohner (das ‚Staatsvolk‘) ausübt. Darin lag eine so grundlegende Veränderung der Staatsform, dass sie m. E. mit der Ausbildung einer neuen biologischen Art verglichen werden kann. Nur liegt der Unterschied darin, dass die alte perso­ nalistische Staatsform nicht unterging (wie es bei einer biologischen Art na­ türlich gewesen wäre), sondern nebenher fortbestand und wir es von nun an mit zwei eigenständigen Staatsformen zu tun haben: einer personalistischen und einer institutionalistischen. Zahlreiche afrikanische Staaten (‚Despotien‘)

87  Generell ist die Bezeichnung ‚Protostaaten‘ dennoch wohl nur für die antiken Staaten vertretbar, während für die europäischen Staaten des Mittelalters stattdessen vielfach die Bezeichnung ‚Reiche‘ bevorzugt wird. Vorliegend kann das dahinstehen, zumal der Staatsbegriff selbst neueren Datums ist. Er leitet sich aus dem italienischen lo stato her und wurde zum ersten Mal von Machiavelli gebraucht. Er bezeichnete damals noch den Status des Fürsten (status principis); erst später wurde er auf die vom Fürsten getrennte öffentliche Gewalt sowie das politische System im Gegensatz zum gesellschaftlichen angewandt (vgl. K. von Beyme, 2000, S. 181 f.; zur Wortge­ schichte H. Ehmke, 1962, S. 26 ff.). Vgl. ergänzend noch die Ausführungen unten K 1. 88  Noch 1356 hatte dagegen Karl IV. mit der Goldenen Bulle die Primogeniturerb­ folge für die Kurwürde festgesetzt und dadurch die rechtliche Sukzession des ehelich Erstgeborenen (heres legitimus) als Fundament legitimer Herrschaft gesichert.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

sind noch heute Beispiele für die erste, die europäischen Staaten dagegen ausnahmslos Beispiele für die zweite Staatsform. Für das Recht brachte die Entstehung der neuen Staatsform ebenfalls eine Differenzierung mit sich: Es zerfiel in ein i. d. R. urkundlich niedergelegtes Verfassungsrecht einesteils und in ein vom Staat aufgrund seiner verfas­ sungsrechtlichen Ermächtigung erlassenes hoheitliches bzw. Verwaltungs­ recht andernteils. Im Einzelnen werde ich hierauf im letzten Teil meiner Untersuchung eingehen. (δ) Das Recht staatsähnlicher Gebilde. Neben die neue Form des Territo­ rialstaates traten im Laufe der Zeit noch weitere staatsähnliche Gebilde, die lediglich einige Eigenschaften mit den Staaten gemeinsam hatten. Von ihnen erwähne ich hier die Konföderationen und die Imperien. Die Konföderationen waren keine Staaten, sondern lediglich Bündnisse souveräner Staaten (bzw. politisch eigenständiger Populationen) zur Verfol­ gung gemeinsamer Ziele, etwa zur Abwehr gemeinsamer Feinde oder zu enger wirtschaftlicher bzw. politische Zusammenarbeit. Das Mittel zur Festi­ gung einer Konföderation war allerdings i. d. R. ein Verfassungsrecht gleich dem der Staaten, das sowohl die gemeinsamen Ziele als auch die Mittel zu ihrer Erreichung festlegte. Im Altertum scheinen die Völker im östlichen Kleinasien, die (Proto-)Hattier, in einer Art Konföderation gelebt zu haben, bis sie von den Hethitern besiegt und ent­ weder ausgerottet oder aufgesogen wurden. Von anderen afrikanischen Völkern wis­ sen wir, dass zwischen ihnen zwar konföderative Bestrebungen im Gange waren, al­ lerdings aus Furcht vor dem Verlust der eigenen kulturellen Identität nicht zu Ende geführt wurden. Ferner können wir eine Bereitschaft zur Bildung von Konföderatio­ nen bei den mesoamerikanischen Völkern der Maya und der Azteken vermuten. Die Völker der Inka lebten dagegen nicht in einer Konföderation, sondern in einem ein­ heitlichen Staat zusammen.

Keine Staaten waren ferner die sogen. Imperien. Sie waren Herrschaftsbe­ reiche, die sich von einer Zentrale aus auf mehrere politisch selbstständige Völker erstrecken. Im Altertum entstanden sie meist dadurch, dass ein Volk ein anderes unterwarf, ohne sein Land zu annektieren, sondern es lediglich ausplünderte und vor dem Rück­ zug mit erneuter Plünderung bedrohte, falls es sich nicht zu regelmäßigen Leistungen (Tributzahlungen, Teilnahme an künftigen Feldzügen o.dgl.) verpflichtete. Beispiels­ weise geriet zwischen 2200 und 1950 v. u. Z. der Stadtstaat Assur in eine derartige Abhängigkeit gegenüber Sumer und Akkad. Und im 4. und 3. Jh. v. u. Z. brachten die Römer die ganze italische Halbinsel derart unter ihre Kontrolle: Sie respektierten zwar die Autonomie der übrigen Stammesgebiete und verlangten keine Tributzahlun­ gen, bestimmten dafür aber deren Militär- und Außenpolitik künftig mit.



E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 137

Soweit Imperien auf eine rechtliche Grundlage gestellt wurden, diente diese dazu, das Verhältnis des beherrschenden Volks zu den unterworfenen Völkern zu festigen. (ε) Poststaatliches (‚gubernatives‘) Recht. Die im modernen Territorial­ staat vollendete Differenzierung zwischen dem Staat, dem monopolistisch sowohl die hoheitliche Gewalt als auch das hoheitliche Recht zukommen, und der Gesellschaft, deren Wohlfahrt nebst Rechten und Pflichten ihren ei­ genen Institutionen überlassen bleibt, konnte sich angesichts der schnellen technisch/technologischen Entwicklung seit dem 18. Jh. und den durch sie ausgelösten sozialen Veränderungen seit dem 19. Jh. nicht lange behaupten. Innerhalb der Gesellschaft tat sich nämlich eine immer größere wirtschaftli­ che Kluft auf zwischen den Eigentümern von Produktionsmitteln, die eine Machtposition besaßen, und den Werktätigen, denen sie fehlte, weil sie nichts als ihre Arbeitskraft anzubieten hatten. Und da der Schutz des liberalen Staa­ tes lediglich den Produktionsmitteln, nicht dagegen den Arbeitskräften galt, wurden sehr bald Forderungen nach einer Macht laut, die die Arbeiter vor der Ausbeutung ihrer Kräfte seitens der Eigentümer von Produktionsmitteln schützt und die sich überdies der Not derer annimmt, die zu alt oder zu schwach zur Arbeit oder arbeitslos sind. Der Erfolg der schließlich gemein­ schaftlich vorgetragenen Forderungen war zwiespältig und spaltete infolge­ dessen die Welt in zwei Blöcke: Einerseits führte er zur totalen Enteignung aller großen Wirtschaftsunternehmen zugunsten des Staates – zur Staatswirt­ schaft und zum staatlichen Dirigismus, gleichzeitig allerdings auch zur rest­ losen staatlichen Absicherung aller Lebensläufe; andererseits führte er ledig­ lich zu sozialeren Formen der Marktwirtschaft, worin der Staat die Macht der Wirtschaft (Industrie und Handel) lediglich sozial deckelte und die sozi­ ale Lage der arbeitenden Bevölkerung so weit festigte, dass niemand ins Bodenlose stürzen musste. Im Wesentlichen hat sich nach langem Kampf die zweite Art durchgesetzt und wird, wenngleich mit unterschiedlichen Schwerpunkten, heute nahezu weltweit als bestmöglich anerkannt.89 Für das Recht hatte sie allerdings zur Konsequenz, dass der Staat einen Teil seines Rechtsmonopols einbüßte. Er musste der Wirtschaft (Industrie und Handel) einen Raum gewähren, worin sie sich nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen betätigen konnte, und auf dessen normative Kontrolle verzichten, konnte sich aber dafür eine Art MitKontrolle über die Verwaltung von Wirtschaftsbetrieben (‚Governance‘) vorbehalten und den von der Wirtschaft Beschäftigten eine Mindestteilhabe an der Leitung von Wirtschaftsbetrieben (durch ‚Betriebsräte‘) sichern. In­ nerhalb der Gesellschaft erwarb er sich darüber hinaus gewisse Kompeten­ 89  Näheres

dazu unten K 1 a β.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

zen, indem er über das private Bürgerengagement für soziale Zwecke sein Schutzschild ausbreitete und es zusätzlich durch Steuerfreiheit oder Steuer­ zuschüsse stärkte. Dafür verzichtete er allerdings auf die Chance, die Aus­ richtung des gesellschaftlichen Engagements mitzubestimmen. Insgesamt entstand innerhalb des ‚Sozialstaates‘ eine besondere Sphäre des staatlichen Gewährleistungsrechts, das sich teilweise sogar mit dem Privatrecht verband und alsdann zu einem hybriden (hoheitlich-privaten) Recht mutierte.90 6. Hoheitliches und privates Recht Wie erwähnt, entsprach die Trennung von öffentlichem und privatem Recht der Trennung von Staat und Gesellschaft in den Protostaaten. Das öf­ fentliche Recht regelte die politischen Verhältnisse im Staat sowie die Unter­ ordnung der Bürger unter die Staatsgewalt, während das Privatrecht die sozi­ alen Verhältnisse innerhalb der Gesellschaft und die privaten Beziehungen der Bürger untereinander regelte. Die antiken Herrscher hatten noch vor allem die organisatorischen Kompe­ tenzen für sich beansprucht, etwa zur Kriegsführung oder zur Ausführung gemeindlicher Arbeiten (Bau von Kanälen, Wehrbefestigungen und anderen Großprojekten). Später kamen Vermögensabgaben an den Herrscherhof hinzu: zum einen für die Verwaltung des Staates, zum anderen für den Luxus der Hofhaltung.91 Darüber hinaus nahmen viele Herrscher immer größere Feldflächen für sich in Anspruch und verlangten, dass ihre Untertanen (ggf. mit Unterstützung durch erbeutete Sklaven) sie bearbeiteten. Die antiken Bürger hatten dagegen ausschließlich einen durch körperliche Nähe bestimmten Bereich für sich beansprucht, etwa für Sachen, deren sie sich tagtäglich bedienten und die man nach dem Tode ihnen mit ins Grab legte, damit sie sie auch im Jenseits nicht zu entbehren brauchten; etwa für Personen, die ihnen in besonderer Weise lieb und teuer geworden waren wie etwa dem Mann die Mitglieder der ‚eigenen‘ Familie (insbesondere Weib und Kinder) sowie die seinem Hause zugehörigen Mägde und Knechte. Sie alle standen, solange ihre Herren lebten, rechtlich allein unter deren Gewalt, sodass beispielsweise ihre Verletzung zugleich eine Rechtsverletzung ihrer Gewalthaber war;92 und nach deren Tod wurden sie ihnen manchmal ins Jenseits nachgeschickt. dazu unten K 4 und 5. Entwicklung eines regulären Steueranspruchs vgl. oben D 3 β. 92  So war die Beleidigung des Haussohns nach römischem Recht zugleich eine Verletzung der hausväterlichen Rechte, die Auspeitschung eines fremden Sklaven ein Verstoß gegen die Rechte seines Herrn. 90  Vgl. 91  Zur



E. Begriffsbestimmungen des Rechts und weiterer Unterscheidungen 139

Beide Bereiche, der politische wie der private, hatten sich danach jedoch ständig weiterentwickelt. Die Entwicklung des privaten Bereichs begann, so­ weit vom Landbesitz bestimmt, vor der politischen. Doch gerade dies war der Grund, weshalb sie der politischen Entwicklung in die Hände spielte. Denn der Besitz von Land differenzierte die Gesellschaft in Arme und Reiche, und als die Differenz größer wurde, bedurfte sie zu ihrer Legitimation einer höhe­ ren Macht. Dass diese Macht nicht die Religion sein konnte, erwies sich bald.93 Die irdische Macht, deren sie bedurfte, war der Staat. Obwohl aus den Häuptlingsschaften und Königreichen hervorgegangen, war sein Charakte­ ristikum nicht die verwandtschaftliche Verflechtung, sondern die äußerste Machtkonzentration. Deshalb konnte er ein Recht hervorbringen, das weder von der Verwandtschaft noch vom Reichtum abhängig war, sondern sozial und ökonomisch neutral, und er konnte es ohne Rücksicht auf Verwandtschaft und Reichtum durchsetzen, soweit sein Machterhalt es erforderte. Das zeigte sich nirgends deutlicher als in Rom, der Geburtsstätte des klassischen Rechts: Rom brauchte die Masse der Armen zu seinem Schutz, wenn es von außen angegriffen wurde und um seine Macht fürchten musste; und es brauchte die Hilfe der Reichen, wenn es im Innern Frieden und Wohlstand zu stiften galt, damit seine Macht nicht zerfiel. Wahrhaft mächtig war aber Rom allein. Wie scharf die Trennung zwischen Staat und Gesellschaft und damit zwi­ schen hoheitlichem und privatem Recht wurde, richtete sich jeweils nach der Anschauung vom Wesen und den Aufgaben des Staates und der Gesellschaft. Dort, wo man im Staat noch eine große Familie erblickte, deren Oberhaupt der Fürst (König, Kaiser o. ä.) war, betonte man die enge Anbindung an die familiären Strukturen des sozialen Zusammenlebens. Hoheitliches und priva­ tes Recht flossen dann ineinander mit der Folge, dass der Fürst i. d. R. befugt war, tief ins private Leben der Bürger einzugreifen. Insbesondere in China herrschte diese Doktrin vor.94 Waren die Staaten dagegen stärker politisch organisiert (und insbesondere bei den jüngeren unter ihnen, etwa Athen und Rom, war das der Fall), trat die Trennung des hoheitlichen vom privaten Machtbereich sowie die Unterscheidung zwischen hoheitlichem und priva­ tem Recht deutlicher hervor.95 Absolut war die Trennung allerdings nirgends; denn es hätte der Ordnungsfunktion jeden Staates widersprochen, im politi­ schen Bereich seine Bürger gleich unpersönlichen Systemelementen zu len­ ken, im privaten Systembereich sie aber ausschließlich ihrem persönlichen Belieben zu überlassen. Völlig eigene Rechtshoheit gab es für den Staat nur 93  Die Religion hatte nur insoweit eine sozialisierende Wirkung, als der Glaube an die Allgegenwart übernatürlicher Wesen die Neigung minderte, sich normwidrig zu verhalten (vgl. M. J. Rossano, 2007, p. 272 f.). 94  Vgl. dazu unten G 2 ε a. E. 95  In Griechenland kennzeichneten beispielsweise die Kompetenzen der Volksver­ sammlung die Scheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht.

140

Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

im Ausnahmezustand und für Staatsbürger nur innerhalb eines engen (‚höchstpersönlichen‘) Bereichs, den sie dann mit ihrem „Lebensfluidum“ füllen konnten.96 Aber selbstverständlich gab es fließende Übergänge.

F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts Das Recht ‚im klassischen Sinne‘ setzte den Staat voraus. Das vorklassi­ sche Recht – ich habe es ‚Frührecht‘ genannt – kam ohne den Staat aus, nicht jedoch ohne eine politische Macht. Fehlte diese Macht, weil in einer ersten Phase soziale Gruppen sich herrschaftsfrei organisierten oder weil sie in einer zweiten Phase noch zu schwach war, um die Organisation von grö­ ßeren Populationen zu bewältigen, dann musste sich die soziale Ordnung auf die überkommenen Normen der Gewohnheit stützen. Die Entwicklung von sozialer Ordnung vor dem Recht ‚im klassischen Sinne‘ werde ich in diesem Kapitel darstellen. Beginnen wird meine Darstel­ lung mit der Herrschaft des Brauchtums, also jenem prä-normativen Zustand, der für die längste Zeit der Menschheits(vor)geschichte kennzeichnend ist.97 Anschließen wird sich die Darstellung eines ersten konkret-normativen Zu­ stands, den die Sitten gestalteten und der bis heute nicht vollständig über­ wunden ist. Beenden wird diesen Abschnitt die Darstellung des frühesten rechtlichen Zustands, worin erstmals die politische Macht ihr Haupt erhob: die Darstellung der frührechtlichen Organisation von Häuptlingsschaften und Königreichen. 1. Materialien, Methoden und Ziele der vorliegenden Untersuchung (α) Rechtserkenntnisquellen. Das Studium frühester Rechtskulturen und ihres Ursprungs aus einem prärechtlichen Zustand kann sich auf sechs Quellen stützen: •• Erstens kommen die Rechtsbücher und -urkunden in Betracht, die uns die frühen Völker hinterlassen haben, etwa die Babylonier den Kodex des Hammurapi, die Juden die Gesetze des Alten Testaments (2. und 5. Buch R. Thurnwald (1934), S. 8. pränormative Brauchtum gab zwar Anweisungen, wie man sich zu verhal­ ten habe, und setzte dadurch der menschlichen Freiheit Grenzen. Doch hatte sich die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen in den Köpfen der unter seiner Herrschaft lebenden Menschen noch nicht entwickelt. Brauchtum war für die Menschen daher ebenso gelebtes Sein wie verbindendes Sollen und damit nichts anderes als alles, was sich sonst um sie herum ereignete: Teil einer kosmischen Ordnung, die das ursprüng­ liche Chaos hinter sich gelassen hatte. 96  So

97  Das



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts141

Mose), die Chinesen das Buch der Urkunden, die Inder das Gesetzbuch des Manu, die Griechen die Gesetzesinschrift von Gortyn (Kreta), die Römer das XII-Tafel-Gesetz, die Germanen die Leges barbarorum, usf. Diese können ihrerseits die Wurzeln, aus denen sie hervorgingen, nicht verleugnen; sie geben deshalb nicht nur über die Zeit ihrer Entstehung, sondern auch über deren Vorzeit Auskunft. •• Zweitens kann sich das Studium auf Berichte antiker Autoren stützen.98 Allerdings geben diese Berichte nur den Kenntnisstand ihrer Verfasser von den sozialen Institutionen und Normen der damaligen Zeit und ihres da­ maligen Umfelds wieder. Oft sind sie außerdem getrübt vom Interesse, das die Verfasser mit ihrer Darstellung verfolgt haben, und vermengen daher Wunsch und Wirklichkeit, Sollen und Sein. Beispiele sind aus Griechen­ land die Ilias und die Odyssee Homers, aus Indien das Mahabhārata, aus Island die Edda u. a. m. •• Drittens geben uns Berichte antiker Autoren auch über die sozialen Institu­ tionen und Normen von Völkern Auskunft, die selbst keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen haben, so etwa die Historien Herodots, die Geogra­ phika Strabos, abermals die Dichtungen Homers. Auch insofern dürfen wir die Berichte nur mit größter Vorsicht benutzen. Denn zum einen wissen wir oft nicht, ob unsere Gewährsleute eigene Erfahrungen wiedergeben oder nur über Gehörtes berichten,99 und zum anderen müssen wir damit rechnen, dass sie das Erfahrene ethnozentrisch, als den eigenen Institutionen gegen­ über minderwertig, interpretieren und damit verzeichnen. Beispiele sind die Berichte von Herodot über die Troglodyten (Höhlenbewohner)100 und von Homer über die Kyklopen.101 Umgekehrt kann allerdings die Tendenz, die heimischen Institutionen zum Richtmaß für die fremden zu nehmen, auch durch die entgegengesetzte ersetzt werden, die fremden Institutionen so weit zu idealisieren, dass die des eigenen Landes dagegen abfallen. Als Beispiel dafür lässt sich Xenophons Kyropaedie anführen.102 Auf ‚objekti­ ve‘ Darstellungen werden wir deshalb nur selten treffen. 98  Ergänzend geben auch Götter- und Heldensagen über die vorgeschichtlichen Zustände der Völker Auskunft. 99  Herodot beispielsweise reiste in Ägypten zwar viel umher, jedoch offenbar ohne die Landessprache zu verstehen. 100  Herodot, Historien IV 183. Er behauptet, dass sie Schlangen, Eidechsen und andere Reptilien verzehren. Ihre Sprache ähnle keiner anderen, und sie schwirrten umher wie die Fledermäuse. 101  Homer, Od. IX 106 ff. (112 ff.: „Dort ist weder Gesetz noch öffentliche Ver­ sammlung, [sondern] jeder richtet nach Willkür seine Kinder und Weiber und küm­ mert sich nicht um den andern.“) 102  Xenophons Kyropädie ist „ein tendenziöser pädagogischer Roman, in dem er [Xenophon] in dichterischer Freiheit die Lebensgeschichte des älteren Kyros erzählt

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

•• Viertens kann sich die Untersuchung auf die real-objektiven steinernen und hölzernen Überreste menschlichen Lebens stützen, die seit Jahrtau­ senden in der Erde geschlummert haben und erst von den Archäologen (Prähistorikern) wieder ans Tageslicht geholt werden mussten. Sie sind – nicht zuletzt aufgrund einer immer weiter verbesserten Datierungsmetho­ de – die zuverlässigsten, wenngleich stummen Zeugnisse für die soziokul­ turellen Verhältnisse von einst: sowohl für die soziale Ordnung als auch für einige der Institutionen, auf denen diese Ordnung beruhte. Detailliert geben sie vor allem über die hierarchischen Verhältnisse früherer Zeiten Auskunft, höchst selten dagegen über die (prä)rechtlichen Normen.103 •• Die fünfte Quelle, die uns einen Blick über die Grenze schriftlicher Über­ lieferung hinaus in die Vergangenheit erlaubt, sind die etymologischen Wurzeln der Sprache. Rechtsbegriffe haben ihre Geschichte; Sprachfor­ scher können sie erhellen, Juristen aus ihnen erkennen, was späteren Ge­ nerationen als ‚Recht aus unvordenklicher Zeit‘ erschien. Die romanisti­ sche, germanistische und slawistische Forschung hat aus dieser Erkennt­ nisquelle bereits Belehrung erhalten. Dennoch fehlt es noch immer an einer Sammlung der Erkenntnisse speziell im Hinblick auf die Entwicklung des rechtlichen Denkens. •• Sechstens und letztens können uns zeitnahe Berichte von Reisenden, Mis­ sionaren und ausgebildeten Ethnologen über die sozialen Verhältnisse bei heutigen indigenen Völkern zu Rückschlüssen auf die prä- und frührecht­ lichen Verhältnisse dieser und vergleichbarer anderer Völker verhelfen, besonders wenn sie sich auf Erzählungen der Eingeborenen stützen, wel­ che die Vergangenheit in ihren Mythen bewahrt haben. Die hierfür im we­ sentlichen zuständige ethnologische Forschung wurde systematisch und mit wissenschaftlichem Anspruch allerdings erst seit dem 19. Jh. betrieben. Vor allem Herbert Spencer studierte vom evolutionistischen Standpunkt aus die sozialen Institutionen der archaischen Völker, weil, wie er schrieb, diese zum Leben der Völker ebenso gehörten wie Essen und Trinken. In seinen „Principles of Sociol­ ogy“ schuf er daher die Grundlage für eine seither immer ausgedehnter betriebene Erforschung primitiver Institutionen und Normen durch exakte Beobachtungen und Berichte aus erster Hand.104 Heute wissen wir über fast alle rezenten Völker der Welt, insbesondere über die Eingeborenen Afrikas, Amerikas, Südostasiens und Australiens, ziemlich gut Bescheid, sodass sich der Arbeitsplatz des Ethnohistorikers mehr und mehr vom Feld der Forschung ins Archiv der Forschungsberichte verlagert hat. Dage­ gen können wir unmittelbar nur noch aus dem Studium weniger von der Zivilisation unberührter Naturvölker erschließen, wie vermutlich die meisten Menschen vor ­ und seine eigenen Gedanken über die Erziehung und Bildung eines idealen Herr­ schers pragmatisch entwickelt“ (Lexikon der Antike, Leipzig 1982, S. 615). 103  V. G. Childe (1975), S. 60. 104  H. Spencer (1876–1896).



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts143

40.000 Jahren lebten, wie sie in kleinen Horden von bis zu 80 (selten bis zu 150) Personen Tiere jagten und Früchte sammelten und wie sie von Ort zu Ort umherzo­ gen, bis sie vermutlich vor etwa 12.000 Jahren sesshaft wurden und sich zu Stammes­ gesellschaften vereinigten.

„Vermutlich“ – dieses Wort wird wichtig bleiben. Denn ob die der komparativen Methode zugrundeliegende Prämisse richtig ist, dass die frühen Kul­ turen und ihr werdendes Recht sich zumindest andeutungsweise noch in den heutigen Kulturen der Naturvölker wiederfinden lassen, wissen wir nicht und werden es auch nie sicher erfahren. Erkannt wurde die Problematik aller­ dings erst relativ spät. L. H. Morgan sah die Prämisse im 19. Jh. noch nicht einmal als bestätigungsbedürftig an:105 „Es ist ferner zu betonen, dass die Familienordnungen der barbarischen und selbst der wilden Vorfahren der Menschheit noch gegenwärtig in einzelnen Teilen des Menschengeschlechts so vollständig zu finden sind, dass mit Ausnahme der aller­ ursprünglichsten Periode die verschiedenen Stadien dieses Fortschritts sich ziem­ lich gut erhalten haben. … Die Kultur der Menschheit hat überall ziemlich den gleichen Weg durchlaufen, die menschlichen Bedürfnisse sind unter ähnlichen Bedingungen ziemlich dieselben und die Wirkungen der geistigen Tätigkeit kraft der Übereinstimmung des Gehirns aller Menschenrassen gleichförmig gewesen.“

Man hat ihm entgegengehalten,106 „dass selbst die einfachste rezente Gruppe eine längere Vergangenheit hat, während der sie sich tatsächlich sehr weit von jenem hypothetischen Anfangsstadium ent­ fernt hat“.

Doch die Relevanz dieses Einwands ist ebenso ungesichert wie die Prä­ misse selbst.107 Neuere Forschungen bringen der komparativen Methode deshalb wieder stärkeres Vertrauen entgegen,108 zumal man zu ihrer Absiche­ rung heute auf eine seit Morgan stark angewachsene Zahl von Untersuchun­ gen zur Rechtsentwicklung zurückgreifen kann. Und da man inzwischen nichts Besseres gefunden hat, werde ich den Ergebnissen ebenfalls ein vor­ sichtiges Vertrauen entgegenbringen. (β) Erkenntnisquellen speziell für das Prärecht und das Frührecht indigener Völker. Das Material, das ich meiner folgenden Untersuchung zugrunde gelegt habe, stammt aus vier Quellen: aus den Berichten von (unterschiedlich ausgebildeten) Wissenschaftlern, von Reisenden mit oder ohne Forschungs­ interesse, von Missionaren einer Kirche und von Abgesandten eines Staates. 105  L. H. Morgan

(1877/1908), S. 6 f. Lowie (1937), p. 25. 107  Dasselbe gilt für den Einwand, dass die rezenten ‚Barbaren‘ ja in geographi­ schen und ökologischen Randgebieten leben und schon deshalb nicht als repräsentativ für frühere Menschengruppen angesehen werden dürfen. 108  Vgl. etwa J. H. Steward (1949); R. McC. Adams (1966) – zu ihm vgl. oben C 3 α. 106  R.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Sie alle haben über die Normen und Institutionen der von ihnen besuchten Völker entweder aus eigener Anschauung oder aufgrund von Auskünften ih­ rer Gewährsleute berichtet. Herausgekommen ist ein Gesamtbild, das ich als einigermaßen zuverlässig ansehe. Forschungsreisende aus älterer Zeit haben mehr oder weniger naiv ihre Erfahrun­ gen mitgeteilt oder die Nachrichten wiedergegeben, die ihnen auf ihren Reisen zuge­ tragen wurden; ihre Berichte lassen sich nur ergänzend zu anderem Quellenmaterial verwenden, sind aber wertvoll, wenn sie von Völker handeln, die seinerzeit von der modernen Zivilisation noch wenig beeinflusst waren. Prototyp eines Forschungsrei­ senden, der sich fast ausschließlich auf Berichte von Gewährsleuten verließ, ist Herodot (ca. 484–425 v. u. Z.). Cicero würdigt ihn als „pater historiae“. Seine Berichte über Zustände und Ereignisse aus einer Zeit, die ihm noch historisch nahestand, werden heute als im Wesentlichen zuverlässig beurteilt, lediglich seine gelegentlich eingestreuten Auskünfte über sagenhafte Primitivvölker werden mit einiger Skepsis betrachtet. Neuere Berichte (etwa ab dem 16. Jh.) von Expeditionsteilnehmern, Handelsreisenden oder in fremde Länder versetzten Militärs über das Leben der Eingebo­ renen vor ihrer näheren Begegnung mit der europäischen Zivilisation bieten darüber hinaus manchmal glaubhafte Einzelheiten, über die die später ausgeschwärmten Eth­ nologen nicht mehr berichten konnten; sie sind aber, je abenteuerlicher sie klingen, mit desto größerer Vorsicht aufzunehmen. Wertvoll sind dagegen die Berichte der Missionare, weil ihr Auftrag sie zu längeren Aufenthalten bei den Eingeborenen ver­ pflichtete und sie infolgedessen deren Sprache erlernen sowie die Sitten und Bräuche genauer studieren konnten.109 Leider befassen ihre Berichte sich nur selten mit den rechtlichen oder rechtsähnlichen Beziehungen innerhalb der missionierten Völker. Dadurch unterscheiden sie sich von den Berichten der Abgesandten europäischer Kolonialmächte. Auftragsgemäß bewerteten diese die Sozialstrukturen fremder Völ­ ker danach, welche kolonialen Verwaltungsstrukturen sie zulassen und inwieweit die Implantation mutterländischen Rechts möglich und sinnvoll erscheint. Lediglich be­ reits vollzogene Eingriffe ihrer Staaten in das Stammesleben beschönigten sie meis­ tens. Dennoch hat gerade ein von der britischen Regierung entsandter, zuvor im englischen Recht ausgebildeter Ethnologe, Sir Edward E. Evans-Pritchard (1902– 1973), Wesentliches zur Erkenntnis der Sozialstrukturen und der prä- und frührecht­ lichen Institutionen des von ihm mehrfach besuchten Volkes der Nuer im südlichen Sudan beigetragen.110

Den größten Einfluss auf unser heutiges Bild von den indigenen Völkern haben jene Ethnologen ausgeübt, die Feldforschung unabhängig von außer­ wissenschaftlichen Interessen betreiben konnten. Lediglich ihre mitgebrachte 109  Insbesondere die französischen Missionare operierten mit bemerkenswerter Offenheit und Unabhängigkeit gegenüber den Eingeborenen. Vgl. etwa U. Bitterli (1976, S. 112): „Der Missionar schlief in den Hütten der Eingeborenen auf gestampf­ ter Erde, ernährte sich von denselben Naturprodukten, bediente sich derselben Trans­ portmittel. Er teilte mit den Indianern die Härte des winterlichen Klimas, litt wie sie unter Hungersnöten und den Raubzügen feindlicher Stämme und setzte sich, wenn die Not es gebot, den Entbehrungen der nomadisierenden Lebensweise aus.“ 110  Vgl. unten d bb (Nuer).



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts145

wissenschaftliche Voreinstellung war ihren Erkenntnissen nicht immer för­ derlich. So waren für die dem Funktionalismus anhängenden Ethnologen Individuen nur interessant, soweit sie institutionell vorgegebene Rollen für die Aufrechterhaltung des Gesamtsystems spielten; der Schwerpunkt ihrer Forschung lag also auf der Außenansicht der Individuen und ihrem Zusam­ menleben in der Gesellschaft (etische Perspektive). Von der Tiefenpsycholo­ gie geprägte Ethnologen legten dagegen den Schwerpunkt auf das Verstehen der Individuen und ihres gesellschaftlichen Zusammenlebens; ihr Schwer­ punkt lag folglich auf der Innenansicht (emische Perspektive). Manche Eth­ nologen vereinigten allerdings auch beide Sichtweisen mittels ‚teilnehmender Beobachtung‘ zu einer ‚synthetischen Ethnographie‘, d. i. einem Miteinander von Verstehen und beobachtender Distanz.111 Diese letztgenannte Methode wird, weil am differenziertesten, in letzter Zeit sogar meistens angewandt. Doch kann auch sie nicht verhindern, dass zumindest bei der Auswahl und Interpretation des aufgenommenen Materials der kulturelle Hintergrund des Forschers bestimmend mitwirkt. Die Herausgabe der lange unveröffentlich­ ten Feldtagebücher von Bronislaw Malinowski, einem Vertreter dieser Richtung,112 hat die subjektiven Grenzen auch seiner Feldarbeit offenbart. Wie jede Erkenntnis sozialer Kultur bleibt daher (fast notwendig) auch die ethnologische subjektiv begrenzt. Eine Metaebene, auf der die kulturelle Subjektivität der Wahrnehmung fast vollständig verschwindet, gibt es wahr­ scheinlich nur hinsichtlich allgemein-menschlicher, kulturell ungebundener Eigenschaften.113 (γ) Der Aufbau der vorliegenden Untersuchung. Mein hier vorgelegter Versuch, aus dem Quellenmaterial einen Überblick über die allmähliche Ent­ wicklung der frührechtlichen Kultur schriftloser Völkern zu rekonstruieren, stand vor einem doppelten Problem: Erstens ist das ethnologische Material heute derart reichhaltig, dass eine viele Jahrzehnte währende Arbeit erforder­ lich wäre, um es auch nur zu sichten. Angesichts der mir noch bemessenen Lebenszeit musste ich mich daher auf eine relativ kleine Zahl von For­ schungsberichten beschränken, deren Auswahl ich nicht so schlüssig begrün­ den kann, dass sie keinem Tadel ausgesetzt wäre. Lediglich das Ziel meiner Auswahl kann ich darlegen. Es bestand darin, Nachrichten über Völker zu sammeln, die sich entwicklungsmäßig zur Zeit ihrer Untersuchung auf zwar unterschiedlichen, aber aufeinander aufbauenden Organisationsstufen befun­ den haben. Erste Hilfe dazu boten mir die Arbeiten von Forschern, die vor mir dasselbe Ziel angestrebt haben (u. a. A. H. Post, E. A. Hoebel, L. Pospíšil, zu ihm unten e aa. Malinowski (1967/1986). 113  Vgl. dazu einerseits E.-J. Lampe (1970a), S. 171 ff., andererseits W. Fikentscher (1995), insbesondere p. 15 ff., 158 ff. 111  Vgl. 112  B.

146

Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

N. Rouland, U. Wesel, W. Fikentscher). Im Übrigen bleibt mir nur das Ein­ geständnis, dass eine andere Auswahl möglicherweise zu anderen Folgerun­ gen Anlass gegeben hätte. Zweitens musste der Schwerpunkt meiner Unter­ suchung auf jenen Teilen früher Sozialordnungen liegen, die später verrecht­ licht wurden. Dies erzeugte die Schwierigkeit festzulegen, welche Teile der Sittenordnungen durch Verrechtlichung verändert wurden, welche Teile auf­ grund Funktionsverlustes gleichsam ‚abstarben‘ und durch neue ersetzt wur­ den und welche durch eine Bewusstseinsveränderung obsolet wurden, ohne dass ein Verrechtlichungsprozess dafür ursächlich war. Die exakte Lösung dieses Problem hätte empirische Untersuchungen erforderlich gemacht, die ich nicht durchgeführt habe. Insofern muss ich wiederum einräumen, dass meine Darstellung an Verzerrungen leiden kann, die durch Kritik und weitere Forschung bereinigt werden können und müssen. Als ein Beispiel für die genannte Schwierigkeit sei die abnehmende Bedeutung der Zauberei in Ethnien genannt, deren Sozialordnung stärker verrechtlicht wurde. Bea­ trice Whiting hat das ethnographische Material von über 50 Gesellschaften daraufhin gesichtet und festgestellt, dass von den Gesellschaften, in denen die Zauberei eine erhebliche Rolle spielte, 30 : 5 keine erhebliche Rechtskultur besaßen, während von den Gesellschaften, in denen die Zauberei keine erhebliche Rolle spielte, 12 : 3 eine erhebliche Rechtskultur besaßen.114 Hieraus zu schließen, dass eine zunehmende Verrechtlichung die soziale Bedeutung der Zauberei verdrängt hat, erscheint mir je­ doch voreilig. Denn erstens braucht zwischen beiden Entwicklungen überhaupt kein Zusammenhang zu bestehen, zweitens kann der Rückgang der Zauberei ebenso Ursa­ che stärkerer Verrechtlichung gewesen sein wie die stärkere Verrechtlichung Ursache für den Rückgang der Zauberei, und drittens können beide Entwicklungen ihren Grund in einer externen Entwicklung gehabt haben, etwa im allgemeinen Bedeu­ tungsverlust metaphysischer Erklärungen von natürlichen Vorgängen und im kompen­ satorischen Bedeutungsgewinn rationaler Erklärungen.115

Die von mir nicht ausgeräumten Schwierigkeiten haben mich veranlasst, den Focus meiner Untersuchung schwerpunktmäßig auf die (prä-)historische Entwicklung von Strukturen sich allmählich abzeichnender Rechtsordnungen zu legen. Da diese Strukturen wesentlich vom Entwicklungstand des Den­ kens geprägt wurden und die Entwicklung des Denkens nach allem, was wir wissen, sich gesetzmäßig ubiquitär gleich vollzogen hat, habe ich meine Aufgabe darauf beschränkt, lediglich die strukturelle Entwicklung des Rechts im Rahmen der strukturellen Entwicklung des Denkens exakt zu überprüfen, während ich den Veränderungen des Gedankeninhalts die Nebenrolle zuge­ wiesen habe, Beispiele für die Rechtsentwicklung zu liefern. (δ) Drei Thesen zu Beginn: Hinsichtlich der strukturellen Entwicklung der Sozialkultur im Allgemeinen und speziell ihrer (prä-)rechtlichen Komponen­ 114  B.

Whiting (1950), p. 87. dazu auch J. G. Peoples/G. A. Bailey (2009), p. 101 ff.

115  Vgl.



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts147

ten stelle ich drei auf die Entwicklung der Denkstrukturen gestützte Thesen vor, die ich im Folgenden genauer überprüfen werde: •• Alle Völker lassen sich hinsichtlich des Entwicklungstands ihrer Denk­ strukturen (mehr oder weniger präzise) in eine Stufenfolge einordnen.116 •• Der Entwicklungstand ihrer Sozialkultur im Allgemeinen und ihrer (prä-) rechtlichen Sozialordnung im Besonderen weist Unterschiede auf, die u. a. durch Veränderungen ihrer Denkstrukturen begründet sind und sich als eine gesetzmäßige Entwicklung von einer niederen zu einer höheren Ent­ wicklungsstufe (d. i. als ‚Anagenese‘) darstellen lassen. •• Was die zeitliche Spanne der vorliegenden Untersuchung zur Frühantike (Teile II und III) betrifft, erreichen die höchste Entwicklungsstufe dieje­ nigen Völker, die eine autonome (proto-)staatlich-bürokratische Organisa­ tion und eine differenzierte Rechtsordnung einschließlich einer Gerichts­ verfassung ausgebildet haben. Anlehnen kann ich sich meine Thesenwahl an eine Kategorisierung, die bereits Marshall D. Sahlins und Elman R. Service zur Darstellung der Stu­ fenfolge indigener Kulturen gewählt haben.117 Bei ihnen stehen auf der un­ 116  Die Einschätzung der intellektuellen Fähigkeiten von indigenen Völkern leidet allerdings darunter, dass die latenten Fähigkeiten den interviewenden Forschern oft verborgen geblieben sind. Deshalb wurde ihr Entwicklungstand oft einer zu niedrigen Stufe zugeordnet. Anders lässt sich jedenfalls die schnelle Entwicklung nicht er­ klären, die diese Völker seit dem Zeitpunkt ihrer Begegnung mit den zivilisierten Kulturen (bzw. mit den überall hin ausschwärmenden Ethnographen und Ethnologen) vollzogen haben. Am Beispiel der afrikanischen Mbuti schildert die Entwicklung C. Tunrbull (1983), p. 5: „I was first among the Mbuti pygmies of the Ituri Forest, what was then the Belgian Congo, in 1951. I went back for something over a year in 1954. Even in that short space of time things had changed, and initial impressions had to be corrected. When I returned again in 1957–9 I had quite a hard time recon­ ciling some of my earlier findings with what I found then. And on returning to the same part of the same forest yet again in 1970–2, it seemed as though I had to con­ tradict myself all over again.“ Ausführlich zu den Mbuti vgl. auch U. Wesel (1985), S.  139 ff. m. w. Nachw. 117  Zum Folgenden vgl. M. D. Sahlins & E. R. Service (1960) sowie E. R. Service (1962). Später (1977, S. 375) hat Service „einer einzigen, segmentalen Stufe den Vor­ zug vor der Unterteilung in Horden und Stämme“ gegeben, allerdings es für möglich und für viele Zwecke auch sinnvoll gehalten, „innerhalb dieser Stufe einen Sammler-, frühen Ackerbauer-, Hirten- und Fischer-Typ zu unterscheiden; einen einfachen und einen komplexen, großen und kleinen Typ usw.)“. C. Ph. Kottak (2002, p. 242) be­ merkt dazu: „Many anthropologists have criticized Service’s typology as being too neat and simple, because it condenses a wide range of [social and] political complex­ ity into just four categories. Indeed, in the discussion that follows, we’ll see that the four labels are too simple to account the full range of political complexity we exam­ ine. … Nevertheless, Service’s typology does offer a handy set of labels for highlight­ ing some major contrasts in [social and] political organization.“

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

tersten Stufe die Horden (band societies), d.s. familiär organisierte, lediglich zur Jagd auf größere Tiere oder zu kriegerischen Unternehmungen verbun­ dene Gruppen, zumeist ohne dauerhafte Ansiedlung. Auf der nächst höheren Stufe stehen bei ihnen die größeren, aber nicht zentralisierten Stammesge­ sellschaften (tribal societies), deren ‚Segmente‘ von den Normen patri- oder matrilinearer lineages zusammengehalten werden und die ihrerseits oft Stam­ mesverbände (pan-tribal societies) bilden. Auf der dritten und letzten Stufe vor der Staatenbildung stehen die zentralisierten Häuptlingsschaften (chiefdoms). Sie halten die bisher als ‚Segmente‘ zusammenlebenden ‚Clans‘ poli­ tisch unter der Herrschaft eines Oberhaupts zusammen und ergänzen erstmals die sozialen Normen durch politische. Ich werde diese Kategorisierung mei­ nen Ausführungen zugrunde legen, sie jedoch um eine vierte Entwicklungs­ stufe vor dem Erreichen der (Proto-)Staatenbildung ergänzen: um die der Königreiche (kingdoms), die sich (insbesondere in Afrika) entweder aus der Vergrößerung von Häuptlingsschaften aufgrund eines Bevölkerungszuwach­ ses oder aus dem Zusammenschluss mehrerer Häuptlingsschaften unter ein­ heitlicher Führung herausgebildet haben. Ihr Kennzeichen ist, dass sie die Verwaltungsaufgaben zentral zusammenfassten und von einer geschulten Beamtenschaft unter der Leitung einer einheitlichen Regierung bearbeiten ließen. Daraus ergibt sich folgendes Stufenschema: •• Horden (bands): Zwischen 10 und 80 (selten 150 Individuen) umfassende Zusammenschlüsse von Jägern und Sammlern ohne institutionalisierte Autoritätsstruktur, meistens auch ohne feste Ansiedlung. Horden besitzen zur Regelung ihres sozialen Zusammenlebens nur eine rudimentär ausge­ bildete Normenordnung; interne Konflikte bereinigen sie durch konkrete, das Gesamtwohl der Gemeinschaft berücksichtigende Anweisungen an die Beteiligten. •• Stammesgesellschaften (tribes): Aus meist verwandtschaftlich verbunde­ nen ‚Segmenten‘ von unterschiedlicher Größe zusammengesetzte Gruppen mit – zumindest jahreszeitlich – fester Ansiedlung zwecks (Neben-)Be­ trieb von Landwirtschaft, aber nach wie vor ohne institutionalisierte zent­ ripetale Autoritätsstruktur. Stammesgesellschaften besitzen stärker ausdif­ ferenzierte, dem Recht näherstehende Sozialnormen mit erweiterter Zu­ ordnung von Sachen an Personen oder Personengemeinschaften (‚Eigen­ tum‘) und ausgeprägter Zuweisung von subjektiven Ansprüchen und Verpflichtungen an einzelne Stammesmitglieder. Viele antike Stämme haben sich gleich den Horden auch auf Wanderungen bege­ ben: u. a. die Dorer und Ionier nach Griechenland, die Italiker und Etrusker nach Italien und die Kelten nach Mitteleuropa. Inwieweit man insoweit von ‚Völker‘­ wanderungen statt (kriegerischen) Stammeswanderungen sprechen soll, ist umstrit­ ten. Ich gehe hierauf im Folgenden nicht ein.



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts149

•• Häuptlingsschaften (chiefdoms): Stammesgesellschaften mit einer sozial teilstrukturierten Bevölkerung (u. a. Bauern, Handwerkern, Medizinmän­ nern) sowie einem Häuptling als institutionalisierter Zentralinstanz inner­ halb eines festen Siedlungsgebietes, worin ein Großteil der Nahrung aus der Landwirtschaft bezogen und eine Vorratswirtschaft betrieben wird. Häuptlingsschaften besitzen erstmals eine durch spezifische Rechtspre­ chungsorgane gestützte frührechtliche Ordnung mit Rudimenten einer Verfassung, einfachen Institutionen und sanktionierten Normen. •• Königreiche (kingdoms): Politisch strukturierte Gesellschaften mit einem König als Zentralinstanz und i. d. R. mehreren Häuptlingen als regionalen Unterinstanzen, ferner mit städtischen Residenzen, von wo aus Land und Leute von königlichen Beamten regiert und (fiskalisch) verwaltet werden, ferner mit einer intensiven landwirtschaftlichen Produktion, welche auch die in Städten wohnende Bevölkerung mit Nahrung versorgt. Königreiche besitzen aufgrund von Arbeitsteilung eine ausdifferenzierte Sozialstruktur (u. a. Bauern, Handwerker, Priester, Krieger) und sind gewöhnlich durch Handelsbeziehungen bzw. Tributeinnahmen mit ihren Nachbarvölkern verbunden.118 Ihre frührechtliche Ordnung wird von einer formalisierten Gerichtsbarkeit gestützt und ist so weit ausdifferenziert, dass sich sowohl die Grenzen des Rechts als auch seine wesentlichen Inhalte benennen lassen.119 Dieses Entwicklungsschema wird der folgenden Darstellung vorgeschicht­ licher Völker zugrunde liegen, obwohl diese sich inzwischen stark verändert haben. Denn selbst die von der ‚westlichen‘ Zivilisation noch kaum erreich­ ten und ihres Charakters beraubten Völker haben inzwischen eine Jahrtau­ sende lange Entwicklung durchlaufen und tragen in sich die Spuren dieser

übereinstimmend E.-D. Hecht (1969), S. 155. zwischen den Königreichen gibt es u. a. je nach dem Grad ihrer Zentralisierung und ihrer Thronfolgeregelung. Innerhalb der afrikanischen Königrei­ che kann man beispielsweise unterscheiden zwischen despotic kingdoms, in denen der König über die absolute Macht verfügt und alle Funktionäre ernennt (Beispiele: Rwanda, Buganda, Bunyoro); real kingdoms, in denen der König und die Häuptlinge der gleichen genealogischen Einheit angehören (Beispiele: Burundi, Bemba, Kede); incorporative kingdoms, in denen unter einer fremden Oberherrschaft die alten Hier­ archien erhalten geblieben sind (Beispiele: Bamileke, Lunda, Luba, Lozi); aristocratic kingdoms, in denen die Häuptlinge ihre Legitimation aus einer ehemaligen Verbin­ dung zur Königsfamilie oder zu deren Favoriten herleiten, ihre Ergebenheit gegen­ über dem Herrscher aber nur noch durch Tributzahlungen bekunden (Beispiele: Kuba, Ngonde, Ha, Zinza). Eine Besonderheit bilden die federations (vgl. dazu oben E 5 δ), d.s. die Zusammenschlüsse unter einem König als primus inter pares (z. B. der Stämme der Aschanti unter dem Asantehene). Zum Ganzen vgl. T. C. McCaskie (1995), p.  144 ff. 118  Weitgehend

119  Unterschiede

150

Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Entwicklung.120 Wenn daher überhaupt Rückschlüsse von den rezenten auf die vorgeschichtlichen Völker möglich sind, dann lediglich als Wahrschein­ lichkeitsaussagen aus heutiger ‚westlicher‘ Sicht und nur im Hinblick auf ihr durchschnittliches Lebensprofil.121 Einige rezente indigene Völker werde ich dennoch genauer skizzieren, weil ich nicht vollständig in vagen Durch­ schnittsaussagen verharren will, sondern vermute, dass ihre heutige Lebens­ weise noch immer prototypisch für Völker auf einer entsprechenden Kultur­ stufe in der prähistorischen Vergangenheit ist.122 Fast vollständig ausgeklam­ mert habe ich die meso- und südamerikanischen Völker (Inka und Maya; Indios), deren systematische Erforschung noch in den Anfängen steckt, ob­ wohl über ihre teilweise weit fortgeschrittene Kultur inzwischen viel Mate­ rial zutage gefördert wurde.123 2. Prästaatliche Entwicklungen von Recht a) Die Rechtsentwicklung innerhalb von Horden Horden von Wildbeutern (Jägern und Sammlern) – band societies in der Terminologie von Sahlins und Service – sind die frühesten Erscheinungsfor­ men sozialen menschlichen Daseins. Soweit uns Beobachtungen rezenter Völker124 Rückschlüsse auf ihr prähistorisches Dasein erlauben, bildeten sie Gruppen von 10 bis zu 80 (gewöhnlich 20 bis 50, selten bis 150) Individuen, die meistens verwandtschaftlich verbunden waren und sich allenfalls saisonal mit fremden Gruppen zusammenschlossen (Beispiel: !Kung-Buschleute, dazu E. Haberland (1998), S.  275 f.; J. Kohler (1914), S. 1. Selbstbescheidung beinhaltet auch „eine klare Absage an jene Haltung, die allein dem westlichen Wissenschaftler die Rolle des Subjekts der Forschung, den außereuropäischen Gesellschaften aber die des Objekts der Forschung zuweist“ (K.-H. Kohl, 1993, S. 166). Überhaupt ist die Bildung einer idealen Typologie vorge­ schichtlicher Gesellschaften eine westliche Zutat zur ehemals vorhandenen Realität; denn diese Realität war wesentlich komplexer, als die Typologie sie erkennen lässt, weil Geschichte, Geographie, Kultur und andere Faktoren jeder individuellen Gesell­ schaft ihr Erscheinungsbild mitgegeben haben. 122  Generell zur politischen Anthropology und zum Folgenden C. Ph. Kottak (2002), p.  240 ff. 123  Zu den Ixil-Maya vgl. unten H 2 a α. Vgl. ferner G γ. ‒ Allgemeine Literatur: B. Riese, Die Maya: Geschichte, Kultur, Religion, München 42002; I. Clendinnen, The Cost of Courage in Aztec Society: Essays on Mesoamerican Society and Culture, Cambridge 2010; M. P. Baumann, Weltbild und Symbolik indianischer Tradition in Südamerika, München 1994. 124  Als Horden organisierte Völker haben überlebt: in Zentralaustralien die Abori­ gines, in Südafrika die Buschleute, in der Arktis die Eskimos, in Südamerika die In­ dios, in Nordwestamerika die Indianer, im Pazifik einige der melanesischen, polyne­ sischen und mikronesischen Völker. 120  Vgl.

121  Diese



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts151

unten Zusatz 2). Einige Gruppen waren sesshaft, wohnten in kleinen Camps beisammen und halfen einander bei der Nahrungsbeschaffung, Essensberei­ tung, Kinderpflege u. a. (Beispiel: Inuit/Eskimos).125 Die meisten Gruppen zogen dagegen in ständiger Suche nach neuer Nahrung umher (Beispiel: Schoschonen in Utah und Nevada). Untereinander verband sie keine feste Organisation; wenn sie sich trafen, dann meistens um durch den Austausch von Mitgliedern (Männern oder Frauen) Inzucht zu verhindern, aber auch um durch gemeinsame Feste sich ihrer Zugehörigkeit zu einem größeren Volk zu vergewissern und so Kriege innerhalb ihres Volkes zu vermeiden.126 Die soziale Ordnung der Horden war je nach Größe unterschiedlich. Sie beruhte in einfachen Gruppen mit einer geringen Anzahl von Mitgliedern allein auf Differenzierung nach Alter und Geschlecht, in komplexeren Grup­ pen mit einer größeren Zahl von Mitgliedern zwar auf der Gleichheit aller Familienoberhäupter, aber einer hervorgehobenen, wenngleich nicht institu­ tionalisierten Stellung einzelner (i. d. R. männlicher) Personen, die den Frie­ den innerhalb der Gruppe gewährleisteten und gelegentlich auch Entschei­ dungen für die gesamte Gruppe trafen. Diesen ‚Friedenshäuptlingen‘ traten in eher kriegerischen Völkern (modernes Beispiel: Komantschen, dazu unten Zusatz 1) ‚Kriegshäuptlinge‘ zur Seite, die für die erfolgreiche Durchführung von Feldzügen gegen Nachbarhorden zuständig waren und denen dann ein Befehlsrecht über die Teilnehmer zustand. Darüber hinaus gab es Anführer bei der gemeinsamen Jagd, die zwar Anordnungen treffen konnten, jedoch kein eigentliches Befehlsrecht hatten. Arbeitsteilung bestand ausschließlich insoweit, als Jagdausübung und ggf. Kriegsführung Sache der Männer wa­ ren, Sammeln von Wurzeln und Früchten dagegen Sache der Frauen.127 In­ folgedessen oblagen den Männern die Herstellung von Waffen und Jagdgerät und das Aufstellen von Fallen, den Frauen dagegen alle Arbeiten, die nicht Männersache waren, speziell die Aufzucht der Kinder und die Zubereitung des Essens (mit Ausnahme des Fleisches, dessen Zubereitung meistens den Männern oblag).

125  An der Westküste Nordamerikas entwickelten sich auch sesshafte Stämme, begabt mit hoher Kultur, jedoch ohne Ackerbau und Viehhaltung. Sie ernährten sich vom jährlichen Lachsfang und vom Überfluss an wilden Beeren, und sie lernten, wie man die Nahrung in Zeiten reichen Angebots konserviert, um später längere Perioden ohne Nahrungsmangel in Muße verbringen zu können. 126  In Bezug auf die Schoschonen einschränkend J. H. Steward (1955a), p. 109; vgl. dazu aber auch P. J. Richerson et al. (2003), p. 370 f. m. Nachw. 127  J. G. Peoples/G. A. Bailey (2003), p. 218: „The male hunting/female gathering pattern is not quite universal, but it is widespread enough that many anthropologists believe that there must be some physical differences between men and women that are relevant explaining it.“

152

Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Unterschiede in der Lebensführung waren hauptsächlich durch die Umwelt bedingt. In einer armen Umwelt lebten meist kleinere Horden, die sich vom jahreszeitlich vorhandenen Angebot der Natur ernährten, keine Vorratswirt­ schaft betrieben, dafür aber das Vorhandene jederzeit miteinander teilten. In einer reichen Umwelt lebten meist größere Horden, deren Wirtschaft oft die periodische Ansammlung gemeinsamer Vorräte (etwa von Fischen, Nüssen und Grassamen) vorsah, die später verteilt werden konnten. Unterschiede ergaben sich ferner aufgrund der Art des Wirtschaftens. Diente hauptsächlich vegetarische Kost als Lebensgrundlage, bildeten sich meistens kleinere Ge­ meinschaften von vier bis sechs Familien, die in Camps zusammenwohnten und von Zeit zu Zeit den Wohnort wechselten. Das Vorhandensein von Grab­ stöcken in einigen Gegenden spricht darüber hinaus für den Beginn einer Gartenkultur. Bildete dagegen die Jagd auf Großwild die wichtigste Nah­ rungsquelle, kam es regelmäßig zu größeren Gemeinschaften, die entweder in gemeinsamen oder benachbarten Camps wohnten und sich von Mal zu Mal zu gemeinsamen Unternehmungen verbündeten, hierfür auch ein be­ stimmtes Jagdgebiet in Anspruch nahmen und Fremde von ihm fernhielten. Ein Wechsel des Wohnorts war dann seltener. Möglicherweise gab es in na­ türlich besonders begünstigten Gegenden auch schon erste big men, die grö­ ßeren Haushalten (mit mehreren Frauen und vielen Kindern) vorstanden und von Bediensteten nicht nur versorgt wurden, sondern auch genügend Mittel erhielten, um für die Allgemeinheit Feste zu veranstalten und sich dadurch Ansehen zu verschaffen. In fast allen Belangen wurde das Leben der Wildbeuter von Bräuchen be­ stimmt, die einen prä-normativen Charakter hatten und unterschiedlich streng eingehalten wurden je nachdem, ob man den Wechsel von einer Gruppe in eine andere erschweren (Beispiel: Komantschen) oder erleichtern (Beispiel: !Kung) wollte. Streng normativ abgesichert waren lediglich die familiären Strukturen (gewöhnlich Vater, Mutter, Kinder) und die Nutzungsberechtigung an einzelnen Gegenständen (z. B. Jagdgerät). Gleichwohl ist es zwar mög­ lich, aber wenig sinnvoll, insoweit zwischen Sitten- und Rechtsnormen zu unterscheiden, sofern man bereit ist, innerhalb der Sittenordnung Gradunter­ schiede der Strenge anzuerkennen.128 Ehen wurden formlos geschlossen und aufgelöst.129 Im Interesse der biotischen Evolution war ein häufiger Austausch der Mitglieder von Horde zu Horde wün­ schenswert, weil dadurch die meisten Mitglieder einer Horde wenigstens nicht unmit­ telbar miteinander verwandt waren. Ebenfalls war der Austausch im Interesse der 128  Anders L. Pospišil (1980, S. 240 ff., 261 f.) hinsichtlich der Heiratsregelungen der australischen Aborigines. 129  Es handelt sich in unserem heutigen Sinne nicht eigentlich um ‚Ehen‘, sondern lediglich um die sozial anerkannte Zugehörigkeit einer Frau zu einem Manne. Vgl. dazu noch unten H 3 e aa.



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts153

kulturellen Evolution wünschenswert, weil er die Entstehung großer, hordenübergrei­ fender Netzwerke ermöglichte, worin neue Kulturtechniken sich verbreiten konnten. Ob die Frau in die Horde des Mannes oder der Mann in die Horde der Frau zog oder ob beides möglich war, entschied der Brauch. Monogynie war zwar die (tatsächliche) Regel, weil kaum ein Mann in der Lage war, für mehrere Frauen und deren Kinder (sowie ggf. auch noch für die Eltern der Frauen) zu sorgen. Doch wo es die Versor­ gungslage erlaubte, war auch Polygynie erlaubt. Innerhalb der engeren Familien be­ stand ein der Idee nach strenges Inzesttabu;130 wie umfänglich es die Familienange­ hörigen betraf, war kulturabhängig und oft nur sehr vage geregelt. Kulturabhängig war innerhalb der Ehe auch die Stellung der Frau: Tendenziell war sie dort, wo das Ideal des tapferen Kriegers vorherrschte oder der Jagderfolg über das Wohlergehen der Familie entschied, dem Manne untertan; dagegen stand sie dem Mann tendenziell gleich, wo sie ebenfalls einen wesentlichen Beitrag zur Ernährung der Familie leiste­ te. Gleichwohl wurde überall nur für den Fall Vorsorge getroffen, dass die Familie den männlichen Ernährer verlor: Für Frau und Kinder mussten dann einzelne aus der Verwandtschaft (entweder des Mannes oder der Frau) sorgen, ausnahmsweise auch (etwa bei den Inuit) derjenige, der den Mann getötet hatte. Eine Eigentumsordnung in unserem heutigen Sinne war schon mangels Besitzes wertvoller Sachen unbekannt. Sie wurde weitestgehend131 ersetzt durch ein aus­ schließliches Nutzungsrecht132 – einesteils seitens der Gruppe an einem Territorium, anderenteils seitens Einzelner an gewissen durch Arbeit hergestellten Geräten sowie am Ergebnis des Jagens und Sammelns. Stattdessen gab es soziale Teilungspflichten, die sich vor allem auf die gemeinsame Jagdbeute und das Ergebnis gemeinsamen Sammelns bezogen, u. U. auch auf individuelle Nahrungsvorräte. Die Regelungen waren oft sehr differenziert, schon um Streit zu vermeiden. Mangels Eigentums fehl­ te es an einem ausgebildeten Vertragsrecht und Erbrecht. 130  Eine universell akzeptierte Erklärung für das familiäre (universell verbreitete) Inzesttabu gibt es jedoch nicht. Als wahrscheinlich und durch die Studien von J. Shepher (1983) in israelischen Kibbuzim gut gestützt gilt derzeit die Theorie, dass das Tabu genetisch nicht verankert ist, sondern dass das gemeinsame Aufwachsen in der­ selben Wohngemeinschaft sexuelle Kontakte unattraktiv macht. Allerdings bleibt dann die Frage offen: Warum ist das so? Eine biologische Erklärung hat daher m. E. nach wie vor sehr viel für sich. Vgl. dazu auch I. Eibl-Eibesfeldt (2004), S. 365 ff. 131  Ausgenommen waren lediglich Sachen, die eng mit der Persönlichkeit verbun­ den waren wie z. B. der Speer mit dem Manne oder der Schmuck mit der Frau. Die offene oder heimliche Wegnahme dieser Sachen wurde als Persönlichkeitsdelikt ange­ sehen und geahndet. Nach dem Tode wurden diese Sachen oft mit ins Grab gelegt. 132  Nach § 903 Satz 1 BGB besteht allerdings auch der Inhalt unseres Eigentums im ausschließlichen Recht zur Nutzung: „Der Eigentümer einer Sache kann … mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen.“ Der Unterschied besteht darin, dass das Nutzungsrecht der Wildbeuter endete, wenn kein Interesse mehr an einem Territorium oder einer Sache bestand, während das Ei­ gentum i. S. des § 903 BGB auch dann noch fortdauert. Am Beispiel verdeutlicht: Bei den Inuit musste derjenige, der eine Sache nicht mehr braucht, der Bitte eines ande­ ren entsprechen, sie ihm zum Gebrauch zu überlassen. Beschädigte dieser dann oder verlor er die Sache, hatte der ursprüngliche Nutzer keinen Anspruch auf Ersatz (K. Birket-Smith, 1929, p. 264 f.).

154

Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Dem werdenden Recht sind auf dieser Kulturstufe am ehesten gewisse Strafnormen zuzurechnen. Sie bildeten jedoch nirgends eine systematisch zusammenhängende Ordnung. Auch wurden sie nur flexibel angewandt. So wurde Aggressivität gegen Gruppenangehörige zwar überall als sozial stö­ rend empfunden, jedoch nur selten abgestraft – dann nämlich, wenn die Be­ strafung dem gemeinsamen Nutzen diente. Der Mord stand an der Spitze der eigentlichen Delikte, nicht nur weil er die größte soziale Beunruhigung er­ zeugte, sondern auch weil er die Verwandten des Ermordeten regelmäßig zur Blutrache verpflichtete. Als besonders schwerwiegend wurde ferner der Inzest zwischen nächstverwandten Personen empfunden. Weniger schwerwie­ gende Normverstöße – vielfach aufgrund eines Konflikts um Frauen (Bei­ spiel: Ju/‫׳‬Hoansi-Jäger in der Kalahariwüste), aber auch wegen eines Versto­ ßes gegen die Verteilungsgerechtigkeit oder die Reziprozität – wurden in in­ formellen Verfahren mit offenem Ausgang behandelt. An solchen Verfahren beteiligte sich regelmäßig die gesamte Gruppe, nicht so sehr um den Vorfall aufzuklären (den ohnehin fast alle kannten), sondern um über die ihn aus­ lösenden Faktoren zu beratschlagen. Im Allgemeinen endeten die Verfahren mit einer Versöhnung und ggf. einer Bußleistung des Beschuldigten bzw. seiner Familie an den oder die Ankläger. Wurde anschließend die Buße nicht geleistet, traten allerdings ernstere Sanktionen an ihre Stelle: Der für schul­ dig Befundene wurde dann nicht nur der allgemeinen Verachtung ausgesetzt und gemieden, sondern u. U. auch aus der Gruppe ausgestoßen. Dauerstreit dagegen führte meistens zum Auseinanderbrechen der Gruppe. Intern war das Sozialverhalten überall auf Verteilungsgerechtigkeit und Reziprozität ausgerichtet.133 Jene betraf hauptsächlich die gemeinsam erwor­ bene Nahrung und war durch die in der Gruppe vorherrschende Gleichheit gekennzeichnet; diese bestimmte insbesondere den Austausch von Waren (kalkulatorische Reziprozität) und von Gaben (emotionale Reziprozität), den Austausch von Mitgliedern unter den Gruppen (z. B. Frauentausch), die wechselseitige Unterstützung bei Streitigkeiten und die Vergeltung (z. B. als Blutrache, Spiegelstrafe oder Auferlegung einer Buße). Im Verhältnis zu an­

133  Die Reziprozität als „sozialpsychologische Grundlage allen Rechts“ entdeckt zu haben, ist das Verdienst von R. Thurnwald (1921). Zum universalen Sozialprinzip erhoben wurde sie von M. Mauss (1925/1996). B. Malinowski (1926) bezeichnete sie als „die innere Symmetrie aller sozialen Transaktionen“. Nach E. Voland (1997, S. 128 f.) wird sie von den Ergebnissen der Primatenforschung bestätigt. Sie hat „als Anpassungsproblem die soziale Evolution der Menschheit wesentlich mit vorange­ trieben, weshalb unsere Psyche adaptive Mechanismen hervorgebracht hat, dieses Problem bestmöglich zu lösen. Was immer an Emotionen und Affekten daraus resul­ tiert, kann in gewissem Sinne als biologisch gebahntes Rechtsgefühl aufgefasst wer­ den.“ Einzelheiten dazu noch unten H 2 c δ.



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts155

deren Horden verhielten sich die Horden teils kriegerisch, teils friedlich134 – was ich im Folgenden am Beispiel einerseits der Komantschen, andererseits der !Kung erläutern werde. Gründe für Feindseligkeiten waren Grenzübertre­ tungen, die Entführung von Frauen und Kindern und der Raub wertvollen Guts, aber auch die Absicht der jungen Männer, sich durch die Tötung von ‚Feinden‘ als mutige Kämpfer hervorzutun. Die Lebensweise der wenigen noch vorhandenen Wildbeutergruppen wurde einst vor allem durch Veränderungen der Umwelt bedroht.135 In der Neuzeit erzwangen dann zusätzlich kolonialisierende Europäer viele der Gruppen zum Rückzug in öko­ logische Nischen und zu entsprechenden Anpassungsleistungen.136 Das kann man aus ethnologischer Sicht bedauern. Doch ist ein tieferes Eindringen in das Innenleben unserer prähistorischen Vorfahren heute auch ohne diese Veränderungen kaum mög­ lich – so etwa in Bezug auf das Weltbild oder die Weltanschauung der Steinzeitmen­ schen, kaum mehr auf das Weltbild und die Weltanschauung der bronzezeitlichen Menschen (dazu unten H 2 c dd). Die folgenden Darstellungen der neuzeitlichen Komantschen und der !Kung dürfen also nicht vergessen machen, dass es diese Völ­ ker in der Frühantike entweder noch nicht gab (Komantschen) oder dass sie unter teilweise anderen ökologischen Bedingungen wahrscheinlich andere Sitten und Ge­ bräuche ausgebildet hatten (!Kung). Doch da nicht die Genese der Völker, sondern die ihres Rechts die Auswahl des vorliegenden Materials bestimmt, können Vorstufen des Rechts innerhalb neuzeitlicher indigener Völker mit einiger Berechtigung auch als Indiz für entsprechende Vorstufen innerhalb prähistorischer Völker gewertet wer­ den.

134  Die Frage, ob die Wildbeuterhorden einander bekriegten, ist seit Langem um­ stritten. Aufgrund einer neuen Untersuchung behaupten D. Fry/P. Söderberg (2013), dass kriegerische Auseinandersetzungen im frühen Altertum sehr selten gewesen seien, weil territoriale Konflikte aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte kaum auftreten konnten und es in egalitär ausgerichteten Gruppen auch an potenziellen Kriegstreibern gefehlt habe. Ihre Argumentation stützen sie auf die Zahl an Gewalt­ akten, die im Standard Cross-Cultural Sample (einer ethnologischen Sammlung von seit 1980 gewonnenen Erkenntnissen) dokumentiert sind. Kaum eine der Verletzun­ gen lasse sich eindeutig kriegerischen Unternehmungen zuordnen. Wissenschaftler dagegen, die das Schädelmaterial von Australopithecinen und Knochenverletzungen von Menschen aus der Alt- und Jungsteinzeit untersucht haben, stellten daran u. a. Pfeilverletzungen (z.  T. mit eingeheilten Pfeilspitzen) sowie Schädelverletzungen durch Steinäxte fest und kamen daher zu anderen Ergebnissen. Auch sind uns stein­ zeitliche Felsmalereien (u. a. aus der Valora-Schlucht) überliefert, die eindeutig auf Kämpfe zwischen verfeindeten Jägern hinweisen. Vgl. dazu (mit Belegen) I. EiblEibesfeldt (2004), S.  573 ff. 135  Sie mussten z. B. die Jagdtechnik in Nordamerika nach dem Aussterben des Mammuts auf die Jagd nach Kleintieren umstellen. 136  Dazu etwa J. Diamond (2012), S. 325.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

1. Zusatz: Die Komantschen als Beispiel einer kriegerischen Horde Die Komantschen137 sind ein Indianerstamm, der im 16. Jh. aus dem östli­ chen Wyoming in die Great Plains, die ausgedehnten Grasländer zwischen Mississippi/Missouri und den Rocky Mountains, einwanderte. Sein Ursprung ist ungewiss;138 über die Herkunft seines Namens besteht Streit (Coman­ ches = ‚Fremde‘, ‚Feinde‘?). Er selbst sah in den Rocky Mountains seine angestammte Heimat und bevorzugte für sich den Namen Numunuu (Ne­ mene), was von einem alten uto-aztekischen Dialekt abgeleitet ist und soviel wie ‚menschliches Wesen‘ oder ‚Volk‘ bedeutet. Tatsächlich hielt er sich – wie viele andere Völker auch – für das menschlichste aller Völker; Völker, die eine andere Sprache, andere Sitten und andere Tabus hatten, erschienen ihm als weniger menschlich. Trotz einem gewissen Zusammenhalt untereinander lebten die Komant­ schen verstreut in Horden.139 Ob sie sich jemals zu einem gemeinsamen Treffen zusammenfanden, ist ungewiss; selbst am Sonnentanz nahm stets nur ein Teil von ihnen teil. Da die Suche nach Nahrung ihr Leben beherrschte, wäre das Zusammenleben in größeren Gruppen eher schädlich gewesen; denn der Nahrungsvorrat, den die Natur ihnen bot, war knapp. Bevor sie mit den Spaniern in Berührung kamen, gingen die Männer mit Pfeil, Bogen und Speeren bewaffnet auf die Jagd – hauptsächlich nach Kaninchen, denn das Rotwild war ihnen zu flink, der Elch zu massig und der Bär zu gefährlich. Aller Nahrungssorgen ledig waren sie lediglich, wenn Bison- oder Büffelher­ den vorüberzogen. Dann erlegten sie so viele Tiere, wie sie verwerten konn­ ten, verschlangen das Fleisch und die Innereien, zerlegten die Häute, um Kleidung für die kalte Jahreszeit zu erhalten, und stellten aus Hörnern und Hufen Werkzeuge und sonstige Gerätschaften her. Da die meisten Komantschen mangels genügender Hygiene Krankheiten hatten und mangels ausreichenden Schutzes vor den Unbilden der kalten Winter früh starben, blieben ihre Familien auch ohne Geburtenkontrolle klein. Ihre Praktiken zur Heilung von Krankheiten hatten nur selten Erfolg, obwohl die wenigen Männer und Frauen, denen man medizinische Kennt­ 137  Vgl. zum Folgenden insbesondere E. A. Hoebel (1940); (1968), S. 163  ff.; J. H. Steward (1955), p. 101 ff.; Th. R. Fehrenbach (1992); Th. W. Kavanagh (1999), p.  28 ff.; ferner H. Hartmann (1979); R. Wood et al. (1980). 138  Der Stamm gehörte ursprünglich dem der Schoschonen an, von dem er sich jedoch kurz vor 1700 trennte. Als sicher gilt, dass dieser Stamm aus Asien nach Nordamerika eingewandert war. 139  So wohl der ältere soziale Zustand. Mitte des 19. Jh.s hatten sich die meisten kleineren Horden dann in 5 bis 13 größeren Horden (composite bands) zusammenge­ schlossen (vgl. E. A. Hoebel, 1940; die Schätzungen der Ethnologen fallen unter­ schiedlich aus).



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts157

nisse zuschrieb, bei ihnen in hohen Ehren standen. Unheilbar Kranke und Alte wurden aus der Horde entfernt, sofern sie es nicht vorzogen, Selbstmord zu begehen. Missgeburten wurden getötet, ebenso Zwillinge, die als widerna­ türlich galten. Mädchen wurden während einer Hungerperiode ausgesetzt. Der Tod eines jungen Mannes dagegen wurde von seinen Angehörigen mit Wehgeschrei und anhaltendem Kummer beklagt, weil er oft den Hunger oder gar den Tod auch seiner Familie bedeutete, der der Ernährer fehlte. Deshalb wurde in einigen Verbänden einem toten Mann die Frau sogleich nachgeschickt,140 während die Kinder oder wenigstens die Söhne von ande­ ren Familien adoptiert wurden. Eine andere als die geschlechtliche Arbeitsteilung kannten die Komant­ schen nicht. Jagd und Waffenherstellung waren Männersache. Sache der Frauen war es, durch Sammeln von Früchten und von Pflanzen, die sie als genießbar kannten, zur Ernährung beizutragen sowie nahezu alle Arbeiten zu verrichten, die nicht mit der Jagd zusammenhingen: die Camps aufzubauen, die Kinder zu hüten, die Tiere zu enthäuten und auszunehmen, zu kochen u.dgl.m. Die Sozialordnung einer Horde war einfach. Die Familien wohnten ge­ trennt in kegelförmigen Stangenzelten (tipi), die sie bei einem Ortswechsel mitnahmen. Die Familienoberhäupter standen einander gleich und konnten grundsätzlich tun und lassen, was sie wollten. Nichtsdestoweniger kooperier­ ten sie miteinander und halfen sich, wenn ‚Not am Mann‘ war. Stellte sich einer von ihnen zu weit außerhalb der Gesellschaft, dann verlor er an Ach­ tung. Tat er sich dagegen durch Klugheit oder kühne Taten hervor, gewann er an Ansehen. Und bewies er darüber hinaus gesunden Menschenverstand im Umgang mit anderen, Einfühlungsvermögen in den Geist der Gemeinschaft und die Fähigkeit, mittels seiner Rede andere von seinen Ansichten zu über­ zeugen, dann konnte er zum Friedenshäuptling (peace chief) gewählt zu werden. Seine Aufgabe war es dann, die Horde zusammenzuhalten, über ihr Weiterziehen zu entscheiden, Streitigkeiten zu schlichten, Zeit und Ort der Jagd zu bestimmen, den gemeinsamen Rat zu leiten, den Krieg gegen andere Horden vorzubereiten und die dafür notwendigen Allianzen zu schmieden. Tat er sich stattdessen durch Tapferkeit im Kampf mit verfeindeten Stämmen und weißen Farmern hervor, dann konnte er die Stellung eines Kriegshäupt­ lings (war chief) erlangen. Er organisierte dann die Kriegszüge, führte sie an und durfte mit dem Gehorsam aller Beteiligten rechnen, weil es im Feindes­ land darauf ankam, dass die Truppe ‚wie ein Mann‘ handelte. Nach Abschluss eines jeden Feldzugs endete allerdings seine Autorität; er trat ins Glied zu­ 140  Diese Sitte war auch bei anderen Völkern verbreitet. Sie hielt sich am längsten in Indien – nämlich bis die englische Regierung 1829 dagegen einschritt.

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rück, bis möglicherweise ein neuer Feldzug geplant war und er erneut zum Anführer gewählt wurde. Der Krieg war ein wesentlicher Bestandteil im Leben der Komantschen. Ihre ge­ fürchteten Überfälle, die sie über Mexiko hinaus bis nach Mesoamerika führten, fanden gewöhnlich während der Vollmondnächte statt. Ziel war das Erbeuten von Waffen und Gefangenen, später auch von Pferden,141 oder einfach die Verbreitung von Terror. Dies gelang ihnen, weil jedermann danach lechzte, Ruhm und Beute zu erwerben. Insbesondere die jungen Männer versuchten, einander um des Prestigege­ winns mit nahezu unvorstellbaren Gräueltaten zu übertreffen. Sie töteten ihre Feinde nicht nur und brannten ihr Lager nieder, sondern sie schändeten auch noch ihre Lei­ chen, sofern Zeit dafür blieb, um ihnen den Eingang in die Ewigkeit zu versperren, vergewaltigten die Frauen und entführten die Kinder. Außerhalb von Kriegen gab es Führerschaft nur bei gemeinsamen Jagden. Dann übernahmen erfahrene Männer die Vorbereitung und Leitung, bestimmten Zeit und Ort, ordneten die Aufstellung der Netze für den Fang von Kaninchen und gaben die nötigen Instruktionen an die Treiber.

Die Normen der Komantschen waren vor allem überkommene Sitten. Diese mussten streng eingehalten werden; denn wer sie verletzte, erzürnte die dämonischen Mächte, die über sie wachten. Infolgedessen waren sie star­ rer, als jeder Rechtskodex es gewesen wäre. Zu den prärechtlichen Normen kann man im Wesentlichen den Schutz der familiären und von gewissen sächlichen Beziehungen rechnen. Die Familie war ein (‚patrilinearer‘) Ver­ band der in väterlicher Linie voneinander Abstammenden sowie der Ge­ schwister. Rechte standen darin lediglich den Männern zu, während die Frauen nur zu gehorchen hatten. Ehemänner durften ihre Frauen beliebig misshandeln und sogar töten, ohne dass deren Sippe eingriff oder Rechen­ schaft forderte; allenfalls zogen die Männer sich die Missbilligung ihres so­ zialen Umfelds zu. Verwandtschaftsgrade bestimmten sich nach der Erinne­ rung, die allerdings oft nicht sehr weit zurück reichte. Geheiratet wurde meistens innerhalb der Horde – ohne Zeremonie, einfach indem man mitein­ ander schlief. Der Besitz mehrerer Frauen war zwar nicht verboten, aber ungewöhnlich, weil der Mann gleichzeitig Versorgungspflichten auch gegen­ über seinen Schwiegereltern übernahm und eine Vielzahl davon seine Kräfte überfordert hätte. Tabuisiert war der Inzest zwischen Eltern und Kindern so­ wie zwischen Geschwistern. Frauen, die das Tabu brachen, wurden aus­ nahmslos getötet. Dagegen waren Ehen zwischen Vettern und Basen häufig. Ebenfalls häufig waren sogen. Leviratsehen;142 denn sie bewahrten die Witwe des kinderlos verstorbenen Mannes vor Elend oder Tod. Vorsorglich teilten sich daher manchmal die Brüder von vornherein ihre Frauen (‚antezipatori­ 141  Seit die Komantschen im 16. Jh. von den Spaniern Pferde erbeutet hatten, wa­ ren sie glänzende Reiter. 142  Levir = Schwager. Dazu noch näher unten F 3 β und G 4 c γ.



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts159

sches Levirat‘). Der Ehebruch einer Frau wurde streng bestraft, meist indem der Mann ihr die Nase abschnitt oder, falls sie sehr hübsch war, ihr eine Tracht Prügel verabreichte. Gegen den Ehebrecher ging der Mann dagegen nur selten ernsthaft vor, weil es unter seiner Würde war, wegen einer Weiber­ geschichte Blut zu vergießen. Allenfalls verlangte er eine Buße.143 Innerhalb der Horde wurde der Ehebrecher dagegen moralischer Schande ausgesetzt. Eigentum gab es weder als Stammes- noch als Individualeigentum. Es gab lediglich ausschließliche Nutzungsrechte, die entweder durch geleistete Ar­ beit, z. B. durch Einsammeln von Früchten, oder durch ständigen Gebrauch begründet wurden. Wer früher mit der Arbeit des Einsammelns begann, hatte das bessere Recht; wer später kam, musste sich ein anderes Gebiet suchen, weil andernfalls die Ernte für beide Familien zu gering ausgefallen wäre. Wer ein Wild erjagte, dem gehörte es, gleichgültig ob er es erschlagen oder erschossen hatte oder ob es ihm ins das Netz gegangen war. Jagten mehrere gemeinsam, hatte derjenige Anspruch auf das Fell und die Auswahl des Fleisches, dessen Pfeil zuerst traf. Dauernde Nutzungsrechte standen ausschließlich den Männern zu – das wichtigste bestand an seinem Lieblingspferd, dessen Raub oder Tötung der eines menschlichen Angehörigen, etwa der Frau, gleich geachtet wurde.

Wie das Vertrags- und Sachenrecht war auch das Strafrecht der Komant­ schen unausgebildet. Immerhin – Mord, Vergewaltigung und Diebstahl ge­ genüber einem Stammesgenossen beleidigten den gesamten Stamm und wurden geahndet, freilich ohne dass es dafür feste Sätze gab. Lediglich bei Mord galt das ius talionis: Die nächsten Anverwandten hatten das Recht und die Pflicht, den Mörder zu jagen und ihn zu töten. Die Familie des Mörders mischte sich nicht ein, weshalb es auch nicht zu dauernden Blutfehden kam.144 2. Zusatz: Die !Kung als Beispiel einer friedlichen Horde Die !Kung145 lebten – und leben heute noch – in der Kalahari-Wüste im Süden Afrikas, genauer im Dobegebiet im Nordwesten von Botswana.146 Es heißt, ihre ursprüngliche paläolithische Kultur habe sich bis heute erhalten;

143  A.

Uhde (1861), S. 172. Hoebel (1968), S. 174. 145  Das „!“ bezeichnet einen Schnalzlaut, der durch einen Buchstaben nicht reprä­ sentiert werden kann. 146  Zum Folgenden vor allem R. B. Lee (1979); ferner M. Gusinde (1966); P. Wiessner (1977), G. Silberbauer (1981); sowie der Sammelband von R. B. Lee/ I. DeVore (1976). Vgl. ferner I. Eibl-Eibesfeldt (1972), S. 160 ff. 144  E. A.

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bedroht wird sie inzwischen aber von den benachbarten Bantus147 sowie von den eingewanderten Europäern.148 Die !Kung waren in Stämmen organisiert, lebten aber in kleinen Camps zu insgesamt 9 bis 30 Personen. Eine irgendwie geartete Regierung kannten sie nicht. Sie waren freie Leute, die keinerlei Unterordnung unter Institutionen außer ihrem Brauchtum und ihren Sitten kannten. Ihre Familien standen ein­ ander gleich, innerhalb der Familien waren Mann und Frau im Wesentlichen gleichberechtigt. Wenn einzelne Personen vor den übrigen herausragten, dann aufgrund ihrer besonderen Kenntnisse oder Fähigkeiten. Auf diese Weise gab es regelmäßig Lagerautoritäten, die eine große eigene Familie hatten, sich mit anderen Familien gut verstanden und überdies geschickte Vermittler waren, falls es zum Streit kam. Am wichtigsten aber war, dass sie das heilige Feuer zu hüten hatten, das an jene Tage erinnerte, als die Götter es vom Himmel schickten und den Menschen aufgaben, auf ewig darüber zu wachen. In der Trockenzeit scharten sich die !Kung – oft zusammen mit anderen Gruppen – um ein Wasserloch, das sie mit dem lebensnotwendigen Nass versorgte.149 Außerhalb der Trockenzeit zogen sie dagegen frei umher auf der Suche nach jagdbarem Wild und nach pflanzlicher Nahrung.150 Aufgabe der Männer war die Jagd. Die für Raubtiere, Giraffen, Stachelschweine und An­ tilopen benötigten Waffen – mit vergifteten Knochen- oder Steinspitzen ver­ sehene Pfeile, Wurfspieße und -keulen – stellten sie selber her; Kleintiere fingen sie in Fallen oder Schlingen. Das Fleisch der erbeuteten Tiere zerleg­ ten sie und bereiteten es zu. Aufgabe der Frauen war der gemeinsame Bau von Hütten, ferner das Sammeln und Verarbeiten von Melonen, Orangen, Beeren und Wurzeln. Vor allem aber hatten sie die Kinder zu betreuen, von denen man etwa ab dem 15. Lebensjahr ebenfalls einen Beitrag zum Fami­ 147  Zur Ausbreitung der Landwirtschaft betreibenden, kriegerisch ihren Nachbar­ völkern überlegenen Bantu-Völker im südäquatorialen Afrika vgl. J. Diamond (2002), S.  468 f., 489 ff. 148  Auch die aus den USA von der Harvard-Universität kommenden Forscher ­haben das Leben der !Kung verändert. Lee und andere haben diese Veränderungen in ihren Studien dokumentiert und dabei eine rasche Veränderung von der nomadischen zur sesshaften Lebensweise registriert. Vgl. zur „großen Wildbeuter-Debatte“ C. Ph. Kottak (2002), p. 246 f. 149  Diese Lebensweise nahmen sie freilich erst an, seit sie aus den wirtlicheren Gegenden Südafrikas verdrängt wurden. 150  Ihre Kenntnisse von den Eigenheiten des Wildes hat Beobachter immer wieder tief beeindruckt. N. Blurton-Jones/M. J. Konner schreiben (1976, p. 334): „The sheer volume of knowledge is overwhelming. … The accuracy of observation, the patience, and the experience of wildlife they have had, and appreciate are enviable. The sheer, elegant logic of deduction from tracks would satiate the most avid crossword fan or reader of detective stories.“



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lienunterhalt erwartete: Die Jungen hatten sich der Jagdgesellschaft anzu­ schließen, die Mädchen sich am Sammeln zu beteiligen. Alte Leute genossen aufgrund ihrer Erfahrung in der Gruppe hohes Ansehen und wurden nach Kräften miternährt. Gleichwohl wurden sie beim Weiterziehen oft zurückge­ lassen, wenn die Nahrungssituation kritisch und das Überleben der Jüngeren gefährdet waren. Vielfach wurden in solchen Notsituationen auch neugebo­ rene Kinder von ihrer Mutter nicht ‚aufgenommen‘ – was dann kein Kinder­ mord war, denn zuvor waren sie nach der Auffassung der !Kung noch keine richtigen (d. h. in die soziale Gemeinschaft integrierten) Menschen. Eine Rechtsordnung kannten die !Kung nicht – dazu waren ihre Gruppen viel zu klein. Was zu regeln war, geschah durch Brauchtum und Sitte. Die allerdings waren ziemlich flexibel, weshalb die Trennlinie zwischen den ein­ zelnen Gruppen durchlässig war und durch Ehen, aber auch durch wechsel­ seitige Besuche und den Austausch von Gaben betont durchlässig gehalten wurde. Die Ehen waren monogam; sie wurden entweder von Verwandten oder Freunden durch Austausch zwischen den Gruppen desselben Stammes ver­ mittelt oder kamen direkt auf Wunsch der Partner zustande, einfach indem man in dieselbe Hütte zog und Kinder zeugte. Ob dabei die Frau in das Camp des Mannes wechselte oder der Mann in das Camp der Frau, war Verhandlungssache.151 Merkte man, dass man sich auf Dauer nicht vertrug, trennte man sich ohne viel Aufhebens wieder und verband sich mit einem anderen Partner. Witwen konnten von geschickten Jägern als zusätzliche Frauen angenommen werden. Eigentum kannten die !Kung als gemeinsames Nutzungsrecht am Wasser­ loch, um das sie sich scharten, sowie an der umliegenden Region, die sie außerhalb der Trockenzeit als Jagd- und Sammelrevier durchstreiften. Andere Gruppen oder Personen mussten ihre Zustimmung einholen, wenn sie das Wasserloch ebenfalls nutzen oder das umliegende Revier betreten wollten. Eigentum als individuelles Nutzungsrecht gab es am erjagten Wild und an den gesammelten Wurzeln und Früchten. Wurde, wie üblich, gemeinsam gejagt und gesammelt, dann hatte das Nutzungsrecht am erlegten Tier primär derjenige Mann, dessen Pfeil es als erster traf, das Nutzungsrecht an den Wurzeln und Beeren primär diejenige Frau, die es in ihren Korb tat. Doch teilten sowohl die Teilnehmer an der Jagd die erlegte Beute als auch nach Abschluss der Sammlung die Frauen das von ihnen eingesammelte Gut. Da­ bei achtete man streng auf Gerechtigkeit, denn es sollten weder Zank noch Neid entstehen. Allerdings ließ die Gerechtigkeit auch zu, dass man bei der Teilung Verwandtschaftsbeziehungen berücksichtigte, Freundschaften be­ 151  L.

Marshall (1976), p.  156 ff.

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stärkte oder knüpfte und neue Gruppen mit einbezog. Hatte man mehr er­ langt, als man verbrauchen konnte oder konservieren wollte, und bestand die Gefahr, dass der Rest verdarb, lud man fremde Gruppen sogar förmlich ein, am Verzehr teilzunehmen. Auch dadurch stärkte man den Zusammenhalt und verhinderte künftige Feindschaft. Bereits die Wichtigkeit, die sie dem Teilen zumaßen, zeigt, wie sehr den Buschleuten die Bewahrung des friedlichen Zusammenlebens am Herzen lag.152 Gleichwohl nahmen Konflikte regelmäßig zu, wenn mehrere Gruppen während der Trockenzeit dicht gedrängt um dasselbe Wasserloch herum wohnten und Nahrung und Wasser zusehends knapper wurden. Eine räumli­ che Trennung der Gruppen schied in dieser Zeit aus; die Konflikte mussten also an Ort und Stelle bereinigt werden. Kathartische Wirkung besaßen in solchen Fällen die gemeinsamen Tänze, bei denen sich die Teilnehmer durch rhythmische Bewegungen und Gesänge in Trance versetzten, bis ihnen am Ende die Welt harmonischer vorkam als zuvor. Nützte dies nicht oder er­ schien es von vornherein aussichtslos, dann wurden die streitenden Parteien zunächst von Unbeteiligten getrennt, beruhigt und zum Schweigen gebracht, damit man anschließend ihren Streit in einem öffentlichen Verfahren verhan­ deln und schlichten konnte. An diesem Verfahren konnten grundsätzlich alle teilnehmen; doch gab es traditionell in jeder Gruppe Personen, die sich auf­ grund ihrer natürlichen Autorität für die Schlichtung besonders eigneten und die daher die Meinungsführerschaft übernahmen, während die übrigen sich darauf beschränkten, durch Zurufe, Beifalls- oder Missfallensäußerungen die allgemeine Stimmung zum Ausdruck zu bringen. Gelang die Schlichtung, dann vereinigten sich alle abschließend zu einem gemeinsamen Tanz. Miss­ lang sie, dann blieb nichts übrig als Aufspaltung und Trennung. Eine Ent­ scheidungsgewalt gab es nicht; deshalb redete man miteinander, bis eine Ei­ nigung erreicht war – notfalls stundenlang, die Folgen eines Misslingens ständig vor Augen. b) Die Rechtsentwicklung innerhalb von Stammesgesellschaften Die historisch zweite Stufe sozialer Gruppenbildung war das Zusammen­ wohnen in Stämmen. Diese umfassten feste Siedlungen, ihre Bewohner be­ trieben in aller Regel Landwirtschaft und Gartenbau. Gegenüber den noma­ disierenden Horden der Wildbeuter waren sesshafte Stämme seit etwa 12.000 Jahren in der Mehrheit.153 152  Siehe auch I. Eibl-Eibesfeldt (1972), S. 188: Buschleute „sind den Tag über viele Stunden damit befasst, freundliche Kontakte zu pflegen.“ 153  Hinweise auf vereinzelte sesshafte Phasen gibt es bereits für die Zeit ab ca. 15.000 v.  u.  Z. Fundamente für feste Hütten wurden offenbar schon ca. 20.000



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Das Gebiet, in dem die Entwicklung zur sesshaften Lebensweise begann, war der Nahe Osten: Südanatolien, Palästina, das Jordangebiet und das Zagrosgebirge (Irak/ Iran).154 Was genau sich dort ereignete, wie die ersten Siedler lebten, wie sie mitein­ ander umgingen, wie sich ihre Außenbeziehungen gestalteten, all das wissen wir nicht. Wir können ihren Lebensstil und ihre sozialen Beziehungen nur aufgrund von Beobachtungen jener rezenten Pflanzer- und Viehhaltergesellschaften rekonstruieren, die noch heute ohne hierarchische Struktur in Teilen Afrikas, Amerikas und der Süd­ see siedeln. Vieles spricht dafür, dass die archaischen Verhältnisse den ihren glichen; Genaues wissen wir nicht. Auch über die Gründe für den Übergang zur Sesshaftigkeit ist uns relativ wenig bekannt. Eine neuere Theorie155 nimmt an, dass die Wildbeuter ihr freies Leben nicht etwa deshalb aufgaben, weil sie in festen Behausungen komfortabler und insbesonde­ re ungefährdeter leben und sich trotz weniger Arbeit besser ernähren und kleiden konnten. Vielmehr sei es die Not einer ständigen Bevölkerungsvermehrung gewesen, die sie durch eine rein aneignende Ökonomie nicht mehr bewältigen konnten. Hatte bisher die Möglichkeit bestanden, dass eine zu groß gewordene Horde sich teilte und man getrennte Wege ging, gab es ab etwa 30.000 v. u. Z. diese Möglichkeit immer weniger, weil weite Teile der Erde mit Horden angefüllt waren, die sich kaum noch ausweichen konnten. Schwächere Horden mussten daher in ungünstigere Regionen abwandern, stärkere konnten die fruchtbaren Gebiete an den Flüssen und an den Küs­ ten der Meere besetzen. Und da es leichter war, ein einmal eingenommenes Territori­ um gegen Konkurrenten zu verteidigen, kam es von nun an eher zu Zusammenschlüs­ sen statt zu Teilungen von Horden. Als allerdings immer mehr Menschen sich in im­ mer größeren Siedlungsgemeinschaften zusammenschlossen und ihr Nahrungsver­ bauch entsprechend stieg, mussten sie – nach einer Übergangsphase des Sammelns und Bevorratens von Grassamen (‚Erntewirtschaft‘) – mit der Nahrungsproduktion durch Ackerbau sowie mit der Domestizierung von Nutztieren beginnen, die ihnen Hilfe bei schwerer Arbeit leisten sowie als Milch- und Fleischlieferanten verwendet werden konnten.156

Die neuen Stammesgesellschaften – tribal societies in der Terminologie von Sahlins und Service – bestanden typischerweise aus mehreren Siedlungs­ gemeinschaften auf benachbarten Territorien. Da die meisten von ihnen aus Hordenteilungen und anschließenden Verbindungen hervorgegangen waren und Grund hierfür vor allem der ständige Mitgliederzuwachs infolge hoher Jahre v. u. Z. gelegt. Die am besten erhaltene Häusergruppe, die auf ein Dorfleben hindeutet, stammt aus Ain Mallaha am Ufer des (heute ausgetrockneten) Hule-Sees in Israel und wurde um 12.000 v. u. Z. erbaut. 154  Warum die Entwicklung gerade dort begann, ist strittig. Nach h. M. haben die günstigen Zuchtbedingungen für Getreide, insbesondere Weizen und Gerste, den Aus­ schlag gegeben. Doch auch in China hat sich die Landwirtschaft wenig später durch­ gesetzt, obgleich dort die Bedingungen dafür ungünstiger waren. 155  E. Boserup (1965); R. B. Lee/I. DeVore (1968); M. Sahlins (1974); F. Hassan (1975); M. N. Cohen (1977); M. Harris (1989). 156  Vgl. dazu den Sammelband von G. Burenhult (2000) und ferner noch unten J 5 d α.

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Geburtenzahl war, spielten verwandtschaftliche Bande auch bei der Zusam­ mensetzung der Siedlungsgemeinschaften eine hervorragende Rolle: Sie be­ standen je nach sozialer Tradition aus Blutsverwandten des Vaters (‚Patriline­ arität‘) oder der Mutter (‚Matrilinearität‘) oder beider Linien (‚kognatische‘ Verwandtschaft), waren also begrenzt auf bestimmte lineages innerhalb von Sippen und Clans.157 Allerdings siedelten manchmal auf demselben Territo­ rium auch verwandtschaftlich nicht verbundene Familien. Dann bildete das Dorf eine weitere soziale Einheit innerhalb des Stammes. Der Stamm selbst, d. h. die Gesamtheit aller Clans und Dörfer, war zunächst keine weitere Ein­ heit höherer Ordnung, sondern lediglich die Und-Menge sozialer ‚Segmente‘.158 Sein Zusammenhalt wurde vor allem durch Heiraten herge­ stellt. Denn während innerhalb desselben Clans Heiraten verboten waren, waren sie innerhalb des Stammes erwünscht und wurden durch Absprachen zwischen den Oberhäuptern der Clans gefördert. Jede Frau, die durch Heirat in einen anderen Clan wechselte, war ein Verbindungsglied zu dem sonst fremden Clan und stärkte dadurch die Einheit des Clanverbandes, also des­ sen Zusammenhalt im ‚Stamm‘. Obwohl aus der Not geboren, gilt die sesshafte bäuerliche Lebensweise uns heute als kultureller Fortschritt. Sie war es jedenfalls insofern, als Ackerbau und Viehhaltung ein Mehr an organisatorischer Planung und Tech­ nik verlangten: für den Ackerbau entsprechend den Bedürfnissen und Eigen­ heiten des Bodens, für die Weidewirtschaft entsprechend den Bedürfnissen und Eigenheiten der Tiere.159 Wo immer Ackerbau und Viehhaltung möglich waren, haben die Menschen daher hierfür eine spezielle Begabung entwi­ ckeln müssen. 157  Zu lineages vgl. unten Fn. 249. Die Begriffe ‚Sippe‘ und ‚Clan‘ werden im Folgenden so gebraucht, dass sie sich durch die Zahl der Geburten in gerader Linie voneinander unterscheiden: Innerhalb eines Clans führten zehn bis zwölf Geburten auf die gemeinsamen Ahnen zurück, innerhalb der Sippe waren es nur drei bis fünf. Die Einheit der Sippe war deshalb deutlicher ausgeprägt als die des Clans: Sie stand den Mitgliedern teils aufgrund eigenen Erlebens, teils aufgrund von Erzählungen der Alten als Generationenfolge vor Augen, während die Einheit des Clans sich meistens in sagenhafte Zeiten verlor und eher eine religiöse denn eine lebendige Bedeutung besaß. 158  Bei den ‚Segmenten‘ handelt es sich also nicht um logische, sondern um phy­ sische Einheiten innerhalb eines Volkes, nicht um die Untereinheiten eines hierar­ chisch aufgebauten Gebildes, sondern um die Zweige eines großen Baumes (vgl. Ch. R. Hallpike, 1984, S. 254 ff.). 159  Die Ethnologen unterscheiden heute vier Arten von Ackerbaukultur: (1) das primitive Pflanzertum; (2) den Körnerbau mit Großviehhaltung; (3) den Körnerbau mit Düngewirtschaft, Terrassenanlangen und künstlicher Bewässerung; (4) den Pflug­ bau. Da die sozialen Verhältnisse im Wesentlichen homogen blieben, spielt ihre Un­ terscheidung vorliegend keine beachtenswerte Rolle.



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Ihr kultureller Fortschritt auf der einen Seite brachte den Menschen auf der anderen Seite allerdings soziale Probleme, die sich nicht nur verschärf­ ten, wenn der Boden schlecht war und geringen Ertrag erbrachte, sondern auch wenn er gut war und eine intensive Bebauung ermöglichte. Dann konnte er zwar auf engem Raum eine größere Zahl von Menschen als bisher ernäh­ ren, begünstigte aber auch eine hohe Vermehrungsrate. Größere Familien brauchten dann größere Behausungen, die man nur in Gemeinschaftsarbeit errichten konnte, und sie brauchten größere Viehherden, die von denen der übrigen Familien abgegrenzt und nach außen gegen Raubtiere abgesichert werden mussten. Der zu bearbeitende Boden musste überdies von Generation zu Generation neu aufgeteilt, die Bestellung und die Einbringung der Früchte neu organisiert werden. Ferner waren jederzeit, insbesondere aber während der Erntezeit, feindliche Überfälle zu gewärtigen; auch hiergegen musste man Vorsorge treffen und sich bewaffnen.160 Die genannten Erfordernisse hatten zur Folge, dass sich über der Sozial­ struktur der Familien eine weitere, kongruente Struktur ausbildete: dass nicht nur jede Familie ein Oberhaupt hatte, sondern künftig auch jede Sippe und jeder Clan. Meistens kam dann dem ältesten Mann diese Vorrangstellung zu, doch manchmal hatte auch ein jüngerer sie inne, weil das seltenere Wechsel erforderte. Für den Jüngeren lag darin die große Chance seines Lebens; denn wenn er sich als Oberhaupt bewährte, erlangte er trotz seiner Jugend nicht nur ein höheres Ansehen, sondern auch eine gewisse Machtfülle. Innerhalb eines Dorfes konnte er dann beispielsweise die Funktion eines Bürgermeis­ ters (Dorfschulzen) ausüben und im Stammesrat auch für diejenigen Clans sprechen, denen er nicht angehörte. Ein solcher Stammesrat war nötig geworden, weil zwischen den Sippen und Clans zwar grundsätzlich dieselbe Gleichheit bestand wie zwischen den Familien, es jedoch erheblich stärkere Größenunterschiede gab und naturgemäß größere Clans innerhalb des Stammes ein stärkeres Gewicht als kleinere beanspruchten. Weitere Unterschiede ergaben sich aus dem Alter der Clans: Die älteren hatten regelmäßig ein höheres Ansehen als die jüngeren, das sich dann auch ihren Oberhäuptern mitteilte. Umso wichtiger war es daher für jeden Clan, im Stammesrat einen durchsetzungsstarken, wortgewaltigen Vertreter zu haben, der bei entscheidenden Abstimmungen die ande­ ren Clanoberhäupter mitzuziehen verstand. Allerdings hatte es mit den genannten Rangunterschieden dann auch sein Bewenden. Sofern sonst einem Oberhaupt eine herausgehobene Stellung zukam, etwa wegen besonders hohen Alters oder einer be­

160  Weniger dringlich waren diese Probleme lediglich in Gesellschaften, die den Boden vorwiegend extensiv bebauten. Sie zogen nach Erschöpfung des Bodens wei­ ter, näherten sich also dem Lebensstil von Wildbeutern an. Auch bildeten sie keine Gruppen, die so groß waren, dass sie ihre sozialen Probleme nicht ähnlich den Wild­ beutern lösen konnten.

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sonderen Fähigkeit, blieb er darauf beschränkt, sie ausgleichend, etwa zur Vermittlung bei einem Streit zwischen den Gruppen, zu verwenden.161

Die Entwicklung von Recht wurde vor allem durch die zunehmende Un­ übersichtlichkeit der sozialen Beziehungen vorangetrieben: dadurch, dass die Gesamtheit des Stammes, je größer er wurde, desto mehr zum Abstraktum verblasste und die persönliche Verbundenheit aller innerhalb des Stammes ihre natürliche Basis im Gefühl der Solidarität verlor. Den Platz der Stam­ messitten mussten daher Normen einnehmen, die statt auf dem Solidaritäts­ gefühl auf der Autorität höherer Wesen beruhten: nicht mehr auf der Autorität der allen persönlich vertrauten Ahnengeister, sondern der wesentlich abstrak­ teren Götter, die ursprünglich die Personifikationen von Naturgesetzen wa­ ren, nunmehr aber zu Garanten der Stammesgesetze wurden. Träger von subjektiven Berechtigungen und Verpflichtungen, die sich im­ mer deutlicher herausbildeten, blieben allerdings primär die Verwandtschafts­ gruppen. Dass für sie das Eigentum an Bedeutung gewann, versteht sich bei Pflanzer- und Viehhaltergesellschaften von selbst; denn der bewirtschaftete Grund und Boden bzw. die eigene Herde bildeten nunmehr die Lebensgrund­ lage jeder Familie. Die Berechtigung zur Veräußerung dieses Eigentums war denn auch überall beschränkt: In patrilinearen Gesellschaften (die zumeist Viehzucht und Ackerbau mit dem Pflug betrieben) stand dem Veräußerungs­ recht des Vaters das Recht der Söhne auf die Zuteilung von Land oder Vieh entgegen, sobald sie erwachsen waren und eine Familie gründen wollten. In matrilinearen Gesellschaften (die zumeist Garten- und Hackbau betrieben) galten entsprechende Beschränkungen gegenüber den Frauen, die ihr Eigen­ tum am Land an ihre Töchter weitergeben mussten, sobald diese heirateten. In Gesellschaften mit kognatischer Verwandtschaftsstruktur, in denen die Frauen regelmäßig eine gleichberechtigte Rolle spielten, hatten neben den Söhnen auch die Töchter Ansprüche gegenüber ihren Eltern, doch wurden bei der Verteilung des Landes regelmäßig die Söhne bevorzugt, während die Töchter mit Teilen des Viehbestandes abgefunden wurden. Innerhalb der Familien war das Verfügungsrecht über das Eigentum jeweils be­ darfsgerecht aufgeteilt: Was Lebensgrundlage war, stand der ganzen Familie zu und 161  Waren Clans nicht in einen Stamm integriert, etwa weil die gestaltenden Kräfte der Umwelt keinen Anlass dafür boten, gab es zwischen ihnen keinerlei Rangunter­ schiede. Beispielsweise waren die Oberhäupter der vier Clans auf Tikopia, einer klei­ nen Insel im Pazifischen Ozean, einander völlig gleichgestellt. Die Clans selber be­ standen aus mehreren patrilinearen Sippen mit je einem Oberhaupt, die in einem Rangverhältnis zueinander standen: Diejenige Sippe, von der man annahm, dass sie die älteste sei und dass die anderen aus ihr entsprungen seien, war die edelste und stellte den Chef des Clans. Doch endete damit die Rangordnung; keiner der Clans war den anderen gegenüber dominant. Vgl. näher R. Firth (1936); P. V. Kirch/D. E. Yen (1982).



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts167

konnte, wenn überhaupt, nur mit Zustimmung aller veräußert werden. Was Gegen­ stand des persönlichen Bedarfs war, etwa Kleidung oder Schmuck, stand im indivi­ duellen Eigentum; damit konnte jeder nach Belieben verfahren.

Weil innerhalb von Pflanzer- und Viehhaltergesellschaften die Bedeutung der Arbeit ständig wuchs, gewann auch die Reziprozität ein immer stärkeres Gewicht. Sie erstreckte sich jetzt nicht nur auf den Austausch von Leistun­ gen, sondern auch auf den Austausch von Arbeitskräften, die diese Leistun­ gen erbrachten. Deshalb wurde die Heirat in patrilinearen Gesellschaften regelmäßig mit der Zahlung eines Brautpreises verbunden, wenn anschlie­ ßend die Frau ihren Clan verließ und ihrem Manne folgte, um in seinem Clan nicht nur selbst als Arbeitskraft zur Verfügung zu stehen, sondern auch durch die Geburt von Nachkommen für Kontinuität im Kräftevorrat zu sor­ gen.162 Wurde in matrilinearen Gesellschaften dagegen der Mann Mitglied des Clans der Frau, dann musste dem Clan des Mannes regelmäßig ein Ar­ beiter zugeführt werden, beispielsweise in Gestalt des ersten von ihm ge­ zeugten Sohnes oder eines in entgegengesetzter Richtung heiratenden Man­ nes. Familiär sehen wir jetzt in patrilinearen Viehhalter- sowie in Hackbaugesellschaf­ ten die Polygynie verbreitet. Grund dafür war, dass mehrere Frauen für eine größere Zahl von Kindern und diese zur Bildung von Eigentum nützlich waren. Denn jedes Kind erhöhte das Arbeitspotential, das dem Mann zur Verfügung stand – in Viehhal­ terkulturen zum Hüten der Herden, in Hackbaukulturen zur Bestellung der Felder und zur Einbringung der Ernte. Gebremst wurde der Erwerb von Frauen allerdings durch die Verpflichtung, für jede einen Brautpreis zu zahlen. Die jungen Männer besaßen dafür im Allgemeinen zu wenig Kapital, und ihre Verwandtschaft war zwar bereit, sie bei der Beschaffung der ersten Frau zu unterstützen, nicht aber beim Erwerb weiterer Frauen. In patrilinearen Kulturen mit Pflugackerbau herrschte dagegen die Monogamie vor, weil sie zur Konzentration des Landbesitzes auf eine geringere Zahl von Kindern führte.163

Ein Strafrecht in unserem heutigen Sinne gab es in den Stammesgesell­ schaften noch immer nicht. Dennoch bildeten sich jetzt klarere Typen delik­ tischer Handlungen heraus, deren schädliche Folgen ausgeglichen werden mussten. Intern geschah das durch die Verwandtschaftsverbände im Wege der Verhandlung über einen Schadensausgleich. Wo ein solcher nicht mög­ lich war oder sich als nicht sinnvoll herausstellte, schloss man den Delin­ quenten aus dem Verband aus, wodurch er den Rachegeistern schutzlos aus­ gesetzt war. Extern übte man ursprünglich Rache für die Verletzung oder Tötung eines Mitglieds. Doch wurde diese Art der Sanktionierung allmählich als ungeeignet erkannt, um den Gemeinschaftsfrieden wiederherzustellen. 162  Oft war deshalb der Brautpreis auf die Geburtenzahl (männlicher) Nachkom­ men begrenzt. 163  Nachweise bei Th. Schweizer (1989), S. 471.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Denn überstieg sie, wie so häufig im Zorn, das ausgleichende Maß, dann hatte sie Kettenreaktionen zur Folge. Hielt sie aber das gerechte Maß ein, konnte sie trotzdem dem Wohl des Stammes widersprechen. Denn durch ei­ nen Mord verlor nicht nur die Sippe des Getöteten eine Arbeitskraft, sondern aufgrund von Talion auch die Sippe des Täters; der Stamm verlor also insge­ samt zwei Arbeitskräfte, und das konnte er sich nicht oft leisten. Bei Verlet­ zungen sah es kaum besser aus, weshalb es insgesamt als nützlicher erschien, solche Taten im Wege des Schadensersatzes zu regeln. Nicht nur, aber vor allem auch zwecks Zurückdrängung der Talion durch Schadensersatz schufen viele Stammesgesellschaften die prozessuale Mög­ lichkeit, Konflikte durch Verhandlungen zu lösen. Da es keine territorial ab­ gegrenzten Gerichtsbarkeiten gab, alle Rechte und Pflichten vielmehr durch genealogische Bande erworben wurden, mussten Angehörige der jeweils be­ teiligten lineages die Vermittlung übernehmen. Und damit die Gespräche weniger emotional aufgeladen verliefen, wurden regelmäßig Mediatoren eingeschaltet: Entweder bestellte jede Seite einen Angehörigen als Vermittler oder man einigte sich auf eine angesehene Persönlichkeit, die zwischen den Clans stand, jedoch zu jeder Seite eine gewisse verwandtschaftliche Nähe aufwies und dadurch Zugang zu allen am Streit Beteiligten hatte. Die Mediation fand vielerorts öffentlich statt.164 Der Mediator erinnerte dann in einem Eröffnungsritual nicht nur die Parteien, sondern auch das Auditorium an das allgemeine Interesse an harmonischen Beziehungen innerhalb des Stammes. Danach konnten die Parteien ihre Sicht der Dinge darlegen und sowohl sich gegenseitig be­ fragen als auch aus dem Auditorium heraus befragt werden. Waren alle zu Wort ge­ kommen, schlug der Mediator eine Lösung des Streits vor, von der er vermutete, dass sie vom überwiegenden Teil der Anwesenden gebilligt wird und ihr auch die Parteien zustimmen konnten. Bestätigte sich seine Vermutung, dann entschuldigte sich die unterlegene Partei,165 es wurden Nahrung und Getränke verteilt und eine allgemeine Aussöhnung gefeiert.

Kam der Vermittler nicht voran, weil die Gräben zwischen den Parteien zu tief waren und die Zeit die Wunden noch nicht geheilt hatte, dann konnten auch institutionelle Vermittler eingeschaltet werden, die meistens über ge­ wisse Machtmittel verfügten, um ihren Bemühungen Nachdruck zu verleihen. Bei den Nuern in Nordafrika war das der ‚Erdpriester‘, bei den Ifugao auf den Philippinen der ‚Go-between‘.166 Nirgends dagegen gab es eine Polizei 164  Zum ‚moot‘, einer Form der Mediation bei den Kpelle in Liberia, vgl. J. L. Gibbs (1963); A. Holtwick-Mainzer (1985), S.  115 ff. 165  A. Holtwick-Mainzer (1985), S. 116: „Die umfassende Klärung des Konfliktge­ genstandes führt in der Regel dazu, dass nicht einer Partei allein die Schuld aufgebür­ det werden muss. Handlungen innerhalb enger sozialer Beziehungen stellen sich zu­ meist als Reaktion auf vorausgegangene Taten und Ereignisse dar.“ 166  R. F. Barton (1919) und (1967).



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts169

oder eine Strafjustiz, welche die Aufklärung von Delikten und die Kon­ fliktregelung hätten übernehmen können. Immer wichtiger wurde dagegen bei schweren Taten die Veranstaltung von Ordalen (Gottesurteilen), wozu jeweils Priester zugezogen werden mussten. Sie beruhten auf dem Glauben, dass der zuständige Gott als Hüter der Gerechtigkeit einen Streit entscheiden werde, wenn man ihn anrief. Zu erkennen gebe der Gott seine Entschei­ dung, indem er denjenigen bei einer Probe schützt, der das Recht auf seiner Seite hat: etwa beim Flussordal167 ihn nicht ertrinken, beim Feuerordal168 ihn nicht verbrennen, beim Giftordal169 ihn nicht sterben lässt. Für denjenigen, der im Unrecht war, bedeu­ tete das Unterliegen bei der Probe dann gleichzeitig die Vollstreckung des göttlichen Urteils.

Zusatz: Die Nuer als Beispiel einer segmentären Stammesgesellschaft Die Nuer verdanken ihre ethnologische Berühmtheit als ‚segmentäre Stammesgesellschaft‘ den ausgiebigen Untersuchungen von Sir Edward Evan Evans-Pritchard (1902–1973).170 Als dieser ihre Lebensweise in den dreißi­ ger Jahren des vorigen Jahrhunderts erstmals genauer erforschte, waren sie noch ein seminomadisches Hirtenvolk, das in der Savanne und im Sumpfge­ biet zu beiden Seiten des Weißen Nils seinen festen Wohnsitz hatte und dort hauptsächlich Fruchtanbau sowie in geringerem Maße auch Fischerei und Jagd betrieb. Die Männer blieben nur in der Regenzeit am Ort; in der Tro­ ckenzeit zogen sie mit ihren Herden umher. Sie nannten sich Naadh, was soviel wie „Leute“ bedeutet und ihr Selbstverständnis zum Ausdruck brachte, 167  Der Beschuldigte wurde gefesselt in einen Fluss geworfen. Blieb er oben, dann war er schuldig, weshalb das reine Wasser ihn nicht aufnehmen wollte (bzw. weil der Flussgott ihn als schuldig erkannte). Vgl. auch noch unten F 3 θ. 168  Der Beweispflichtige musste ein glühendes Eisen in die Hand nehmen oder ins Feuer greifen. 169  Kam der Beschuldigte durch das Gift zu Schaden, dann war der Beweis für seine Schuld erbracht. 170  Evans-Pritchard war der erste Ethnologe, der bei den Nuern systematische Feldarbeit leistete. Später weilte sein Schüler P. Ph. Howell als englischer Kolonial­ offizier dort. Weitere Berichte lieferten christliche Missionare wie etwa R. Huffman (1931) sowie Forschungsreisende. Aus diesen Quellen schöpften dann A. Butt (1952) und G. P. Murdock (1956). In den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts schließlich sichtete Sh. E. Hutchinson das bis dahin von ihnen und weiteren Autoren (Sahlins, Gough, Newcomer, Gluckman, Riches, Southall, Sacks, Kelly u. a.) ergänzte oder neu interpretierte Material und erweiterte es durch eine Darstellung des Wandels, der dem Leben der Nuer nach der Entlassung des Sudans aus der britischen Kolonialverwal­ tung (1955) von der arabisch-muslimisch dominierten (und seit den 80er Jahren von den USA massiv unterstützten) Zentralverwaltung aufgezwungen wurde (intensive Feldarbeit vom Dezember 1980 bis Februar 1983, 1990 und im Juni 1992). Dabei beschränkte Hutchinson sich hauptsächlich auf das Leben derjenigen Nuerstämme, die ihrer bäuerlichen Heimat treu geblieben waren.

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dass sie den anderen Völkern überlegen seien. Ihre Herkunft leiteten sie vom Himmel ab, von wo, wie sie meinten, ihre Vorfahren zur Erde herabgestiegen waren (sei es über ein langes Seil oder einen riesigen Feigenbaum). Handel trieben sie so gut wie nicht; was an Händlern bei ihnen vorbeizog, kam meist von außerhalb. Ihren eigenen (bescheidenen) Warenaustausch begriffen sie i. d. R. als wechselseitiges Schenken (gift giving oder sacrifice).171 Politische Ordnung: Trotz ihrer hohen Zahl von 430.000 Mitgliedern leb­ ten sie ohne eine wie immer geartete politische Einheit zusammen. Von fremden Einflüssen waren sie aufgrund ihrer geographischen Lage weitge­ hend abgeschottet. Sie bildeten für Evans-Pritchard das Musterbeispiel einer segmentären Gesellschaft.172 Ihre größten sozialen Einheiten waren die Stämme. Es gab deren fünfzehn; die Zahl der Mitglieder reichte jeweils von einigen Hundert bis zu 40.000. Ihnen gegenüber standen als kleinste (nicht-verwandtschaftliche) soziale Ein­ heiten die Dörfer. Dazwischen gab es weitere Einheiten, die jeweils unter­ schiedliche Namen trugen und deren Zusammensetzung sich oft, aber nicht immer, mit der Aufteilung in Clans deckte. Sowohl innerhalb der Stämme als auch innerhalb der sozialen Segmente herrschte eine „geordnete Anarchie“, wie Evans-Pritchard es nannte.173 D. h. es gab weder Häuptlinge noch Ältes­ tenräte, vielmehr stiftete allein der allgemeine Sinn für soziale Solidarität den Zusammenhalt, und dieser Sinn war umso stärker lebendig, je kleiner das Segment war. Denn in den kleineren Segmenten überwog noch die in ganz Afrika am festesten etablierte Ordnung: die verwandtschaftliche. Es galt das beduinische Sprichwort: „Ich gegen meinen Bruder, ich und mein Bruder gegen meinen Vetter; ich, mein Bruder und mein Vetter gegen die Welt!“174 Verwandtschaftliche Ordnung: Verwandtschaftliche Einheiten waren die Sippen und Clans.175 Zu ihnen gehörte, wer seine Geburt patrilinear auf ei­ nen gemeinsamen Ahn zurückführen konnte. Alle Personen sowohl innerhalb 171  E. E. Evans-Pritchard (1940a), p.  87 f.; (1956), p. 223 f. Vgl. aber Sh. E. Hutchinson (1996), p. 25 n. 2. 172  Vgl. dazu oben F 1 δ sowie Fn. 158. 173  E. E. Evans-Pritchard (1940a), p. 296: „Nevertheless, it [the state] is far from chaotic. It has a persistent and coherent form which might be called ‚ordered anar­ chy‘.“ 174  C. Ph. Kottak (2002), p. 252: „The basic principle of solidarity is that: the closer the relationship in terms of patrilineal descent, the greater the mutual support.“ 175  Es handelt sich allerdings bei den Bezeichnungen ‚Clan‘ und ‚Sippe‘ um be­ griffliche Klassifizierungen, die keine Parallele im Denken und erst recht kein Wort in der Sprache der Eingeborenen hatten. „Man erhält den Namen der Sippe eines Mannes, indem man ihn fragt, wer sein ‚Ahn von vormals‘ oder sein ‚erster Ahn‘ (gwandong) oder was seine ‚Samen‘ (kwai) gewesen seien“ (E. E. Evans-Pritchard, 1940a, p. 195).



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts171

einer Sippe als auch innerhalb eines Clans waren deshalb in männlicher Linie blutsverwandt:176 Man durfte einander nicht heiraten, es galt das Inzestver­ bot. Welche Bedeutung das Zusammenwohnen in einem Dorf besaß, zeigt sich u. a. da­ rin, dass es einerseits dazu führen konnte, eine dort einheimische Sippe um Personen zu erweitern, die mangels Verwandtschaft nicht dazugehörten, und anderseits, dass Personen, die auf längere Zeit aus dem Dorf wegzogen, ihre Zugehörigkeit zur Sippe allmählich verloren. Sippen waren also künftig weder notwendig verwandtschaftlich noch notwendig lokal klassifizierte Einheiten; sie rekrutierten sich vielmehr aus einer Reihe konkreter Beziehungen, die durch Abstammung oder Wohnsitz begründet wur­ den. Manche Sippen verteilten sich sogar auf den gesamten Stammesbezirk, sodass die Bevölkerung dort bunt zusammengewürfelt war. Aber jede bewahrte sich doch so viel an Eigenart, dass ihre Identität niemals vollständig verloren ging und sie von einem fremden Clan aufgesogen werden konnte.

Innerhalb eines jeden Stammes gab es so etwas wie eine Aristokratie. Sie bestand aus den Mitgliedern des dominanten Clans,177 besaß allerdings eher Prestige und Einfluss als Rang und Macht. Ihre Mitglieder wurden beim Streit zwischen zwei Sippen gern um Vermittlung angerufen. Manchmal be­ stimmten sie auch das Geschick des gesamten Stammes. Denn wenn es um Krieg oder Frieden ging, gab meistens ihr Votum den Ausschlag, und wenn es zum Kampfe kam, waren sie die Anführer: der Speername ihres Clans wurde ausgerufen. Ferner herrschte innerhalb eines jeden Clans und jeder Untergruppe das Prinzip der Seniorität: Der Ältere war dem Jüngeren gegen­ über weisungsberechtigt. Die alten Männer saßen folglich den Verhandlungen vor, die jüngeren wurden angehört, die Frauen durch die Männer aus ihrer Sippe vertreten. Familiäre Ordnung: Da patrilinear organisiert, siedelten die Nuer grund­ sätzlich patrilokal zusammen in leicht vergrößerten Familien. Lediglich arme Männer siedelten manchmal matrilokal, weil sich dann der Brautpreis ermä­ ßigte. Die Hütten der Familien178 waren gewöhnlich um den Viehstall angeordnet, der den Mann repräsentierte. Auch die Söhne schliefen da, sobald sie mannbar geworden 176  Sippen unterschieden sich von Clans durch die Zahl der Geburten in gerader Linie. Vgl. oben Fn. 157. 177  E. E. Evans-Pritchard (1940a), p. 211 ff. 178  Die Hütten waren die kleinsten Einheiten einer Siedlung. Darin lebte eine Frau mit ihren Kindern, bisweilen auch mit ihrem Ehemann. Mehrere Hütten, bewohnt von einer einfachen oder polygamen Familie und evt. weiteren nahen Verwandten, bilde­ ten zusammen mit einer Stallung den Kral. Ein Familienverband, bestehend aus na­ hen agnatischen Verwandten (oft Brüdern und ihren Familien), bildete einen Weiler. Das Dorf wurde nicht notwendig nur von miteinander verwandten Familien bewohnt, sondern war eine (kleinste) politische Einheit. Seine Bewohner wurden durch ein starkes Solidaritätsgefühl zusammengehalten; im Kampfe standen sie Seite an Seite

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waren. Nach ihrer Heirat blieben sie im Familienverband und versuchten, selbst noch nach dem Tod ihres Vaters zusammenzubleiben, damit sie die ererbte Rinderherde nicht aufteilen mussten. Freilich misslang das oft, weil das Streben nach Autonomie und eigenem Hausstand in ihnen übermächtig wurde. Die Frauen blieben bis zu ihrer ersten Niederkunft in einer Hütte im Gehöft ihres Vaters, wo ihr Mann sie nur gele­ gentlich des Nachts besuchte. Erst anschließend wechselten sie in den Familienver­ band des Mannes.

Da die Mitglieder einer Wohneinheit gewöhnlich untereinander irgendwie verwandt und infolgedessen durch das Inzesttabu getrennt waren, wurden Ehen fast immer zwischen Mitgliedern verschiedener Wohneinheiten ge­ schlossen. Der Ehe gingen bestimmte Zeremonien voraus: zunächst, wenngleich nicht not­ wendig, die Verlobungszeremonie, sodann einige Wochen später (während derer um den Brautpreis gefeilscht wurde) die Heiratszeremonie. Vertraglich besiegelt wurde die eheliche Verbindung mit der sogen. mut, einer Zeremonie, an deren Ende der Frau der Kopf durch ein Mitglied der Mannesfamilie geschoren wurde (mut nyier). Als vollendet galt der Zusammenschluss indes erst mit der Geburt eines Kindes.

Der Mann hatte in der Ehe das Sagen. Dennoch teilten seine Frauen grundsätzlich seinen Status; insbesondere war jede die Herrin einer eigenen Hütte. Wie viele Frauen ein Mann hatte, richtete sich nach seinem Vermögen;179 denn er musste jede Frau von ihren Eltern gegen Zahlung eines Brautpreises in Form von Rindern erwerben. Und da die meisten Männer arm waren, war der Ehestand gewöhnlich monogam. Kinder begannen mit etwa 7 Jahren im Kral oder im Haushalt zu helfen. Gemeinsame Spiele dauerten bis etwa 14 Jahre – mit Vorliebe spielten sie „Mann und Frau“ mit wechselseitigem Austausch von Geschenken. Zwischen 14 und 16 Jahren wurden dann die Knaben initiiert und erlangten Mannes­ status mit allen Rechten und Pflichten, was Arbeit, Spiele und Kriegsdienst anbelangt. Auch versuchten sie nun, das Herz eines Mädchens aus der Nach­ barschaft für sich zu gewinnen, um später mit ihr eine eigene Familie zu gründen. Das Leben der Mädchen verlief ohne tieferen sozialen Einschnitt. Sie besaßen aber sexuelle Freiheit und somit die Möglichkeit, ihre späteren Lebenspartner genau kennenzulernen. Erst nach der Heirat verloren sie die Freiheit, während die Männer sie behielten und bei Seitensprüngen sogar von ihren Frauen manchmal unterstützt wurden.

und unterstützen einander bei Fehden. In der Trockenzeit bildeten mehrere Dörfer ein Lager. 179  Eine weitere Frau durfte sich ein Mann allerdings erst dann nehmen, wenn seine Brüder verheiratet waren. Ausgeschlossen war u. a. die Heirat einer Schwester seiner Frau oder der Tochter eines gleichaltrigen Mannes (E. E. Evans-Pritchard, 1951, p. 33).



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Zur Familie gehörten außer den Frauen und den gemeinsamen Kindern auch die unverheirateten Geschwister und die Eltern des Mannes. Dagegen hatten die Nuer keine Sklaven. Auch Kriegsgefangene hatten nur anfangs einen geringfügig gemin­ derten Status. Sie lebten mit den Familien zusammen und waren innerhalb weniger Generationen ununterscheidbare Mitglieder des Clans.

Innerhalb der Familien herrschte Arbeitsteilung: Die Herde, das wichtigste wirtschaftliche Gut, wurde vom Manne betreut, doch die Frauen und die nicht initiierten Knaben molken sie und stellten überdies Butter und Käse für den Haushalt her. Die Landarbeit war so aufgeteilt, dass die Männer das Land rodeten, während die Frauen bei der Kultivierung halfen. Arbeitsteilung unter den Männern gab es so gut wie nicht, insbesondere nicht als Handwerker für bestimmte Produkte. Manche Männer waren zwar handwerklich be­ sonders geschickt und besaßen dafür eine gewisse Reputation; doch nutzten sie diese Fähigkeit nur zugunsten ihrer Familien, ohne daraus einen Erwerbszweig zu machen. Darin lag ein wesentlicher Unterschied zur Spezialisierung in der geistigen Sphäre: Für Riten, Magie, Wahrsagung und Heilkunde gab es anerkannte Experten, die ihr Können auch anderen gegen Lohn (meist in Form von Rindern) zukommen ließen. Ihr Expertenwissen gaben sie allerdings ausschließlich innerhalb ihrer Familie weiter.

Geschieden wurden Ehen entweder durch den Tod oder durch die Tren­ nung der Partner. Starb, wie regelmäßig, der Mann zuerst, konnte seine Witwe entweder von einem ihrer Schwäger als Frau übernommen werden (was allerdings voraussetzte, dass der Verstorbene hierfür durch Zahlung von Vieh sowie Vornahme der Heiratsriten Vorsorge getroffen hatte); oder sie heiratete in aller Form einen ihrer Schwäger, der dabei die Stelle des Verstor­ benen vertrat. Im ersten Fall entstand eine Levirats-, im zweiten Fall eine Geisterehe (ghost-marriage)180. Trennte sich dagegen das Paar oder verstieß der Mann seine Frau, etwa weil sie Ehebruch begangen hatte, dann blieben zwar die Kinder beim Manne. Doch wenn die Frau mindestens zwei Kinder geboren und damit ihr Fortpflanzungssoll erfüllt hatte, blieben die für sie hingegebenen Rinder bei ihrer Verwandtschaft.181 Der Mann konnte sich da­ her meist keine neue Frau leisten, weil er dafür den Brautpreis nicht auf­ brachte, während er von nun an die Vaterschaft auch an all den Kindern er­ warb, die seine Frau ‚im Busch‘ empfing.182 180  Geisterheiraten dienten dazu, dem ohne männliche Nachkommen verstorbenen Mann noch einen Erben zu verschaffen. Sie waren normale Heiraten mit der einzigen Ausnahme, dass die Kinder als Nachkommen dessen galten, in dessen Namen die Ehe geschlossen wurde. Leviratsverbindungen zwischen einer Witwe und einem (meist jüngeren) Bruder des verstorbenen Ehemannes wurden dagegen nicht als Ehen begrif­ fen, weil der Bruder lediglich als Samenspender die Stelle des Verstorbenen vertrat. 181  Es war daher kein Wunder, dass der Druck ihrer Verwandtschaft groß war, sie möge doch noch bis nach dem zweiten Kind bei ihrem Manne ausharren! 182  E. E. Evans-Pritchard (1951), p. 92 f.; K. Gough (1971), p. 108.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Soziale Ordnung: Alle zuvor erwähnten Normen waren Teil einer Sittenordnung, auf die man stolz war und die man hochhielt, so dass, wer sie brach, der Verachtung anheimfiel. Aber wie die Sitte, so war auch die Ver­ achtung örtlich begrenzt. Man spürte sie nur im engeren Kreis der Sippe, des Dorfes, allenfalls noch des Distrikts.183 Deshalb war beispielsweise ein Ge­ schädigter zwar theoretisch berechtigt, für einen ihm zugefügten Schaden von jedem Stammesangehörigen Ersatz zu verlangen, praktisch aber hatte er höchstens Aussicht, Ersatz von einem Mitglied seines Distrikts zu erlangen und mit einiger Sicherheit nur von einem Angehörigen seines Clans. Je wei­ ter der Radius, worin die Streitparteien sich begegneten, desto geringer war das Gefühl verbreitet, dass man an sich berechtigte Ansprüche auch anerken­ nen und erfüllen müsse. „The basis of law is force“, schreibt Evans-Pritchard. „We must not be misled by an enumeration of traditional payments for damage into supposing that it is easy to exact them unless a man is prepared to use force. The club and the spear are the sanctions of rights.“184

Eine eigentliche Rechtsordnung kannten die Nuer dagegen nicht – trotz einzelnen dem Frührecht zuzurechnenden Normen, die vor allem Eigentum und Erbschaft betrafen. Sie hatten auch keinen Terminus für Recht.185 Gründe dafür waren sicherlich, dass sie weder innerhalb der Stämme noch mit ihren Nachbarstämmen Handel pflegten und dass weder Geld noch Märkte, weder Handelswege noch Transportmittel existierten.186 Eigentum: Die dem Vermögensrecht zuzurechnenden Normen der Nuer betrafen hauptsächlich das Vieh, das bei ihnen nicht nur Grundlage des Reichtums, sondern auch Erweiterung des Lebensraumes war und überdies Konfliktlöser par excellence.187 Jede Familie hatte ihre eigene Herde, jede 183  Als Distrikt bezeichnet E. E. Evans-Pritchard (1940b, p. 275) „an aggregate of villages lying within a radius which allows easy intercommunications“. 184  E. E. Evans-Pritchard (1940a), p.  169. Die Kritik von U. Wesel (1985, S. 269 ff.) beruht auf einem zu weiten Rechtsbegriff und überzeugt selbst auf dessen Grundlage nicht. 185  Was sie stattdessen gebrauchten, war cuong, was in etwa ‚aufrecht‘ oder ‚rich­ tig‘ bedeutet im Gegensatz zu duer mit der Bedeutung von ‚falsch‘ oder ‚fehlerhaft‘. 186  E. E. Evans-Pritchard (1940a), p. 112: „In a strict sense Nuer have no law. There are conventional compensations for damage, adultery, loss of limb, and so forth, but there is no authority with power to adjudicate to such matters or to enforce a verdict. In Nuerland legislative, judicial, and executive functions are not invested in any persons or councils. Between members of different tribes there is no question of redress; and even within a tribe … wrongs are not brought forward in what we call a legal form, though compensation for damage is sometimes paid. A man who consi­ ders that he has suffered loss at the hands of another cannot sue the man who has caused it, because there is no court in which to cite him, even where he is willing to attend it.“ 187  Sh. E. Hutchinson (1996), p. 60 ff., 158 ff.



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts175

benutzte eigenes Weideland und eigene Brunnen. Weideland gab es reichlich, seine Nutzung allerdings war rechtlich i. d. R. nicht als Eigentum, sondern in unseren Begriffen als Untereigentum oder als (zinsloses) Pachtrecht ausge­ staltet, während das übergeordnete Eigentum dem Stamme bzw. dem örtlich dominanten Clan zustand. Echtes Familieneigentum war daher nur das Vieh. Verfügungsberechtigt darüber war der Mann, der sich jedoch zu allen Verfü­ gungen der Zustimmung der übrigen Mitglieder seiner Familie einschließlich der im Verband mit wohnenden Brüder und erwachsenen Söhne vergewissern musste. Bei seinem Tode entfiel daher anstelle des für eine Erbfolge typi­ schen Eigentumsübergangs lediglich die Verfügungsbeschränkung: Seine Söhne konnten nunmehr frei entscheiden, ob sie die Herde zusammenließen oder unter sich aufteilten. Individuelles Eigentum, das vererbt werden konnte, gab es dagegen kaum außer am Schmuck der Frau und an den Waffen des Mannes. Immerhin wurden diese Dinge – anders als bei vielen anderen Völ­ kern – dem Verstorbenen nicht mit ins Grab gelegt, sondern blieben in der Familie, so dass die Töchter oder Söhne sie an sich nehmen konnten. Konfliktregelung: Prärechtliche Normen betrafen die Regelung des Streits. Die Nuer waren ein ausgesprochen streitsüchtiges Volk. Ihre Nachbarn, ins­ besondere die Dinka, aber auch andere Stämme konnten ein Lied davon singen. Die Nuer überzogen sie regelmäßig mit Krieg, um ihnen ihre Rinder­ herden und ihre jungen Frauen zu rauben. Aber auch intern mangelte es nicht an Streit: zwischen den Stämmen, zwischen den Clans, zwischen den Sippen und zwischen den davon abgespaltenen Segmenten. Selbst die Kinder ermu­ tigte man, Meinungsverschiedenheiten kämpferisch auszutragen. Restriktio­ nen gab es zwar, aber sie waren moderat: Innerhalb des Dorfes durften die Männer ihren Streit nicht mit Speeren austragen, um keine Blutfehde herauf­ zubeschwören; Dritte durften sich nicht einmischen, außer um die Kämpfen­ den zu trennen. Zwischen den Dörfern galt diese Beschränkung jedoch nicht; da fanden die Kämpfe mit Keulen und Speeren unter Beteiligung aller kampffähigen Männer statt. Sie endeten selten ohne Tote, und von den Über­ lebenden gab es kaum einen, der nicht Blessuren vorweisen konnte. Gleichwohl hatten die Nuer auch Normen entwickelt, um den permanenten Kampf aller gegen alle zu verhindern. Diese Normen unterschieden sich zwar von Stamm zu Stamm, doch war das weitgehend folgenlos, weil Kämpfe zwischen Stämmen traditionell selten stattfanden. Die Masse der Streitigkeiten begab sich zwischen benachbarten Dörfern. Und in die durfte nur eine Person autoritär vermittelnd eingreifen: der Leopardenfell-Priester188. Hier wie auch in anderen Fällen, insbesondere bei der Sühne von Delikten, war er der rettende Engel. 188  Er hieß so, weil er mit dem Fell eines Leoparden bekleidet war und der Leo­ pard innerhalb von Afrika ein angesehenes und daher ein auch als Totem beliebtes

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Ein Mord beispielsweise verpflichtete die Verwandten des Opfers zur Blutrache. Doch die daraus folgenden dauernden Blutfehden waren gefürchtet. Deshalb gab der Normenkodex der Nuer dem Leopardenfell-Priester das Recht, dem Mörder Asyl in seinem Hause zu gewähren189 und ihn vom Blut des Getöteten rituell zu reinigen. War dann über die Angelegenheit Gras gewachsen, konnte er versuchen, die Ver­ wandten des Getöteten statt zur Blutrache zur Annahme einer Sühneleistung zu bewe­ gen – gewöhnlich waren es Rinder, so viel wie der Brautpreis.190 Gelang ihm dies, oft unter dem Eindruck einer Verfluchung für den Fall der Weigerung, dann verstand sich einer der Verwandten, unter dem Namen des Getöteten dessen Witwe zu heiraten (Geisterheirat) und mit ihr ein Kind zu zeugen: möglichst einen Sohn, der dann als Kind des Getöteten galt. Damit war der Frieden wiederhergestellt. Gelang ihm die „autoritäre Schlichtung“191 nicht, war er allerdings mit seiner Macht am Ende. Dann konnten die Angehörigen des Ermordeten die Rächung des Mordes weitertreiben. Doch waren sie dabei in der Regel auf die Mithilfe ihrer Gemeinschaft angewiesen, und die wurde ihnen nur gewährt, wenn sie sich nach allgemeiner Auffassung im Recht befanden, während sie sonst befürchten mussten, dass der Mörder seinerseits von seinen Angehörigen Unterstützung erhielt. Ein riskantes Unternehmen also! In Zweifelsfällen gingen sie deshalb lieber auf die Vermittlungsbemühungen des Leopar­ denfell-Priesters ein. Besonders schwierig gestaltete sich die Lage, wenn die Person des Mörders nicht feststand, sondern erst zu ermitteln war. War die Familie oder wenigstens die Sippe bekannt, aus der der Mörder stammte, dann konnten die Verwandten des Getöteten diese zur Rechenschaft ziehen, um sich mit ihr auf eine Sühneleistung zu einigen. Regelmäßig aber wollten sie den wahren Täter entdecken. Und dazu verhalf ihnen dann am besten ein Ordalverfahren, etwa das Speerordal: Der Beschuldigte musste einen Speer über das Grab des Opfers halten und seine Unschuld beschwören. Sagte Tier ist. D. Westermann (1921), S. 220, berichtet beispielsweise über die zentral-libe­ rianischen Kpelle: „Der Leopard verleiht seinem Herrn Stärke und Gewandtheit im Springen; er ist aber auch in besonderem Sinne sein Schutztier, denn nachts bewacht der Leopard die Felder seines Herrn, er spaziert auf ihnen herum und hält alle Antilopen und andere den Äckern verderbliche Pflanzenfresser fern. Deshalb ist der Leopard das angesehenste Totemtier, sein Herr erfreut sich im ganzen Dorfe besonderer Ach­ tung und Scheu; kaum einer würde es jemals wagen, mit ihm anzubinden, da er dank der Stärke seines Tieres allen Gegnern überlegen ist.“ Zu den Aufgaben des Leopardenfell-Priesters vgl. E. E. Evans-Pritchard (1956), p.  289 ff.; (1940a), p.  152 ff.; P. Ph. Howell (1954), p. 27 ff., 39 ff.; T. O. Beidelman (1971), p.  381 ff. 189  Das Recht zur Asylgewährung entstand als Ausweg aus der Beunruhigung, die eine schwelende Blutrache in ein Volk hineintrug. Wir finden es daher nicht nur bei den Nuern, sondern auch anderen indigenen Völkern, z. B. bei den Papuas in Neugui­ nea und bei den Aschanti in Ghana. Weitere Nachweise bei A. H. Post (1895/1970), S.  252 ff. 190  E. E. Evans-Pritchard (1947), p.187 f.; T. O. Beidelman (1971), p. 384. 191  So der von A. Holtwick-Mainzer (1985, S. 57) vorgeschlagene Begriff für ein Verfahren, das sowohl durch einen Rechtsspruch abgeschlossen als auch von den Parteien als die richtige Lösung anerkannt wird.



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er die Wahrheit, geschah ihm nichts; log er, verfiel er alsbald in Siechtum oder starb. Doch was auch immer mit ihm in der Folgezeit geschah – der soziale Frieden war wiederhergestellt, ohne dass erneut Blut vergossen wurde.

Außer dem Mord kannten die Nuer weitere Delikte: Körperverletzungen kamen häufig vor – kein Wunder bei einem so streitsüchtigen Volk. Hatte das Opfer die Verletzung nicht provoziert, gab es Schadensersatz nach festen Sätzen, z. B. 10 Rinder für ein gebrochenes Bein. Ehebruch galt als Verlet­ zung des Ehemanns und wurde am Ehebrecher geahndet. Er durfte getötet werden, wenn man ihn in flagranti ertappte (sonst war die Beweislage zu unsicher); kam die Tat später heraus, musste er als Sühne lediglich 5 Rinder und einen Ochsen zahlen. Die Ehefrau kam regelmäßig mit einer Tracht Prü­ gel davon. Scheidungen waren dagegen extrem selten, zumindest wenn die Frau ihre Fortpflanzungspflicht erfüllt hatte. Inzest (rual192) hatte nach An­ sicht der Nuer nur eine poena naturalis zur Folge, die von Gott gesandt werden musste: Krankheit in leichten, Tod in schweren Fällen, sofort eintre­ tend z. B. beim Geschlechtsakt zwischen Mutter und Sohn. Entsühnung war nur durch ein rituelles Opfer möglich.193 An Eigentumsdelikten stand der Diebstahl an erster Stelle. Gleichwohl war er zahlenmäßig unbedeutend, da er meist entweder im Glauben an seine Rechtmäßigkeit begangen wurde (etwa zwecks Befriedigung eines vermeintlichen Anspruchs auf ein wegge­ nommenes Rind) oder aber wenig wertvolle Gegenstände betraf, die einfach ersetzt werden konnten. Bei wertvolleren Dingen konnte der LeopardenfellPriester um Vermittlung der Rückgabe angegangen werden.194 Zauberei soll in früherer Zeit ebenfalls ein Delikt gewesen sein. Insgesamt bleibt festzustellen: Die Nuer kannten zwar Normen, die ihnen so wichtig waren, dass niemand Anstoß nahm, wenn ihre Befolgung mit Gewalt erzwungen wurde. Aber mangels einer mit Exekutivmacht ausgestatteten Au­ torität195 gab es bei ihnen weder einen Gesetzgeber noch Gerichte noch sons­ tige Organe, die den Normen Rechtscharakter verliehen hätten. Somit hatten die Normen lediglich die Funktion von Richtlinien, allenfalls die eines dispo­ sitiven Frührechts, an dem sich im Streitfall die Vermittlung orientierte.196 192  Das Wort bedeutet sowohl den Inzest als auch das Unglück, das daraus er­ wächst. 193  E. E. Evans-Pritchard (1951), p. 29 ff. 194  Schilderung einer solchen Vermittlungsbemühung bei E. E. Evans-Pritchard (1940a, p. 163 f.), allerdings mit dem Zusatz, dass derlei Bemühungen sehr selten stattfänden. 195  Dieses Fehlen erkennt auch U. Wesel (1985, S. 269) an: „Von den beiden Ele­ menten des Rechts – auctoritas und veritas  – ist das der Autorität bei ihnen am we­ nigsten ausgeprägt. … Dass Autoritäten schwach sind bei ihnen, zeigt sich an der großen Bedeutung von Selbsthilfe im Wege individueller Gewalt.“ 196  S. Roberts (1981), S. 143.

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Führte die Vermittlung nicht zum Erfolg, war der Einzelne auf Selbsthilfe bzw. auf die Nothilfe seiner Sippe angewiesen. Deshalb war die Macht des Einzelnen und seiner Verbündeten letzthin der einzige Garant für die Durch­ setzung von Normen. Das heißt jedoch nicht, dass die Durchsetzung der Nor­ men und der aus ihnen folgenden individuellen ‚Rechte‘ das oberste Ziel war. Oberstes Ziel blieb das harmonische Zusammenleben innerhalb der Dorfge­ meinschaft – auch wenn dieses Ziel infolge der notorischen Streitsucht der Nuer selten erreicht wurde.197 c) Die Rechtsentwicklung innerhalb von Häuptlingsschaften198 (α) Genese von Häuptlingsschaften: Bereits in Ackerbau- und Viehhalter­ gesellschaften musste man lernen, über den Tag hinaus zu denken: etwa dass es einerseits Jahreszeiten gibt, in denen die Natur mehr spendet, als man verbrauchen kann, andererseits Jahreszeiten, in denen Nahrungsknappheit herrscht, weshalb man das Nahrungsangebot mithilfe von Vorräten ausglei­ chen muss. Zunächst bevorratete deshalb jede Familie so viel, wie sie selber zum Ausgleich brauchte. Auf Dauer erwies sich das aber als unpraktisch, weil keine Familie ihren Bedarf exakt vorausberechnen konnte. Besser kam man zurande, wenn man auf kommunaler Ebene Vorratswirtschaft betrieb. Daher sparte man künftig in guten Zeiten gemeinsam so viel an, wie man voraussichtlich brauchte, um Notzeiten zu überstehen. Dann war man sicher, dass die gemeinsame Zukunft nicht mehr in den Händen der Götter lag – auch wenn man sie nach wie vor um günstige Ernten anflehte –, sondern in der eigenen klugen Voraussicht. Sowohl für Garten- als auch für Ackerbaugesellschaften erwies diese kollektive Vorratshaltung sich als die Wirtschaftsform der Zukunft. Die Men­ schen brauchten künftig weniger als bisher um ihren Lebensunterhalt zu bangen und gewannen Zeit und Muße, um über sich selbst, über das Wir der Gemeinschaft, über ihre Stellung innerhalb der Gemeinschaft und über die Möglichkeiten zur Verbesserungen sowohl ihres individuellen Lebens als auch ihres sozialen Zusammenlebens nachzudenken. Und da sie inzwischen auch fähig waren, Normen zu internalisieren, lag es nahe, dass sie aus den wahrgenommenen Unterschieden Einzelner innerhalb der Gemeinschaft eine Arbeitsteilung erdachten,199 die den Gebrauch der individuell unterschied­ 197  U. Wesel

(1985), S. 332. von ‚Häuptlingsschaften‘ kann man auch von ‚Häuptlingstümern‘ sprechen. Der erste Begriff bringt mehr ihren kollektiven, der zweite mehr ihren ­hierarchischen Charakter (‚tum‘ = Besitz) als Überleitung zu den größeren und hie­ rarchisch stärker untergliederten ‚Königreichen‘ zum Ausdruck (vgl. Königreich ⇒ Herzogtum ⇒ Grafschaft). 199  Zur Bedeutung von Institutionalisierungen vgl. oben Fn. 58. 198  Anstelle



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lichen Fähigkeiten und Kenntnisse dem kollektiven Nutzen dienstbar machte: die z. B. handwerklich besonders geschickte Mitglieder von der Lebensmit­ telproduktion freistellte, damit diese sich ausschließlich der Entwicklung und Produktion von Geräten zuwenden konnten (aber auch sollten). Und weil sie dadurch den übrigen Mitgliedern die Nahrungsproduktion erleichterten, konnten sie umgekehrt mit den Produkten belohnt werden. Die Erkenntnis vom Wert einer solchen Arbeitsteilung verbreitete sich schnell; denn sie ge­ stattete, trotz geringerer Arbeitsleistung des Einzelnen einen höheren kollek­ tiven Ertrag als bisher zu erwirtschaften. Ihre Umsetzung verschärfte aller­ dings zwei Probleme, die sich bereits aus der Vorratswirtschaft ergeben hat­ ten: Erstens musste der gemeinsam erarbeitete Überschuss eingesammelt und aufbewahrt werden, damit man ihn später (etwa nach einer großen Trocken­ heit oder nach einer Heuschreckenplage) verteilen konnte. Und zweitens musste ein verbliebener Überschuss, den die Gemeinschaft nicht brauchte, anderweitig möglichst nützlich verwertet werden. Zur Lösung des ersten Problems bot sich der Bau von Speichern an, die in kommunaler Arbeit er­ richtet werden konnten. Zur Lösung des zweiten Problems bot sich an, mit dem Produktionsüberschuss gewinnbringenden Handel zu betreiben und auf diese Weise Waren zu erhalten, die man selber nicht produzieren konnte, aber als begehrenswert ansah. Beide Problemlösungen, so verlockend sie waren, brachten jedoch Organisationsaufgaben mit sich: Man musste regeln, wie man die Arbeit innerhalb der Gemeinschaft am besten verteilt, wie man ihre Durchführung beaufsichtigt, wie man ihren kumulierten Ertrag schließ­ lich verwaltet und wie man ggf. entscheidet, was nicht benötigter Überschuss ist und wie man damit zum Besten der Gemeinschaft verfährt. Zur Bewälti­ gung dieser Aufgaben kamen nur die big men eines Stammes in Betracht, zum einen weil diese schon bisher einem mit hohem Überschuss arbeitenden Haushalt vorstanden und somit Erfahrungen gesammelt hatten, zum anderen weil sie Vertrauen und ein hohes Prestige besaßen, zumal sie einen Teil ihres Überschusses im Rahmen von Festveranstaltungen der Gemeinschaft spende­ ten.200 Teils um ihres Prestiges willen, teils aus Dankbarkeit übertrug man ihnen daher die (als ehrenvoll geltenden) Befugnisse zum Einsammeln und zur Verwendung der Ernteüberschüsse, die ihnen den Zugriff auf die Arbeits­ kraft anderer und auf deren Produkte verschaffte. In der Folge verstärkte sich die Zusammenfassung dieser Befugnisse in einer Hand autokatalytisch zu einem Umverteilungssystem, an dessen Ende es nur noch ein kleiner Schritt war, bis man aus der Zahl der big men dieje­ nige herausragende Persönlichkeit erwählte, in deren Hände man insgesamt die Macht zur Aufgabenverteilung, zur Leitung von Gemeinschaftsaufgaben und zur Verwendung des gemeinsam Erwirtschafteten legte und die man 200  Zu

ihnen siehe noch unten H 2 c dd η ββ.

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folglich zum Häuptling des Stammes erhob.201 Die Stätte, wo die Nahrungs­ überschüsse aufbewahrt, verwaltet, verteilt oder in den Handel investiert und wo sodann aus den Einnahmen die Durchführung von Gemeinschaftsaufga­ ben oder militärischer Unternehmungen geplant, organisiert und kontrolliert wurden, lag in seinem Machtbereich.202 Und zusammen mit weiteren Grün­ den203 führte dies dazu, dass diese Stätte von nun an das Zentrum einer Häuptlingsschaft wurde. (β) Institutionalisierung von Herrschaftsfunktionen: Die hier stichwortartig dargestellte Entstehung von Häuptlingsschaften verlief fließend und ungleich im Tempo. Ihr allgemeines Kennzeichen aber war, dass sie bisher schon vor­ handene, wenngleich nur rudimentär ausgebildete Herrschaftsfunktionen bündelte und auf eine hierarchisch höhere Ebene verlagerte, wo sie zentral von einer Person ausgeübt werden konnten. Die bisherigen Funktionsträger, die Clanchefs und Dorfschulzen, blieben zwar erhalten und behielten auch einen Teil ihrer Funktionen; ja sie erhielten sie sogar wieder zurück, wenn die übergeordnete Ebene bei der Wahrnehmung des abgezogenen Teils der Funktionen versagte. Als Tendenz aber blieb die Verlagerung der zentralen Funktionen nach oben bestehen und wirkte sich auf die Gesamtstruktur des Gemeinschaftsverbandes aus, indem jede organisatorische Lockerung und Unterbrechung darin alsbald ausgeglichen wurde. Starb beispielsweise der Häuptling, so erlosch damit nicht gleichzeitig seine Funktion. Sie wurde vielmehr als fortbestehend (‚institutionalisiert‘204) gedacht, sodass sie auf einen neuen Träger, in der Regel den ältesten Sohn des Verstorbenen, über­ gehen konnte.205 Agierte auch dieser erfolgreich, war dann auch schon der nächste Schritt getan: Die lineage der Häuptlinge wurde zur Dynastie.206 Und deren Institutionalisierung war alsdann eine so wichtige anagenetische 201  F. Barth (1961), p. 74 f.: „His power of decision and autocratic command over his subjects … is a strictly chiefly prerogative. … The chief may give any person an order which the latter must obey without regard to any pre-established organizational pattern.“ 202  E. R. Service (1977), S. 109 ff. 203  Wesentlich war ferner das Aufkommen von sozialer Ungleichheit durch unter­ schiedlichen Reichtum an Land und Vieh, aber auch die unterschiedliche Zahl an Familienangehörigen, die gleichzeitig Arbeitskräfte waren. Obwohl somit vielfältig begründet, wurde Ungleichheit anfangs jedoch meistens auf übersinnliche Kräfte zu­ rückgeführt, die in unterschiedlicher Weise auf die Mitglieder der Gesellschaft verteilt seien. Siehe dazu St. Breuer (1982), S. 171 ff. 204  Zu diesem Begriff vgl. oben Fn. 58. 205  Vgl. zusätzlich über „pantribal sodalities and age grades“ C. Ph. Kottak (2002), p.  253 ff. 206  Vgl. dazu M. D. Sahlins (1963), p. 295: „Power resided in office; it was not made by the demonstration of personal superiority.“; P. Weise/W. Brandes/Th. Eger/ M. Kraft (2005), S.  618 ff.



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Errungenschaft, dass sie einen epochalen Einschnitt in der sozialen Entwick­ lung bedeutete. Was aber bedeutete es, ‚Häuptling‘ eines frühantiken Stammes zu sein? Mangels schriftlicher Zeugnisse können wir die wichtigsten Rechte und Pflichten, die mit der Häuptlingswürde verbunden waren, nur ungefähr benennen:207 • Ein Häuptling hatte Anspruch auf sämtliche Informationen, die für die Ausübung seiner Herrschaft relevant sein konnten, beispielsweise über den drohenden Einfall einer Nachbarhorde, über den Machtmissbrauch eines Untergebenen, über Ernte­ schäden infolge eines Gewittersturms. • Ihm stand zur Aufrechterhaltung der allgemeinen Ordnung und zur Eindämmung jeder Konkurrenz ein Machtmonopol zu. Rebellionen durfte er mit aller Härte be­ kämpfen, Angriffe auf seine Person sogar mit dem Tode bestrafen. • Er durfte im größten Zelt leben und hatte Anspruch auf einen Häuptlingsschmuck, durch den er allen schon allein äußerlich kenntlich wurde. Ihm gebührten alle Eh­ renbezeugungen, die seinem herausgehobenen Status entsprachen. Missachtung seines Status war ein Verbrechen, das von ihm nach Gutdünken bestraft werden konnte. • Er hatte das Recht, von seinen Untertanen die Bearbeitung seiner Felder und ihre Hilfe bei der Einbringung seiner Ernte zu verlangen. War der Stamm groß genug, mussten ihm seine Untertanen darüber hinaus regelmäßig ein Teil der Feldfrüchte, der Jagdbeute und der Zuchttiere zwecks Unterhaltung eines Hofstaats abliefern. Auch standen ausschließlich ihm und seiner Familie sämtliche Luxusartikel zu, die reisende Händler aus dem ‚Ausland‘ einführten. • Verpflichtet war er insbesondere zur Erfüllung von Organisationsaufgaben im Hin­ blick auf die Infrastruktur des Landes (Instandhaltung der Verkehrswege) und auf den Bau und Erhalt von Gemeinschaftseinrichtungen. Ferner hatte er durch gute Beziehungen zu den Erdgöttern und Ahnengeistern für die Fruchtbarkeit des Lan­ des zu sorgen. Bei der Erfüllung dieser Aufgaben hatte er ein Weisungsrecht ge­ genüber den Sippen und Clans seines Stammes. • Er musste darüber hinaus Feste veranstalten, an denen seine sämtlichen Untertanen teilnehmen durften und durch die er sich als der ‚große Versorger‘ seines Stammes legitimierte. Kam ein Unglück über den Stamm, etwa eine Seuche oder eine Miss­ ernte, die zu Not und Elend führten, hatte er nach den Gründen zu forschen und ihnen abzuhelfen. Gelang ihm das nicht, drohten ihm Absetzung oder gar der Tod. • Recht und Pflicht waren es für ihn ferner, als Zauberpriester und Richter tätig zu werden. • Bei kriegerischen Stämmen hatte entweder er selber oder an seiner Stelle ein ei­ gens bestellter Kriegshäuptling die Pflicht, Raubzüge gegen die Nachbarn durchzu­ führen. Als Anführer eines erfolgreichen Raubzuges stand ihm der größte Teil der Beute zu. Von den gefangenen Gegnern musste er einen Teil innerhalb einer großen Zeremonie den Überirdischen zum Dank opfern; den Rest konnte er versklaven und entweder behalten oder an seine Untertanen verteilen. 207  Vgl.

zum Folgenden H. Wimmer (1997), S. 226 ff.

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(γ) Institutionaliserung von Normen: Innerhalb einer hierarchisch aufge­ bauten Gesellschaft mit institutionalisierten Leitungsfunktionen erhielt auch ein Teil der Sittennormen eine institutionelle Bedeutung: Die Normen wur­ den im Sinne des Frührechts verrechtlicht. Sie galten zwar nicht abstrakt, d. h. unabhängig von den Personen, die sie erlassen hatten, und von denen, an deren Adresse sie gerichtet waren, wohl aber unabhängig von den konkre­ ten Umständen, unter denen sie anzuwenden waren. Sie konnten daher im Streitfall von ebenfalls institutionalisierten (d. h. nicht mehr ad hoc zusam­ mengesetzten) Gerichten zur Entscheidungsgrundlage gemacht und damit bestätigt werden. Sie hätten sogar in Gesetzen festgeschrieben werden kön­ nen, wenn es dazu einen Anlass, einen Gesetzgeber und vor allem eine Schrift gegeben hätte. Daran aber fehlte es noch, sodass die Zahl der Normen gering blieb und sich auf besonders wichtige Dinge und Sachverhalte be­ schränkte. Was war seinerzeit so besonders wichtig, dass es normativ geordnet wer­ den musste? Es waren von Volk zu Volk zwar teilweise unterschiedliche, teilweise aber auch wiederkehrende Angelegenheiten: Die politischen Struk­ turen standen obenan; sodann die überkommenen Strukturen der Familien sowie die Institutionen, die ihren Bestand über die Generationen hinweg si­ cherten, etwa die Anerkennung der Leviratsehe und die Möglichkeit einer Adoption; in die Zukunft weisend vielerorts die handelsüblichen Sitten und Gebräuche, die Rechte und Pflichten von Teilnehmern insbesondere am Markthandel (Haftung für Warenmängel, Sicherung eines kreditierten Kauf­ preises); allgemein ferner strafrechtliche Normen, die einerseits ausdrücklich auch fahrlässige Taten (etwa bei Brandstiftung oder Tötung) erfassten, ande­ rerseits die Sühneleistungen dafür an den Geschädigten (oder seine Sippe) begrenzten. Das meiste freilich dürfte, zumindest en détail, nach wie vor dem großen Zwischenreich zwischen Sitte und Recht und damit im Streitfall richterlichem Ermessen überlassen geblieben sein. Für genauere Aussagen fehlt es derzeit noch an Vorarbeiten. Zusatz: Die Dschagga als Beispiel einer Häuptlingsschaft Die Heimat der Dschagga (oder Chaga) war der Kilimandscharo, der „Berg des bösen Geistes“ im Nordosten des heutigen Tansania. In den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts – zur Zeit des Pfarrers Bruno Gutmann, auf dessen Bericht ich mich im Folgenden stütze – lebten dort etwa 800.000 Menschen, die sich hauptsächlich von der Viehzucht und der Kultivierung von Bananenhainen ernährten. Sie verteilten sich auf 30 Häuptlingsschaften und etwa 400 Clans, die über den ganzen Berg und sein Umland verteilt waren. Geeint wurden sie nicht durch einen gemeinsamen Herrscher, sondern lediglich durch einen gemeinsamen männlichen Urahn und ein gemeinsames



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Totem. Innerhalb eines jeden Clans teilten sich die „Häuser“ gemäß ihrer Abstammung von der Mutter auf – nicht etwa zwecks Begründung einer matriarchalischen Verfassung, sondern zwecks Wahrung der blutmäßigen Einheit der vom männlichen Urahn begründeten Sippe, die dann auch im Namen zum Ausdruck kam. Das Bildende und Heiligste innerhalb eines Clans war nämlich das Blut.208 Verfassung: Die Anführer der Häuptlingsschaften nannten sich mangi (= Ordner, Planer). Sie befehligten die militärischen Unternehmungen und waren Richter bei allen inneren Zwistigkeiten. Ihrem Schutz dienten ständige Wachen, ihrem Dienst Späher, welche sie von allen Vorkommnissen auf ih­ rem Gebiet unterrichteten (kite kja mangi = Hund des Häuptlings). Unterei­ nander hielten sie durch Boten Kontakt, deren Kennzeichen und Geleitschutz ein langer Stab sowie ein Messingreif am Handgelenk waren. Dienstleistun­ gen konnten sie von allen arbeitsfähigen Personen ihres Stammes verlan­ gen – lediglich die unverheirateten Frauen waren ausgenommen. Anlässlich ihrer Einsetzung stand ihnen eine allgemeine Steuer in Form von Vieh zu, welche die Anführer der Clans aufzubringen hatten. Nach ihrer Einsetzung hatten sie das Recht, das dritte Kind einer jeden Familie zum Dienst an ih­ rem Hof zu verpflichten, entweder junge Männer zur Sicherung des inneren Areals durch Gräben und Schutzmauern sowie zur Arbeit auf den Feldern oder junge Frauen zum Durchhacken der Bananenhaine. Anführer eines Clans war ‚der Große im Rechtsstreit‘ (msongor oder mrango o kišariń = „der Kluge im Clan“), dem diese Aufgabe nicht wegen seiner Abstammung oder seines Alters, sondern wegen seiner persönlichen Tüchtigkeit zukam. Er war also u. U. ein verhältnismäßig junger Mann aus gutem und wohlhabendem Hause, dem man zutraute, die Interessen des Clans vor dem Häuptling angemessen zu vertreten und insbesondere ver­ nünftig abzuwägen, ob ein Rechtsstreit vor den Häuptling gebracht werden soll, etwa wenn sein Clan wegen einer Steuerschuld oder wegen des Verge­ hens eines Angehörigen haftbar gemacht wurde. Außerdem oblag es ihm, für die Aufbringung der Schuldsumme zu sorgen, sobald die Haftung seines Clans rechtskräftig festgestellt war. Er konnte die Schuld dann auf einzelne Häuser oder auf die diversen Schuldigen aufteilen, haftete aber u. U. mit seinem Sondervermögen, wenn er nicht genügend zusammenbekam. Erst im Rückgriff konnte er dann die eigentlich Schuldigen belangen, z. B. indem er sie sich dienstpflichtig machte. Ein gar zu ungebärdiges Mitglied seines Clans, das für ständige Regressforderun­ gen verantwortlich war, konnte er notfalls – im Verfahren vor dem Häuptling und im Beisein aller Mitglieder – aus dem Clan ausstoßen; doch geschah das äußerst selten. 208  B. Gutmann (1926), S. 9: „Im Bluttausche vollzog sich die Verschmelzung zweier Sippen, wie auch ihre Neufestigung. Hier liegt der Ursprung des Blutbundes.“

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Der Ausgestoßene wurde dann einem anderen Clan übergeben. Besserte er sich auch dort nicht und kam er deshalb an den Häuptling zurück, dann fällte dieser den Spruch: natambio, er soll einem Anschlag erliegen.

Eherecht: Verboten war die Ehe mit einem Mädchen aus dem väterlichen Clan. Dagegen galt es nicht nur als erlaubt, sondern sogar als erwünscht, wenn ein Bursche sich ein Mädchen aus dem Clan seiner Mutter suchte. Nachgeborene Geschwister (aber auch deren Kinder) durften nicht heiraten, solange die vor ihnen geborenen noch ledig waren. Diese Regel wurde aller­ dings oft umgangen, indem man etwa die ältere Schwester in eine Scheinehe mit einem alten Manne presste, um ihren jüngeren Schwestern den Weg zur Hochzeit frei zu machen. Eingeleitet wurden die Ehen durch ein Verlöbnis, das auf Wunsch des Brautpaares die Eltern der Braut arrangierten und dessen wesentlicher Bestandteil die Leistung von Bier- und Fleischgaben für die Lösung der Braut aus ihrem Clan war.209 Der Übergang der Braut in den Clan des Bräutigams war dann der zweite Schritt.210 Er begann mit einer Eheprüfung (oder mit dem Scheinraub des Mädchens durch Ange­ hörige aus dem Clan des jungen Mannes), und er endete mit einer Feier, dem wali wo kilā, worin die Brautleute u. a. über alle künftigen Taburücksichten belehrt wurden, deren Bruch die Heimsendung der Frau oder ihre freiwillige Rückkehr rechtfertigen konnte.211

Eine Scheidung der Ehe war zum einen dadurch möglich, dass die Ehe­ leute sich trennten. In diesem Fall trat meistens der Ehevermittler (mngari) in Aktion, indem er die Frau nicht nur bei sich aufnahm, sondern sich auch ihre Beschwerden anhörte und ggf. den Mann zu einer Entschuldigung oder Sühneleistung anhielt, sodass es anschließend regelmäßig zur Versöhnung kam. Eine Scheidung war zum anderen dadurch möglich, dass der Ehever­ mittler die Frau auf ihr Verlangen hin feierlich ihrem Clan zurückgab. Sie durfte dann eine weitere Ehe eingehen, die allerdings keinen Bestand hatte, 209  Weitere Leistungen des Mannes an den Clan der Frau, die sich noch weit in die Ehezeit hinein erstreckten, wurden von einem Vermittler (mngari) ausgehandelt. 210  Man ersieht hieraus, dass das Verlöbnis kein Teil der Eheschließung war und die Ausübung der ehelichen Rechte lediglich auf den späteren Zeitpunkt der Trauung verschoben wurden, sondern dass es den Verlobten lediglich einen (wechselseitigen?) Anspruch auf die Eheschließung verlieh. Erst das römische Recht hat diese Rechts­ folge beseitigt und den Verlobten lediglich Rückabwicklungsansprüche bei einem Rücktritt sine juxta causa gewährt. Ihm folgte das deutsche BGB in den §§ 1297 ff. 211  Ins Elternhaus zurückkehren durfte die Frau beispielsweise, wenn der Mann sie aufgrund ihrer Regelblutung herabsetzte. Der Häuptling zwang in einem solchen Falle den Schuldigen, mit einem Bußtiere den Schwiegervater aufzusuchen und ihn zu bitten, dass er seine Tochter nicht anderweitig verheirate. Eine andere Frau hätte er schwerlich heimführen können; denn er hatte mit seinem Tun nicht nur seine Frau, sondern das ganze Land beleidigt (B. Gutmann, 1926, S. 186). Diese Sitte ist deshalb so bemerkenswert, weil sie im Gegensatz zu der anderer Völker stand, welche die Menstruation der Frau als Anzeichen ihrer Minderwertigkeit ansahen.



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts185

falls sie sich entschloss, ihre erste Ehe wiederaufzunehmen.212 Endgültig war die Scheidung nur, wenn einer der Eheleute sich als Bettnässer entpuppte, die Frau ihren Ehemann biss oder vor Zeugen unter Selbstverfluchung jede Rückkehr aus dem Haus ausschloss. Dagegen führte ein Ehebruch diese strenge Folge nicht herbei – schon gar nicht, wenn der Mann die Ehe brach, da er sich ohnehin mehrere Frauen leisten durfte. Aber auch wenn die Frau sich einen Geliebten zulegte, zerbrach die Ehe nicht daran. Sie wurde dann dem Ehebrecher mit der Aufforderung ins Haus geschickt, er möge sie auf Dauer behalten; und allein diese Zumutung veranlasste ihn regelmäßig, den Ehemann reumütig um die Rücknahme zu bitten und ihm als Draufgabe ein Schaf zu geben. Wie allenthalben bei indigenen Völkern war die Leviratsehe auch bei den Dschag­ ga eine segensreiche Einrichtung. Sie sicherte der Witwe die Versorgung und bewahr­ te sie dadurch – anders als in Völkern, die diese Einrichtung nicht kannten – vor der Prostitution. Mit der Heirat ging die Vormundschaft über die noch minderjährigen Kinder der Frau auf den Leviratsherrn über. Spätere Kinder galten indes als seine eigenen, nicht als solche des verstorbenen Bruders.

Kindschaftsrecht: Ein neugeborenes Kind stand in der alleinigen Gewalt des Vaters. Diese Gewalt reichte zwar weit, war aber nicht unbeschränkt. Genau vorgeschrieben war, wann er das Kind töten musste: wenn es vorehe­ lich, eine Miss- oder Fußgeburt oder Teil einer Zwillingsgeburt war. Erlaubt war die Tötung, wenn bei der Geburt Anzeichen vorhanden waren, dass das Kind das Leben seines Vaters bedrohen werde.213 Nicht erlaubt war die Tö­ tung, wenn das Kind außerehelich war; es gehörte dann seinem natürlichen Vater, der aber dem Ehemann eine Entschädigung zu zahlen hatte. Adoptiert werden konnte ein Kind formfrei: Man konnte es auf einem Kriegszug ergreifen oder, wenn es Schutzkind des Häuptlings war, sich von diesem erbitten und es dann seinem Hausstand einfügen. Von der Adoption war die Vergeiselung zu unterscheiden, obwohl sie oft dieselbe Wirkung zeitigte. Wurde beispielsweise der Brautpreis nicht völlig geleistet, nahm der Bruder der Frau ein Kind weg, bis der Rückstand beglichen war. Dauerte das sehr lange oder geschah es niemals, verblieb das vergeiselte Kind ganz bei der Mutter­ sippe.

Erbrecht: Vererbt wurde im Mannesstamm, und zwar so, dass nach dem Erstgeborenen der Letztgeborene das Erbe antrat, während die mittleren Söhne abgefunden wurden. Gründe für die Berufung gerade des Jüngsten ins 212  Ein Beispiel für diese sonst vielleicht unverständliche Handlungsweise ist, dass die erste Ehe kinderlos geblieben war und die Frau feststellen wollte, ob sie oder ihr Mann Schuld daran habe. Gebar sie in der zweiten Ehe, konnte sie in der Hoffnung, dass sie nunmehr erschlossen sei, zu ihrem ersten Manne zurückkehren. Das Kind wurde vorher der Sitte gemäß getötet. 213  Vgl. etwa Sophokles, König Ödipus, v. 711 ff., 793.

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Erbe waren, dass der Vater in ihm die Sippe der Mutter ehrte und dass ihn die Pflicht traf, künftig anstelle des Vaters für die Mutter zu sorgen. Der Jüngste erhielt daher den väterlichen Hof (samt Inventar), der Älteste dage­ gen das gesamte Land – wobei es üblich war, dass er die mittleren Brüder darauf siedeln ließ. Verpflichtet war der Älteste ferner, seine noch nicht ver­ heirateten Schwestern an den Mann zu bringen. Gelang es ihm, durfte er dafür die vom Bräutigam zu zahlende Brautlösung (ngosa) in Empfang neh­ men. Starb ein Erblasser ohne einen männlichen Erben, trat nicht etwa seine Witwe die Erbschaft an, sondern sein ältester Bruder, der aber eine Levirats­ ehe mit der Witwe eingehen musste, wenn sie ihn darum bat. Freilich konnte sie sich auch einen anderen ihrer Schwäger zum Leviratsherrn erwählen; der Erbberechtigte hatte das zwar zu respektieren, verlor aber nicht sein Erbe.214 Eine Änderung der Intestaterbfolge war nicht möglich; der Erblasser konnte weder einem gesetzlichen Erben ein Vorrecht verschaffen noch gar einen Sippenfremden zum Erben einsetzen. Allerdings ließ sich das Fehlen eines testamentarischen Erb­ rechts dadurch umgehen, dass der Erblasser vor seinem Tode z. B. einem seiner mitt­ leren Söhne oder seinem Adoptivsohn einen Teil seines Vermögens (insbesondere ei­ nige seiner Rinder) schenkte oder ihm ein Anrecht für den Fall seines Todes einräum­ te.

Eigentum: Grund und Boden waren Gemeineigentum. Dieses war dreifach unterteilt: Ein Teil gehörte dem Clan, einen anderen hatte sich der Häuptling mittels Speer untertan gemacht, und ein dritter Teil war von Einwanderern urbar gemacht worden. Familieneigentum waren nur das Vieh und der Bana­ nenhain. Da zur Bewirtschaftung der Bananenhaine viel Wasser nötig war, hatten die Dschagga ein weites Netz von Kanälen geschaffen: große Kanäle in gemeinsamer Arbeit unter der Leitung des Häuptlings, kleinere Kanäle in Sippenarbeit. Spätere Siedler bildeten mit den vormals einzigen Nutzern eine Genossenschaft, deren Geset­ ze unterschiedlich je nach der Art der Wassergewinnung waren: ob es sich um Flussoder Quellkanäle handelte und um immer fließende oder aufgestaute. Über die Ein­ haltung der Gesetze wachten Verwalter, die insbesondere auch für die regelmäßige Reinigung der Kanäle und für die individuelle Wasserzuteilung zuständig waren.

Handel: Jeder Clan hatte einen Markt, wo die Frauen zusammentrafen, um überschüssige Feldfrüchte abzusetzen oder sie gegen andere Waren einzutau­ schen. Überwacht wurden die Märkte von den Häuptlingsfrauen und dem Bezirksvorsteher. Diese hatten das Recht, alle Marktvergehen auf der Stelle zu ahnden, etwa schlechte oder verfälschte Ware (z. B. unausgewachsene Bananenfrüchte, mit Wasser verdünnte Milch) zu vernichten und in Notzei­ 214  Hatte der Verstorbene keinen Bruder, konnte der Häuptling der Witwe nebst ihren unmündigen Kindern einen Vormund bestellen.



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ten gegen Wucherer einzuschreiten. Auf dem Markt abgeschlossene Verträge wurden erst wirksam, wenn die beiderseitigen Leistungen vollständig er­ bracht waren; zuvor konnte jeder Teil die eigene Leistung zurückverlangen. Diese Regel galt für Verträge über größere Tiere (Rinder, Ziegen) selbst dann, wenn sie, wie meistens, außerhalb des Marktes abgeschlossen wurden. Zur Sicherung der Gegenleistung konnte sich derjenige verbürgen, der das Geschäft vermittelt hatte und Zeuge seines Abschlusses wurde. Seine Bürg­ schaft bot dem Gläubiger freilich nur einen zweifelhaften Schutz, da er sich jederzeit von ihr lossagen konnte.215 Ein häufiger Vertrag war die sogen. Viehleihe (wara). Sie ermöglichte dem Verleiher, der seine Ställe bereits belegt hatte, Tiere bei ärmeren Familien unterzustellen und deren Dienste für die Pflege der Tiere, u. U. aber auch für die Bestellung seiner Äcker, in Anspruch zu nehmen. Diesen Diensten stand der Genuss der Milch gegenüber, die dem Entleiher verblieb, während die Kälber dem Eigentümer abzuliefern waren. Kam der Entleiher nach Ablauf der Leihzeit mit der Rückgabe in Verzug, konnte er seinem Gläubiger zunächst eine Wartegabe zukommen lassen, beispielsweise eine Kufe Bier. Kam er weiterhin in Verzug und leistete er auch den Bierzins nicht mehr, dann verblieb dem Gläubiger nur noch, entweder seine Frau beim Schuldner einzu­ quartieren oder sich selber vor dessen Tür zum Schlafen zu legen und ihm zu drohen: „Wenn mich der Leopard frisst, musst du für mich Blutbuße zahlen.“ Damit beschwor er über den Hof die Gefahr völligen Zusammenbruchs herauf, sodass der Schuldner nunmehr alle Hebel in Bewegung setzte, um den Gläubiger von seinem Hof zu ent­ fernen. Der Gläubiger seinerseits erreichte auf diese Weise, was ihm sonst streng verboten war: sich durch Selbsthilfe aus dem Schuldnervermögen zu befriedigen. Er hatte lediglich das Recht, außerhalb des Hofs weidendes Vieh und auf dem Feld ab­ gelegte Arbeitsgeräte zu pfänden,216 die der Schuldner dann auslösen musste.

Strafrecht: Außer den vorsätzlichen konnten auch fahrlässige Delikte Straf­ folgen nach sich ziehen. Eine strenge Trennung hätte der Gesamtbetrachtung widersprochen, welche die Dschagga jedem Fall angedeihen ließen und die den Motiven, aus denen es zur Tat kam, oft stärkeres Gewicht verlieh als dem finalen Akt. Das galt zum einen für die Brandstiftung, bei der selten feststell­ bar war, ob sie Folge von bösem Willen oder von Unachtsamkeit war. Das galt zum anderen aber auch für die Tötung, deren Beweis noch zusätzlich dadurch erschwert wurde, dass man sie nach allgemeiner Ansicht nicht nur auf physi­ schem, sondern auch auf metaphysischem Wege begehen konnte. Wollte beispielsweise ein Mann seine Frau loswerden, dann konnte er sie entweder erstechen oder aber einen Bananenschaft so herrichten, dass er als Abbild seiner Frau 215  Nur wenn der Schuldner kinderlos starb oder heimlich abwanderte, musste der Bürge an seine Stelle treten. Wurde er in Anspruch genommen, durfte er versuchen, sich an der Hinterlassenschaft des Schuldners schadlos zu halten. 216  Dabei war es gleichgültig, ob die Sachen dem Schuldner oder Dritten gehörten.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

dienen konnte, und diesen dann unter Äußerung von Flüchen durchbohren. Natürlich war die Frau im zweiten Falle nicht sogleich tot. Starb sie aber bald danach, galt er als der Urheber ihres Todes. Seine Strafe bestand dann in 7 Rindern und 7 Ziegen an den Vater der Frau, 4 Rindern und 4 Ziegen an den Mutterbruder und 2 Rindern an den Häuptling, weil er ihm eine Dienstkraft entzogen hatte. Überlebte sie (wahr­ scheinlich deshalb, weil ihre Ahnengeister sie schützten), waren aufgrund der ver­ suchten Tötung der Schwiegervater durch Lieferung eines Rindes und einer Ziege und die Frau selbst durch Hingabe einer Ziege zu versöhnen.

Weitere Delikte, für die der Täter mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen musste, waren insbesondere Körperverletzung, Diebstahl, Hehlerei und Ehr­ kränkung. Die Körperverletzung wurde je nach Schwere geahndet, beim Verlust eines Auges, Armes oder Beines durch die Verpflichtung zu dauernden Fleisch- und Milchlieferun­ gen für die Verpflegung des Verletzten. Die Strafen für Diebstahl und Hehlerei richteten sich teils nach dem Wert der ent­ wendeten Gegenstände, teils nach ihrem Verbleib. Wurde beispielsweise ein Rind gestohlen, an einen Hehler weitergereicht und von diesem irgendwo in der Landschaft versteckt, ließ der Häuptling gegen beide, Dieb und Hehler, einen sogen. ‚Fluchtopf‘ schlagen. Oft meldete sich daraufhin der Hehler und gab den Namen des Diebes so­ wie den Aufenthaltsort des Tiers bekannt, wodurch er Straffreiheit erlangte. Der Häuptling ließ dann den Dieb rufen und verurteilte ihn, sobald er mit einem Schaf und der Bitte um Gnade kam, das Rind dem Eigentümer zurückzugeben und ihm selbst ein Rind und ein Schaf für die Entzauberung des ‚Fluchtopfs‘ zuzuführen. Hatte der Dieb das gestohlene Rind allerdings bereits geschlachtet, dann musste er für jedes Bein, jedes Ohr, jedes Horn sowie für Zunge, Kopf und Hals je ein Bußrind, insgesamt elf an der Zahl, beibringen. Noch schlimmer erging es dem rückfälligen Dieb: Der Häuptling konnte seinen gesamten Viehbestand für verfallen erklären und ihn seinen Mannen übereignen. Ackerdiebstähle, die in Notzeiten häufiger vorkamen, wurden dagegen grundsätzlich nur mit geringen Bußzahlungen geahndet. Aber einem notorischen Faulpelz, den der Häuptling schon einmal verwarnt hatte, wurde die Hand abgehackt, sodass er elend zugrunde gehen musste, weil auch sein Clan meis­ tens nicht mehr für ihn sorgen wollte. Innerhalb der Ehrkränkungen unterschied man zwischen übler Nachrede, Verspot­ tung und Verfluchung. Für jede dieser Taten kannten die Dschagga mehrere Begriffe, die bezeugen, wie wichtig für sie solche Taten waren. Gesühnt wurden sie u. a. durch öffentlichen Widerruf sowie durch Überreichung einer Reinigungsziege an das Opfer. Bei der Strafzumessung wurde beachtet, ob die Tat aus Erregung, in Trunkenheit oder aus Berechnung geschehen war. Grundsätzlich schwerer wogen die Taten, wenn sie sich gegen den Häuptling richteten.

Rechtsverwirklichung: Man unterschied grundsätzlich zwischen Verfahren in Zivil- und in Strafsachen, ohne dass sich daraus aber erhebliche Folgen für den Ablauf des Verfahrens ergaben. Vertragliche Ansprüche wurden – im Unterschied zu Strafsachen – zu­ nächst in einem Güteverfahren vor dem Bezirksvorsteher (mtšili) auf dem



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Bezirksrasen verhandelt. Kam es zu keiner gütlichen Einigung, musste der Kläger sich an den Häuptlingshof wenden, wo dann ein formelles Streitver­ fahren stattfand, das im Gegensatz zum Güteverfahren kostenpflichtig war. Jede der Parteien erhielt dort zunächst einen Hofwächter zum Anwalt. Beide An­ wälte versuchten dann unter dem Vorsitz eines Sprechers, den Sachverhalt und die Schuldfrage einvernehmlich zu klären. Gelang das, gingen sie zu dritt zum Häuptling und trugen ihm die Angelegenheit vor. Der verhandelte nunmehr entweder nur mit ihnen über die aufzuerlegende Leistung und ließ die Entscheidung dann durch den Sprecher verkünden, oder er befragte nochmals die Parteien und entschied danach. Der Unterlegene konnte sich nunmehr entweder gemäß dem Spruche verhalten oder sich weigern, die dem Gegner zugesprochene Leistung zu erbringen. In diesem Fall schloss sich der Versuch einer Zwangsvollstreckung an: Der Häuptling beauftragte den Anwalt des Verurteilten, dem Richterspruch Geltung zu verschaffen und dem Kläger z. B. die ihm zustehenden Rinder aus dem Hofe des Verurteilten zuzuführen. Leistete der Verurteilte oder einer seiner Angehörigen Widerstand, konnte der Häupt­ ling nicht etwa Gewalt anwenden (lassen), vielmehr musste er sich auf Überredung verlegen sowie äußerstenfalls mit dem Schwingen des ‚Fluchtopfes‘ drohen. Weitere Machtmittel standen ihm nicht zur Verfügung, sodass letztendlich bei der Vollstre­ ckung die Gewalt siegte – entweder die des Schuldners oder die des Gläubigers, der sich nunmehr der Hilfe seiner Getreuen bedienen konnte.

Das Strafverfahren vollzog sich im großen Ganzen wie das streitige Zivil­ verfahren: Es fand auf dem Spruchrasen des Häuptlings statt, Kläger und Beschuldigter standen sich gegenüber, der Häuptling fällte das Urteil. Hatte der Beschuldigte sich zuvor selbst angezeigt, konnte der Häuptling ihm u. U. die Sühne erlassen – worauf der Schuldige sich allgemein mit einem Ge­ schenk dankbar zeigte. Leugnete er dagegen die Tat, dann musste man ins Beweisverfahren eintreten, um ihn zu überführen. Blutrache war in alter Zeit als Sühne für Mord bis ins 19. Jh. hinein noch durchaus gebräuchlich. Dann wurde sie jedoch durch die Häuptlinge beseitigt und durch ein Wergeld er­ setzt, für das der Clan des Mörders haftete. Diese Alternative gab es indessen auch schon früher. Denn zum einen war die Blutrache stets mit der Gefahr verbunden, zu erneuter Rache Anlass zu geben. Und zum anderen richtete sie sich nicht notwendig gegen den Täter, sondern u. U. gegen ein anderes Clanmitglied. Sollte sie doch Gleiches mit Gleichem vergelten und da­ durch gleichen Schmerz erzeugen: Auf die Tötung einer schwangeren Frau sollte also die Tötung einer ebenfalls schwangeren Frau aus dem Clan des Mörders folgen. Das wurde in neuerer Zeit jedoch als letzthin ungerecht empfunden. Allerdings galt bei den Dschagga auch die Regel, dass nach geschehener Rache der Streit beigelegt war und sogar der Mörder sich wieder frei bewegen konnte, falls die Rache an ihm vorbeigegangen war. Es war dann Sache seines Clans, sich für ein etwa gezahltes Wergeld an ihm schadlos zu halten. Diese Art der Rechtsverfolgung dulde­ ten die Häuptlinge jedoch in neuerer Zeit nicht mehr. Stattdessen boten sie zunächst dem Verfolgten Asyl in ihrem Hause an und versuchten dann, die Angelegenheit durch Zahlung des Wergeldes aus der Welt zu schaffen. Dadurch stellten sie jedoch

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

denjenigen besser, dem es gelang, bei ihnen Zuflucht zu finden, während der auf dem Weg dorthin gefasste Verbrecher die volle Rachewut des verletzten Clans zu spüren bekam. Später verboten sie deshalb überhaupt die Ausübung von Selbstjustiz und übernahmen sogar die Zahlung des Wergeldes, falls der Clan des Mörders dazu au­ ßerstande war.

Beweisverfahren: Wichtigste Beweismittel in einem Zivil- oder Strafver­ fahren waren die Zeugen. Vor ihrer Vernehmung ermahnte der Häuptling sie zur Wahrheit, etwa indem er sagte: „Ich habe den Fluchtopf, den kann ich über dein Zeugnis schwingen lassen, meine Stirn und Handfläche können dich verderben, wenn du lügst.“ Nach ihrer Aussage mussten die Zeugen daher die Stirn des Häuptlings berühren und dabei die Worte zu sprechen: „Die Stirn des Häuptlings töte mich.“ Ferner mussten sie die Handfläche des Häuptlings lecken. Falls keine Zeugen vorhanden waren, konnte der Beschuldigte von sich aus den Häuptling ermächtigen, den Fluchtopf an den Kläger auszuhändigen. Er tat dies mit den Worten: „Der Fluchtopf soll sich gegen den Kläger wenden, wenn dieser Unge­ rechtes fordert.“ Nunmehr konnte der Kläger den Topf schwingen, und man wartete eine vorbestimmte Zeit, in wessen Familie ein Angehöriger oder ein Haustier starb – dort war dann der Verfluchte zu Haus. Am häufigsten wurde der Fluchtopf allerdings vom Bestohlenen gegen den von ihm verdächtigten Dieb geschwungen. Erfuhr dieser durch eine Ankündigung auf dem Markt davon, brachte er meistens das gestohlene Gut heimlich wieder zurück – zusammen mit Ranken und Zweigen, die der Entsüh­ nung dienen sollten. Erfuhr er nichts, konnte sein Hof nach den gestohlenen Sachen durchsucht werden.

Wie in anderen primitiven Rechtskulturen hatte auch bei den Dschagga das Ordal (kimanganu = Beender einer Ableugnung) eine wichtige Beweis­ funktion. Es gab mehrere Arten, doch wurden das Stechapfel- (Datura-) und das Pfriemordal am häufigsten gebraucht. Der Stechapfeltrank war dafür bekannt, dass er eine halluzigene Wirkung erzeugte und sein Genuss mit einem Verlust, zumindest aber einer Verminderung der Willens­ kraft verbunden war217 (freilich u. U. auch zu langwierigen Vergiftungserscheinungen führte). Dadurch sollte derjenige, der davon trank, zum Bekenntnis seiner Schuld gebracht werden. Das Pfriemordal bestand darin, dass man dem Beschuldigten (oder einem Ziegenbock oder Schaflamm) ein zugespitztes Stück Draht durch die Hautfalte eines Mundwinkels stieß und den Rechtsfall darnach entschied, ob Blut kam (= schul­ dig) oder nicht (= unschuldig).

217  Man wird daher annehmen dürfen, dass dieses Ordalverfahren häufiger zu ei­ nem wahrheitsgemäßen Geständnis führte als die sowohl im Altertum als auch danach noch geübte Folter. Die Folter wurde bei den Dschagga zwar auch angewandt, aber nur auf Verlangen eines Clans, der für die Schulden eines seiner Angehörigen einste­ hen sollte, obwohl er annahm, dass der Angehörige seine Schulden selbst bezahlen kann, sein Vermögen (z. B. seine Rinder) aber irgendwo versteckt hielt (z. B. in frem­ den Ställen abgestellt hatte).



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Weitere Behelfe, um unter mehreren Verdächtigen einen als Täter zu überführen, waren Losstäbchen. Sie wurden bei einem Wahrsager in eine Kalebasse218 getan, die dann unter beschwörenden Worten geschüttelt wurde. Wessen Hölzchen zuerst her­ ausfiel, der war’s gewesen. Reinwaschen konnte er sich dann nur noch durch ein Stechapfel- oder Pfriemordal.

d) Die Rechtsentwicklung innerhalb von Königreichen Ich habe bisher den Begriff ‚Herrschaft‘ vernachlässigt und lediglich einen der Gründe genannt, weshalb es zu Herrschaftsstrukturen219 kam: nämlich um eine soziale Arbeits- und Aufgabenteilung organisatorisch durchzusetzen. Eine Arbeits- und Aufgabenteilung aber bedingte die funktionale Ungleich­ heit und erzeugte das Problem, wie dennoch die zum Zusammenleben erfor­ derliche Gleichheit aller Mitglieder einer Gemeinschaft erhalten werden kann. Die Lösung lag in einer politischen Gleichheit, und die musste von einer mit zentraler Machtbefugnis ausgestatteten politischen Instanz herge­ stellt werden – m. a. W. durch die Institutionalisierung zentraler politischer Herrschaft. In Anlehnung an Max Weber220 kann man ‚Herrschaft‘ definieren als die Institutionalisierung einer von den Betroffenen anerkannten, auf Dauer ge­ stellten221 und i. d. R. zwangsbewehrten Macht. Legitim ist die Ausübung der Macht, wenn die Betroffenen sowohl die Gründe des Machtbesitzes als auch die Ziele der Machtausübung anerkennen. In der Geschichte ist deshalb Herrschaft niemals als brutale Gewalt aufgetreten, sondern stets versehen mit

218  Eine

ses.

Kalbasse ist die ausgehöhlte und getrocknete Hülle eines Flaschenkürbis­

219  Der Begriff ‚Struktur‘ soll hier eine Stufe im evolutiven Prozess der Institutio­ nalisierung (oder Deinstitutionalisierung) von Herrschaft bezeichnen. 220  M. Weber (1922/2005), S. 135: „Unter ‚Herrschaft‘ soll hier der Tatbestand verstanden werden: dass ein bekundeter Wille (‚Befehl‘) des oder der ‚Herrschenden‘ das Handeln anderer (des oder der ‚Beherrschten‘) beeinflussen will und tatsächlich in der Art beeinflusst, dass dies Handeln, in einem sozial relevanten Grade, so ab­ läuft, als ob die Beherrschten den Inhalt des Befehls, um seiner selbst willen, zur Maxime ihres Handelns gemacht hätten (‚Gehorsam‘).“ Kürzer S. 726: Herrschaft ist „die Chance, Gehorsam für einen bestimmten Befehl zu finden.“ Noch kürzer T. von Trotha (1995), S. 15: „Herrschaft ist institutionalisierte Macht.“ 221  Den genetischen Aspekt der Herrschaft betont P. Imbusch (2008), S. 174: „Herrschaft ist Macht, die sich verdichtet, verfestigt, verstetigt und akkumuliert hat. Denn im Gegensatz zur Macht zeichnet sich Herrschaft durch eine gewisse Dauerhaf­ tigkeit aus. Herrschaft kann entsprechend auch als ein institutionalisiertes Dauerver­ hältnis der Machtausübung einer übergeordneten Person oder Personengruppe gegen­ über untergeordneten Gruppen verstanden werden, das ohne ein Mindestmaß an An­ erkennung und Gehorsam … nicht möglich wäre.“

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Gründen und Zielen. Gründe für den Machtbesitz waren in der Antike insbe­ sondere •• der Glaube an das übernatürliche Charisma eines Herrschers: dass er mit Göttern oder anderen übernatürlichen Mächten im Bunde sei und von ih­ nen die Befähigung und Berufung zur Ausübung von Herrschaft empfan­ gen habe (M. Weber: „charismatische Herrschaft“); •• das Vertrauen in den Charakter eines Herrschers: dass er erwiesenermaßen das friedliche Zusammenleben seiner Untertanen sichern, das Land gegen äußere Feinde schützen, den sozialen Wohlstand zu mehren und ihn ge­ recht verteilen wird (M. Weber: „rationale Herrschaft“); •• die Wertschätzung einer kontinuierlicher Herrschaft: dass sie dauernden Frieden und Wohlstand garantiere und dann am besten verbürgt sei, wenn sie sich vom Vater auf den Sohn vererbe (M. Weber: „traditionale Herr­ schaft“).222 Ziele waren in der Antike insbesondere •• die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung durch ein öffentliches Gewalt­ monopol (‚konservatives Sicherheitsziel‘), •• der Schutz der bürgerlichen Freiheit durch eine hoheitliche Verwaltung und der Gerechtigkeit durch unabhängige Gerichte (‚liberales Sicherheits­ ziel‘), •• die Festigkeit der Reichsgrenzen aufgrund der Politik des Herrschers und der Macht eines gut bewaffneten Heeres (‚militärisches Sicherheitsziel‘), •• das wirtschaftliche Wohl des gesamten Volkes (einschl. der „Witwen und Waisen“) (‚ökonomisches Sicherheitsziel‘). Antike Herrscher waren bemüht, ihren Untertanen die Gründe ihrer Herr­ schaft glaubhaft zu machen und ihnen die Zuversicht an das Erreichen der Ziele ihrer Herrschaft zu vermitteln: Sie umgaben sich mit der Aura des Wissens um die kosmische Ordnung, in die auch die überkommenen Sitten und das Recht des Landes eingebettet seien, und nahmen für sich in An­ spruch, im Bunde mit den Göttern den Fortbestand der inneren Ordnung und der äußeren Sicherheit garantieren zu können; sie stellten sich als diejenigen dar, die aufgrund des von ihnen ausgehenden äußeren und inneren (geistigen) Glanzes auch den Glanz des Reiches, den Frieden im Lande und den ökono­ mischen Reichtum des Volkes gewährleisten können;223 und sie behaupteten, 222  M.

Weber (1922/2005), S. 124. Vgl. ferner C. J. Friedrich (1966), S. 18 ff. Herrschaft war deshalb in der Antike stets mit einem extremen Reprä­ sentationsbedürfnis verbunden, was mit ihrem Mangel an Selbstverständlichkeit zu­ sammenhängt. „Die Institution der Zentralherrschaft legt sich als eine vollkommen 223  Zentrale



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dass sowohl sie als auch diejenigen, auf die dereinst ihr Geist übergehen werde, die einzig legitimen Verkörperungen der politischen Integrationsidee und die zentralen Autoritäten der gesellschaftlichen Normenordnung seien.224 Viele Häuptlinge mögen sich um diesen Glauben und diese Zuversicht ihrer Untertanen bemüht haben. Doch nur denjenigen unter ihnen, die ich als ­Könige bezeichne,225 gelang es, sich gleichermaßen als oberste Herrscher, oberste Priester und oberste Richter zu etablieren und diese dreifache Stel­ lung kraft Erbfolge in ihrer Familie zu halten. Ihre Herrschaft vererbten sie meistens auf ihren ältesten Sohn; denn es entsprach allgemeiner Überzeu­ gung, dass der Geist des Vaters auf die Söhne übergehe (während die Mutter den Leib beisteuere) und dass dem ältesten unter ihnen der Vorrang vor den jüngeren gebühre. Fehlte es an einem männlichen Nachkommen, dann trat aus der Seitenlinie meistens der jüngere Bruder des Königs an seine Stelle und vererbte seinerseits die Herrschergaben. Unklar ist, seit wann es zur Wahl eines Königs kam. Mit Sicherheit ging ihr die bloße Anerkennung von Herrschaft seitens der Betroffenen voraus: Jemand warf sich zum Herrscher auf, und das Volk fügte sich ihm entweder freiwillig oder gezwungen. Die Erblichkeit der Königswürde wurde wahrscheinlich in derselben Weise durchge­ setzt. Doch zeigt das Beispiel des Agamemnon auch, dass selbst ein Königsmörder sich zum neuen König aufwerfen konnte, ohne dass das Volk dagegen rebellierte ‒ wahrscheinlich wurde in frühester Zeit auch tatsächlich die Nachfolge in das König­ samt häufig auf diese Weise ‚geregelt‘. Unklar ist ferner, welche Rechte in frühester Zeit mit dem Königsamt verbunden waren. Das Richteramt stand sicherlich in der vordersten Reihe, da es regelmäßig schon mit der Häuptlingswürde verbunden war. Von den Pflichten, die erst mit dem Königsamt verbunden waren, ist die Beiziehung eines Beratungsgremiums für wichtige Entscheidungen erwähnenswert, da ein sol­ ches Gremium nachweislich auch in die richterlichen Entscheidungen einbezogen wurde.226

neuartige Form politischer und sozialer Makro-Organisation über eine Fülle lokaler ethnischer Verbände und ist mit ihrem Anspruch auf Gehorsam darauf angewiesen, sich bis in die entferntesten Provinzen in eindrucksvoller und einschüchternder Weise zu repräsentieren“ (J. Assmann, 2003, S. 28). 224  Vgl. M. Fortes/E. E. Evans-Pritchard (1978), S. 166: „Für sein Volk ist ein afrikanischer Herrscher … die Achse seiner politischen Beziehungen, das Symbol seiner Einheit und Einzigartigkeit und die Verkörperung seiner wesentlichen Werte.“ 225  Der aus dem Althochdeutschen stammende Begriff ‚König‘ bezeichnete ur­ sprünglich jeden ‚aus einem vornehmen Geschlecht stammenden Mann‘. Der Begriff wird hier und im Folgenden ohne Rücksicht darauf verwendet, ob sich in der jewei­ ligen Landessprache ein entsprechender Begriff nachweisen lässt und ob der oberste Herrscher diesen als Titel führte. Entsprechendes gilt für den Begriff ‚Königreich‘, der im Folgenden ein Herrschaftsgebiet bezeichnet, das von einem König regiert wird. 226  Nachweise etwa bei F. Bernhöft (1878), S. 305 ff.

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Könige konnten sich vor allem in Gegenden etablieren, die einerseits fruchtbar genug waren, um eine stark anwachsende Bevölkerung zu ernäh­ ren, andererseits abgegrenzt genug, um ein Ausweichen des Bevölkerungs­ überschusses in benachbarte Gebiete zu verhindern.227 Unter diesen Voraus­ setzungen war es Herrschern möglich, ihre Untertanen zur Ableistung von Militär- und Arbeitsdiensten, zur Zahlung von Steuern und zum Gesetzesge­ horsam zu zwingen, und kraft positiver Rückkopplung (Autokatalyse) da­ durch ihre Macht zu verstärken.228 Dass zusätzlich die Götter ihre Macht le­ gitimierten, begründeten sie damit, dass sie in schwierigen Situationen gött­ lichen Rat und bei der Ausführung der Ratschläge göttliche Unterstützung erhielten. Doch waren derlei Behauptungen nicht ungefährlich; denn als Götterlieblinge durften sie keine Fehlentscheidungen treffen. Deshalb zehrte jede Fehlentscheidung und jede Minderung des Volkswohlstands an ihrer Legitimation – weshalb in weiser Voraussicht die wahrhaft klugen Könige sich vor allen waghalsigen Unternehmungen hüteten, die ihrem Volk Scha­ den bringen und sie selbst den Thron kosten konnten. Wichtig für den Wohlstand eines Königreiches war in erster Linie der Reichtum der Natur, vor allem die Fruchtbarkeit des Bodens, in zweiter Linie das geordnete Zusammenleben arbeitsamer Menschen und die Sicherheit vor feindlichen Überfällen. Den Reichtum der Natur konnten die Könige nur we­ nig beeinflussen. Umso mehr Einfluss hatten sie dagegen auf den Aufbau ei­ ner Bürokratie, die selbst in den entferntesten Winkel ihres Reiches darauf achtete, dass die Bevölkerung nach Sitte und Recht lebte, fleißig arbeitete so­ wie den Anweisungen des Hofes folgte. Garanten dafür waren ein ausgebilde­ tes Verwaltungsrecht sowie ein Strafrecht, das Zuwiderhandlungen gegen die Anweisungen der königlichen Beamten mit harten Sanktionen bedrohte (die dann allerdings regelmäßig durch Geldzahlungen oder Sachleistungen abge­ golten werden durften). Gegen die ungerechte Behandlung seitens eines kö­ niglichen Beamten konnte die Bevölkerung sich an die Gerichte wenden, und gegen die Entscheidungen der Gerichte – damit schloss sich der Kreis – teil­ weise an den königlichen Hof, wo die Hofbeamten Fällen des Machtmiss­ brauchs durch die örtlichen Autoritäten genauestens nachgingen229 und schwere Verfehlungen an den König oder einen seiner Minister meldeten. Mit­ 227  Vgl. P. Weise u. a. (2005) S. 618. Afrikanische Königreiche waren u. a. die der Aschanti (Ghana), Bamum (Kamerun), Edo (Benin bzw. Nigeria), Fon (Dahomey), Ganda (Uganda), Kongo, Lozi (Sambia), Malinke (Senegal, Mali, Guinea, Elfenbein­ küste), Mosi (Ober-Volta), Nupe (Sudan), Rundi (Burundi) und Zulu (Südafrikanische Republik). Zu ihrer Entstehung vgl. noch unten J 3 c δ. Zur Aufgliederung vgl. oben Fn. 119. 228  Ergänzend Ch. Henke (2010), S. 145. 229  Einen solchen Missbrauch abzustellen, war wichtig, weil die Könige aufgrund der Rituale, die zu ihrer Einsetzung führten, verpflichtet waren, die traditionellen re­



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unter erfuhr der König dadurch auch etwas über einen vorbereiteten Aufstand gegen seine Herrschaft, sodass er rechtzeitig das Heer mobilisieren konnte. Es ist einleuchtend, dass diejenigen Königreiche am mächtigsten waren, die am besten regiert wurden. Sie konnten ihre schlechter regierten Nachbar­ reiche deshalb besiegen und sie ihrem eigenen Territorium einverleiben. Je größer ein Königreich dadurch wurde, desto mehr musste freilich die Autori­ tät seines Zentrums ausgebaut und desto strenger die bürokratische Verwal­ tung von der Spitze aus organisiert werden. Ermöglicht wurde dies u. a., in­ dem man die Häuptlinge der besiegten Nachbarstämme als Satrapen (great chiefs) in den eroberten Gebieten weiterhin regieren ließ. (Besonders gut können wir in historischer Zeit diese Entwicklung im persischen Großreich beobachten.) Die Aufgaben der Satrapen bestanden alsdann darin, Sitte und Recht in ihrem Distrikt zu pflegen sowie die Steuern und Abgaben der Unt­ rertanen zu kassieren und an den Hof zu leiten, um den Repräsentationsauf­ wand der Königsfamilie sowie ihres Hofes zu finanzieren. Die Steuern und Abgaben galten allgemein als Gegenleistungen für die Garantie der inneren Ordnung und der äußeren Sicherheit, die dem Land seitens des Hofes ge­ währt wurden. Die ursprüngliche Sitte der Redistribution – durch Veranstal­ tung von großen Festen, an denen jedermann teilnehmen konnte – ging dage­ gen verloren; die Könige verbrauchten den größten Teil der eingehenden Gelder für Zeremonien, zu denen zwar auch Festveranstaltungen gehörten, an denen das einfache Volk aber nicht teilnehmen durfte. Geladen wurde nur eine Oberschicht, die vor allem aus den Satrapen-Häuptlingen und ihrem Gefolge bestand. Zusätzlich zu den Steuern der Untertanen spülte der Fernhandel mehr und mehr Geld in die königlichen Kassen, da jeder Grenzübertritt ins Reich mit einem Zoll belastet war. Aber auch die Rechtsentwicklung erhielt durch den Fernhandel Auftrieb, da die Kaufleute nicht nur fremde Waren ins Land brachten, sondern auch fremde Rechtsanschauungen. Vor allem das allge­ meine Vertragsrecht und das spezielle Kauf-, Kredit- und Sicherungsrecht profitierten davon: das Vertragsrecht, weil es allmählich seine starre, feierli­ che Form zugunsten des schlichten Handschlags o. ä. aufgab, mit dem die Verträge ‚besiegelt‘ wurden; das Kredit- und Sicherungsrecht, weil es den Ankauf von Waren gegen dingliche und persönliche Sicherheiten ermög­ lichte, sodass erst nach Weiterveräußerung bezahlt werden musste.

ligiösen, sittlichen und rechtlichen Normen einzuhalten, und die effektive politische Kontrolle ihr wichtigstes Mittel war, dieser Pflicht nachzukommen.

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Zusatz: Die Edo als Beispiel eines afrikanischen Königreiches Als Edo werden die Bini, d.s. die Bewohner des alten Königreichs Benin, bezeichnet. Sie lebten und leben noch heute im Nigerdelta – einem Gebiet, das jetzt zum Staat Nigeria gehört.230 Die Kunstgeschichte hat sich mit den Edo (Bini) intensiv beschäftigt.231 Eine et­ was genauere Rekonstruktion ihrer politischen Geschichte ist jedoch erst für die Zeit ab 1300 möglich.232 Ihr voraus ging die dynastische Ära der Igodo, einer relativ un­ differenzierten Gesellschaft, die durch ein einigermaßen ausgeglichenes Machtver­ hältnis zwischen dem Ogoso (als oberstem Herrscher) und den unterschiedlichen lo­ kalen Autoritäten (Enejie) geprägt war. Ihre Ära endete 1320, als der letzte Monarch, der sich allgemein unbeliebt gemacht hatte, vom Thron vertrieben wurde. Nach einer kurzen Übergangszeit entwickelte sich bis Mitte des 15. Jh.s eine zentralisierte Mon­ archie mit einem Oba als politischem Herrscher233 sowie mit einer einheitlichen ge­ sellschaftlichen Struktur. Es gelang, die innere Opposition der segmentären Herrscher zurückzudrängen und die äußere Macht durch Aufstellung eines disziplinierten Heeres zu stärken. Beides ermöglichte die Okkupation von Teilen der landeinwärts gelegenen Waldregion sowie den Aufschwung der Wirtschaft und die Kräftigung des Handels. Auch die folgende Zeit bis 1509 war durch ökonomische und territoriale Expansion gekennzeichnet. Oba Ozolua, der letzte Herrscher dieser Periode, „fought and won no less than two hundred battles“234. Er vergrößerte dadurch seine Herrschaft und baute Benin zum Verbindungszentrum von vier Handelsrouten aus, deren erste durch die Küstenregion (Lagune), deren zweite nach Osten durch das Flussdelta, eine dritte nach Norden durch das Hinterland Richtung Sahara und eine vierte von der Küste bis nach Europa verlief. Besonders die beiden letztgenannten Handelsrouten gewannen in der Folgezeit große Bedeutung, verstärkten aber auch den äußeren Einfluss der durch­ weg portugiesischen Händler sowie die inneren Abspaltungstendenzen von der Zen­ tralmacht. In der ersten Hälfte des 16. Jh.s veränderte sich schließlich die politische Geographie, weil Benin einerseits im Konflikt mit dem im Norden gelegenen Idah ein wichtiges Herrschaftsgebiet verlor (1515–1516), andererseits diesen Verlust durch die Einverleibung von Lagos und Mahin mehr als aufwiegen konnte (1536–1563).

Die Edo waren hervorragende Händler. In jedem größeren Ort hatten sie einen Markt, wo sie die Produkte des Landes (Jamswurzeln, Bananen, Mais, Zuckerrohr u. a., einfache Werkzeuge und Handarbeiten) feilhielten. Darüber hinaus gab es seit dem 15. Jh. eigene Märkte für Sklaven, Elfenbein, Palmöl, Pfeffer und andere Produkte, die (auch) zur Ausfuhr bestimmt waren, sowie für Samt, Seide, Gold- und Silberwaren, Brillen, Gin und andere Produkte, 230  Das

Königreich Benin ist daher kein Vorläufer des heutigen Staates Benin. Edo waren (und sind) berühmt für ihre handwerkliche Geschicklichkeit und insbesondere für die künstlerische Qualität ihrer Holzplastiken. 232  Vgl. zum Folgenden J. U. Egharevba (1960); R. A. Sargent (1999), p. 75 ff. 233  Der Titel Oba ersetzte den Ogoso-Titel. Er wurde offenbar eingeführt, um die neue Monarchie von der abgewirtschafteten Igodo-Herrschaft abzugrenzen. 234  J. U. Egharevba (1960), p. 23. 231  Die



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die aus Europa eingeführt wurden. Von allen eingeführten Waren mussten Zölle an den königlichen Hof abgeführt werden. Darüber hinaus verlangte man an den Toren der meisten größeren Städte Zölle, sodass reichlich Kapi­ tal auch in die Haushalte der lokalen Herrscher floss. (α) Verfassung. Wie erwähnt, war oberster Herrscher in Benin ein König (Oba). Seine Person war heilig, seine Herrschaft unumschränkt. Er war oberster Priester und höchster Richter, konnte Gesetze erlassen, ändern und aufheben, Häuptlinge ernennen und aus ihrem Amt entfernen (ihnen aller­ dings nicht ihren Titel nehmen), Sklaven freisprechen, Verräter und Rebellen aus dem Lande verbannen, Verbrecher bestrafen oder begnadigen (die Ver­ hängung der Todesstrafe war ihm vorbehalten) und über Krieg oder Frieden entscheiden. Er war aber nicht nur allmächtig, sondern auch ‚ewig‘; denn starb er, folgte sein ältester Sohn ihm nach, und wenn kein Sohn vorhanden war, trat sein ältester noch lebender Bruder an seine Stelle. Kurzum, ein ge­ netisches Band verknüpfte die beninischen Könige miteinander und garan­ tierte eine ununterbrochene Tradition weit über die Jahrhunderte hinweg. Töchter, wie Frauen überhaupt, waren von der Regentschaft ausgeschlossen. Das bedeutete freilich nicht, dass Frauen auf die Regierungsgeschäfte keiner­ lei Einfluss hatten. Ihr Einfluss, selbst der der Lieblingsfrau, blieb indessen inoffiziell – mit Ausnahme der Königsmutter: Sie stand im Range den Ratge­ bern des Königs gleich. Die Ratgeber des Königs führten die Regierungsgeschäfte. Ihr Zentrum war ein Kabinett unter der Führung eines Premiers. Mit ihm pflegte der Kö­ nig in geheimer Sitzung alle wichtigen Angelegenheiten zu besprechen, be­ vor sie einer Ratsversammlung zur Entscheidung vorgelegt wurden. Haupt­ aufgabe der Ratsversammlung war es dann weniger, die Entscheidungen zu billigen (das war selbstverständlich), als vielmehr ihre Ausführung durch entsprechende Gesetze in die Tat umzusetzen. Außerdem hatte sie über alle Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, die der König nicht wegen ihrer Wich­ tigkeit an sich zog. Eine spezielle Aufgabe kam ferner in Kriegszeiten dem Premier zu: Er war der Oberbefehlshaber des bis zu 50.000 Mann starken Heeres. Unterhalb dieser höchsten Regierungsebene waren in den Städten und größeren Dörfern königliche Beamte tätig, die entweder vom König selber oder von eigens damit Beauftragten ernannt wurden. Beschäftigt wa­ ren sie vor allem mit der Eintreibung der Abgaben an den Königshof und mit der Rechtsprechung in zivilen Streitigkeiten. Bewährten sie sich, konnten sie an den Königshof berufen werden. Bewährten sie sich nicht, missbrauchten sie gar ihre Macht zu illegalen Handlungen, konnten sie des Amtes enthoben und streng bestraft werden (während ihnen ihr Titel verblieb).235 235  Manche

Titel wurden sogar innerhalb der Familie erblich.

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(β) Familienrecht: Die Edo waren eine patrilineare Gesellschaft. Die Fa­ milienzugehörigkeit jedes Einzelnen war klar geregelt, weil die Familie ei­ nerseits Schutz gewährte, andererseits Pflichten mit sich brachte. Um ihren Zusammenhalt zu betonen, nannten sich alle Familienangehörige „Brüder“ und „Schwestern“, auch wenn sie nur entfernt miteinander verwandt waren. Ausnahmen galten lediglich für Verwandte der 1. bis 3. Ordnung: Sie waren nicht nur Vater und Mutter, Großvater und Großmutter, sondern sie hießen auch so. Gewöhnlich lebten drei Generationen zusammen in einem großen Gehöft, das aus einem zentralen Hofgebäude und den umgebenden Wohneinheiten für die Frauen bestand.236 Oberhaupt war der Vater, dessen unbedingte Auto­ rität sowohl mit der Schutzpflicht als auch mit der Verantwortung für alle im Gehöft Wohnenden verbunden war. Streitigkeiten innerhalb des Hauses konnte er nach Ermessen regeln, für Fehlverhalten Strafen verhängen. Die im Gehöft wohnenden Frauen unterstanden zusätzlich der Herrschaft der ältes­ ten Frau. Jeder Mann hatte ein Recht auf mehrere Ehefrauen. Die meisten Männer machten davon auch Gebrauch, weil sie in Benin keinen Brautpreis zu zah­ len brauchten. Der Heirat ging gewöhnlich eine Verlobung voraus, die vom Vater der Verlobten arrangiert wurde.237 Die Hochzeit fand, nach Einholung eines Orakels, zwei Wochen bis drei Monate danach statt. Wichtigster Bestandteil der Hochzeit war die Überführung der Braut aus ihrem Haus in das des Bräutigams. Die Zeit danach verging mit Besuchen zunächst des Bräutigams bei seinen Schwiegereltern, um ihnen Dank zu sagen, sodann des Vaters der Braut im neuen Haus, um ein Geschenk in Empfang zu nehmen, und schließlich der Mutter, um ein mit Blut beschmiertes weißes Tuch als Beweis für die Jungfräu­ lichkeit ihrer Tochter zu überbringen und ebenfalls ein Geschenk als Lohn für deren Bewachung zu erhalten.

Ehebruch war beiderseits streng untersagt. Kam die Tat des Mannes ans Licht, musste er mit einer fühlbaren Geldstrafe rechnen, u. U. konnte sogar sein Vermögen konfisziert und der Krone übereignet werden. Beging die Frau die Tat, erging es ihr noch schlimmer: Sie wurde in Ketten gelegt und ausgepeitscht, und in den höheren Ständen drohte ihr sogar der Tod.

236  Die Frauen des Königs lebten dagegen streng bewacht in einem Harem. Sie waren dort nur von Eunuchen und Dienerinnen umgeben und durften den Harem nicht verlassen. 237  Die Verlobung wurde zwischen den Vätern der Verlobten abgeschlossen und mit der (faktischen) Auslieferung der Frau unter die Herrschaft des Mannes erfüllt. Ihr entsprach später ein in Griechenland ἐγγύη genannter Vertrag, den der κύριος der Frau abschloss und durch den Übergang der Frau in die κυριεία des Mannes (der ἔκδоσις) erfüllte.



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Unverheiratete Frauen, die mit einem Manne Geschlechtsverkehr hatten, brauchten dagegen nur mit Schande zu rechnen. Empfingen sie ein Kind, gehörte es dem Vater. Das von einer verheirateten Frau im Ehebruch erzeugte Kind gehörte dagegen ihrem Ehemann, der es gewöhnlich allerdings wie einen Sklaven hielt oder auf dem Markt verkaufte.

Eine Scheidung der Ehe war nur möglich bei Impotenz oder dem Ausbruch einer auch für andere gefährlichen Krankheit. Nach dem Tode des Mannes wurden sämtliche Ehefrauen jedoch frei und erhielten das Recht, sich wieder zu verheiraten. Für ihre noch minderjährigen Kinder musste dann der neue Ehemann sorgen. Blieben sie verwitwet, übernahm ein Onkel die Erziehung und die Verwaltung der ihnen zukommenden Erbschaft. (γ) Sachenrecht: Grund und Boden waren in Benin kommunales Eigentum, über das auch der König nur als Repräsentant des Volkes verfügen durfte. Verfügte er darüber zugunsten einer Gruppe (z. B. einer Sippe), dann durfte diese das Land für immer und ewig nutzen. Nur wenn sie ausstarb und das Land zu verwahrlosen drohte, konfiszierte es der König und gab es anderen Interessenten. Als Gegenleistung für die Landüberlassung schuldeten die Begünstigten dem Kö­ nig gewisse Dienste sowie die Teilnahme an gemeinnützigen Arbeiten. Ein Entgelt brauchten sie dagegen nicht zu zahlen.238 Da das Land im Sinne der Ahnen und künftiger Generationen genutzt werden musste, war seine Veräußerung i. d. R. ausge­ schlossen. Über die Einhaltung des Verbots wachte ein sog. Erdherr (chef de terre) als Treuhänder. Er war auch zuständig für die religiösen Handlungen, die sich mit der Nutzung des Landes verbanden und die u. a. Bitten an die Erdgeister bei der Aussaat und Dank an sie bei der Ernte einschlossen. Ferner war er Richter, wenn es zwischen Landbesitzern zu Auseinandersetzungen kam.

Ein Pfandrecht an Sachen für eine Schuld zu bestellen, war in Benin nicht üblich. Stattdessen vergeiselte man sich oder einen seiner Angehörigen. Der Wert der Dienste, die der Geisel dann leisten musste, galt als Zinszahlung und wurde nicht auf das geschuldete Kapital angerechnet. Stattdessen erhielt der sich selbst vergeiselnde Schuldner monatlich eine Freizeit, worin er ver­ suchen konnte, das Kapital zur Tilgung seiner Schuld durch anderweit geleis­ tete Arbeit aufzubringen. Misslang ihm das über mehrere Jahre, kam er 238  Das war beispielsweise im Königreich Bunyoro anders geregelt: Dort verteilte der Mukama (der älteste Spross der königlichen Sippe) das Land an seine Untertanen, die ihm dafür aber beträchtliche Mengen an Nahrungsmitteln, handwerklichen Er­ zeugnissen und Dienstleistungen schuldeten. Grund für die unterschiedliche Regelung war ursprünglich, dass der Mukama zur Redistribution an seine Untertanen verpflich­ tet war. Davon war jedoch Mitte des vorigen Jahrhunderts, als John Beattie das Kö­ nigreich erforschte, längst nicht mehr die Rede. Die Einkünfte („in cash, not kind“) kamen statt den Untertanen vor allem dem Mukama selbst und seinen Verwandten zugute, darüber hinaus seinem Hofstaat und seinen Günstlingen (Einzelheiten bei J. Beattie, 1960, p. 30 ff., 34 f.).

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meistens auch ohne Tilgung frei, so dass seine Versklavung vermieden wurde. Sklaven gab es. Wann und wo die Sklaverei erfunden bzw. in Gang gesetzt wurde, ist unbekannt. Aber sie breitete sich überall aus, wo die Menschen sesshaft wurden und daher auf Arbeitskräfte angewiesen waren. Sie wurden im Krieg gefangen oder auf dem Markt erworben und galten als Eigentum ihres Herrn. In Benin waren sie den Sachen aber nicht schlechthin gleichge­ stellt, sondern wurden i. d. R. gut behandelt. Insbesondere die dem König dienenden Sklaven konnten ein ziemlich normales Leben führen. Dafür hat­ ten sie jedoch keine Hoffnung auf spätere Freiheit, während die übrigen Sklaven zwar hart arbeiten mussten, sich jedoch für das Geld, das sie von ihrem Herrn erhielten, schließlich freikaufen konnten. (δ) Erbrecht: Starb der Vater, war Erbe in erster Linie sein ältester Sohn. Doch obwohl er den größten Teil des Vermögens erhielt – Haus, Plantagen, Frauen, Sklaven, Vieh u. a. –, wurden auch die anderen Söhne sowie die übri­ gen Kinder mit einem angemessenen Anteil bedacht. Starb ein Mann ohne Nachkommenschaft, erbten seine nächsten Verwandten, und zwar auch die weiblichen. Dagegen waren die Ehefrauen von der Erbfolge in jedem Falle ausgeschlossen; nur die zu Lebzeiten ihres Mannes erhaltenen Geschenke ver­ blieben ihnen. Starb eine der Ehefrauen, erbten ihre eigenen Kinder. Eine da­ von abweichende Verteilung des Vermögens durch Testament war unbekannt. (ε) Obligationenrecht: Die wichtigsten Verträge der Edo waren Kauf, Miete, Darlehen und Dienstverträge. Die Verträge waren grundsätzlich bin­ dend, ihre Nichterfüllung hatte eine geringe Strafe zur Folge, ließ aber das Recht des Gläubigers, ihre Erfüllung zu verlangen, unberührt. War der Schuldner zahlungsunwillig, konnte ein staatlich bestellter Schuldenein­ sammler (Violent Royal Debt Collector) die Schuld eintreiben, notfalls auch Hand an den Schuldner legen und ihm den geschuldeten Geldbetrag oder Teile seiner Habe (Diener, Sklaven, Vieh, etc.) gewaltsam abnehmen und anschließend verwerten. Besonders eingehend geregelt waren Verträge über die Pflege von Vieh: Wurden Kühe zur Pflege bei anderen untergestellt, gehörte das erste Kalb dem Eigentümer, das zweite dem Pfleger. Hatte die Kuh aufgehört zu kalben, wurde sie verkauft und das Geld zwischen Eigentümer und Pfleger geteilt.

Schadenszufügung: Aufgrund der weiten Verbreitung der Tierhaltung wa­ ren Normen vor allem für Tierschäden erforderlich. Zwecks Vorsorge durften Tiere nur innerhalb einer durch Zäune abgegrenzten Weide gehalten werden. Gelang es ihnen, dennoch auf das Gelände eines Nachbarn überzulaufen und dort Schaden anzurichten, musste der Eigentümer zumindest beim zweiten Mal Ersatz leisten. Tötete der Nachbar allerdings das Tier aus Ärger, dann musste er dessen Wert ersetzen. Tat er dies öfter, riskierte er überdies eine



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Anklage wegen Zauberei, von der er sich nur aufgrund eines Ordals reinigen konnte. (ζ) Strafrecht: Es war von allen Rechtsmaterien das am genauesten ausge­ bildete. Zwar gab es kein eigentliches Strafgesetzbuch, wohl aber eine Reihe von relativ klar umrissenen Deliktstypen. Als Delikte gegen Personen kannte man den Mord, der mit der Hinrichtung des Mörders geahndet wurde, und die gefährliche Körperverletzung239 (durch Machete, Faust oder ein spitzes Instrument), auf die Haft- oder Geldstrafe stand. Schwer bestraft wurde fer­ ner, wer einen anderen zum Selbstmord veranlasste;240 selbst der König galt in diesem Fall als schuldig, obgleich er aufgrund seiner Stellung nicht straf­ bar war. Von weiteren Personendelikten sind Notzucht, Verführung und Ab­ treibung zu nennen. Als Verletzungen des Eigentums standen Raub (insbe­ sondere Straßenraub), Diebstahl,241 Einbruch und Hehlerei unter Strafe. De­ likte waren ferner Hochverrat, Spionage, Verschwörung, Aufruhr, Piraterie, Schmuggel, Verbrechensverabredung, Meineid, falsche Anschuldigung, Zau­ berei, Hexerei und Quacksalberei sowie der Geschlechtsverkehr zwischen nah Verwandten (insbesondere zwischen Mutter und Sohn, Vater und Toch­ ter). Bestechung blieb dagegen straffrei; es galt das Sprichwort „Igh o gbemwen n’Edo“ („Geld löst alle Probleme“). Als Strafen kannte das traditionelle Recht Binden, Anketten, Auspeitschen, Prügeln, Gefängnis (das erste Gefängnis wurde um 1400 gebaut!), Geldstrafe, Verbannung und Hinrichtung. Häuptlinge konnten sich im Allgemeinen von einer Bestrafung freikaufen, indem sie dem König eine großzügige Geld­ spende machten und einen oder mehrere Sklaven übergaben, an denen dann die Strafe vollstreckt wurde. (η) Rechtsverwirklichung: Zwischen zivilrechtlichen und strafrechtlichen Verfahren wurde zumindest seit dem 14. Jh. unterschieden. Klagen in Zivilsachen mussten vor dem Hauptmann des Ortes anhängig gemacht werden, in dem der Beklagte wohnte. Dieser entschied über den Streitfall i. d. R. jedoch nicht allein, sondern unterstützt von dem oder den Dorfältesten. Das Verfahren begann, indem auf Antrag des Klägers ein Bote den Beklagten vor Gericht lud. Dort erhob der Kläger seine Klage, und der Beklagte erhielt Gelegenheit zur Verteidigung. Anschließend konnten beide nochmals zu Wort kommen, bis die gegenteiligen Standpunkte hinreichend geklärt waren. Dann gab jedes Mitglied des Gerichts seine persönliche Mei­ 239  J. U. Egharevba (1947, p. 48) übersetzt izighoyewu als „manslaughter“, defi­ niert es aber im hier angegebenen Sinne. 240  Der Selbstmord galt als schweres Unrecht; deshalb durfte der Leichnam eines Selbstmörders erst nach einer Zeremonie bestattet werden. 241  Hierzu wurde gewöhnlich auch die Nichtzahlung einer Schuld gerechnet. Vgl. dazu noch unten 3 ζ(7) .

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nung über den Streitfall bekannt. Stimmten die Meinungen im Wesentlichen überein, gab der Hauptmann diese als Urteil des Gerichts bekannt. Wider­ sprachen sich die Meinungen, verkündete er sein eigenes Urteil. Den Ab­ schluss des Verfahrens bildeten der gemeinsame Verzehr von Kolanüssen sowie ein Umtrunk als Zeichen des wiederhergestellten Friedens. War eine der Parteien mit dem Urteil unzufrieden, konnte sie beim König Berufung einlegen. Das Verfahren in Strafsachen wurde im Wesentlichen vom König be­ stimmt. Es begann mit der Anklage, der eine Beweisaufnahme folgte, falls der Angeklagte nicht geständig war. Schafften Zeugen keine vollständige Aufklärung oder sah sich der Angeklagte in Beweisnot – wie häufig bei einer Anklage wegen Zauberei oder Hexerei –, konnte ein Ordalverfahren stattfin­ den. Abschließend verkündete der König das Urteil, das auf Hinrichtung, Körper-, Freiheits- oder Geldstrafe lauten konnte. Besonders häufig verhängt wurden Geldstrafen, weil das Geld in die Schatulle des Königs floss. 3. Prästaatliche Entwicklungen von Rechtsinhalten (Überblick) Die vorstehende Untersuchung konnte zwar nur bedingt über die Rechts­ entwicklung in der vorgeschichtlichen Vergangenheit indigener Völker Aus­ kunft geben, doch hat sie gezeigt, dass diese Entwicklung, soweit unsere heutigen Erkenntnismittel reichen, der sozialen und politischen Entwicklung überall gefolgt ist, weshalb bereits im vorrechtlichen Stadium in nuce enthal­ ten war, was später, differenzierter und daher komplexer, zu frühem Recht wurde. Diese Erkenntnis rechtfertigt, dass ich nunmehr den gemeinsamen Inhalt des werdenden Rechts diachronisch darstelle.242 Da ich hierfür weder archäologisches noch gar schriftliches Material heranziehen kann, sondern mich, wie zuvor erwähnt,243 auf ganz unterschiedliche Quellen stützen muss – (a) auf Mythen und Sagen sowie auf Mitteilungen von Reisenden aus dem Altertum, (b) auf Berichte von Missionaren, staatlichen Beamten und privaten Händlern und Reisenden aus der Neuzeit sowie (c) auf Forschungs­ 242  Eine Zusammenstellung von Rechtssitten, die vermutlich universell gelten und daher eine Erkenntnisquelle für „das gemeinsame rechtliche Menschheitsgut“ bilden, findet sich auf der Grundlage der ethnologischen Forschungslage am Ende des 19. Jh.s bei A. H. Post (1891), S. 38–77. Dass sich ein ‚Urrecht‘ „nur auf dem Weg vergleichender Durchforschung aller [!] Sonderrechte rekonstruieren lässt“, bemerken (bezogen auf das altgermanische Recht) K. von Amira/K. A. Eckhardt (1960, S. 1). Bemühungen um die Rekonstruktion eines alt-arischen Jus Civile, teilweise auf der Grundlage indo-arischer bzw. indo-germanischer Sprachwurzeln, bei B. W. Leist (1896). M. E. sind diese Bemühungen so wertlos nicht, wie sie heute manchmal (teil­ weise wohl aus Bequemlichkeit) abgetan werden. 243  Vgl. oben F 1 (β).



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ergebnisse von wissenschaftlich arbeitenden Ethnologen aus neuester Zeit –, beanspruche ich für die folgende Darstellung lediglich ‚mutmaßliche Rich­ tigkeit‘. Sollte ihr darüber hinaus ein höheres Maß an Wahrscheinlichkeit zuzurechnen sein, dann deshalb, weil die rechtlichen bzw. rechtsähnlichen Normen der rezenten indigenen Völker trotz einer Zeitdifferenz von mehre­ ren Tausend Jahren eine starke Ähnlichkeit mit denen zweier Protostaaten besitzen, die uns schriftliche Zeugnisse hinterlassen haben, nämlich Sumer/ Babylon (Mesopotamien) und Ägypten. Ungeachtet der gewaltigen Zeit­ spanne zwischen den indigenen Kulturen der Neuzeit und denen des frühen Altertums lassen sich daher die Lücken in unserem Bild von den Inhalten des werdenden Rechts verengen und manchmal sogar schließen – sofern man die gebotene Vorsicht walten lässt.244 Doch nicht nur die Inhalte der vor- und frührechtlichen Normen sind über die Zeit hinweg ähnlich geblieben, auch ihre historische Entwicklung ist über die Zeit hinweg einem einheitlichen Schema gefolgt. Robert Adams hat die­ ses Schema herausgearbeitet, es auf die soziokulturelle Entwicklung einer­ seits der sumerischen Stadtstaaten im 3. Jt. v. u. Z., andererseits der Azteken im 2. Jt. u. Z. angewandt. Er hat damit gezeigt, dass es trotz einer Zeitdiffe­ renz von fünftausend Jahren im Wesentlichen gleich geblieben ist.245 Deshalb erscheint mir die Meinung der meisten heutigen Rechtsethnologen gerecht­ fertigt, dass die archaischen Völker mit den heutigen nicht nur durch eine kontinuierliche, sondern auch durch eine gleichartige Rechtsentwicklung verbunden sind – die vom Menschen gesteuert wurde und die folglich ‚ty­ pisch menschlich‘ war.246

244  Übereinstimmend U. Wesel (2001), Rn. 3: „Die wenigen historischen Nach­ richten über segmentäre Gesellschaften der Frühantike und der Antike sprechen deut­ lich für die Anwendung dieser [komparativen] Methode.“ Wesel führt (hier und in 1985, S. 42 ff.) als Beispiele lediglich das Vorhandensein von Patrilinearität und Ma­ trilinearität sowie das Institut des Brautpreises an – was ich für stark ergänzungsbe­ dürftig halte. 245  R. McC. Adams (1966) – vgl. oben C 3 (α) a. E. 246  Nur als menschliche war die Rechtsentwicklung unilinear; nicht unilinear war sie dagegen, soweit sie von der (sich ebenfalls entwickelnden) menschlichen Umwelt gesteuert wurde. Unterschiedliche natürliche und soziokulturelle Umwelten hatten vielmehr unterschiedliche soziale und politische Kulturen und diese wiederum unter­ schiedliche Rechtsentwicklungen zur Folge. Dass dennoch die Entwicklung eine ‚ty­ pisch menschliche‘ und als solche unilinear blieb, lag daran, dass der Mensch ihrem Verlauf nicht ohnmächtig ausgeliefert war, sondern stets das Seinige dazu beisteuern konnte. Es wäre daher falsch, die Erforschung der Rechtsentwicklung vollständig den Natur- und Sozialwissenschaften zu überlassen und den schöpferischen Beitrag des Menschen zu übersehen. Vgl. dazu auch A. H. Post (1891 und 1894, S. 4) und zu ihm und der „Naturwissenschaft des Rechts“ sowie ihrer Geschichte, „die vor hundert Jahren in der Lethe ertrunken ist“, R. M. Kiesow (1997), bes. S. 72 ff.

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(α) Soziale und politische Strukturen. Die ersten Völker, von denen wir überhaupt mittelbare Kenntnis haben, kannten lediglich zwei soziale Einhei­ ten: die Familie und die lokale Gruppe. Beide enthielten jedoch bereits die Keime für alle Entwicklungen, die das soziale Leben künftig dauerhaft ver­ ändert haben. Von der Familie ausgehend betrafen sie diejenigen sozialen Einheiten, die auf Blutsverwandtschaft oder Heirat beruhten und den Umfang von Clans erreichten, von der lokalen Gruppe aus jene anderen, die auf ört­ licher Nähe beruhten und den Umfang und die Komplexität von Königrei­ chen erreichten. Die ersten lokalen Gruppen, die man als ‚Horden‘ oder ‚Banden‘ (band societies) bezeichnet, bestanden aus etwa 10 bis 80 Mitgliedern. Sie waren aufgeteilt in Familien und bedurften als solche keiner sozialen Organisation, die über die Anforderungen an das Jagen und Sammeln, das Umherziehen und die Verteidigung gegen andere umherziehende Horden oder den Angriff auf sie hinausging. Waren Umwelt und Witterungsverhältnisse günstig, ver­ größerten sich die Familien aufgrund der längeren Lebensdauer der Erwach­ senen und der höheren Zahl ihrer Kinder. Und da die Kinder heranwuchsen und ihrerseits wieder Familien gründeten, vermehrten sich die Zahl der Fa­ milien und die Größe der Horden. Aufgrund ihrer primitiven sozialen Orga­ nisation konnten sie jedoch nie mehr als 150 Mitglieder umfassen; und von da an mussten sie sich teilen. Eine Aufteilung von Horden war jedoch nur solange problemlos, wie der Lebensraum für eine größere Zahl ausreichte. Sobald er dagegen bis an die Grenzen gefüllt war, konnten sich die Horden nicht mehr ausweichen. Sie mussten entweder kämpfend aneinander geraten oder ihr nomadisierendes Leben aufgeben und aus Wildbeutern zu Pflanzern und Viehzüchtern, aus bloßen Nutzern also zu Erzeugern von Nahrung wer­ den. Das Letztere geschah und hatte zur Folge, dass die ökonomischen Ver­ hältnisse sich änderten. Waren diese bisher durch relative Einfachheit ge­ prägt – durch Nutzung der Natur zur Befriedigung der Nahrungsbedürfnisse; durch Produktionen von Kleidung, Waffen und Werkzeugen für den Eigenge­ brauch; durch die Arbeitsteilung lediglich zwischen den Geschlechtern – so wurden sie jetzt auf eine höhere, differenziertere Stufe gezwungen. Äcker mussten geschaffen, Nutzpflanzen angebaut und Samen für die nächste Vege­ tationsperiode ausgesondert und gespeichert werden. Nutztiere mussten zur Versorgung mit Fleisch und Milch domestiziert, gehütet und gepflegt werden. Für die Feldbestellung brauchte man Arbeitsgeräte, für die Vorratshaltung Tongefäße. Zum Schutz der Menschen vor Wid und Wetter musste man feste Behausungen herstellen, für den Schutz der Tiere Ställe bauen. Und zum Schutz all der getanen Arbeit musste man die gemeinschaftlichen Siedlungen auch noch vor feindlichen Überfällen schützen, sie befestigen und ihre Ver­ teidigung organisieren, damit den Lohn der Arbeit nicht andere ernteten.



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Die Zunahme der Bevölkerung diktierte auch den weiteren Verlauf der Entwicklung, ja sie zog sich von nun an wie ein roter Faden durch die ge­ samte Entwicklungsgeschichte hindurch. Es bildeten sich immer größere so­ ziale Einheiten. Zunächst schlossen sich benachbart wohnende Horden zu Stämmen (tribal societies) zusammen. Sie waren anfangs zwar herrschafts­ frei und daher kaum mehr als die Und-Summe der bisher getrennten Einhei­ ten. Doch teils durch den inneren Druck infolge der Vermehrung der eigenen Mitglieder, teils durch den äußeren Druck infolge der Angriffslust der Nach­ barstämme entstanden alsbald Häuptlingsschaften (chiefdoms), die hierar­ chisch organisiert waren, um den feindlichen Bedrohungen besser standhalten zu können. Begleitet wurde diese Entwicklung von einem ökonomischen Aufschwung, der durch die gleichgeschlechtliche Arbeitsteilung unterstützt wurde, weil hierdurch die individualspezifischen Fähigkeiten der Gemein­ schaftsmitglieder besser zur Geltung kamen. Er erbrachte zum einen die Entwicklung und Produktion von immer vollkommneren Gebrauchsgütern, Waffen und Schmuck nicht nur für den Eigen-, sondern auch für den Fremd­ gebrauch, was zur Gründung von Märkten für den Handel führte; er erbrachte zum anderen auch wissenschaftliche und organisatorische Leistungen für den Gemeinschaftsbedarf, was die Gründung von Zentren mit gemeinschaftlichen Verwaltungseinrichtungen, Vorratsspeichern, Schulen und Tempeln zur Folge hatte. Die Bevölkerung wuchs dadurch noch schneller, soweit Kriege oder Seuchen sie nicht dezimierten, und sah sich bald zum Zusammenschluss mehrerer Stämme zu herrschaftsfreien Stammesverbänden (pan-tribal societies) sowie den Zusammenschluss mehrerer Häuptlingsschaften zu hierar­ chisch organisierten Königreichen (kingdoms) gezwungen. Letztere erwiesen sich als besonders erfolgreich, bedingten aber eine noch kompliziertere, hie­ rarchisch noch stärker strukturierte Verwaltung. Um sie aufzubauen, ver­ suchte man zunächst, an die verwandtschaftlichen Strukturen anzuknüpfen; denn auf die loyale Mitwirkung seiner Verwandten glaubte man nach wie vor sich am besten verlassen zu können. Doch mehr und mehr litt man darunter, dass die Vetternwirtschaft (‚Nepotismus‘)247 zum Nachteil der Gemeinschaft den wahrhaft Fähigen den Zugang zu Spitzenpositionen versperrte. Allmäh­ lich ließ man daher an die Stelle der Verwandtschaft bewährte politische Beamte treten, die man teils aus dem militärischen Bereich, teils aus dem Umkreis des Häuptlings- oder Königshofes rekrutierte. Die Tendenz der Or­ ganisation ging dabei allgemein zur Dreistufigkeit: Dörfer wurden durch Vorsteher (‚Dorfschulzen‘) verwaltet, Distrikte durch deputierte Beamte oder Captains, das Land durch Regierungsmitglieder oder Hofbeamte. 247  J. Beatty (1960, p. 36) schreibt hinsichtlich der afrikanischen Verhältnisse: „Traditionally, political office was not thought of hereditary, though it often tended to become so.“

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Insgesamt wirkten also drei eng verbundene Entwicklungen zusammen, die teils äußeren Zwängen entsprangen, teils schöpferisch gestaltet wurden: (1) eine durch das ständige Bevölkerungswachstum erzwungene soziale Ent­ wicklung, der man durch dichteres Zusammenleben in Städten und durch straffere Organisation der Verwaltung begegnete; (2) eine durch die begrenzte Fruchtbarkeit des Bodens und durch den häufigen Wechsel der Witterung erzwungene ökonomische Entwicklung, der man durch vorsorgliches und nachhaltiges Wirtschaften sowie durch den Einsatz bodenverbessernder Mit­ tel gegensteuerte; und (3) eine durch die vorgenannten Entwicklungen er­ zwungene politische Entwicklung, die man durch arbeitsteilige Spezialisie­ rung der Bevölkerung auf (a) entweder die Nahrungsproduktion (‚Bauern‘), (b) oder die Produktion von Werkzeugen und Waffen (‚Handwerker‘), Schmuckstücken und Devotionalien (‚Kunsthandwerker‘), (c) oder die Pro­ duktion von Normen und Anweisungen mit dem Ziel der harmonischen Or­ ganisation des Zusammenlebens (‚Beamte‘) bewältigte. Folgen dieser Ent­ wicklungen waren u. a. das Entstehen von immer größeren sozialen Verbän­ den, eine immer stärkere Anonymität der sozialen Beziehungen und eine immer ausgeprägtere Stratifikation der Gesellschaft. Zu ergänzen bleibt, dass die historisch älteren sozialen, ökonomischen und politischen Strukturen hinter den neuen lediglich zurücktraten, aber nie­ mals völlig verschwanden. Vor allem die verwandtschaftlichen Bindungen, aber auch die Bindungen aufgrund von sozialer Nähe blieben bestehen und bil­deten oft den Hintergrund der sozialen und politischen Entwicklungen. Auf einige der Strukturentwicklungen werde ich daher im Folgenden einge­ hen. (β) Verwandtschaftliche Strukturen. In allen indigenen Völkern bildete der genetisch begründete Zusammenhalt nach dem Grad der Verwandtschaft den Kern des sozialen Lebens und Erlebens. Die Familie war das wichtigste Band.248 Sie galt so sehr als Einheit, dass alle späteren Sitten- und Rechts­ ordnungen sie als natürlichen Baustein begriffen. Sippen und Clans249 waren 248  Dies jedenfalls innerhalb der Zeitspanne, die wir aufgrund ethnologischer For­ schungen einigermaßen überblicken können. Für die Zeit davor ist das Bestehen von Hordenpromiskuität (ähnlich wie bei den höheren Affen) möglich und sogar wahr­ scheinlich. Siehe im Text. 249  Von den Clans werden gewöhnlich noch die lineages unterschieden: Deren Mitglieder können ihre Altvordern – meistens die männlichen – namentlich benennen (Beispiel: die Abstammungsreihe von Abraham), die Mitglieder von Clans können das nicht mehr, sondern führen ihre Herkunft lediglich auf einen gemeinsamen Urahn zurück. Der Unterschied zwischen beiden Abstammungsformen spielt innerhalb der Völker i. d. R. keine große Rolle, zumal viele von ihnen sowohl lineages als auch Clans kennen. Ich unterscheide daher im Folgenden nicht streng zwischen den beiden Formen.



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abgeleitete Einheiten, die ihre Zusammensetzung aus einer Vielzahl von Fa­ milien nicht verleugneten. Die Zugehörigkeit zu ihnen wurde meist unilinear bestimmt, also durch die Abstammung entweder von der Linie des Vaters oder der Mutter. Hieraus folgten dann Namen, Status, Rechte und totemisti­ sche Pflichten, aber auch Inzesttabus und Heiratsgebote (Endogamie- oder Exogamiegebote) sowie Loyalitätsverpflichtungen.250 Berichte aus der Antike lehren uns, dass der Familienkultur wahrscheinlich eine Kultur der Geschlechtsgemeinschaft (Promiskuität) vorausging und zumindest in zwei Grenzgebieten zu den damaligen Hochkulturen noch bestand: zum einen in Li­ byen bei den Auseern und beim Küstenvolk der Nasamoner,251 zum anderen bei den skytischen Völkern der Massageten und der Agathyrsen.252 Die Frauen gehörten dort nicht einzelnen Männern, sondern der Männergemeinschaft insgesamt; Ehebruch be­ gingen folglich nur diejenigen Frauen, die mit einem Stammesfremden Verkehr hat­ ten. Und da Reste dieser Einrichtung sich bis fast in die Gegenwart hinein in Indien253 und bei einigen Naturvölkern254 erhalten haben, spricht manches dafür, dass die Promiskuität ursprünglich eine universelle Erscheinung war.255 Als deren Überbleib­

Personen- bzw. Statusrecht vgl. unten G 4 b. Historien IV 180 (: „Die Auseer leben in Frauengemeinschaft und haben keine eigenen Frauen, sondern begatten sich wie das Vieh. Wenn das Kind ei­ ner Frau herangewachsen ist, versammeln sich die Männer im dritten Monat und sprechen das Kind dem zu, dem es ähnlich ist.“) und 172 (: „Jeder [der Nasamonen] pflegt viele Frauen zu haben, die sie gemeinsam besitzen.“). Ähnliches berichten Plinius (V 8 und 45), Solinus (30 2) und Pomponius Mela (I 8 und 45) vom äthiopischen Volk der Garamanten sowie Strabo (XVI 775 und 783) und Diodor (III 15, 24 und 32) von den ebenfalls äthiopischen Völkern der Troglodyten, Ichthyophagen, Hylo­ phagen und Spermatophagen sowie von einigen Volksstämmen auf den Inseln im ro­ ten Meer und in Arabien. 252  Herodot, Historien I 216 (: „Zwar heiratet jeder [Massagete] eine Frau, trotz­ dem herrscht Frauengemeinschaft.“) und IV 104 (: „Die Agathyrsen … leben in Frau­ engemeinschaft, damit alle untereinander verwandt und verschwägert sind und kein Neid und keine Zwietracht bei ihnen aufkommen kann.“) Ferner berichtet Nikolaus von Damaskus von einer Frauengemeinschaft bei den ebenfalls skytischen Galakto­ phagen und dem Donauvolk der Liburner (S. 510, 513; 517), Pomponius Mela (I 19, 10) dasselbe bei den Mosynen am Schwarzen Meer. 253  K. Friedrichs (1886), S. 459 f.; F. Bernhöft (1889), S. 22; (1991a), S. 29 ff. 254  Dazu Angaben bei C. N. Starcke (1888), S. 130 ff. 255  Wir können sie heute noch bei allen Primaten beobachten, weshalb anzuneh­ men ist, dass sie zumindest die Lebensform der gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Affe war. Rückfälle lassen sich nicht nur in primitiven Kulturen beobachten – so etwa bei den nordamerikanischen Indianerstämmen und den Inuit (vgl. J. Kohler, 1897, S. 325 f.), bei den australischen Aborigines, den Fidschi-Insulanern und den Bewohnern anderer Teile der Erde (M. Kulischer, 1876, S. 150 ff.) – sondern auch in zivilisierten Gesellschaften, wo sie allerdings als ‚Sexorgien‘ sozial disqualifiziert werden. Ob die weibliche Prostitution ihre Wurzeln im Hetärismus hat, ist allerdings zweifelhaft. Wenn jedoch K. Gough (1975, p. 51 ff.) demgegenüber behauptet, dass es niemals Hordenpromiskuität gegeben habe, mag das für den historisch überschauba­ 250  Zum

251  Herodot,

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sel lassen sich die weitverbreitete Sitte der ‚freien Liebe‘ vor der (Einzel-)Ehe256 sowie die ‚Ehe auf Zeit‘ (Mut’a-Ehe) deuten, die bei den schiitischen Muslimen noch heute erlaubt ist, allerdings bis auf einen Tag begrenzt werden kann. Die Formlosig­ keit der Eheschließung (indem man zusammenzieht) und die Möglichkeit ihrer jeder­ zeitigen Auflösung (indem man sich trennt) bei den Wildbeutern zeugt ebenfalls von einer ehemals generellen Lockerheit der Paarbindung. Solche Lockerheit konnte allerdings nur solange aufrechterhalten werden, wie die Zahl der Mitglieder einer Population eng begrenzt war. Sobald dies nicht mehr der Fall war, gliederten sich Gruppen aus, welche eine neue Identität brauchten. Sie such­ ten und fanden sie im Totemismus.257 Der geschlechtliche Zusammenhalt wurde in den größeren Populationen zunächst zwar noch gewahrt, das Prinzip der Endogamie innerhalb der Populationen jedoch durch das Prinzip der Exogamie innerhalb von Totemgruppen ergänzt: Die Frau musste einer anderen Totemgruppe desselben Stam­ mes angehören als der Mann. Ursprünglich, so ist aufgrund der Verwandtschaftsbe­ zeichnungen vieler Naturvölker anzunehmen,258 heiratete sie aber mit ihrem Manne auch dessen Brüder, wie umgekehrt der in eine andere Totemgruppe hinein heiratende Mann mit der Frau auch deren Schwestern heiratete. Daraus folgte, dass der Mann

ren Zeitraum zutreffen, aber höchstwahrscheinlich nicht für den vorangegangenen paläolithischen und vielleicht noch nicht einmal für den mesolithischen Zustand. 256  Nachweise bei P. Wilutzky (1903a), S. 28 ff. Die Ausübung der ‚freien Liebe‘ findet sich im Altertum häufig in Verbindung mit religiösen Bräuchen, etwa als Tempelprostitution. Im altägyptischen Theben beispielsweise wurde die schönste und vornehmste Jungfrau dem Gott Ammon geweiht; dadurch erwarb sie das Recht, sich der freien Liebe hinzugeben, bis sie unter Wehklagen verheiratet wurde (vgl. Strabon XVII 816). Entsprechende Bräuche finden wir in Babylon, in Indien, in Israel (verbo­ ten ausdrücklich in 5. Mose 23 18: „Es soll keine Tempeldirne sein unter den Töch­ tern Israels.“) und bei vielen afrikanischen Völkern. Wie heftig der Kampf der Kultur gegen die ‚freie Liebe‘ war, erkennen wir am Brauch der sogen. Tobiasnächte (nach dem deuterokanonischen Buch Tobias 6 22, wo es heißt: „Nach Verlauf der dritten Nacht aber nimm zu dir die Jungfrau in der Furcht des Herrn.“). Eine Jungfrau soll nach dem Eheschluss also nicht sogleich, sondern erst nach drei Tagen von ihrem Ehemann defloriert werden, andernfalls böse Geister in die Ehe einbrechen. Ebenso lehrte in Indien das Kāmasūtra des M. Vātsyāyana (III 2): „Nach der Hochzeit müssen die Ehepartner bestimmten Geboten unterworfen wer­ den. Drei Nächte lang haben sie ihr Lager auf dem Fußboden zu nehmen, keusch zu leben und die Beigabe von Salz und anderen Gewürzen an das Essen zu vermeiden. Sieben Tage lang haben sie die Keuschheit beizubehalten …“ Ein entsprechender Brauch wird u. a. von einigen afrikanischen Völkern, von den Papuas und von den Azteken berichtet. 257  Vgl. dazu unten J 5 b α. 258  Wertvolle Ausführungen dazu bei J. O. Dorsey (1884) p. XXXVIII ff., 211 ff., der vierzehn Jahre lang als Missionar unter den Omaha-Indianern lebte und vollstän­ dig mit deren Sprache und Lebensgewohnheiten vertraut war. Vgl. ferner die Tafeln bei L. H. Morgan (1871), p. 155, 156, 158, 161; J. Kohler (1897), S. 253 ff. Dass die Beweisführung aus den Verwandtschaftsbezeichnungen der Omaha-Indianer nicht zwingend ist, zeigen allerdings neuere Beobachtungen von F. G. Lounsbury (1965) bei den Trobriandern (Stellungnahme dazu bei S. Kuck, 2001, S. 32 f.).



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts209

mit allen weiblichen Personen der anderen Totemgruppe umgehen durfte, m. a. W. die Institution der Gruppenehe. Doch auch die Gruppenehe stieß an ihre Grenzen, als die Gruppen zu stark wurden und zu zersplittern begannen. Darüber hinaus dürften immer stärker persönliche Zuund Abneigungen eine die überindividuelle Zusammengehörigkeit sprengende Rolle gespielt haben.259 Dies alles drängte zur individuellen (monogamischen oder polyga­ mischen) Paarbindung, die wahrscheinlich auch hormonell begünstigt wurde, weil der Geschlechtsverkehr Genvarianten aktiviert, die zum Zusammenbleiben motivieren. Übergangserscheinungen blieben indes noch lange sichtbar, etwa im gruppenförmigen Zusammenleben von jungen Männern und Frauen, bis sich in höherem Alter die Paa­ re aussonderten. Auch gehört vielleicht hierhin, dass der Ehemann bei vielen Völkern das Recht besaß, seine Frau aus der Bindung an ihn entweder zu verstoßen oder sie vorübergehend zu entlassen oder sie einem Gast zur Verfügung zu stellen (der diese Gabe dann unbedingt annehmen musste).260

Soweit Berichte aus dem Neolithikum vorliegen, war die Begründung ei­ ner Familie durch Heirat bereits überall Brauch oder Sitte. Der Mann erhielt dadurch einerseits einen privilegierten Zugang zu ‚seiner‘ Frau (oder ‚seinen‘ Frauen), andererseits übernahm er die Verpflichtung, für sie und die gemein­ samen Kinder zu sorgen. Hochzeiten wurden in allen höheren Kulturen mit einem großen Fest begangen, dem eine Reihe von Formalitäten vorausging, u. a. weil für die Braut meistens noch ein Preis ausgehandelt und gezahlt werden musste, falls sie, wie üblich, aus ihrer Sippe in die Sippe des Mannes überwechselte. Dort war sie dem Manne gegenüber regelmäßig zur Treue verpflichtet, während dies beim Manne der Frau gegenüber ebenso regelmä­ ßig nicht oder nicht in gleichem Maße der Fall war, weil fast überall die Polygynie erlaubt war. Mit der Ausdifferenzierung von Hierarchien innerhalb der Männerwelt erhielt der Häuptling manchmal ein Vorrecht auf die Frauen seines Stammes – woraus sich spä­ ter das ius primae noctis, das Recht des Fürsten auf die Brautnacht, entwickelte.261

Zur Entwicklung der Familiengründung durch Heirat ist die Ansicht vertre­ ten worden, dass folgende Entwicklung bestanden habe:262 Zunächst sei die Heirat durch Raub der Braut zustande gekommen, später sei es der Kauf ei­ 259  Keine Beweise liegen vor, dass die Gefahr von Kindstötungen seitens rivalisie­ render Männer (vergleichbar etwa den Kindstötungen rivalisierender Löwen oder Berggorillas) zu monogamen Bindungen führte (so jedoch Ch. Opie et al., 2013, aufgrund von statistischen Modellrechnungen). 260  Wir finden diese Sitte u. a. bei den Inuit. Nachweise zur Verbreitung der Sitte bei P. Wilutzky (1903a), S. 45 ff., und bei K. Friedrichs (1889), S. 372 f. Heute ist es mancherorts noch üblich, eine käufliche ‚Dame‘ dem (gut zahlenden) Gast aufs Ho­ telzimmer zu schicken. 261  Dieses Recht wird schon von Herodot bezeugt, und zwar für das in Libyen wohnende Volk der Adyrmachiden (Historien IV 168). 262  Vgl. dazu insbesondere L. Dargun (1883).

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ner Braut gewesen,263 der zur Heirat führte, die Konsensheirat sei dann die modernste Form. Als Tendenzbeschreibung scheint diese Ansicht richtig zu sein; doch haben offenbar darüber hinaus Angebot und Nachfrage nach jun­ gen Frauen oder Männern sowie äußere Umstände die eine oder andere Art der Eheschließung begünstigt. Insbesondere aber lässt sich ein zeitlicher Vorrang der Raubehe vor der Kaufehe nicht nachweisen. Beschränkungen für die Heirat ergaben sich dagegen allzeit aus den Verwandtschaftsverhältnis­ sen: Eng miteinander Verwandte durften sich nicht heiraten, es galt ein Inzesttabu.264 Wer allerdings mit wem eng verwandt war, sodass er den anderen nicht heiraten durfte, wurde erst allmählich und dann unterschiedlich präzi­ siert. Was das innere Gefüge der Ehe anbelangt, blieb der Mann die gesamte hier untersuchte Zeit über der Herrscher; was wechselte, waren lediglich die Funktionen, die sich mit seiner Position in der Ehe verbanden.265 Bei den Wildbeutern galt die Frau noch überwiegend als minderwertig, zum einen weil sie weniger Kraft besaß als der Mann, zum anderen weil sie zur Ernäh­ rung der Familie weniger beitrug. Im Extrem galt sie sogar nur als ein eigen­ tümlicher Teil des Mannes und wurde ihm bei seinem Tod sogleich ins Jen­ seits nachgeschickt. Viele Völker reagierten ferner mit tiefem Unbehagen auf die Menstruation der Frau.266 Bei den Pflanzern errang die Frau eine dem Manne gegenüber stärkere Stellung, wenn sie auf dem Felde mitarbeitete, z. B. das Jäten übernahm. Später verbesserte sich ihre Stellung abermals dort, wo die größere Kraft des Mannes kaum noch zur Geltung kam. Zementiert blieb lediglich die Arbeitsteilung: Der Mann war auf den produktiven Sektor und öffentliche Aktivitäten festgelegt, während der Frau die Hauptlast der Hausarbeit und der Kinderbetreuung zufiel.267 In der Ehe geborene Kinder wurden neben der Mutter auch dem Vater, bei außerehelich empfangenen Kindern dagegen meistens demjenigen Manne 263  D. h. durch Zahlung eines ‚Brautpreises‘ als Entgelt für den Verlust, den die Familie der Braut durch den Abgang einer Arbeitskraft bzw. eines gebärfähigen Mit­ glieds erleidet, weshalb Unfruchtbarkeit der Frau regelmäßig zur Rückabwicklung des ‚Kaufs‘ führte. Sachenrechtliche Wirkungen (‚Eigentumserwerb‘ an der Braut) waren damit aber nicht verbunden (M. Harris, 1989, S. 165). 264  Zur Strafbarkeit seiner Übertretung vgl. unten ζ. 265  Sagte man anfangs noch, dass der Fürst das Volk zu regieren habe wie ein Vater seine Familie, so war man später der Ansicht, dass der Vater seine Familie zu regieren habe wie ein Fürst das Volk. 266  Bei den Aschanti war es einer menstruierenden Frau verboten, einen Priester anzusprechen, weil er dadurch befleckt würde. Auch galt der Geschlechtsverkehr mit einer menstruierenden Frau (baratwe) für beide Teile als todeswürdiges Verbrechen. Vgl. R. S. Rattray (1929/1956), p. 315, 306. 267  Vgl. dazu J. Lopreato/Th. Crippen (2002), p. 195.



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts211

zugerechnet, der als Erzeuger bekannt war. Darüber hinaus konnte eine künstliche Verwandtschaft durch das wechselseitige Trinken fremden Blutes (‚Blutsbrüderschaft‘)268, ferner durch Pflegschaftsübernahme,269 Adoption270 oder Levirat271 hergestellt werden. Als die verwandtschaftlichen Einheiten sich vergrößerten, wurde die hier­ archische Struktur der Ehen und Familien auf die Sippe und den Clan über­ tragen: Die Sippe hatte i. d. R. den ältesten Familienvater zum Oberhaupt, der Clan i. d. R. den Ältesten aus dem Kreis der Sippenältesten zum Chef und obersten Streitschlichter in Friedenszeiten, einen Jüngeren dagegen i. d. R. als Hauptmann in Kriegszeiten. Vereinigten sich mehrere Clans zu einem hierar­ chisch strukturierten Stamm, war i. d. R. einer der Clanchefs dessen Häupt­ ling. Und schlossen sich mehrere solcher Stämme zusammen, geschah dies i. d. R. unter der Herrschaft eines Häuptlings als Fürsten. (γ) Sachenrechtliche Strukturen. Die Entwicklung des Eigentums lässt sich am besten am Grundeigentum veranschaulichen. Im Übrigen steht die Dar­ stellung vor der Schwierigkeit, dass die antiken indigenen Völker zwischen Sachen- und Obligationenrecht nicht unterschieden. Nomadisierenden Völkern lag der Gedanke an ein Grundeigentum noch fern. Sie gingen lediglich davon aus, dass sie ein abgegrenztes Revier (oder eine Wasserstelle in der Steppe, ein Wasserloch in der Arktis) als Überle­ bensgrundlage benötigen, und folgerten daraus, dass sie dessen Nutzung verteidigen müssen. Sesshafte Völker gingen anfangs ebenfalls davon aus, dass sie das Land, das sie als Überlebensgrundlage nutzen und bewirtschaf­ ten, notfalls verteidigen mussten. Ihre im Verhältnis zu den Wildbeutern aber viel stärkere Verbundenheit mit dem bewirtschafteten Land und ihre viel stärkere Abhängigkeit von seiner Fruchtbarkeit begründeten in ihnen zusätz­ lich entweder die Auffassung, dass es aufgrund der Nutzung ihr ‚Eigentum‘ sei, oder aufgrund seiner Fruchtbarkeit das ‚Eigentum‘ derjenigen sei, die den Boden einst urbar gemacht und ihnen als Lebensgrundlage hinterlassen 268  A. H. Post (1894), S. 93 ff. Die Blutsbrüderschaft verpflichtete einerseits zur Blutrache für die Tötung des Blutsbruders, andererseits begründete sie die Mithaftung für Verbrechen des Blutsbruders, u. U. aber auch für die Aufbringung des Brautprei­ ses. 269  Vgl. A. H. Post (1894), S. 96 ff., dort auch Hinweise auf die unterschiedlichen Rechtswirkungen. 270  A. H. Post (1894), S. 99 ff.; N. Rouland (1988), p. 228 f. Die Adoption wurde gewöhnlich mit einer Zeremonie (Scheinentbindung oder Saugenlassen an der Brust) verbunden, welche den Empfang eines Leibeserben symbolisch nachahmte. 271  N. Rouland (1988), p. 249: Die Witwe blieb mit ihrem verstorbenen Mann ver­ heiratet, verkehrte aber jetzt mit seinem jüngeren Bruder. Die Kinder aus dieser Ge­ meinschaft galten dann (u. a. bei verschiedenen Bantuvölkern und bei den Nuern) als solche des verstorbenen Mannes.

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hatten, nämlich ihrer Ahnen. Denn den noch lebendigen Geist dieser Ahnen sahen sie auf immer mit dem Boden verbunden. Doch die Ahnen waren tot; für die immer noch Leben spendende Fruchtbarkeit des Bodens konnten sie nicht mehr sorgen. Deshalb hypostasierten viele Völker zusätzlich, dass an­ stelle der Ahnengeister Erdgeistern diese Aufgabe zukomme und dass es da­ rauf ankomme, auch deren Wohlwollen zu gewinnen. Wie aber? Während das Wohlwollen der Ahnengeister sich bereits durch die Bewahrung der über­ kommenen Sitten erhalten ließ,272 musste das Wohlwollen der Erdgeister erst erworben werden. Also opferte man ihnen sowohl im Frühjahr bei der Aus­ saat mit der Bitte um reiche Ernte als auch im Herbst als Dank dafür. Zusätz­ lich dachte man daran, dass man dereinst das Land an eine künftige Genera­ tion werde überantworten müssen. Deshalb entzog man dem Boden nicht mehr an Kraft, als man ihm durch Ruhezeiten und Düngung zurückgeben konnte. (Nachhaltiges Wirtschaften als Aufgabe war also schon damals gang und gäbe!) Die Verantwortung dafür passte man der Entwicklung an: Wo noch der Hackbau vorherrschte und der Arbeitsanteil stärker hervortrat, ten­ dierte man zum Gemeinschaftseigentum und zur gemeinschaftlichen Verant­ wortung derjenigen, die sich an der Arbeit beteiligten; wo dagegen schon Pflugackerbau betrieben wurde, tendierte man zum Privateigentum und zur Alleinverantwortung.273 Soweit am Land Privateigentum bestand, umfasste es nicht nur den Boden, son­ dern auch die mit dem Boden fest verbundenen Sachen sowie den aus dem Boden gewonnenen Nutzen (also etwa die Wohnstätten und die Feldfrüchte). Besonders ge­ regelt war das Eigentum dort, wo einzelne Familien den Boden, den sie durch Anlage von Bewässerungseinrichtungen erst fruchtbar gemacht hatten, im Grab- oder Hack­ bau bearbeiteten. Dort wurde ihnen regelmäßig das alleinige Ernterecht an den Früch­ ten zugestanden.274

Ein grundsätzlicher Wandel in den Eigentumsverhältnissen war häufig mit der Stratifizierung der Gesellschaft verbunden. Der oberste Herrscher, etwa 272  Vgl. dazu J. Herbig (1988), S. 64 ff., 73 f.: Indigene Völker bedienten sich des Ahnenkults allerdings nicht nur, um den inneren Zusammenhalt ihrer Gemeinschaft zu stärken und um ihre angeborenen Verhaltensweisen kulturell zu integrieren, son­ dern auch, um ihr Verhalten mittels Interpretation den wechselnden Umweltbedingun­ gen schneller anpassen zu können, als dies genetisch möglich gewesen wäre. In ihren Glaubensüberzeugungen waren meistens Erfahrungen von Jahrtausenden gespeichert, sodass „jede neue Generation in den wenigen Jahren der Sozialisation das Ergebnis einer langen evolutionären Anpassung an die natürlichen und sozialen Gegebenheiten ihres Lebensraums übernehmen konnte“. 273  J. Goody (1976). 274  Typisch sind die Verhältnisse bei den Damara, einem vorwiegend als Jäger und Sammler lebenden, aber daneben auch Gartenanbau und Kleinviehhaltung betreiben­ den Volk in Namibia: Wer ein Stück Land urbar gemacht und bebaut hatte, durfte die Früchte ernten. Dagegen waren offene Quellen und künstlich geöffnete Wasserlöcher Allgemeingut (H. Vedder, 1923, S. 78 f.).



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts213

ein König, beanspruchte das gesamte Land für sich und räumte den ihm un­ tergebenen Häuptlingen lediglich ein Untereigentum an Teilen davon ein. Den Familien, die am unteren Ende der Herrschaftspyramide standen, über­ ließ er das Land lediglich zur Nutzung mit der Maßgabe, zusätzlich auch noch sein Privatland zu bebauen, ohne dafür entlohnt zu werden.275 Ein ‚Eigentum‘ an beweglichen Sachen (wozu bei einigen nomadischen Völkern auch mitgeführte Behausungen gehörten) gab es zwar schon vor der Sesshaftigkeit. Gegenständlich beschränkt war es jedoch auf Lagerstätten276 sowie auf gewisse höchstpersönliche Güter wie die Waffen des Mannes277 oder den Schmuck der Frau. Da diese Sachen regelmäßig als Teile der Per­ sönlichkeit galten und mit magischer Wirkung ausgestattet waren, war das ‚Eigentum‘ an ihnen allerdings weniger ein Sachen- als ein Persönlichkeits­ recht.278 Typisches Sacheigentum konnte dagegen an der Beute begründet werden: bei den nomadisierenden Völkern vor allem an der Beute aus der Jagd, bei den kriegführenden Völkern an der Beute aus Raub und Plünde­ rung. Allerdings handelte es sich selbst insoweit nicht um eine Rechtsposi­ tion im heutigen Sinne, sondern eher um ein rechtlich anerkanntes Besitzver­ hältnis, das zudem beschränkt sein konnte etwa durch die Verpflichtung, die Jagdbeute an die Genossen zwecks Teilung auszuliefern oder die Kriegsbeute dem Häuptling zu überlassen, damit er sie entweder für sich behalten oder nach Belieben verteilen konnte. ‚Eigentum‘ in einem frührechtlichen Sinne war dagegen, was jemand durch Erstokkupation erlangte oder sonst als ihm gehörend kennzeichnete, darüber hinaus alles, was er durch Arbeit oder be­ sondere Fertigkeit geschaffen hatte – es war das Produkt seines Fleißes oder seines Geistes unabhängig davon, ob es einen materiellen oder immateriellen Wert besaß. Wer eine technische Erfindung gemacht oder ein künstlerisches Werk geschaffen hatte, konnte sich gegen Nachahmer allerdings nicht schüt­ zen. Es galt lediglich als sittenwidrig, fremdes Geistesgut als eigenes auszu­

275  Vgl. J. Goody (1971), p. 30 ff. Generell zur Entwicklung des Feudalismus in Afrika, p.  1 ff. 276  Zum allgemeinmenschlichen Bedürfnis nach einem ‚eigenem Heim‘ mit eige­ ner Schlafstatt und eigener Feuerstelle vgl. I. Eibl-Eibesfeldt (2004), S.  859 ff. 277  In Knochen- und Eisenwaffen eingeritzte ‚Eigentumszeichen‘ gehen bis in die Zeit des Altpaläolithikums zurück. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil die Waffen zweifellos von jedermann hergestellt werden konnten, wenn auch vielleicht mit eini­ ger Mühe und Zeitaufwand. Trotzdem hat sich ein Sonderrecht an den Handwaffen des Mannes bis weit in die Neuzeit hinein erhalten (vgl. etwa Sachsenspiegel I 22 § 4, I 24 § 3; preußisches ALR II 1 §§ 502 ff.). 278  Als Teil eines individuellen Persönlichkeitsrechts oder als eines überindividu­ ellen Familien- bzw. Gruppenrechts wird man ferner das ‚Eigentum‘ an Wappenzei­ chen, Gesängen, Zauberformeln u. ä. ansehen dürfen. Vgl. dazu R. Schott (1987), S.  296 f. m. w. Nachw.

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geben und daraus Gewinn zu ziehen.279 Deshalb konnten sich die Handwer­ ker, Mediziner, Sänger und Geschichtenerzähler zu selbstständigen Ständen herausbilden. (δ) Erbrechtliche Strukturen. Die Vererbung von Sachen spielte in alter Zeit nur insoweit eine Rolle, wie es sachenrechtliches Eigentum gab. Erb­ rechtliche Normen gab es daher noch nicht bei Wildbeutern; was denen ausnahmsweise allein gehörte, wurde mit ihnen beerdigt, vernichtet oder einfach nicht mehr benutzt. Erst innerhalb der bäuerlichen Familien brauchte man Normen für den Nachlass, und zwar je nach Sitte in patrilinearer oder in matrilinearer Folge. Die patrilineare Erbfolge kam entschieden häufiger vor. Sie führte bereits unter Lebenden zu Ausgleichsforderungen der Söhne an den Vater, sobald sie heirateten und den Übergang einer Braut in ihren Clan durch Zahlung eines Preises an den Clan der Braut entgelten mussten. Mit dem Tode des Vaters ging dann der Nachlass meist vollständig auf die Söhne über,280 während seine Witwe nicht oder nur zu einem geringen Teil erbbe­ rechtigt war. Um sie dennoch nicht mittellos zu stellen, gab man ihr entweder das Recht, ihre Wohnung zu behalten und dort von einem der Söhne unter­ halten zu werden, oder aber mit einem Bruder des Erblassers eine Levirats­ ehe einzugehen, so dass diesem ihre Versorgung oblag. Für die Töchter än­ derte sich mit dem Tode des Vaters nur so viel, dass an seiner Statt der älteste Bruder alle Rechte und Pflichten übernahm. Bestand ausnahmsweise281 eine matrilineare Tradition, entfiel der Ausgleichsanspruch der Söhne zu Lebzei­ ten: Sie wechselten zum Zeitpunkt ihrer Heirat in den Clan der Frau, sodass sie keinen Brautpreis zu zahlen hatten,282 und nach dem Tod ihrer Mutter gingen sie im Extremfall völlig leer aus, weil der gesamte Nachlass an die 279  Zur Bedeutung des geistigen Eigentums in der Antike siehe J. Kohler (1880). Ferner E.-J. Lampe/U. Wölker (1976), S. 141 f.: „Eine wichtige Rolle dürfte gespielt haben: dass der Bruch des äußeren Rechtsfriedens beim Eingriff in das ‚geistige‘ Gut nicht so offensichtlich zutage tritt wie beim Eingriff in das körperliche Eigentum; dass anders als beim Eingriff in körperliches Eigentum Selbsthilfe in Form der Not­ wehr meistens unmöglich ist und deshalb auch das Recht keinen Anlass sah, stellver­ tretend für den Geschädigten den Eingriff abzuwehren; schließlich dass die positive Kennzeichnung der negativ leichthin Immaterialgüter genannten Rechtsobjekte natur­ gemäß größere Schwierigkeiten bereitete als die Kennzeichnung der materiellen Gü­ ter.“ Zur Kennzeichnung materieller Güter vor der Erfindung der Schrift mittels Ei­ gentumszeichen vgl. unten H 2 e. 280  Vielfach war es allerdings auch Sitte, dass nur der älteste Sohn als neues Fami­ lienoberhaupt erbte, alsdann aber seine Brüder unterhalten musste. 281  Eine eigene historische Stufe der Matrilinearität gab es nicht (und noch weni­ ger eine solche des Matriarchats). Soweit ausnahmsweise Matrilinearität bestand, konnte sie sich zur Patrilinearität entwickeln, nicht aber umgekehrt. Dazu U. Wesel (1980), S. 77. 282  Zum Ausgleich musste oft ein Kind aus der Ehe dem Clan des Mannes über­ antwortet werden.



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Töchter ging. Starb allerdings der Vater zuerst, traten je nach Sitte unter­ schiedliche Regelungen in Kraft: Beispielsweise konnte das Mobiliarvermö­ gen dann an dessen Geschwister (mit denen er über seine Mutter verwandt war) oder an deren Kinder fallen, während das Immobiliarvermögen vater­ rechtlich vererbt wurde.283 Eine testamentarische Erbfolge schied bei nicht-schriftlichen Völkern von vornhe­ rein aus. Was nicht der Sitte gemäß vererbt werden sollte, musste zu Lebzeiten ver­ teilt werden.

(ε) Obligationenrechtliche Strukturen. Historische Wurzel des Obligatio­ nenrechts war der stumme Warentausch primitiver Völker: Weil der Vertrags­ gedanke bei ihnen nicht einmal keimhaft ausgebildet war, dachte und han­ delte man in wirtschaftlichen Transaktionen, ohne darüber hinaus in eine ir­ gendwie transzendent überhöhte soziale Beziehung zu treten.284 Eine Partei legte ihre Waren (z. B. ein erlegtes Wild) an einer bestimmten Stelle nieder und zog sich zurück; die andere Partei erschien, legte neben die Ware, die sie zu erhalten wünschte, ihrerseits eine Ware (z. B. Bananen) und zog sich ebenfalls zurück. Die erste Partei kehrte zurück und besah sich die Gegenleistung. War sie da­ mit zufrieden, dann nahm sie sie an sich und ließ ihre Ware liegen; war sie nicht zufrieden, nahm sie entweder ihre Ware zurück oder ließ sie samt der angebotenen Gegenleistung liegen, sodass der Gegner einen anderen Gegenstand dafür anbieten konnte. Hierbei verhielten sich selbst verfeindete Parteien streng redlich.285

Der wahrscheinlich frühzeitig ausgebildete Gabentausch stand der stum­ men Art des Warentausches einerseits nahe, andererseits entgegen, weil bei ihm die soziale Funktion die wirtschaftliche fast vollständig verdrängte.286 283  Nachweise zum Ganzen bei L. von Dargun (1892), S. 135  ff. Zu den Erb­ schaftsregelungen bei den Minangkabau auf Sumatra, der größten heute noch existie­ renden matrilinearen Gemeinschaft, vgl. F. von Benda-Beckmann (1979). 284  Wie etwa im altrömischen nexus. 285  Ein Beispiel schildert Herodot (IV, 196): Wenn die Karchedonier (Karthager) nach Nordwestafrika (ehemals West-Libyen) fahren, „laden sie ihre Waren ab und legen sie am Strand nebeneinander aus. Dann steigen sie wieder in die Schiffe und geben ein Rauchsignal. Sobald die Einheimischen den Rauch sehen, kommen sie ans Meer, legen Gold als Preis für die Waren hin und ziehen sich von den Waren wieder zurück. Dann gehen die Karchedonier wieder an Land und sehen nach. Entspricht das Gold nach ihrer Meinung dem Wert der Waren, so nehmen sie es an sich und fahren ab; andernfalls ge­ hen sie wieder auf ihre Schiffe und bleiben dort sitzen. Jene aber nähern sich dann wieder den Waren und legen Gold dazu, bis sie sie zufriedenstellen. Keiner fügt dem andern Schaden zu. Die einen rühren das Gold nicht eher an, als bis es ihnen den Waren gleichwertig dünkt; die andern berühren die Waren nicht eher, als bis die Karchedonier das Gold angenommen haben.“ Weitere Nachweise bei K. Friedrichs (1896), S. 88, und bei R. Redfield (1950). In der Gegenwart haben die Kpelle für ‚Markt‘ noch immer ein Wort, das übersetzt ‚Busch‘ bedeutet (D. Westermann, 1921, S. 37). Weitere Beispiele für einen ‚stillen Tausch‘ schildert W. Fikentscher (2016), p. 387. 286  Auch bei nicht-menschlichen Primaten hat man diese Art des Tausches beob­ achtet, vgl. R. Boyd/J. B. Silk (2012), p.  213 ff.

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Sein Prinzip blieb zwar die Reziprozität, diesmal jedoch bezogen nicht auf die ausgetauschten wirtschaftlichen Werte, die allenfalls eine untergeordnete Rolle spielten, sondern auf das Geben und Nehmen.287 Das Prinzip des reziproken Gebens und Nehmens wurde stets nur in egalitären Gesellschaften rein durchgeführt, in hierarchischen Gesellschaften dagegen agonis­ tisch durchbrochen, weil das Geben dort oft Mittel zur Darstellung angehäufter wirt­ schaftlicher Potenz war.

Gleichsam eine Verbindung zwischen dem stummen Warenaustausch und dem Gabentausch stellte in Stammesgesellschaften der kommunikative Austausch dar. Er bestand darin, dass Personen Sachen austauschten, denen sie einen in etwa gleichen Wert beimaßen, diesen Wert jedoch nach dem Nutzen berechneten, den die Sache für die empfangende Partei haben werde.288 Da­ bei lag es ihnen fern, ihr kommunikatives Verhältnis als ein obligatorisches zu begreifen. Wer dem anderen eine Ziege übergab, um dafür einen Sack Getreidesamen einzuhandeln, entäußerte sich vielmehr seines Eigentums in der Erwartung, dass auch der andere aus seinem Eigentum etwas hergeben werde. Erfüllte sich seine Erwartung nicht, weil die Gegenleistung ausblieb, dann war das für ihn nicht etwa eine Vertragsverletzung, sondern ein unan­ ständiges Verhalten, das ihn entweder zur eigenmächtigen Rücknahme seiner Sache oder zur Vergeltung berechtigte. Wichtiges Beispiel für den kommuni­ kativen Austausch war der Austausch von Frauen: Gab eine Sippe eine ge­ bärfähige Frau einem Manne aus einer anderen Sippe zur Ehe, dann erwartete man, dass die Sippe den Nutzen in Form des Brautpreises abgalt.289 Einen weiteren Schritt in der Entwicklung des Vertragsgedankens bedeu­ tete der Handelstausch (Tausch als Handelsgeschäft). Das Vorhandensein von Märkten in den Stammesgebieten war hierfür Voraussetzung. Sie erlaub­ ten einen Wettbewerb zwischen den Händlern (bei knappen Waren auch zwischen den Abnehmern), und sie förderten erstmals auch den Bedarf nach Krediten und damit nach einer Rechtsform, welche die Gegenleistung für eine Leistung nicht auf einen konkreten Gegenstand (wie bei der Leihe) be­ zog, sondern auf einen Gegenwert. Nach der Erfindung des Geldes290 konnte 287  Grundlegend zum Gabentausch der Versuch von M. Mauss (1996), die obliga­ torische, aber nicht rechtlich bindende Kraft der Gabe spirituell durch den „Geist der Gabe“ zu erklären. Dass man Geschenktes nicht weiterverschenken darf, ist bei Kin­ dern noch heute verbreitete Ansicht, sodass man darin möglicherweise eine angebo­ rene Empfindung zu erkennen hat (vgl. E.-J. Lampe, 2006, S. 406). 288  C. S. Belshaw (1965), p. 3: Es ging den Parteien des Austauschs also um den persönlichen, nicht um den wirtschaftlichen Nutzen. 289  Modernes Beispiel eines kommunikativen Austauschs sind Zahlungen eines Staates an einen anderen, aus dem er ausgebildete Facharbeiter abgeworben hat. 290  Geld hat seinen Ursprung wahrscheinlich im sakralen Bereich zur Bemessung der Opfergaben. Mit der Arbeitsteilung und dem Beginn des Tauschhandels erhielt es



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so an die Stelle des Tausches der Kauf als Austausch von Ware gegen Geld treten und alsbald zur Grundform des Austauschgeschäfts überhaupt wer­ den.291 Außer den Tausch- und Kaufgeschäften erlangten bei sesshaften Völkern Pachtverhältnisse erhebliche Bedeutung. Sie dienten dem Ausgleich zwi­ schen einem Zuviel an nutzbarem Grund auf der einen Seite und einem Zu­ wenig davon auf der anderen Seite, sodass ein Teil davon gegen die Ver­ pflichtung zur Zahlung eines Nutzungsentgelts den Besitzer wechseln konn­ te.292 (ζ) Strafrechtliche Strukturen. Das Strafrecht der indigenen Völker zeigt das Bestreben nach (reziproker) Vergeltung von Missetaten.293 Man unter­ schied zwischen intrasozialen und intersozialen Verletzungshandlungen. Für Verletzungen innerhalb einer Familie, einer Hausgenossenschaft, einer Sippe oder eines Clans (in-group-Verletzungen) wurde der Übeltäter bestraft, weil er sich erstens gegen den internen Sittenkodex vergangen hatte, zwei­ tens zur Bekräftigung eben dieses Kodex’ und drittens zwecks Erziehung des Übeltäters zu künftig sittenkonformem Verhalten. Im Falle schwerer oder zusätzlich eine ökonomische Funktion. Als ‚Geld‘ kamen ursprünglich alle Waren in Betracht, die der Sammlung und Aufbewahrung fähig waren. Sieht man davon ab, dass lange Zeit Vieh als Tauschobjekt Geld eher vertrat als war, sind Muscheln das erste weitverbreitete Zahlungsmittel gewesen. Zum wichtigsten aller Zahlungsmittel wurden jedoch, nachdem in Ägypten und in Babylon um die Wende vom 3. zum 2. Jt. die Waage erfunden wurde, Silber und Gold, ferner das bei Homer (Il. VI 48; X 379) erwähnte „geschmiedete Eisen“. Münzgeld wurde erstmals seit Mitte des 7.  Jh.s  v. u. Z. in Lydien geprägt. Seine Einführung in Athen ermöglichte den Übergang zur Markt­ wirtschaft, da die Bevölkerung mit der kurz vor 500 v. u. Z. eingeführten Silberdenar­ münze auf jedem Markt Waren für den täglichen Bedarf einkaufen konnte. Vgl. zur Geschichte des Geldes K. E. Born (1981). Zur Entwicklung der Zahlungsmittel auch unten K 6 b γγ. Ausführliche Nachweise über die Verbreitung von Geld als Zahlungs­ mittel innerhalb von Stammesgesellschaften des frühen Altertums bei K. Friedrichs (1896), S.  42 ff. 291  Die Freiheit des Handels auf den Märkten war regelmäßig durch den (heiligen) Marktfrieden geschützt. Nachweise dazu bei K. Friedrichs (1896), S. 89. 292  Beispiele etwa bei R. Thurnwald (1934), S. 54 f. 293  H. Kelsen (1943/1982) weist daher richtig darauf hin, dass der Ursprung des Strafrechts nicht in der Idee der Willensfreiheit und der daraus resultierenden Verant­ wortung liegt, sondern in der Idee der Vergeltung. Diese hatte ihren Vorläufer wiede­ rum in der Rache, die auch schon sozial lebende Tiere üben: „Es mag wohl sein, dass in dem – nicht erst beim Menschen, sondern vielleicht schon bei dem gesellschaftlich lebenden Tier zu beobachtenden – Rachetrieb noch der elementare Abwehr-Reflex steckt, den ein von außen verursachter Schmerz auslöst. Aber damit dieser Reflex zu einer mehr oder weniger bewussten, auf den Urheber gerichteten Aktion wird, wie es die Rache ist, muss der ursprüngliche Instinkt eine – nur durch das gesellschaftliche Zusammenleben mögliche – Modifikation erfahren“ (a. a. O. S. 54).

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wiederholter Übeltaten derselben Person, bei der interne Maßnahmen wie Arbeitsauflagen, Bußen an den Verletzten, Demutsgesten gegenüber der Ge­ meinschaft und das Gelöbnis zur Besserung nicht mehr ausreichten, trennte man sich von ihr, schickte sie z. B. in die Wüste oder ins ewige Eis, wo sie dann, allein gelassen, jämmerlich umkam. Oder man erklärte sie für friedlos, entzog ihr den Schutz für Leib und Leben, ließ sie gar töten und beauftragte Angehörige mit dem Vollzug.294 Verletzungen von außerhalb (out-group-Verletzungen) trat man mit ande­ ren Mitteln entgegen. Hier galt es, das ausgleichend zu vergelten, was man erlitten hatte (‚Talionsprinzip‘), damit man nicht Schwäche zeigte: die Tö­ tung eines Stammesangehörigen also durch die Tötung eines Mitglieds des anderen Stammes, den Raub von Rindern durch den Raub einer entsprechen­ den oder noch größeren Zahl. Sittliche Grenzen gab es nicht; denn es ging nicht um die Bekräftigung einer Sittennorm, sondern um Gegenwehr und Selbstbekräftigung durch Selbstbestätigung. Insbesondere bei der Blutrache trat indes noch ein metaphysisches Motiv hinzu: die Genugtuung, die man dem Getöteten schuldete. Da dessen Geist im Jenseits fortlebte und unter dem angetanen Unrecht litt, hatten die Lebenden die Pflicht, ihm im Dies­ seits diejenige Genugtuung zu verschaffen, die er sich selber nicht mehr verschaffen konnte. Die Blutrache bot sich nicht nur dem Gefühl der Kränkung als gerechte, weil rezi­ proke, Vergeltung an. Sie hatte auch eine präventive Bedeutung; denn wo sie drohte, hielt sie die Angehörigen einer Sippe von leidenschaftlichen Gewalttaten gegenüber Angehörigen einer anderen Sippe ab. Ihr Anlass konnte allerdings nicht nur die vor­ sätzliche Tötung eines Sippenangehörigen sein, sondern auch eine irreale Ursache haben, z. B. einen bösen Zauber295 oder die leidenschaftliche Erregung über eine wirklich oder vermeintlich angetane Schmach (‚blutige Rache‘). Derart abgestraft wurden Verletzungen vor allem der sexuellen Ordnung (Ehebruch der Frau, Entfüh­ rung u. dgl.), der Ehre eines Höhergestellten und selbst des Eigentums: Noch nach dem römischen XII-Tafelgesetz,296 dem altdeutschen und dem altrussischen Recht297 durfte ein Dieb, der auf frischer Tat ertappt wurde, erschlagen werden. 294  L. Pospíšil (1958, p. 90) schildert ein solches Verfahren bei den Kapauku Papuas, einem Bergvolk im Herzen Neu Guineas. Es wurde auch angewandt, wenn sich jemand gegen die Grundlagen der Gemeinschaft verging, etwa Verrat übte oder die schützende Gottheit beleidigte: Er wurde entweder getötet oder aus der Gemeinschaft ausgestoßen und der Rache der beleidigten Gottheit überlassen. 295  Beispielsweise berichtet E. Zintgraff (1895, S. 113) aus Kamerun, dass bei ei­ ner Jagd einer seiner Wei-Leute von einem Elefanten aufgespießt und getötet wurde, worauf die Wei-Leute ernstlich behaupteten, ein ihnen feindlich gesinnter Eingebore­ ner habe sich in den Elefanten verwandelt, und um Munition baten, um ihrerseits gegen das Dorf zu Felde zu ziehen. 296  XII-Tafelgesetz 8 12. 297  L. K. Goetz (1912), S. 31.



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts219

Bei Verletzungen nach außerhalb, d. h. gegenüber dem Mitglied einer an­ deren sozialen Einheit, unterschied man: Wurde die Verletzung von der Ge­ genseite ausschließlich dem Täter zugerechnet, dann konnte man sie intern ignorieren; bei einer schweren oder vorsätzlich begangenen Verletzung verlor der Täter allerdings intern an Ansehen. Wurde die Verletzung aber (wie re­ gelmäßig) der Einheit des Täters (seiner Sippe, seinem Clan) zugerechnet, musste sie auch interne Folgen haben.298 Im Falle eines Mordes konnte dann entweder der Täter an die Sippe des Ermordeten ausgeliefert oder stattdessen (z. B. von nahen Angehörigen) Schadensersatz oder ein Blutgeld (etwa in Form von Vieh) geleistet werden. Eine derartige Leistung versuchte man anschließend vom Täter wieder einzutreiben. Wenn dies nicht gelang, ver­ sklavte oder tötete man ihn und verwüstete sein Haus.299 Einflüsse des internen auf das externe Strafrecht und umgekehrt hat es wahrscheinlich anfangs nicht gegeben. Doch mit der Vergrößerung der Ver­ bände und der Verstärkung des Austauschs zwischen ihnen ließen sich die strengen Grenzen zwischen Interna und Externa nicht mehr aufrechterhalten. So kam es, dass die innere Einstellung zu einer Übeltat, die für deren interne Aufarbeitung schon immer eine Rolle gespielt hatte, ihre Bedeutung auch auf die externen Beziehungen ausweitete. Denn im Raum der eigenen Gemein­ schaft war es frühzeitig klar, dass man einem Täter, der absichtslos ein Un­ heil angerichtet hatte, eher verzeihen könne als einem, der dies vorsätzlich oder gar aus Hass heraus getan hatte. In späterer Zeit finden wir aber auch extern fast überall Bestrebungen, dem Fortwirken der Rache dort eine Grenze zu setzen, wo kein böser Wille im Spiel war. Insbesondere erschien es bei einer unbeabsichtigten Tötung nicht nötig, dass ‚die Tat den Mann tötet‘. Ein Wergeld oder die Auslieferung einer (gebärfähigen) Tochter als Ersatz für die 298  W. Goldschmidt (1967), der in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts das Recht der Sebei (einer Gruppe von Stämmen in Ostuganda) untersuchte, bemerkt dazu (p. 233): „Matters internal to the clan are handled in maximizing clan strength. Thus, on the one hand, fratricide may go unpunished for fear of further weakening of the clan, whereas a recidivist thief will be killed by his clansmen to avoid retaliation by outsiders which might be taken against a clansman, without elimination of the source of trouble.“ 299  L. Pospíšil (1958) berichtet folgenden Fall von den Kapauka-Papuas, der zum einen die gemeinsame Verantwortlichkeit von Vettern für einen Mord aus der Außen­ perspektive, zum anderen die Hauptverantwortlichkeit des Täters aus der Binnenper­ spektive illustriert (case 2, p. 147): Ein Mitglied der eigenen Einheit hatte ein Mit­ glied einer anderen Einheit ermordet. Man hatte ihn daraufhin der anderen Einheit ausgeliefert, doch gelang ihm von dort die Flucht. Als man ihn nach Ablauf von zehn Monaten noch immer nicht fand, verlor der Bruder des Ermordeten die Geduld und tötete einen Vetter des flüchtigen Mörders. Damit war die reziproke Gleichheit zwi­ schen den Gruppen hergestellt. Nicht dagegen war die Angelegenheit auch intern abgetan. Vielmehr musste der Mörder, als seine Gruppe ihn später fassen konnte, dem Vater seines Vetters ein Blutgeld bezahlen.

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Schwächung des Geschlechts oder des Stammes, dem der Getötete angehörte, sowie das religiöse Opfer als Sühnung und Abbitte gegenüber dem Geist des Toten erschienen als materielle und ideelle Mittel ausreichend, um ein neues Band zwischen den Gemeinschaften zu knüpfen und Versöhnung an die Stelle von Krieg treten zu lassen.300 Wichtigste Verbrechen waren in der vorgeschichtlichen Zeit: (1) Totschlag: Wie erwähnt, wurde er unterschiedlich behandelt je nachdem, ob er innerhalb einer Familie, eines Clans oder eines Stammes und ob er vorsätzlich oder unvorsätzlich begangen wurde. Kam es innerhalb einer Familie zum Brudermord, dann war das i. d. R. eine Angelegenheit, die vom Familienoberhaupt nach freiem Ermessen abgeurteilt wurde.301 Innerhalb eines Clans musste die vorsätzliche Tötung eines Sippenfremden dagegen durch die beteiligten Sippen ausgehandelt werden, et­ wa derart, dass die Sippe des Mörders diesen an die Sippe des Ermordeten ausliefer­ te, die dann mit ihm nach Belieben verfahren durfte.302 Gehörten Täter und Opfer verschiedenen Clans an, war die Reaktion unterschiedlich, weil dann zwar das Ta­ lionsprinzip (Leben gegen Leben) galt, dieses jedoch oft aus Furcht nicht angewendet wurde, weil eine einmal angestoßene Folge von Rachetaten sich oft nicht mehr anhal­ ten ließ.303 Theoretisch konnte jedes Mitglied aus dem Clan des Mörders der Rache des anderen Clans zum Opfer fallen; praktisch wurde in den meisten Fällen allein die Sippe des Mörders und innerhalb seiner Sippe allein der Mörder zur Rechenschaft gezogen.304 Einige Stämme hatten ferner schon frühzeitig die Sitte entwickelt, dass 300  So etwa genügte bei den Sebei als Folge der zufälligen Tötung eines Clanfrem­ den der symbolische Ersatz durch ein Rind oder ein Schaf. Auch bei einer verschul­ deten Tötung konnte der Clan des Getöteten die Kompensation durch Rinder akzep­ tieren, die dann der Clan des Täters aufzubringen hatte. Um sie zu beschaffen und nicht aus der eigenen Herde liefern zu müssen, hatte der Clanchef keine anderen Druckmittel als „pressures of an informal kind, social pressures …, pressures of po­ tential sorcery“ (W. Goldschmidt, 1967, p. 243). 301  Vgl. dazu I. Schapera (1955). L. Pospíšil (1958) schildert allerdings auch einen Fall, wo ein Geisteskranker, der zwei seiner Brüder ermordet hatte, unmittelbar an­ schließend von Zeugen der Tat durch Schüsse in Brust und Unterleib getötet wurde, ohne dass dies weitere Folgen gehabt hätte (case 5). 302  Auch in diesem Fall blieb der Mörder allerdings oft von Strafe verschont, weil man befürchtete, durch seine Tötung den Clan noch weiter zu schwächen (W. Goldschmidt, 1967, p. 233 f.). 303  Bei den Suku (Kongo) töteten die Mitglieder der Gruppe des Opfers deshalb keinen Angehörigen aus der Gruppe des Täters, sondern aus einer dritten, unbeteilig­ ten Gruppe – was den Konflikt zwischen den beteiligten Gruppen zwar beendigte, jedoch auf Kosten seiner Ausweitung auf eine unbeteiligte Sukugruppe. (I. Kopytoff, 1961). 304  H. P. Gulliver (1963), p. 127 ff: Bei den Arusha, einem Masai-Stamm im Nor­ den Tansanias, verhandelte die Gruppe des Opfers ausschließlich mit der des Täters über die Höhe des Blutgelds, nicht mit dem Täter selbst; intern musste jedoch der Täter den größten Teil davon bezahlen. Nach W. Goldschmidt (1967) sah auch das Recht der Sebei (oben Fn. 298) primär eine Verantwortung des Clans vor, wenn eines seiner Mitglieder einen Mord beging. Goldschmidt stellte folgende Grundsätze für



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts221

statt der Auslieferung des Mörders oder einer anderen Person lediglich ein Blutgeld zu zahlen war. In diesem Fall nahm der zahlende Clan anschließend intern den Mör­ der in Anspruch.305 (2) Inzest war überall ein schweres Verbrechen. Biologisch beruht das Tabu höchst­ wahrscheinlich auf dem Selektionsdruck zur Inzuchtvermeidung; die vorwiegend re­ ligiöse Begründung ist dagegen lediglich dessen kulturelle Verstärkung und vor allem dort dringlich, wo kleinere Gemeinschaften eng beieinander lebten und sie daher auf die räumliche Verteilung bei der Fortpflanzung achten mussten.306 Inzest war infolge­ dessen bei Jägern und Sammlern mutmaßlich stärker tabuisiert als bei Ackerbauern und Viehzüchtern. Was Inzest war und welche Personen unter das Tabu fielen, wurde allerdings jeweils von der Sitte unterschiedlich bestimmt.307 Sexuelle Beziehungen zwischen Vettern und Basen waren überall häufig, gleichgültig ob als Inzest tabuisiert oder nicht; meist kam es lediglich darauf an, dass eine Beziehung nicht ruchbar wur­ de.308 (3) Ehebruch galt nur dann als Delikt, wenn eine verheiratete Frau daran beteiligt war. Als Täter wurde im Allgemeinen nur der Ehebrecher angesehen, als Verletzter der Ehemann. Geahndet wurde die Tat am Täter regelmäßig durch Bußleistungen, während die Frau der Willkür des Ehemannes anheimfiel. (4) Ungehorsam gegen Höherstehende wurde unterschiedlich bewertet: Noch in neuerer Zeit galt auf Samoa die Achtungsverletzung gegenüber Familien und rangho­ hen Personen als Verbrechen.309 Bei den afrikanischen Aschanti war jede Form der das dann einsetzende Verfahren fest (p. 98): „1) The clansmen of the injured party may take immediate revenge, which should be done in hot blood. 2) The clansmen of the murderer may seek to pay compensation for the killing. 3) The clansmen of the murderer may themselves kill the murderer to avoid further penalty. 4) The pororyet [begrenztes Gebiet, das mehrere Dörfer umfasst] may take action to punish the clan of the murderer. 5) In the absence of the first three of these (and presumable irrespec­ tive of the fourth), the clansmen of the murdered man may seek any opportunity to avenge the death by killing individuals or taking cattle. 6) Finally, if none of the above succeeds, the family of the murdered man may make a ceremonial curse against the clansmen of the murderer, which continues until it is removed.“ Bei den Tlingit, einem Indianerstamm an der Nordwestküste Nordamerikas, war weniger wichtig, dass der Mörder zur Kompensation an den Clan des Ermordeten ausgeliefert wird, als dass der zur Kompensation Ausgelieferte von gleichem Rang sein musste wie der Ermordete. Infolge dieser Zusatzbedingung konnte ein Mörder von hohem Rang und Reichtum frei ausgehen, während ein armer Schlucker als Sklave in das Haus dessen gehen musste, der statt seiner ausgeliefert wurde (K. Oberg, 1934). 305  Dazu etwa E. Colson (1953). 306  Vgl. dazu oben Fn. 130. 307  Nicht zu verwechseln sind die Inzestverbote mit den Heiratsverboten. Perso­ nen, denen die Heirat verboten war, durften oft durchaus sexuelle Beziehungen mitei­ nander unterhalten (J. R. Fox, 1980, p. 4). 308  Vgl. zu den Trobriandern B. Malinowski (1926/1947). 309  R. Thurnwald (1934), S. 95 (unter Bezug auf E. Schultz-Ewerth, Samoanisches Recht, 1924 [in deutschen Bibliotheken nicht verfügbar]).

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Tätlichkeit oder der Ehrverletzung gegen den Häuptling oder sein Gefolge sogar ein Kapitalverbrechen.310 Andere Völker dagegen kannten dafür keine Strafen. (5) Zauberei und Hexerei:311 Unfälle, Krankheiten und selbst Todesfälle wurden nicht selten auf unnatürliche Ursachen zurückgeführt. Vielmehr vermutete man, dass Zauberei oder Hexerei im Spiele sei. Aufgabe eines Schamanen312 war es dann, den Schuldigen ausfindig zu machen. War er gefunden, überfiel ihn der Geschädigte ent­ weder und tötete ihn, oder er schleppte ihn vor Gericht und klagte ihn an. Der Be­ schuldigte musste dann seine Unschuld zu beweisen, hatte dazu aber kaum eine Chance.313 (6) Diebstahl und Raub: Solange ein Empfinden für den wirtschaftlichen Wert von Sachen noch nicht ausgebildet war, wurde deren Wegnahme lediglich dann geahndet, wenn die Tat als persönliche Beleidigung empfunden wurde. Sobald man dagegen einer Sache wirtschaftlichen Wert zuschrieb, wurde die Wegnahme mehr oder weniger streng verfolgt, wobei freilich die Beweisführung oft schwierig war. Wenn es sich nicht um eine Tat innerhalb der engeren Gemeinschaft handelte, überließ man es i. d. R. dem Bestohlenen, die Aufklärung zu betreiben. Er konnte sich dann entweder auf die Suche nach dem gestohlenen Gut machen oder einen des Diebstahls Verdächtigten zwecks Eidabnahme vor Gericht zitieren.314 Wurde der Dieb ermittelt, drohten ihm Folgen, die kulturabhängig waren und von der Rückgabe der Sache bis zur Todesstrafe315 reichten. Sicher war ihm darüber hinaus die soziale Ächtung. – Im Gegensatz zum (heimlichen) Diebstahl brachte man dem (offenen) Raub mehr Verständnis entgegen. Vielfach galt er als erlaubt, wenn er sich gegen Gemeinschaftsfremde richtete. Sonst sah man es als Sache des Eigentümers an, sich zu wehren oder die geraubte Sache (notfalls mithilfe seiner Angehörigen und Freunde) wiederzubeschaffen.316 310  T. C. McCaskie

(1995), p. 82, 372 f. Zauberei und Hexerei gibt es keine klar definierten Unterschiede. Dass Zauberer männlich, Hexen aber weiblich sind, ist kein universell geltender Un­ terschied. Gewöhnlich bedeutet Zauberei die Übertragung eines Übels auf eine Per­ son durch die Verwendung von rituellen Handlungen oder gesprochenen Formeln (‚Zaubersprüchen‘), verbunden mit Manipulationen an Objekten, die entweder einer Person ähnlich aussehen oder mit ihr in Berührung stehen oder standen. Hexerei da­ gegen kommt ohne solche Manipulationen aus; ihr genügt die psychische Kraft, um auf andere ein Unheil herab zu beschwören. 312  Schamanen wurden teilweise als Zauberer angesehen, weil sie magischer Riten kundig waren, teilweise aber auch als Medizinmänner, weil sie Heilkräuter für ge­ wisse Verletzung und Krankheiten kannten. Der Schamanismus wird als ältester Reli­ gionstypus betrachtet. 313  Vgl. dazu M. Harris (1989), S. 205 ff., der allerdings betont, dass die Hexereibzw. Zaubereibeschuldigungen seitens eines Schamanen eher zur Erhaltung als zur Zerstörung der Gruppeneinheit beitrugen. 314  Vgl. oben F 2 c Zusatz (zu den Dschagga) und J. H. Weeks (1914, S. 137) zu den Boloki im mittleren Kongogebiet. Dass ein Dieb unter der Furcht vor den Folgen seines Eides oft zusammenbrach und gestand, schildern z. B. für Zentralpolynesien R. W. Williamson (1924), p. 2 ff.; für Samoa O. Stuebel (1976), p. 150; A. Krämer (1903), S.  99 f. 315  Diese vor allem für einen Diebstahl im Haus des Eigentümers. 316  Zum altgermanischen Recht vgl. J. Grimm (1899), S. 192 ff. 311  Zwischen



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(7) Nichtzahlung einer Schuld: Die unberechtigte Weigerung, eine Schuld zu be­ zahlen, galt als Straftat und wurde regelmäßig dem Diebstahl gleichgestellt. Wurde beispielsweise, wie es häufig vorkam, der Brautpreis nicht oder nicht vollständig ge­ zahlt, war das ein strafbarer Akt gegenüber dem Vater der Braut. Dieser konnte dann zur Selbsthilfe greifen und seinem Schwiegersohn ein oder mehrere Rinder aus des­ sen Stall wegführen. Hatte ein Schuldner kein Vermögen, traf ihn der Vorwurf, dass er in Kenntnis dessen zum Schuldner und damit zum Betrüger geworden sei.317

(η) Strukturen der Konfliktbeilegung. Die Regelung sozialer Konflikte ist Gegenstand besonders intensiver Forschung seitens der Rechtsethnologen gewesen. Mit Recht! Denn frei von Konflikten war das Zusammenleben der Menschen nie. Lebten sie auf engem Raum, entstanden die Konflikte eben hieraus. Lebten sie in der Weite der Savanne oder im Urwald, dann entstan­ den Konflikte, weil unter deren Schutz Abweichungen von überkommenen Gemeinschaftnormen sich leichter verheimlichen ließen, allerdings auch um so schärfer sanktioniert werden mussten, sobald sie entdeckt und als für das gemeinschaftliche Interesse gefährlich eingestuft wurden. Anfangs fanden Verhandlungen über strittige Probleme lediglich in Gegen­ wart von Autoritätspersonen318 oder der zusammengerufenen Gemeinschaft mit dem Ziel eines Interessenausgleichs statt. Allgemein anerkannte Normen spielten dann zwar im Hintergrund eine Rolle, traten aber niemals ins Zen­ trum der Meinungsbildung und gaben vor allem niemals den alleinigen Grund für eine Entscheidung ab.319 Später nahm man bei Verhandlungen auf Normen zwar gelegentlich ausdrücklich Bezug – aber wie sie genau lauteten, war meistens schwer festzustellen und wurde deshalb auch nicht erfragt. Verfahren, die unseren Gerichtsverfahren einigermaßen ähnelten, konnten dagegen erst stattfinden, als sich die frührechtlichen Normen aus den allge­ meinen Sittennormen einigermaßen klar ausdifferenziert hatten.320 Das gerichtliche Verfahren ging alsdann aus der Selbsthilfe hervor und legte Teile davon nur nach und nach ab: Manche Völker unterwarfen die Selbsthilfe lediglich gewissen Formen; bei ihnen beschränkte sich die Tätigkeit der Ge­ richte auf die Überprüfung, ob diese Formen eingehalten wurden.321 Andere 317  Auch heute noch besteht die Tendenz, solche Fälle als Betrug oder Bankrott zu bestrafen. 318  Das waren stets ältere Personen, denn die Autorität des Alters war im Bewusst­ sein aller indigenen Völker fest verankert. Sie beruhte darauf, dass die Ältesten den Ahnen am nächsten sind, und sie blieb daher selbst dort bestehen, wo neben sie die Autorität der Adelsklasse trat. 319  L. Pospíšil (1982), S. 146 ff. 320  Auf die Bedeutung von Rechtsnormen bei der Beilegung von Streitigkeiten gehen u. a. J. Comaroff/S. Roberts (1953, p. 79 ff.) ein. 321  Dieses Verfahren wurde lange Zeit geübt, wenn eine Frau beim Ehebruch oder ein Dieb auf handhafter Tat ertappt wurde.

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untersuchten auch die materielle Rechtslage. Dann musste grundsätzlich der Kläger das Verfahren nicht nur in Gang bringen und für die Gestellung des Beklagten sorgen, sondern auch dafür, dass der Beklagte am Verfahren aktiv teilnahm und sich am Ende dem Ausspruch des Gerichts unterwarf. Geschah dies nicht, musste er, notfalls unterstützt von Helfern, gegenüber dem Beklag­ ten Zwang anwenden. Erst Häuptlinge und Könige zogen die Prozessführung an sich und gewährten dem Kläger sowohl bei der Vorbereitung und Durch­ führung des Prozesses als auch bei der Vollstreckung einer im Prozess bestä­ tigten Forderung hoheitliche Hilfe.322 ‚Rechtsprechungsorgane‘ und ‚Instanzenzug‘ waren in allen indigenen Gemeinschaften im Wesentlichen einheitlich: Untere ‚Instanz‘ war überall das Familienoberhaupt, das alle nur die Familie betreffenden Streitigkeiten und (leichteren) Vergehen entschied. Oft tagte innerhalb einer Großfamilie ein Familienrat, der sich entweder nur aus den Männern (und oft nur aus den älteren unter ihnen) oder aus sämtlichen erwachsenen Mitgliedern zusam­ mensetzte. Oberhalb der Familie befasste sich entweder die Sippe oder bei sesshaften Völkern das Dorf (falls von mehreren Sippen bewohnt) mit den Streitfällen;323 auch gab es oft einen Sippen- oder einen Dorfrat, der sich aus den Oberhäuptern der Familien einer Sippe oder eines Dorfes zusammen­ setzte. Waren mehrere Sippen zu einem Clan, mehrere Dörfer zu einem Dis­ trikt vereinigt, dann waren i. d. R. auch insoweit ‚Rechtsprechungsorgane‘ vorhanden. Auf der obersten Stufe stand dann ein Stammesrat bzw. Königs­ rat, der vom Stammesältesten bzw. vom König präsidiert wurde. Seine allge­ meine Zuständigkeit gewährleistete, dass innerhalb des traditionellen Rechts­ systems kein Rechtsprechungsvakuum entstehen konnte und überdies eine gewisse Einheitlichkeit der Rechtsprechung gewährleistet war.324 Zur Teilnahme an der Rechtsprechung berufen waren grundsätzlich nur Personen, die aufgrund ihrer Unabhängigkeit genügend Autorität besaßen, um die Argumente und Beweise der streitenden Parteien abzuwägen und einen Spruch zu fällen, der der Meinung der (am Verfahren beteiligten) Gemeinschaft und/oder der eigenen Überzeu­ gung Ausdruck gab – wobei die eigene Überzeugung meistens auf anerkannten Nor­ men oder auf Präzedenzentscheidungen beruhte. Innerhalb zentral verwalteter König­ reiche urteilten bereits (Berufs-)Richter mit einem formellen Status und mit Rückhalt an der politischen Macht, sodass diese ihre Entscheidungen zwangsweise durchsetzen konnte.325 322  So übernahm bei den Bantuvölkern der Häuptling die Schuldbeitreibung (vgl. J. Kohler, 1914, S. 42). 323  Oft wurde dann eine im Dorf angesehene, mit beiden Parteien bekannte und mit ihren Verhältnissen vertraute Persönlichkeit (Nachbar, älterer Mann oder andere neutrale Person) mit der Streitschlichtung betraut. 324  Weiteres etwa bei R. Thurnwald (1934), S. 149 ff. 325  Ein gutes Beispiel dafür ist das Recht der Lozi in Zentralafrika, vgl. M. Gluckman (1955); A. Holtwick-Mainzer (1985), S. 58 ff.



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts225

Schon aufgrund der Entwicklung von einfachen zu komplexeren Gruppen war das schiedliche Verfahren das ältere. An ihm waren anfangs nur die Streitparteien – Kläger und Beklagter jeweils verstärkt durch Streithelfer – beteiligt. Konnte man sich nicht einigen, zog man möglicherweise einen ‚weisen Dritten‘, etwa einen Priester, hinzu. Bei dieser Form verblieb es auch später, wenn die Einmischung Dritter unerwünscht und bloß vernünfti­ ger Rat gefragt war, etwa beim Streit zwischen Verwandten oder Nachbarn. Ein schiedsrichterliches Verfahren wurde überall dort erforderlich, wo ein erhobener Anspruch auf Widerspruch stieß und der Streit sich nicht schied­ lich bereinigen ließ.326 Ob dann der am Ende stehende Schiedsspruch den Streit beendete, hing gleichwohl maßgeblich vom Ansehen und der Macht derjenigen ab, die ihn fällten.327 Grundlage für eine Vollstreckung unter ob­ rigkeitlicher Mithilfe bot er nicht. Ein streitiges Verfahren entwickelte sich erst dort, wo die Macht der zen­ tralen Autoritäten zunahm und diese sich imstande fühlten, die Verhandlung von Streitigkeiten an sich zu ziehen,328 den Streit zu entscheiden und ihre Entscheidung zu vollstrecken. Daher wurde das streitige Verfahren von An­ fang an als ein strikt förmliches etabliert.329 Feste Normen dafür dürfte es hauptsächlich für die Verpflichtung zum Erscheinen der Parteien und die Folgen ihres Ausbleibens bzw. ihre gegen eine Vorführung geleisteten Wider­ standes gegeben haben. Belege fehlen allerdings.330 Das Verfahren selbst dürfte meist nur in groben Zügen geregelt gewesen sein: Die Parteien hatten es durch eine möglichst bildkräftige Darstellung ihres Streites einzuleiten. Falls sie zur Einleitung eine Rechtsbehauptung aufstellten, mussten sie diese dazu 1. Mose 13 7 ff.; 21 22 ff.; 31. handelte sich nicht um ein Streitverfahren in unserem Sinne, denn die Par­ teien mussten die Entscheidung des Gerichts ausdrücklich akzeptieren, damit sie Geltung erhielt. Gleichwohl handelte es sich auch nicht um einen Kompromiss, der im Wege des gegenseitigen Nachgebens der Parteien erreicht wurde; denn der Inhalt der Entscheidung beruhte nicht auf einer freien Übereinkunft zwischen den Parteien, sondern auf der normativen Überzeugung der Gemeinschaft, die von den richtenden Personen repräsentiert wurde. Beispiele sind Verfahren vor dem Leopardenfell-Pries­ ter bei den Nuern (vgl. oben 2 b Zusatz) und das moot vor dem mbatarev bei den Tiv, über das P. Bohannan (1957) berichtet. 328  Den Antrieb dazu gab allerdings oft nicht der sich verstärkende Wille, dem Recht zum Siege zu verhelfen, sondern die Absicht, mit der Hilfe eines Justizapparats hohe Geldstrafen zu verhängen und dadurch die Staatsschatulle zur füllen (vgl. oben 2 c Zusatz a. E.). 329  Dass es nicht aus dem schiedsrichterlichen Verfahren hervorgegangen ist, son­ dern dieses lediglich zurückgedrängt hat, betont mit Recht W. Seagle (1967), S. 89 f. 330  Wahrscheinlich ist, dass die Ladung vom Kläger vor Zeugen ausgesprochen wurde. Über die Folgen der Säumnis ist kaum etwas bekannt; sie werden wahrschein­ lich von Volk zu Volk unterschiedlich gewesen sein. 326  Vgl. 327  Es

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durch Tatsachenbehauptungen unterlegen, wobei sich das Gericht auf unter­ schiedliche Weise an der Aufklärung beteiligen konnte. Stets galt – nicht anders als zuvor im schiedsrichterlichen Verfahren – der Grundsatz audiatur et altera pars: Das Gericht urteilte erst, nachdem beide Parteien ihre Auffas­ sung von der Sach- und Rechtslage darlegen konnten.331 Zwischen Zivil- und Strafverfahren wurde erst in fortgeschrittenen Kultu­ ren unterschieden – schon weil eine scharfe Unterscheidung zwischen Zivilund Strafrecht (bzw. zwischen torts und crimes) in das traditionelle Frührecht eher hineingetragen werden kann als in ihm angelegt war.332 (θ) Die Entwicklung eines gerichtlichen Beweisverfahrens begann in klei­ nen Gesellschaften am Nullpunkt. Wer als unparteiischer Dritter in ein Streit­ verfahren einbezogen wurde, achtete lediglich darauf, dass die Parteien fair miteinander umgingen. Die Gründe ihres Streits waren meist offenkundig, und was nicht offenkundig war, ließ sich auch durch Befragung meistens nicht ans Licht bringen. Auch gab es, wo die gesamte Gemeinschaft richtete, keine Zeugen, die man hätte befragen können. Deshalb nahm man die Tatsa­ chen so hin, wie man sie kannte. Und wenn man sie als strittig kannte, muss­ ten höhere Mächte entscheiden, auf welcher Seite die Wahrheit stand. Auch Straftaten konnten daher ohne förmliches Verfahren geahndet werden, sofern eine schwere Verfehlung allgemein als erwiesen angesehen wurde und die Gemein­ schaft entweder die Überzeugung hatte, dass der als Täter Verdächtigte getötet, aus­ gestoßen oder zur Buße gezwungen werden müsse, oder wenn eine Autoritätsperson sie hiervon überzeugte.333

Doch je größer die Populationen wurden und je weniger vertraut die All­ gemeinheit mit den internen Vorkommnissen war, desto förmlicher mussten die gerichtlichen Beweisaufnahmen werden. Freilich blieben auch jetzt noch die Angaben der Parteien das wichtigste Beweismittel. Hinzu traten aber die Einvernahme von Zeugen und der gerichtliche Augenschein. Ein reiches Aufgebot an Zeugen imponierte; denn man nahm an, dass die Meinung einer Vielzahl von Zeugen der Wahrheit am nächsten komme. Daher bekam am Ende derjenige Recht, der die meisten Zeugen aufbieten und somit ‚überzeu­ gen‘ konnte.334 Und da die Zeugen regelmäßig aus der Verwandtschaft 331  An der Entscheidungsfindung wirkten die streitenden Parteien nicht mit – im Gegensatz zum Schiedsverfahren, wo ihre Mitwirkung auch dann nötig war, wenn sich auf beiden Seiten Verstärkertruppen eingefunden hatten, im Gegensatz aber auch zum schiedsrichterlichen Verfahren, wo ihre Mitwirkung zwar nicht nötig, aber im­ merhin möglich und meistens sogar erwünscht war. 332  Siehe auch W. Fikentscher (2016), p. 424. 333  Vgl. E. A. Hoebel (1968), S. 114 f. (betr. Inuit); L. Pospíšil (1954), case 31 (betr. Kapauku Papuas). 334  Allerdings galt es bei einigen Völkern als unfein, jemand als Zeugen beizubrin­ gen. So etwa bei den Damara (H. Vedder, 1923, S. 148).



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts227

stammten, fühlte sich derjenige, der eine große Verwandtschaft besaß, von vornherein im Recht. Nur wenn am Ende Aussage gegen Aussage, Zeugnis gegen Zeugnis stand, mussten wie schon früher höhere Mächte die Wahrheit aufdecken. Um die höheren Mächte in die Rechtsfindung einzubeziehen, griff man schon frühzeitig zur Auferlegung eines Eids: Einer der Streitenden oder der Zeugen musste den Namen eines Gottes oder des Königs anrufen335 und Un­ heil auf sein Haupt beschwören (etwa dass er tot umfallen oder binnen Mo­ natsfrist durch das Schwert umkommen möge), sollte seine Aussage falsch sein. Traf ihn das Unheil nicht, dann war die Wahrheit seiner Behauptung (etwa die Beteuerung seiner Unschuld) oder seines Zeugnisses erwiesen.336 Besondere Bedeutung, insbesondere in Strafsachen, erlangte neben dem Eid das Ordal (Gottesgericht). Wahrscheinlich gab es auf der ältesten Ent­ wicklungsstufe nur das einseitige Ordal, dem sich der Angeklagte zu unter­ ziehen hatte, auf einer höheren Stufe dann das zweiseitige, bei dem dieselbe Pflicht auch dem Ankläger oblag.337 Auf welche Weise die Götter in die Entscheidung einbezogen wurden, war von Volk zu Volk verschieden und allein der Sitte unterworfen. Uralt war auch der gerichtliche Zweikampf.338 Er leitete sich vom Kriege her, wo die Völker gelegentlich übereinkamen, statt ganzer Heere eine ausgewählte Anzahl 335  Die Sage kennt auch andere Schwüre, etwa „bei Schwertes Spitze und Schiffes Bord, bei Schildes Rand und Rosses Bug“ (Edda, Das Lied von Wölundur). Erst nach der Ausbreitung des Christentums schwor man nur noch bei Gott oder aber bei allen bzw. einzelnen Heiligen (in reformatorischen Gegenden nur noch unter Anrufung Gottes). Dabei erhob man die drei Schwurfinger als Hinweis auf die Dreieinigkeit. 336  Wir finden die Eidauferlegung an die Parteien bei fast allen indigenen Völkern. Sie „setzt zwar gewisse Hypothesen über die Wirkung des gesprochenen Wortes vor­ aus. Diese finden sich allerdings früh, und so kann man sagen, dass die Wurzeln des Eides sehr tief hinunterreichen.“ (R. Thurnwald, 1934, S. 176). Da der Eid i. d. R. streitentscheidend war, wurde in späterer Zeit häufig darum gestritten, welcher der Parteien er auferlegt werden soll. Ein grundsätzliches Verbot findet sich u. a. im Neuen Testament bei Matthäus 5 34–37 und bei Jakobus 5 12. Das Verbot ging je­ doch nicht in die Rechtsordnungen ein und wird auch heute nur selten und nur von strenggläubigen Christen geltend gemacht. Viele Einzelheiten finden sich im von P. Prodi (1993) herausgegebenen Sammelband. Außer der Eidesleistung waren auch andere Methoden der Wahrheitsfindung ver­ breitet, so insbesondere das Fetischessen: Die beklagte Partei musste eine Speise zu sich nehmen, die durch ihre Nähe zu einem Fetisch ihr zum Fluch wurde, falls sie schuldig war. In Neu-Guinea beispielsweise musste der des Mordes Beschuldigte ein Stück des Leichnams essen; war er schuldig, schwoll er davon an und verstarb (J. Kohler, 1914, S.  44 f.). 337  Vgl. dazu R. Thurnwald (1934), S. 166 ff., 180 ff., sowie unten G 4 k. 338  Er ist außer bei den Germanen bei einigen Stämmen der Indianer und der Ma­ laien nachweisbar (J. Kohler, 1914, S. 44).

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

von Kriegern oder nur gewisse Anführer gegeneinander kämpfen zu lassen und den Ausgang des Kampfes als Urteil im Streit anzuerkennen.339 Weit verbreitet war ferner das Feuerordal, etwa das barfüßige Gehen über glühende Pflugscharen oder das inHänden-Tragen glühenden Eisens. Ihm verwandt war das Wasserordal. Es wurde un­ terschiedlich gedeutet: Bei einigen Völkern wurde der Beschuldigte mit einem Seil um den Leib ins Wasser geworfen: Ging er unter, dann war er unschuldig und wurde herausgezogen; nahm ihn das reine Wasser dagegen nicht auf, so war seine Schuld erwiesen. Andere Völker hingegen deuteten umgekehrt: Wurde der Beschuldigte vom Fluss, in den er springen musste, fortgerissen und ging er unter, dann war er schuldig; blieb er dagegen am Leben, war seine Unschuld erwiesen. Verschärft werden konnte das Ordal, wenn im Wasser sich Krokodile oder Haie tummelten. Man ermahnte die­ se zwar, nur den Schuldigen zu fressen, und bat die Götter, die Mahnung zu bekräfti­ gen – ob aber die Krokodile sich von ihrer Mahnung beeinflussen ließen?340 Das Giftordal fand seine hauptsächliche Verbreitung bei den Stämmen Afrikas. Es wurde jedoch auch nach mosaischem Recht angewandt, damit eine Frau sich gegenüber den Beschuldigungen ihres eifersüchtigen Ehemannes reinigen konnte.341 Bei den malaii­ schen und den afrikanischen Stämmen verbreitet war schließlich auch die Bahrprobe: Der Geist des Toten begann im Leichnam zu bluten, wenn sich der Mörder ihm nah­ te, oder die Träger erstarrten, sobald der Name des Täters genannt wurde. Die Probe 339  Ein Beispiel findet sich bei Herodot, Historien I 82: Zwischen den Argeiern (den Bewohnern von Argos) und den Spartanern war es zum Streit um einen Land­ strich gekommen. Die Spartaner hatten den Landstrich besetzt. Die Argeier rückten mit einem Heer an, und es kam zu Verhandlungen. „Schließlich einigte man sich, dass 300 Krieger aus beiden Heeren gegeneinander kämpfen sollten; der siegreichen Partei sollte der Landstrich gehören.“ Nach Abschluss des Kampfes blieben nur zwei Argeier und ein Spartaner übrig. Im Glauben an ihren Sieg eilten die beiden Argeier nach Argos, der überlebende Spartaner aber nahm den gefallenen Argeiern die Waffen ab und hielt sich auf seinem Posten. „Da schrieben sich dann beide Parteien den Sieg zu: die einen behaupteten, auf ihrer Seite seien mehr übriggeblieben; die andere Par­ tei wies darauf hin, dass die anderen geflohen, ihr Mann aber geblieben sei und den gefallenen Gegnern die Waffen geraubt habe. Schließlich gerieten sie aus Zank in Streit, und es kam zum Kampf. Nach großen Verlusten auf beiden Seiten siegten schließlich die Spartaner.“ Ein weiteres Beispiel berichtet T. Livius (1988), lib. I cap. 23 ff.: Albaner und Römer hatten zum Krieg gegeneinander gerüstet. Sie einigten sich aber darauf, dass nicht ihre Heere gegeneinander kämpfen sollten, sondern Dril­ lingsbrüder, die sich zufällig in beiden Heeren befanden und die an Jahren und Kräf­ ten ungefähr gleich waren. Der Kampf begann und der Sieg schien sich den albani­ schen Drillingen zuzuneigen, da es ihnen gelungen war, zwei der römischen Drillinge zu töten, während sie selbst nur blutende Wunden erlitten hatten. Nun war allerdings der letzte der römischen Drillinge unverletzt geblieben. Deshalb war er zwar dem Kampf mit den anderen zusammen nicht gewachsen, wohl aber kampfmutig jedem Einzelnen gegenüber. Er ergriff also die Flucht in der Erwartung, dass die drei ihn verfolgen würden, jedoch nur so, wie es ihnen ihr geschwächter Körper jeweils er­ laube. Und in der Tat sah er sie alsbald ihm in großen Abständen folgen, sodass er jedem, der bei ihm ankam, Mann gegen Mann gegenüberstand und ihn, da nur er unverletzt und im vollen Besitz seiner Kraft war, besiegen und töten konnte. 340  Vgl. Th. Waitz/G. Gerland (1872), S. 226. 341  4. Mose 5 12 ff.



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts229

wird noch im Nibelungenlied342 erwähnt: Siegfrieds Wunden fingen zu bluten an, als der grimme Hagen zur Bahre trat. Und in Shakespeares Drama „King Richard III.“ blutete die Leiche König Heinrichs, als Gloster sich ihr näherte: „O, gentlemen, see, see! dead Henry’s wounds Open their congeal’d mouths and bleed afresh!“343

Eine Verteilung der Beweislast wie im modernen Gerichtsverfahren war den Naturvölkern unbekannt. Allerdings gab es, wenn auch ohne strenge Begrenzung, den ‚Beweis des ersten Anscheins‘, etwa wenn jemand eine frische Narbe vorweisen konnte und belegt war, dass er seit Langem mit dem der Tat Verdächtigten in Streit lebte. 4. Leitlinien der (vor)geschichtlichen Entwicklung eines prästaatlichen Rechts Ökonomische, soziale und politische Entwicklungen der Menschheit stan­ den in vorgeschichtlicher Zeit in engem strukturellem Zusammenhang. Ins­ gesamt verliefen sie – zwar nicht nach strengen Gesetzen, wohl aber tenden­ ziell – zu stärkerer Komplexität: d. h. von geringerer zu höherer Differenzie­ rung und Zentralisierung. Man kann sie daher als evolutiv bezeichnen. •• Auf der Ebene der ökonomischen Versorgung nahmen die Menschen Grund und Boden immer eindeutiger und umfassender in Anspruch: zunächst (a) als vage abgegrenztes Revier, worin eine eng begrenzte Anzahl von Familien gleichen Zugang zum Jagen von Tieren und zum Sammeln von Wurzeln und Früchten hatte; später (b) als klar abgegrenzten Wohnbezirk für eine größere Anzahl von Familien, die den Boden durch Brandrodung oder Bewässerung fruchtbar machte, um ihn anschließend im Grab- und Hackbau, später im Pflugackerbau zu bearbeiten sowie domestizierte Tiere darauf weiden zu lassen und auf diese Weise ein Mehr an pflanzlicher und tierischer Nahrung – auch im Austausch gegen andere Güter – zu erhalten; schließlich (c) als vermessene Teile des Wohnbezirks, die dann als ökono­ mischer Reichtum in Form von individuellem Landbesitz bzw. -eigentum zu beliebiger Verwertung (z. B. Verpachtung) zur Verfügung standen. •• Auf der Ebene des ökonomischen Handels verlief die Entwicklung (1) von der Hauswirtschaft über die Tauschwirtschaft zur Geldwirtschaft: (a) Auf der Stufe der Hauswirtschaft wurden Güter von demjenigen Haushalt ver­ braucht, in dem sie zuvor erzeugt worden waren – Erzeugungs- und Ver­ brauchsgüter waren also identisch. (b) Auf der nächsten Stufe der haupt­ 342  Nibelungenlied 343  W.

v. 984 ff. Shakespeare, King Richard III, act I scene 2.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

sächlich in überschaubaren Gemeinden (Dörfern und kleineren Städten) geübten Tauschwirtschaft musste ein Teil der Güter von ihren Erzeugern erst ihren Weg zu den Verbrauchern finden – Erzeugungs- und Verbrauchs­ güter waren also nicht mehr identisch, sondern durch den realen oder vertraglichen Akt des Tausches miteinander verbunden. (c) Auf der dritten Stufe der überregional geübten Geldwirtschaft trat zwischen die Erzeuger und die Verbraucher dann noch der Handel – Erzeugungsgüter und Ver­ brauchsgüter waren Handelswaren und als solche nur noch mittelbar ver­ bunden; vermittelnd trat das Geld hinzu, das sie dem Erzeuger einbrachten und den Verbraucher kosteten. – (2) Als weiterer Wirtschaftsfaktor folgte die Arbeit der ökonomischen Entwicklung: (a) Auf der Stufe der Hauswirt­ schaft war sie Mittel für den häuslichen Unterhalt und trat daher als selbst­ ständiger Wert nur bei einem Mitgliederwechsel hervor. (b) Auf der Stufe der Tauschwirtschaft erlangte sie selbstständigen Wert, weil sie Gegenstän­ de erzeugte, die zum Tausch verwendet werden konnten: (c) Auf der Stufe der Geldwirtschaft wurde sie zum verfügbaren Kapital, das ebenso wie die Arbeitsprodukte gehandelt und nach Wert bezahlt werden konnte. •• Auf der Ebene der sozialen Organisation verlief (1) die durch verwandt­ schaftliche Nähe begründete Organisation von (a) der Einfachheit familiä­ rer Beziehungen über (b) die bereits komplexeren verwandtschaftlichen und verschwägerten Beziehungen innerhalb von Sippen zu den (c) noch­ mals vergrößerten und infolgedessen nochmals komplexeren Beziehungen zwischen den Sippen untereinander innerhalb von Clans. Auslösend für die Entwicklung waren zum einen die größere Anzahl von Kindern, die gesund aufgezogen werden konnten und durch Heirat Verbindungen auch zu an­ deren Sippen und Clans herstellten, und zum anderen eine allgemein längere Lebens­ dauer, welche die Verwandtschaft künftig vertikal auf drei gleichzeitig lebende Gene­ rationen, horizontal auf eine immer größere Anzahl von Nichten und Neffen, Onkeln und Tanten, Großneffen und -nichten sowie Großonkeln und -tanten erstreckte. Sippen umfassten künftig Verwandte und Verschwägerte aus drei bis vier Generationen und hatten bis zu fünfzig Mitglieder. Clans schlossen die noch lebenden Mitglieder aus sieben bis zehn Generationen ein und hatten u. U. mehrere Hundert Mitglieder. Gleichzeitig verkomplizierte sich die Autoritätsstruktur: Während sie sich früher auf den Familienvater konzentrierte und in ihm endete, erstreckte sie sich künftig von ihm aus bis zum Sippenältesten und von diesem aus weiter bis zum Clanchef.

Ebenfalls immer komplexer wurde (2) die durch räumliche Nähe begrün­ dete Organisation. Es entstanden (a) nicht nur Dörfer, sondern auch Städte als immer größere lokale Einheiten, worin die Bevölkerung auf immer enge­ rem Raum zusammenwohnte, ferner (b) nicht nur Clans, sondern auch Stämme als immer größere soziale Interaktionseinheiten. Untereinander hat­ ten die größeren Einheiten allerdings einen immer lockreren Zusammenhalt, sofern sie sich nicht überhaupt gegenseitig bekämpften. Daher bildeten sie letzthin nur Übergangserscheinungen zu den (c) politisch festeren, weil hie­



F. Das (prä)historische Werden eines prästaatlichen Rechts231

rarchisch organisierten Häuptlingsschaften und den überdies bürokratisch verwalteten Königreichen. •• Auf der Ebene der sozialen Herrschaft wurden (1) Personen in allmählich immer stärker hierarchisch organisierte Einheiten eingebunden: (a) Män­ ner, Frauen und Kinder in Hausgemeinschaften mit einem Ältesten als Leiter; (b) mehrere Familien in Horden mit einem Anführer (leader) als Leiter; (c) mehrere Sippen und Clans in Stämme mit einem Häuptling als Leiter. Weiterhin wurden (2) (bewegliche) Sachen auf immer stärker ge­ festigten Stufen einzelnen Personen zugeordnet: (a) aufgrund lediglich tatsächlicher Gewalt über eine Sache den Sachherren; (b) aufgrund (kon­ kret-)sozialer Anerkennung der Sachherrschaft den Sachbesitzern; (c) auf­ grund (abstrakt-)rechtlicher Anerkennung des Sachbesitzes den Sacheigen­ tümern. Darüber hinaus wurde auch (3) der Austausch von Sachbesitz bzw. -eigentum zwischen Personen auf immer höheren Stufen immer um­ fassender organisiert: (a) aufgrund des Austauschs mittels Gebens und Nehmens als Übertragung von lediglich realer Verfügungsgewalt: (b) auf­ grund wechselseitiger Anerkennung der Gewaltübertragung als Übertra­ gung von zusätzlich sozialer Verfügungsbefugnis; (c) aufgrund rechtlicher Anerkennung des (vollständigen) Übergangs der Verfügungsbefugnis als Übertragung von Eigentum. •• Auf der Ebene der politischen Organisation wurde eine Über- und Unter­ ordnung auf mehreren Ebenen festgeschrieben: (a) die Unterordnung von Bewohnern einer Siedlung bzw. Dorfes unter die politische Zuständigkeit eines Dorfschulzen, wodurch die politische Einheit eines Dorfes bzw. ei­ ner Siedlung allererst entstand; (b) die Unterordnung mehrerer Dörfer unter die hoheitliche Verwaltung eines deputierten Beamten oder Captains, woraus die politische Einheit eines Kantons oder Distrikts hervorging; (c) die Unterordnung der Kantone oder Distrikte unter die politische Ein­ heit eines fürstlichen Regimes, was zur Entstehung eines Fürstentums als staatspolitische Einheit führte. •• Auf der Ebene der politischen Herrschaft entwickelte sich von unten nach oben eine Stufung: (a) Die lokale Herrschaft innerhalb von Dörfern war noch einstufig: sie umfasste lediglich die Dorfschulzen und überregional allenfalls einen gemeinsamen Sprecher (meist den ältesten oder den an­ gesehensten Dorfbewohner). (b) Die Herrschaftsstruktur innerhalb von Häuptlingsschaften war zweistufig: Oberhalb der lokalen Herrschaft der Dorfschulzen bestand eine politische Führung seitens des Stammeshäupt­ lings. (c) Innerhalb der Königreiche erhöhte sich die Zahl der Herrschafts­ stufen um eine dritte: Der Fürst stand an der Spitze, eine Stufe unter ihm standen (als Captains der Distrikte oder Kantone) die Häuptlinge, und auf der unteren Stufe waren die Dorfschulzen gleichzeitig lokale Beamte.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Die Entwicklung des Rechts folgte im Wesentlichen der politischen Ent­ wicklung. Innerhalb einiger ausschließlich sozial vermittelter Beziehungen konnte es niemals Fuß fassen: Es galt nicht innerhalb der näheren Verwandt­ schaft, und innerhalb der entfernteren Verwandtschaft sowie innerhalb nichtverwandtschaftlicher Beziehungen blieben noch lange, nachdem das Recht erfunden war, Brauchtum und Sitte als Ordnungsparameter vorherrschend. Das innerhalb der Horden geübte Brauchtum war pränormativ, wurde von den Kindern gleichsam mit der Muttermilch eingesogen, erforderte später nur wenige Lernvorgänge, ließ dafür aber auch eine klare Unterscheidung zwischen Sein und Sollen vermissen. Die innerhalb der Stammesgesellschaf­ ten geltenden Sitten gehörten dagegen eindeutig dem Sollensbereich zu, be­ saßen also normativen Charakter und mussten überwiegend erlernt werden. Ihr Wert bestand in der Vertrauensbildung zwischen einer größeren Zahl nicht näher miteinander bekannter Personen und in Verfahrensregeln, falls Streitigkeiten nicht durch die unmittelbar Beteiligten befriedet werden konn­ ten. Sie enthielten aber keine Normen für Streitigkeiten außerhalb desselben Kulturkreises, ja sie versagten oft sogar schon, wenn mehrere Stämme oder auch nur Dörfer daran beteiligt waren. Dann mussten die Streitigkeiten kämpferisch ausgetragen werden und forderten oft einen hohen Blutzoll. Der Anwendungsbereich von Sittennormen war persönlich und örtlich desto weiter, je allgemeiner es war. Denn nur infolge häufiger Kommunikationen und Interaktionen konnten sich neben dem Brauchtum Normen herausbilden, die inhaltlich überein­ stimmten und als ‚richtig‘ so stark verinnerlicht wurden, dass ihre Übertretung Scham oder schlechtes Gewissen zur Folge hatte. Innerhalb größerer territorialer Einheiten, deren Bewohner eher selten aufeinandertrafen, konnten die Sitten dagegen allenfalls allgemeine Umgangsformen absichern. Abweichungen davon, insbesondere durch Fremde oder Ausländer, wurden zwar nicht geschätzt, aber bis zu einem gewissen Grade toleriert. Oft hatten sie allerdings zur Folge, dass man Ausländern mit Miss­ trauen begegnete oder gar jeden Kontakt mit ihnen mied.

In einigen Lebensbereichen hatte allerdings die Notwendigkeit, ein fried­ liches Miteinander zu gewährleisten, die Ausbildung von Normen zur Folge, die – trotz allem Verständnis für kulturelle Eigenheiten – keinesfalls verletzt werden durften. Solche (Proto-)Rechtsnormen entsprachen inhaltlich zu­ nächst überwiegend den Sittennormen und dienten deren bekräftigender Be­ stätigung. Manche dienten aber auch ihrer Veränderung, dort nämlich, wo die bestehenden Sitten als altmodisch und hinderlich empfunden wurden. Man­ che waren neu, weil neue Probleme aufgekommen waren, die von den Sitten­ normen nicht gelöst wurden. Dann achtete man darauf, dass die soziale Ordnung in sich harmonisch blieb und dass sie nach wie vor mit der kosmi­ schen Ordnung – d. h. mit den Gesetzen der irdischen Natur und der überir­ dischen Welt – im Einklang stand. Denn Widersprüche, sei es zwischen den Normen der Sitte und des Rechts oder zwischen der rechtlich-sittlichen und der kosmischen Ordnung, hätten zu schwer lösbaren Gewissenskonflikten



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts233

geführt und den angeborenen Glauben an eine ‚gerechte Welt‘ untergraben.344 Sitten und Recht mussten daher Ausdruck einer einheitlichen (‚kosmischen‘) Ordnung des Sachgemäßen sein. Die Sitten mussten im Gefühl eines jeden Mitmenschen lebendig (d. h. schöpferisch tätig) sein. Sie mussten aber auch von der Vernunft den wechselnden Umwelten angepasst werden können, da­ mit sie als Leitfaden auf dem Weg durch die Fährnisse und Unwägbarkeiten des Lebens taugten.345 Vielfach waren ihre Grundlagen deshalb Schöpfungsund Wandlungsmythen, die lediglich so weit säkularisiert wurden, dass sie ihren Bezug zu den Wandlungen der realen Umwelt behielten und diesen Wandel rechtfertigen konnten. Die Rechtsnormen als neue, zumeist vom rati­ onalen Nutzen geprägte, Vorschriften fügte man dagegen um des festen Halts willen ein, den sie boten. Sie wurden immer dann nötig, wenn das Volk dazu neigte, eilfertig sozialen oder ökonomischen Veränderungen zu folgen, statt der Moral der althergebrachten Sitten die Treue zu halten.

G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts Aus dem prästaatlichen entwickelte sich nahtlos das protostaatliche Recht. Meine folgende Darstellung knüpft daher ebenfalls nahtlos an meine vorste­ hende an. Sie wird sich nur insofern verändern, als sie sich dem stärkeren Eigencharakter der ‚großen‘ protostaatlichen Rechtsordnungen und ihrer Einbettung in stärker ausdifferenzierte Kulturen anpassen wird. Ich werde die uns hinterlassenen rechtsrelevanten Zeugnisse einiger besonders herausra­ gender Protostaaten benennen und untersuchen, inwieweit sich aus ihnen Hinweise auf eine Entwicklung von rechtlichen Strukturen und Inhalten er­ geben. Dabei kann ich zwar aufgrund der vielgestaltigen prästaatlichen Rechtsentwicklungen von keiner übereinstimmenden Basis für das proto­ staatliche Recht und seine Institutionen ausgehen. Doch bedeutet das nicht, dass dem Recht der antiken Protostaaten keinerlei zuvor entwickelte Ge­ meinsamkeiten zugrunde gelegen hätten, die sich unterschiedlich ausdiffe­ renzieren konnten und dies auch getan haben. (α) Städte als Keimzellen von Staaten. Vorausschicken muss ich einige kurze Bemerkungen über die Entstehung und Entwicklung von Staaten als den Urhebern von Rechtsordnungen. Was ein Staat ist bzw. welchen Begriff des Staates ich meiner Untersuchung zugrunde lege, habe ich an früherer 344  Zum Glauben an eine gerechte Welt vgl. M. J. Lerner (1980). Nach einer neu­ eren Untersuchung (M. Schmitt u. a., 1991) erwächst dieser Glaube nicht nur auf dem Bedürfnis nach ausgleichender Gerechtigkeit – dass gute Taten belohnt, böse bestraft werden – sondern auch auf dem Bedürfnis nach verteilender Gerechtigkeit, dass also ein Mangel an gleicher Güterverteilung letzthin einmal ausgeglichen und auch dem Pechvogel das Glück einmal hold sein wird. 345  Zum Ahnenkult, der hiermit meistens in Verbindung stand, vgl. oben Fn. 272.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Stelle (oben E 5) bereits dargelegt: Wesentliche Eigenschaft ist eine hierar­ chische Organisation, die sich von einem städtischen Zentrum aus mittels einer schriftkundigen Beamtenschaft entfaltete. Damit stellt sich jetzt freilich eine Frage, die bisher unbeantwortet geblieben ist: Was eigentlich ist eine Stadt? Genaue Auskunft, wann und wo erstmals eine Stadt entstanden ist und welche erstmals das Zentrum eines Staates gebildet hat, wissen wir nicht.346 Gemäß meiner Definition muss es eine Ansiedlung gewesen sein, worin die bürokratischen Institutionen zur Verwaltung einer größeren hierarchisch strukturierten Gesellschaft untergebracht waren. Als Hauptstadt eines Staates muss sie zusätzlich, wenn wir Gordon Childe folgen,347 sich über eine grö­ ßere Fläche erstreckt348 und Spezialisten für Religion, Wissenschaft und Handwerk sowie eine schriftkundige349 Beamtenschaft beherbergt haben, die alle vom Umland mit Nahrungsmitteln versorgt werden mussten. Die weitergehende Forderung von Childe, dass jede Stadt das Zentrum einer staat­ lichen Organisation gewesen sein muss, führt allerdings in einen definitorischen Zir­ kel hinein. Ich vermute, dass Childe sie aufgestellt hat, weil Archäologen lieber die Existenz eines Staates aus dem Vorhandensein einer Stadt folgerten als umgekehrt; denn der Nachweis einer städtischen Siedlung ist leichter zu führen als der eines 346  J.

Goody (1976), p. 19. Folgenden eingehend V. G. Childe (1950), p. 3 ff. u. ö. 348  Weder Çatal Höyük (ca. 7500 v. u. Z.) noch Jericho (ca. 6000 v. u. Z.) waren des­ halb aufgrund ihrer geringen Fläche (Çatal Höyük 13 ha, Jericho 3 ha) älteste Städte der Welt. Dieser Rang dürfte Uruk (4. Jt.) aufgrund seiner Fläche zufallen. Über Uruk heißt es im Gilgamesch-Epos (I 17–22): „Ein Sar die Stadt, ein Sar die Palmengärten, ein Sar die Flussniederung.“ Uruk umfasste also einen für die Bebauung, einen für die Landwirtschaft und einen für Obstgärten und als Weide für Tiere zur Verfügung stehen­ den Raum von 50 ha. Vgl. dazu aber auch A. Nunn (2012), S. 97, 99 f. Ganz neu ent­ deckt wurden im Norden des heutigen Jordaniens allerdings frühantike Ortschaften, deren Alter und Größe bisher noch nicht bemessen werden konnten und von denen wir derzeit lediglich aussagen können, dass sie befestigt waren, dass sie eine größere An­ zahl von Rundbauten mit künstlich bewässerten Gärten umfassten, und dass ein Stau­ damm – wahrscheinlich als ältester der Welt – sie mit Wasser versorgte. 349  Childes Forderung nach Schriftkundigkeit der Beamtenschaft scheint mir auf die vorderasiatischen Städte zugeschnitten und damit zu verengend zu sein, weil sie beispielsweise die altindischen Städte Harappa und Mohenjo-Daro trotz ihrer hohen Einwohnerzahl von etwa 40.000 und der hochwahrscheinlich dort vorhandenen Büro­ kratie mangels Schrift aus dem Kreis der Städte ausschließt. Aber auch abgesehen davon scheint es mir unangemessen, den Charakter von Ortschaften als ‚Städten‘ davon abhängig zu machen, ob sie einem Staat als Hauptstadt dienen (können). Aus­ reichen sollte m. E., dass Städte einen geschlossenen Siedlungskern von erheblicher Größe (mindestens 10 ha) haben, dass sie von einer relativ hohen Zahl von Menschen (mindestens tausend) bewohnt werden und dass ihre Einwohnerschaft eine soziale Differenzierung in Handwerker, Lohnarbeiter, Händler, Krieger usw. aufweist. Ledig­ lich für Hauptstädte von Staaten muss zusätzlich vorausgesetzt werden, dass sie eine schriftkundige Verwaltung beherbergen und Sitz einer Regierung sind, deren Chef wechseln kann, ohne dass der Staat jeweils neu gegründet werden muss. 347  Zum



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts235

Staates. Einen Hinweis, warum dies so ist, gibt die Unterscheidung von Stadtstaaten und Flächenstaaten: Ihr Unterschied liegt in der bürokratischen Durchdringung der Gesellschaft, die in den Stadtstaaten höher ist als in den Flächenstaaten.350 Daher kann offenbar nur von einer Stadt jene Befehlsstruktur ausgehen, die ein Gebiet zum Staate macht: die sich des Rechts bedient, um auch außerhalb Gehorsam zu finden.351 Aber nicht von jeder Stadt muss m. E. eine solche Befehlsstruktur ausgegangen sein; Staaten konnten vielmehr Städte von unterschiedlichlicher Größe beherbergen, von denen nur eine die Befehlszentrale für die Bürokratie, während andere z. B. religiöse oder wissenschaftliche Zentren waren.

Als Keimzellen von Staaten lag die Bedeutung der antiken Städte vor al­ lem darin, dass sie ihren Bürgern Mauern und Burgen sowie ein Heer zum Schutz vor Feinden boten. Als Geburtsstätten der Zivilisation (abgeleitet von cives bzw. civitas) lag gleichzeitig ihre kulturelle Bedeutung darin, dass (1) ihr Reichtum größer war als der ihres Umlands, denn in sie flossen von dort­ her die Steuern und Abgaben der Bauern, darüber hinaus aber auch die Tri­ butzahlungen der besiegten Feinde; dass (2) ihre Einwohner in der Regel gebildeter waren als die Bewohner des Umlands, denn in ihnen war die Ar­ beitsteilung zwischen theoretischer und praktischer, planender und ausfüh­ render Tätigkeit perfektionierter, insbesondere bestanden hier Tempel und Schulen, die Fachleute für bestimmte Gegenstände des Handwerks, der Kunst und der Wissenschaft ausbildeten; dass (3) hier eine Verwaltung residierte, die nicht nur den eigenen Bewohnern das Leben so angenehm wie möglich machte (oder zumindest machen sollte), sondern auch eine Infrastruktur auf­ baute, die sich bis weit hinaus ins Umland erstreckte und den wirtschaftli­ chen und kulturellen Austausch zwischen Stadt und Land förderte; dass (4) die hier erfundene Schrift es erlaubte, Regierung und Verwaltung auf archi­ vierte Daten zu stützen und sie so von der Gedächtnisleistung der leitenden Beamten unabhängig zu machen, ferner den über das Land verteilten unter­ geordneten Stellen exakte Anweisungen zu geben und deren Befolgung durch eine Berichtspflicht zu kontrollieren; und dass (5) die Datenverarbeitung hier so dicht organisiert war, dass man die Aktivitäten der big men im Umland überwachen und etwaige Umsturzpläne gegen die Staatsregierung bemerken und Vorbereitungen hierzu im Keim ersticken konnte. Hinzuzufügen ist noch, dass man in den Städten die für die staatliche Kontrolle der Wirtschaft standardisierten bzw. normierten Vorgaben von Maßen und Gewichten entwickelte. Dadurch erhielt u. a. der Warenhandel eine sichere Grundlage;352 denn feste Maße und Gewichte festigten gleichzeitig das allenthalben vorhandene Bedürf­ nis nach reziproker Gerechtigkeit im Vertrags- und Schadensersatzrecht. Nicht zuletzt aus diesem Grunde bestimmten viele staatliche Gesetze an prominenter Stelle, welche Mengen an Edelmetall (z. B. Silber in Mesopotamien und Griechenland, Bronze in 350  H. Wimmer

(2001), S. 114 f. m. Nachw. dazu auch oben F 2 d. 352  Siehe dazu etwa die Leges von Ešnunna. 351  Vgl.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

China) im Austausch für häufig gehandelte Waren und als Ausgleich für die Verlet­ zung von wichtigen Rechtsgütern zu leisten sind.

(β) Frühantike Protostaaten. Ausgewählt für die folgende Darstellung habe ich protostaatlich organisierte Völker, die uns schriftliche Zeugnisse einer Rechtskultur hinterlassen haben.353 Historiogenetisch ist das berechtigt, weil erst die Erfindung der Schrift354 die Möglichkeiten eröffnete, ein gelten­ des Recht auszudifferenzieren und es systematisch geordnet in Leges und Kodizes zusammenzufassen.355 Doch nicht nur das. Auch alle wichtigen po­ litischen Dekrete und administrativen Verfügungen konnte man erst von da an im Wortlaut festhalten und authentisch bekannt- und weitergeben, im Handelsverkehr alle wichtigen Geschäfte einschließlich der bei ihrem Ab­ schuss vereinbarten Klauseln auch ohne präsente Zeugen sicherstellen und im privaten Geschäftsbereich beispielsweise die Verfügungen über Grundstü­ cke und Erbschaften über den Tod hinaus nachweisbar machen. Soweit uns diese schriftlichen Zeugnisse erhalten geblieben sind, befinden wir uns also auf einigermaßen sicherem Boden. Eines allerdings verwundert: Obwohl die Erfindung der Schrift die Mög­ lichkeiten eröffnete, eine vollständige und in sich konsistente Normenord­ nung zu schaffen und aufzuzeichnen, kam es mit einer Ausnahme nicht dazu. Diese Ausnahme war China, wo die Legisten sich in der Schaffung von Normen gegenseitig überboten, aber nicht verhindern konnten, dass ihre Ge­ setze gerade wegen ihres Umfangs niemals ‚lebendiges Recht‘ wurden und dass ihre Aufzeichnungen deshalb bald verfielen.356 Soweit es in den anderen Staaten weniger umfassende Rechtsaufzeichnungen gab, ereilte sie dieses Schicksal freilich großenteils auch. Deshalb ist unser Wissen nicht nur um das antike chinesische, sondern um das Recht anderer Protostaaten löchrig geblieben; mancherorts nähert es sich sogar jener vollständigen Unkenntnis an, die wir vom antiken Recht der schriftlosen Völker haben. Sind insofern Kenntnislücken also unvermeidbar, sind sie in anderer Hin­ sicht lediglich unverantwortbar, weil Folgen unserer Blickverengung auf 353  Die Erzeugung von Schrift ist – nach der Erzeugung von Werkzeug, von Nah­ rung (Landwirtschaft) und von (hierarchischen) Institutionen – die vierte Stufe auf der Leiter, welche die Menschheit im Fortgang ihrer Anagenese erklommen hat. Nicht nur L. H. Morgan (1871) wählte sie aus für das Erreichen der höchsten Stufe seiner „ethnologischen Perioden“. Auch andere Autoren hielten sie für ein „brauchba­ res Kriterium“ für die Darstellung der kulturellen Evolution. Denn erst sie ist „ein geeigneter und leicht zu erkennender Index für eine völlig revolutionäre Veränderung im Größenverhältnis des Umfangs, der Wirtschaft und der sozialen Organisation eines Gemeinwesens“ (V. G. Childe, 1975, S. 35). 354  Erfunden wurde die Schrift am Ende des 4. Jt.s sowohl im Orient als auch in Ägypten und nochmals unabhängig davon in der Mitte des 2. Jt.s in China. 355  Zur Entstehung und Entwicklung der Schrift vgl. unten H 2 e. 356  Siehe dazu noch unten G 2 δ und ε.



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts237

Europa und die Anrainerstaaten des Mittelmeers. Bestens erforscht ist dank günstiger Quellenlage nämlich hauptsächlich das römische Recht, das wir (auch, aber nicht nur deshalb) als die Wiege der europäischen und der von Europa aus geprägten Rechtskultur betrachten. Seiner Blütezeit aber ging eine mehr als zweitausendjährige Entwicklung voraus, die auch außerhalb der Einflusssphäre Roms sich in Rechtsordnungen verdichtete, von denen manche durch das römische Recht nicht etwa verdrängt wurden, sondern bis in unsere Zeit hinein lebendig blieben – etwa die mosaische in Israel.357 In eine historische Untersuchung gehören diese Rechtsordnungen daher mit hi­ nein – beschränkt selbstverständlich auf die Belege, die wir von ihnen haben. Gut zu verantworten erscheint mir lediglich, dass man die Rechtsordnungen der traditionellen meso- und südamerikanischen Völker derzeit noch aus­ spart; denn zum einen haben sie sich erst ein Jahrtausend später entwickelt und zum anderen besitzen wir von ihnen zwar Belege, die aber bisher nur unvollständig ausgewertet werden konnten. Für uns Europäer erfordert die Erweiterung des Blickes auf das außereuropäische Recht des Altertums vor allem deshalb Überwindung, weil wir zur Weltgeschichte insgesamt ein imperiales Verhältnis haben. Für uns ging sie jahrhundertelang einzig von Europa aus oder war zumindest auf Europa konzentriert. Außereuropäische Kul­ turen galten teilweise als geschichtslos, weil sie keine schriftlichen Aufzeichnungen hinterlassen hatten358 oder weil ihre Entwicklung so langsam voranging, dass sie ei­ nem Stillstand gleichkam. Was die Rechtsgeschichte anbelangt, hat noch im Jahre 2000 Uwe Wesel seine „Geschichte des Rechts“ sich ausschließlich in Europa und im Orient abspielen lassen und damit u. a. Indien und China ihre Bedeutung sowohl für die Rechtstradition als auch für die Rechtszivilisation abgesprochen.359 Nichts ande­ res gilt für den 2003 von Ulrich Manthe herausgegebenen Sammelband „Die Rechts­ kulturen der Antike“, wo allerdings bereits der Untertitel eingesteht, dass er sich auf die Rechtsgeschichte „vom Alten Orient bis zum Römischen Reich“ beschränken 357  Das altjüdische Recht stellt eine Besonderheit dar, weil es zwar heilsgeschicht­ lich allein auf das Volk Israel zugeschnitten ist, aber kulturgeschichtlich enge Verbin­ dungen zur babylonischen (oder allgemein orientalischen) Rechtstradition aufweist. Als Beispiel sei § 53 der altbabylonischen Leges Ešnunna zitiert: „Wenn ein Rind ein anderes Rind stößt und dadurch tötet, teilen den Erlös des lebenden und das Fleisch des getöteten Rindes die Herren beider Rinder.“ Zum Vergleich 2. Mose 21 35: „Wenn jemandes Rind eines anderen Rind stößt, dass es stirbt, so sollen sie das le­ bendige Rind verkaufen und das Geld teilen und das tote Tier auch teilen.“ 358  Nach den meisten Definitionen beginnt sogar die ‚Geschichte‘ der Völker erst mit der Überlieferung schriftlicher Dokumente – weil sie erst dann wissenschaftlicher Erforschung offensteht und erst dann mehr als nur Vorgeschichte ist. 359  U. Wesel (2000), S. 71 ff. Im Hinblick auf Indien ist die fehlende Beachtung besonders schmerzlich, da offenbar viele der späteren griechischen Rechtseinrichtun­ gen als indoeuropäische Errungenschaften dort vergleichbar vorhanden waren (vgl. dazu B. W. Leist, 1884/1964). Die mittelalterliche Rechtsgeschichte wird bei Wesel auf Mitteleuropa (S. 261 ff.), die Rechtsgeschichte der Neuzeit sogar nur auf Deutsch­ land verengt (S. 349 ff.).

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

wird.360 Doch eine Geschichte der Rechtskulturen – welcher Zeit auch immer sie sich widmet – verlangt nach einem globalen Zugriff.361

Meine Untersuchung will für die bislang fehlende umfassende Geschichte der frühantiken Rechtskulturen kein Ersatz sein. Denn ihr geht es hauptsäch­ lich um die Genese von Rechtskultur. Die Darstellung rechtsgeschichtlicher Fakten ist ihr daher vor allem das Mittel, (a) um den Verlauf der Rechtsge­ nese an historischen Beispielen aufzuzeigen, (b) um die Frage nach den Ge­ setzmäßigkeiten, welche die genetischen Prozesse ausgelöst und vorangetrie­ ben haben, zu stellen und (c) um Ansätze zur Beantwortung dieser Frage zu finden. Das Mittel, dessen sie sich bedient, ist daher vor allem die Rechtsvergleichung. Denn sie will Fragen wie diese beantworten: (d) Inwieweit ist die antike Rechtsentwicklung gleichförmig verlaufen und (e) inwieweit hat sie dort, wo die ökologischen und ökonomischen Bedingungen gleichartig wa­ ren, zu konvergenten (d. h. gleichen oder zumindest ähnlichen) Ergebnissen geführt, die somit mutmaßlich in der allgemeinen menschlichen Natur ihre Grundlage hatten.362 (γ) Probleme der Rechtsvergleichung. Anlässlich von Kulturvergleichen neigte man früher dazu, alle Gemeinsamkeiten auf einen göttlichen Ursprung und alle Unterschiede auf menschliche Willkür zurückzuführen. Heute er­ scheint uns weder das eine noch das andere richtig. Heute führen wir sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede in den menschlichen Kultu­ ren auf die Notwendigkeit zurück, das menschliche Zusammenleben in eine vorgegebene Umwelt einzupassen und die Umwelt gleichzeitig so weit zu verändern, dass sie den menschlichen Bedürfnissen bestmöglich gerecht wird. Und wir begreifen das Recht als eines der Mittel, mit denen die Men­ schen dies geschafft haben: Sie haben einesteils die Gestalt des Rechts auf die vorgegebenen geologischen und klimatischen sowie anthropologischen und soziologischen Determinanten abgestimmt, und sie haben die Gestalt andernteils dem Willen und der Tatkraft einzelner Menschen und Völker zur Veränderung dieser Determinanten dienstbar gemacht. Deshalb können wir heute rückblickend erhoffen, dass wir zu gleichmäßigen Gesetzmäßigkeiten vorstoßen, denen die Menschen und Völker in gleichen natürlichen Umwel­ ten und unter gleichen sozialen und politischen Verhältnissen gefolgt sind, um gleiche oder zumindest ähnliche Probleme zu erkennen und zu lösen so­ wie die Lösungen in ihren Rechtsordnungen sichtbar zu machen. 360  U.

Manthe (Hg., 2003). hat, wenn ich recht sehe, bisher nur ein US-Amerikaner, nämlich W. Seagle (1941/1969), eine „Weltgeschichte des Rechts“ zu schreiben ge­ wagt. Ganz gelungen ist ihm das freilich auch nicht. 362  Allgemein zu konvergenten Entwicklungen in der Biosphäre vgl. E. Mayr (2005), S.  271 ff. 361  Bezeichnenderweise



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts239

Soweit jedenfalls die Hoffnung. Trotzdem müssen wir damit rechnen, dass wir allenthalben auch auf wissenschaftlich unerklärbare Unterschiede sto­ ßen, die wir dem weiten Begriff des Zufalls unterordnen müssen. Wir dürfen sie nicht außer Acht lassen, doch wir brauchen es auch nicht, weil das Mit­ einander von Notwendig- und Zufälligkeiten das Kennzeichen jeder Genese ist363 und sich gerade deshalb unser generalisierender („nomothetischer“) rechtsgenetischer Forschungsansatz mit dem individualisierenden („idiogra­ phischen“) der rechtshistorischen Forschung verbinden muss. Ohne Parallele ist allerdings, dass innerhalb der kulturellen Entwicklung noch ein dritter Faktor hinzukommt: die Diffusion364 kultureller Eigenschaften von einer Po­ pulation in andere Populationen. Sie lässt kaum eine kulturelle Entwicklung völlig unberührt und macht es nahezu unmöglich, eine eigenständige kultu­ relle Entwicklung von einer durch Diffusion beeinflussten zu unterscheiden. Doch selbst das ist kein Unglück, zumal auch für die biotische Evolution die zufälligen Genkombinationen wichtig und wertvoll waren. Deshalb kommt es innerhalb der Historiogenese der Menschheit nicht darauf an, welches Volk das Rad erfunden hat, sondern dass es vom Menschen erfunden wurde und dort, wo es seinen Dienst leisten konnte, seine Bedeutung bis heute bewahrt hat.365 Und es kommt, um zur Rechtsentwicklung zurückzukehren, nicht darauf an, welches Volk die Hypothek erfunden hat, sondern dass sie erfunden wurde und dass heute ein Immobilienrecht ohne Hypothekenrecht unvorstellbar ist. Im Folgenden werde ich dennoch vor allem die Entwicklung derjenigen protostaatlichen Rechtsordnungen miteinander vergleichen, die sich im We­ sentlichen unabhängig von Diffusionen entwickelt haben und wo die Rechts­ entwicklung daher vor allem von Ursachen bestimmt worden ist, für die die menschliche Natur und ihr Verhältnis zur natürlichen und sozialen Umwelt maßgeblich waren. Als solche Rechtsordnungen kommen diejenigen Meso­ potamiens und Ägyptens, Indiens und Chinas sowie Griechenlands und Roms in Betracht, weil wir von ihnen (vielleicht mit Ausnahme Indiens) genügend Zeugnisse besitzen. Rechtsordnungen, die von anderen Rechtsordnungen kraft Diffusion stark befruchtet worden sind wie etwa die jüdische366 seitens

363  Seine biotische Parallele ist die Neukombination von Erbanlagen infolge ge­ schlechtlicher Paarung. Vgl. dazu oben A 3, ferner B. Rensch (1991), S. 143. 364  Vgl. dazu oben B 1 a und C 2 c. 365  Vgl. dazu und zum Verhältnis zwischen Diffusion und Radiation noch unten J 5 c γ. 366  5. Mose 5 12–26. Die Entstehungszeit dieses größten zusammenhängenden juristischen Materials der Juden fällt in die Regierungszeit von König Josia (639–609) und steht somit der Entstehungszeit sowohl der Gesetzessammlung von Gortyn als auch dem XII-Tafelgesetz von Rom nahe.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

der Babylonier (Kodex des Hammurapi) und der Ägypter367 werde ich zu­ nächst ausscheiden, ihre Ergebnisse aber wegen deren hoher Bedeutung für die Rechtsentwicklung in abschließende Zusammenfassungen partiell einbe­ ziehen. Nicht zielführend erscheinen mir derzeit größer angelegte Versuche, anhand der Wanderungsbewegungen von Volksstämmen das Mitwandern von rechtlichen oder rechtsähnlichen Institutionen zu rekonstruieren. Auch einer Auflistung von später zu rechtlicher Bedeutung gelangten Begriffen aus einer indoarischen Ursprache ist zwar der Erkenntniswert nicht abzusprechen, weil sie für ein hohes Alter entsprechender Institutionen bürgt; sie garantiert aber keineswegs, dass die Institutionen spezifisch indoarisch sind, solange die nichtarischen Völker nicht in die Untersuchung einbezo­ gen werden und deshalb der Nachweis fehlt, dass diese Institutionen ausschließlicher Kulturbesitz indoarischer Stämme sind.

Der Aufbau der folgenden Untersuchung ist gleichförmig: Auf einen kur­ zen Abriss der politischen Geschichte eines Staates folgt eine knappe Dar­ stellung seiner wirtschaftlichen Situation, weil zwischen Wirtschaft und Recht überall ein enger Zusammenhang, wenngleich nirgends ein spiegel­ bildliches Verhältnis,368 bestanden hat. Als Nächstes folgen Ausführungen zur Bedeutung des Rechts innerhalb der sozialen Ordnung sowie zum Stand der Gesetzestechnik. Damit wird der Blick frei auf die Entwicklung eines individuellen protostaatlichen Rechts, die später durch eine vergleichende Betrachtung ergänzt wird. 1. Die Rechtsentwicklung in Ägypten und Mesopotamien (α) Politische Geschichte. Mesopotamien und Ägypten waren Protostaa­ ten, die sich zwischen 3500 und 3000 v. u. Z. um große Ströme herum gebil­ det hatten: Ägypten um den Nil, Mesopotamien um Euphrat und Tigris. Mehrere Volksstämme trafen an diesen Strömen aufeinander: in Ägypten Stämme, die von der Niederschlagsarmut aus der Sahara-Wüste vertrieben wurden, auf Stämme der Nubier, die am südlichen Nil siedelnden; in Meso­ potamien Stämme der Sumerer aus dem Südosten auf semitische Stämme aus dem Norden. In beiden Fällen fanden die Völker an den Flüssen Bedingun­ gen vor, die sowohl den Getreideanbau als auch die Viehzucht gestatteten. 367  Zum Einfluss der altorientalischen Rechte und des altägyptischen Rechts auch auf das griechisch-römische Recht vgl. R. Haase (1965), S. 116. 368  Dies hat besonders M. Weber (1922/2005, S. 233, 252) betont: „Ökonomische Situationen gebären neue Rechtsformen nicht einfach automatisch aus sich, sondern erhalten nur eine Chance dafür, dass die rechtstechnische Erfindung, wenn sie ge­ macht wird, auch Verbreitung findet.“ Deshalb kann „eine ‚Rechtsordnung‘ unter Umständen unverändert bleiben, obwohl die Wirtschaftsbeziehungen sich radikal än­ dern“, oder sie kann sich verändern, „ohne dass Wirtschaftsbeziehungen dadurch in irgend erheblichem Maß berührt werden“.



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts241

Die Trockenheit des Bodens mussten sie allerdings durch künstliche Kanäle ausgleichen, deren Bau nicht nur viel Arbeit kostete, sondern auch eine vo­ rausschauende Organisation erforderte. Deshalb scharten sich die Stämme jeweils um Führerpersönlichkeiten: in Ägypten um einen König als mensch­ lichen Gott, der kraft seiner von göttlichen Vorfahren ererbten Machtvoll­ kommenheit regierte; in Mesopotamien um mehrere Priesterfürsten, die die Herrschaft über das Land unter sich aufteilten. Zahl und Dignität der Herr­ scher waren somit unterschiedlich. Dennoch waren sowohl Ägypten als auch Mesopotamien Protostaaten im oben definierten Sinne: hierarchisch aufge­ baute politische Einheiten, regiert von religiös legitimierten Herrschern und zentral verwaltet mithilfe einer Bürokratie, die sich auf ein ausgebildetes Schriftsystem stützen konnte. Ägypten war aufgrund seiner Lage an sich Europa zugewandt: Während es im Westen und im Osten teils an Wüsten, teils an das Rote Meer grenzte, erstreckte es sich von Süd nach Nord längs dem Nil wie „eine grüne Schnitt­ wunde strotzenden Lebens“369 bis ans Mittelmeer. Doch erst in relativ später Zeit gingen von ihm über das Mittelmeer hinweg fruchtbare Anregungen an die europäische Kultur aus. In der Zeit, über die hier zu berichten ist, bestand dagegen fast kein Kontakt. Seine Bewohner begaben sich niemals aufs Meer, bauten keine Flotte, um Handel mit Europa zu treiben oder gar durch Siege über europäische Flotten die Meereshoheit zu erfechten. Der frühe ägypti­ sche Staat blieb nach innen gekehrt, versunken ins Bewusstsein seiner eige­ nen Machtfülle, deren Symbole seine Könige (Pharaonen) waren. Im ‚Alten Reich‘ (AR), genauer seit der IV. Dynastie (ab ca. 2613), erbten sie ihr Amt als Söhne des Sonnengottes Re und somit als mit dem Königsamt beliehene Götter.370 Überlebensgroße Statuen versinnbildlichten diese ihre göttliche Abstammung. Seit der V. Dynastie (ab ca. 2494) trat jedoch hervor, dass sie auch Menschen waren und somit eine Zwischenstellung zwischen Göttern und Menschen einnahmen. Man errichtete nunmehr einerseits Sonnenheilig­ tümer für den Sonnengott Re, für sie andererseits gewaltige Obelisken, auf denen man ihre militärischen Taten verherrlichte. Nochmals veränderte sich ihre Stellung seit der VI. Dynastie, während der mehr als neunzigjährigen Regierungszeit von Phiops II. (ca. 2254–2160). Nunmehr gewannen Orts­ kulte an Bedeutung und Gaufürsten an Macht, was beides sich auch in der Bautätigkeit ausdrückte. Kleine Fürstentümer lösten sich schließlich aus der Umklammerung der Zentralregierung. Der König wurde zu einem rein menschlichen Machthaber, und am Ende brach seine Macht plötzlich in sich 369  J. A.

Wilson (1946), p. 31. kam in ihrem Titel ‚Horus‘ zum Ausdruck: Sie waren die irdischen Ver­ körperungen des Himmels- und Sonnengottes Horus (in der symbolischen Gestalt eines Falken). 370  Dies

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

zusammen, ohne dass es der Einwirkung von außen bedurft hätte. Beduinen drangen in das Nildelta ein. Es begann eine fast zweihundert Jahre währende ‚Erste Zwischenzeit‘. Danach erstarkte die Macht der Könige allerdings wieder. Die Fürstentü­ mer wurden in den Gesamtstaat wieder stärker eingebunden, und um ca. 2025 entstand das ‚Mittlere Reich‘ (MR) als neue Ordnung. Das Land nahm wirtschaftlichen Aufschwung, die Bildung weitete sich aus. Im Süden wurde das Goldland Nubien kolonisiert und durch Festungen gesichert, im Nordos­ ten wurde Palästina erobert, im Westen hatten Feldzüge gegen Libyen Er­ folge. Grabinschriften deuten sogar auf eine ‚Demokratisierung‘ des öffent­ lichen Lebens hin. Doch am Ende stand wiederum der politische und kultu­ relle Verfall. Kleinkönige etablierten sich abermals. Im östlichen Nildelta siedelnde semitisch-kanaanäische Bevölkerungsteile gewannen an ­Gewicht und rissen um 1650 als ‚Hyksos‘ (Fremdherrscher) die politische Macht an sich. Es begann eine ‚Zweite Zwischenzeit‘. Sie endete erst, als plötzlich ein innerer Einheits- und Freiheitsdrang die Ägypter erfasste und zu den Waffen greifen ließ. Sie vertrieben die Fremden und zogen selber erobernd über die Grenzen: nach Süden bis an den dritten Nilkatarakt und nach Osten bis in die Ebene des Euphrat, also bis an die Grenze zu Mesopotamien. Mesopotamien, das Land zwischen Euphrat und Tigris im Nordosten des heutigen Irak, war weder so insulär abgeschlossen noch so religiös geprägt wie Ägypten. Das gab seiner Entwicklung eine gänzlich andere Richtung. Wirtschaft und Handel bestimmten den Alltag der dort wohnenden Sumerer – nicht nur im Binnenraum der beiden großen Ströme, sondern darüber hinaus im ständigen Austausch mit den angrenzenden Stämmen in der arabi­ schen Wüste, auf der Hochebene Armeniens und am Rande des Zagrosgebir­ ges. Überall, wo der Handel florierte, entstanden Ortschaften. Die größeren von ihnen hatten zwischen 5.000 und 8.000 Einwohner, Uruk, die Haupt­ stadt, sogar über 10.000. Obwohl die meisten Menschen sich von der Land­ wirtschaft ernährten, gab es doch auch spezialisierte Handwerker: Bäcker, Brauer, Töpfer, Steinmetze und Bildhauer. Vor allem gab es aber jede Menge Händler, die einesteils den Austausch handwerklicher Produkte gegen Über­ schüsse von Lebensmitteln aus den umliegenden Dörfern, andernteils den Austausch landwirtschaftlicher und handwerklicher Produkte gegen Bauholz und seltene Mineralien aus entfernter liegenden Gegenden vermittelten. Ebenfalls vom Handel inspiriert war die Erfindung einer Keilschrift (um 3400), die zur Aufzeichnung vor allem von wirtschaftlichen Fakten, Ansprü­ chen und Verpflichtungen benutzt wurde. Sie entwickelte sich von einer Bildzeichen- zu einer Silbenschrift und schließlich zur Buchstabenschrift. Der Unterschied zu Ägypten trat deutlich hervor: Auch die Ägypter besaßen eine Schrift, aber sie benutzten sie fast ausschließlich zur Verherrlichung ihrer Könige. Den Sumerern diente die Schrift dagegen für so alltägliche



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts243

Dinge wie etwa den Verkauf eines Sacks Mehl an einen ausländischen Händler. Allerdings benutzten die Sumerer die Schrift auch zur Aufzeich­ nung von Hymnen, Beschwörungen und Mythen (um 2600). Und dass sie diese Aufzeichnungen höher als ihre Handelsverträge schätzten, bewiesen sie, indem sie Bibliotheken anlegten und Archive errichteten, um sie für die Nachwelt zu sammeln (um 2400). Das sumerische Reich bestand aus relativ kleinen Segmenten; auch Stadt­ staaten waren darunter gleich den viel späteren griechischen. Einen einheitli­ chen Staat, der gleich dem ägyptischen bis zum Mittelmeer reichte, schufen sie nicht. Das taten erst die Akkader: ein semitisches Volk, das durch Zuwan­ derung allmählich das Übergewicht über die Sumerer erlangt hatte. Und ob­ wohl die sumerische Kultur erst unter ihrem König Sargon (etwa 2414–2358) voll erblühte, war Akkad, das Sargon unweit des heutigen Bagdad als Haupt­ stadt erbaute, allein ihr Werk. Sprache und Schrift der Sumerer dagegen wurden weiterhin in Kult und Liturgie verwendet. Und als das akkadische Reich um 2200 unter dem Ansturm der Gutäer ebenfalls zerfiel, erlebte die sumerische Kultur unter Urnamma (2123–2105; Reg. 2112–2095) sogar noch­ mals eine Blüte (Ur III). Danach freilich gewann einseitig die Politik die Oberhand. Urnammas Sohn Šulgi (Reg. 2094–2047) schuf eine einheitliche Verwaltungsstruktur mit Provinzen, die jeweils von einem stadtartigen Zent­ rum aus von einem Stadtfürsten (ensi) und einem Militärbefehlshaber (šagin) regiert wurden. Und wie in Ägypten sorgte von jetzt an ein zentral gesteuertes, effizientes Beamtentum für die Erhebung von Steuern und für die Leistung von Diensten an den Staat. Doch ebenso wie in Ägypten erstickte die Büro­ kratie allmählich auch die Leistungsfähigkeit des Staates. Umgebende Stämme nutzten seine Schwäche und brachen ins Land ein. Ur wurde 2004 vom Osten aus durch die Elamiten erstürmt, ihre Bewohner verließen die Stadt, sodass sie verfiel. Es begann eine lange Periode des kulturellen Niedergangs. Danach stiegen zunächst Isin (u. a. Lipit-Ištar), Larsa, Mari und Ešnunna zu führenden Stadtstaaten auf. Sie wurden jedoch alle von Hammurapi371 (Reg. 1793–1750) erobert, der an ihre Stelle ein einheitliches Königreich Babylon setzte und dieses so weit festigte, dass es Anspruch auf politische Größe erheben konnte. Dieser Anspruch blieb auch nach Hammurapis Tod noch eine Zeitlang erhalten. Ebenfalls eilte die babylonische Kultur einem Höhepunkt entgegen. Ja, sie war selbst dann noch dominant, als nach hun­ dertfünfzig Jahren des politischen Niedergangs die Hethiter 1595 Babylon eroberten und später die Assyrer in ganz Mesopotamien die Vormacht erlang­ ten. Babylon war und blieb geistige Metropole: Es gebar eine große, eigen­ 371  Die früher übliche Schreibung des Namens ist inzwischen aufgegeben worden: Der zweite Bestandteil des Namens ist nicht als -rabi, sondern -rapi zu interpretieren und bedeutet „ist Heiler“.

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ständige Literatur und eine Wissenschaft, die neben Mythologie und Wahr­ sagekunst auch Jurisprudenz, Mathematik, Grammatik und Medizin umfasste. Seine politische Bedeutung freilich verlor es ein- für allemal. (β) Wirtschaftliche Grundlagen. Während die Bedeutung der Religionen in Ägypten und in Mesopotamien kaum unterschiedlicher hätte sein können, bildete einheitlich hier wie dort die Wirtschaft die Grundlage des Staates.372 Ihre Kraft schöpfte sie aus dem Wasser der Flüsse, und man trachtete danach, seine fruchtbare Wirkung noch durch Trockenlegung einerseits, durch Kana­ lisation andererseits flächendeckend zu erweitern, um so dem ständigen Be­ völkerungswachstum Rechnung zu tragen. Dass Ägypten im Gegensatz zu Mesopotamien politisch ein Einheitsstaat mit zentralisierter Wirtschaft war und blieb, hängt mit dem fast völligen Fehlen größerer Ortschaften zusam­ men: Diese entstanden nur, wo Waren vom See- auf den Landtransport um­ geschlagen werden mussten, nämlich im Bereich des Nildeltas und an den alten Wanderstraßen zu den Westoasen und zum Roten Meer.373 In Meso­ potamien dagegen hatten sich stadtähnliche Zentren bereits im 4. Jt. etabliert, und diese Siedlungskultur hielt nicht nur während der sogen. Uruk-Periode (bis ca. 3100), sondern auch danach noch an, weil sie zwar die Rivalität zwischen den Zentren verschärfte, aber keine die Oberherrschaft über die anderen gewinnen ließ. Organisatorische Zentren der Wirtschaft waren in Mesopotamien die Tem­ pel, deren es so viele wie Götter gab. Götter aber gab es in Menge, nämlich insgesamt 3600 (60 x 60), weil jede Siedlung ihren eigenen Gott hatte. In die Tempel mussten die Bauern einen staatlich vorgeschriebenen374 Teil ihrer Ernte (hauptsächlich Hartgetreide) abliefern. In den größeren Siedlungen wurden darüber hinaus dort die Produktionsüberschüsse gesammelt und Vor­ ratslager für Notzeiten angelegt. An einer Handelsstraße gelegene Tempel enthielten gleichzeitig Stapellager für den Tauschhandel mit dem Ausland. Über den mesopotamischen Tauschhandel mit dem Ausland wissen wir, dass er frühzeitig zwischen Indien und dem Fernen Osten und Europa vermittelte375 und dass er die Urbanisierung außer in Mesopotamien auch im Industal stimulierte. Die Waren wurden per Schiff oder mit Karawanen sowohl ins Land als auch außer Landes ge­ dazu W. Helck (1975), S. 18 ff., 116 ff.; M. Gutgesell (1989). Verteidigung gegen Feinde waren die Stadtgründungen, anders als die ent­ sprechenden mesopotamischen, nicht erforderlich. Vgl. E. R. Service (1977), S. 285. 374  Die kleinen Stadtstaaten zogen eine jährliche Quote aus der landwirtschaft­ lichen und bergbaulichen Erzeugung ein, schrieben überdies den Umfang des Handels vor und brachten durch weitere Abgaben und Dienstleistungen große Teile des Volks­ einkommens an sich. 375  Es gab sowohl eine Landroute, die über Elam, den südlichen Teil des Iran und Beludschistan zum Industal führte, als auch eine Seeroute durch den Golf von Persien nach Indien. Weitere Routen führten nach Syrien und in den Kaukasus. 372  Vgl. 373  Zur



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bracht. Nach dem Niedergang Sumers erlangte Babylon den Rang als wichtigster Umschlagplatz. Einflussreiche Handelsherren bildeten dort mit ihren Familien regel­ rechte Dynastien. Und da ihnen vor allem Rechtssicherheit unverzichtbar erschien und der Staat dafür zu sorgen hatte, erlangte das Recht gerade in Babylon eine große Bedeutung – eine viel größere als in Ägypten.

In Ägypten waren die Ernten, die die Familien einfuhren, weniger reichlich als in Mesopotamien. Das lag nicht an der geringeren Fruchtbarkeit des Bo­ dens, vielmehr war das Land beiderseits des Nils enger als im Zweistromtal und darum dichter besiedelt, der Boden in kleine Parzellen katastermäßig je nach Qualität aufgeteilt. Auch am Handel gab es in Ägypten wenig zu ver­ dienen: Er beschränkte sich im AR fast ausschließlich auf den Binnenmarkt und nahm selbst insoweit keinen nennenswerten Umfang an; denn die Fami­ lien stellten die für die Feldbestellung benötigten Geräte meistens selbst her und verbrauchten die Ernten meist auch selber. Für einen Außenhandel war die isolierte Lage Ägyptens ebenfalls abträglich; allein nach Unterägypten sickerten gelegentlich ausländische Waren: meist Luxusgüter, die sich die breite Masse aber nicht leisten konnte. Dieser Zustand änderte sich erst nach der Ersten Zwischenzeit, als es den Pharaonen gelang, die Verwaltung des Reiches in Memphis zu zentralisieren. Von hier aus erließ der Pharao alljährlich eine Verordnung, worin er für jedes katastermäßig erfasste Stück Land die Anpflanzung von Getreide und ande­ ren Gewächsen sowie die Menge der an die staatlichen Speicher abzuliefern­ den Ernteanteile festlegte. Darüber hinaus gründete er Dependancen und er­ setzte diese später durch königliche Landdomänen, die zusätzliche Anbauflä­ chen längs dem Nil teils durch Trockenlegung von Sümpfen, teils durch Bewässerung trockenen Bodens gewannen und so u. a. die Versorgung der mit dem Pyramidenbau beschäftigten Zwangsarbeiter sicherstellen konnten. Schließlich gelang es dem Staat sogar, generell an die Stelle der Dorfwirt­ schaft eine Staatsdomänenwirtschaft treten zu lassen, die auch noch die ört­ liche Bürokratie mit dem Lebensnotwendigen versorgte: Die Beamten erhiel­ ten Dörfer oder Güter als Einnahmequelle zugewiesen oder wurden in beste­ hende Güter als Verwalter eingesetzt. Und als man sah, dass sie die Zentrale in der gewünschten Weise entlasteten, erlaubte man ihnen sogar eigene „Gründungen“ (grg.t) und damit eine Art privates, vererbliches Eigentum neben dem staatlich kontrollierten Grundbesitz. Allerdings war das des Gu­ ten wohl doch zu viel; denn von jetzt an schlugen die Staatsbeamten in der Provinz Wurzeln, häuften Macht und Reichtum und traten aus der Befehlsge­ walt des Staates allmählich heraus.

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(γ) Rechtsbegriff 376 und rechtliche Ordnung. Begriffe für ‚Recht‘, ‚Gesetz‘ oder ‚Norm‘ gab es weder in Mesopotamien noch in Ägypten. Was man in Mesopotamien an den Königen rühmte, waren die ‚Geradheit‘ (mīšarum) und ‚Beständigkeit‘ (kīnātum) ihres Wirkens, wenn sie maßgebliche Urteile ge­ fällt oder gar Gesetze erlassen hatten.377 Maßstab für die Geradheit war me: eine mit der Weltschöpfung zusammenhängende unpersönliche Kraft zur Ordnung der Natur. Selbst die Götter waren ihr untertan;378 wichen sie von ihr ab, indem sie sich beispielsweise als lokale Gottheiten nicht auf ihren Herrschaftsbereich beschränkten, dann wurden sie schuldig.379 Für die Men­ schen bedeutete me die ihnen von den Göttern geschenkte ‚gute Sitte‘. In ihr war die allgemeine Rechtsüberzeugung nicht nur verankert, sondern auch grundsätzlich jedem Menschen offenbart; alle Rechtssatzungen hatten einzig den Zweck, sie noch einmal zu verdeutlichen.380 In Ägypten war der entspre­ chende Zentralbegriff ma`at (mӡct)381, worin Wahrheit, Gerechtigkeit, Recht, Ordnung, Weisheit, Echtheit und Aufrichtigkeit eingeschlossen waren. Ob­ wohl wir deshalb weder für Mesopotamien noch für Ägypten von einer staatlichen Rechtsordnung außerhalb der allgemeinen Sittenordnung sprechen dürfen, beide Staaten also keine ‚Rechtsstaaten‘ in unserem Sinne waren, fielen Teile der geltenden Normen doch eindeutig unter unseren Begriff des Rechts, weil die Staatsmacht ihre Geltung garantierte und gegen Übeltäter notfalls erzwang. 376  Die Rechte aller altorientalischen Staaten fasst man gewöhnlich unter dem Be­ griff ‚Keilschriftrechte‘ zusammen, ohne dadurch mehr als die äußerliche Gemein­ samkeit der sie verkörpernden Schrift zu bezeichnen. In Altägypten benutzte man zunächst Hieroglyphen, sodann eine ‚hieratische‘ (= von Priesterhand herrührende) Schrift, die später (seit ca. 650 v. u. Z.) durch die ‚demotische‘ (= volkstümliche) Schrift ersetzt wurde. Der Ursprung beider Schriftarten war der Versuch, die Gegen­ stände der Sprache, nicht ihre Begriffe, zum Ausdruck zu bringen. Siehe dazu noch unten H 2 e aa. 377  Dazu J. Krecher (1980), S. 346 ff. 378  W. von Soden (1961), S. 561: „Sowohl auf die Menschen als auch auf die Göt­ ter wirkte es sich in Gestalt des auf Tafeln geschriebenen nam aus, für das wir nur die sehr unzureichende Übersetzung ‚Schicksal‘ haben.“ 379  Sie konnten also sogar auch gegenüber den Menschen schuldig werden, wenn sie ihnen mehr Leid widerfahren ließen, als sie verdienten (J. B. Pritchard, 1969, p. 596 ff.). Ein Priester des eroberten Lagaš erhob daher seine Klage wegen Mordes, Plünderung und Brandstiftung nicht etwa gegenüber dem Eroberer, sondern gegen­ über der Göttin Nidaba, die dies geschehen ließ (vgl. W. von Soden, 1961, S. 546 f.). 380  Hammurapi verstand deshalb seinen Kodex als Belehrung für den Recht­ suchenden: „Ein unterdrückter Bürger, der eine Rechtssache hat, möge vor meine Sta­ tue, die des ‚Königs der Gerechtigkeit‘, hintreten, meine beschriftete Stele sich vorle­ sen lassen und meine hochschätzbaren Worte anhören; meine Stele soll ihm seine Rechtssache aufhellen, sodass er seinen Rechtsspruch ersieht …“ (Epilog ­XLVII a. E.). 381  W. Helck (1980), S.  303 ff., 304.



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Zwar nicht für ‚Recht‘ im Allgemeinen, doch für den ‚Rechtsspruch‘ im Besonderen standen in Mesopotamien (sumerische bzw. akkadische) Fachter­ mini zur Verfügung (di, dīnum).382 Auch gab es eine große Anzahl von Be­ griffen, von denen anzunehmen ist, dass sie neben ihrer Bedeutung im Alltag eine juristische Bedeutung besaßen: etwa für Eheschließung, Ehescheidung, Kauf, Tausch, Darlehen, Bürgschaft und Pfand. Erhalten sind ferner Ge­ richtsurkunden (seit Ur III), die knappe Angaben u. a. über Richter, streitende Parteien, geltend gemachte Ansprüche, Zeugen für Tatsachen und Begrün­ dungen für richterliche Entscheidungen enthalten.383 Man kann deshalb da­ von ausgehen, dass bereits in frühester Zeit gerichtliche Entscheidungen aufgrund förmlicher Verfahren und allgemein anerkannter Normen der ‚Rechtschaffenheit‘ (akk. kittum = das Feststehende, Beständige)384 gefällt wurden. Dass die ‚Normen der Rechtschaffenheit‘ indes nicht die einzige Rechtsquelle waren, geht aus dem Vorhandensein von Leges (ebenfalls seit Ur III)385 hervor, die auf Stelen aufgezeichnet und in Tempeln ausgestellt waren und über die Zeiten hinweg erhalten geblieben sind. Wegen der Schrift­unkundigkeit des größten Teils der Bevölkerung lag darin zwar keine förmliche Publikation, wohl aber eine Festlegung ihres Inhalts: Niemand durfte künftig hiervon abweichen. Die meisten Zeugnisse aus dem mesopotamischen Rechtsleben sind allerdings Privatverträge, die von rechtskundigen ‚Schreibern‘ auf Tontafeln ausgefertigt wur­ den. Sie handeln meistens von kommerziellen Vorgängen, etwa von Verkäufen von 382  Die Termini wurden allerdings auch außerhalb des rechtlichen Bereichs ver­ wendet, z. B. bei der Entscheidung eines militärischen ‚Streits‘. 383  Sie beziehen sich hauptsächlich auf Vorgänge innerhalb der städtischen Mittelund Oberschicht; die in den ländlichen Gebieten geltenden Regeln lassen sich aus ihnen nicht erschließen. 384  Das Wort kittum wurde sowohl im juristischen als auch im nicht-juristischen Zusammenhang verwendet. In der Sphäre des religiösen Denkens beispielsweise be­ nannte es die Gesamtheit kosmischer, unwandelbarer Wahrheiten. Der König solle kittum durchsetzen, hieß es beim offiziellen Akt seiner Thronbesteigung und in regel­ mäßigen Abständen während seiner Regierungszeit. Die Durchsetzung selbst wurde als mīšarum (s. o.) bezeichnet. 385  Bisher sind sechs solcher ‚Leges‘/‚Kodizes‘ bekannt geworden: das Gesetz des Urnamma aus Sumer (= LU) im 21. Jh., das Gesetz des Bilalama von Ešnunna (= LE) aus Babylonien im 20. Jh., das Gesetz des Lipit-Ištar von Isin (= LL) aus Babylonien um die Mitte des 19. Jh., der Kodex des Hammurapi (= CH) aus Babylonien um 1700, ein Hethitisches Gesetzbuch aus Kleinasien um die Mitte des 16. Jh., ein Assyrisches Gesetzbuch aus Assyrien im 14. bis 12. Jh. Von diesen ist nur das Gesetz des Hammurapi ein Kodex in dem Sinne, dass die darin enthaltene Zusammenfassung von Rechtssätzen die ordnende Hand des Kodifi­ kators erkennen lässt. Die übrigen Gesetze dagegen sind lediglich ‚Rechtsbücher‘, d. h. Sammlungen von Rechtssätzen (wahrscheinlich Gerichtsentscheidungen) ohne eine durchgehend systematische Ordnung.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Ländereien, Häusern oder Sklaven, von der Ablieferung von Waren an einen Tempel, von der Ausgabe von Lebensmittelrationen an öffentlich angestellte Arbeiter u. a. m. Daneben wurden aber auch rein persönliche Vorgänge dokumentiert, etwa eine Hei­ rat.

Während in Mesopotamien das Bild der Wirtschaft auch das Bild des Rechts prägte, brachte das Recht Ägyptens den stark moralischen Charakter des Staates zum Ausdruck. Die ma`at hielt Ägypten in Atem: Sie wirkte so­ wohl in der göttlichen Gerechtigkeit des Totengerichts als auch in der menschlichen Gerechtigkeit des Miteinander-Umgehens und im Einklang zwischen der Menschen- und der Götterwelt. Sie stiftete eine soziale Ord­ nung, worin Macht zwar vorhanden und nötig war, das Recht aber den Ton angab.386 Und weil in der Welt sich alles bewegt, geschah das gemäß der ma`at und bedurfte nach ägyptischer Anschauung eines aktiven Wirkens in deren Sinn: „Tu ma`at, solange du auf Erden bist: Beruhige den Weinenden, unterdrücke keine Witwe, verdränge niemand vom Besitz seines Vaters und schädige nicht die Beam­ ten in ihrem Amt. Hüte dich vor ungerechter Bestrafung. Töte nicht, denn das ist für dich nicht nützlich.“387

Herr über die ma`at war der göttliche Pharao; sein Wille war Ausdruck der Macht, sein Wort Ausspruch des Rechts. Während der IV. Dynastie wurde er zum Sohn des Sonnengottes Re und damit Herrscher über die ma`at mit der Einschränkung, dass sein Mund den Willen des Sonnengottes lediglich kund­ tat. Seine Aussprüche – seit dem MR als ‚Gesetze‘ (hpw)388 bezeichnet – verdeutlichten die Ordnung, die die ma`at stiftet; denn diese war, wie die Lehre des Ptahhotep kündet, „beständig an der Spitze“389 – als das (gleicher­ maßen politische wie religiöse) Prinzip, von dem auch das ‚Recht‘ ausging und seinen Inhalt erhielt. In Erscheinung trat das ‚Recht‘ hauptsächlich in den Titularien, die im Wege königlicher Dekrete verliehen wurden. Sie bestimmten den gesell­ schaftlichen Rang einer Person – wobei der Nepotismus reiche Blüten trieb – und knüpften Berechtigungen daran: Am höchsten stand die königliche Titu­ 386  Bezeichnend dafür ist der Mythos vom Kampf zwischen den Brüdern Horus und Seth, worin Seth, der Gott der Gier und der Gewalt, dem schwachen Horuskna­ ben unterliegt, der das Recht auf seiner Seite hat. 387  Lehre [die König Achthoes gemacht hat] für seinen Sohn Merikaré (9./10. Dy­ nastie, 22. Jh. v. u. Z.). Dazu W. Helck (1977). 388  Dazu W. Helck (1980), S. 309: „Das Wort stammt wahrscheinlich von einem Verb, das ‚befreien‘ bedeutet; dies zeigt an, dass die entscheidenden Befehle des Kö­ nigs (wd nswt) die Befreiungsdekrete gewesen sind, die wir besonders aus dem AR kennen: Tempel und Kapellen, aber auch private Totenstiftungen werden von den Verwaltungsanordnungen ausgenommen.“ 389  Z. Žába (1956), 84 ff.



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts249

latur, gefolgt von der der Prinzen, der Wesire,390 der Richter usf., wobei die Rangfolge insbesondere der niederen Ränge im Lauf der Zeit wechselte (im MR gab es über 1.600 Titel)391. Was sonst noch wichtig war, bedurfte im Allgemeinen keiner rechtlichen Regelung; es unterstand entweder herkömm­ lichem Brauchtum oder den Normen der Sitte, genauer: den Normen jener uralten Sippen- und Stammesverbände, welche die Gründung des Staates überdauert hatten und von denen der Staat den moralischen Aspekt der ma`at übernommen hatte. Erst später wuchs der ma`at durch Reflexion auf den göttlichen Kosmos zusätzlich der religiöse Aspekt zu. Sie ‚galt‘ von da an im Staat als sittliche und religiöse Verpflichtung und konnte auch dort, wo das Recht das soziale Leben nicht in die Zange nahm, jederzeit vom Staat durch­ gesetzt werden. In der Lehre des Ptahhotep heißt es allerdings auch, dass man die Verletzer von „Normen“ (hp)392 bestrafen solle. Doch welche Normen sind gemeint? Es gab höchstwahrscheinlich weder in früher noch in späterer Zeit ein Strafgesetzbuch oder überhaupt allgemeine vom Königswillen unabhängige Gesetze.393 Es gab zwar einen sog. Kodex Hermopolis,394 der aber dem Richter lediglich die Kenntnis des Gewohn­ heitsrechts vermittelte und zur exemplarischen Entscheidung von Fällen diente.395 Daneben gab es Königsbefehle, Weisungen der Gaufürsten und eine ständige Recht­ sprechung der Gerichte, später auch örtliche Notariate, die sich mit der Rechtspre­ chung der heimischen Priestergelehrten abstimmten. Gesetze aber gab es nur in Ge­ stalt von Sondergesetzen, namentlich für Tempelgründungen. Und da diese zusätzlich mit Strafsanktionen bewehrt waren, können wir folgern, dass es sonst keine Straf­ rechtsnormen gab. Deshalb handelt es sich bei den sonstigen ‚Strafen‘ für die Über­ tretung von Normen wohl nicht um rechtliche, sondern staatlich durchsetzbare mora­ lische Sank­tionen.

390  Dem Wesir, der als eine Art Premierminister und Gerichtspräsident fungierte, oblag die Staatsverwaltung, die zwar bis zuletzt zentralisiert, aber auf mehrere Minis­ terien (z. B. das ‚Schatzhaus‘ als zentrale Sammelstelle für alle Importe und Abgaben) aufgeteilt, war. 391  Vgl. den Index von W. A. Ward (1982). Worin die Berechtigungen im Einzel­ nen bestanden, lässt sich heute nicht mehr ausmachen. Keinesfalls bestanden sie im Erwerb einer anerkannten Position im Staat; denn dazu bedurfte es entweder eines Befähigungsnachweises oder guter Beziehungen zu höheren Personen. 392  Die genaue Bedeutung von hp ist umstritten. W. Erichsen (1954, S. 274) über­ setzt das Wort mit „Gesetz, Gericht, Gerechtigkeit, Strafe“, aber auch mit „Bedin­ gung“ (für den Gewinn eines Prozesses). 393  J. A. Wilson (1961), S. 354: „Wir vermuten, dass sich Beamte und Richter nach den ihnen jeweils bekannten Bräuchen und Verfahren richteten, die sie als Ausdruck des königlichen Willens, nach königlichem Geheiß willkürlicher Abänderung unter­ worfen, begriffen.“ Erst seit der 18. Dynastie sind Gesetze belegt, die jedoch mit dem Willen des Pharaos identifiziert werden. 394  Siehe dazu St. Grunert (1982). 395  T. Q. Mrsich (2005), § 17.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Die Betonung des kommerziellen Einschlags im mesopotamischen, des moralischen Einschlags im ägyptischen Recht bedeutet nicht, dass dem me­ sopotamischen Recht der moralische, dem ägyptischen Recht der kommer­ zielle Bezug vollständig gefehlt hätte. Einerseits findet sich in der sume­ rischen Literatur, ausgenommen vielleicht die Heroenmythen, eine tiefe Sehnsucht auch nach einer umfassenden moralischen Ordnung, die zu wahren teils kosmische Aufgabe der Götter, teils irdische Aufgabe des Staates sei – gerichtet nach außen gegen die Feinde des Landes, nach innen gegen die Ungerechtigkeiten im Verhältnis zueinander. So heißt es etwa, ein guter Staat solle durch seine Gesetzgebung die Schuldhaft begrenzen und den Verkauf von Familienangehörigen und familien-eigenem Land zur Schuldentilgung rückgängig machen.396 Andererseits war das ägyptische Recht auch gegen­ über den wirtschaftlichen Bedürfnissen des Staates oder des täglichen Lebens nicht blind. Zum einen berechtigte es den Staat, von seinen Bürgern Steuern und Abgaben für seine Leistungen zu verlangen. Zum anderen gab es jedem seiner Bürger entsprechend der Reziprozitätsnorm Ansprüche auf Ausgleich seiner Leistungen durch staatliche Gegenleistungen. Formularverfahren und das Recht auf die Inanspruchnahme eines (rechtskundigen) Schreibers be­ wirkten überdies, dass darüber hinaus jeder Ausgleichsanspruch als verbind­ lich galt und dass er tatsächlich erfüllt wurde.397 (δ) Gesetzgebung und Rechtsprechung. Zur Gesetzgebung war in Mesopotamien der Lugal (= großer Mann) berufen,398 in Ägypten der Pharao. Ge­ setzlich geregelt werden konnten offenbar alle Lebensbereiche, in Mesopota­ mien mit Ausnahme der familien-internen. Dennoch war das meiste nicht gesetzlich geregelt, sondern dem Brauchtum und der Sitte überlassen. Was rechtlich gesichert werden sollte, musste daher zwischen den Beteiligten durch Vertrag geregelt werden. In vielen Fällen war dafür die Rechtsform der Beurkundung erforderlich (z. B. bei Ehescheidung, Adoption, Erbfall, z. T. auch bei Kauf, Verwahrung, Verpfändung).

396  Vgl. LE § 39, CH § 149. In den Leges von Ešnunna finden sich darüber hinaus Normen, die zum Schutze der Armen Höchstpreise für Dinge des täglichen Bedarfs sowie für Mieten und Dienstleistungen festlegen. 397  Fälle des Barkaufs sind urkundlich kaum belegt, da sie formlos von Hand zu Hand vollzogen wurden und ihr Rechtscharakter den Beteiligten kaum ins Bewusst­ sein drang (vielleicht auch gar nicht vorhanden war). Dagegen finden sich viele Ur­ kunden über den Kreditkauf: Hier verspricht der Käufer eidlich, den Preis für die erhaltene Ware binnen einer bestimmten Frist zu zahlen. Vgl. E. Seidl (1956, S. 16 ff.) für die Zeit nach dem Ende des NR. 398  In Assyrien konnten zur Zeit der Handelskolonien (ca. 1900–1700 v. u. Z.) auch die Stadtversammlung von Assur und das Handelsamt von Kanisch Anordnungen erlassen, denen höchstwahrscheinlich Rechtscharakter zukam.



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts251

Auch die Rechtsprechung war in Mesopotamien399 dem Lugal kraft seiner herausragenden Stellung vorbehalten (mit Sicherheit seit Ur III), wurde von ihm aber meistens an seine Statthalter (ensik) in den Provinzen oder an deren Vertreter delegiert, weil denen auch sonst die Aufrechterhaltung der öffentli­ chen Ordnung oblag. Lediglich wichtige Strafprozesse führte der Lugal sel­ ber durch, zumal wenn es seinem Ruhm dienlich war. Weise Sprüche, kluge Beurteilung widersprüchlicher Sachdarstellungen und die Aufdeckung fal­ schen Zeugnisses waren alsdann dazu angetan, sein Ansehen in der Bevölke­ rung zu heben. Die niedere Gerichtsbarkeit wurde oft noch nicht einmal von den Statthaltern, sondern von Personen ausgeübt, die keine Berufsrichter, sondern mit besonderer Autorität ausgestattete Laien waren. Tätig wurden sie entweder als Einzelrichter oder häufiger im Rahmen eines Spruchkörpers. Daneben gab es eine Tempelgerichtsbarkeit, deren Funktionen jedoch seit der Zeit Hammurapis von staatlichen Beamten ausgeübt wurden (mit Ausnahme des Gottesentscheids). In Ägypten unterschied man zwei Prozessarten: den Schiedsprozess und den streitigen Prozess. Der Schiedsprozess (wp snwj = „die beiden trennen“) war einfacher und daher verbreiteter. Er war nicht auf Streitfälle beschränkt, sondern konnte beispielsweise auch stattfinden, wenn zwei Parteien einen beiderseits befriedigenden Vertrag abschließen wollten, aber ohne Einschal­ tung eines Dritten sich über dessen Inhalt nicht einigen konnten, oder wenn sie einen Rechtsübergang gerichtsnotorisch machen wollten.400 Ein streitiger Prozess wurde nötig, wenn rechtserhebliche Behauptungen der Parteien ein­ ander widersprachen oder wenn jemand einen Straftatbestand behauptete. Dann musste „ein ‚Wortetrennen‘ mit ihm [dem Gegner bzw. Täter] stattfin­ den vor dem großen Gott“401, d. h. es mussten der Klagegrund und die dage­ gen erhobenen Einwendungen geprüft und in der Regel Beweise erhoben werden. Als Beispiel aus dem AR ist der Prozess gegen den Wüstengott Seth wegen Tötung und Zerstückelung seines Bruders Osiris berühmt geworden. Zuständig für die Ent­ scheidung des Falles war der höchste Götterrat. Als Kläger kam Horos, der Sohn des Osiris, in Betracht. Die Pyramidentexte, die über den Prozess berichten,402 nennen zum Folgenden A. Walther (1917/1968). römische Recht kannte als vergleichbare Institution die in iure cessio. Sie war dem alten Eigentumsprozess (legis actio sacramento in rem) nachgebildet, hatte aber keinen Streit zum Gegenstand: Der ‚Kläger‘ behauptete sein Eigentum, der ‚Be­ klagte‘ schwieg und ‚verschwieg‘ damit sein Recht. Der Magistrat sprach daraufhin die Sache dem Erwerber zu. Vgl. hierzu Gaius, Inst. IV 16; M. Kaser/R. Knütel (2014), § 14 (S. 89 ff.). 401  „Großer Gott“ wird vielleicht der Vorsitzende einer Spruchkammer gewesen sein. 402  Pyramidentexte Nr. 958, 959. 399  Vgl.

400  Das

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

die möglichen Verteidigungen, die Seth zur Verfügung standen: „Ich habe es nicht gegen ihn getan. Er war es, der mich angegriffen hat. Er war es, der mich herausfor­ derte.“ Als Zeuge trat der getötete Osiris auf, der inzwischen von seiner Gemahlin Isis mithilfe des Gottes Anubis wiederbelebt worden war. Seth wurde als überführt angesehen403 und vom Göttergericht verurteilt: „Geschlagen [mit dem Opferstab] wird Seth, wahr ist Osiris.“ Die Vollstreckung des Urteils war Sache des Klägers.404

Die Gerichtsverfassung des AR und des MR kennen wir nur aus Beamten­ titeln. Es scheint sechs Gerichtshöfe gegeben zu haben, denen Wesire vor­ standen, welche den Titel eines „Oberpriesters der Ma`at“ führten. Weitere Rechtsprechungsfunktionen übten die Gaugouverneure sowie lokale Obrig­ keiten aus. Die örtliche und sachliche Abgrenzung ihrer Zuständigkeit ist unklar. (ε) Rechtsentwicklung: Entwicklungen, denen das Recht im Laufe seiner ältesten Geschichte unterlag, können wir nur bruchstückhaft erfassen. Auch lassen sich eigenständige Veränderungen nicht immer scharf von äußeren Einflüssen durch einwandernde Völkerschaften (‚Diffusionen‘) abgrenzen. Für Mesopotamien ist überdies zu berücksichtigen, dass die überlieferten Dokumente aus unterschiedlichen Regionen mit teilweise unterschiedlichen Rechtstraditionen stammen, deren wechselseitige Beeinflussung wir nicht genau verfolgen können. Die mesopotamische Rechtsentwicklung lässt sich innerhalb der sumerischen Zeit nur anhand der in Ton geschriebenen notariellen und gerichtlichen Urkunden nach­ vollziehen.405 Bei den ersten Urkunden aus der 1. Hälfte des 3. Jt.s über Grund­ stücksveräußerungen ist deren Rechtscharakter noch unklar; denn es werden aus­ schließlich Personen und Sachen sowie deren Funktion beurkundet: „die Fläche x [ist] das [verkaufte] Feld“, „NN [ist] der Empfänger des [Kauf-]Preises“.406 Wahr­ scheinlich handelte es bei den Urkunden also lediglich um Beweismittel.407 Seit der Mitte des 3. Jt.s wird der Grundstückskauf jedoch als Rechtsgeschäft beurkundet: 403  Seth hatte ein Zweikampfordal gefordert, wie es im alten Recht bei Unaufklär­ barkeit durch Urkunden oder Zeugen als Beweismittel zugelassen war. Seine Forde­ rung wurde jedoch mit der Begründung abgewiesen, dass man auf diese Weise Recht von Unrecht nicht scheiden könne. 404  Allerdings „entging Seth seinem Todestag“; lediglich sein Gefolge wurde zer­ stückelt. Doch künftig stand er im Rang unter Osiris und musste ihn „tragen“. Horus dagegen wurde sein Nachfolger. 405  Vgl. dazu J. Krecher (1974), S.  145 ff. 406  Die Urkunden über Grundstücksveräußerungen sind relativ einheitlich und zeichnen sich durch knappe Stilisierung aus. Beim Feldkauf werden beispielsweise genannt: (1) Kaufpreis i. e. S., (2) Größe des Feldes, (3) Erstattungsleistung, (4) Zu­ weisungsleistung, (5) Naturalleistung, (6) Namen der Leistungsempfänger, (7) Namen der Zeugen, (8) Leistungen an den Vermesser und den Schreiber, (9) Name des Er­ werbers, (10) „übertragen“ (bal), (11) Name der Flur. ‒ Weitere Urkunden betreffen den Hauskauf. 407  H. Neumann (2003), S. 68.



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts253

„NN hat das Haus x von NN für den Preis y gekauft“.408 Ferner gibt es aus der 2. Hälfte des 3. Jt.s eine große Zahl von Urkunden auch über den Sklavenkauf, über Darlehen, Bürgschaften, abstrakte Schuldversprechen, Schuldzahlungen (Quittungen). Das heißt aber nicht, dass derartige Rechtsgeschäfte nicht schon früher getätigt wur­ den; offenbar wird die Urkunde jetzt zum sichernden Bestandteil des Rechtsgeschäfts. Ein noch weiteres Sicherheitsbedürfnis bezeugt sich im 24. Jh.: Von jetzt an finden sich in den Urkunden Vertragsstrafen für den Fall, dass nachträglich von dritter Seite Ansprüche auf das Kaufobjekt geltend gemacht werden.

Die gerichtlichen Urkunden aus der akkadischen Zeit (23. Jh.) lassen Ten­ denzen zur Hierarchisierung der Sozialstrukturen erkennen. In den notariellen Kaufverträgen wird ferner mehr als bisher die Haftung des Verkäufers für Rechtsmängel betont.409 Zur Erfüllung von Kaufpreisforderungen werden sowohl Darlehen von dritter Seite als auch Kreditierungen durch den Verkäu­ fer üblich. Schuldscheine dienen darüber hinaus zum Nachweis, Bürgschaf­ ten und Pfandbestellungen (sowohl Sach- als auch Personenpfand) zur Siche­ rung von Forderungen. Die Sammlungen der Leges beginnen mit Ur III.410 Der Dynastiebegründer Urnamma (Reg. 2111–2094) hinterließ ein etwa 50 Paragraphen starkes Ge­ setzeswerk, das (wohl erstmals) zumindest Teile des seinerzeit geltenden Rechts erfasste.411 Das Werk beginnt mit einem Prolog, der in einen theolo­ gischen, einen historischen und einen moralischen Teil gegliedert ist. U. a. preist Urnamma darin, dass er dem Lande die Gerechtigkeit durchgesetzt habe. Das Werk endet mit einem Epilog, worin derjenige verflucht wird, der den Text der Normen tilgen sollte. Die einzelnen Paragraphen sind in der von nun an üblichen konditionalen Form („wenn … dann“) abgefasst, also auf bestimmte Situationen bezogen (‚kasuistische Gesetzgebung‘).412 Inhaltlich 408  Die Urkunden sind weniger einheitlich als früher. Das Normalformular für den Landkauf enthält: (1) Größe des Feldes, (2) Flurbezeichnung, (3) „Kaufpreis dafür“, (4) „[den Preis] hat NN [= Verkäufer] erhalten“, (6) „NN [= Käufer] ist derjenige, der den Kaufpreis entrichtet hat“, (7) „NN sind die Zeugen dafür“. 409  Beim Feldkauf haftet der Verkäufer mit dem Doppelten des Kaufpreises bzw. mit Versklavung, falls von dritter Seite ein dem Eigentumserwerb widersprechender Anspruch geltend gemacht wird. 410  Gesetzesbruchstücke der Könige von Lagaš aus früherer Zeit (24.–21. Jh.) sind in einer Sammlung keilschriftlicher Rechtstexte (R. Haase, 1979, S. 1 ff.) enthalten. Das bekannteste davon ist das Edikt des Königs Urukagina von Lagaš aus der Mitte des 23. Jh.s, worin sich dieser, wie spätere Herrscher auch, als „Schützer der Witwen und Waisen“ bezeichnet und deren Ausbeutung verbietet sowie Arme aus der Schuld­ knechtschaft befreit. Zu diesem Leitthema des Vorderen Orients, Ägyptens und Indi­ ens vgl. J. Assmann (1995), S. 245 ff. 411  Vielleicht stammt das Gesetzeswerk auch erst von seinem Sohn Šulgi (Reg. 2094–2047), von dem bekannt ist, dass er ein rühriger Gesetzgeber war. 412  Der kasuistischen entgegensteht die ‚apodiktische Gesetzgebung‘ mittels direk­ ter Verbote und Gebote (vgl. dazu noch unten J 6 c β). Sie war hauptsächlich in der

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

handeln sie u. a. von Straftaten, Eherechten und -pflichten, Verantwortung für die Feldbestellung und Rechtsfragen der Sklavenhaltung. Etwa 200 Jahre jünger sind die Leges des Königs Lipit-Ištar von Isin (Reg. 1934–24). Sie werden ebenfalls von einem Prolog und einem Epilog eingerahmt und bezie­ hen sich inhaltlich hauptsächlich auf das Personen- und Vermögensrecht. Auffallend ist das Fehlen von Kapitalverbrechen innerhalb der Straftaten. Als etwa gleichzeitig, eher etwas später, sind die sogen. Leges von Ešnunna zu datieren. Im Unterschied zu den vorigen sind sie in akkadischer Sprache abgefasst. Auch fehlen diesmal Prolog und Epilog. Ein weiterer Unterschied ist, dass neben die konditionale Form der Normen gelegentlich die relativi­ sche („ein Bürger, welcher…“) oder die (nicht auf Situationen sondern auf Werte bezogene) apodiktische („darf nicht“) tritt. Gegenstände der Leges sind Preis- und Miettarife, ehe- und familienrechtliche Vorschriften, Verbote von Rechtsgeschäften, Bestimmungen über deren Inhalt, Strafdrohungen ge­ gen Kapitalverbrechen sowie andere unerlaubte Handlungen. Von den ehemals wahrscheinlich in weit größerer Zahl vorhandenen akka­ dischen Rechtsbüchern hat der Kodex Hammurapi (ca. 1755) eine besondere Berühmtheit erlangt, weil er das älteste vollständig erhaltene Gesetzbuch der Menschheit ist.413 In seinen 282 Paragraphen führt er die in den Leges von Ešnunna schon keimhaft angelegte Systematik weiter durch. Auch gibt er den in den Leges Lipit-Ištar (etwa in §§ 18, 25) und von Ešnunna (etwa in §§ 24, 50) deutlich werdenden Tendenzen zur differenzierteren Regelung von Sachverhalten sowie – damit verbunden – der Normierung komplexerer Tat­ bestände mehr Raum. Auffällig ist ferner, dass die Klärung von Beweisfragen nicht erst dem Prozess überlassen wird, sondern bereits die materiellen Tat­ bestände prägt.414 religiösen Gesetzgebung verbreitet, weil man die Reaktionen Gottes auf einen Geset­ zesbruch ja nicht vorherbestimmen konnte. Vgl. etwa 2. Mose 22 17: „Die Hexen sollst du nicht am Leben lassen.“ Gleich darauf aber 2. Mose 22 18: „Wer einem Vieh beiwohnt, der soll den Tod erleiden.“ 413  Ein ‚Kodex‘ im modernen Sinne, der das gesamte geltende Recht in erschöp­ fender Weise darstellt, ist Hammurapis Gesetzbuch freilich immer noch nicht. Es enthält Normen, die dem Willen seines Schöpfers Ausdruck geben, „vom Starken den Schwachen nicht entrechten zu lassen“ und die Reform des Rechts insgesamt voran­ zutreiben. Vgl. dazu W. Eilers (1932/2009), S. 12; W. Preiser (1969), S. 32 f. 414  Schon § 11 der Leges Lipit-Ištar bestimmte: „Wenn neben dem Hause eines Mannes das unbebaute Land eines [anderen] Man­ nes vernachlässigt worden ist und der Herr des Hauses dem Herrn des unbebauten Landes gesagt hat: ‚Weil das Land vernachlässigt worden ist, kann jemand in mein Haus einbrechen; verstärke das Haus!‘ und die Benachrichtigung von ihnen bestätigt worden ist, soll der Herr des unbebauten Landes dem Herrn des Hauses alles Eigen­ tum ersetzen, das [bei einem Einbruch] verloren gegangen ist.“ Der spätere Kodex des Hammurapi enthält viele solcher beweisgesicherten Tatbe­ stände (z. B. §§ 9, 49, 159 ff.).



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts255

Inhaltlich lässt sich der Kodex Hammurapi in zwei große Bereiche gliedern: Seine ersten 41 Normen beziehen sich auf den Schutz von öffentlichen Interessen (des Pa­ lastes, der Tempel, der sozialen Ordnung), seine späteren Normen enthalten Bestim­ mungen zum Vermögensrecht (§§ 42–126), zum Familien- und Erbrecht (§§ 128–193), zu Körperverletzung und Sachbeschädigung (§§ 196–240), zu Nutzungsverträgen (§§ 241–277) und zur Sklavenhaltung (§§ 178–282). Hierbei wird (erstmals?) klar zwischen vertraglichen und außervertraglichen Rechtsbeziehungen unterschieden.

Wieweit eine Rechtsentwicklung auch in der Erweiterung der möglichen Beweismittel zum Ausdruck kommt, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Zeugen waren von jeher üblich, Urkunden seit Einführung der Schrift. Darü­ ber hinaus nehmen die Leges Urnamma (soweit sie uns überkommen sind) Bezug auf das Flussordal (§ 10), die Leges von Ešnunna auf prozessuale Eidesformeln (z. B. in § 22: „Du hast keinen Anspruch gegen mich.“), der Kodex Hammurapi auf beide (etwa in §§ 2, 232). Bemerkenswert ist im Ko­ dex Hammurapi ferner die häufige Verwendung von Spiegelstrafen (etwa bei den Körperverletzungsdelikten, §§ 196–210)415 sowie die Androhung der Todesstrafe auch für Eigentums-, Freiheits- und Sittlichkeitsdelikte.416 Genauer noch als in den Gesetzen wird die allmähliche Ausdifferenzierung des Rechts aus der Sittenordnung in den überkommenen Vertragsurkunden deutlich. Bereits die verwendete Terminologie zeigt ein allmähliches An­ wachsen spezifisch juristischer Begriffe. Teilweise handelt es sich zwar le­ diglich um Präzisierungen von Alltagsbegriffen, teilweise aber auch um Er­ weiterungen hin zu einem spezifisch juristischen Begriffsapparat: Während man beispielsweise früher zwischen Tausch und Kauf nicht unterschied, tritt später als Besonderheit des Kaufes die Geldzahlung hervor. Der hohen Be­ deutung des Kreditwesens tragen Verträge und Sicherungsinstrumente Rech­ nung, die immer feiner auf die Interessen der Parteien abgestimmt werden. Durch soziale Maßnahmen abgemildert werden Härten der Rechtspraxis wie beispielsweise der Zugriff auf die Person des Schuldners und auf seine Fami­ lie, falls eine hoheitliche Pfändung von Sachen unmöglich ist. Allerdings bleibt das juristische Denken noch immer konkret-operational, eine sozialon­ tologische Basis fehlt ihm. Daher wird auch über das Recht-an-sich sowie über eine spezifisch rechtswissenschaftliche Methodik nicht nachgedacht. Stattdessen finden sich allenthalben magisches Denken, rituelle Handlungen mit magischer Kraft und feierlich gesprochene Worte mit magischer Bedeu­ tung.

415  Grund dafür könnten die Vorstellungen des Nomadenvolks der Amurriter sein, von denen Hammurapi abstammte. 416  Insgesamt wird die Todesstrafe im Kodex Hammurapi fünfundzwanzig Male angedroht.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Selbst in Tafel 7 der Serie ana ittišu417 und Clay 28 § 4 schließen Rechtsfolgen noch an die feierliche Aufkündigung des Verwandtschaftsverhältnisses an.418 Weitere Fälle finden sich in §§ 37 ff. der hethitischen Rechtssammlung.419

Während wir in Mesopotamien die Rechtsentwicklung anhand der über­ kommenen Dokumente einigermaßen gut verfolgen können, spielte sie sich in Ägypten hauptsächlich im Bewusstsein der Menschen ab und ist daher für uns weitaus schlechter erkennbar. Äußerlich waren über die Jahrhunderte hinweg die Dauer und die Abschottung gegen alles, was Wandel, Verände­ rung, Fortschritt usw. bedeutete, Kennzeichen der ägyptischen Kultur. Den­ noch konnte sich Ägypten als Staat nur deshalb so lange erhalten, weil es sich innerlich entwickelte und nur so tat, als bliebe alles beim Alten. Ein markantes Beispiel für diese Haltung sind die beliebten moralischen Bücher. Zwei Jahrtausende hindurch unterwiesen sie untere Beamte, wie sie sich in typi­ schen Situationen im Umgang mit Vorgesetzten, vor Gericht, bei der Gründung eines eigenen Hausstands u. ä. zu verhalten haben. Ihre Ratschläge blieben weitgehend dieselben, doch unter der Oberfläche zeigen sich Unterschiede. Das Buch des Ptah­ hotep war in der Aufstiegszuversicht des alten Reiches abgefasst: selbstbewusst, un­ religiös, am geschäftigen Treiben der Welt interessiert. Das Buch des Amenemope atmet dagegen den Geist der Spätperiode: zurückhaltend, fromm, weltabgewandt.420

Ebenfalls nur scheinbar unverändert blieben über die Jahrhunderte hinweg die Dogmen; doch unter der Oberfläche ihrer abstrakten Form wandelte sich auch ihr konkreter Inhalt. Für die ma`at beispielsweise standen im AR die absolutistischen Rechte des Herrschers im Zentrum; für die ma`at des MR waren unter dem allmählich erwachenden Drang nach individueller Selbstbe­ hauptung die Rechte der Untertanen zu weiteren wesentlichen Elementen geworden. Unter der Hand hatte sich also eine Idee von Menschenrechten durchgesetzt, die zwar immer noch weit entfernt war von ihrer heutigen Be­ deutung, jedoch Mitmenschlichkeit und soziale Gerechtigkeit erheblich stär­ ker betonte, als dies im AR denkbar gewesen wäre. Dass allgemeine Menschenrechte nicht anerkannt wurden, lag zum einen am Abso­ lutismus der Pharaonen des MR, welche die Interessen des Einzelnen zum eigenen Anliegen machten und sie daher der Eigeninitiative entzogen; zum anderen lag es an der ägyptischen Lebensart, die zu Leichtigkeit und Toleranz neigte und deshalb mit dem allgemeinen Gerechtigkeitsprinzip der ma`at besser fuhr als die Babylonier mit ihrer Neigung zu rationalen Gesetzesnormen.

Der Hyksos-Einfall, mit dem das MR endete, machte allen Ägyptern aller­ dings klar, dass Geschichte nicht, wie bisher, ewiges Sein bedeuten konnte, B. Landsberger (1937). „Wenn ein Sohn zu seinem Vater sagt ‚Du bist nicht mein Vater‘, dann darf dieser ihn rasieren, ihm die Sklavenmarke anlegen und ihn für Geld verkaufen.“ 419  Dazu R. Haase (2003), S. 133 ff. 420  J. A. Wilson (1961), S. 381. 417  Dazu 418  Z. B.



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sondern ständige Veränderung. Und die Befreiung von der Hyksos-Herrschaft bewies ihnen ferner, dass sie die Geschichte selber gestalten mussten, sofern sie in der immer enger zusammenrückenden Welt noch eine Rolle spielen wollten. Verlangt wurde von ihnen jener Tatendrang, der inzwischen die Göt­ ter erfasst hatte: denen es nicht mehr wie im AR genügte, die Menschen zu lenken, sondern die wetteifernd danach trachteten, konkret in die Geschicke der Menschen einzugreifen. Damit gelangten die Ägypter nunmehr zu jenem Weltverständnis, das die Babylonier infolge ihrer offenen Lage zwischen den Völkern schon sehr viel früher erreicht hatten: wonach Götter und Menschen miteinander rivalisieren und sich als irdische Herrscher nur diejenigen zu behaupten vermögen, die neben dem stärkeren göttlichen Beistand auch über die stärkere Armee verfügen. Diesem Weg folgte dann auch die ökonomische Vernunft der Ägypter. Im AR hatte sie um eine Zentralwirtschaft gekreist, die im König und seiner Residenz ihren Mittelpunkt hatte. In einem Zwischenstadium war dann die Zentralwirtschaft durch die Verselbstständigung von Tempelfeldern lokaler, aber über dem König stehender, Gottheiten erweitert worden. Jetzt stand, am Ende des langen Weges, das Privateigentum im Zentrum, vorgeführt von den lokalen Beamten, die sich als ‚Bauern‘ in die Tempelfelder einsetzen ließen und damit aus der Abhängigkeit vom Zentralstaat heraustraten. Verbunden mit dieser neuen Selbstständigkeit war „das Erlebnis der persönlichen Macht, der individuellen Freiheit“421. Allerdings war es nicht schon verbunden mit dem Erlebnis der sozialen Verantwortung für den Gebrauch der Freiheit. Vielmehr trat jetzt an die Stelle der staatlichen Ordnung die unkontrollierte Macht einiger weniger Familien. Und aus dieser Sackgasse konnte der Staat des MR die Wirtschaft nur wieder herausführen, indem er sie auf den Stand zu Beginn des AR zurückversetzte und das Privateigentum wieder beseitigte. Was er dagegen nicht zurückführen konnte, war das individuelle Freiheitsbe­ wusstsein.422 Dieses setzte an die Stelle einer sich ständig gleichbleibenden Welt eine durch den Willen veränderbare – wenngleich nur veränderbar durch einen Willen, der sich seiner Macht bewusst war.

421  W.

Helck (1975), S. 137; vgl. auch a. a. O. S. 64 ff. Helck bemerkt (1975, S. 196) dazu, dass das Erlebnis des Erwerbs aus eige­ ner Kraft weiter „in der Erinnerung“ gelebt habe. Es dürfte sich jedoch um einen ir­ reversiblen psychischen Entwicklungsvorgang gehandelt haben. Ebenfalls irreversibel dürfte gewesen sein, dass den Menschen die in der IV. Dynastie noch allgemein vorherrschende Überzeugung abhandenkam, dass die Gemeinschaftsarbeit an den Pyramiden letzthin ihnen selbst zugutekomme, weil der Schutz des toten Herrschers ihnen den Beschützer im Jenseits erhält. Deshalb musste „der Versuch der 12. Dynas­ tie scheitern, die Gleichheit der Menschen in ihrer Tätigkeit für den Staat zu begrün­ den“ (a. a. O. S.  196 f.). 422  W.

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Merkmale der Veränderung vom AR zum ausgehenden MR waren: • die allmähliche Ersetzung des Physischen, Handlungsmäßigen, durch das Psychi­ sche, Gewollte. Ursprünglich deutete das gesprochene Wort nur das Tun – es ver­ lieh ihm seine ‚Bedeutung‘. Allmählich aber wuchs ihm sozial auch eine das Tun vertretende rechtliche Bedeutung zu: Worte konnten befehlen, und wenn man sich nach dem Befehl zu richten hatte, dann bedeuteten die Worte ein Sollen – sie be­ haupteten ein ‚Recht‘. Damit traten sie aus ihrer Funktion als bloßer Begleiter des Faktischen heraus: Der mündlich erteilte Auftrag z. B. wurde zur Rechtsfigur, wenn der Untergebene ihm zu folgen hatte; und er übertrug Rechtsmacht, wenn er den Untergebenen zu einem rechtlich relevanten Tun bevollmächtigte. • die symbolische ‚Verkörperung‘ von Rechtsakten teils in der Feierlichkeit einer Rede, teils in der Symbolik einer rituellen Handlung. Nach Erfindung der Schrift (um 3200 v. u. Z.), die in Ägypten eine Hieroglyphenschrift war, drang diese sofort in das Rechtsleben ein und übernahm die Funktion der Symbolik, führte allerdings auch schnell zur Erstarrung nicht nur des in Bildzeichen festgehaltenen Wortschat­ zes, sondern auch der aufgezeichneten Rituale. Wertvoll blieb sie, weil sie den Urkundenbeweis und damit den Nachweis von Vertragsinhalten und daraus folgen­ den Ansprüchen (z. B. aus einem Kreditkauf) auch noch nach Jahr und Tag ermög­ lichte. • die Ausweitung von Begriffen auf funktional analoge Sachverhalte. So wurde z. B. im Familienrecht ursprünglich die gesamte Aszendenz mit ‚Vater‘ bzw. ‚Mutter‘, die Deszendenz mit ‚Sohn‘ bzw. ‚Tochter‘ bezeichnet, die seitliche Verwandtschaft mit ‚Bruder‘ bzw. ‚Schwester‘, dazu kamen noch ‚Gatte‘ bzw. ‚Gattin‘ sowie ein Begriff für ‚Schwägerschaft‘; später wurden diese Begriffe außer auf die verwandt­ schaftlich Verbundenen auch auf Personen angewandt, denen man eine ähnliche Funktion zuschrieb bzw. zu denen man ähnliche Gefühle entwickelte wie zu den Verwandten. Beispielsweise bezeichnete man als „Schwester“ (sn.t) nunmehr auch Seitenverwandte, etwa eine Kusine, sofern sie im sozialen Umfeld eine ähnliche Funktion wie eine Schwester bekleidete, oder die Geliebte, solange man zu ihr als künftiger Ehefrau (noch) keine sexuelle Beziehung hatte.423 In der Bezeichnung eines Höhergestellter als „Vater“ (jtj) hingegen schlug das patriarchalische Prinzip durch.424

Für das ökonomische Handeln folgte aus der Entwicklung des Freiheitsbe­ wusstseins eine stärkere Bedeutung des Willenselements beim Abschluss von Verträgen, sodass nunmehr auch Kreditverträge möglich wurden, bei denen der Vorleistung einer Sache (etwa eines Rindes) lediglich das Versprechen des Käufers zur Zahlung der vereinbarten Geldsumme gegenübertrat.425 Nachweisbar ist diese Entwicklung allerdings erst im NR, sodass darin ein Vorgriff auf die künftige ‚eigentliche‘ Geschichte des Rechts liegt, die für die T. Q. Mrsich (2005), § 68. Franke (1983), S. 34. 425  S. Allam (2003, S. 41) erwähnt, dass ein Oberpolizist zwei Kreditkäufe tätigte und jeweils die Sachen in Empfang nahm, dann aber jahrelang zahlungsunfähig oder -unwillig war, ohne dass seine Zahlungspflicht erlosch. 423  Vgl. 424  D.



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Ägypter trotz ihrer Vorbereitung im MR erst in der Zeit des NR begann (je­ denfalls ihnen erst dann voll bewusst wurde)426. Diese Zeit liegt außerhalb des Rahmens, den ich der vorliegenden Untersuchung gesetzt habe. 2. Die Rechtsentwicklung in Indien und China (α) Politische Geschichte. Die Kulturen Indiens und Chinas treten in etwa fünfhundertjährigem Abstand auf. Die indische ist die ältere, sofern man von einer sich ins mythische Dunkel verlierenden neolithischen Epoche agrari­ scher und städtischer Kleinstämme in China absieht. Deren Reste beschrän­ ken sich auf Funde von Keramik und geben uns über das soziale Leben keinerlei Auskunft. Auch die Sozialkultur in Indien wird uns erst etwa tausend Jahre nach denjenigen Mesopotamiens und Ägyptens zugänglich.427 Offenbar ging sie auf eine Besiedlung in den Bergen von Belutschistan zurück, breitete sich während des 4. Jt.s in das Industal aus und führte zur Gründung von Dörfern und kleineren Städten. Die Beziehungen zwischen den Tal- und den Bergbe­ wohnern waren lange Zeit eng, doch entwickelten sich die Talgründungen schneller, weil sie Handelskontakte mit dem Ausland knüpften und dorthin Metalle, Halbedelsteine und Nutzhölzer verkauften, die sie allerdings zuvor von den Bergbewohnern im Austausch gegen Getreide und andere Nahrungs­ mittel erhalten hatten. Mesopotamien war ihr wichtigster Handelspartner und trug wesentlich zur Gründung der beiden großen Städte des indischen Alter­ tums bei: Mohenjo-Daro und Harappa (je etwa 40.000 Einwohner). Ob diese Städte Mittelpunkte unterschiedlicher Reiche oder Residenzen desselben Reiches waren, ist unbekannt. Jedenfalls waren sie auffällig gleich angelegt und zudem unbefestigt – ein Zeichen dafür, dass man keine feindlichen An­ griffe befürchtete. Ihre Mauern schützten sie lediglich gegen Hochwasser. Das dort wohnende Volk besaß, anders als die Völker Mesopotamiens und Ägyp­ tens, trotz seiner Kulturhöhe höchstwahrscheinlich keine Schrift. Man fand auf Sie­ geln aus Speckstein sowie auf Ton- und Kupferobjekten zwar etwa 5.000 Piktogram­ me mit Tier- und Waffensymbolen. Doch handelt es sich offenbar um Siegel, die In­ dividuen, Familien, Clans oder Götter bezeichneten428 und mit denen vermutlich 426  T. Q. Mrsich (2005), § 133e: „Es ist schwierig, von einer ‚Entwicklung des Leistungsaustausches‘ zu sprechen, wenn man nur das AR und das MR einbezieht und nicht auch die demotische Zeit.“ 427  Vgl. zum Folgenden H. Mode (1959). 428  So das Ergebnis einer gründlichen Vergleichsstudie von St. Farmer/R. Sproat/ M. Witzel (2004), p. 19 ff. Die Hauptargumente der Studie sind, dass die extrem ge­ ringe Zeichenfrequenz keine genügende semantische und phonetische Breite ermög­ licht habe und dass die für Schriften erforderliche Wiederholung bestimmter Zeichen fehle. Der Beginn einer Schriftkultur fällt somit wohl erst in die Mitte des 1. Jt.s  v. u. Z.

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Handelsware gekennzeichnet wurde. Bemerkenswert ist auch, dass Tempel und Paläs­ te fehlten, obwohl die technischen Möglichkeiten zu ihrer Errichtung vorhanden wa­ ren. Götterdarstellungen gab es lediglich als Figurinen aus Terrakotta oder als Skulp­ turen aus Stein oder Bronze.

Mangels Schrift war Indien in der Zeit Mohenjo-Daros und Harappas ge­ mäß der hier gebrauchten Terminologie kein Staat, wohl aber ein Königreich (oder zwei Königreiche) ähnlich den afrikanischen; denn die Gesellschaft war hierarchisch strukturiert und wurde durch einen ausgedehnten Verwal­ tungsapparat zentralistisch verwaltet.429 Es gab ferner ein umfassendes Steu­ ersystem, das es u. a. erlaubte, Straßen und unterirdische Abwassersysteme zu bauen sowie Gemeinschaftseinrichtungen wie Kornspeicher u. ä. zu er­ richten und zu unterhalten. Für die Rechtsgeschichte ist diese Zeit mangels Quellen indes kaum von Belang. Auch später, nach dem Untergang von Mohenjo-Daro und Harappa (ca. 1500), bleibt die Zahl der Quellen zur indischen Geschichte ausgesprochen dürftig. Der indische Geist war – im Gegensatz zum chinesischen – zwar an religiösen und metaphysischen Spekulationen, nicht aber an der politischen Gestaltung des sozialen Lebens und somit auch nicht an dessen geschichtli­ cher Entwicklung interessiert. Es war ein Grundzug des indischen wie schon des ägyptischen Denkens, dass eigentlich nichts geschieht, was sich entwi­ ckelt, sondern dass alles beharrt. Erst zwischen 1300 und 1200 veränderte sich die Situation abrupt: Kriegerische Stämme (Ārya = ‚Edle‘) brachen aus dem Iran in Indien ein und eroberten weite Teile des Nordens. Nach früher herrschender Meinung töteten oder versklavten sie die eingesessene Bevölke­ rung und ersetzten ihre hoch entwickelte Stadtkultur durch eine rohe Vieh­ züchterkultur. Die neuere Auffassung sieht dagegen in der Kultur der Ārya eher die Antithese zur Zivilisation der Bevölkerung im Industal: Während diese eine Fülle von Resten hinterlassen hat, die auf ein blühendes kulturel­ les Leben hindeuten, aber keine schriftlichen Zeugnisse, hat jene zwar keine Reste hinterlassen, aber eine Fülle an Literatur, die uns von ihrem Leben und vor allem von ihren religiösen Vorstellungen einen Eindruck gibt – berühmt geworden sind vor allem die Veden mit der Ṛg Veda als ältestem Teil, der vor 429  Dass ich dennoch die Entwicklung Indiens hier zusammen mit der chinesi­ schen erörtere, rechtfertige ich zum einen mit Indiens vergleichbar hoher kultureller Bedeutung und zum anderen damit, dass – freilich von einem unterschiedlichen Staatsbegriff aus – viele Autoren sowohl Indien als auch China als die einzigen asia­ tischen Staaten nennen, von denen wir eine einigermaßen zuverlässige Kenntnis ha­ ben. R. Thapar (1981, p. 656) verlegt die Staatsentstehung Indiens zeitlich auf die Mitte des 1. Jt.s. v. u. Z. und geografisch auf das zentrale Gangestal. Anders H. Wimmer (2001), S. 111: „Aus bisher noch wenig geklärten Umständen gelingt in Indien der Durchbruch zur Staatlichkeit nicht. Im 3. Jh. v. Chr. sehen wir unter den Maurya zwar einen Versuch zu einer stärkeren politischen Zentralisierung, aber dieses Herr­ schaftsgebilde zerfällt wieder, ohne Spuren von Staatlichkeit zu hinterlassen.“



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1000  v. u. Z. konzipiert wurde, während die jüngeren Teile bis etwa 800  v. u. Z. reichen. Es ist daher wahrscheinlich, dass das ursprünglich vielleicht rohe, aber vitale Eroberervolk der Ārya die Kultur der dekadent gewordenen Er­ oberten übernahm und im eigenen Sinne weiterentwickelte.430 Die Ārya besiedelten allmählich die Ebene des Ganges  – eine Vielzahl kleiner Königshöfe, an denen Brāhmanen als Priester und Berater eine große Rolle spielten, gibt davon Zeugnis. Eine Vermischung mit den Einwohnern ist wahrscheinlich. Rund 700 Jahre nach ihrer Einwanderung bildeten die Ārya ein erstes zentralisiertes Großreich mit Magadha (im Osten der GangesEbene) als Zentrum. Dieses Reich können wir gemäß der hier gebrauchten Terminologie als ‚Staat‘ bezeichnen.431 ‚Geheimlehren‘ (Upanishaden) wur­ den verbreitet, Gautama Siddhārta (Buddha, d. i. ‚der Erwachte‘) stiftete um die Mitte des 1. Jt.s eine neue Religion. Zusammen mit der Schrift (brāhmī) entstand die Literatur des dharmasūtra.432 Nochmals ein halbes Jahrtausend später war Aśoka Piyadasi (ca. 272–236) die herausragende Persönlichkeit. Er gründete das Großreich der Maurya und regierte es mittels einer durchge­ gliederten Verwaltung.433 Obwohl er sich selbst zum Buddhismus bekannte, duldete er auch andere Religionen in seinem Reich. Bald darauf drangen al­ lerdings die Griechen unter Alexander dem Großen in Indien ein und nach ihnen andere Völker. Westliche Einflüsse wurden wirksam, und ein neuer Zeitabschnitt begann.

430  Die Ārya waren zwar keine Nomaden, besaßen aber auch keine feste Bindung an den Boden, auf dem sie lebten. Sie waren ein Volk von Viehzüchtern, das fortzog, wenn das Vieh nicht mehr genügend Nahrung fand, und sich neue Weidegründe suchte. Ihre Kultur war vermutlich einfach, technisch aber weiterentwickelt als die der Indus-Bewohner. Sie kannten keine Schrift, wohl aber eine reiche mündliche Überlieferung, hauptsächlich von historischen Ereignissen und vom Leben großer Helden, die von wandernden, sozial hoch angesehenen Barden in ein metrisches Maß gegossen und vorgetragen sowie von Generation zu Generation weitergegeben wurde, oft leicht verändert und den Wünschen der Zuhörer angepasst. Ihre Epen erweisen sie als eine in drei Klassen gegliederte Gesellschaft aus Edlen, Gemeinen und versklav­ ten Angehörigen besiegter Feinde. Jeder ihrer Stämme bestand aus einer Anzahl von Haushalten mit einem Mann als Oberhaupt sowie Frau und Kindern, ferner jüngeren Mannesbrüdern und deren Familien sowie weiteren Verwandten, die sich entschlossen hatten, dem Haushalt anzugehören. Die Haushaltsvorstände bildeten den Adel, die armen Verwandten die Gemeinen, die noch auf dem zugehörigen Grund lebenden Personen für gewöhnlich die Sklaven. Die Abstammung war patrilinear, aber es gab kein Patriarchat. Die Frau behielt vielmehr die soziale Position ihrer Verwandtschafts­ gruppe bei mit der Folge, dass sie nicht selten sozial höher stand als ihr Ehemann. 431  Im Einzelnen dazu R. Thapar (1981) und R. S. Sharma (1989). 432  Es handelt sich um eine Kompilation aus mehreren älteren Quellen, die uns teils im Original, teils in Zitaten späterer Autoren überliefert ist. 433  Näher zum Mauryanischen Staat vgl. B. D. Chattopadhyaya (1994), p. 15 f.

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China tritt etwa fünfhundert Jahre später als Indien aus dem Dunkel der Vorgeschichte, dann allerdings sogleich im Übergang zu einem staatlichen Gebilde.434 Seine Geschichte beginnt im 17. Jh. v.  u.  Z. mit der ShāngDynastie, deren Gebiet im Nordosten des heutigen Chinas lag: östlich be­ grenzt vom Gelben Meer, westlich vom Gebiet der heutigen Provinz Shănxī, nördlich von der inneren Mongolei und südlich vom Fluss Yángzĭ. Angel­ punkt der Geschichte war eine fortwährende innere Kolonisation mittels Zi­ vilisation, getragen von einer politischen Einigungsidee, die zwar am Ende der Zhōu-Dynastie, in der Zeit der ‚streitenden Reiche‘ (475–221), gefährdet war, jedoch niemals so weit verloren ging, dass sie eine Reichseinigung un­ möglich machte.435 Deshalb war die Gründung des chinesischen Kaiserreichs im Jahre 221 v. u. Z. nur ein Kulminationspunkt in der Entwicklung und die anschließende Zeit bis zum Ende des chinesischen Altertums (220 u. Z.), aufgeteilt in eine Q’ín-Dynastie (221–207) sowie eine frühe und eine späte Hàn-Dynastie (206 v. u. Z.–9 u. Z.; 23–220 u. Z.), eine Glanzzeit der altchine­ sischen Geschichte. In dieser Zeit verbreitete sich die chinesische Kultur von ihrem Zentrum am Gelben Fluss nach Norden und Westen bis zum Rand der Steppe und im Süden bis an den Rand des Kontinents. Die Shāng-Dynastie begann als aristokratisches Königreich, entwickelte sich aber gegen Ende zum Staat. Dynastischer Kern war die Domäne des Großkönigs (wáng), umgeben von den Gebieten der Fürsten, die sich in ei­ nem feudalen Abhängigkeitsverhältnis zu ihm befanden. Der Großkönig war, wie fast überall im frühen Altertum, zugleich oberster Heerführer und obers­ ter Priester. Er leitete sowohl die Feldzüge als auch die Opfer an die Götter, damit sie Regen und Schutz vor Naturkatastrophen spendeten. Dennoch er­ wies sich seine Macht auf Dauer nicht stark genug, um einer Allianz der Schwächeren standzuhalten. Als daher der letzte Shāng-Herrscher ein arger Wüstling war, verschworen sich die übrigen Herrscher gegen ihn und be­ zwangen ihn unter der Führung des Königs Wu aus dem westchinesischen Hügelland (etwa Mitte des 11. Jh.s). Größte Stadt während der Shāng-Zeit war Ao. Sie maß 3,5 Quadratkilometer und war mit einer 20 m dicken Lehmmauer umgeben. Zu vermuten ist, dass hauptsächlich der Adel und die Beamtenschaft darin wohnten und einige Handwerksbetriebe dort ihren Sitz hatten. Der weitaus größte Teil der Bevölkerung lebte dagegen als Acker­

434  Der Schriftgebrauch ist in China für das 14. Jh. v. u. Z. nachgewiesen, dürfte sich aber schon weitaus früher entwickelt haben. 435  Der Begriff ‚Reich‘ (chin. T’ien-hsia = ‚[das] unter dem Himmel [Befind­ liche]‘) ist im Folgenden nicht politisch, sondern kulturell als Ausbreitungsgebiet der chinesischen Kultur zu verstehen. Im politischen Sinne tritt an seine Stelle der Begriff Kuo, der aus den Schriftzeichen für ‚Hellebarde‘ (‚Schutz mit der Waffe‘) und ‚Mund‘ (‚Sprache‘) zusammengesetzt ist (vgl. W. Bauer, 1965, S. 148 f.).



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bauern und Viehzüchter verstreut auf dem Lande und war dem Adel zu Abgaben verpflichtet.

Die anschließende Zhōu-Zeit war durch eine feudalistische Gesellschafts­ ordnung gekennzeichnet, aufgeteilt – entsprechend der in Berge und Täler gefalteten Struktur des Landes – in Hunderte mehr oder weniger mächtiger Domänen, aus denen die königlichen Domänen herausragten. Typischerweise bildete darin eine ummauerte Stadt mit Priestern, Beamtenschaft und spezia­ lisierten Handwerkern den Mittelpunkt; die Dörfer im Umland waren für die Ernährung zuständig und zu entsprechenden Abgaben verpflichtet. Die Ge­ sellschaftsstruktur beruhte auf der Ahnenverehrung: Wer denselben Urahn verehrte, gehörte demselben Adelsclan an und galt als befähigt, ein Stück Land als Lehen oder ein Amt zu erhalten. Mit der Zeit vermehrte sich die Zahl der Adelsangehörigen allerdings so stark, dass nicht alle eine feudale Position erhalten konnten. Soweit sie dann nicht im Heer oder als Beamte Anstellung finden konnten, wurden sie Kaufleute oder beackerten die ihnen verbliebene Parzelle. Und da das Land gleichzeitig mehr und mehr ins Ei­ gentum der früher hörigen Bauern überging, verloren sich die gesellschaft­ lichen Gegensätze. Die Zhōu-Dynastie dauerte vier Jahrhunderte, zerbrach dann aber am Ego­ ismus der Fürsten. Von da an ging es mit der königlichen Macht nur noch abwärts: Es begann die „Zeit der streitenden Reiche“, in der es zwischen den Territorialfürsten zu offener Rivalität kam. In dieser Zeit wurde jedoch der Gedanke geboren, künftig mit Gesetzen zu regieren. Die Fürsten bildeten grundlegende Institutionen eines Staatswesens aus; einige legten sich den Königstitel zu und brachten dadurch zum Ausdruck, dass sie keine höhere Macht über sich anerkannten. Unabhängige Denker entwickelten daneben neue staatspolitische Schulen. Einem der Fürstenhäuser, das eine solche Schule praktizierte, nämlich dem Hause der Q’ín, gelang es, seine Rivalen zu besiegen und einen Einheitsstaat zu gründen. Nach ihrem militärischen Sieg im Jahre 221 v. u. Z. stellten sie die Einheit des Reiches wieder her. Und zum Unterschied zu den Territorialfürsten nannten sie sich huáng-dì, was wir mit ‚Kaiser‘ übersetzen. Den Q’ín-Kaisern gelang es dank effizienter Administration, die Systeme künstlicher Bewässerung zu verbessern, Kanäle für die Schifffahrt zu bauen und so erstaunliche Leistungen wie den Bau der Chinesischen Mauer (mit 2.450 km Länge nach wie vor das größte Bauwerk der Erde) zu vollbringen. Auch das Besteuerungssystem wurde effektiver ausgestaltet, indem die Ab­ gaben künftig nicht mehr von den örtlichen Feudalherren, sondern zentral eingezogen wurden. Daneben bauten die Q’ín eine große Armee auf, mit deren Hilfe ihnen die Reichseinigung gelang. Doch anschließend entglitt ih­ nen die Beherrschung der Truppen. Mangels anderweitiger militärischer Be­

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schäftigung kam es zu Revolten, aus denen schließlich die Hàn-Dynastie hervorging. Begründer der Hàn-Dynastie war Liu Pang, ein Bauernsohn, der es erst zum Landgendarm, dann zum Räuberhauptmann und zuletzt zum Herrn über seine Heimatpräfektur gebracht hatte. Im Streit um die Macht wusste er sich gegen alle Widersacher durchzusetzen, so dass ihm 202 v. u. Z. die Kaiser­ würde zuteil wurde und er am Ende seiner Regierungszeit sogar den Ehren­ namen Kao (‚der Erhabene‘) erhielt. Nach einer vorübergehenden Beruhi­ gung der Verhältnisse unter dem Kaiser Wu (141–87) entstanden allerdings wieder Wirrungen: Räuberbanden durchzogen das Land, Diadochen be­ kämpften sich gegenseitig. Und in diesen Wirren ging schließlich auch das Hàn-Reich 220 zugrunde. China wurde in die ‚Drei Reiche‘ geteilt, und eine neue Zeit, vergleichbar dem europäischen Mittelalter, begann. (β) Wirtschaftliche Grundlagen. Wie in den meisten antiken Staaten beruh­ ten sowohl die indische als auch die chinesische Wirtschaft auf der Boden­ kultur. In Indien benötigte sie, wie schon in Mesopotamien und Ägypten, eine künstliche Bewässerung; denn das Industal glich dem Zweistromtal in­ sofern, als die Niederschlagsmenge für eine Bodenkultur nicht ausreichte, und es unterschied sich vom Niltal nur insofern, als der Indus mit seinen Nebenflüssen die Ebenen unregelmäßig (zwischen Mai und August) über­ schwemmte. Chinas Landwirtschaft dagegen kam in den Tälern des Jangtse­ kiang, des Hwangho und seiner Nebenflüsse ohne künstliche Bewässerung aus. Allerdings gab es neben dem Ackerbau dort in ältester Zeit auch ein Hirtennomadentum, das von den mongolischen Steppen des Hochlandes aus Raub- und Beutezüge unternahm und die Gegend verunsicherte. Deshalb musste man in den Tälern defensive Maßnahmen ergreifen und u. a. befes­ tigte Städte gründen. Indien beherbergte zwar in ältester Zeit ebenfalls Hir­ tennomaden; doch endete deren Kultur mit dem Einfall der Ārya, die aus Mesopotamien den Gersteanbau mit Pflug und Ochsen, die Bronzebearbei­ tung sowie den Wagenbau mitbrachten. Aufgrund dieser Veränderung in den Arbeitsbedingungen ging der bisher nomadisierende Teil der Bevölkerung zur Sesshaftigkeit über. Der Handel war vor allem für die Inder wichtig; sie förderten ihn, wo immer sie konnten – sowohl im Inland als auch in den Beziehungen zum Ausland. Dass sie mit ihren Bemühungen Erfolg hatten, darauf deuten Stan­ dardisierungen von Maßen und Gewichten sowie andere Indikatoren (insbe­ sondere die Karrenwagen) hin. Der Reichtum von Morenjo-Daro und Har­ appa dürfte ebenfalls hierauf zurückzuführen sein. Für die Chinesen spielte der Handel dagegen während des gesamten hier untersuchten Zeitraums keine große Rolle. Er beschränkte sich auf Güter, die ausschließlich in ein­ zelnen Gebieten des Reiches vorkamen wie etwa Salz, Eisen, Tee und Seide.



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Immerhin besaß die chinesische Sprache seit der Mitte des 2. Jt.s ein eigenes Wort (und ein eigenes Schriftzeichen) für ‚Handelsware‘ (huo), was auf de­ ren Heraushebung gegenüber der Eigenproduktion hindeutet. Doch in der Q’in-Zeit wurde der Vorrang des Ackerbaus zur offiziellen Staatsdoktrin, und der Handelsstand verfiel der Geringschätzung. Wohl gab es noch Händler und Kaufleute, die in Gilden zusammengeschlossen waren und denen es materiell sogar besser ging als den meisten Bauern. Aber sie rangierten in der Sozialhierarchie ganz unten und besaßen daher weder eine Machtstellung noch konnten sie politischen Druck ausüben. (γ) Rechtsbegriff und rechtliche Ordnung. Ebenso wie die anderen frühan­ tiken Staaten kannten die Inder und zunächst auch die Chinesen keinen Ter­ minus für ‚Recht‘. Gleichwohl kommt einem Teil ihrer Normen gemäß der hier gebrauchten Terminologie Rechtscharakter zu. Von den Hindus wurden die als Recht zu qualifizierenden Normen aus ei­ nem Grundbegriff entwickelt, der einerseits über das Recht hinausgeht, in­ dem er Religion und Moral einbezieht, andererseits das Recht nicht vollstän­ dig umfasst: aus der ‚Pflicht‘436 – so jedenfalls wird das indische Wort dharma (oder dharman) regelmäßig übersetzt.437 Seine Quellen waren ācāra, was ‚(gutes) Verhalten des Einzelnen‘ bedeutet, und caritra, was als ‚Verhal­ tensweise, Betragen‘, aber auch als ‚fortlaufende Übung, Brauch‘ verstanden werden kann. Doch während ācāra lediglich ein Ideal bezeichnete, gab cari436  R. Lingat (1973), S. XII. Vgl. auch J. D. M. Derrett (1956), S. 202; (1980), S.  499 f. 437  Einige Wissenschaftler übersetzen es auch mit ‚Rechtschaffenheit‘, wodurch es einen stärkeren Bezug zum allgemeinen sozialen Leben erhält. Seine etymologische Wurzel ist das Sanskritwort dhr, das sowohl ‚tragen‘ als auch ‚halten, stützen‘ bedeu­ tet. Dharma ist also, was allem Seienden zur Basis dient, was es erhält und stützt: Es ist sowohl die Wahrheit als auch die Richtigkeit. Vgl. Bṛhadāraṇyaka-Upaniṣad 1.4.14: „Was das Wahre ist, ist auch das Richtige. Deshalb sagt man von dem, der etwas Wahres ausspricht, ‚er spricht recht‘, und von dem, der etwas Richtiges aus­ spricht, ‚er spricht wahr‘.“ Die Wissenschaft vom dharma ist der dharmaśāstra (2300 Autoren und mehr als 4500 Abhandlungen; vgl. K. V. Kane, 1930, Anhang). Seine Bedeutung ist umstritten. Für die einen befasst er sich „zweifellos“ mit dem geltenden Recht, für die anderen beinhaltet er lediglich fromme Wünsche ohne öffentlich-rechtliche Sanktionen, und für die dritten besteht er aus panditischen (paṇḍit = indischer Gelehrter) Kommenta­ ren ohne Bezug auf die tatsächlich geübten Sitten. Vgl. einerseits J. D. Mayne (1986), no. 2; andererseits G. Das (1914), p. 8, 16; vermittelnd R. W. Lariviere (1997), S. 97 ff., S. 109: „The dharmaśāstras were not composed as literary templates to be applied in toto to every situation and every dispute without differentiation. They were collections of aphorism, guidelines, and advices which could be drawn upon when required to inform and validate a judge’s, or guru’s, or king’s opinion. In this way they are indeed concerned with the practical administration of law, but they are not in a modern, western sense ‚codes‘.“

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tra die Regel an, die auch vor Gericht durchgesetzt werden kann.438 Wir dürfen caritra also als indische Form eines Gewohnheitsrechts verstehen, das hier zum ersten Mal aufgeblüht ist. Die ersten Mitteilungen über das altindische Recht stammen aus dem vedi­ schen Zeitalter, also aus der Zeit nach dem Eindringen der Ārya in Indien (zwischen 1300 und 1200). Sie sind altindoarisch abgefasst und in Texten ent­ halten, die zumindest unmittelbar keinen Rechtscharakter haben. Ihre älteste und für uns wichtigste Abteilung, der Ṛg-Veda,439 enthält vor allem Hymnen an Götter, Dämonen, Ahnen und Könige. Allerdings wird dort auch festgelegt, dass die Verletzung der kosmischen Ordnung Sünde ist, die der Sühne bedarf, wo immer sie geschieht.440 Diese Sühne festzusetzen und vollstrecken zu las­ sen, sei Pflicht (dharma) des Königs; denn ihn habe der Gott Varuna, der Wächter über die kosmische Ordnung, zum Hüter des irdischen Rechts (vyavahāra) bestellt. Ferner heißt es dort, dass der Mensch noch über seinen Tod hinaus fortbestehe, woraus sich dann die Vorstellung entwickelte, dass die bösen Menschen auch nach ihrem Tod noch Strafe erleiden können. Richter über die Toten (dharmarāja) sei der unfehlbare Todesgott Yama. Allerdings trat, nachdem man sich den zyklischen Ablauf allen kosmischen Geschehens bewusst gemacht und diese Erkenntnis auf den Zyklus von Leben, Tod und Wiedergeburt übertragen hatte, an die Stelle der Lehre von den Höllenstrafen zunehmend die Lehre von der Selbstbestrafung: von der Verbrechenssühne in künftigen Existenzen (Gesetz des karma). Ob jemand ein sündiges oder von Sünden freies Leben geführt habe, lasse sich ‚objektiv‘ aus der Wiedergeburt in eine sozial höhere oder niedere Kaste441 sowie in gute oder widrige Lebens­ umstände ablesen. Für das Recht folgte daraus, dass die Menschen in ihrem abstrakten Wesen zwar gleich, in ihrer konkreten Daseinsform aber (aufgrund ihres unterschiedlichen karma) ungleich sind. Sozial müsse man folglich den Höhergestellten Respekt erweisen und ihnen gegenüber nicht auf seinem indi­ viduellen Vorteil bestehen. Rechtlich müsse beispielsweise nicht nur das Straf­ maß für Vergehen je nach Rang unterschiedlich ausfallen, sondern der Unter­ 438  J. D. M. Derrett (1979), S. 22: „Ācāra … impliziert die Bewertung eines in Frage stehenden Verhaltens, während caritra das, was das übliche Verhalten ist, wie­ dergibt.“ 439  Sein Alter ist umstritten, wird heute aber meistens auf die zweite Hälfte des 2. Jt.s geschätzt. Erste Aufzeichnungen stammen erst aus dem 1. Jh. v. u. Z., doch nimmt man an, dass die Texte bis dahin getreu überliefert worden sind. 440  Hierzu und zum Folgenden H. von Stietencron (1980), S. 547 ff. 441  Eine ‚Kaste‘ (siehe dazu noch unten G 4 b γ) bilden Personen, die bestimmten Berufen oder Berufsgruppen angehören und für die bestimmte Verhaltensregeln unter­ einander sowie gegenüber den Mitgliedern anderer Kasten gelten. Innerhalb der Hindu-Bevölkerung gab es Hunderte solcher Kasten, die in vier Gruppen eingeteilt wurden: die Brāhmanen (Priester), die Kshatriyas (Krieger), die Vaushyas (Kaufleute) und die Śūdras (Dienstboten und Handwerker).



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts267

schied im Rang auch bei der Entscheidung über einen zivilrechtlichen An­ spruch berücksichtigt werden. Auch sei aufgrund der Ungleichheit eine Ehe­ schließung zwischen Angehörigen verschiedener Kasten unerlaubt. Näher dem Charakter eines von den Sitten abgehobenen Rechts kamen die den Veden nachfolgenden Schriften: die Śrauta und Grihya Sūtras (‚Leitfäden‘). Sie stell­ ten Kompilationen von Regeln dar, die die Verse des Veda in strenge rituelle Formen einbanden und ihnen dadurch eine magische Wirkung verliehen.

Einen eindeutigen Bezug zum werdenden Recht hatten jedoch erst die Dharmasūtras. Sie enthielten Regeln nicht (nur) für die Vornahme ritueller Handlungen im täglichen Leben, sondern (auch) für das tägliche Leben über­ haupt. Die Regeln waren pedantisch genau, variierten aber je nach der Kas­ tenzugehörigkeit.442 Selbst der König wurde, obzwar Wächter über die Ein­ haltung der Regeln, in den Regelkanon eingeschlossen.443 In China muss es bereits in der Shāng-Zeit eine staatliche Rechtsordnung gegeben haben. Denn die Verwaltung des Reiches war schon damals so kom­ pliziert, dass man eine größere Beamtenschaft dafür benötigte. Aber wie in Indien ging das Recht in den traditionellen religiösen und moralischen Pflichten sowie in den Sitten und Gebräuchen auf, die man als lĭ zusammen­ fasste.444 Erst am Ende der Zhōu-Zeit bildete sich – in den Wirren der „kämpfenden Reiche“ – ein spezieller Rechtsbegriff aus: fă.445 Fă bedeutete ursprünglich lediglich ‚Modell‘, ‚(Verfahrens-)Norm‘, ‚Vor­ bild‘, später bedeutete es dann ‚Strafe‘, und noch später wurde es allgemein als das ‚geschriebene Gesetz‘ verstanden. Es löste yì ab, das zuvor als Leit­ linie für das menschliche Leben galt und mit Gerechtigkeit (im Sinne des suum cuique tribuere) übersetzt werden kann. Doch während yì noch gebot, 442  B. S. Cohn

(1967), p. 149 ff. Mulla (1966), p. 3: The king „did not claim to be the lawmaker; he only enforces the law“. N. C. Sen-Gupta (1953), p. 6: „Thus the dharmasūtras are the first works to lay down the lawyer’s law, the law to be administered by the king in his administration of justice.“ Bei den dharmasūtras handelt es sich um die fünf Gesetz­ bücher von Harita, Āpastamba (am besten erhalten), Gautama (alle spätestens An­ fang des 3 Jh. v. u. Z.), Baudhāyana und Vasiṣṭha (3.  Jh.  v. u. Z.). Ausführlicher gehal­ ten sind die späteren Rechtsbücher von Manu, Yājñavalkya, Nārada, Bṛhaspati und Kātyāyana. Zur Chronologie der dharmaśāstra vgl. D. F. Mulla (1966, p. 17 f.) und R. Lingat (1967, p. 143 pp., Vorbemerkung p.143: „La chronologie des dharmaśāstra, comme de tout ce qui touche à l’Inde ancienne, est des plus incertaines.“). Zitiert eine dharmaśāstra eine andere, ist man geneigt anzunehmen, dass die zitierte die ältere sei. Gleichwohl wird die in Yājñavalkya als Vorläuferin benannte Kātyāyana von P. V. Kane (1930), p. 175, als „much later“ eingestuft (weil die Benennung mögli­ cherweise von einem späteren Herausgeber stammt). Lingat selbst hält die oben ge­ nannte Reihenfolge für die wahrscheinlichste (p. 148). 444  S. K. Liau (1923), S. 137. 445  Zum Rechtswesen der Zhōu-Dynastie vgl. H. G. Creel (1970), p. 161 ff. 443  D. F.

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den Höherstehenden die ihnen gebührenden Rechte einzuräumen, sah fă eine Privilegierung besonderer Gruppen nicht mehr vor. Darin lag nicht etwa ein Wandel zu demokratischer Denkweise; vielmehr sollte vor allem die Macht des Herrschers gegenüber dem Adel gestärkt werden. In der Praxis bedeutete fă daher hauptsächlich das ius puniendi des Herrschers gegenüber seinen Untertanen und das Recht zum Erlass strafrechtlicher Normen für Ungehor­ sam gegenüber den hoheitlichen Befehlen. Das Familien-, Vermögens- und Handelsrecht dagegen blieb nach wie vor dem lĭ vorbehalten. (δ) Gesetzgebung und Rechtsprechung: In Indien gab es keine eigentliche Gesetzgebung. Was als Recht galt, war meistens theologisch fundiert. Nach Kautilīya (vor 150 v. u. Z.), der das Recht des Mauryastaates im III. Buch (Dharmastīyam) seiner Staatslehre behandelt, hatte der König die in den Veden enthaltenen Moralvorstellungen durchzusetzen, mithilfe seines staatli­ chen Machtapparats446 und seiner Entscheidungen in gerichtlichen Prozessen für die im Staat unentbehrliche Ruhe und Ordnung zu sorgen und das Ge­ wonnene an „Würdige“ zu verteilen. Nach dem Zerfall des Mauryareiches wurde das sogen. „Rechtsbuch (Dharmaśāstra) des Manu“, des sagenhaften Ahnherrn der Ārya, für die Rechtsentwicklung leitend.447 Doch handelt es sich auch hierbei nicht um eine Sammlung von Rechtsgesetzen, sondern um eine – teilweise in sich widersprüchliche – Kompilation von rechtlichen, re­ ligiösen und moralischen Vorschriften, die aus älteren brāhmanischen Rechts­ büchern hergestellt, aber als göttlicher Auftrag an Manu Svāyambhuva aus­ gegeben wurde.448 Für China nimmt man dagegen an, dass es schon in der Zhōu-Zeit ein Gesetzbuch gegeben habe, weil es neben fă auch das Wort diăn für Gesetze gab und dieses in der Schrift durch ein auf einem Tisch liegendes Buch sym­ bolisiert wurde.449 Sein Inhalt dürfte dem konfuzianischen Ideal der Gesell­ schaft entsprochen haben, wonach lĭ, die Gesamtheit der alten Riten und 446  Kauṭilīya I 4. 3; vgl. auch XV 1.1 f. Das indische Königtum war wahrschein­ lich erblich, die Macht des Königs aber durch die Brāhmanen begrenzt. Der Verwal­ tung des Reiches diente ein weitverzweigter Apparat, welcher von Ministern geleitet wurde, deren Macht bis in die untersten Schichten und in die entferntesten Teile des Reiches hineinreichte. 447  Die Entstehungszeit der Manusmrti ist ungewiss, liegt aber nicht vor dem 2.  Jh.  v. u. Z. (vgl. D. F. Mulla, 1966, p. 20). Die smrti von Yājñavalkya beruhen wei­ testgehend auf den Manusmrti, sind aber logisch klarer aufgebaut und inhaltlich libe­ raler. Auch geben sie den Verfahrensnormen ein größeres Gewicht – ein Zeichen da­ für, dass die Entwicklung seinerzeit im Fluss war: Sie stand am „Beginn des Kampfes gegen den/das Glauben“ und für ein objektives Prinzip, das der materiellen Welt übergeordnet ist (W. Ruben, 1979, S. 120 ff.). 448  Manusmrti (Hg. Vitthalaśarman), Bombay 1887, I 102. Gut greifbare deutsche Übersetzung des VIII. und IX. Buchs bei J. Jolly (1880). 449  H. G. Creel (1970), p. 105 f.



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts269

Bräuche, das menschliche Miteinander bestimmen sollte – jetzt aber nicht wie bisher als Summe von Formvorschriften, die man wahren muss, um die Harmonie von Mensch und Kosmos zu erhalten, sondern als Richtschnur für tugendhaftes Handeln. Nicht nur Gesetzgeber, sondern auch Vorbild sollte der Herrscher sein. Auch die weitere Rechtsentwicklung wurde durch das Zusammenspiel von fă und lĭ bestimmt, wobei während der Q’in-Zeit fă das Übergewicht erhielt, danach aber der Staat wieder zu lĭ, dem u. a. konfuzia­ nischen Wertesystem, zurückkehrte und alle Gesetze daran gemessen wurden, ob sie diesem System entsprachen.450 (ε) Rechtsentwicklung: So wenig wie für die politische Geschichte ihres Landes haben die Inder ein Interesse für die Geschichte ihres Rechts entwi­ ckelt. Heute ist es daher schwer, Entwicklungstendenzen aus den hinduisti­ schen Rechtsvorstellungen herauszulesen. Man ist gezwungen, sie aus jenem zufälligen Hintergrundmaterial zu rekonstruieren, das uns archäologische Monumente, eine in philosophischer und religiöser Absicht geschaffene Lite­ ratur und Berichte fremder Besucher zur Verfügung stellen.451 Erst außerhalb des hier untersuchten Zeitraums, nämlich mit dem Eindringen der Muslime, lichtet sich das Dunkel. Immerhin dürfte feststehen, dass bereits innerhalb des hier untersuchten Zeitraums sich eine eigenständige Rechtsordnung aus der Sittenordnung herausgebildet hatte, und zwar spätestens, seit die Rechts­ pflege den Königen anvertraut war. Diese Rechtsordnung hielt allerdings stets den Rückbezug zur Sittenordnung offen. Und weil die Sitten von Ort zu Ort wechselten, entstand niemals die Ansicht, dem Recht könne eine überört­ liche, gar universelle Richtigkeit zukommen. Recht war überall nur ein spe­ zieller Teil der ‚guten Sitten‘, und Rechtsverfahren waren darauf begrenzt festzustellen, was an Ort und Stelle als Sitte unverbrüchliche Geltung bean­ spruchen durfte (und daher Recht war) und ob ein konkretes Verhalten dem entsprach. Grundlage dafür war (mehr oder weniger fiktiv) der Veda, d. i. das ‚Wissen‘. Daneben standen als Rechtsquellen die Rechtslehren der Brāhmanen (die Dharmasūtras), die Hilfslehren des Veda (Grammatik, Phonetik usw.) und die Purāņas (Legenden und Sprüche) zur Verfügung.452 450  Vgl. zu dieser Entwicklung R. Heuser (1999), S. 94 ff.; H. Wimmer (2001), S.  117 ff. 451  Erste Berichte stammen von einem Griechen namens Skylax, den der Perserkö­ nig Dareios (lat. Darius) das Indusgebiet erforschen ließ (um 510 v. u. Z.). Wertvoller als diese (uns nur in Auszügen überlieferten) Berichte sind die eines Abgesandten des Königs Seleukos I. von Babylon namens Megasthenes, der in seinem Buch „Indika“ außer den geographischen auch die ethnographischen und sozialen Verhältnisse In­ diens beschreibt (um 300 v. u. Z.). 452  Teilweise abweichend die Aufzählung in Nārada 1.10–11: Dharma, Sitten, Ge­ rechtigkeitssinn und königliche Dekrete seien die vier Grundlagen von gerichtlichen Erkenntnissen.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Das frühvedische Denken kreiste noch um die Mythologie. Unter den Hauptgöttern ragte Varuna hervor. Er schützte rita, die Ordnung des gesamten Universums und somit auch die des menschlichen Lebens und der anzuwendenden Rituale, und er bestrafte alle, die sich anrita verhielten. Deshalb beteten die Menschen zu ihm und baten ihn um Vergebung ihrer Missetaten. Der irdische Schutz des rita und die Be­ strafung derer, die sich dagegen vergingen, blieb freilich nicht allein dem Gott vorbe­ halten, sondern war auch Aufgabe der Gemeinde, in der der Übeltäter lebte. Welche Strafe sie zu verhängen habe und welches Reinigungsritual angemessen sei, darüber gaben ihr die Brāhmanen Auskunft. Als die Macht der Könige zur Zeit der Dharmasūtras wuchs, wurden sie auch zu Gerichtsherren.453 Ihre Kompetenz umfasste im Strafrecht schwere sozioreligiöse Vergehen, aber auch die Nichtbezahlung einer Schuld (ein Delikt, das schlimmer war als der Diebstahl); im Zivilrecht betrafen die Streitigkeiten, die vor die Könige ka­ men, hauptsächlich die Hingabe von Darlehen oder von Pfandstücken. Ratgeber für die Entscheidungen waren wiederum die Brāhmanen, ja es war sogar die Pflicht des Königs, einen studierten Brāhmanen, später sogar einen ganzen Rat (sabhā) gelehrter Männer um sich zu versammeln und sich sagen zu lassen, wie er gerecht gemäß dem dharma zu urteilen habe.454

Nur theoretisch war das gesamte Recht in den Veden aufgezeichnet und damit religiös begründet, praktisch war es als Gewohnheitsrecht (caritra) überkommen.455 Auch wenn der König in die Rechtsprechung eingriff, tat er es nicht in seiner Eigenschaft als Gesetzgeber, sondern als höchster Richter, weshalb seinen Urteilen lediglich eine das vedische (bzw. Gewohnheits-) Recht konkretisierende oder seine Lücken füllende Bedeutung zukam. Voran­ getrieben wurde die Rechtsentwicklung dagegen durch die Entwicklung der Sitten. Und wenn irgendwo Savignys Wort anwendbar ist vom „organischen Zusammenhang des Rechts mit dem Wesen und Charakter des Volkes“, wes­ halb das Recht „mit dem Volke fortwächst, sich mit diesem ausbildet“456, dann am ehesten in Bezug auf die indische Gesellschaft. Sie entwickelte sich von einer reinen Agrargesellschaft zu einer vor allem Handel (zu Land und See) treibenden Gesellschaft und spiegelte diese Entwicklung auch in ihren smrtis wider. Und sie war sich dieser Entwicklung auch bewusst, denn sie ehrte den Stand der Kaufleute, indem sie seine Vertreter neben die

dazu W. Ruben (1968), S. 93. Sen-Gupta (1953), p. 41 ff., 327. 455  R. W. Lariviere (1997), S. 98, 109: „I believe that the dharmaśāstra literature represents a peculiarly Indian record of local social norms and traditional standards of behavior. It represents in very definite terms the law of the land.“ Ähnlich auch D. F. Mulla (1966), p. 10 f.: „It was law by acceptance – ius receptum – and constituted in part of collections of precepts claimed as of divine origin and in part of conventional and customary law. … The Smritikars … only claimed to be the exponents of the ­divine precepts of law and compilers of traditions.“ Siehe ferner oben Fn. 443. 456  F. C. von Savigny (1814), S. 11. 453  Näher 454  N. C.



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts271

brāhmanischen Priester in den Rat des Königs berief, damit sie dort das Recht mit beschließen konnten. Insgesamt sind somit für die indische Rechtsentwicklung hauptsächlich jene Gesetzmäßigkeiten wirksam geworden, die bereits in den prästaatlichen Gesellschaften vorantreibend waren: (1) die im Gleichschritt mit den sozia­ len Strukturen der Bevölkerung anwachsende Differenziertheit der verpflich­ tenden Regelungen, (2) die Ausweitung der königlichen Gesetzgebung bzw. Rechtsprechung auf Felder, die ursprünglich von örtlichen Autoritäten oder Verbänden besetzt waren, (3) die Zunahme der kulturellen Kontakte zwi­ schen den eingeborenen Völkern Indiens und den neu eingewanderten Ārya, die einerseits zur Vereinheitlichung des Rechts, andererseits kraft Diffusion zu seiner Bereicherung mit zuvor unbekannten Institutionen führten.457 • Als Beispiel für die zunehmende Differenziertheit der rechtlichen Regelungen mag das Depositum dienen. Von Kautilīya wurde es noch als Sammelbegriff für unter­ schiedliche Formen des Anvertrauens eigener Sachen an fremde Personen verstan­ den: als Pfand, Mietsache, Kommissionsware, Arbeitsmaterial u. dgl. Yājñavalkya und seine Nachfolger schufen dagegen differenzierte Regeln nicht nur im Hinblick auf die Art der hingegebenen Sache und den Zweck der Hingabe, sondern auch für die Haftung, falls die Sache nicht zurückgegeben werden konnte.458 • Ein Beispiel für die Erweiterung der königlichen Zuständigkeit für Gesetzgebung bzw. Rechtsprechung ist die Verfolgung von Sittlichkeitsdelikten. Soweit die De­ linquenz sich im häuslichen Rahmen abspielte, wurde sie anfangs nur religiös und sozial sanktioniert.459 Im Laufe der Zeit aber wurde sie auch zum Gegenstand königlicher Rechtssetzung, die immer genauer zwischen Formen sowohl des Ehe­ bruchs als auch des Inzestes unterschied.460 • Die Bedeutung kultureller Kontakte innerhalb der Völker Indiens kann am Beispiel der Verschmelzung arisch-matrilinearer mit frühindisch-patrilinearer Verwandt­ schaftsvorstellungen verdeutlicht werden. Da bei Matrilinearität die von der Mutter geborenen Söhne unabhängig davon, welche Väter sie gezeugt haben, zur Familie gehören, in der frühen vedischen Gesellschaft aber gerade die Zeugung die Kind­ schaft begründete, mussten bei einem Zusammenwachsen beider Kulturen die Söhne der Frau als Söhne auch des Mannes anerkannt werden, sobald es zur Ehe­ schließung kam. Dies geschah, indem man das Konzept der Zweitsöhne (purāṇadristāh) entwickelte.

Im chinesischen Recht lässt sich die Rechtsentwicklung am deutlichsten während der späten Zhōu- und sich anschließenden Q’ín-Periode erkennen. Wie erwähnt, war die Endzeit der Zhōu-Periode, die Zeit der ‚streitenden 457  N. C.

Sen-Gupta (1953), p. 333 ff. dazu N. C. Sen-Gupta (1953), p. 241 f. 459  Der Ehebruch der Frau etwa dadurch, dass sie künftig „ihrer Würde beraubt, schmutzig, nur zur Notdurft essend, hart behandelt, auf den Fußboden schlafend“ gehalten wurde (Yājñavalkya I 70). 460  Vgl. Vasiṣṭha, 20.13–16, 21.1–17. 458  Vgl.

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Reiche‘, nicht nur mit militärischen, sondern auch mit geistigen Auseinan­ dersetzungen ausgefüllt. Konfuzianer, Legalisten, Mohisten und Daoisten stritten um Grundsatzfragen des sozialen Lebens und die Aufgabe des Rechts. • Die Konfuzianer argumentierten rückwärtsgewandt: Sie wollten die gute alte West­ liche Zhōu-Zeit wiederherstellen, in der die soziale Ordnung der Sitten (lĭ) auf­ rechterhalten wurde, als jeder sich seinem sozialen Rang gemäß benahm und sich dadurch Anerkennung unter seinen Mitmenschen erwarb.461 Wer davon abwich, wer aus der Rolle fiel, die ihm der Himmel (tién dào) zudiktiert hatte, dessen Be­ zeichnung war ‚richtigzustellen‘ (zhèng-míng), d. h. sein sozialer Rang war neu zu bestimmen. Das Recht (fă) habe nur einzugreifen, wenn er sich nicht von selber füge.462 • Entgegengesetzt argumentierten die Legalisten.463 Ihr Blick war nach vorne ge­ richtet: Der soziale Rang des Einzelnen sei nicht vom Himmel bestimmt und ver­ erbe sich auch nicht vom Vater auf den Sohn; vielmehr werde er durch persönliche Leistung (insbesondere in der Landwirtschaft oder im Kriegsdienst) erworben. Leitend für richtiges Verhalten sollten nicht metaphysisch begründete Klischees und magische Rollenbezeichnungen sein, sondern allein die staatlichen Gesetze, die für jedermann in gleicher Weise gälten. Nach Han Fe464 „gibt es für einen klugen Herrscher nur einen rechten Weg des Regierens: Er vereinheitlicht die Ge­ 461  Konfuzius war der Meinung: „Wenn man durch Erlasse leitet und durch Strafen ordnet, so weicht das Volk aus und kennt keine Scham. Wenn man es durch die Tu­ gend (dé) leitet und durch die Riten (lĭ) ordnet, kennt es Scham (Gewissen) und wird Haltung zeigen“ (Lùnyü II,3). Der Kernsatz seiner Lehre lautete: jūn jūn chén chén fù fù zĭ zĭ (‚Der Fürst sei [= verhalte sich] wie ein Fürst, der Untertan wie ein Untertan, der Vater wie ein Vater, der Sohn wie ein Sohn.‘). Dazu auch E.-J. Lampe (1988), S. 80. Die Kritik warf der konfuzianischen Lehre Neigung zu einem idealisierten Bild des Menschen vor; eine Schichtung der Bevölkerung in einerseits edle, andererseits gewöhnliche Menschen leiste der Gefahr Vorschub, dass nur die gewöhnlichen Men­ schen bestraft würden, die edlen Menschen aber straffrei ausgingen. 462  Vgl. dazu auch O. Weggel (1980), S. 13 f.: „Mit der Geltung des li verhält es sich ähnlich wie mit dem automatischen Funktionieren gewisser präjuristischer Rege­ lungen innerhalb einer ‚normalen‘ Ehe- und Familiengemeinschaft. Wo eine Ehe ‚stimmt‘, sind rechtliche Regelungen überflüssig. Nur dort, wo die Harmonie aufhört, beginnt das Recht mit seinen hölzernen Fingern einzugreifen.“ Den Begriff fă, wel­ cher ‚Muster‘ bedeutet, haben allerdings erst die Mohisten (s. u.) in ihre Studien zur Dialektik eingeführt. 463  Die Legalisten (auch ‚Legisten‘ genannt) waren nicht etwa Juristen, sondern teils Politiker, teils Staatsphilosophen, ausgestattet einzig mit einer gewissen Kenntnis der Gesetzgebungstechnik. Zu ihnen T. Tai (1969). 464  Han Fe (um 280–233 v. u. Z.) war ein Hauptvertreter der legalistischen Schule. In seinem Hauptwerk Han-Fe-Tse trat er u. a. dafür ein, dass es im Staat keine ande­ ren als die Rechtsbücher geben soll. Als seine Lehre während der Q’ín-Dynastie systematisch durchgeführt wurde, verbrannte man in vierjähriger Arbeit die gesamte klassische Literatur und bestrafte diejenigen Personen, die sich über einen Klassiker unterhielten, mit dem Tode. „Es war dies zwar durchaus nicht das einzige Mal, dass China unter einem despotischen System stand, aber das einzige Mal, das man das offen zugab“ (W. Bauer, 1965, S. 161).



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts273 setze und verliert sich nicht in der Suche nach Weisheit. … Er sorgt sich nicht um die Tugend, sondern befasst sich mit dem Gesetz.“465

• Doch was sollten die staatlichen Gesetze lehren? Die Schule der Mohisten466 stütz­ te sich auf utilitaristische Erwägungen: Richtig sei ein Verhalten, das nicht nur ei­ nem selber nützt, sondern auch anderen – allen anderen! Denn so wie der große Gott Tian alle Menschen liebt und daher allen Nutzen bringt, sollten es die weisen Könige und ihre Verwaltungsbeamten ebenfalls halten.467 Gute Gesetzgebung be­ deute, diejenigen mit Strafen einzuschüchtern, die anderen schaden, und diejenigen mit Belohnungen zu ermuntern, die anderen einen Vorteil bringen. Alsdann würden die Menschen der Liebe zur ganzen Menschheit und dem Austausch von Vorteilen ebenso zuneigen, „wie das Feuer hochschießt und das Wasser bergab fließt“468. • Die Liebe zur ganzen Menschheit hätte allerdings verlangt, dass jeder die ganze Menschheit kennt. Das ist jedoch unmöglich. Die Daoisten verlangten infolgedes­ sen nur die Kenntnis der natürlichen Gesetzmäßigkeiten, denen die ganze Mensch­ heit unterliegt. Das Dao sei die Gesamtheit der potentiellen Handlungsmuster, welche die Natur den Menschen in die Wiege gelegt hat. Aber verwirklichen sich diese Muster nicht in jedem Einzelnen auf eine besondere Weise? Am Ende ihrer Lehre steht daher ein großes Fragezeichen: Gibt es eine einzig richtige Gesetzge­ bung?

Die Legalisten setzten sich durch – zunächst jedenfalls. Ihre politische Leistung bestand darin, dass sie das Lehnswesen abschafften und an die Stelle des traditionellen Polyzentrismus den kaiserlichen Zentralismus setz­ ten. Auf der Grundlage ihrer Lehre schuf das Fürstenhaus der Q’ín in kürzes­ ter Zeit ein chinesisches Großreich mit einem einheitlichen Machtzentrum, das militärisch hochgerüstet und mit den modernsten Waffen (Armbrüsten, Hellebarden) ausgestattet war. Seine geistige Leistung bestand darin, dass es ein wirkungsvolles Rechtssystem schuf, mit dessen Hilfe das immer größer und immer volkreicher werdende chinesische Riesenreich fast zweitausend Jahre lang regiert werden konnte.469 Zwar setzte sich in der nachfolgenden Hàn-Zeit die Schule der Konfuzianer wieder durch. Kaiser Wu erhob sie so­ gar zur Staatsdoktrin und stellte damit die moralische Erziehung des Men­ schen wieder in den Mittelpunkt staatlichen Handelns. Doch schaffte er we­ der das Rechtssystem der Q’ín ab noch die hierauf beruhende unnachsichtige W. Mögling (1994), S. 557, 572. Di lebte in der zweiten Hälfte des 5. Jh. v. d. Z. Zu ihm Y. P. Mei (1929). 467  Y. P. Mei (1929), p. 14 f. 468  Y. P. Mei (1929), p. 32 f. Dass Belohnungen und Strafen der menschlichen Na­ tur angemessen sind und sie zum Guten lenken, betonten auch die Legalisten. E. Kroker (1970, S. 41) zitiert dafür den Legalisten Han Fe: „Die Natur [des Menschen] hat Neigungen und Abneigungen. Aus diesem Grund gibt es Belohnungen und Strafen. [Nur] weil man Belohnungen und Strafen einsetzen kann, ist es auch möglich, Anord­ nungen und Verbote zu erlassen.“ 469  Vgl. dazu K. Bünger (1980), S. 451 ff. 465  Dazu 466  Mo

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Teil II: Historische Entwicklung des Rechts

Ahndung schwerer Verbrechen an Personen, auf die die Erziehung ihre Wir­ kung verfehlt hatte. Im Gegenteil wurden wesentliche Elemente der konfuzi­ anischen Moral nunmehr zu Bestandteilen der Gesetze, und ein allgemeiner ‚Auffangtatbestand‘ stellte sogar Deckungsgleichheit zwischen Moral und Recht her. Die Vorschriften der Moral sollten demnach das soziale Zusam­ menleben bestimmen, während die Rechtsgesetze das notwendige Übel seien, das der Staat aber brauche, um moralwidriges Verhalten zu bestrafen. Man hatte unter dem Mantel des Konfuzianismus also den Kern der legalistischen Lehre und der Methode ihrer Durchsetzung erhalten!470 Das von den Legalisten geschaffene Rechtssystem471 wies nur ein geringes Abs­ traktionsniveau auf. Beispielsweise enthielt der Strafrechtskodex (lü) eine Unzahl von Tatbeständen (angeblich 3000, nach anderen Quellen sogar 26.272), die sich nur we­ nig voneinander unterschieden und einer Fallsammlung ähnlicher sahen als einem Gesetzbuch. Auch das Eherecht erging sich in der Aufzählung einer Unzahl von Ehehindernissen.472 Offenbar war der chinesische Geist, nicht zuletzt infolge seiner Schulung durch die ideographische (d. i. auf das Gegenständliche bezogenen) Schrift, nicht bereit, aus der Vielzahl sozialer Erscheinungen die wesentlichen Merkmale begrifflich herauszuschälen und sie zur Grundlage von Normen zu machen. Dass er aber immerhin auf dem Wege dahin war, bezeugen die klarere Gliederung der Gesetze, die wachsende Allgemeinheit wenigstens eines Teils der Straftatbestände sowie einige Legaldefinitionen473 im T’ang-Kodex (Mitte des 7. Jh.s u. Z.) und in den Gesetzen der nachfolgenden Dynastien.474

Von dem Schulstreit unberührt war ein weiterer Charakterzug des chinesi­ schen Staates geblieben, der sich auch auf das Recht übertrug: Seine Herr­ scher bedurften umfassender Befugnisse gegenüber ihrem Volk, damit sie ihren umfassenden Pflichten zur Sorge für ihr Volk nachkommen konnten. Dieser Charakterzug ließ weder eine Trennung zwischen öffentlichem und privatem Recht noch zwischen Verwaltung und Rechtsprechung zu. Bei­ spielsweise sollten alle Richter gleichzeitig Detektive, Ankläger und Verwal­ 470  H. von Senger (1991, S. 375 f.) gibt dies als Meinung chinesischer Rechtsge­ lehrter aus dem Institut der chinesischen Akademie für Gesellschaftswissenschaften in einem ihm gewährten Interview wieder: „Nach außen hin gaben sich die chinesi­ schen Kaiser konfuzianisch, insgeheim aber waren sie Legisten. Diesen Sachverhalt kann man umschreiben mit Redewendungen wie ‚yang ru yin fa‘ = ‚Im Lichte kon­ fuzianisch, im Dunkel legistisch‘ und ‚ru biao fa li‘ = ‚konfuzianisch die Hülle, legis­ tisch der Kern‘.“ 471  Der erste von den Legalisten geschaffene Rechtskodex wird auf das Jahr 535  v. u. Z. datiert. 472  Vgl. dazu H. Engelmann (1928), S. 207 ff. 473  Etwa die Definitionen des „Schuldners“ (fu zai zhe) in § 398, des „Ausländers“ (hua wai ren) in § 48 und der „zweifelhaften Straftat“ (yi zui) in § 502. 474  Das T’ang-Recht wurde in der Folgezeit fast unverändert angewandt und ledig­ lich durch einige Verordnungen ergänzt. Kommentare und Fallsammlungen zum T’ang-Kodex waren sogar noch bis 1912 von Bedeutung.



G. Das historische Werden des protostaatlichen Rechts275

tungsbeamte sein, um an der umfassenden Staatsaufgabe, im Innern für die Einhaltung der Sittenordnung zu sorgen, teilnehmen zu können. Doch oblag diese Aufgabe den Richtern selbstverständlich nicht allein. Das ganze Volk war vielmehr aufgerufen, sich an der Erfüllung der Staatsaufgabe zu betei­ ligen. Ein Heer von Soldaten sollte die Widersacher des Königs, die aufmüp­ figen Fürsten der Einzelstaaten, die nach Herrschaft strebenden ­Adligen des eigenen Staates, bekämpfen. Die Bauern sollten genügend Ernteüberschüsse abliefern, um das Heer, aber auch die Unzahl staatlicher Beamter mit Nah­ rung zu versorgen. Und vor allem sollte jedermann seine Nächsten bespit­ zeln, ob sie genügend staatstreue Gesinnung besaßen und ob sie bereit waren, den Interessen des Kaiserhofs zu dienen, ferner beim Aufspüren seiner Feinde mitzuwirken und alle Feinde, die sie aufgespürt hatten, einer strengen Bestrafung zuzuführen. Geschah dennoch ein Verbrechen, dann drohte nicht nur dem Verbrecher eine strenge Strafe, sondern auch denjenigen, in deren Umfeld es geschehen war und denen die Vorbereitungen dazu entgangen waren: den Familienmitgliedern sowie den Nachbarn und Bekannten, sofern sie sich nicht von jedem Verdacht der Mitwisserschaft oder gar der Beihilfe befreien konnten. Wie streng die Strafen waren, möge ein Auszug aus einem frühen Hàn-zeitlichen Gesetzbuch verdeutlichen: „Wenn die Strafe für ein Vergehen das Tätowieren ist, soll demjenigen, der bereits tätowiert ist, die Nase abgeschnitten werden. Demjenigen, dem die Nase bereits abgeschnitten wurde, soll der linke Fuß, demjenigen, dem der linke Fuß bereits fehlt, auch noch der rechte Fuß amputiert werden. Derjenige, dem auch schon der rechte Fuß amputiert wurde, soll kastriert werden.“475

3. Die Rechtsentwicklung in Griechenland und Rom Mit Griechenland und Rom beginnt die europäische Geschichte des Rechts. Und entsprechend der großen Bedeutung, die dem Recht in beiden Staaten beigemessen wurde, sowie der Fülle von überkommenen Dokumenten, die seine Bedeutung belegen, ist seine Geschichte weitaus besser erforscht als die Rechtsgeschichte aller anderen antiken Staaten. (α) Politische Geschichte: Die Wissenschaft teilt die altgriechische Ge­ schichte in mehrere Abschnitte ein, zwischen denen teilweise scharfe Ein­ schnitte liegen. An ihrem Beginn steht die kretische Geschichte, die eigent­ lich eine Vorgeschichte ist, etwa von der Mitte des 3. Jt. bis zum Jahr 1200 v. u. Z. währte und eine Zeit reicher städtischer Kultur war. Die seit dem 20. Jh. entstandenen kretischen Paläste (Phaistos, Knossos, Mallia, Cha­ nia, Zakros) waren Brennpunkte eines hoch entwickelten politischen, wirt­ schaftlichen und kulturellen Lebens. Von dort aus verwaltete man die umge­ 475  Beispiele

für den Vollzug dieser Strafen bei A. F. Hulsewé (1955), S. 124 ff.

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benden städtischen (oft mit Häfen versehenen) Siedlungen sowie die Dörfer der Ackerbauern und Viehzüchter. Tätig war ein Beamtenapparat, der sich einer auf Tontafeln eingeritzten Schrift (Linear-A) bediente. Ein halbes Jahrtausend später entwickelte sich auf dem Festland und der Peloponnes die mykenische Kultur. Ihre Zentren waren wiederum Paläste inmitten befestigter Städte, von denen außer Mykene noch Tiryns, Pylos, Athen und Theben herausragten. Machtgrundlage war abermals ein stark zentralisierter Verwaltungsapparat, der sich einer Schrift (Linear-B)476 be­ diente. Anders als die Kreter allerdings expandierten die Mykener, und zwar so stark, dass sowohl in der Ägäis als auch im östlichen und mittleren Mit­ telmeergebiet ab dem 15. Jh. an Stelle der kretischen die mykenische Kultur die Oberhand gewann. Im 12. Jh. welkte indessen auch die mykenische Kultur; ihr Untergang wird vor allem auf Naturkatastrophen und dadurch ausgelöste ökologische Veränderungen zurückgeführt. Ein ‚dunkles‘ Zeitalter brach an (bis etwa 750), das nur durch die beiden Epen „Ilias“ (um 730) und „Odyssee“ (um 700) des sagenhaften Dichters Homer etwas erhellt wird und das aufgrund großer Wanderungsbewegungen aus dem Norden neue Stämme nach Griechenland brachte. Das anschließende Zeitalter der Kolonisation (bis etwa 540) begann mit einer Welle von Städtegründungen durch griechische Händler. Ihre wirt­ schaftliche Grundlage besaßen diese Stadtgemeinden in den umliegenden Dörfern, deren Bevölkerung sie sich untertan machten. Die weitere Vermeh­ rung der Bevölkerung erforderte dann nicht nur wirtschafts- und handels­ politische Maßnahmen zur Sicherung der Lebensgrundlagen, so u. a. die Si­ cherung von Bodenschätzen und Handelsrouten. Sie führte auch zur Expan­ sion in den gesamten Mittelmeerraum. Besonders in Sizilien und an den Küsten des Bosporus und des Schwarzen Meeres entstanden als griechische Gründungen rasch wachsende Gemeinden.477 476  Sie ist die einzige bisher entzifferte Silbenschrift aus der bronzezeitlichen Ägäis. Sie gibt nur offene Silben (d.s. Silben mit einem Konsonanten und einem nachfolgenden Vokal) wieder, während sie andere Silbentypen entweder durch Einfü­ gung eines Vokals oder durch Unterdrückung eines Konsonanten darstellt. Wir besit­ zen von ihr fast 6.000 Texte mit einem umfangreichen Vokabular und zahlreichen Elementen grammatischer Strukturen. Die ältesten Texte (um 1400 v. u. Z.) stammen aus Knossos. 477  Einen Abriss der Siedlungsgeschichte, an dessen Ende die Griechen rund um das Mittelmeer saßen wie „Frösche um einen Sumpf“ (Platon, Phaidon 109b), gibt Thukydides, Peleponnesischer Krieg, Buch VI. Innerhalb des Stammlandes wird die Gründung von Athen als wichtigster Stadt dem Heroen Theseus zugeschrieben. Plutarch beschreibt sie so: Theseus „schloss die Bewohner Attikas zu einem Staat zusammen und machte Menschen, die bis dahin verstreut lebten, zu einer Bürgerschaft… Er hob also die in den einzelnen Siedlungen bestehenden Prytaneien, Rathäuser und Obrigkeiten auf und schuf ein neues Pry­



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Um 500 begann dann die klassische Zeit des Hellenismus. Trotz kriegeri­ scher Auseinandersetzungen mit den Persern und ständiger Zwietracht der griechischen Städte untereinander entstanden wesentliche Grundlagen der europäischen Kultur; in den Schriften der großen griechischen Philosophen, Dichter und Geschichtsschreiber sind sie uns bis heute lebendig geblieben. Das Schwergewicht der Rechtsentwicklung allerdings verlagerte sich nach Rom. Rom entstand um die Mitte des 8. Jh.s v. u. Z. am Südrand von Etrurien als Folge der Kolonisierung der Küsten Süditaliens durch den griechischen Stamm der Euböer. Beherrscht wurde es seit Ende des 7. Jh.s allerdings von etruskischen Königen und erst nach deren Sturz (ca. 510) von einer spezi­ fisch römischen Aristokratie: einem patrizischen Senat, der die Regierungs­ geschäfte führte, einem Prätor als oberstem Feldherrn und Richter sowie zwei jährlich neu zu ernennenden (später: zu wählenden) Konsuln. Obgleich fast ständig in irgendeinen Krieg verwickelt, wurde es schnell zur stärksten Macht des Altertums. Selbst innere Spannungen konnten seine Expansion nicht bremsen. Dennoch ist historisch am wichtigsten der interne Kampf in Rom um die politische Gleichberechtigung aller sozialen Schichten. Grund dieses Kampfes war eine Militärverfassung, der zufolge sämtliche männ­ lichen Bürger zwischen 17 und 60 Jahren zum Kriegsdienst verpflichtet waren.478 Da hiervon auch die soziale Unterschicht, die Plebejer, betroffen waren, meinten diese, dass, wenn sie schon für ihren Staat kämpfen sollten, sie auch an seiner politischen Macht teilhaben müssten. Als ihnen die römischen Aristokraten das aber verwehrten, probten sie schließlich den Aufstand. Dieser nahm zusätzlich schärfere Formen an, weil es dabei nicht allein um die Erlangung der politischen Gleichberechtigung ging, sondern auch um die Folgen eines wirtschaftlichen Niedergangs, der Rom infolge von Seuchen und misslungenen Feldzügen betroffen hatte und den die Plebejer stärker als die oberen Schichten zu spüren bekamen. Not und Verzweiflung der Plebejer waren schließlich derart, dass es ihnen – kaum ein Menschenalter nach dem Sturz der Kö­ nigsherrschaft und der Gründung der Republik – in schweren Kämpfen gelang, vom Adel das Recht zur Kontrolle der Verwaltung und des Einspruchs gegenüber allen Verwaltungsakten zu erzwingen. Recht sollte künftig von erwählten Volkstribunen ausgeübt werden.

Auch nach der Erlangung politischer Rechte und sozialer Erleichterungen war der Kampf der Plebejer gegen die Patrizier nicht zu Ende. Sie zwangen den römischen Senat, ihrem stark ausgeprägten Bedürfnis auch nach Rechts­ taneion und Rathaus dort, wo jetzt die Altstadt steht, nannte den ganzen Staat ‚Athen‘ und stiftete ein Fest für alle Panathenäen“ (Lebensbeschreibung des Theseus, 24). Die Herkunft der Athener aus unterschiedlichen Stämmen hat später im Inneren das Frei­ heitsbedürfnis des Einzelnen und die demokratische Tendenz der Gemeinschaft be­ günstigt, nach außen hin die Offenheit der Stadt für Handel und Verkehr. 478  Im Gegensatz dazu stützten sich Karthago und die hellenistischen Reiche auf Söldner.

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sicherheit zu entsprechen und zehn Männer mit der schriftlichen Aufzeich­ nung des bestehenden Rechtszustands zu beauftragen. Nach Erkundungen in den griechischen Stadtstaaten legten diese schließlich ein Gesetz vor, das auf zehn hölzerne Tafeln geschrieben war und allen sichtbar auf dem römischen Forum aufgestellt wurde. Vervollständigt durch zwei weitere Tafeln, blieb es als XII-Tafelgesetz seit 451 v. u. Z. ein Jahrtausend lang das ‚Grundgesetz‘ (fons omnis publici privatique iuris) des römischen Staates. Es garantierte allen römischen Bürgern und damit auch den Plebejern, was diese sich sehn­ lichst gewünscht hatten: die rechtliche Gleichheit. Was es den Plebejern da­ gegen nicht garantierte, war die soziale Gleichheit. Deshalb zwangen sie den Senat, in Nachtragsgesetzen nicht nur ihren Volkstribunen und ihren für die Gerichtsbarkeit zuständigen Ädilen Unverletzlichkeit zu garantieren, sondern darüber hinaus ihnen allen das Recht zuzugestehen, Angehörige des Patri­ ziats zu heiraten (449 bzw. 445). Danach blieben ihnen nur noch das Konsu­ lat und das Priesteramt des pontifex verschlossen – doch auch das lediglich vorerst, denn 367 bzw. 300 fielen selbst diese Bastionen des Adels und damit jegliche Ungleichheit. Währenddessen war trotz allen sozialen Spannungen im Innern die Ex­ pansion Roms in das italische Territorium weitergegangen. Durch den Bau von Straßen, aber auch durch eine ethnisch differenzierte Politik gelang es den Römern, das gesamte italische Territorium zu einem einheitlichen Reich zu einigen. Der Einfall Hannibals (218: Überquerung der Alpen; 216: Sieg in der Schlacht von Cannae; 211: Erscheinen vor den Toren Roms) bedeu­ tete danach nur eine Störung, aber kein Ende der Expansion. Und als es 146 v. u. Z. im Gefolge des 3. Punischen Krieges sogar gelang, Karthago zu zerstören und die hellenischen Königreiche zu unterwerfen, war klar, dass Rom künftig die herrschende Macht im gesamten Mittelmeerraum sein werde. (β) Wirtschaftliche Grundlagen. Wie überall, schuf auch im Bereich der Ägäis ursprünglich die Landwirtschaft die Lebensgrundlage für die Men­ schen. Charakteristische Nutzpflanze war die Olive, gezüchtet wurden haupt­ sächlich Ziegen. Daneben stellte man Textilien und keramische Erzeugnisse her – teils zum Eigengebrauch, teils als Handelsware sowie zum Transport des Olivenöls. Siedlungen befanden sich vor allem auf den sicheren Höhen der Berge, meist nicht weit vom Meer, damit Handelsbeziehungen mit den übrigen Anrainerstaaten (Ägypten, Syrien, Anatolien) gepflegt werden konn­ ten. Der wirtschaftliche Reichtum der Bewohner scheint größer gewesen zu sein als in den ägyptischen und mesopotamischen Städten. Im 12. Jh. kam es jedoch aus weitgehend ungeklärten Ursachen zum schnellen Niedergang: Die Paläste wurden zerstört, das Volk versank in Armut. Die ‚dunklen Jahrhun­ derte‘ begannen und reduzierten die Wirtschaft wieder auf Ackerbau und Viehzucht.



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Seit dem 8. Jh. breitete sich dann von Griechenland abermals ein reger Handel über das Mittelmeer aus. Kaufleute drangen bis in entlegene Gebiete vor, gründeten Niederlassungen, die sich manchmal zu Städten ausweiteten. Aber auch Architekten, Handwerker und Abenteuerlustige verließen die Hei­ mat, um sich bei fremden Herrschern als Dienstleistende oder Söldner zu verdingen oder um ein freies Leben, etwa als Seeräuber, zu führen.479 Auf dem italischen Festland und auf Sizilien kreierten die Griechen in der Land­ wirtschaft neue Anbaumethoden: Fruchtwechsel und Brache verbesserten die Bodennutzung, neue Getreidesorten erhöhten den Ertrag, Ölbäume und Weinstöcke gediehen in reicher Zahl. Ebenfalls nahm das Handwerk überall einen raschen Aufschwung. Arbeitsteilung kam in allgemeinen Gebrauch, neue Gerätschaften erhöhten die Produktivität. Die Bevölkerung wuchs ra­ pide, ihr soziales Gefüge veränderte sich, Schichten von Reichen und von Armen bildeten sich heraus. Wie in der Ägäis diente auch auf der italischen Halbinsel die Landwirt­ schaft der Bevölkerung zur Lebensgrundlage. Deshalb waren auch Römer ursprünglich ein in enger Siedlungsgemeinschaft lebendes Bauernvolk; seine soziale Grundlage war die bäuerliche Kleinfamilie, der Hausvater (paterfamilias) deren Vorstand, dem Frau und Kinder bedingungslos unterworfen waren. Wirtschaftliche Grundlage jeder Familie war eine relativ kleine Ackerfläche, deren Früchte kaum mehr als den Eigenbedarf deckten. Die Ausweitung des römischen Herrschaftsgebietes im 4. Jh. v. u. Z. brachte je­ doch einen Wandel und gleichzeitig eine Spaltung der römischen Gesell­ schaft: Ein Teil davon wurde Eigentümer großer eroberter Landflächen, die von Kriegsgefangenen als Sklaven bewirtschaftet wurden, der andere Teil führte nach wie vor ein kärgliches, wenn auch zunächst freies Dasein. Im weiteren Verlauf wurde der wirtschaftliche Druck auf die Kleinbauern allerdings immer stärker, sodass viele Familien ihm nicht mehr standhalten konnten und entweder nach Rom zogen und dort das städtische Proletariat bildeten oder sich als Landarbeiter bei den Großgrundbesitzern verdingten. Die weitere Folge wurde schon erwähnt: In Rom kam es zum offenen Kampf der Plebejer gegen das römische Patriziat. Nutznießer der römischen Expansion waren neben der römischen Ober­ schicht auch die Handwerker und Händler. Während aber die Handwerker 479  Thukydides, Peleponnesischer Krieg, Buch I 5: „Denn die ältesten Hellenen und auch die Barbaren an den Küsten des Festlands und die, die Inseln bewohnten, hatten kaum begonnen, mit Schiffen häufiger zueinander hinüberzufahren, als sie sich auch schon auf den Seeraub verlegten, wobei gerade die tüchtigsten Männer sie an­ führten, zu eignem Gewinn und um Nahrung für die Schwachen; sie überfielen unbe­ festigte Städte und offne Siedlungen und lebten so fast ganz vom Raub. Dies Werk brachte noch keine Schande, sondern eher sogar Ruhm… Gegenseitige Raubzüge gab es ja auch auf dem Festland.“

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meistens kleine städtische Familienbetriebe mit wenigen Angestellten unter­ hielten und in relativ bescheidenen Verhältnissen verblieben, organisierten sich die meist dem Ritterstand entstammenden Händler weiträumig über den gesamten Mittelmeerraum und erpressten von den unterworfenen Völkern Abgaben, die ihnen zu Reichtum verhalfen. Zusätzlich trug zum Reichtum aber auch der Bergbau bei, den sie in Spanien, Thrakien und Ägypten mit­ hilfe von Sklaven betrieben. Und da mit dem Reichtum die Zahl ihrer Skla­ ven ebenfalls wuchs, machten diese schließlich fast ein Drittel der Gesamt­ bevölkerung Roms aus. Wie alsdann nicht anders zu erwarten war, kam es zu Zusammenrottungen und zu Aufständen, die nur mit äußerster Brutalität niedergeschlagen werden konnten. Wenigen Sklaven gelang es allerdings, ein höheres Bildungsniveau zu erreichen; sie wurden dann meistens freigelassen und konnten als liberti selbstständig am Wirtschaftsleben teilnehmen. (γ) Rechtsbegriff und rechtliche Ordnung: Von einer kretischen Rechts­ pflege ist uns nichts überliefert. Es muss sie aber gegeben haben; denn die Griechen versetzten später Minos, den König von Knossos, als allwissenden und unbestechlichen Richter in den Hades. Auch spricht für die Existenz von Rechtsnormen, dass sich eine auf den Außenhandel spezialisierte Kultur wie die kretische kaum ohne verbindliche Normen hätte behaupten können. Ob allerdings die Sprache der Kreter überhaupt einen Begriff für ‚Recht‘ kannte, ist unbekannt. Auch vieles andere, was rechtlich bedeutsam ist, ist nicht überliefert worden, z. B. wem die für den Handel verwendeten Schiffe gehör­ ten und ob an ihnen Privat- oder Staatseigentum bestand. Auf dem Festland wurde die Lebensordnung der Griechen zunächst durch keine eigenständige Rechtsordnung,480 sondern ausschließlich durch die Sit­ ten, die Themistes (θέμιστες) bestimmt.481 Was wir ‚Recht‘ nennen, war ein 480  Ob es überhaupt jemals eine ‚griechische‘ Rechtsordnung je gab, ist umstritten. M. J. Finley (1951, S. 72 ff.) hat dies verneint, da wir lediglich die Rechtsordnungen von Athen und Gortyn (Mitte des 5. Jh. v. d. Z.) genauer kennen würden und es unzu­ lässig sei, hieraus ein Gesamtbild ‚des‘ griechischen Rechts zu formen. H. J. Wolff (1965, S. 2516 ff.) stellt dagegen auf die gemeinsamen Grundgedanken des „griechi­ schen Rechtskreises“ ab, die in den griechischen Stadtstaaten lediglich eine unter­ schiedliche Ausprägung erfahren hätten. Vgl. dazu auch L. Gernet (1968), S. 21 ff. Mit ziemlicher Sicherheit hat der kulturelle Austausch zwischen den griechischen Poleis befruchtend auf die einheitliche Entwicklung von Recht gewirkt und letzthin auch in Verbindung mit der neuen olympischen Religion die Einheit eines ‚nomologi­ schen Wissens‘ (als ἄγραφος νόμος) hervorgebracht. Teil dieses nomologischen Wis­ sens war der ab dem 7. Jh. vorhandene autoritative Thesmos (als bereits schriftliche Rechtssatzung). Maßgeblichen Einfluss auf die spätere Rechtsentwicklung hatte Athen, dessen wichtigste Denker, Platon und Aristoteles, allerdings vor allem die Rechtsphilosophie anführten (siehe dazu unten ε). 481  Die exakte Deutung des (stets im Plural gebrauchten) Begriffs θέμιστες ist umstritten. Vgl. dazu etwa K. Latte (1946/1968), S. 77 ff.; H. J. Wolff (1980), S. 569 ff.



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Teil dieser Sittenordnung, personifiziert in einer Göttin, Themis, die entwe­ der (so Homer) die Schwester des Göttervaters Zeus oder (so Hesiod) seine zweite Frau war. Zeus selbst war der Schöpfergott schlechthin; die Weltord­ nung hatte in ihm ihren Ursprung. Stellvertreter auf Erden waren die in den Städten regierenden Könige.482 Brach jemand eine seiner Normen, dann war das ‚Hybris‘: Frevel und Gewalttätigkeit, Hochmut und Zügellosigkeit – kurzum das Gegenteil von ‚Themis‘. Als Beispiele nennt Homer den Spott der Epeier und Agamemnons Raub der Brisëis.483 Objektive Merkmale stan­ den anfangs im Vordergrund: der Widerspruch zu den ‚guten Sitten‘ oder der Schaden für den ‚guten Ruf‘ eines Bürgers.484 Das subjektive Element, das Sich-Überheben über die geltenden Sitten, trat später hinzu. Ausgenommen war der Fall, dass göttergleiche Kraft den Sich-Überhebenden stützte;485 dann war sein Handeln ‚Themis‘: das subjektive Recht, ihm Zukommendes gewaltsam durchzusetzen. Entstand hierüber Streit, bedurfte es einer Instanz, die Recht gab, wem Recht gebührte. Diese Instanz war der König.486 Sein Amtssymbol war das von Zeus verliehene Zepter,487 sein Richterspruch die Übersetzung der göttlichen Ordnung in menschliche Weisung (δίκη).488 Eine moralische Bewertung war mit seinem Ausspruch nicht verbunden; denn Dike entwirrte lediglich, was der Streit verwirrt hatte.489 Im 7. Jh. v. u. Z. beginnt allmählich, sich ein Frührecht vom göttlichen Ursprung zu lösen und in die Hand der Menschen überzugehen – anfangs in die des Adels, später in die des Volkes. Doch zunächst wird die Einheit von Weltordnung und rechtlicher Ordnung noch anerkannt und die Aufgabe des Menschen darin erblickt, die irdische Ordnung der überirdischen bestmöglich

482  Homer,

Il. II 206. Il. XI 694 f.; I 203, 214. 484  Homer, Il. IX 459 ff. Dazu K. Latte (1946/1968), S. 79: Selbst im äußersten Fall des Vatermordes „hemmt kein inneres Rechtsbewusstsein, sondern der Druck der öffentlichen Meinung, also ein sehr realer äußerer Machtfaktor, die schon zum Schlag erhobene Hand“. 485  Vgl. Hesiod, WuT 213 ff. 486  Homer, Od. XVII 485 ff. Frühzeitig konnte allerdings auch ein Richter an seine Stelle treten. 487  Vgl. Homer, Il. IX 96 ff 488  Etymologisch gehört δίκη zum Verb δείκvυμι (lat. dicere), was ‚zeigen, wei­ sen‘ bedeutet. ‚Recht‘ wurde danach in vorhistorischer Zeit wie in Ägypten durch Weisung und Spruch realisiert. Das Wort iudex macht allerdings auch deutlich, dass δείκvυμι bzw. dicere von alters her eine Beziehung zum Rechtswesen hatte: iudex war derjenige, der den Weg zum Recht zeigt bzw. Recht spricht. Eine entsprechende Entwicklung findet sich in der slawischen Sprache, wo der Begriff für Recht (правда, pravica etc.) sich von praviti = ‚sagen, sprechen‘ ableitet. 489  K. Latte (1946/1968), S.  80 f. 483  Homer,

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anzugleichen.490 Erst danach, ab dem 6. Jh., wird der Mensch für die Ge­ rechtigkeit des Rechts in den Poleis selbst verantwortlich gemacht; denn das göttliche Naturgesetz und das menschliche Rechtsgesetz treten nunmehr auseinander.491 In den beiden wichtigsten Städten auf dem Kontinent, Sparta und Athen, war die Rechtsentwicklung allerdings durchaus unterschiedlich. Sparta als Prototyp einer der vielen dorischen Stadtstaaten konnte auf altes Stammesrecht zurückgreifen, das sich zwar vom alten Sakralrecht (dem indoarischen caritra) emanzipiert, umso enger da­ gegen mit einer gentilizischen Kriegsverfassung und einem aus mythischer Zeit über­ kommenen Königtum verbunden hatte. Recht war hier die von den Vorfahren über­ kommene, durch strenge Erziehung von Generation zu Generation weitergegebene Sittenordnung, die nicht in geschriebene Gesetze eingeklemmt war, sondern als Ge­ wohnheitsrecht im Bewusstsein der Spartaner weiterlebte. In Athen dagegen, wo ein Stammesgemisch das Volk bildete, legte man frühzeitig das von mythischer Zeit her bestehende Königtum ab und bildete, da man auf keine gefestigte Sitte mehr zurück­ greifen konnte, eine demokratische Tendenz aus, deren Ergebnisse man in rechtlichen νόμοι auf Dauer befestigte.

Das frührömische Gesellschaftsleben glich dem frühgriechischen insofern, als es auf den mores gründete, die sowohl Herkommen als auch Sitte umfass­ ten.492 Gleichwohl kannte man wohl schon sehr früh spezifische Rechtsre­ geln. Denn die Begriffe ius für ‚Recht‘ und leges für ‚Gesetze‘ waren zwar religiösen Ursprungs,493 wurden aber schon auf die sagenumwobene königli­ che Rechtssetzung angewandt. Somit waren die Römer trotz einem wesent­ lich späteren Beginn ihrer Geschichte wahrscheinlich das erste Volk, das die Eigenständigkeit des Rechts innerhalb der Sittenordnung nicht nur erkannte, sondern auch anerkannte und das Recht zu einem eigenständigen System entwickelte.494 Vor allem aber waren sie das erste Volk, das seine Rechtsord­ nung weder einseitig (wie die Spartaner) auf das Gewohnheitsrecht noch 490  Herakleitos, fr. 1. Das Wort hatte für die Griechen, aber nicht nur für sie, schöp­ ferische Kraft. Auch im Hebräischen war das gesprochene Wort (dābār) gleichzeitig der damit benannte Gegenstand: Er erschien, ob historisch oder nicht, und wurde im gesprochenen Wort auch als historischer Gegenstand für den Menschen wirklich. 491  Siehe dazu unten ε. 492  Genauer hierzu unten J 5 d γ. 493  Ius wird von M. Kaser (1971, § 4 I 2, S. 25) auf eine Wurzel *ieu- zurückge­ führt, die ‚Reinheit‘ bedeutet. „Danach bedeutet das Wort auf einer Stufe, in der das religiöse Leben noch von magisch-animistischen Vorstellungen beherrscht wird, einen Friedenszustand mit den Dämonen; einen Zustand, in dem diese Mächte nicht verletzt sind und ihre Eingriffe darum ferngehalten werden … Mit der fortschreitenden Ver­ weltlichung tritt das sakrale Element zurück und bleibt im ius – wenigstens im profa­ nen Bereich – nur die formelle und materielle ‚Rechtmäßigkeit‘ erhalten.“ 494  Als die Griechen mit dem römischen ius in Berührung kamen, übersetzten sie es mit δίκαιον, was jedoch ‚Gerechtigkeit‘ bzw. ‚das Gerechte‘ (iustum) bedeutet. Weder die Römer noch die Griechen hatten dagegen einen Begriff für subjektive Rechte. Die einen verwandten stattdessen das Wort actio, die anderen das Wort δίκη.



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einseitig (wie die Athener) auf das Gesetzesrecht gründete, sondern auf das eine wie das andere – nur dass die römischen Juristen das Gewohnheitsrecht lange Zeit als rationale Interpretation des Gesetzesrechts der XII-Tafeln aus­ gaben. (δ) Gesetzgebung und Rechtsprechung: In Griechenland war Dike die göttliche Tochter der Themis. Sie wies den Richtern das Recht, und die Grie­ chen priesen diejenigen, die das Recht am gradesten verkündeten,495 d. h. ohne die Gestalt der Dike zu entstellen.496 Hilfe dafür boten die Gesetze, die zwar höchstwahrscheinlich schon vor der homerischen Zeit vorhanden wa­ ren, aber nur mündlich überliefert wurden. Erst ab dem 7. Jh. zeichnete man sie in den meisten Poleis (es gab deren fast 800) auf497 und gab ihnen da­ durch einen höheren Stellenwert für die Ordnung; denn die Schrift machte vor aller Augen offenbar, dass es Recht auch unabhängig vom konkreten Streitfall gab.498 Freilich waren die Gesetze deshalb nicht schon ‚das‘ Recht, sondern lediglich οἱ νόμοι,499 d. h. die Regeln, die in jeder Polis anders lau­ teten – so eben, wie es den Themistes entsprach. Doch waren manche von Gesetzgebern erlassen worden, von denen man annahm, dass sie mit beson­ derer Einsicht in das Gerechte (τὸ δίκαιον) begnadet waren: in Sparta etwa vom sagenhaften Lykurg (zwischen 9. und frühem 7. Jh. v. u. Z.), in Athen von Solon (ca. 640–560)500. Und von daher hatten sie zumindest die Vermu­ tung höherer Richtigkeit für sich. Ersten Anlass für eine Gesetzgebung gaben offenbar hier wie schon in Mesopota­ mien konkrete Probleme, mit deren Wiederkehr man rechnete und für die das münd­ lich tradierte nomologische Wissen keine Lösungen parat hatte. Später führte ihre steigende Zahl zu einer Verstetigung der Gesetzgebung, und die Bürgerschaft, der die Gesetzgebung oblag, wurde sich immer stärker ihrer Identität auch als Rechtsgemein­ 495  Homer,

Il. XVIII 508. WuT 218 ff. u. ö.; Homer, Il. XVI 384 ff. 497  Vgl. dazu mit ausführlichen Nachweisen K.-J. Hölkeskamp (1999). 498  Das homerische Griechisch besaß für Satzungen wie für Urteilssprüche aller­ dings nur einheitlich das Wort θέμιστες. Überhaupt kein Wort gab es für ‚Unrecht‘; es hieß „krummes Recht“ (σκόλιαι θέμιστες). 499  Das Wort νόμος bezeichnete sowohl die Sitte als auch das Rechtsgesetz. Es wurzelt etymologisch im Verbum νέμειν, das nicht nur ‚austeilen, zuteilen‘ bedeutet, sondern auch ‚weiden‘ und ‚als Weide in Besitz nehmen‘ (νομή = [von der Gemeinde zugeteilter] ‚Weideplatz‘; in diesem Sinne noch ausschließlich bei Homer). Mit νέμειν verwandt ist das deutsche Wort ‚nehmen‘. 500  Die Gesetzgebung Solons ist die wohl einzige in der gesamten Antike, der ein geradezu revolutionärer Charakter zukommt: Infolge der schnellen Entwicklung aller Wirtschaftszweige zu seiner Zeit war in Athen eine neue Plutokratie entstanden, wel­ che die kleinen Bauern schwer bedrängte. Solon senkte deren Steuerlast und erleich­ terte die Schuldenlast. Ferner schaffte er auf der einen Seite die Schuldsklaverei ab und begrenzte auf der anderen Seite den Landbesitz. Dadurch gebot er der Macht der Reichen Einhalt, wehrte aber auch noch weitergehende Forderungen der Armen ab. 496  Hesiod,

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schaft bewusst. Lag allerdings die Gesetzgebung in der Hand eines Einzelnen, sei er gewählter König, Usurpator oder Tyrann, war die Achtung vor seinen νόμοι unter­ schiedlich. Einerseits beseitigten νόμοι zwar eine zuvor herrschende Willkür, anderer­ seits aber auch die Flexibilität eines ungeschriebenen Gewohnheitsrechts, das auf der lebendigen Volksanschauung beruhte und die Gerichte berechtigte, nach ihrer Rechts­ überzeugung zu entscheiden. Sparta war, obwohl Königtum, der Repräsentant eines derart auf lebendiger (wenngleich wankelmütiger) Überzeugung beruhenden Rechts, Athen dagegen der Ursprung des Gedankens, dass das ganze Recht des Staates in geschriebenen (und nur schwer abänderbaren) Gesetzen bestehen soll. (Aus der ver­ mutlich großen Zahl der übrigen Stadtrechte ist uns nur das Recht der kretischen Stadt Gortyn überliefert [ca. 450], das der athenischen Rechtsauffassung nahesteht.501)

In Rom entstand als erstes Gesetzgebungswerk – noch während der etrus­ kischen Vorherrschaft Mitte des 5. Jh.s und in etwa gleichzeitig mit dem Stadtgesetz von Gortyn  – das XII-Tafelgesetz.502 Es galt als ‚Grundgesetz‘ der Stadt und wurde deshalb auf dem Forum ausgestellt. Aufgezeichnet wa­ ren darin die zeitgenössischen Rechtszustände, aber auch einige ältere Rechtsinstitute, deren Wurzeln bis hinab in die archaische Zeit reichten. So stammten die meisten familien- und erbrechtlichen aus dem altrömische ­Leben, die meisten sachen- und schuldrechtlichen Regelungen waren dage­ gen neueren Datums.503 Die Sprache war selbst für die damalige Zeit alter­ tümlich, die Sätze knapp, einfach strukturiert und, wie üblich, überwiegend in Form des Konditionalsatzes abgefasst: „Si iniuriam faxsit, XXV poenae sunto“ (8 4). „Si membrum rup(s)it, ni cum eo pacit, talio esto“ (8 2)504. Dass teilweise auch das Strafrecht geregelt war, hatte seinen Grund darin, dass es damals ebenfalls weitgehend in den Händen der Bürger lag. Der kulturelle Fortschritt, den die Gesetze sowohl Griechenland als auch Rom brachten, wurde in den folgenden Jahrhunderten hoch bewertet, ja es 501  Es handelt sich um eine Sammlung von Vorschriften zu eigentums-, erb- und eherechtlichen Fragen sowie von Verfahrensregeln. Ergänzungen und Zusätze ver­ schiedener Art, Differenziertheit, Genauigkeit und ‚Reife‘ erweisen die Herkunft der Normen aus unterschiedlichen Zeitabschnitten. Materialsammlung und Analyse der in den übrigen griechischen Poleis geltenden Gesetze bei K.-H. Hölkeskamp (1999), S. 60 ff. Dass die meisten von ihnen nicht überliefert sind, deutet auf ihre entweder geringe Qualität oder soziale Bedeutungslosigkeit hin. 502  Seine Authentizität war zeitweise in Streit, gilt heute aber als gesichert (vgl. M. Th. Fögen, 2003, S. 65 ff. m. Nachw.). 503  Manches scheint aus Griechenland übernommen zu sein, wohin sich drei der Dezemvirn, die die Gesetze aufzeichneten, zum Studium des dortigen Rechts begeben hatten (vgl. dazu F. Wieacker, 1988, S. 299 ff. m. Nachw.). Die Überlieferung des XIITafelgesetzes ist bruchstückhaft, weshalb wir u. a. bis auf wenige Ausnahmen nicht wissen, in welchen Zusammenhang die einzelnen Bestimmungen zu stellen sind. 504  „Wenn jemand eine leichte Körperverletzung zugefügt hat, soll er 25 (As) Buße zahlen.“ „Wenn jemand ein Glied verstümmelt hat, soll er, sofern er sich nicht [mit dem Verletzten] gütlich einigt, das Gleiche erleiden.“



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kam sogar zu einem regelrechten Gesetzespositivismus, der im Verbot an die Behörden (nicht allerdings an die Gerichte) kulminierte, jemals noch unge­ schriebenes Recht (ius non scriptum) anzuwenden.505 Soweit ein Bedarf an neuen Gesetzesnormen bestand, lag die Zuständigkeit in Griechenland regel­ mäßig bei der Volksversammlung, in der je nach der Staatsverfassung entwe­ der alle waffenfähigen Bürger (Demokratie) oder eine ausgewählte Gruppe (Oligarchie) das Stimmrecht hatten,506 in Rom bei den Prätoren und Ädilen, deren Edikte allerdings nur eine gesetzesvertretende Funktion ausübten. Außer den Volksbeschlüssen kannte Athen seit 403/02 noch ein besonderes Verfah­ ren für grundlegende Gesetze,507 denen künftig kein Volksbeschluss widersprechen durfte. Wer dennoch einen gesetzwidrigen Volksbeschluss beantragte, konnte von je­ dermann verklagt werden.508

Die Rechtsprechung war sowohl in Griechenland als auch in Rom letzt­ instanzlich Richtern anvertraut, die aus dem Volk stammten und auch das Volk repräsentierten. Man sah hierin das demokratische Element, das dem Volk Macht verleiht.509 In Bezug auf Griechenland sind wir am besten über die Gerichtsorganisation in Athen unterrichtet. Sie lag im 5. und im 4. Jh. zunächst bei den durch Los bestellten Archonten, für Blutprozesse und sa­ krale Angelegenheiten beim Basileus; das Volksgericht (ἡλιαία, δικαστήριον) war lediglich Berufungsinstanz gegen die Urteile der Archonten. Als das Volksgericht später zum erstinstanzlich entscheidenden Gericht wurde, ging dem Hauptverfahren ein Vorverfahren bei den Archonten voraus. Darin hat­ ten die Streitparteien ihre Standpunkte darzulegen und durch wechselseitige Befragung zu klären. Anschließend versuchte der das Verfahren leitende Ar­ chont, einen Kompromiss zwischen ihnen herbeizuführen. Gelang ihm das nicht, urteilte im Hauptprozess das Volksgericht, vertreten durch Hunderte von ausgelosten Geschworenen, aber unter Anleitung eines Beamten (ἡγεμονία δικαστηρίου). Die Parteien trugen vor ihnen nochmals ihre Stand­ punkte vor und erläuterten die berechtigenden Gründe – gestützt i. d. R. auf das Manuskript eines weniger im Recht denn in der Massenpsychologie ge­ schulten Rhetors. Die Entscheidung der Geschworenen fiel danach ohne Beratung durch das Los. 505  Für Griechenland vgl. Andodikes, orat. 1 (Mysterienrede, hier zitiert nach H. J. Wolff, 1980, S. 563), § 85: ἀγράφῳ δὲ νόμῳ τὰς ἀρχὰς μὴ χρῆσθαι μηδὲ περὶ ἑνός. Für Rom vgl. F. Jaques/J. Scheid (2008), S. 76 ff. 506  Neben dem schwerfälligen Gesetzgebungsverfahren gab es ein leichteres Be­ schlussverfahren (ψήφισμα), welches das Gesetzgebungsverfahren zeitweise fast völ­ lig verdrängte, aber auch zum Missbrauch verführte. 507  Demonsthenes, 4, 20 – 23.33. 508  Vgl. dazu H. J. Wolff (1970). 509  Aristoteles, Staat der Athener 9 1.2: „Denn ist das Volk Herr über den Stimm­ stein, dann ist es Herr über die staatliche Ordnung.“

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Schwerer zu rekonstruieren ist das Gerichtsverfahren in der kretischen Stadt Gortyn. Eine demokratische Rechtsfindung wie in Athen gab es dort nicht. Die Richter waren angesehene Personen aus dem Volke oder Mitglieder des Magistrats der Stadt und sprachen Recht als Einzelrichter, unterstützt lediglich durch den rechtskundigen Mnamon – eine Art Gerichtsschreiber mit der Aufgabe, die mündlich gefällten Urtei­ le zu protokollieren und sie zu archivieren, damit später nachgeprüft werden konnte, ob der obsiegende Kläger sich bei der Vollstreckung des Urteils an die Grenzen des ihm zuerkannten Anspruchs gehalten hat.

Über das Verfahren in Rom können wir aus dem XII-Tafelgesetz vor allem entnehmen, dass es stärker formalisiert war als in Griechenland. Die Ge­ richtsbarkeit lag in den Händen des Höchstmagistrats, vor dem die Parteien ihre Rechtsbehauptungen vorbrachten. Gericht hierüber hielt ein iudex oder arbiter,510 dem der Magistrat den Prozess zum Zwecke der Beweiserhebung anschließend zuwies. Ladungen zum Prozess, Art sowie Ort und Dauer des Prozesses u. a. m. waren geregelt. Die Klagen selbst nannte man (legis) actiones, das Urteil sententia, später iudicium. Neben dem Rechtsverfahren gab es noch ein Sittengerichtsverfahren, das in den Händen der Zensoren lag und mit einem Sittenurteil (iudicium de moribus) abschloss. (ε) Rechtsphilosophie:511 Die Griechen waren vermutlich die ersten, die über das Recht philosophische Betrachtungen anstellten.512 Zugrunde legten sie ein Weltbild, worin die Menschen als allen anderen Lebewesen überlegen angenommen werden, weil ihr Leben innerhalb von Gesetzen abläuft, die sie sich selber geben, während die übrigen Lebewesen von den Gesetzen der Natur regiert werden. Selbst wenn sie sich ihre Gesetze selber geben, müsse man allerdings zwischen den Gesetzen der Barbaren und denen der Griechen 2 1b; Gaius, Inst. IV 17a. griechische Rechtsphilosophie war nicht das, was wir heute mehrheitlich darunter verstehen, sondern umfasste auch Rechtstheorie, Sozialethik und Politologie. 512  Begründet wurde das Nachdenken der Griechen über das Problem einer für alle Völker richtigen Ordnung zum einen durch ihre Kolonisationstätigkeit; denn an den Ufern des Mittelmeers und des Schwarzen Meers mussten sie ohne die Berichte der Alten über das überkommene Recht auskommen und überdies Normen kreieren, nach denen Menschen aus unterschiedlichen Gegenden zusammenleben können. Begründet wurde das Nachdenken zum anderen aufgrund der städtischen Krisen im 7. und 6. Jh. Damals beauftragte man ‚Weise‘, unter ihnen Solon, das bis dahin nur gewusste Recht festzustellen sowie durch neue Gesetze aktuelle Krisen zu beheben. Als geeig­ neter Maßstab erschien dafür die Eunomie, worin alles seinen gebührenden Platz, seine Aufgabe und sein Recht hat. Die Gesetze mussten folglich in ihrer Gesamtheit das Rüstzeug bilden, mit dessen Hilfe die Bürger zusammenleben und mit ihren Pro­ blemen fertig werden konnten. Das erforderte Abstraktionen, die hinter den Einzelin­ teressen das soziale Ganze erkennen ließen. Anaximandros 1 (610–547) sah diese Voraussetzung als gegeben an, weil ein einziges Weltgesetz alles Geschehen beherr­ sche und alle Sonderexistenzen darin Unrecht seien, für das sie „Sühne und Buße leisten müssen gemäß der Ordnung der Zeit“. Für dieses Weltgesetz nahm er die ge­ meinverbindliche Rechtsidee der Polis zum Vorbild (W. Jaeger, 1934, S. 217). 510  XII-Tafelgesetz 511  Die



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unterscheiden: Die barbarischen Gesetze entsprängen den Launen ihrer Herr­ scher, die griechischen dagegen der Vernunft. Nur die griechischen ermög­ lichten daher, dass die Menschen sowohl ihr eigenes Dasein nach ihrem persönlichen Willen gestalten als auch das Weltgeschehen lenken. Geschichtlich lassen sich innerhalb der griechischen Rechtsphilosophie sechs Phasen unterscheiden: •• In der 1. Phase war die Rechtsphilosophie noch eine Mischung aus mytho­ logischen und moralisch-praktischen Vorstellungsgehalten: Bei Homer war sie personifiziert in Themis, die Zeus zur Seite stand, wenn er Weisungen (θέμιστες) erteilte, bei Hesiod in Dike, die Zeus auf die Untaten der Men­ schen hinwies, ferner Eris (Streit), Bia (Gewalt) und Hybris (Maßlosigkeit) bekämpfte und überdies den Gerichtsverhandlungen beiwohnte, um dem Nomos, der göttlichen Weltordnung, zum Siege zu verhelfen. Recht und Gerechtigkeit wurden also anfangs noch nicht unterschieden. •• In der 2. Phase verlor die Rechtsphilosophie ihre Bindung an Zeus; denn in der griechischen Aufklärungszeit strich man die Existenz einer transzen­ denten Götterwelt und einer daraus fließenden Weltordnung aus dem Re­ pertoire des Denkens. Solon sah im Recht die zeitlose, gleichwohl sich in der Zeit verwirklichende Idee einer ‚richtigen‘ sozialen Ordnung (‚Euno­ mia‘). Herakleitos folgte ihm insoweit, sah die Idee der ‚richtigen‘ Ord­ nung aber gleichzeitig eingebunden in den Antagonismus der gesellschaft­ lichen Kräfte beim Kampf um die Gerechtigkeit. •• In der 3. Phase suchte man sowohl nach einem festen Halt für die Idee der Gerechtigkeit als auch einem Ersatz für die Götterwelt. Man fand diesen Halt empiristisch in der Schöpfung und den Ersatz für die Götterwelt im Menschen als deren Krönung. Als Maß nahm Protagoras die empirischen Menschen.513 Aber deren gab es viele und vor allem verschiedenartige – außer den Griechen auch die Barbaren, und innerhalb der Barbaren solche, mit denen man Handel trieb, und andere, mit denen man Krieg führte. Daraus zog man den Schluss, dass zwar alle Menschen unterschiedslos am Recht teilhätten, das Recht aber entsprechend Natur und Meinung ver­ schieden sei.514 •• In einer 4. Phase hielt man diese äußerliche Betrachtung der Menschen indes für zu einfältig. Die spezifisch menschliche Natur offenbare sich 513  Protagoras

bei Platon, Theaitetos 151 E: πάντων χρημάτων μέτρον ἄνθρωποϛ. Theaitetos 172a: „Das Schöne und Schlechte, das Gerechte und Unge­ rechte, das Fromme und Unfromme, was in diesen Dingen ein Staat für Meinung fasst und dann feststellt als gesetzmäßig, das ist es auch für jeden in Wahrheit. … Nichts davon hat schon von Natur eine bestimmte Beschaffenheit, sondern was gemeinsam vorgestellt wird, das wird wahr zu der Zeit, wann und solange es dafür gehalten wird.“ 514  Platon,

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nicht in äußerer Erscheinung und in geäußerter Meinung, sondern vor al­ lem im Denken. So sei etwa das, was die Menschen in einer Volksver­ sammlung als Recht beschließen, nicht das Ergebnis ihres Aussehens und zufällig geäußerter Meinung, sondern verantwortungsvollen Denkens und innerer Überzeugung. Aber woher haben die Menschen ihre Überzeugung? Angeboren, hieß es, sei sie jedenfalls nicht. Also hätten geschickte Redner sie ihnen beigebracht (so Gorgias) oder Mächtige sie ihnen aufgezwungen (so Trasymachos). Schwankt dann aber nicht der Maßstab für das Recht unter diesen Einflüssen? Ist nicht überhaupt die Ansicht vom richtigen Recht etwas anderes als die Idee vom richtigen Recht, nach der doch alle suchen? •• In einer 5. Phase wandte man sich daher vom Empirismus wieder ab. Stattdessen argumentierte man: Von Natur aus seien die Menschen unter­ schiedlich weise; und die weisesten Menschen stimmten darin überein, dass man darum das richtige Recht nicht an den vom gemeinen Volk be­ schlossenen Gesetzen erkennen könne. Woran sonst – darüber gingen die Meinungen freilich abermals auseinander. Die einen rekurrierten wiederum auf die Götter und erkannten in ihren ‒ aus der Natur ablesbaren ‒ Geset­ zen den Maßstab auch für das richtige menschliche Recht (so Hippias).515 Die anderen hielten dagegen stärker den Kontakt mit der irdischen Realität und erklärten, dass alle Menschen, ob Hellenen oder Barbaren, ihrer Natur nach gleich seien, weil sie dieselben natürlichen Bedürfnisse haben. Wenn ihre staatlichen Gesetze dennoch ungleich seien, so deshalb, weil sie nicht der gleichen menschlichen Natur folgten, sondern offenbar willkürlicher Setzung (so Antiphon).516 •• Herausragende Persönlichkeit der 6. Phase war schließlich Sokrates. Er knüpfte einerseits an die aufklärerische Philosophie an, wich andererseits vom einseitigen Empirismus ab und stellte stattdessen die menschliche Vernunft in den Mittelpunkt seines Denkens. Vernunft sei Weisheit, d. h. Einsicht in das Wesen der Dinge und damit in das Wesen des Rechts; die­ se Einsicht dürfe nicht den Einflüsterungen geschickter Redner ge­opfert werden. Wahre Einsicht verlange vielmehr, dass jeder sich den Normen seiner Polis unterwerfe, gleichgültig ob er sie für gerecht oder ungerecht hält; denn jeder Gesetzgeber, der etwas taugt, werde, wenn er Normen er­ lässt, sein Augenmerk auf die Gerechtigkeit als die höchste Tugend rich­ ten.517 In dieser Einsicht trank er den Schierlingsbecher, den man ihm ge­ Platon, Protagoras 337c/d. fr. A. 517  Platon, Gesetze I, 630c: „Παντὸς μᾶλλον καὶ ὁ τῇδε παρὰ Διὸς νομοθέτης, πᾶς τε οὗ καὶ σμικρὸν ὄφελος, οὐκ ἄλλο ἢ πρὸς τὴν μεγίστην ἀρετὴν μάλιστα βλέπων ἀεὶ θήσει τοὺς νόμους.“ 515  Vgl.

516  Antiphon,



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reicht hatte, weil seine Ansichten nach dem Ratschluss seiner Richter die Jugend verdärben. Damit hatte die griechische Philosophie die meisten Themen benannt, die auch in der Folgezeit noch bis hin zur Gegenwart das rechtsphilosophische Denken beschäftigen sollten. Das Denken der beiden großen griechischen Philosophen, die nach Sokrates das Bild nicht nur der griechischen Philoso­ phie prägten, Platon und Aristoteles, entzieht sich einer Kurzcharakteristik. Deshalb werde ich auf viele ihrer Ansichten erst im Folgenden eingehen ‒ zumeist um festzustellen, dass bis heute keine besseren Erkenntnisse gefun­ den worden sind. (ζ) Rechtsentwicklung. Überraschenderweise findet in Griechenland die Entwicklung der Rechtsphilosophie in der Entwicklung des positiven Rechts keine Entsprechung. Der Grund liegt darin, dass das griechische Volk keine Rechtswissenschaft kannte und sich kein Rechtssystem schuf. Sein stark ausgeprägtes Rechtsbewusstsein drückte sich lediglich in den Gerichtspro­ zessen und in den dramatischen Werken etwa eines Sophokles, Aischylos und Euripides aus. Gerade hier aber trat das positive Recht der νόμοι zumeist in den Hintergrund gegenüber der auch Billigkeitsgesichtspunkte berücksich­ tigenden δίκη  – ein Umstand, der von den attischen Rednern (Demosthenes u. a.) benutzt wurde, um durch weitherzige Gesetzesauslegung und -ergän­ zung den Interessen ihrer Mandanten zu dienen, ja notfalls die offenkundige Unbilligkeit eines Gesetzes zu behaupten und auf Nichtbeachtung zu plädie­ ren.518 Als literarische Quellen für die altgriechische Rechtsentwicklung stehen für die ‚dunklen Jahrhunderte‘ (ca. 1200 bis 2. Hälfte 8. Jh.) nur die Epen Homers (‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘) und Hesiods (‚Thegonie‘ und ‚Erga‘) zur Verfügung,519 für die archa­ ische Epoche (2. Hälfte 8. Jh. bis 480) nur einige Gesetzesbruchstücke, für die klas­ sische Zeit außer den philosophischen und dramatischen Texten hauptsächlich die Gerichtsreden attischer Advokaten. Daher lässt sich aus diesen unterschiedlichen Quellen die Entwicklung des griechischen Rechts nicht im Sinne einer fortlaufenden Kodifizierung ungeschriebener Rechtsnormen ablesen.520 Selbst in den (als authen­ tisch anerkannten) Gesetzen Solons sind die normierten Tatbestände so spezifisch

518  Die Billigkeit (ἐπιείκεια) wurde zur Korrektur lediglich von Gesetzen, niemals von Einzelentscheidungen angewandt. 519  Für die Dichtungen Homers ist anzunehmen, dass er die rechtlichen Verhältnisse nicht zur Zeit der geschilderten Ereignisse (14. bis 12. Jh.), sondern zur Zeit ihrer Dar­ stellung (9. bis 7. Jh.) zugrunde gelegt hat. Da die Entstehung der Homerischen Epen mit der Wende von der kretisch-mykenischen zur griechisch-mittelalter­lichen Kultur zeitlich zusammenfällt, spiegelt sich in ihnen daher ein Entwicklungstand wider, worin „die Zustände der Urzeit bereits überwunden sind, aber die ältere Schicht wie bei ei­ nem Palimpsest noch durchleuchtet“ (E. F. Bruck, 1926, S. 74). 520  K.-J. Hölkeskamp (1999), S.  262 ff.

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gefasst, dass wir annehmen müssen, Solon habe eine logisch-abstrakte Systematisie­ rung des gesamten materiellen und prozessualen Rechts fern gelegen.521

Bleiben wir bei den Nomoi (νόμοι). Sie bauten, wie erwähnt, auf den θέμιστες, den Sitten der Poleis, auf. Allerdings erschien es den Gesetzgebern unnötig, diese Sitten den Bürgern en detail in Erinnerung zu rufen, zumal sie sich der genauen Festschreibung entzogen. Sie behandelten nur, was sie als Verstöße gegen die Sitten ansahen – das allerdings mit pedantischer Genau­ igkeit, weil jeweils bezogen auf einen konkreten Vorfall, der sich kürzlich ereignet und die Frage nach einem Sittenverstoß aufgeworfen hatte. Nur bisweilen statteten sie gerichtliche (oder schiedsrichterliche) Entscheidungen, die ihnen um der ‚Gleichgerechtigkeit‘ willen wichtig erschienen, mit über­ individueller Verbindlichkeit aus, damit sie auf ‚ähnliche‘ Vorkommnisse angewandt werden konnten.522 Doch lag darin kein Bemühen um eine syste­ matische Erfassung des Rechtsstoffs. Ein Beispiel ist Drakons fragmentarisch erhaltene Satzung über die unvorsätzliche Tötung.523 Das Gesetz hatte nur die Einengung der Blutrache zum Ziel, und diese auch nur als Reaktion speziell auf die Tötung der Anhänger des Tyrannis-Aspiranten Kylon und die darauffolgende Spirale von rächender Gewalt der Verwandten.524 Ein­ zig in dieser Absicht bestimmte es, welche Institutionen im Falle von Tötungsdelikten tätig werden und welches Verfahren sie einhalten sollten, ferner dass zwischen vor­ sätzlicher und unvorsätzlicher Tötung zu differenzieren und die unvorsätzliche Tötung statt mit dem Tode nur mit der Verbannung des Täters zu bestrafen sei.

Eine durch aktuelle Ereignisse veranlasste Gesetzgebung trug dennoch zur Festigung auch der Grundlage bei, die sie ermöglichte: zur rechtlichen Souve­ ränität der Polis. Sie verstärkte die Einbindung der Individuen in die Sozial­ strukturen der Polis und den Bekanntheitsgrad ihrer Institutionen sowie der Verfahren, die über Recht oder Unrecht entscheiden. Und dass die Gesetzge­ bung überdies der versammelten Bürgerschaft oblag, verstärkte das Gefühl für die Einheitlichkeit und Einzigartigkeit der Polis – selbst wenn in anderen Po­ leis die Entwicklung ganz ähnlich verlief. Denn trotz allen Verschiedenheiten im Detail beherrschte ein Entwicklungstrend alle Poleis: „vom Geschlechter­ tum zum Staatentum, vom patriarchalischen Familienverhältnis zur freieren Gestaltung des Individuums, von der Familienrache zum Strafrecht und von 521  K.-W.

Welwei (1992), S. 164. Hölkeskamp (1999), S. 267 f. Dahinter stand dann ‒ ähnlich wie später in Rom ‒ das Verlangen des Volkes nach einer Aufzeichnung des bisher nur mündlich von den adligen Richtern tradierten Rechts. Denn der einfache Mann stand bei Aus­ einandersetzungen mit Aristokraten häufig auf verlorenem Posten, wenn ein Richter sich bei einem ihm nachteiligen Urteil auf ein nicht nachprüfbares Gewohnheitsrecht berief. 523  Vgl. R. Koerner (1993), Nr. 11, und dazu M. Gagarin (1981). 524  Dazu insbes. K.-W. Welwei (1992), S. 138 ff.; U. Walter (1993), S.  190 ff. 522  K.-J.



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den ersten Elementen der Schuldgesetzgebung zu einem System des Verkehrs­ rechts, welches dem babylonischen Recht an die Seite zu stellen ist“525. Einen entsprechenden Entwicklungstrend finden wir auch in Rom, dort allerdings vor einem ganz anderen Hintergrund. Denn während für das grie­ chische Recht allen philosophischen Windungen und Wendungen zu Trotz entweder der Wille der Götter oder die überkommene Sittenordnung des Volkes als Hintergrund diente, übernahm in Rom die menschliche Ratio diese Funktion. Allerdings entwickelte sich die rationale Rechtsbegründung nicht etwa voraussetzungslos, sondern auf der Grundlage der im 7. und 6. Jh. in Etrurien und Latium vorherrschenden, gewohnheitsrechtlich verankerten Selbst­ hilfe, die vor der Blutrache nicht zurückschreckte.526 Eine solche Rechtsdurchsetzung hatte immer wieder Menschenleben gefordert. Und als die Gebiete zunehmend dichter besiedelt wurden, verbreitete sie allgemeine Angst und Unruhe. Deshalb bemühte man sich, Brüche der gemeinschaftli­ chen Ordnung künftig so weit wie möglich in geordneten Schieds- und Frie­ densverfahren zu heilen, und schuf zu diesem Zweck jenes Gemeinschafts­ recht, das später auf den XII-Tafeln niedergeschrieben wurde.527 Für privile­ gierte Familien richtete man darüber hinaus Ämter und Laufbahnen ein, um sie in das Gemeinschaftsrecht einzubinden. Die Erinnerung an das ursprüng­ liche Recht bewahrte man vor allem in zwei Symbolen: im Beil als Symbol für die öffentlich-rechtliche Gewalt über Leben und Tod sowie im Rutenbün­ del (fasces) als Symbol für die amtliche Befugnis, die öffentliche Ordnung notfalls durch das Auspeitsche