Normenhierarchien im europäischen Gemeinschaftsrecht [1 ed.] 9783428499168, 9783428099160

Die Nutzung des Prinzips der Normenhierarchien ist ein zentrales Thema innerhalb der Debatte um eine Verfassung für die

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Normenhierarchien im europäischen Gemeinschaftsrecht [1 ed.]
 9783428499168, 9783428099160

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HERWIG HOFMANN

Normenhierarchien im europäischen Gemeinschaftsrecht

Hamburger Studien zum Europäischen und Internationalen Recht Herausgegeben von Thomas Bruha, Meinhard Hilf, Hans Peter Ipsen t, Rainer Lagoni, Gert Nicolaysen, Stefan Oeter

Band 22

Normenhierarchien im europäischen Gemeinschaftsrecht Von

Herwig Hofmann

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Hofmann, Herwig: Nonnenhierarchien im europäischen Gemeinschaftsrecht I von Herwig Hofmann. - Duncker und Humblot, 2000 (Hamburger Studien zum europäischen und internationalen Recht; Bd.22) Zug\.: Hamburg, Uni v., Diss., 1998 ISBN 3-428-09916-8

Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Gennany

© 2000 Duncker &

ISSN 0945-2435 ISBN 3-428-09916-8 Gedruckt auf aherungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97069

Vorwort Diese Untersuchung zum Thema der Normenhierarchien im Europäischen Gemeinschaftsrecht hat im Wintersemester 1998 der juristischen Fakultät der Universität Hamburg als Dissertation vorgelegen. Sie entstand unter Betreuung von Professor Meinhard Hilf. Ihm und dem Zweitgutachter des Dissertationsverfahrens, Herrn Professor Bruha, möchte ich herzlich für die Betreuung der Promotion sowie für Diskussionen über das Thema und schließlich für die Aufnahme dieser Arbeit in die von ihnen mit herausgegebene Schriftenreihe "Hamburger Studien zum europäischen und internationalen Recht" danken. Die Anregung zu dem Thema der Normenhierarchien erhielt ich bei meiner Tatigkeit im Rahmen eines von Professor Joseph H. H. Weiler geleiteten Forschungsprojekts im Auftrage des Europäischen Parlaments. Mein herzlicher Dank gilt auch dem Direktorium und den Mitarbeitern des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg, deren freundliche Aufnahme als Gastwissenschaftler in ihr Institut aufgrund der hervorragenden Bibliothek und der dort herrschenden Athmosphäre wissenschaftlichen Austausches dem Entstehen dieser Dissertation sehr förderlich gewesen ist. Unterstützung, Anregungen und kritische Begleitung des Entstehens meiner Ideen verdanke ich nicht zuletzt vielen interessierten Gesprächspartnern und Freunden. Nennen möchte ich an dieser Stelle stellvertretend für alle übrigen Dirk Bornemann, Dr. Dorothee Fischer-Appelt, Prof. Dr. Gerard C. Rowe, Dr. Marlon Simm und Annette Elisabeth Töller. Vor allem aber möchte ich an dieser Stelle meinen Eltern meinen Dank für ihre immerwährende, unbedingte und in jeder erdenklichen Hinsicht gegebene Unterstützung und Förderung aussprechen. Hamburg, im April 1999

Herwig Hofmann

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil Fragestellung und Hintergrund der Untersuchung

A. Die FragesteIJung ..................................................................

17

B. Der Hintergrund ...................................................................

20

I. Normenhierarchische Strukturen in Rechtssystemen ...........................

20

1. FormelJe und materielle Kriterien der Hierarchisierung von Normen. . . . . . . .

20

2. Horizontale und vertikale Hierarchisierung .................................

21

3. Auswirkung der Hierarchisierung von Rechtsordnungen....................

22

11. Rangordnung der Rechtsquellen im europäischen Gemeinschaftsrecht - Der Status quo .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

I. Vertikale Strukturen ........................................................

23

2. Strukturen auf der horizontalen Ebene ......................................

26

3. Zusammenfassung .........................................................

31

III. Die Debatte um die Normenhierarchie im Gemeinschaftsrecht .................

31

1. Die Diskussionen im Vorfeld der Verträge von Maastricht und Amsterdam . .

32

2. Die Situation im Anschluß an den Vertrag von Amsterdam .................

40

3. Zusammenfassung .........................................................

41

C. Zwischenergebnisse................................................................

41

Zweiter Teil Rahmenbedingungen einer Reform

A. Allgemeine Reformziele ...........................................................

43

B. Kann eine Reform der Normenhierarchie einen Beitrag zur Verwirklichung der allgemeinen Reformziele leisten? ........................................... . . . . . . . . . .

46

8

Inhaltsverzeichnis I. Demokratische Legitimität

46

I. Das Demokratiedefizit .....................................................

46

2. Verringerung des demokratischen Defizits mit Hilfe der Hierarchie-Vorschläge? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

a) Parlamentarisierung ................. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

b) Verantwortlichkeit ......................................................

54

3. Transparenz ................................................................

54

4. Zusammenfassung .........................................................

56

11. Effizienz und Effektivität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

III. Subsidiarität...................................................................

62

IV. Vorbereitung auf eine Erweiterung der Europäischen Union ...................

64

Vorbehalte gegen die Konzepte der verstärkten Normenhierarchie ..................

67

I. Verletzung des institutionellen Gleichgewichts? ...............................

68

11. Horizontale Gewaltenteilung der Sui-generis-Natur der Europäischen Union inadäquat? ....................................................................

70

I. Funktionale und organische Gewaltenteilung ...............................

70

2. Die Sui-generis-Natur der EU ..............................................

72

III. Bewertung der Vorbehalte .....................................................

76

D. Zwischenergebnisse................................................................

77

c.

Dritter Teil Möglichkeiten der Nutzung normenhierarchischer Strukturen im Gemeinschaftsrecht A. Erste hierarchische Ebene - Primärrecht ...........................................

80

I. Materielle Hierarchisierungskriterien ..........................................

81

I. Ausdrückliche Hinweise auf eine Hierarchie primärrechtlicher Normen. ... .

82

a) Hinweise in primärrechtlichen Bestimmungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

b) Hinweise in der Rechtsprechung des EuGH .............................

83

2. Grundsatz der Gleichrangigkeit des Primärrechts ...........................

84

Inhaltsverzeichnis 3. Implizite materiel1e Abstufung primärrechtlicher Normen

9 86

a) EG-Primärrecht als Verfassungsrecht ....................................

86

b) Verknüpfung mitgliedstaatlicher und gemeinschaftlicher Rechtsgrundsätze - gemeineuropäisches Verfassungsrecht ...........................

89

4. Zusammenfassende Bewertung materiel1er Hierarchisierungskriterien ... . ..

92

11. Formel1e Hierarchisierungskriterien ...........................................

93

1. Das Vertragsänderungsverfahren des Art. 48 EUV und dessen Ausnahmen ..

94

a) Art. 48 EUV ............................................................

94

b) Ausnahmen zu Art. 48 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

2. Stufen zwischen Primär- und Sekundärrecht sowie vertragsergänzendes Recht ........................................................ ;...... .......

96

a) Völkerrechtliche Abkommen der Gemeinschaft .........................

96

b) Interinstitutionel1e Vereinbarungen ......................................

96

3. Zusammenfassung formel1er Hierarchisierungskriterien ....................

97

III. Entwicklungspotential von Normenhierarchien im Primärrecht ................

97

I. Verfassungsgebung und Verfassungsgesetze ............................. . ..

99

2. Organgesetze ............................................................... 101 IV. Ergebnisse .................................................................... 107 B. Zweite hierarchische Ebene - Gemeinschaftliche Gesetzgebung.................... 108 I. Elemente der Gesetzgebung bei gemeinschaftlicher Rechtsetzung ............. 109 1. Materiel1er Gesetzesbegriff .. .. . .. . .. . . .. .. .. .. . . .. . . .. .. . .. .. . .. . . .. . . . .. . . 11 0

2. Formel1er Gesetzesbegriff .................................................. 113 3. Ergebnis ................................................................... 115 11. Die Unterscheidung zwischen Gesetzgebung und Durchführungsmaßnahmen .. 115 I. Die gegenwärtige Abgrenzung zwischen Gesetzgebung und Umsetzungsakten im EG-Recht ......................................................... 116 2. Abgrenzungskriterien der Hierarchie-Konzepte............................. 120 3. MitgliedstaatIiche Ansätze ................................................. 123 a) Vereinigtes Königreich.... .. .... .... .... .. ............ ...... .. .. .... .. .. 123 b) Frankreich .............................................................. 126 c) Deutschland ............................................................ 128 4. Tabel1arische Zusammenstel1ung der vorgefundenen konzeptionel1en Ansätze....................................................................... 133

10

Inhaltsverzeichnis III. Ansätze für eine Definition gemeinschaftlicher Gesetzgebung

136

I. Exkurs: Die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien.............. 137 a) Definition ................................................... . . . . . . . . . . .. 138 b) Rechtsquellen .................. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 141 2. WeIche Fragen sollten Gegenstand des gesetzgeberischen Verfahrens sein? - Mögliche Regeln......................................................... 142 a) Anwendung primär materieller Kriterien? ............................... 143 (I) Die Rechtslage im EG-Recht ....................................... 143

(2) Abwägung .................... .. ...... . .. . .... . .. . ... . .. . .... . . . .... 145 b) Formelle Gesetzesdefinition - Grenzen und Verpflichtungen ............ 149 (1) Gesetzgeberische Verpflichtungen - Minimalanforderungen . . . . . . . . . 149 (a) Kriterien aus dem jeweiligen Politikfeld ........................ 151 (b) Inhalt, Zweck und Ausmaß einer Delegation.................... 152 (c) Grundrechtsrelevanz ............................................ 153 (2) Begrenzungen des Anwendungsbereiches gemeinschaftlicher Gesetze................................................................ 159 c) Zwischenergebnis: Mögliche Regeln fur eine 'Definition des Anwendungsbereiches der Gesetze............................................. 162 3. Die adäquate Regelungsdichte gemeinschaftlicher Gesetze: Mögliche Prinzipien ...................................................................... 162 a) Prinzipien aus dem Bereich der Vertragsgrundsätze ...................... 163 (1) Subsidiaritätsprinzip ................................................ 163

(2) Verhältnismäßigkeitsprinzip ........................................ 164 (3) Bestimmtheitsgebot ................................................. 164 (4) Die Erfordernisse einzelner Politikbereiche ......................... 167 (5) WesentIichkeitstheorie .............................................. 168 (6) Zusammenfassung.................................................. 170 b) Interinstitutionelle Kontrollmöglichkeiten und Komitologie ............. 170 (I) Komitologie-Verfahren ............................................. 172 (a) Komitologie in der Reformdiskussion ........................... 173 (b) Beteiligung des EP an Rekursverfahren aus VerwaItungs- oder Regelungsausschußverfahren? .................................. 176 (2) Sonstige interinstitutionelle Kontrollmöglichkeiten ................. 180 (3) Zwischenergebnis................................................... 181 4. Zusammenfassung: Regeln und Prinzipien für die Unterscheidung zwischen Gesetzgebung und Durchführung ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 IV. Entscheidungsverfahren auf der Ebene des Sekundärrechts .................... 183

Inhaltsverzeichnis V. Die Typologie der Rechtsakte auf der zweiten hierarchischen Ebene

Il 188

1. Ein Gemeinschafts- ,Gesetz'? .............................................. 189 a) Beibehaltung einer Dichotomie? ........................................ 189 b) Tenninologie legislativer Rechtsakte .................................... 194 2. InterinstitutionelIe Vereinbarungen und Gemeinsame Erklärungen .......... 197 3. Notgesetzgebung der Kommission im FalIe legislativen Versagens? ........ 200 VI. Zusammenfassung.............. . .............................................. 203 C. Dritte hierarchische Ebene - Durchführungsmaßnahmen ........................... 207 I. Besonderheiten der dritten hierarchischen Ebene .............................. 207 I. "VolIzugsföderalismus" .................................................... 207 2. Regelungsgegenstand ...................................................... 208 3. Beteiligte Akteure .......................................................... 209 4. Rangstufung gegenüber Primärrecht und Gesetzgebung..................... 211 11. Typologie der Durchführungsmaßnahmen ..................................... 211 III. Handlungsfonnen nach Akteuren .............................................. 213 1. Rat, Kommission und Komitologie ......................................... 213 a) Extern Rechtsverbindliche Handlungsfonnen nach Art. 249 EGV ....... 213 b) Sonderfall: Weisungen .................................................. 214 c) Nicht extern rechtsverbindliche Handlungsfonnen ....................... 216 d) Handlungsfonnen der Gleichordnung mitgliedstaatlicher und gemeinschaftlicher Stellen. .. .. . . .. . .. . . .. .. . .. .. . . .. .. .. .. . . . . .. . .. .. . .. .. . . . .. 220 2. Selbständige Agenturen .................................................... 221 3. Private Träger von Durchführungskompetenzen im Umfeld der EG ......... 223 IV. Rechtsetzungsverfahren auf der dritten hierarchischen Ebene und deren Entwicklungsmöglichkeiten ....................................................... 225 I. Die Rolle der Kommission ................................................. 225 2. Die Rolle des Rates ........................................................ 229 3. Die Rolle der Komitologie ................................................. 233 4. Die Rolle der Agenturen ................................................... 235 5. Die Rolle der privaten Normierungsorganisationen .......... . . . ............ 237 V. Gesamtbewertung .................... . ........................................ 238

12

Inhaltsverzeichnis

D. Auswirkungen der Hierarchisierung der verschiedenen Ebenen..................... 241 I. Erste hierarchische Ebene ..................................................... 241 11. Zweite hierarchische Ebene ......... . .......... . .............................. 242 III. Dritte hierarchische Ebene .................................................... 243

Vierter Teil Gesamtzusammenfassung A. Hintergründe und Rahmenbedingungen ............................................ 244

I. Eckpunkte der bestehenden Normenhierarchie - Status quo .................... 244 11. Kernpunkte der in der Diskussion befindlichen Vorschläge für eine Stärkung normenhierarchischer Strukturen .............................................. 246 III. Normenhierarchische Strukturen als Mittel zur Verwirklichung allgemeiner Reformziele? .................................................................. 247 B. Drei normenhierarchische Ebenen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 248 I. Erste hierarchische Ebene ..................................................... 249 11. Zweite hierarchische Ebene ................................................... 250 111. Dritte hierarchische Ebene .................................................... 252

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 254

Schlagwortregister ................................................................... 270

Abkürzungsverzeichnis a. F.

alte Fassung

AB\.

Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften

Anm.

Anmerkung

AöR

Archiv des öffentlichen Rechts

ARSP

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie

Art.

Artikel

Aufl.

Auflage

Bd.

Band

Bsp.

Beispiel

Bull. EG

Bulletin der Kommission der Europäischen Gemeinschaften

Bull. EU

Bulletin der Kommission der Europäischen Union

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

CDE

Cahiers de Droit Europeen

CIG

Conference Intergouvernementale

CMLRev

Common Market Law Review

DÖV

Die Öffentliche Verwaltung

DVBI

Deutsches Verwaltungsblatt

ed.

edition 1edition

EC

European Community

EEA

Einheitliche Europäische Akte

EIoP

European Integration online Papers. Adresse im Internet: http://eiop.or.at 1eiop 1

EG

Europäische Gemeinschaft( en)

EGKS

Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl

EGV

Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft

ELR

European Law Review

EMRK

Europäische Menschenrechtskonvention

EP

Europäisches Parlament I European Parliament

ESZB

Europäisches System der Zentralbanken

EU

Europäische Union

EuBI

Europa Blätter

14

Abkürzungsverzeichnis

EuG

Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften

EuGH

Europäischer Gerichtshof (= Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften)

EuR

Europarecht

EUV

Vertrag über die Europäische Union

EuZW

Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht

EWGV

Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft

f.

folgende

ff.

fortfolgende

Fn.

Fußnote

FS

Festschrift

GO

Geschäftsordnung

GG

Grundgesetz

GTE

Hans von der Groeben, Jochen Tbiesing, Claus-Dieter Ehlermann, Kommentar zum EWG-Vertrag

Hrsg.

Herausgeber

ICLQ

Tbe International and Comparative Law Quaterly

IGC

Intergovernmental Conference

LE.

im Erscheinen

LY.m.

in Verbindung mit

JCMS

Journal of Common Market Studies

JZ

Juristen Zeitung

m.w.N.

mit weiteren Nachweisen

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

NVwZ

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

Rdn.

Randnummer

RIW

Recht der Internationalen Wirtschaft

RMC

Revue du Marche Commun I Revue du Marche Unique Europeen

Rs.

Rechtssache

RTDE

Revue Trimestrielle de Droit Europeen

S.

Seite

s. S.

siehe Seite

s. o.

siehe oben

s. u.

siehe unten

SEW

Sociaal-Economische Wetgiving I Tijdschrift voor Europees en economisch recht

Sig.

Sammlung

TUE

Traite sur l'Union Europeenne

Verb.

verbundene (Verb. Rs.

=Verbundene Rechtsache)

Abkürzungsverzeichnis VersR

15

Versicherungsrecht

vgl.

vergleiche

WEP

West European Politics

WuW

Wirtschaft und Wettbewerb

z. B. ZERP

zum Beispiel Zentrum für Europäische Rechtspolitik an der Universität Bremen

ZfG

Zeitschrift für Gesetzgebung

ZRP

Zeitschrift für Rechtspolitik

ZfRV

Zeitschrift für Rechtsvergleichung, Internationales Privatrecht und Europarecht

Erster Teil

Fragestellung und Hintergrund der Untersuchung A. Die Fragestellung Diese Untersuchung geht der Frage nach Nutzungsmöglichkeiten normenhierarchischer Strukturen im Gemeinschaftsrecht nach - ein Thema, das die Diskussion um eine Verfassungsreform der Europäischen Union und die Neuordnung der Typologie der Rechtsakte seit Beginn der achziger Jahre begleitet. Die auch nach den Verträgen von Maastricht und Amsterdam unverminderte Bedeutung dieses Themas ist Folge eines Spannungsverhältnisses zwischen den Kompetenzen und Rechtsetzungsverfahren der EG einerseits und den zur Verfügung stehenden Rechtsetzungsinstrumenten andererseits. Seit den Tagen der Gründung der EWG im Jahre 1957 blieb die Typologie der Rechtsakte des Gemeinschaftsrechts nach Art. 249 EGV (Art. 189 EGVa. E) unverändert. Die Rechtsetzung hat seit dieser Zeit jedoch an Quantität und Qualität enorm zugenommen. Waren zu Beginn des europäischen Einigungsprozesses im Rahmen der EGKS und EAG überwiegend exekutive Funktionen wahrzunehmen, so hat sich die Rechtsetzung im Rahmen des EWGV / EGV und EUV als traite cadre zu einer umfassenden ,Gesetzgebung' entwickelt. Institutionell wurde die EU dieser Ausweitung der Funktionen entsprechend durch einen Ausbau der Rolle des ursprünglich als parlamentarische Versammlung l gegründeten heutigen Europäischen Parlaments (EP) angepaßt. Auch die Rechtsetzungsverfahren des EGV wurden den erweiterten Kompetenzen und einem erhöhten Legitimationsbedarf gemäß modifiziert2 . Das System der gemeinschaftlichen Rechtsakte hingegen wurde nicht in gleichem Maße fortentwickelt 3 . 1 Im Rahmen des EWG Vertrages von 1957 wurde das Organ in Art. 137 EWGV schlicht als ,,Die Versammlung" bezeichnet. Auf ihrer konstituierenden Sitzung vom 19. März 1958 gab sie sich bereits den Namen ,,Europäische Parlamentarische Versammlung" ("Assemblee Europeenne"); vgl. lose! Mühlenhöver, Art. 137, Rdn I, in: Groeben/Boeckh, Kommentar zum EWG Vertrag, Band 11, I. Aufl., Baden-Baden u. a. 1960. 2 Die urspüngliche parlamentarische Versammlung wurde bei der Rechtsetzung lediglich angehört (vgl. die Zusammenstellung der Rechtsetzungsverfahren nach der Monnet-Methode als Zusammenwirken des ,Tandems' Kommission-Rat mit Anhörung der Versammlung bei lose! Mühlenhöver, Vorbemerkung zu Art. 137, Fn. I). Das heutige EP hingegen hat nach dem Vertrag von Maastricht in vielen Politikfeldern die volle Mitentscheidungsbefugnis erlangt. Die Anzahl dieser Bereiche wird mit Inkrafttreten des Vertrages von Amsterdam nochmals ausgeweitet.

2 Hofmann

18

1. Teil: Fragestellung und Hintergrund der Untersuchung

Seit Beginn der achziger Jahre wird daher diskutiert, ob das gemeinschaftliche Rechtssystem durch Einführung einer normenhierarischen Unterscheidung zwischen legislativen und exekutiven Akten - zwischen Gesetzen und Durchführungsakten - der veränderten Rolle und Gestalt der EG angepaßt werden sollte4 und ob damit ein Beitrag zu den allgemeinen Reformzielen der Stärkung von Demokratie, Effizienz und Transparenz im Rechtssystem der EU geleistet werden könnte. Das Thema der normenhierarchischen Strukturen im Gemeinschaftsrecht hat aber direkt oder indirekt auch Bedeutung in einer Vielzahl weiterer Reformvorstellungen und Erklärungsansätze für die Verfassungsstruktur der EU. So wird im Rahmen der Verfassungsdiskussion für die EU vorgeschlagen, eine Kernverfassung normenhierarchisch von Organgesetzen, einfachen Gesetzen und Finanzgesetzen zu trennen 5 . Auch in Überlegungen zur Reform einzelner Aspekte des Verfassungssystems der Gemeinschaft wird auf den Gedanken normenhierarchischer Strukturen Bezug genommen. Ein Beispiel ist die seit langem umstrittene Reform der Komitologie-Strukturen. insbesondere der Definition derjenigen Fälle, in denen eine verstärkte Beteiligung des Europäischen Parlaments in Frage kommt6 . Eine indirekte Bezugnahme auf normenhierarchische Strukturen im Gemeinschaftsrecht findet im Rahmen des Konzepts der Netzwerkkoordination als Erklärungsansatz für die heutige Form des Supranationalen statt7 • Insgesamt gesehen enthält das verfassungsrechtliche Problem der Nutzung normenhierarchischer 3 Noch immer sieht der EGV, entsprechend seinen völkerrechtlichen Wurzeln, lediglich die Aufteilung in Primärrechts (Vertragsrecht und vom EuGH als gleichwertig anerkannte Rechtsnormen) und Sekundärrecht (in vielfältigen Formen) vor. Eine darüberhinausgehende typologische Ausdifferenzierung des Sekundärrechts beispielsweise zwischen Gesetzgebung und Durchführungsmaßnahmen, ist im EGV nicht vorgesehen. Nach wie vor sind die zentralen Instrumente der legislativen Rechtsetzung "Verordnungen und Richtlinien" der Gemeinschaft. 4 Das Thema stand auch auf der Agenda für die Regierungskonferenz zur Überarbeitung des Vertrages von Maastricht. Gemäß der Erklärung (Nr. 16) im Anhang zur Schlußakte zum Vertrag über die Europäische Union (ABI. 1992 Nr. C 191/101) hatte die 1996 einberufene Regierungskonferenz festzustellen, inwieweit es möglich ist, "die Einteilung der Rechtsakte der Gemeinschaft mit dem Ziel zu überprüfen, eine angemessene Rangordnung der verschiedenen Arten von Normen herzustellen". Der Vertrag von Amsterdarn hat diese Anregung nicht aufgegriffen und stattdessen den Anwendungsbereich des Mitentscheidungsverfahrens ausgeweitet. S VgI. z. B. Art. 31 EP-Entwurf einer Verfassung der Europäischen Union, ABI. C 611 1994, S. 162. 6 VgI. Claude Blumann, Le parlement europeen et la comitologie: une complication pour la Conference intergouvernementale de 1996,32 RTDE 1996, S. I, 17ff.; im einzelnen s. u. auf S. 170 und 233. 7 Vgl. Karl-Heinz Ladeur; Towards a Legal Theory of Supranationality - The Vi ability of the Network Concept, I EU 1997, S. 33 ff.; lohn Peterson, Policy Networks and European Union Policy Making, 18 WEP 1995, S. 389ff.; Rainer Pitschas, Europäische Integration als Netzwerkkoordination komplexer Staatsaufgaben, 5 Staatswissenschaften und Staatspraxis 1994, S. 503 ff.; deren Modelle auf einem nicht-hierarchischen Modell der Koordination von heterarchischen Akteuren und deren Handlungsfonnen basieren.

A. Die Fragestellung

19

Strukturen auch eine institutionelle Dimension. Überlegungen zu normenhierarchischen Strukturen erschöpfen sich nicht nur in einer Definition eines Systems gemeinschaftlicher Rechtsakte. Berührt werden auch Fragen der Rechtsetzungsverfahren und der Zuweisung von Kompetenzen zu einzelnen Institutionen. Vor diesem Hintergrund sollen in der folgenden Untersuchung zu Nutzungsmöglichkeiten normenhierarchischer Strukturen im Gemeinschaftsrecht zunächst der derzeitige Status Quo untersucht werden. Im Anschluß soll analysiert werden, welche Bereiche des Gemeinschaftsrechts von einer verstärkten Durchdringung mit normenhierarchischen Strukturen profitieren könnten. Schließlich sollen Möglichkeiten ihrer Ausgestaltung entworfen werden. Die Zielsetzung ftihrt im Einzelnen zu folgender Untergliederung: Der erste Teil der Untersuchung enthält einen Überblick über bestehende hierarchische Strukturen des gemeinschaftlichen Rechtssystems und eine Zusammenstellung der Vorschläge zu deren verstärkten Nutzung. Auf dieser Grundlage wendet sich die Untersuchung folgenden drei Fragen zu: Erstens, ,ob' die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für die Verwirklichung der Kernvorschläge einer Neuordnung des Systems gemeinschaftlicher Rechtsakte nach normenhierarchischen Gesichtspunkten gegeben sind (zweiter Teil der Arbeit). Dabei steht im Vordergrund, ob und unter welchen Bedingungen damit ein Beitrag zu der Verwirklichung der allgemeinen Ziele für institutionelle Reformen der EU geleistet werden könnte. Zweitens, welche Möglichkeiten ftir eine Nutzung normenhierarchischer Strukturen im Gemeinschaftsrecht bestehen (dritter Teil der Arbeit). Mit anderen Worten, ,wie' eine Neuordnung des Systems gemeinschaftlicher Rechtsakte unter normenhierarchischen Gesichtspunkten ausgestaltet werden könnte, um zur Erreichung der allgemeinen Reformziele unter den besonderen Bedingungen der nichtstaatlichen, supranationalen Verfassungsordnung beizutragen. Dieser Teil der Arbeit ist dreigeteilt. Die drei Ebenen, Primärrecht, legislatives Sekundärrecht und Durchführungsmaßnahmen weisen - wie zu zeigen sein wird - ftir die Gestaltung durch normenhierarchische Strukturen höchst unterschiedliche Bedingungen auf. Im Zentrum des Erkenntnisinteresses des dritten Teils dieser Arbeit steht die Suche nach Kriterien zur Abgrenzung von Rechtsakten gesetzgeberischer und exekutiver Natur; mithin nach Möglichkeiten einer Reform der Typologie der Rechtsakte des Sekundärrechts. Dazu werden die bisherigen Ansätze der Rechtsprechung des EuGH, nationale Konzepte und vorhandene Vorschläge ftir eine Reform der Typologie der Rechtsakte untersucht. Auf dieser Grundlage wird ein Konzept für eine Definition gemeinschaftlicher ,Gesetzgebung' in Abgrenzung zu Durchftihrungsmaßnahmen erstellt. Den Rahmen ftir diese Abgrenzung als zentralem Element einer möglichen Hierarchisierung der Normenbeziehungen des Gemeinschaftsrechts bilden die Untersuchungen zu dem Potential normenhierarchischer Strukturen auf den anderen beiden Ebenen: Der verfassungsrechtlichen Einbettung auf der Ebene des Primärrechts und der Bedingungen zum Erlaß von gemein-

20

1. Teil: Fragestellung und Hintergrund der Untersuchung

schaftlichen Durchführungsmaßnahmen auf der dritten hierarchischen Ebene. Im Anschluß wird in einem gesonderten Abschnitt analysiert, welche Auswirkungen bei einer verstärkten Nutzung des Strukturelements der Nonnenhierarchie in der in dieser Arbeit vorgeschlagenen Fonn zu erwarten sind8 • Im vierten Teil der Arbeit folgt schließlich eine Gesamtzusammenfassung der Untersuchungsergebnisse.

B. Der Hintergrund I. Nonnenhierarchische Strukturen in Rechtssystemen Die Anwendung der Technik der Hierarchisierung von Nonnen in Rechtssystemen dient der Bestimmung des Verhältnisses verschiedener Nonnen zueinander9 . Nonnenhierarchien dienen damit zur Konfliktlösung in Situationen, in denen verschiedene Nonnen auf die gleiche Situation anwendbar sind, jedoch unterschiedliche Rechtsfolgenanordnungen treffen. Sie bilden ein Strukturelement von Rechtsordnungen. 1. Formelle und materielle Kriterien der Hierarchisierung von Normen

Nonnenhierarchien können nach fonnel1en oder materiel1en Kriterien gebildet werden. Ein Beispiel für ein fonnel1es Kriterium ist die Verfahrensausgestaltung für die Nonnsetzung oder -änderung. Die fonnel1 hierarchisch höchste Stel1ung nimmt danach eine Nonn ein, die die größte Änderungsresistenz aufweist. Dies kann durch verschieden aufwendige Ausgestaltungen des Nonnsetzungs oder -änderungsverfahrens erzielt werden. Diesem Prinzip folgt zum Beispiel die Abstufung zwischen Verfassungsrecht und einfachem Gesetzesrecht, wobei für das Verfassungsrecht üblicherweise ein aufwendigeres Änderungsverfahren vorgesehen ist als für die Verabschiedung einfachen Gesetzesrechts. Möglich ist eine solche verfahrensbedingte Abschichtung aber auch durch eine unterschiedlich ausgestaltete Beteiligung verschiedener Organe und Rechtsetzungsebenen an dem Verfahren oder durch Änderungshürden beispielsweise in Fonn besonderer Mehrheitserfordemisse. Ein praktischer Anwendungsfal1 dieses Verfahrens ist die im 8 Aus Gründen der Übersichtlichkeit der Abhandlung und des exemplarischen Charakters des Gemeinschaftsrechts für die in dieser Untersuchung interessierende Thematik der Einsatzmöglichkeiten nonnenhierarchischer Strukturen in einem supranationalen Rechtsumfeld wird auf die Einbeziehung des Systems der Rechtsakte der zweiten und dritten Säule des EUV sowie des EGKSV und des EAGV verzichtet. 9 Zur historischen und rechstvergleichenden Betrachtung der Nutzung von Nonnenhierarchien in Rechtssystemen vgl. Wolfram Müller-Freien/eis, Zur Rangstufung rechtlicher Normen, Kyoto 1989; Theodor Schilling, Rang und Geltung von Nonnen in gestuften Rechtsordnungen, Berlin I Baden-Baden 1994.

B. Der Hintergrund

21

Rahmen des EG-Rechts teilweise erforderliche Einstimmigkeit bei Abstimmungen im Rat, wo hingegen in anderen Fällen per Mehrheit oder qualifizierter Mehrheit abgestimmt wird. Materielle Kriterien für die Hierarchisierung von Normen richteten sich im Gegensatz dazu nicht nach Verfahrens gesichtspunkten, sondern nach der Bedeutung von Normen. Normen mit Grundsatzcharakter oder verfahrensgestaltende Normen nehmen den höchsten Rang ein, während Normen, die diese Grundausrichtung eines Rechtssystems auf einzelne Politikfelder anwenden, rangniedriger angesiedelt sind. Beispiele für eine solche Abstufung sind die besondere Stellung, die Grundrechtskataloge oder Zielbestimmungen in Verfassungsrechtsordnungen einnehmen. 2. Horizontale und vertikale Hierarchisierung

Bei der Bestimmung des Verhältnisses verschiedener Normen und verschiedener Rechtsquellen zueinander können Normenhierarchien ferner sowohl durch vertikale Abstufungen verschiedener Normenkategorien als auch auf der horizontalen Ebene hergestellt werden. Auf horizontaler Ebene nutzbare Regeln für die Bestimmung des Anwendungsvorrangs zunächst gleichrangiger Normen sind Kriterien wie die Spezialität (Lex-specialis-Regel), des Zeitpunkts des Erlasses (Lex-posterior-Regel) oder die Frage nach ihrem Urheber lO • Eine einfache und gebräuchliche Form vertikaler Hierarchisierung liegt in der Abstufung einer Normenhierarchie nach Rechtsgrundlagen: Normen, die ihre Rechtsgrundlage aus einer anderen Norm ableiten, sind danach ihrer Rechtsgrundlage gegenüber grundsätzlich nachrangig ll . Diese vertikale Abstufung dient primär der Ausrichtung eines Rechtssystems auf bestimmte zentrale Wert- und OrdnungsvorsteIlungen. Techniken vertikaler Hierarchisierung, die diesen Vorgang unterstützen, sind ferner die Anwendung von Grundnormen als obligatorische Bezugspunkte für die Auslegung der übrigen Normen oder die Bestimmung des Vorrangs bestimmter Rechtsetzungsverfahren 12. Dieses Vorgehen entspricht der unter den materiellen Kriterien beschriebenen Abstufung von Normen nach ihrem grundsätzlichen Bedeutungsgehalt. Möglich ist auch auf der vertikalen Ebene eine Abstufung von Normen nach den Institutionen beziehungsweise den Rechtsetzungsverfahren, mit Hilfe derer sie erlassen wurden. Formen dieser Abstufung finden sich beispielsweise als Vorrang von Parlamentsgesetzen gegenüber Verordnungen eines Exekutivorgans. 10 Die Urheberschaft einer Norm kann z. B. beim Vorrang von formellen Parlamentsgesetzen gegenüber von materiellen Rechtsakten der Exekutive mit Gesetzeswirkung ein Hierarchiekriterium darstellen. Vgl. Roland Bieber; Isabell Salome, Hierarchy of Norms in European Law, 33 CMLRev. 1996, S. 910. II Hans Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen. Wien 1979, S. 208 ff.; Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Auflage, Wien 1960, S. 204 ff. 12 Roland Bieber; Isabell Salome. 33 CMLR 1996, S. 910.

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1. Teil: Fragestellung und Hintergrund der Untersuchung

3. Auswirkung der Hierarchisierung von Rechtsordnungen

Das Strukturelement von Normenhierarchien in Rechtssystemen hat damit sowohl eine verfassungsrechtIiche als auch eine institutionelle Dimension. Beide sind eng miteinander verbunden. Erstere betrifft die Frage nach dem Kollisionsverhalten verschiedener Rechtsnormen. Letztere betrifft die Frage nach einer möglichen Hierarchisierung der Entscheidungsverfahren zur Verabschiedung von Rechtsakten. Die Auswirkungen des Einsatzes von normenhierarchischen Strukturen in Rechtssystemen können abstrakt als Ausrichtung des niederrangigen Rechts auf höherstufige Rechtsnormen sowie, damit verbunden, als Lenkung der Fortentwicklung eines Rechtssystems beschrieben werden: Je stärker ausgeprägt die hierarchische Struktur der Rechtsordnung ist, desto stabiler kann ein Rechtssystem auf höherstufige Rechtsgrundsätze hin ausgerichtet werden. Damit kann die Vorhersehbarkeit von Lösungen rechtlicher Fragestellungen innerhalb dieses Rechtssystems steigen l3 . Der Wert von Hierarchisierung von Normen liegt hierbei in einer potentiell erhöhten Systemtransparenz und Rechtssicherheit. Normenhierarchien in Rechtssystemen können darüber hinaus zur Festigung rechtlicher Entwicklungslinien - oder des Entwicklungsstandes einer Rechtsordnung insgesamt - dienen, indem sie Veränderung des als niederstufiger klassifizierten Rechts, Beurteilungskriterien in Form von Vorgaben und Schranken für deren Gestaltung unterwerfen 14. Damit wird die Fortentwicklung des Rechts gelenkt und die Wahl neuer Lösungsansätze einem erhöhten Prüf- und unter Umständen auch Begründungsaufwand unterworfen. Regelungsinnovationen werden insofern erschwert, als die Verankerung von Hierarchien zu einer verstärkten Durchdringung der Rechtsordnung mit den Ordnungsprinzipien der obersten Ebene des Rechts führt. Die Einzelfallgerechtigkeit und die Suche nach individuell effizienten Lösungen wird somit mit einem materiellen und formalen Konsistenzgebot belastet I S. 13 Dieser Effekt ist eines der beiden von Kelsen beschriebenen Wirkungsweisen der Normstufung: Neben der Ausrichtung der niederstufigen auf die höherstufige Norm als Geltungsgrundzusammenhang besteht auch ein Rechtserzeugungszusammenhang in Form einer Ableitbarkeit der niederstufigen gegenüber der höherstufigen Norm. Hans Kelsen. Allgemeine Staatslehre, Wien 1925, S. 249; im Rahmen der Diskussion zur gemeinschaftlichen Normenhierarchie: Roland Bieber, Isabell Salome, 33 CMLR 1996, S. 909. 14 Markus Heintzen, Hierarchisierungsprozesse innerhalb des Primäarrechts der Europäischen Gemeinschaft, 29 EuR 1994, S. 36; Roland Bieber, Les limites materielles et formelles la revision des trates etablissant la communaute europeenne, RMC 1993, S. 343 - beide im Hinblick auf die EWR Gutachten des EuGH (Gutachten 1/91, EWR, Slg. 1991, 1-6079); Martti Koskenniemi, Hierarchy in International Law: A Sketch, 8 EJIL 1997, S. 568 f. 15 Vgl. die Gedanken bei Gustav Radbruch. Rechtsphilosophie, § 9, 6. Aufl., Stuttgart 1963, S. 168 ff.

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B. Der Hintergrund

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Zu beachten ist jedoch, daß der erstgenannte Faktor der Systemtransparenz und Rechtssicherheit nur eintreten kann, wenn eine übermäßige formale Hierarchisierung in Form zu starker Untergliederung eines Rechtssystems in verschiedene Normebenen vermieden wird. Anderenfalls würde die transparenzfördernde Wirkung mit Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen einzelen Normebenen belastet.

ß. Rangordnung der Rechtsquellen im europäischen Gemeinschaftsrecht - Der Status quo

Bisher gibt es keine positiv rechtliche Definition des Begriffs der Rangordnung oder Hierarchie der Normen im EGV. Dennoch erwähnt das Gericht erster Instanz in seiner jüngeren Rechtsprechung die "Rangordnung der Rechtsnormen" 16 beziehungsweise die ,,Normenhierarchie,,17 als ungeschriebenes Prinzip des Gemeinschaftsrechts. Es nimmt damit sowohl auf das Verhältnis zwischen Primär- und Sekundärrecht als auch - wie auch von Generalanwalt Leger genutzt - auf das Verhältnis zwischen Rechtsakten normativen Charakters und sie umsetzenden Einzelakten bezug l8 . Das Gemeinschaftsrecht ist jedoch nicht nur durch vertikal ausgerichtete hierarchische Strukturen, das heißt zwischen Primär- und Sekundärrecht und zwischen Grund- und Durchführungsnormen gekennzeichnet, sondern auch durch solche auf der horizontalen Ebene, die das Verhältnis verschiedener Normen der gleichen vertikalen Struktur betreffen. Dieses Kapitel dient einer Bestandsaufnahme normenhierarchischer Strukturen im Gemeinschaftsrecht. Die auf den jeweiligen hierarchischen Ebenen bestehenden Probleme werden im zweiten Teil dieser Untersuchung in gesonderten Kapiteln behandelt. 1. Vertikale Strukturen

Grundsätze der Normenhierarchie im EG-Recht in vertikaler Hinsicht ergeben sich im wesentlichen aus folgenden Faktoren: Gemeinschaftsrecht wird anhand seiner Rechtsquellen in primäres und abgeleitetes, sekundäres Recht gegliedert. Sekundäres Recht ist an primärem Recht zu messen. Die Organe der Gemeinschaft 16 EuG Rs. T-285 194, PfIoeschner .1. Kommission, Slg. 1995, S. 11-3029 (3047), Rdn. 51. Das EuG beschreibt darin mit dem Begriff der ..Rangordnung der Rechtsnormen" das Vorrangverhältnis gemeinschaftlichen Primärrechts gegenüber dem Sekundärrecht. 17 EuG Rs. T-9/93, Schöller .1. Kommission, Slg. 1995, S. 11-1611 (1670), Rdn. 162. In diesem Urteil benutzte das EuG den Begriff der ,.Normenhierarchie", um das Vorrangverhältnis einer von der Kommission nach Art. 85 III EGV (a. F.) erlassenen Gruppenfreistellungsverordnung als Rechtsakt mit normativer Wirkung gegenüber einer diesen Rechtsakt konkretisierende Einzelfallentscheidung zu erläutern. 18 Stellungnahme des Generalanwalts Leger, Slg. 1995, S. 1-1207, Rdn. \02.

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l. Teil: Fragestellung und Hintergrund der Untersuchung

sind an die Verträge gebunden und handeln im Rahmen der ihnen zugewiesenen Befugnisse (Art. 7 Abs. 1 EGV). Ausdruck der hierarchischen Bindung des Sekundärrechts an das Primärrecht ist auch die Kompetenz des EuGH, geplante Abkommen der EG mit dritten Staaten oder Organisationen auf die Vereinbarkeit mit EGVertragsrecht zu überprüfen (Art. 300 Abs. 4 EGV). Sekundäres Recht und das Handeln der Organe ist nicht nur Vertragsrecht unterworfen, sondern auch an allgemeine Rechtsgrundsätze gebunden. Hierzu zählen insbesondere Grundrechte und gemeinsame Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten (Art. 6 Abs. 2 EUV, Art. 288 Abs. 2 EGV), aber auch allgemeine Regeln des Völkerrechts, soweit diese mit der Eigenständigkeit der Rechtsordnung der EG vereinbar sind 19 sowie "allgemeine Strukturprinzipien der Verträge,,2o. Die Einhaltung dieser Regeln wird nach Art. 230, 232, 234 EGV gerichtlich überwacht. Ihre Anwendung verläuft im allgemeinen konfliktlos. Dennoch wird im Zusammenhang mit der Diskussion um eine Verfassung für die europäische Union vorgeschlagen, eine Normenkategorie einzuführen, die zwischen Primär- und Sekundärrecht anzusiedeln wäre21 . ,.Funktionsrecht,,22 von Organen und andere als wichtig betrachtete Gesetzgebung unterhalb des Rangs von Verfassungsnormen im engeren Sinne sollen danach einer Kategorie zugeordnet werden, die als "Organgesetzen" bezeichnet wird23 . Diese soll dem Primärrecht unterworfen sein, sich jedoch gegenüber dem üblichen Sekundärrecht durch das Erfordernis von qualifizierten Entscheidungsverfahren auszeichnen 24 . 19 EuGH Rs. 21-24/72, International Fruit, Slg. 1972, S. 1226; Rs. 41174, Van Duyn, Slg. 1974, S. 1337. 20 Roland Bieber, Das Verfahrensrecht von Verfassungsorganen, Baden-Baden 1992, S. 101 ff. 21 Normen, die einerseits dem Sekundärrecht zugerechnet werden können, da sie ihre Rechtsquelle im Primärrecht finden, andererseits aufgrund ihrer Einwirkung auf vertragliche Rechtsnormen dem Primärrecht selbst zugeordnet werden können, sind beispielsweise das sogenannte ,vereinfachte Vertragsänderungsverfahren' nach Art. 221 (4) und 222 (3) EGV, in dem der Rat beschließen kann, die Anzahl der Richter und Generalanwälte des EuGH zu erhöhen. Ähnliche Bestimmungen finden sich in Art. 190 (3) EGV bezüglich eines einheitlichen Wahlverfahrens für die Wahl zum EP und in Art. 269 EGV über das System der Eigenmittel der Gemeinschaft. 22 Zu dem Begriff: Roland Bieber, Das Verfahrensrecht von Verfassungsorganen, S. 40. 23 Nach Art. 31 I EP-Entwurf einer Verfassung der Europäischen Union, ABI. C 61/1994, S. 162, regeln Organgesetze "insbesondere die Zusammensetzung, die Aufgaben oder Tätigkeiten der Organe und Institutionen der Union". Vgl. auch Art. 3411,38 EP Vertrag zur Gründung der Europäischen Union; kommentiert in: Francesco Capotorti, Meinhard Hilf, Francis Jacobs, Jean-Paul Jacque zu Art. 34, 38. 24 In den Vorschlägen, in denen die Kategorie von "Organgesetzen vorgesehen ist, ist der Anwendungsbereich dieses Instrumentes üblicherweise in Listen oder im Rahmen einzelner Zuweisungen definiert. In solchen Aufzählungen oder Gruppen von Einzelverweisen sind Fälle aufgezählt, die als so bedeutend empfunden werden, daß sie im Rahmen - des gegenüber einfacher Gesetzgebung - qualifizierten Entscheidungsverfahrens entschieden werden sollten (z. B. Art. 38 des 1984 EP-Entwurfs eines Vertrags zur Gründung der Europäischen

B. Der Hintergrund

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Konfliktträchtiger als die Beziehung zwischen Primär- und Sekundärrecht ist die hierarchische Struktur zwischen verschiedenen Normen des sekundären Rechts. Deren normenhierarchisches Verhältnis zueinander läßt sich nur teilweise aus positivem Recht ableiten. Ergänzend gewinnt der EuGH Auslegungskriterien aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Praktisch bedeutsam ist insbesondere die Regel, daß die Kommission in Ausübung von übertragenen Befugnissen (Art. 211 vierter Spiegelstrich und Art. 202 dritter Spiegelstrich EGV) der delegierenden Norm entsprechen muß25 , nicht über den delegierten Bereich hinausgehen darf und grundsätzlich den Modalitäten entsprechen muß, die zur Rechtsetzung der delegierten Befugnisse aufgestellt worden sind26 • Im Einzelfall sind der Umfang und der Inhalt der Ermächtigung der Durchführungsbefugnis sowohl aus dem Wortlaut der Ermächtigung als auch nach deren Ziel und den Erfordernissen des fraglichen Politikbereiches zu ermitteln. Dies betrifft nicht nur die Kommission bei Erlaß von übertragenem Durchführungsrecht, sondern auch den Rat bei Erlaß von Durchführungsbestimmungen zu Grundnormen, deren Rechtsquelle im Gemeinschaftsrecht selbst zu finden ist27 . Auch in solchen Fällen darf eine Durchführungsbestimmung nicht mit der Norm in Konflikt geraten, die sie anwendet, umsetzt oder spezifiziert. Eine Schwäche dieser bestehenden hierarchischen Struktur ist ihre mangelnde Transparenz. Rechtsakte, unabhängig davon, ob sie direkt auf primärem Gemeinschaftsrecht beruhen oder Umsetzungsakte von bestehendem Sekundärrecht sind, ergehen in Form des gleichen - in Art. 249 EGV beschriebenen - Instrumentariums. Die hierarchische Struktur zwischen einzelnen Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen erschließt sich dem Beobachter nur mit genauer Kenntnis des rechtlichen Hintergrundes der Normen. Schwierigkeiten bestehen insbesondere in Union). Der EP-Entwurfvon 1984 schreibt beispielsweise die Anwendung des Organgesetzes vor für instituionelle Bestimmung (Art. 14 Abs. 2 einheitliches Wahlverfahren zum Ep, Art. 18 Regeln über die Ausübung des Untersuchungsbefugnisses des EP, Art. 26 Aufbau und Arbeitsweise der Kommission, Art. 30 (3), 42 und 43 EuGH und richterliche Kontrolle der Union, Art. 33 (1) Satz 2, (5) Satz 2 weitere Einrichtungen der Union), für Fragen des europäischen Währungssystems (Art. 52 (3», für die Entscheidung über den Sitz der Institutionen (Art. 85) sowie für die Änderung einiger spezieller, mit dem Vertragsentwurf in den Besitzstand der Union übernommener Bestimmungen (Art. 7 (3» und rur den Bereich des heutigen Art. 235 EGV (Art 12 (2». Im einzelnen zu der Kategorie von Organgesetzen s. u. auf S. 101 ff. 2S EuGH Rs. 25170, Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide ./. KösteJ; Sig. 1970, S. 1161. 26 EuGH Rs. 6171, Rheinmühlen .1. Einfuhr- und VorratsteIle für Getreide, Slg. 1971, S. 823 (841); Rs. 34178 Yoshida .1. Karner van Koophandel en Fabrieken voor Friesland, Slg. 1979, S. 115; Rs. 114178, Yoshida./. Industrie- und Handelskammer Kassel, Sig. 1979, S. 151; Schlußanträge des Generalanwalts Francesco Capotorti vom 13. Dezember 1978, Slg. 1979, S. 137 (140); Zusammenfassend: Hans Smit, Peter E. Herzog (Hrsg.), The Law of the European Community, Volume 5, 5-579 - 5-580. 27 Vg1.: EuGH Rs. T-285194, PfIoeschner ./. Kommission, Slg. 1995, S. 11-3029 (3047), Rdn. 51; Rs. 38170, Deutsche Tradax GmbH .1. Einfuhr- und VorratsteIle für Getreide und Futtermittel, Slg. 1971, S. 145 (154).

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I. Teil: Fragestellung und Hintergrund der Untersuchung

der Unterscheidung zwischen Grund- und Umsetzungsakten 28 . Damit verbunden ist die Unsicherheit in der Bestimmung von Pcüfmaßstäben für ihre Rechtmäßigkeit. Auch die Tatsache, daß gemäß Art. 211 EGV üblicherweise die Kommission befugt ist, Durchführungsrecht für gemeinschaftliche Normen zu erlassen (sofern die Durchführung auf Gemeinschaftsebene vorgesehen ist), ist keine verläßliche interpretatorische Hilfe für die Unterscheidung zwischen Grund- und Ausführungsbestimmungen. Durchführungsbefugnisse können trotz Delegation aufgrund von Komitologie-Verfahren wieder an den Rat zurückgefallen sein. Auch kann sich der Rat in "spezifischen Fällen" vorbehalten, die Durchführungsbefugnisse selbst auszuüben29 • Andererseits weist auch eine geringe Anzahl von Vertragsnormen der Kommission genuine, von Delegationen unabhängige Normsetzungsbefugnisse zu 30 • Transparenzprobleme ergeben sich zusätzlich aus der Existenz einer Vielzahl sogenannter ,atypischer' Rechtsakte, deren Rechtswirkung nicht immer zweifelsfrei zu bestimmen ise l . Atypische Rechtsakte können zum Beispiel im Rahmen von "Regelungen" nach Art. 12; "zweckdienlichen Vorschriften" nach Art. 71 Abs. 1 (d); ,,Bestimmungen" nach Art. 93; "Maßnahmen" nach Art. 95 Abs. I, 157 Abs. 3, 164, 175 Abs. 2; "Fördermaßnahmen" nach Art. 149 Abs. 4, 151 Abs. 5, 152 Abs. 4; ,,Aktionen" in Art. 153 Abs. 2, 155 Abs. 1 oder ,.Leitlinien" nach Art. 155 Abs. I, 156 EGVergehen.

2. Strukturen auf der horizontalen Ebene Auf der horizontalen Ebene sind zwei für die Hierarchie-Überlegungen relevante Problembereiche zu unterscheiden. Die erste ist die Wahl der korrekten Rechtsgrundlage für die gemeinschaftliche Rechtsetzung. Die zweite ist die Differenzierung zwischen Verordnungen und Richtlinien. Konflikte über die Wahl der Rechtsgrundlage für gemeinschaftliche Rechtsetzung bilden häufig die Ursache interinstitutioneller Konflikte. Die Wahl der 28 EuGH Rs. 25/70, Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide ./. Köster, Sig. 1970 S. 1161; Rs. 23/75, Rey Soda ./. Cassa Conguaglio Zucchero, Sig. 1975, S. 1279; Rs. 16/88, Kommission .1. Rat, Sig. 1989, S. 3457; Rs. C-240/90, Deutschland .1. Kommission, Sig. 1992, S. 1-5383 (5423); vgl. auch Siegfried Magiera, I8 Integration 1995, S. 200. 29 Beschluß des Rates vom 13. Juli 1987 zur Festlegung der Modalitäten flir die Ausübunng der der Kommission übertragenen Durchflihrungsbefugnisse, ABI. L 197/1987, S. 33; Modus Vivendi zwischen dem Europäischen Parlament und der Kommission betreffend die Maßnahmen zur Durchführung der nach dem Verfahren des Artikel 189 b EGV (a. E) erlassenen Rechtsakte vom 18. Januar 1995, ABI. C 43/1995 S. 40; Koen Lenaerts, Some Reflections on the Separation of Powers in the European Community, 28 CMLRev. 1991,S. 17. 30 Bsp.: Art. 39 III, 86 III EGY. 31 Siegfried Magiera. 18 Integration 1995, S. 200ff.

B. Der Hintergrund

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Rechtsgrundlage ist für die Organe besonders bedeutsam. Sie bestimmt die Stellung der Organe im Rechtsetzungsprozeß, da die Rechtsgrundlage einer Rechtsnorm nicht nur das Ziel einer möglichen Maßnahme bestimmt, sondern aufgrund der Verknüpfung der Kompetenzgrundlage mit den Entscheidungsverfahren auch für die Mitwirkungsrechte der am Rechtsetzungsprozeß beteiligten Organe entscheidend ist 32 . Grundsätzlich nehmen die Bestimmungen des Primärrechts untereinander den gleichen Rang ein 33 . Die formale Gleichrangigkeit bildet jedoch nur den systematischen Rahmen und ein "subsidiäres Ordnungselement bei Konflikten zwischen verschiedenen Bestimmungen,,34. Normenkonflikte zwischen verschiedenen möglichen Rechtsgrundlagen bedürfen ergänzender Zuordnungskriterien, die durch Auslegung oder aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen gewonnen werden. Das zentrale Kriterium zur Bestimmung der Rechtsgrundlage gemeinschaftlicher Rechtsakte bildet die Spezialität einer Norm 35 . Die Anwendung der Lex-specialis-Regel führt bei der Bestimmung der Rechtsgrundlage eines gemeinschaftlichen Rechtsaktes jedoch nicht immer zu eindeutigen Ergebnissen. Unklar ist häufig, welche Faktoren zu der Definition der Spezialität einer Norm beitragen. Nach der Rechtsprechung des EuGH "kann die Wahl der Rechtsgrundlage eines Rechtsaktes nicht allein davon abhängen, welches nach der Überzeugung eines Organs das angestrebte Ziel ist, sondern muß sich auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände gründen".36 Zu diesen Umständen gehören insbesondere Regelungsinhalt und Regelungsziel, die der Rechtsakt objektiv 32 Dieser Faktor, der in der Vergangenheit häufig zu interinstitutionellen Disputen geführt hat, wird auch nach Inkrakfttreten des Vertrages von Amsterdam (ABI. C 340/97, S. I ff.) nicht ausgeräumt sein. Zwar ist darin vorgesehen, den Anwendungsbereich des Mitentscheidungsverfahrens auf die Mehrheit von Rechtsgrundlagen auszuweiten, dennoch verbleibt eine Vielzahl verschiedener Entscheidungsverfahren mit zum Teil unterschiedlichen Mehrheitserfordemissen bestehen. 33 Hierzu im folgenden Kapitel zu Hierarchien auf der primärrechtlichen Ebene mehr. Vgl. auch Kieran St. Clair Bradley, The European Court and the Legal Basis ofCommunity Legislation, 13 ELR 1988, S. 379-402; Markus Heintzen, 29 EuR 1994, S. 35-49. Ob es formelle oder materielle Ausnahmen zu dieser Regel der Gleichrangigkeit von Vertragsnormen auf horizontaler Ebene gibt, ist Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion; dazu grundsätzlich: Roland Bieber. Les limits materielles et formelles la revision des traites etablissant la Communaute europeenne, RMC 1993, S. 343-350; Jose Luis da Cruz Vilara, Nuno Pirarra, Ya-t-iI des Iimites materielles a la revision des traites instituant les Communautes europeennes?, 29 CDE 1993, S. 3-37. 34 Bengt Beutler. Roland Bieber. Jörn Pipkorn, Jochen Streit, Die Europäische Union, 4. Aufl. Baden-Baden 1993, S. 204. 3S Vgl. EuGH Rs. C-300/89 ("Titandioxid") Kommission ./. Rat, Slg. 1991, S. 1-2867, Rdn. 22-25; Rs. 68/86, Vereinigtes Königreich .1. Rat, Slg. 1988, Rdn. 14-22; Rs. 45/86, Kommission .1. Rat, Slg. 1987, S. 1493, Rdn. 12-23; Rs. 177178 Pigs and Bacon Kommission./. McCarren, Slg. 1979, S. 2161; Rs. 83178, Pigs Marketing Board./. Redmond, Slg. 1978, S. 2347. 36 EuGH Rs. 45/86, ("APS") Kommission .1. Rat, Slg. 1987, S. 1493, Rdn. 11.

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1. Teil: Fragestellung und Hintergrund der Untersuchung

verfolgt 37 • Die Ziel und Inhalt ausdrücklich regelnde Nonn hat Vorrang vor einer allgemeinen Nonn. Die Grundsätze der Effektivität der Gemeinschaftspolitiken und Erreichung der Vertragsziele dienen dabei als ergänzende Kriterien der Bestimmung der Spezialität einer Nonn 38 • Eine durchgängige Anwendung dieser Methode ist insbesondere dann mit Schwierigkeiten behaftet, wenn als Rechtsgrundlage einer Maßnahme mehrere Vertragsnonnen in Frage kommen 39 . Aufgrund der großen Zahl an Beschlußfassungsverfahren für Rechtsakte der EG ist es in einem solchen Fall wahrscheinlich, daß die verschiedenen Rechtsgrundlagen verschiedenen Beschlußfassungsverfahren unterworfen sind4o• Die Wahl der Rechtsgrundlage hat dann erhebliche Auswirkungen auf die Einflußmöglichkeiten und die rechtliche Stellung der Organe der Gemeinschaft. Zusätzlich erschwert wird die Wahl durch die teilweise recht unsystematische Zuordnung der Entscheidungsverfahren zu einzelnen Politikbereichen41 • Kommen 37 EuGH Rs. C-187/93, Parlament .1. Rat, Sig. 1994, S. 1-2857, Rdn. 17-29; Rs. C-1551 91, Kommission .1. Rat, Slg. 1993, S. 1-939, Rdn. 7; Rs. C-70/88, ("Chernobyl I") Parlament .1. Rat, Slg. 1991, S. 1-4529, Rdn. 9; Rs. C-300 189 ("Titandioxid") Kommission .1. Rat, Sig. 1991, S. 1-2867, Rdn. 10; Rs. 45/86, Kommission .1. Rat, Slg. 1987, S. 1493, Rdn. 11, 12. 38 So schon EuGH Rs. 5/73, Balkan-Import-Export .1. Hauptzollamt Berlin Packhof, Sig. 1973, S. 1091, Rdn. 11-15. 39 Rene Barents, The Internal Market Unlimited: Some Observations on the Legal Basis of Community Legislation, 30 CMLRev. 1993, S. 85-109; Bengt Beutler, Roland Bieber, Jörn Pikorn, Jochen StreU, Die Europäische Union, S. 205; Siegfried Breier, Das Schicksal der Titandioxidrichtlinie, 4 EuZW 1993, S. 315-318; Kieran St. C. Bradley, 13 ELR 1988, S. 379402; Kieran St. C. Bradley, L'arret dioxyde de titane un jugement de salomon?, 28 CDE 1992, S. 612 ff.; Astrid Epiney, Gemeinschaftsrechtlicher Umweltschutz und Verwirklichung des Binnenmarktes - "Harmonisierung" der Rechtsgrundlagen?, 47 JZ 1992,564 (566-568); Dieter H. Scheuing, Der Rechtsgrundlagenstreit vor dem Gerichtshof - Ein Plädoyer, in: Jürgen F. Baur, Peter-Christian Müller-Graff, Manfred Zuleeg (Hrsg.), FS für Bodo Börner, Köln 1992, S. 377-387; Thomas Schröer, Mehr Demokratie statt umweltpolitischer Subsidiarität?, 26 EuR 1991, 356; Dimitris Triantafyllou, Vom Vertrags- zum Gesetzesvorbehalt: Beitrag zum positiven Rechtmäßigkeitsprinzip in der EG, Baden-Baden 1996, S. 61-66. 40 Eine Liste 22 verschiedener Entscheidungsverfahren für Rechtsakte im Bereich des EUV 1EGV in der Version, die diese Verträge durch den Vertrag von Maastricht gefunden haben (diese Zahl beinhaltet noch nicht die Möglichkeiten der Kombination verschiedener Prozeduren) findet sich bei: Jean Claude Piris, Apres Maastricht, les institutions communautaires sont-elles plus efficaces, plus democratiques et plus transparentes?, 30 RTDE 1994, S. 1 (20), Fußnote 96. Diese Zahl hat sich mit Inkrafttreten des Vertrages von Amsterdam nicht verringert. 41 Aufschlußreich ist der "Rapport sur le fonctionnement du traite sur I'Union Europeenne" der Kommission vom 1O. Mai 1995, der feststellt: "La ventilation des differents procedures selon les domaines d'action ne repond a aucune logique apparente: - ainsi, trois domaines aussi importants que la politique agricole, ce des transports et le marche interieur, sont respectivement soumis aux trois procedures de consultation simple, de cooperation et de codecision; - des domaines etroitement lies comme les transports et les resaux sont en partie soumis ades procedures differentes (cooperation et codecision); - a I'interieur d'une meme politique, il arrive que plusieurs procedures coexsistent; les cas les plus evidents etant l' envi-

B. Der Hintergrund

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mehrere Vertragsnormen als Rechtsgrundlage für einen sekundärrechtlichen Rechtsakt in Betracht, billigt der EuGH die kumulative Anwendung der Rechtsgrundlagen ausnahmsweise nur dann, wenn die in Betracht kommenden Rechtsgrundlagen für die Verabschiedung des Rechtsaktes gleiche Verfahren vorsehen. Dies gilt jedoch nicht, wenn andere Ordnungsregeln, z. B. Gründe der Subsidiarität oder Spezialität die vorrangige Anwendung einer einzigen Rechtsgrundlage nahelegen42 . Verweisen die entsprechenden vertraglichen Rechtsgrundlagen auf unterschiedliche Entscheidungsverfahren, vertritt der EuGH die Ansicht, daß nur eine einzige Rechtsgrundlage für eine Maßnahme in Frage kommen könne. Dabei erfolgt die Bestimmung der Rechtsgrundlage anhand des "wesentlichen Gegenstandes" der gemeinschaftlichen Maßnahme. "Einzelne Bestimmungen, die alles in allem den Charakter von Neben- oder Hilfsbestimmungen haben", sind grundsätzlich nicht relevant43 . In seiner Entscheidung im Titandioxid-Fall ergänzte der EuGH dieses Kriterium des Schwerpunktes, des "centre de gravitc", jedoch mit prozeduralen Erwägungen. Es spiegele auf Gemeinschaftsebene ein grundlegendes demokratisches Prinzip wider, das EP an der Ausübung der hoheitlichen Gewalt der Gemeinschaft zu beteiligen44 • Trotz der somit entstandenen Dualität von formellen und materiellen ronnement, la recherche et la cohesion economique et sociale." Andere Beispiele für eine Verteilung der Rechtsetzungsverfahren in unsystematischer Weise ergeben sich bei der Betrachtung derjenigen Bereiche, für die momentan das Mitentscheidungsverfahren angewandt wird. Der Bericht der Kommission zur Ausweitung des Anwendungsbereiches des Art. 189b EGV erläutert: "Consequently, the main measures relating to the internal market have been adopted by the codecision procedures whereas, while certain areas supporting the internal market, such as framework research programmes and guidelines on networks, are covered by that procedure, others, for example the Structural Funds, the Cohesion Fund and taxation, are not." (Commission report under Article 189b (8) of the Treaty, Scope of the Codecision Procedure, July 2, 1996, SEC (96)1225/4). Die Ergebnisse des Vertrages von Amsterdam werden in dieser Hinsicht einige der Zuordnungsfragen bereinigen können, das Grundproblem aber bleibt bestehen. Weiterhin wird im EGV die Technik der Zuordnung von Entscheidungsverfahren zu einzelnen Politikbereichen beibehalten, wobei nicht nur zwischen dem Mitentscheidungsverfahren, dem Kooperartions- und dem Anhörungsverfahren unterschieden wird, auch bestehen innerhalb der Verfahren verschiedene Mehrheitserfordernisse bei den beteiligten Organen. Vgl. im einzelnen: Roland Bieber, Reformen der Institutionen und Verfahren - Amsterdam kein Meisterwerk, Integration 1997, S. 236ff.; Michael Nentwich, Gerda Falkner, The Treaty of Amsterdam: Towards a New Institutional Balance, I EIoP 1997, Nr. 15, X. 42 Sieg/ried Breier, Der Streit um die richtige Rechtsgrundlage in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, 30 EuR 1995, S. 51. 43 EuGH Gutachten 1/78, Internationales Naturkautschuk-Übereinkommen, Sig. 1979, S. 2871, Rdn. 56; zur Kritik an einer solchen "De-minimis"-Regel als "concept juridique, qui est trop f10u pour aider les institutions a determiner la base juridique d'une mesure legislative": Kieran St. Clair Bradley, L'arret dioxyde de titiane un jugement de salomon?, 28 CDE 1992, S. 609 (615). 44 EuGH Rs. C-300/89, ("Titandioxid") Kommission .1. Rat, Sig. 1991, S. 1-2867, Rdn. 17-24.

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1. Teil: Fragestellung und Hintergrund der Untersuchung

Kriterien stehen jedoch in der jüngsten Rechtsprechung des EuGH weiterhin materielle Kriterien gegenüber prozeduralen Erwägungen im Vordergrund. Der EuGH hält in seiner Rechtsprechung seit der vieldiskutierten Titandioxidentscheidung weiterhin an der grundsätzlichen Anwendung der Schwerpunktregel fest45 . Zusammenfassend si des EuGH auf das Demokratieprinzip in der Titandioxidentscheidung - verfahrensrechtliche Gesichtspunkte46. Versuche einer Systematisierung der Gesichtspunkte, die zur Wahl der Rechtsgrundlage führen, können jedoch nicht über die strukturelle Ursache der bestehenden Rechtsunsicherheit hinwegtäuschen. Sie hat ihren Grund in der gegenwärtigen Anzahl an Beschlußfassungsverfahren und ihrer recht unsystematischen Zuordnung zu einzelnen Kompetenznonnen. Die Anzahl der Fälle, die den EuGH bisher mit dieser Frage beschäftigt haben, zeigen, daß die bestehende Rechtslage einen Konfliktherd für weitere Rechtsstreitigkeiten zwischen den Organen sowie zwischen den Mitgliedstaaten und der EU bildet41 . Ein zweiter, auf der horizontalen Ebene problematischer Bereich, ist das Verhältnis von Verordnungen zu Richtlinien. Im Zentrum der Überlegungen steht dabei die zunehmende Angleichung der Rechtswirkungen der beiden Instrumente48 • Die wesentlichen Unterscheidungsmerkmale zwischen Verordnungen und Richtlinien - einerseits die Adressaten der Maßnahme und andererseits die Mittel, die für die Erreichung der Ziele angewandt werden - haben in der Praxis viel an Bedeutung verloren, die ihnen in der Fonnulierung des Art. 249 EGV beigelegt worden ist49 • Richtlinien können detaillierte Regelungen enthalten, die zu fast wörtlicher Umsetzung durch nationale Gesetzgebungsverfahren zwingen und dem nationalen Gesetzgeber oft nur wenig Gestaltungsraum belassen5o. Zusätzlich können nicht nur Verordnungen, sondern auch Richtlinien direkte Wirkung gegenüber 45 EuGH Rs. C-155/91, Kommission .1. Rat, Slg. 1993, S. 1-939, (968), Rdn. 19; Rs. C-187/93, Europäisches Parlament .1. Rat, Slg. 1994, S. 1-2857, Rdn. 17-29 (Anm. dazu:

Andreas Middeke, Der Kompetenznonnenkonflikt umweltrelevanter Gemeinschaftsakte im Binnenmarkt, 108 DVBI. 1993, S. 769); Rs C-360/93, Parlament ./. Rat, 7 EuZW 1996, S. 403; Rs. C-271 194, Parlament .1. Rat, 7 EuZW 1996, S. 416 L; Damien Geradin. Tbe legal basis of the waste directive, 18 ELR 1993, S. 424. 46 Martin Nettesheim. Horizontale Kompetenzkonflikte in der EG, 28 EuR 1993, S. 243 ff. 47 Kieran St. C. Bradley. 28 CDE 1992, S. 629; Dimitris Triantafyllou. Vom Vertrags- zum Gesetzesvorbehalt, S. 66. 48 House of Lords Se1ect Committee on the European Communities, Session 1994-95, 21 sI Report, 1996 Intergovemmental Conference, London 1995, S. 53, Rdn. 205 ff. 49 Meinhard Hilf, Die Richtline der EG - ohne Richtung, ohne Linie?, 28 EuR 1993, S. 1-22; Thijmen Koopmans. Regulations, directives measures. in: OIe Due, Markus Lutter & Jürgen Schwarze (Hrsg.), FS flir Ulrich Everling, Band I, Baden-Baden 1995, S. 691 f. 50 Vgl. zum Beispiel im Bereich der Angleichung des europäischen Privatrechts: Peter C. Müller-Graff, Private law unification by means other than codification, in: A.S. Hartkamp u. a. (Hrsg.). Towards a European Civil Code, Doordrecht 1994, S. 22; Als Beispiel für das Fallrecht des EuGH: EuGH Rs. 247/85, Kommission./. Belgien, Slg. 1987, S. 3029.

B. Der Hintergrund

31

einzelnen entfalten51 . Problematisch ist dabei insbesondere die Rechtsunsicherheit, die von den unterschiedlichen Rechtswirkungen einer Richtlinie in den verschiedenen Stadien ihrer Entstehung auf EG-Ebene bis zur Umsetzung auf nationaler Ebene ausgehen kann 52 • 3. Zusammenfassung

Zwar ist das gegenwärtige System der Rechtsakte im europäischen Gemeinschaftsrecht durch eine große Flexibilität gekennzeichnet. Probleme im Rahmen der vertikalen Strukturen der Normenhierarchie entstehen vorwiegend aufgrund eines Mangels an Transparenz des Rechtssystems. Aus der Rechtsnatur einer Maßnahme läßt sich nicht ableiten, ob der Rechtsakt direkt auf einer Vertragsnorm beruht oder ein Umsetzungsakt einer bestehenden Norm sekundären Rechts ist. Auch indiziert die Rechtsnatur einer Maßnahme nicht ihren Charakter als Akt von legislativem Zuschnitt oder als solchen mit Durchführungscharakter für begrenzte Einzelfälle. Sehr unterschiedliche Formen gemeinschaftlicher Rechtsakte, ob von Verwaltungs- oder Gesetzesrang, werden mit Hilfe der gleichen Typologie der Rechtsakte behandelt, die im wesentlichen in Art. 249 EGV niedergelegt ist. Im Rahmen der horizontalen Strukturen bestehen Probleme im wesentlichen aufgrund einer einzelfallbezogenen Zuordnung der verschiedenen Beschlußfassungsverfahren zu den Rechtsgrundlagen der jeweiligen Politikbereiche 53 • Diese Situation ist nicht nur eine Quelle steter interinstitutioneller Konflikte in bezug auf das adäquate Entscheidungsverfahren. Sie führt auch dazu, daß die Rolle der einzelnen Organe im Rechtsetzungsprozeß für die Öffentlichkeit und - wie manch interinstitutioneller Konflikt zeigt - auch für die beteiligten Organe nicht eindeutig auszumachen ist.

In. Die Debatte um die Normenhierarchie im Gemeinschaftsrecht Die gegenwärtige Debatte über eine neue Einteilung der Rechtsakte der Gemeinschaft kann auf den Entwurf des Europäischen Parlaments für einen "Vertrag zur Gründung der Europäischen Union" von 198454 zurückverfolgt werden, der als 51 EuGH Verb. Rs. C-6 & 9/90, Andrea Francovich u. a . . 1. Italien, Sig. 1991, S. 1-5357, Rdn. 17-21; Rs. C-208/90, Emmott, Sig. 1991, S. 1-4269, Rdn. 20-24; Rs. 190/87, Oberkreisdirektor des Kreises Borken .1. Handelsonderneming Moorrnann BV, Sig. 1988, S. 4689, Rdn. 21-24; Rs. 8/81, Becker .1. Finanzamt Münster-Innenstadt, Sig. 1982, S. 53, Rdn. 2530; Rs. 148178, Ratti, Sig. 1979, S. 1629, Rdn. 20-23. 52 V gl. jüngst EuGH Rs. C-129/96, Inter-Environnment Wallonie .1. Region wallone, vom 18. 12. 1997,9 EuZW 1998, 167ff.; Meinhard Hilf, 28 EuR 1993, S. I, 6ff. 53 Die bestehende fallweise Verbindung zwischen Entscheidungsverfahren wird auch durch die Ergebnisse des Vertrages von Amsterdam nicht verändert. Vgl. ABI. C 340/1997, S. 1 ff.

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1. Teil: FragesteIlung und Hintergrund der Untersuchung

Verfassungsvertrag für eine Europäische Union konzipiert war. Der Entwurf sah - ähnlich dem EP Entwurf für eine Verfassung der EU von 199455 - eine Kemverfassung vor, die die Differenzierung einer Typologie von Rechtsakten entsprechend den Kategorien von Verfassungsgesetzen, Organgesetzen, Finanzgesetzen und einfacher Gesetzegebung sowie auf der Ebene des Durchführungsrechts von Durchführungsverordnungen enthielt56 . 1. Die Diskussionen im Vorfeld der Verträge von Maastricht und Amsterdam

Auf der Regierungskonferenz, die zu dem Vertrag von Maastricht führte, entzündete sich eine Diskussion um die Einführung einer Hierarchie der Nonnen jedoch vorwiegend hinsichtlich der Ebene des gemeinschaftlichen Sekundärrechts. Dort vertretenen Vorstellungen zufolge sollte die Regierungskonferenz Möglichkeiten finden, durch eine "Stärkung der Rolle des Europäischen Parlaments bei der Gesetzgebung" die demokratische Legitimität, die Effizienz und die Wirksamkeit der Arbeit der Gemeinschaft und ihrer Organe zu stärken57. Ein von der italienischen Delegation in Umlauf gebrachter Vorschlag wurde zur Basis der weiteren Hierarchie-Diskussion58 . Er empfahl die Aufgabe des gegenwärtigen Systems, "bei dem die Rechtsakte an ihrer jeweiligen Bezeichnung zu erkennen sind und in starrer Weise je nach ihrer Struktur oder ihrer Wirkung kategorisiert werden". Statt dessen sollte eine neue Typologie der Rechtsakte eine stärkere Berücksichtigung der ,Funktion' des jeweiligen Rechtsaktes gewährleisten. Im Einklang mit den nationalen Rechtstraditionen sollte nach Verfassungsgesetzen, gewöhnlichen Gesetzen sowie verordnungsrechtlichen Vorschriften und Verwaltungsakten unterschieden werden. Diese neue Einteilung würde auch die anzuwendenden Beschlußfassungsverfahren bestimmen. Für Rechtsakte mit Verfassungsrang wären demnach "Verfahren konstitutioneller Art denkbar", für legislative Rechtsakte könnten "Gesetzgebungsverfahren ins Auge ge faßt" und weniger bedeutende Fragen könnten administrativen Verfahren unterworfen werden. Dabei könnte von Fall zu Fall entweder eine 54 EP Entwurf eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union, ABI. C 77/1984, S.33. 55 EP Entwurf einer Verfassung für die Europäische Union, Art. 3 I VI, AB I. C 6 I / 1994, S. ISS. 56 Francesco Capotorti, Meinhard Hilf, Francis Jacobs, Jean-Paul Jacque, Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Union, Baden-Baden 1986, S. 127. 57 Vgl. die Ergebnisse des Rates von Dublin (11), BuII. EG 6-1990, Ziff. I.35, S. 16 und Rom (I), BuII. EG 10-1990, Ziff. I.4, S. 8. 58 Eine Zusammenfassung der Diskussionen auf der Regierungskonferenz bezüglich der Hierarchie-Vorschläge findet sich insbesondere bei: Jirn Cloos, Gaston Reineseh, Daniel Vignes, Joseph Weyland: Le Traite de Maastricht, 2. edition, BruxeIIes 1994, S. 369-373; Enrico Martial, Italy and the European Political Union, in: Finn Laursen, Sophie Vanhoonacker (Hrsg.), The Intergovernmental Conference on Political Union, Maastricht 1992, S. 146.

B. Der Hintergrund

33

Konsultierung des Europäischen Parlaments oder eine vollständige Delegation der Entscheidungsbefugnis an die Kommission vorgesehen werden 59 • Das Europäische Parlament und die Kommission unterstützten den Vorstoß der italienischen Delegation. In mehreren Resolutionen entwarf das EP eine neue Typologie der Rechtsakte der Gemeinschaft, ähnlich den in seinem Entwurf von 1984 zu einem Vertrag zur Gründung einer Europäischen Union niedergelegten Vorstellungen 60 . Das Konzept des EP bestand darin, die Rechtsakte der Gemeinschaft in drei verschiedene, hierarchisch gegliederte Ebenen zu unterteilen: Akte von Verfassungsrang (z. B. Revisionen der Verträge), Akte von Gesetzesrang (wobei Haushaltsakte eine besondere Stellung einnehmen sollten) und Akte von Verordnungsrang. Eine "eindeutige Aufteilung der Zuständigkeiten" sollte nach den Vorstellungen des EP dazu führen, der Kommission die Befugnis zum Erlaß von Verordnungen zu übertragen und die legislativen Aufgaben primär bei Rat und Parlament zu konzentrieren 61. Gemessen am Vorschlag der italienischen Delegation waren die Vorstellungen des EP in einigen Aspekten konkreter. Vorgesehen war darin, die legislative Gewalt mit einem Evokationsrecht für Exekutivmaßnahmen der Kommission auszustatten. Exekutivmaßnahmen sollten damit grundsätzlich unter der politischen S9 Die Vorschläge der italienischen Delegation wurden als Anlage 4, Typologie der Rechtsakte der Gemeinschaft (italienische Delegation), zu Dok. 9233/2/90 veröffentlicht; auch abgedruckt bei: Wemer Weidenfeld (Hrsg.), Maastricht in der Analyse, Gütersloh 1994, S. 223: Den italienischen Vorstellungen zufolge spiegelte "die in Art. 189 des EWG-Vertrages beschriebene Typologie" "faktisch eine historische Entwicklungsstufe der Gemeinschaft wider". Im Laufe der Zeit waren die Befugnisse der Gemeinschaft umfassender geworden und die Funktion der Organe im Entscheidungsprozeß hatte sich gewandelt. Insbesondere die Kommission habe ihre Durchführungsbefugnisse konsolidiert. Die italienischen Vorschläge wurden auch aus Anlaß der 1996/97 Regierungskonferenz wiederholt vorgebracht: Vgl. Rede der italienischen Außenministerin Susanna Agnelli vor der italienischen Abgeordnetenkammer am 23. Mai 1995. 60 Der 1984er Entwurf unterscheidet zwischen Vertragsänderungen (Gegenstand des Verfahrens in Art. 84), Gesetzgebung (in Form von einfachen Gesetzen, Organgesetzen und Haushaltsgesetzen in Art. 34) und dem Erlaß von Verordnungen und Beschlüssen, die zur Ausführung der Gesetze notwendig sind (Art. 40). Jede Kategorie von Rechtsaleten hat eine spezifische Form der Entscheidungsstrukturen. Der EP-Vertragsentwurf sah auch eine klassische Gewaltenteilung in drei Gewalten vor, wobei das EP und der Rat nach Art. 36 "gemeinsam unter aktiver Beteiligung der Kommission die Gesetzgebungsbefugnis" ausüben und die Kommission nach Art. 40 rur exekutive Tätigkeiten zuständig ist. Vgl. Francesco Capotorti, Meinhard Hilf. Francis Jacobs, Jean-Paul Jacque, Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Union, Baden-Baden 1986, S. 127. 61 Vgl. Second Interim Report of the Committee on Institutional Affairs on the constitutional basis of European Union, 12 November 1990, Rapporteur: Mr. Emilio Colombo, EP Doc. A3-030 1/90; Entschließung zu den Regierungskonferenzen im Rahmen der Strategie des Europäischen Parlaments für die Europäische Union, 22. November 1990, ABI. C 324/1990, S. 219, 233; Entschließung zur Stärkung der demokratischen Legitimität im Rahmen der Regierungskonferennz über die Politische Union, EP Dok. B3-055 I 191, ABI. C 129/1991, S. 134f.; Entschließung zur Art der gemeinschaftlichen Rechtsakte, EP Dok. A3-0085/9l, ABI. 129/1991, S. 136-138.

3 Hofmann

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1. Teil: Fragestellung und Hintergrund der Untersuchung

Kontrolle des EP ausgeführt werden. Die Möglichkeit der Einschaltung von Komitologie-Verfahren in Form von beratenden und Verwaltungsausschüssen sollte wie bisher bestehen, jedoch mit der Ergänzung, daß im Falle einer Rückverweisung auch das EP an der Neuentscheidung beteiligt wäre62 • Präziser war auch die Behandlung von Verfassungsgesetzen geregelt. Nach den Vorstellungen des EP sollte auf dieser Ebene zwischen dem Bereich des heutigen Art. 308 EGV und Revisionen der Verträge unterschieden werden. Beschlüsse über die Ausstattung der Gemeinschaft mit Befugnissen zur Erreichung der Vertragsziele sollten mit Zustimmung des EP (mit der Mehrheit seiner Mitglieder) und qualifizierter Mehrheit im Rat ergehen. Für Revisionen des Vertrages sollten grundsätzlich höhere Mehrheiten im EP und Einstimmigkeit im Rat zu beachten und die Verträge von den Mitgliedstaaten zu ratifizieren sein63 • Ähnlich dem italienischen Vorschlag sollte neben der regulären Legislativtätigkeit auch die Verabschiedung des Budgets in Form von "Gesetzen" beschlossen werden. Der EP-Vorschlag sah jedoch ein spezielles Legislativverfahren für die Verabschiedung des Budgets vor. Ungleich dem 1984er Vorschlag für einen Vertrag über die Europäische Union sowie den italienischen Vorstellungen schlug das EP 1991 im Vorfeld des Vertrages von Maastricht vor, Gesetze in Anlehnung der bisherigen Verordnungen und Richtlinien in ,Gesetze' und ,Rahmengesetze' aufzugliedern. Die Kommission wäre dann entweder kraft Vertrages (bei Gesetzen) oder kraft einzelgesetzlicher Ermächtigung (bei Rahmengesetzen) befugt, Durchführungsverordnungen zu erlassen64 . Mit diesen Maßnahmen wollte das EP das erklärte Ziel erreichen, zwischen Akten von Gesetzes- und Verordnungsrang zu unterscheiden. Auch die Europäische Kommission befürwortete eine Reform der Typologie der Akte im Gemeinschaftsrecht unter dem Gesichtspunkt einer Hierarchie der Normen aus den drei Ebenen Vertragsrecht, Gesetzesrecht und einzelstaatlichen beziehungsweise gemeinschaftlichen Durchführungsmaßnahmen sowie Verwaltungsvorschriften. EG-Gesetze sollten von Fall zu Fall bestimmen, ob auf der nationalen Ebene Durchführungsbestimmungen erlassen werden oder ob auf Gemeinschaftsebene die Kommission zuständig sein sollte. Ein Gesetz im Verständnis der Kommission würde nicht nur nach formellen Gesichtspunkten als Rechtsakt definiert, der von Rat und Parlament im Wege des Mitentscheidungsverfahrens verabschiedet worden ist. Zu seiner Definition wären "zunächst und vor allem" materielle 62 Vgl. Entschließung zu den Regierungskonferenzen im Rahmen der Strategie des Europäischen Parlaments für die Europäische Union, 22. November 1990, ABI. C 324/1990, S. 219, 231; Entschließung zur Stärkung der demokratischen Legitimität im Rahmen der Regierungskonferenz über die Politische Union, EP Dok. B3-0551191, ABI. C 129/1991, S. 134f.; Entschließung zur Art der gemeinschaftlichen Rechtsakte, EP Dok. A3-0085/91, ABI. C 129/1991, S. 136-138. 63 V gl. Second Interim Report of the Committee on Institutional Affairs on the constitutional basis of European Union, 12 November 1990, Rapporteur: Mr. Emilio Colombo, EP Doc. A3-0301/90, Rdn. 44, 64, 65. 64 Entschließung zur Art der gemeinschaftlichen Rechtsakte, EP Doc. A3-0085/91, ABI. C 129/1991, S. 136-138, Artikel 189 Abs. 3) und 5) des EP-Vorschlages.

B. Der Hintergrund

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Kriterien heranzuziehen. Der .,ausschließliche Zweck" eines Gesetzes sollte diesem Vorschlag zufolge darin bestehen, .,allgemeine Grundsätze und Leitlinien festzulegen sowie die Schwerpunkte der zu regelnden Materie zu bestimmen". Zusätzlich sollten auch Detailregelungen im Gesetz möglich sein, .,falls diese Rechte und Pflichten der Steuerpflichtigen betreffen". Das Instrument der Richtlinie würde nach den Vorstellungen der Kommission abgeschafft und mit der Möglichkeit des Gesetzgebers ersetzt, im Einzelfall die nationalen Behörden mit der Anwendung des Gesetzes .,ganz oder teilweise" zu betrauen. Alle Maßnahmen - auch auf Dauer angelegte von allgemeiner Tragweite -, die die ,,Durchführung" betreffen, würden auf Gemeinschaftsebene von der Kommission in Form von Durchführungsverordnungen erlassen65. Diese drei Hauptvorschläge, die während der Verhandlungen zu dem Vertrag von Maastricht veröffentlicht wurden, hatten einige wesentliche Gemeinsamkeiten. Erstens beinhaltete die vorgeschlagene Kategorie der Verfassungs gesetze alle primärrechtlichen Normen. Zweitens zielten sie auf eine stringentere organische wie funktionale Gewaltenteilung entsprechend der klassischen Aufteilung zwischen Legislative und Exekutive ab, indem sie legislative Funktionen primär bei Rat und EP (als gemeinschaftlichem Gesetzgeber, der auf Vorschlag der Kommission handelt) und Funktionen der gemeinschaftlichen Exekutive primär bei der Kommission konzentriert sehen wollten. Drittens unterschieden sie bei den Rechtsakten der Gemeinschaft zwischen solchen von gesetzgebendem Charakter und solchen, die der Implementierung dienen. Schließlich beabsichtigten sie ein einziges Entscheidungsverfahren für alle Materien einzuführen, die durch gemeinschaftliche Gesetze entschieden werden: das Verfahren der Mitentscheidung. Ein Auswirkung dieses Vorgehens hätte darin bestehen können, die einzelfallbezogene Zuweisung der verschiedenen Verfahrensarten zu den Rechtsgrundlagen für Gemeinschaftspolitiken aufzuheben und durch ein einheitliches Verfahren für Gesetzgebung zu ersetzten. Die Vorschläge zur Einführung einer Hierarchie der Normen wurden schließlich im Vertragsentwurf der luxemburgischen Präsidentschaft aufgegriffen 66 • Unklar und Gegenstand der Diskussion - blieb während der Verhandlungen im Vorfeld des Vertrages von Maastricht die Frage nach einer möglichen Definition des Anwendungsbereiches von Gesetzen im Verhältnis zu anderen Rechtsakten der Gemeinschaft. Als sich auf der Regierungskonferenz keine Einigung auf eine gemeinsame Position abzeichnete, schlug die deutsche Delegation vor, als gemeinschaftliche Gesetze lediglich die Rechtsakte zu definieren, die durch das Mitentschei65 Stellungnahme der Kommission vom 21. Oktober 1990 zu dem Entwurf zur Änderung des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschafts gemeinschaft im Zusammenhang mit der Politischen Union, Beilage 2/91 Bull. EG, S. 127 ff. 66 Non-Paper der luxemburgischen Präsidentschaft vom 17. April 1991 - Entwurf von Artikeln für den Vertrag im Hinblick auf die Errichtung einer Politischen Union CONF-UP 18001/1/91, REV 1 (d) R/LIMITE, abgedruckt in: Wemer Weiden/eid (Hrsg.), Maastricht in der Analyse, Gütersloh 1994, S. 265.



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I. Teil: Fragestellung und Hintergrund der Untersuchung

dungsverfahren verabschiedet werden 67 . Auch dieser Kompromißvorschlag fand keine Zustimmung. Statt dessen einigte man sich darauf, der Schlußakte zum Vertrag über die Europäische Union eine Erklärung (Nr. 16) zur Rangordnung der Rechtsakte der Gemeinschaft beizufügen. Danach sollte die 1996 einberufene Regierungskonferenz überprüfen, ..inwieweit es möglich ist, die Einteilung der Rechtsakte der Gemeinschaft" mit dem Ziel zu reformieren, ..eine angemessene Rangordnung der verschiedenen Arten von Normen herzustellen,,68. Der Inhalt dieser Erklärung stand in Zusammenhang mit zwei weiteren Bestimmungen, die ebenfalls durch den Vertrag von Maastricht dem Recht der EU beigefügt wurden. Es handelte sich dabei um die Erweiterung des Anwendungsbereiches des Mitentscheidungsverfahrens nach Art. 189 b Abs. 8 (a. F.) EGVund Art. B Abs. 1 fünfter Spiegelstrich (a. F.) EUV, der eine Prüfung vorsieht, inwieweit die durch den EUV ..eingeführten Politiken und Formen der Zusammenarbeit mit dem Ziel zu revidieren sind, die Wirksamkeit der Mechanismen und Organe der Gemeinschaft sicherzustellen,,69. Diese Bestimmungen deuteten auf einen auch nach dem Vertrag von Maastricht empfundenen Reformbedarf an den Rechtsetzungsstrukturen im EGV und EUV hin. Seit dem Vertrag von Maastricht wurde die Diskussion in der Literatur über die Vorschläge zur Reform der Normenhierarchie im Gemeinschaftsrecht im wesentlichen auf der Basis der vorhandenen Prä-Maastricht-Vorschläge fortgesetzt und erweitert 70. Hingegen wurde die Fortentwicklung der institutionellen Diskussion 67 Jim Cloos, Gaston Reineseh, Daniel Vignes, Joseph Weyland: Le Traite de Maastricht, S.372. 68 ABI. C 191/1992, S. 10i. 69 Dieser Passus des Art. 2 Abs. I fünfter Spiegelstrich EUV bleibt im Gegensatz zu den speziell auf die Regierungskonferenz 1996 ausgerichteten Normen des Art. N Abs. 2 EUV und Art. 189 b VIII EGV (jew. a. F.) auch bei Inkrafttreten des Vertrages von Amsterdam in Kraft. 70 Vgl. die Kontroverse, auf die in dem Bericht der Reflexionsgruppe Aufmerksamkeit gelenkt wird: Bericht der Reflexionsgruppe zur Regierungskonferenz 1996 vom 5. Dezember 1995, SN 520/1/95 REV I (REFLEX 21), S. 35; EP Committee on Institutional Affairs, Working Document on the categories of legal act of the European Union and the relationships between them, Rapporteur: Willi Rothley, March 15, 1995, PE 211.103/rev. Aus der Literatur: Roland Bieber, Isabelle Salome, 33 CMLRev. 1996, S. 907-930; Club von Florenz (Hrsg.), Europa: Der unmögliche Status quo, Baden-Baden 1996, S. 106 ff.; Alan Dashwood, Democracy, Accountability and Transparency, in: Alan Dashwood (Hrsg.), Reviewing Maastricht Issues for the 1996 IGC, London 1996, S. 92 ff.; Hans Hofmann, Eine Verfassung für die Europäische Union im Zuge der Weiterentwicklung der 2. und 3. Säule, EuBI 1996, S. 6773; C. A. J. M. Kortmann, Het normensteisei in het gemeenshapsrecht, 44 SEW 1996, S. 116124; Robert Kovar, La declaration No. 16 annexee au traite sur L'union Europeenne: Chronique d'un echec annonce?, 33 CDE 1997, S. 3ff.; Siegfried Magiera, Zur Reform der Normenhierarchie im Recht der Europäischen Union, 18 Integration 1995, S. 197; Pierre-Yves Monjal, La Conference intergouvernementale de 1996 et la hierarchie des normes communautaires, 32 RTDE 1996, S. 681-716; Anronio Tiu.ano, La hierarchie des normes communautaires, RMC 1995, S. 219. 228. Impulse erfuhr die Diskussion insbesondere durch eine von Winter geleitete Studie, deren einzelne Vorschläge im zweiten Teil dieser Arbeit in den Überlegungen zu der Gestaltung einer möglichen Normenhierarchie im Gemeinschaftsrecht

B. Der Hintergrund

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im Vorfeld zu der Regierungskonferenz 1996/97 bezüglich einer Reform der Normenhierarchie im Gemeinschaftsrecht durch die stark divergierenden, zum Teil gegensätzlichen Positionen der Mitgliedstaaten gehemmt. Dies war sowohl den Stellungnahmen der Regierungen der Mitgliedstaaten zur Regierungskonferenz 1996/9771 als auch dem Bericht der Reflexionsgruppe vom Dezember 199572 zu entnehmen. Von den drei gemeinschaftlichen Institutionen Rat, EP und Kommission hatte nur das EP im Vorfeld der Regierungskonferenz 1996 ausdrücklich die Forderung nach einer Reform der Normenhierarchie wiederholt 73 • Der Rat74 und besprochen werden (Gerd Winter (Hrsg.), Sources and Categories of European Union Law: A Comparative and Reform Perspective, Baden-Baden 1996). 71 Die Positionen reichten von eindeutiger Ablehnung auf Seiten der Regierung von Finnland ("The Govemment does not consider the creation of a hierarchy of acts to be necessary" aus: Finland's Point of Departure and Objectives at the European Union's Intergovernmental Conference in 1996, report to the Parliament, 27 February 1996) und des Vereinigten Königreiches ("The Government opposes a hierarchy of norms", aus: White Paper ,.A Partnership of Nations. The British Approach to the European Union IGC 1996", 13 March 1996) bis zu positiven Stellungnahmen, wenn auch mit unterschiedlichen Vorstellungen über den primären Zweck der Reform der Normenhierarchie. Vorsichtig äußern sich die Regierung Portugals ("Le gouvernement invite la reflexion pour une amelioration des procedures legislatives, tant au niveau de I'equilibre interinstitutionnel que dans celui des relations de I'Union avec les legislateurs nationaux", aus: Portugal e a conferencia intergouvernamental para a revisao do tratado da Uniao europeia, mars 1996) und Belgiens ("la hierarchie des norms signifie, en premier lieu, la possibilite d'introduire une legislation-cadre communautaire completee par des norms nationales. Cette methode a I'avantage que le Parlement europeen peut se concentrer sur I'essentiel, alors que I'execution est laisee aux Etats membres". in: Note de politique du gouvernement au parlement concernant la CIG 1996, octobre 1995), Positive Einstellungen zu der Reform der Normenhierarchie hatten die Regierung der Niederlande (,,11 est dans I'interet d'une bonne administration, estime le gouvernement neerlandais, de pouvoir distinguer I'essentiel et le secondaire, et que la procedure de codecision, soit reservee I'essentiel. ( ... ) iI est dans I'interet de I'efficacite et de la democratie de simplifier la comitologie et d'intruire une hierarchie des normes dans I'Union europeenne". Memorandum sur la reforme institutionnelle, juillet 1995) und Italiens ("La communication du gouvernement rappelle sa proposition de Maastricht de hierarchie des norms qui rendrait la codecision plus comprehensible. Elle distinguerait les norms constitutionelles, les norms de caractere legislatif et les norms de caractere reglementaire" , aus: Italian government statement of 23 May 1995 on the Intergovernmental Conference; ,,Le gouvernement estime que le principe d'egalite entre le PE et le Conseil doit etre maintenu en etablissant une hierarchie des norms et en reduisant le nombre de procedures legislatives" aus: Position of the Italian Government on the Intergovernmental Conference for the Revision of the Treaties, March 18, 1996). Quelle und teilweise Übersetzung der Zitate: "Fiche thematique - Le Parlement europeen: Hierarchie des Normes", Juli 1996, des Informationsdienstes "I'm Europe" der Europäischen Kommission. 72 Bericht der Reflexionsgruppe zur Regierungskonferenz 1996 vom 5. Dezember 1995, SN 520/ I /95 REV I (REFLEX 21), Rdn. 126. 73 Vgl. Entschließung des Institutionellen Ausschusses vom 13. März 1996 zur Stellungnahme des Europäischen Parlaments zur Einberufung der Regierungskonferenz und der Bewertung der Arbeiten der Reflexionsgruppe und Festlegung der politischen Prioritäten des EP im Hinblick auf die Regierungskonferenz, Berichterstatterinnen: Raymonde Dury und Johanna Maij-Weggen, EP Dok. A4-0068/96/Teil A, Nr. 21.6.; EP Entschließung zur Funktionsweise des Vertrages über die Europäische Union im Hinblick auf die Regierungskonferenz 1996, Verwirklichung und Entwicklung der Union vom 17. Mai 1995, Berichterstatter: Jean

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I. Teil: Fragestellung und Hintergrund der Untersuchung

die Kommission 75 erwähnten die Notwendigkeit einer Normenhierarchie im Gemeinschaftsrecht, betonten jedoch bestehende Schwierigkeiten der gegenwärtigen Realisierungskonzepte. Umstritten waren dabei neben dem allgemeinen Ansatz des Konzeptes aber eine Reihe einzelner Aspekte von grundsätzlicher Bedeutung im Umfeld der Debatte um eine Reform der Typologie der Rechtsakte. Kontrovers diskutiert wurde unter anderem wie der fortschreitenden Angleichung der Instrumente der Richtlinie und der Verordnung begegnet werden könne. Die aus Problemen der Abgrenzung dieser bei den Rechtsinstrumente resultierende Unsicherheit über deren Rechtswirkungen hatte in der Diskussion zu unterschiedlichen Reformüberlegungen geführt. Einige Mitglieder der Reflexionsgruppe für die Regierungskonferenz 1996/97 schlugen beispielsweise vor, an die ursprüngliche Bedeutung der Rechtsinstrumente zu erinnern und Richtlinien in einer Weise zu verwenden, die deren eigentlichem Sinn besser gerecht werden 76. Unter den Befürwortern einer Hierarchie der Normen innerhalb der Reflexionsgruppe gab es hingegen unterschiedliche Ansätze zu einer Reform der Typologie der Rechtsakte. Die Kommission wiederholte ihre zum Vertrag von Maastricht vorgelegten Ansichten, wonach im Rahmen der Einführung einer Normenhierarchie im Gemeinschaftsrecht die in ihren Augen unbefriedigende Trennung zwischen Verordnungen und Richtlinien aufgehoben werden sollte. Durch die Einführung eines europäischen "Gesetzes" könnte auf das "hybride und in seiner Stellung nicht eindeutige Instrument der Richtlinie" verzichtet werden77 • Anderen Überlegungen zufolge sollte die grundlegende Differenzierung zwischen vollständig ausgeprägten Normen und solchen, die im wesentlichen eine gemeinsame Zielsetzung enthalten und die Umsetzung dieses Zieles den Mitgliedstaaten überlassen, beibehalten werden78 • Louis Bourlanges und David Martin, EP Dok. A4-0102/95, Rdn. 32 (vgl. auch die ablehnenden Bemerkungen des Berichterstatters D. Martin in: EP Dok. A4-0102I95/Teil I B, Rdn. 18,55); Institutioneller Ausschuß des EP, Arbeitsdokument über die Arten der Rechtsakte der Union und ihr Verhältnis untereinander, Verfasser: Willi Rothley vom 15. März 1995. PE 211.103/rev. 74 Conseil de I'Union Europeenne. Rapport sur le Fonctionnement du Traite sur I'Union Europeenne vom 14. März 1995. SN 1821/95 Rdn. 15. 75 Stellungnahme der Kommission: "Stärkung der Politischen Union und Vorbereitung der Erweiterung", Bull. EU 1/2-1996. S. 169. 76 Bericht der Reflexionsgruppe zur Regierungskonferenz 1996 vom 5. Dezember 1995. SN 520/1/95 REV I (REFLEX 21) Rdn. 126. 77 Stellungnahme der Kommission vom 21. Oktober 1990. Bull. EG Beilage 2/91. S. 132; Siehe aber auch Entwurf eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union vom 14. Februar 1984. ABI. C 77/1984. S. 33. 78 EP Entwurf einer Verfassung für die Europäische Union. Art. 31 VI. ABI. C 61/1994. S. 155, 162; EP Entschließung zur Art der gemeinschaftlichen Rechtsakte, vom 18. April 199 \, ABI. C 129/199 \, S. 136. 138; Second Interim Report of the Committee on Institutional Affairs on the constitutional basis of European Union, November 12. 1990. EP Doc. A3301/90. Rdn. 43; Meinhard Hilf, 28 EuR 1993. S. 19; Sieg/ried Magiera. 18 Integration 1995. S. 206. Die verschiedenen Reformansätze werden in einem späteren Kapitel genauer untersucht und diskutiert. s. u. auf S. 79 ff.

B. Der Hintergrund

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Einige Refonnvorschläge, die im Rahmen der post-Maastricht Debatte und der Regierungskonferenz 1996/97 diskutiert wurden, befürworteten nicht ausdriicklieh eine Refonn der Hierarchie der Nonnen, bezogen sich aber dennoch auf Gedanken, die auch den bereits genannten Hierarchie-Vorschlägen zugrunde lagen. Ein Beispiel waren Initiativen zu einer Verringerung der Entscheidungsverfahren innerhalb der EU im wesentlichen auf drei: Die Entscheidung des Rates per Mehrheit entweder in Verbindung mit einer Stellungnahme des EP (z. B. im Falle von Rechtsakten des zweiten und dritten EU-Pfeilers) oder mit der Zustimmung des EP (z. B. im Falle von Revisionen der Verträge - dann jedoch mit Ratifikation der Mitgliedstaaten -, bei internationalen Verträgen der EG und bei der Aufnahme neuer Mitgliedstaaten) oder mit der Mitentscheidung des EP (für sekundäres Recht mit Rechtsgrundlage in Nonnen des EGV). Da es nicht adäquat erschien, das Mitentscheidungsverfahren grundsätzlich für jeden Rechtsakt, der unmittelbar auf dem EGV beruht, anzuwenden, war anerkannt, nur Fragen wahrhaft legislativen Charakters als essentiell anzusehen, um sie dem vollen Mitentscheidungs- und eventuell auch Vennittlungsverfahren zu unterwerfen 79 • Umstritten war (und ist seither) jedoch die Definition dessen, was als legislativ bezeichnet werden könnte 8o . Ferner wurde in der post-Maastricht Diskussion in Zusammenhang mit der Refonn der Typologie der Rechtsakte die Frage nach Möglichkeiten einer Refonn der Komitologie-Strukturen aufgeworfen. Insbesondere wurde erwogen, das Parlament an Entscheidung von Fragen zu beteiligen, die in den Verwaltungs- oder Regelungsausschußverfahren gescheitert sind und infolgedessen im Rekursverfahren ausschließlich dem Rat zur endgültigen Entscheidung vorgelegt werden - auch wenn das EP im Wege des Mitentscheidungsrechts an dem Zustandekommen des Rechtsakts mitgewirkt hatte 8 !. Auch bei diesen Überlegungen war die Frage der 79 Aus diesem Grunde kam beispielsweise auch der Bericht der Kommission zur Ausweitung des Anwendungsbereiches des Mitentscheidungsverfahrens aufgrund von Art. 189 b VlIl (a.F.) EGV nicht ohne eine Abgrenzung von Fragen mit Legislativ- und solchen mit Durchführungscharakter aus. Vgl.: Le champ d'application de la codecision - rapport de la Commission au titre de I' Artic\e 189 b paragraphes du Traite, 2 juillet 1996, SEC(96) 1225/ 4, S. 4, 9: In diesem Bericht wurde vorgeschlagenen, eine Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens aufgrund einer Liste von Fällen gesetzgeberischer Tätigkeit vorzunehmen. Darunter wurden Rechtsakte verstanden, die unmittelbar auf dem Vertrag beruhen, zwingend sind, die Grundzüge der Gemeinschaftaktion in einem bestimmten Bereich festlegen und von allgemeiner Tragweite sind. Dennoch räumte die Kommission ein, daß die solcherart vorgeschlagene Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens das EP einer vollständigen Beteiligung an allen Legislativmaßnahmen der Gemeinschaft lediglich näherbringt und nur einen Beitrag zur Vereinfachung der Entscheidungsverfahren darstellen könne. Ferner betont sie, daß unter Gesichtspunkten des Demokratieprinzips eine abstrakte Definition eines Gestzes in der Praxis bedeuten würde, sich einer Hierarchie der Nonnen anzunähern. 80 Dazu im einzelnen s. u. auf S. 120ff. 81 Die von der Regierungskonferenz zu dem Vertrag von Amsterdam verabschiedete Erklärung Nr. 31 besagt in dieser Hinsicht: "Die Konferenz fordert die Kommission auf, dem Rat bis spätestens Ende 1998 einen Vorschlag zur Änderung des Beschlusses des Rates vom

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1. Teil: Fragestellung und Hintergrund der Untersuchung

Trennung zwischen essentiellen, legislativen Fragen und ,technischen' Implementierungsentscheidungen von Bedeutung, um eine Belastung des EP mit minder wichtigen Details zu vermeiden 82 . 2. Die Situation im Anschluß an den Vertrag von Amsterdam In dem Ergebnis der Regerierungskonferenz von 1996/97 - dem Vertrag von Amsterdam - wurden nur einzelne Aspekte der Reformdiskussion aufgegriffen. Eine Reform der Typologie der Rechtsakte wurde nicht vereinbart, die Überarbeitung des Komitologie-Beschlusses von 1987 wurde auf einen späteren Zeitpunkt vertragt. Zwar wurde festgelegt, den Anwendungsbereich des Mitentscheidungsverfahrens erheblich auszuweiten, so daß nunmehr die Mehrzahl der Rechtsgrundlagen dieses Verfahren vorsehen 83 • Dies könnte die Übernahme des Mitentscheidungsverfahrens als Standard-Rechtsetzungsverfahren in der Zukunft erleichtern. Nach dem Vertrag von Amsterdam jedoch werden wichtige Bereiche gemeinschaftlicher Rechtsetzung, die auch Entscheidungen grundlegenden Charakters umfassen können, nach wie vor nicht von dem Mitentscheidungsverfahren umfaßt sein84 • Insbesondere sehen die neuen Kompetenzbereiche der EG nur zu einem 13. Juli 1987 zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse zu unterbreiten. Zu der interinsitutionellen Debatte: European Parliament, Committee on Instituional Affairs, Report on the functioning of the Treaty on European Union with a view to the 1996 Intergovernmental Conference - implementation and development of the Union, May 17, 1995, EP Doc. A4-0102I95/Part LA, No. 29-34; Commission Europ