Das institutionelle Gleichgewicht - seine Funktion und Ausgestaltung im Europäischen Gemeinschaftsrecht [1 ed.] 9783428526581, 9783428126583

Die Autorin beschäftigt sich mit dem "institutionellen Gleichgewicht" und seiner Vergleichbarkeit mit dem Gewa

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Das institutionelle Gleichgewicht - seine Funktion und Ausgestaltung im Europäischen Gemeinschaftsrecht [1 ed.]
 9783428526581, 9783428126583

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Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel Band 169

Das institutionelle Gleichgewicht – seine Funktion und Ausgestaltung im Europäischen Gemeinschaftsrecht Von

Hanna Goeters

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

HANNA GOETERS

Das institutionelle Gleichgewicht – seine Funktion und Ausgestaltung im Europäischen Gemeinschaftsrecht

Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel Herausgegeben von J o s t D e l b r ü c k, T h o m a s G i e g e r i c h und A n d r e a s Z i m m e r m a n n Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht 169

Völkerrechtlicher Beirat des Instituts: Christine Chinkin London School of Economics

Eibe H. Riedel Universität Mannheim

James Crawford University of Cambridge

Allan Rosas Court of Justice of the European Communities, Luxemburg

Lori F. Damrosch Columbia University, New York Vera Gowlland-Debbas Graduate Institute of International Studies, Geneva Rainer Hofmann Johann Wolfgang GoetheUniversität, Frankfurt a.M. Fred L. Morrison University of Minnesota, Minneapolis

Bruno Simma International Court of Justice, The Hague Daniel Thürer Universität Zürich Christian Tomuschat Humboldt-Universität, Berlin Rüdiger Wolfrum Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg

Das institutionelle Gleichgewicht – seine Funktion und Ausgestaltung im Europäischen Gemeinschaftsrecht Von

Hanna Goeters

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel hat diese Arbeit im Jahre 2005 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1435-0491 ISBN 978-3-428-12658-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort

Diese Arbeit wurde im August 2005 abgeschlossen und von der Juristischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Dissertation angenommen. Tag der mündlichen Prüfung war der 13. Februar 2007. Für die Drucklegung konnten Literatur und Rechtsprechung bis Ende Juli 2007 berücksichtigt werden. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Dr. Rainer Hofmann für die beispielhafte Betreuung, die ich erfahren habe. Ebenfalls sehr herzlich danken möchte ich Prof. Dr. Zimmermann für die schnelle Erstellung des Zweitgutachtens. Danken möchte ich außerdem allen Mitarbeitern des Walther-SchückingInstituts. Die Zeit am Institut ist mir sowohl wegen des freundschaftlichen Umgangs miteinander als auch der jedem Einzelnen gewährten Freiheit in bester Erinnerung geblieben. Für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses danke ich herzlich dem Auswärtigen Amt. Besonders bedanken möchte ich mich auch bei Frau Regine Schädlich vom Verlag Duncker & Humblot, die mir bei all meinen Fragen zur Formatierung immer freundlich und unterstützend zur Seite gestanden hat; ohne Ihre Hilfe wäre die Veröffentlichung dieser Arbeit kaum möglich gewesen. Gleichfalls möchte ich mich bei meinen Freunden bedanken, die mir immer wieder den notwendigen Abstand zur eigenen Arbeit ermöglicht haben. Der größte Dank gilt jedoch schließlich meiner Familie. Ohne ihre liebevolle Unterstützung und Anteilnahme wäre es mir nicht möglich gewesen, diese Arbeit zu erstellen. Widmen möchte ich die Arbeit dem Andenken an meinen Vater. Berlin, im September 2007

Hanna Goeters

Inhaltsverzeichnis A. Einführung ......................................................................................................

13

B. Das Rechtsstaatsprinzip im Europäischen Gemeinschaftsrecht .................

22

I.

Anforderungen mitgliedstaatlicher Verfassungen an den Integrationsprozess ....................................................................................

23

1.

Deutschland........................................................................................

23

2.

Portugal..............................................................................................

25

3.

Griechenland ......................................................................................

26

4.

Schweden ...........................................................................................

27

5.

Die neuen Beitrittsstaaten...................................................................

28

6.

Wirksamkeit solcher Struktursicherungsregeln..................................

31

II. Ausdrückliche Bezüge auf das Rechtsstaatsprinzip im Gemeinschaftsrecht ...................................................................................

33

1.

Präambel des EUV .............................................................................

34

2.

Art. 6 I EUV.......................................................................................

35

3.

Charta der Grundrechte der Europäischen Union...............................

37

III. Mittelbare Bezugnahme auf das Rechtsstaatsprinzip – Art. 7 EUV ..........

39

1.

Österreich...........................................................................................

40

2.

Italien .................................................................................................

41

3.

Dänemark...........................................................................................

43

4.

Abschließende Beurteilung des Verfahrens nach Art. 7 EUV............

43

IV. Beitrittsanforderungen nach Art. 49 EUV ...............................................

45

V. Länderberichte...........................................................................................

46

VI. Entwicklung eines entsprechenden allgemeinen Rechtsgrundsatzes .........

47

VII. Selbstverständnis als „Rechtsgemeinschaft“ .............................................

48

VIII. Außenbeziehungen....................................................................................

50

1.

Entwicklungsabkommen mit Drittstaaten ..........................................

51

2.

Ausdehnung auf weitere Bereiche......................................................

52

8

Inhaltsverzeichnis IX. Europäische Menschenrechtskonvention...................................................

52

1.

Zielsetzung der EMRK – Individualschutz ........................................

53

2.

Bedeutung der Rechtsprechung des EGMR für die Weiterentwicklung des Gemeinschaftsrechts ....................................................

54

Rechtsstaatliche Beurteilung der Gemeinschaft durch den EGMR – Urteil des EGMR in der Rs. „Matthews ./. United Kingdom“.........

55

X. Schlussbetrachtung ....................................................................................

57

C. Das Prinzip der Gewaltenteilung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips ............................................................................................................

62

3.

I.

Begründung der Notwendigkeit einer Gewaltenteilung.............................

63

1.

Verhinderung von Machtmissbrauch .................................................

65

2.

Wahrung der Freiheit des Einzelnen ..................................................

72

3.

Ordnungsgemäße Wahrnehmung der Staatsfunktionen .....................

75

4.

Herrschaftslegitimation ......................................................................

80

a)

Der normative Begriff der Legitimation .....................................

81

b)

Der soziologische Begriff der Legitimation................................

84

Schlussbetrachtung.............................................................................

88

II. Der Gewaltenteilungsgrundsatz nach Montesquieu...................................

90

5.

1.

Das 6. Kapitel des 11. Buches im Gesamtzusammenhang .................

91

2.

Die Lehre von den Staatsformen ........................................................

93

3.

Die Zuweisung der einzelnen Funktionen ..........................................

97

a)

Judikative....................................................................................

97

b)

Legislative ..................................................................................

99

c)

Exekutive.................................................................................... 102

d)

Das Verhältnis der Gewalten untereinander ............................... 103

4.

Einfluss der Staatsformenlehre und Legitimationsbegründung .......... 105

III. Weiterführende Bedeutung........................................................................ 107 1.

Die „Federalist Papers“ ...................................................................... 107

2.

Jean-Jacques Rousseau....................................................................... 114

3.

Einfluss der Lehre von den Funktionen.............................................. 122 a)

Nähere Bestimmung der Funktionen .......................................... 125

b)

Zuweisung der Funktionen ......................................................... 128

c)

Notwendigkeit und Art der Verschränkungen ............................ 129

d)

Grenzen möglicher Verschränkungen......................................... 130

Inhaltsverzeichnis

9

IV. Schlussbetrachtung .................................................................................... 131 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht...................................................................................................... 138 I.

Die Organstruktur der Europäischen Union.............................................. 138 1.

2.

Das Europäische Parlament................................................................ 143 a)

Wahl und Zusammensetzung...................................................... 143

b)

Tätigkeitsbereiche....................................................................... 146

c)

Weiterführende Funktion............................................................ 150

d)

Bewertung der bisherigen Entwicklung...................................... 153

Der Ministerrat................................................................................... 157 a)

3.

4.

5.

Zusammensetzung ...................................................................... 157

b)

Tätigkeitsbereiche....................................................................... 160

c)

Weiterführende Funktion............................................................ 164

d)

Bewertung der bisherigen Entwicklung...................................... 165

Die Europäische Kommission ............................................................ 170 a)

Zusammensetzung ...................................................................... 171

b)

Tätigkeitsbereiche....................................................................... 175

c)

Weiterführende Funktion............................................................ 182

Der Europäische Gerichtshof ............................................................. 185 a)

Zusammensetzung ...................................................................... 187

b)

Tätigkeitsbereiche....................................................................... 188

c)

Weiterführende Funktion............................................................ 194

d)

Bewertung der bisherigen Entwicklung...................................... 196

Überblick über die den Organen allgemein zugewiesenen Funktionen ......................................................................................... 199

II. Das „institutionelle Gleichgewicht“ in der Rechtsprechung...................... 205 1.

Begriff des „Gleichgewichts der Gewalten“ ...................................... 206

2.

Begriff des „institutionellen Gleichgewichts“ .................................... 213 a)

Prozessrechtliche Bedeutung des „institutionellen Gleichgewichts“ ......................................................................... 219

b)

Verfahrensrechtliche Bedeutung des „institutionellen Gleichgewichts“ ......................................................................... 225

c)

Materiellrechtliche Bedeutung des „institutionellen Gleichgewichts“ ......................................................................... 231

10

Inhaltsverzeichnis d)

Weitere Bedeutungsmöglichkeiten des „institutionellen Gleichgewichts“ ......................................................................... 241

e)

Allgemeiner Aussagegehalt des „institutionellen Gleichgewichts“ ......................................................................... 243

E. Gegenüberstellung der beiden Begriffe und ihrer Bedeutungen................. 248 I.

Verhinderung von Machtmissbrauch......................................................... 249

II. Wahrung der Freiheit des Einzelnen.......................................................... 254 III. Ordnungsgemäße Wahrnehmung der Funktionen ..................................... 259 IV. Herrschaftslegitimation ............................................................................. 264 V. Schlussbetrachtung .................................................................................... 271 F.

Endbetrachtung und Zusammenfassung ...................................................... 276

Literaturverzeichnis ............................................................................................... 293 Stichwortverzeichnis .............................................................................................. 309

Abkürzungsverzeichnis AKP-Staaten Anm. AöR Art. Aufl. Bd. BVerfG BVerfGE CMLRev. d. i. DÖV DVBl. EC ed. EGMR EGV ELJ ELRev. EMRK EuG EuGH EuGR EuR EUV EWG f. ff. FG FPÖ FS GA GG GS

Afrikanisch-Karibisch-Pazifische Staaten Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Auflage Band Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Common Market Law Review das ist Die öffentliche Verwaltung Deutsches Verwaltungsblatt European Community editor/editore Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft European Law Journal European Law Review Europäische Menschenrechtskonvention Europäisches Gericht erster Instanz Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte Zeitschrift Europarecht Vertrag über die Europäische Union Europäische Wirtschaftsgemeinschaft folgend und folgende Finanzgericht/Festgabe Freiheitliche Partei Österreichs Festschrift Generalanwalt Grundgesetz Gedenkschrift/Gedächtnisschrift

12 GYIL Hrsg. JöR JuS JZ Kom MA m. w. N. NJW No. Nr. ÖzöR Rn. Rs. SAJHR Sc. St. L. Slg. übers. v. Verb. Verf. WVK ZeuS Ziff. zit. ZP ZRP ZRph

Abkürzungsverzeichnis German Yearbook of International Law Herausgeber Jahrbuch des öffentlichen Rechts Juristische Schulung Juristenzeitung Kommission Massachusetts mit weiteren Nachweisen Neue Juristische Wochenschrift Number Nummer Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht Randnummer Rechtssache South African Journal on Human Rights Scandinavian Studies in Law Sammlung übersetzt von verbunden Verfasserin Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge Zeitschrift für Europarechtliche Studien Ziffer zitiert Zusatzprotokoll Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Rechtsphilosophie

A. Einführung Seitdem der Europäische Gerichtshof den Begriff des „institutionellen Gleichgewichts“ verwendet1, um das Verhältnis der Gemeinschaftsorgane untereinander näher zu bestimmen, besteht eine gewisse Unsicherheit über dessen Bedeutung. Im Bezug auf seine inhaltliche Bedeutung sind grundsätzlich drei verschiedene Betrachtungsweisen möglich. Zunächst kann das „institutionelle Gleichgewicht“ als eine sich auf der Gemeinschaftsrechtsebene findende direkte Entsprechung des aus dem staatlichen Bereich bereits bekannten Gewaltenteilungsprinzips verstanden werden, das durch ein System der gegenseitigen „checks and balances“ der Gemeinschaftsorgane untereinander sowohl einer verbesserten Entscheidungsfindung als auch der individuellen Freiheitssicherung dient.2 Unter Zugrundelegung eines solchen Verständnisses ist das „institutionelle Gleichgewicht“ demnach als ein übergeordnetes Rechtsprinzip anzusehen, das bei jeder Bewertung der im Rahmen der geltenden Vertragsbestimmungen stattfindenden Zusammenarbeit der Gemeinschaftsorgane untereinander, der weiteren Rechtsprechung des Gerichtshofs und der nachfolgenden Vertragsänderungen zu berücksichtigen ist.3 ___________ 1 EuGH, Slg. 1970, 1161 (1173) Rs. 25/70 „Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide/Köster“ „(...) das Verwaltungsausschussverfahren (...) verfälscht aber nicht die Gemeinschaftsstruktur und das institutionelle Gleichgewicht.“; siehe auch EuGH, Slg. 1970, 1197 (1210) Rs. 30/70 „Scheer/Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide“; EuGH, Slg. 1980/III, 3333 (3360) Rs. 138/79 „Roquette Frères/Rat“; EuGH, Slg. 1990/II, I-2041 (I-2072) Rs. C-70/88 „Parlament/Rat“; EuGH, Slg. 1995/I, I-1827 (I-1852) Rs. C-21/94 „Parlament/Rat“. 2 Borchardt, 76, Rn. 175 „Dem Gewaltenteilungsprinzip, so wie es in den Gemeinschaftsverträgen angelegt ist, liegt ein System gegenseitiger Kontrolle zugrunde, das der EuGH als institutionelles Gleichgewicht bezeichnet.“; Dyèvre in: 30 ELRev. 2005, 165 (174); Snyder in: Weiler/Wind, 55 (62); Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 7 EGV, Rn. 15; Herdegen, Europarecht, 138, Rn. 108; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 422; Sander, 60; Borchhardt, 57, Rn. 135; Haratsch in: Demel (Hrsg.), 199 (210); siehe aber auch andererseits die Vorlage des FG Rheinland-Pfalz, BVerfGE 22, 134 (140). 3 Zur Bestätigung des Verfassungscharakters des „institutionellen Gleichgewichts“ wird im Übrigen von Streinz in: Streinz, EUV/EGV, Art. 7 EGV, Rn. 20; Geiger, EUV/EGV, Art. 7 EGV, Rn. 17; von Buttlar, 64 auf seine Erwähnung im „Protokoll (Nr. 30) über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“ (Ziffer 2) zum Amsterdamer Vertrag hingewiesen, gegen diese Argumentation siehe nur Bieber in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV – Band 1, Art. 7 EGV, Rn. 66.

14

A. Einführung

Des Weiteren kann aber auch – unter Hinweis auf die gegenüber jeder staatlichen Ordnung bestehenden Besonderheiten der Gemeinschaftsrechtsordnung – eine inhaltliche Annäherung an das „institutionelle Gleichgewicht“ in zu enger Anlehnung an das an sich staatsbezogene Prinzip der Gewaltenteilung als nicht angemessen beurteilt werden. Die Begriffsbedeutung des „institutionellen Gleichgewichts“ ist demnach zunächst aus dem Gemeinschaftsrecht unmittelbar selbst zu bestimmen. Erst daran anschließend kann dann eine Vergleichbarkeit mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz in funktionaler Hinsicht dahingehend nachgewiesen werden, dass auch das „institutionelle Gleichgewicht“ als ein dem Gemeinschaftsrecht innewohnendes und übergeordnetes Prinzip anzusehen ist, aus dem bestimmte allgemeingültige Aussagen über die Beziehungen der Organe untereinander hergeleitet werden können.4 Vor einer solchen Gegenüberstellung beider Prinzipien ist jedoch bei dieser Vorgehensweise zuallererst die grundsätzliche Notwendigkeit einer Übertragung von Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips auf das Gemeinschaftsrecht zu begründen sowie deren konkrete inhaltliche Ausgestaltung näher zu betrachten.5 Gerade diese Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Rechtsstaatsprinzips für die Gemeinschaftsrechtsordnung, der mit ihm allgemein verbundenen Aussagen und der möglichen Arten einer Übertragung dieses Grundsatzes bildet somit den Unterschied zu der erstgenannten Ansicht, die durch die Gleichsetzung des „institutionellen Gleichgewichts“ mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz diese Fragen vermeidet oder aber zumindest implizit bereits beantwortet. Damit unterscheiden sich die bisher genannten möglichen zwei Betrachtungsweisen nicht nur im Hinblick auf ihre jeweilige Formulierung. Vielmehr bestehen auch erhebliche Unterschiede gerade bezüglich des ihnen jeweils zugrunde liegenden Verständnisses zum allgemeinen Verhältnis der Gemeinschaftsrechtsordnung zu bereits aus dem einzelstaatlichen Bereich bekannten Prinzipien. ___________ 4

Oppermann, 81, Rn. 10; Häberle, 423; Lenaerts in: 28 CMLRev 1991, 11 (14) „It can hardly be doubted that the principle of separation of powers, as defined in its functional perspective, is a structural feature underlying the Community legal order.“; Schroeder, 355; von Buttlar, 64; Geiger, EUV/EGV, Art. 7 EGV, Rn. 17; Streinz in: Streinz, EUV/EG, Art. 7 EGV, Rn. 14; Koenig/Haratsch, Europarecht, Rn. 78; Verhoeven, The EU in Search of a Democratic and Constitutional Theory, 210; Nicolaysen in: Weidenfeld/Wessels (Hrsg.), 348 (353); Huber in: 38 EuR 2003, 574 (576); Pescatore in: FS Kutscher 1981, 319 (326); so wohl auch schon Friauf in: DVBl. 1964, 781 (784). 5 Siehe für solche Überlegungen nur Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften – Band I, 361 „Das abstrakt gefasste Prinzip der Gewaltenteilung kann für die EG weder einen allgemeingültigen Wertmaßstab bilden, noch ein Modell zur Verfügung stellen, dem die EG notwendigerweise entsprechen müssen.“; in diesem Sinne auch Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 319; Zuleeg, Der rechtliche Zusammenhalt der Europäischen Union, 153.

A. Einführung

15

Schließlich kann dem Begriff des „institutionellen Gleichgewichts“ aber auch jede Brauchbarkeit zur Beschreibung der Organbeziehungen an sich abgesprochen und vielmehr nur ein Charakter als Leerformel zugebilligt werden. So kann es als bloßer Reflex zu den jeweils im Gemeinschaftsrecht geltenden Zuständigkeitsverteilungen angesehen werden, dem keine übergeordnete Bedeutung, insbesondere als Verfassungsprinzip im Gemeinschaftsrecht zugewiesen werden sollte.6 Eine jeweils mit Vertragsänderung erfolgende Umgestaltung der für die Zusammenarbeit der Gemeinschaftsorgane maßgeblichen Zuständigkeitsverteilung ist demnach nicht vorrangig unter Zugrundelegung eines schon zuvor im Gemeinschaftsrecht angelegten „institutionellen Gleichgewichts“ zu bewerten, sondern bildet seinerseits lediglich die Grundlage für dessen weitere Ausgestaltung.7 Die Frage, inwieweit in der Gemeinschaftsrechtsordnung der Rechtsstaatlichkeit und im Besonderen dem Gewaltenteilungsgrundsatz als einer weiteren Ausprägung dieses Grundsatzes Bedeutung zukommt, stellt sich nach dieser Ansicht dann aber umso dringender. So gewinnt doch allgemein eine umfassende und damit auch unter Heranziehung des Rechtsstaatsprinzips erfolgende Herrschaftslegitimation im Gemeinschaftsrecht umso mehr an Bedeutung, als sich die Europäische Gemeinschaft nicht nur als Wirtschaftsordnung, sondern vielmehr auch und gerade als Rechtsgemeinschaft zu etablieren versucht. Entsprechend kommt dem Recht nicht mehr nur Aufmerksamkeit in seiner Funktion als Gestaltungsmittel, sondern überhaupt als Bedingung für jedes hoheitliche Tätigwerden im europäischen Zusammenhang zu. Im Übrigen führt auch die weitergehende Ausweitung der Zuständigkeitsbereiche der Gemeinschaft und der damit gleichzeitig einhergehende Verlust an einzelstaatlicher Souveränität sowie die zunehmende Betroffenheit des einzelnen Bürgers durch Entscheidungen der Gemeinschaftsorgane zu der schon in der Gründungsphase der Gemeinschaft erörterten Frage, inwieweit zur Rechtfertigung der auf europäischer Ebene ausgeübten Hoheitsgewalt eine gewisse strukturelle Homogenität der Gemeinschaftsrechtsordnung zu denen der Mitgliedstaaten zu fordern ist.8 ___________ 6 Hummer in: FS Verdross 1980, 459 (484); Kutscher in: 16 EuR 1981, 392 (410); Hofmann, 68; Koenig in: DÖV 1998, 268 (273); Schütz in: Demel (Hrsg.), 19 (25); Zuleeg in: NJW 1994, 545 (548); Hatje in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 7 EGV, Rn. 21; Bieber in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV – Band 1, Art. 7 EGV, Rn. 66. 7 Schütz in: Demel (Hrsg.), 19 (25); so noch Oppermann (2. Auflage), 104, Rn. 243 „Wenig hilfreich ist die gelegentlich auch vom EuGH verwendete Vorstellung eines ‚institutionellen Gleichgewichts‘ der Organe. Es kommt immer auf die konkrete Kompetenzverteilung nach den Verträgen an.“ 8 Gegen solche Ansätze aber bereits Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, 37 „Nicht nur nationales Gesetzesrecht, auch die Grundentscheidungen der nationalen Verfassungen können die Geltung des Gemeinschaftsrechts nicht einschränken. Manche meinen es und formulieren das Gebot der strukturellen Kongruenz, in der Besorgnis, in

16

A. Einführung

Vor dem Hintergrund dieser drei möglichen Begriffsverständnisse des „institutionellen Gleichgewichts“ soll nun in der vorliegenden Arbeit zunächst der grundlegenden Frage nachgegangen werden, in welchem Ausmaß dem Rechtsstaatsprinzip überhaupt Bedeutung im Gemeinschaftsrecht zukommt. Eine solche einleitende Fragestellung mag aufgrund der ganz überwiegenden Ansicht, nach der die Europäische Union als eine rechtsstaatlich verfasste Gemeinschaft zu beurteilen ist9, überflüssig erscheinen. Doch soll auch nicht im Vordergrund der Befund der Rechtsstaatlichkeit stehen. Vielmehr soll unter Berücksichtigung des selbst vorgetragenen Verständnisses als Rechtsgemeinschaft die damit einhergehende Notwendigkeit sowie die bestehenden Möglichkeiten einer in angemessener Form erfolgenden Beachtung auch des Gewaltenteilungsgrundsatzes näher begründet werden. So verdient vor allem Beachtung, dass die nach außen auftretende Gemeinschaft selbst gewisse rechtsstaatliche Anforderungen in Form der Achtung der in Art. 6 I EUV (nach der VerfassungArt. I-210) ge___________ der Gemeinschaft werde der Grundrechtsstatus des Bürgers beeinträchtigt, würden Gewaltenteilung und Demokratie vernachlässigt. Die Gründerstaaten haben jedoch durchaus rechtsstaatliche Sicherungselemente in den Vertrag eingebaut.“; weiterhin Verhoeven, The EU in Search of a Democratic and Constitutional Theory, 321 „The degree of homogeneity (and of tolerable heterogeneity) required in the relationship between the European Union and its Member States (and among the latter) is established in the process of integration itself and is pepetually evolving. There is no pre-ordained set of rules, nor an a priori institution which can impose its values.“; Borchardt, 74, Rn. 170; Brockmeyer in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 23, Rn. 8 „Die Grundsätze können in der Europäischen Union daher auch andere Ausprägungen erfahren, wenn nur gewisse Mindeststandards gewahrt werden.“; andererseits siehe aber auch Lorz, 125f.; wohl auch Oppermann, Die Europäische Gemeinschaft als parastaatliche Superstruktur, 187 (198). 9 Fernandez Esteban, 209 „(…) it may well be deduced that the virtues and defects of the heavy reliance on the Rule of Law in European integration will increase.“; Hofmann in: Hofmann/Marko/Merli/Wiederin (Hrsg.), 321 (335); Oppermann, 81, Rn. 11; Buchwald in: 37 Der Staat 1998, 189 (217); Zuleeg in: NJW 1994, 545 (549); siehe aber auch andererseits für eine deutliche Betonung eines „Rechtsstaatsdefizit“ bei SchmidtAßmann in: Handbuch des Staatsrechts – Band II, 541 (607). 10 Als die dieser Arbeit zugrunde gelegten gesetzlichen Bestimmungen sind zuallererst die geltenden Normen des EGV in ihrer Fassung vom 25. März 1957 – zuletzt geändert durch den Vertrag von Nizza vom 16. Februar 2002 sowie dem Beitrittsvertrag vom 16. April 2003 – und des EUV in ihrer Fassung vom 7. Februar 1992 – zuletzt geändert durch den Vertrag von Nizza vom 26. Februar 2001 und dem Beitrittsvertrag vom 16. April 2003 – zu benennen. Doch soll auch die sich bereits weiter abzeichnende Entwicklung des europäischen Integrationsvorhabens derart Beachtung finden, dass jeweils die entsprechenden Regelungen des nicht in Kraft getretenen Vertrags über eine Verfassung (weiterführend als „Verfassung“ im Rahmen dieser Arbeit bezeichnet) in seiner am 18. Juni 2004 einstimmig angenommenen und am 29. Oktober 2004 von den Staats- und Regierungschefs der 25 EU-Mitgliedstaaten und der drei Kandidatenländer unterzeichneten Fassung aufgenommen sind. So sollten gerade gewisse Änderungen zum bisher geltenden Recht sowie gegebenenfalls zwischen dem Entwurf einer Verfassung des Europäischen Konvents vom 18. Juli 2003 und der zumindest vorläufig endgültigen Fassung weiterführende Aussagen über das „institutionelle Gleichgewicht“ ermöglichen.

A. Einführung

17

nannten Grundsätze an ihre zukünftigen Mitgliedstaaten im Rahmen des Beitrittsverfahrens nach Art. 49 EUV (nach der Verfassung Art. I-58) stellt und im Weiteren darum bemüht ist, bestimmte Bekenntnisse unter anderem zur Achtung der Rechtsstaatlichkeit den Verträgen mit Drittstaaten im Bereich der Entwicklungshilfe voranzustellen, um auf diese Weise mittelbar Einfluss auf die jeweiligen einzelstaatlichen Entwicklungen in bestimmten Regionen zu nehmen. Aber auch innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung selbst wird die Rechtsstaatlichkeit durch die unterschiedlichen Beteiligten und die von ihnen gegenseitig wahrgenommenen Kontrollfunktionen gesichert. Gerade diese als spezifisch europarechtlich zu bewertenden Verknüpfungen der unterschiedlichen Ebenen sollen eine nähere Betrachtung erfahren, da sie auch im Rahmen des „institutionellen Gleichgewichts“ und der den einzelnen Gemeinschaftsorganen zugewiesenen Funktionen wiederzuerkennen sein werden. Bestehen in einer staatlich verfassten Ordnung Auseinandersetzungen in rechtsstaatlicher Hinsicht zumeist zwischen dem Bürger und dem Staat oder aber zwischen den verschiedenen Staatsorganen, ist in der europäischen Rechtsordnung bereits zwischen Streitigkeiten zwischen dem einzelnen Bürger mit seinem jeweiligen, möglicherweise aber auch einem anderen Mitgliedsstaat und der Gemeinschaftsrechtsebene zu unterscheiden. Darüber hinaus können aufgrund abweichender Interessenlagen aber auch die Mitgliedstaaten untereinander und zur Gemeinschaftsrechtsebene insgesamt sowie die Gemeinschaftsorgane miteinander in Konflikt treten. Im Rahmen dieser in den verschiedenen Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof zu lösenden Interessenkonflikte treten all diese Beteiligten auch gegenseitig als Garanten der Rechtsstaatlichkeit auf. Schließlich erfährt die Gemeinschaftsrechtsordnung aber nicht nur bereits aus ihrem eigenen Aufbau Beurteilungen unter Zugrundelegung rechtsstaatlicher Anforderungen, sondern auch von außerhalb. Zum einen geschieht dies mittelbar durch die Überwachung ihrer Mitgliedstaaten in unterschiedlichen vertraglichen Regimen, die indes gleichermaßen Aussagen über die Europäische Gemeinschaftsrechtsordnung in ihrer Gesamtheit selbst erlauben. Zum anderen hat die Europäische Gemeinschaft schon unmittelbar selbst Beurteilungen in rechtsstaatlicher Hinsicht erfahren. Dieser gegenüber dem einzelstaatlichen Bereich erweiterte Kreis an Beteiligten sowie die Bedingungen, unter denen diese verschiedenen Beteiligten ihre Überwachungsmöglichkeiten tatsächlich nutzen, gilt es auch im Rahmen einer den Gewaltenteilungsgrundsatz in ___________ Eine solche Vorgehensweise erscheint im Übrigen trotz des negativen Ausgangs der Referenden in Frankreich und den Niederlanden immer noch aus dem Grund angemessen, dass dem Verfassungstext zumindest als Grundlage für die nachfolgenden weiteren Entwicklungen in der Form des Reformvertrags noch Bedeutung zukommt; kritisch zu letzterem siehe nur Gunter Hofmann „Ist Europa nun gerettet?“ in: Die Zeit Nr. 27 vom 28. Juni 2007.

18

A. Einführung

seinem Verhältnis zur Gemeinschaftsrechtsordnung zum Gegenstand habenden Betrachtung hinreichend zu berücksichtigen. Darüber hinaus tritt bei einer solchen einführenden rechtsstaatlichen Gesamtbetrachtung bereits eine grundsätzliche Schwierigkeit der Übertragung dieses Prinzips und damit auch des Gewaltenteilungsgrundsatzes als einer seiner wesentlichen Ausprägungen in Erscheinung: Sieht man den Verdienst des Rechtsstaatsprinzips maßgeblich in der Bewahrung der Rechte und Freiheiten des Einzelnen und weist damit der Vorhersehbarkeit hoheitlicher Regelungen und ihrer Entstehung im Allgemeinen eine besondere Bedeutung zu, steht dieses Anliegen mit der integrationsoffenen und aufgrund der immer noch vorwiegend wirtschaftlichen Ausrichtung notwendigerweise besonders dynamischen Form des Gemeinschaftsrechts in einem Spannungsverhältnis. Wie zwischen diesen beiden sich zwangsläufig auseinander bewegenden Ansätzen vermittelt werden kann, lässt sich möglicherweise auch unter Berücksichtigung eines aus den Verträgen abzuleitenden „institutionellen Gleichgewichts“ zwischen den diese verschiedenen Interessen vertretenden Organen im weiteren Gang der Untersuchung bestimmen. Nachdem in dem soeben beschriebenen 1. Teil der vorliegenden Arbeit auf die Erforderlichkeit einer zumindest strukturangepassten Berücksichtigung des Gewaltenteilungsgrundsatzes im Gemeinschaftsrecht eingegangen worden ist, stellt sich draufhin – aufgrund seiner zahllosen, häufig sehr verschiedenen einzelstaatlichen Umsetzungen – die Frage nach dem auf das „institutionelle Gleichgewicht“ konkret anzuwendenden Bewertungsmaßstab. Zur näheren inhaltlichen Bestimmung des Gewaltenteilungsgrundsatzes soll demnach im 2. Teil dieser Arbeit zunächst eine Darstellung derjenigen allgemeinen Funktionen erfolgen, die ihm als besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips zugewiesen werden können. Im Hinblick auf seine ideengeschichtlichen Entwicklungen sollen daraufhin die von Charles de Montesquieu im 6. Kapitel des 11. Buchs seines Werkes „Vom Geist der Gesetze“ niedergelegten Vorstellungen einen ersten Schwerpunkt bilden. Nicht nur haben sich alle nachfolgenden Abhandlungen zur Gewaltenteilung mit diesen Ausführungen auseinandergesetzt, für die stellvertretend im Rahmen der vorliegenden Arbeit auf die „Federalist Papers“ und Jean Jacques Rousseau sowie auf die Lehre von den Funktionen eingegangen werden soll. Darüber hinaus müssen sich – schon aufgrund der stark voneinander abweichenden einzelstaatlichen Ausprägungen des Gewaltenteilungsgrundsatzes in den verschiedenen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen – auch die Beurteilungen eines im Gemeinschaftsrecht möglicherweise gegebenen „institutionellen Gleichgewichts“ zwangsläufig immer wieder direkt auf seine Ausarbeitungen beziehen. Die Charles de Montesquieu zukommende besondere Bedeutung ergibt sich schließlich aus der unter anderem zu behandelnden Fragestellung, ob nicht gerade anstatt einer mit erheblichen Schwierig-

A. Einführung

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keiten verbundenen Übertragung nachfolgender konkreter einzelstaatlicher Umsetzungen wie auch von Dogmatisierungen des Gewaltenteilungsgrundsatzes eine Rückbesinnung auf die von ihm entwickelten Ansätze eine Beurteilung des Gemeinschaftsrechts in rechtsstaatlicher Hinsicht insgesamt erleichtern könnte. Bevor die der gesamten Untersuchung zugrunde liegende Frage jedoch beantwortet werden kann, ob der Grundsatz der Gewaltenteilung unter dem Begriff des „institutionellen Gleichgewichts“ tatsächlich Eingang in das Gemeinschaftsrecht gefunden hat, bedarf es im 3. Teil der Arbeit einer näheren Auseinandersetzung mit der diesem Rechtsbegriff in der Gemeinschaftsrechtsordnung überhaupt zugewiesenen Bedeutung. Hierfür ist zunächst eine allgemeine Beschreibung der den Gemeinschaftsorganen zugewiesenen Aufgaben und daran anschließend deren weitere Konkretisierung durch die Rechtsprechung erforderlich. Die sich auf das „institutionelle Gleichgewicht“ beziehenden Aussagen des Europäischen Gerichtshofs, die gewisse Rückschlüsse auf das von ihm zugrunde gelegte und aufgrund seines Rechtsprechungsmonopols maßgebliche Verständnis ermöglichen sollten, sind indes als nicht eindeutig zu beurteilen. So spricht der Europäische Gerichtshof einerseits in seiner Entscheidung Rs. 138/79 von der Wesentlichkeit des Anhörungsrechts des Europäischen Parlaments „für das vom Vertrag gewollte institutionelle Gleichgewicht“11 und sieht in seiner Entscheidung Rs. C-70/88 die ihm selbst zukommende Aufgabe in der „Aufrechterhaltung des institutionellen Gleichgewichts.“12 Auch kennzeichnet der Gerichtshof als Grundlage des „institutionellen Gleichgewicht“ das „System der Zuständigkeitsverteilung zwischen den verschiedenen Organen der Gemeinschaft (...), das jedem Organ seinen eigenen Auftrag innerhalb des institutionellen Gefüges der Gemeinschaft und bei der Erfüllung der diesem übertragenen Aufgaben zuweist.“13 Andererseits hält der Gerichtshof aber für eine Bestimmung dieses „institutionellen Gleichgewichts“ der Organe untereinander in seinem ersten Leitsatz zur Entscheidung in der Verbundene Rs. 188 bis 190/80 eine jeweils nach den einzelnen Zuständigkeitsbereichen differenzierende Betrachtung für erforderlich.14 Gerade diese letztere Aussage lässt es zweifelhaft erscheinen, ob das „in___________ 11

EuGH, Slg. 1980/III, 3333 (3360) Rs. 138/79 „Roquette Frères/Rat“. EuGH, Slg. 1990/II, I-2041 (I-2073) Rs. C-70/88 „Parlament/Rat“. 13 EuGH, Slg. 1990/II, I-2041 (I-2072) Rs. C-70/88 „Parlament/Rat“. 14 EuGH, Slg. 1982/II, 2545 (2546) Verbundene Rs. 188 bis 190/80 „Frankreich, Italien und Vereinigtes Königreich/Kommission“ „Die Auffassung, die originäre Rechtssetzungsbefugnis stehe aufgrund der für die Aufteilung der Befugnisse und Verantwortlichkeiten zwischen den Gemeinschaftsorganen geltenden Grundsätze in vollem Umfang dem Rat zu, während die Kommission nur Überwachungs- und Durchführungsbefugnisse besitze, findet in den Bestimmungen des Vertrages über die Organe keine Stütze. 12

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A. Einführung

stitutionelle Gleichgewicht“ tatsächlich als ein den Verträgen übergeordnetes, in allen Gemeinschaftsrechtsbereichen in derselben Weise gültiges Verfassungsprinzip anzusehen ist, und macht vielmehr eine genauere Betrachtung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten des jeweils in einzelnen Zuständigkeitsbereichen angelegten „institutionellen Gleichgewichts“ erforderlich. Selbst wenn eine solche Untersuchung verschiedener Zuständigkeitsbereiche ergeben sollte, dass das „institutionellen Gleichgewicht“ vorrangig nur einen Reflex zu den jeweils im Vertrag angelegten Kompetenzzuweisungen darstellt, ist es jedoch weiterhin denkbar, dass es in seinem Kernbereich gleichwohl als absolute Grenze im Hinblick auf Zuständigkeitsdelegationen zwischen den Organen wirkt. Zur Überprüfung dieses Ansatzes müssen diejenigen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs besondere Berücksichtigung finden, in denen er über die ausdrücklich in den Verträgen niedergelegten Rechte und Pflichten der einzelnen Organe unter Berufung auf das „institutionelle Gleichgewicht“ hinausgegangen ist. Dabei kommt zum einen der Aufwertung der prozessrechtlichen wie der verfahrensrechtlichen Stellung des Europäischen Parlaments durch die Rechtsprechung maßgebliche Bedeutung zu. Nach der damit erfolgten richterlichen Konkretisierung der Verhältnisse der Gemeinschaftsorgane untereinander verdient des Weiteren die zunehmende Anzahl von Entscheidungen Beachtung, deren Gegenstand die jeweils im Einzelfall zur Anwendung kommende Rechtsgrundlage bildet. So hat die Entscheidung über die jeweilige Rechtsgrundlage, die immer bei einer gleichzeitigen Berührung verschiedener Aufgabenbereiche zu treffen ist, entscheidenden Einfluss auf die weiteren Mitwirkungsrechte der verschiedenen Organe im Gesetzgebungsverfahren und damit auch auf ihr allgemeines Verhältnis zueinander. Die Art und Weise, wie der Europäische Gerichtshof die Rechtsgrundlagen im Einzelnen ermittelt und wie er sich des Begriffes des „institutionellen Gleichgewichts“ in seiner Argumentation bedient, ermöglicht demnach weiterführende Aussagen über die gemeinschaftsrechtlichen Organstrukturen. Dabei ist vor allem interessant, ob unter Berufung auf das „institutionelle Gleichgewicht“ allein oder nur in Verbindung mit anderen, möglicherweise auch spezielleren Bestimmungen Abgrenzungen zwischen den Zuständigkeitsbereichen der einzelnen Organe vorgenommen werden können. So ist beispielsweise auch die Verwendung der Begrifflichkeit des „institutionellen Gleichgewichts“ als eines bloß begleitenden Auslegungsprinzips denkbar, dem mithin keine vorrangige Bedeutung einzuräumen ist. Abschließend soll im 4. Teil dieser Arbeit eine Gegenüberstellung des „institutionellen Gleichgewichts“ mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz erfolgen, um ___________ Daraus folgt, dass die Schranken für eine Befugnis, die der Kommission durch eine spezielle Bestimmung des Vertrages übertragen ist, nicht aus einem allgemeinen Grundsatz, sondern aus dem Wortlaut der betreffenden Bestimmung selbst unter Berücksichtigung ihrer Zielsetzung und ihrer Stellung im Aufbau des Vertrages abzuleiten sind.“

A. Einführung

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den Grad der Vergleichbarkeit dieser beiden Prinzipien zu ermitteln. Dabei soll zunächst ermittelt werden, inwieweit das „institutionelle Gleichgewicht“ im Gemeinschaftsrecht die im einzelstaatlichen Bereich durch den Gewaltenteilungsgrundsatz gewährleisteten Funktionen der Machtbegrenzung, der individuellen Freiheitssicherung und ordnungsgemäßen Aufgabenwahrnehmung sichert. Das Ergebnis dieser Gegenüberstellung sollte schließlich die Beantwortung der dieser gesamten Untersuchung auch zugrunde liegenden Frage ermöglichen, inwieweit das „institutionelle Gleichgewicht“ die Legitimation der Gemeinschaftsrechtsordnung bereits zu erhöhen in der Lage ist und aus welchen möglichen Quellen ansonsten sie den ihr, wie auch jeder anderen Rechtsordnung innewohnenden Legitimationsbedarf zukünftig decken kann.

B. Das Rechtsstaatsprinzip im Gemeinschaftsrecht Dem Rechtsstaatsprinzip wird in Bezug auf die Gemeinschaftsrechtsordnung zum einen von den einzelnen Mitgliedstaaten eine Bedeutung zugemessen. So finden sich in verschiedenen Verfassungen der einzelnen Staaten Vorgaben, die im Rahmen einer weiteren Beteiligung des jeweiligen Staates an der europäischen Integration zu beachten sind. Diese mitgliedstaatlichen Anforderungen sollen im Weiteren gewährleisten, dass auch nach einer zunehmenden Verlagerung von Hoheitsrechten auf die Gemeinschaftsrechtsebene die dort ausgeübte Herrschaftsgewalt der Bindung der im Einzelnen aufgezählten Verfassungsprinzipien unterworfen ist. Gleichwohl sind diese Bestimmungen vorrangig nicht als mitgliedstaatliche Restriktionen des europäischen Einigungsprozesses aufzufassen, sondern vielmehr als ein Instrumentarium, das der jeweiligen Bevölkerung die Teilnahme an diesem Integrationsvorhaben erleichtern sollte. Zumindest sollten diese mitgliedstaatlichen Bestimmungen die jeweiligen Bevölkerungen dazu herausfordern, aktiv an der weiteren Gestaltung der Gemeinschaftsordnung im Rahmen der bestehenden Einflussmöglichkeiten mitzuwirken oder gegebenenfalls diese zu hinterzufragen. Zum anderen finden sich Bezüge auf das Rechtsstaatsprinzip inzwischen unmittelbar im Gemeinschaftsrecht selbst sowie mittelbar in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und in den Beziehungen zu Drittstaaten. Letzteres muss umso mehr überraschen, als die Bedeutung des Rechtsstaatsprinzips für die Gemeinschaftsordnung – abgesehen von klaren, aber zumeist lediglich feststellenden Bekentnissen zu diesem Grundprinzip – ansonsten wenig erörtert wird. Schließlich wird die Europäische Gemeinschaft aber auch gerade an dem von ihr selbst vorgetragenen Selbstverständnis als rechtsstaatlich verfasste Gemeinschaft von außerhalb gemessen. Eine Zusammenschau aller dieser bestehenden Bezüge zum Prinzip der Rechtsstaatlichkeit im Gemeinschaftsrecht sollte verdeutlichen können, wie dieses Prinzip im Einzelnen verwirklicht wird und welche Bedeutung ihm und damit auch dem Gewaltenteilungsgrundsatz als einer seiner maßgeblichen Ausprägungen somit im Europäischen Integrationsprozess überhaupt zugemessen wird. Im Übrigen sollte eine solche allgemeine Beurteilung im weiteren Verlauf das Verständnis des „institutionellen Gleichgewichts“ und der dabei zu beachtenden Beteiligten und ihrer Interessen erleichtern.

I. Anforderungen mitgliedstaatlicher Verfassungen an den Integrationsprozess

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I. Anforderungen mitgliedstaatlicher Verfassungen an den Integrationsprozess Neben den durch die verfassungsrechtliche Rechtsprechung einiger Mitgliedsstaaten bereits formulierten Anforderungen an die Ausgestaltung und Weiterentwicklung des Gemeinschaftsrechts15 bestehen in einigen Verfassungen darüber hinaus ausdrückliche Vorgaben über die Art und Weise einer möglichen Delegation von Hoheitsgewalt an die Europäische Union sowie über deren Ausübung16, teils – und vorliegend von besonderem Interesse – gerade auch im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip.

1. Deutschland Für die Einbindung des Mitgliedstaates Deutschland in die Europäische Union ist aus staatsrechtlicher Sicht Art. 23 GG vorrangig von Bedeutung, der vor der Wiedervereinigung zunächst nur Aussagen über den räumlichen Geltungsbereich des Grundgesetzes, insbesondere den Beitritt weiterer Gebiete enthielt, nach dem Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland jedoch gegenstandslos wurde.17 Seit der – dann im Übrigen auch vom Abschluss des Vertrages über die Europäische Union veran___________ 15 BVerfGE 37, 271 (285); 52, 187 (202/203); 73, 339 (387); 75, 223 (242); 89, 155 (184); BVerfG in: NJW 2000, 3124 (3125) „Deshalb muss die Begründung der Vorlage eines nationalen Gerichts oder einer Verfassungsbeschwerde, die eine Verletzung in Grundrechten des Grundgesetzes durch sekundäres Gemeinschaftsrecht geltend macht, im Einzelnen darlegen, dass der jeweils als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz generell nicht gewährleistet ist. (...) Hieran fehlt es.“; zu letzterer Entscheidung siehe nur Everling in: 33 CMLRev. 1996, 401 (402); allgemein Hirsch in: 49 JöR 2001, 79 (82); für Urteile in anderen Mitgliedstaaten siehe nur die weiterführende Nachweise bei Sasse in: FS Ipsen 1977, 701 (703) und Craig/de Burca, 285–315. 16 So hat die Verfassung der Republik Finnland vom 1. März 2000, die an die Stelle der Verfassung vom 17. Juli 1919 getreten ist, mit Absatz 3 des Art. 94 eine allgemein auf das Demokratieprinzip bezogene Regelung im Kapitel 8 – International Relations – aufgenommen: „An international obligation shall not endanger the democratic foundations of the Constitution.“; siehe auch Art. 88-I der französischen Verfassung vom 4. Oktober 1958: „La République participe aux Communautés européennes et à l’Union européenne, constituées d’Etats qui ont choisi librement, en vertu des traités qui les ont instituées, d’exercer en commun certaines de leurs compétences.“; für eine weiterführende Übersicht siehe nur Streinz in: FS Steinberger 2001, 1437 (1458f.); Albi in: 42 CMLRev. 2005, 399 (400f.); Schroeder, 170–192. 17 Brockmeyer in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 23 GG, Rn. 1; Geiger, 182; Bauer in: Handbuch des Staatsrechts – Band I, 699 (748); Bonini, 206; Foster/Sule, 49; Schmalenbach, 22; Scholz in: NJW 1992, 2593 (2594); Kröger, 158; Nußberger in: DÖV 2005, 357 (361).

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B. Das Rechtsstaatsprinzip im Gemeinschaftsrecht

lassten18 – Grundgesetzänderung vom 21. Dezember 1992 sind nun durch diese Bestimmung erstmals genaue Vorgaben formuliert, die der deutsche Gesetzgeber bei seiner weiteren Beteiligung an dem europäischen Integrationsprozess zu beachten hat und die sich unmittelbar auf die Ausübung von Hoheitsgewalt durch die Europäische Union und ihre organisatorische Struktur beziehen. So wirkt die Bundesrepublik Deutschland entsprechend Art. 23 I 1 GG zur Verwirklichung eines vereinten Europas bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, „die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet“ (Hervorhebung d. Verf.). Dabei nimmt Art. 23 I 1 GG zum einen Bezug auf die Präambel, nach der das deutsche Volk „von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinigten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“ sich dieses Grundgesetz als Verfassung gegeben hat und konkretisiert die damit bereits als Grundentscheidung der deutschen Staatsordnung anzusehende allgemeine Offenheit zur Zusammenarbeit mit anderen Staaten für den europäischen Raum.19 Die inhaltliche Bedeutung von Art. 23 I 1 GG geht jedoch über eine lediglich wiederholende Betonung dieser bereits in der Präambel deutlich werdenden Integrationsbereitschaft hinaus. Vielmehr sollen die im Einzelnen aufgezählten Staatsstrukturen, die im innerstaatlichen Bereich bereits von Art. 79 III GG geschützt werden, auch im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht in ihrem Kernbereich ausdrücklich eine Sicherung erfahren.20 Zwar vermag Art. 23 I 1 GG unmittelbar nur Wirkungen gegenüber dem deutschen Gesetzgeber und der Regierung bei deren Mitwirkung am europäischen Integrationsprozess zu entwickeln. Diese Wirkungen nehmen aber wiederum auch Einfluss auf die weitere europarechtliche Entwicklung. Zwar prüft das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich nicht die Rechtmäßigkeit von Gemeinschaftsrechtsakten, sofern keine substantiierte Darlegung einer möglichen Grundrechtsverletzung dargelegt wird. Eine solche verfassungsrechtliche Überwachung erfolgt aber immerhin mittelbar bei der Überprüfung nationaler Umsetzungsakte von europarechtlichen Vorgaben. In diesem Zusammenhang findet durch das Bundesverfassungsgericht insbesondere Berücksichtigung, inwieweit der Gesetzgeber auch von den ___________ 18

Siehe zu diesem Hintergrund nur ausführlich die Darstellung bei König, 138. BVerfGE 6, 309 (362); 18, 112 (121); 31, 58 (75); 73, 339 (386); Bleckmann in: DÖV 1979, 309 (312); Scholz in: NJW 1992, 2593 (2598); Jarass in: Jarass/Pieroth, Art. 23 GG, Rn. 5; Schmalenbach, 56; Bonini, 196. 20 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 320; Schmalenbach, 58; Bauer in: Handbuch des Staatsrechts – Band I, 699 (748); Jarass in: Jarass/Pieroth, Art. 23 GG, Rn. 7; Streinz, 84, Rn. 234; Sannwald in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 79 GG, Rn. 8; Nußberger in: DÖV 2005, 357 (361); König, 282; Tiedtke, 81. 19

I. Anforderungen mitgliedstaatlicher Verfassungen an den Integrationsprozess

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sich ihm im Einzelfall bietenden verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten Gebrauch gemacht hat.21 Darüber hinausgehend wirkt jedoch diese mitgliedstaatliche Bezugnahme auf das Rechtsstaatsprinzip mittelbar auch auf das Gemeinschaftsrecht und seine Fortentwicklung dahingehend, dass ein weiteres Engagement der Bundesrepublik Deutschland in einer sich von diesen Grundsätzen entfernenden Europäischen Union allgemein ausgeschlossen wird.22

2. Portugal Auch die Verfassung der Portugiesischen Republik vom 2. April 1976 – zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. September 1997 (3. Revision) – weist eine dem Art. 23 I 1 GG vergleichbare Bestimmung auf, die jede weitergehende Beteiligung an dem Europäischen Integrationsvorhaben gewissen Schranken unterwirft. So bestimmt Art. 7 (6) der portugiesischen Verfassung im Hinblick auf die Europäische Union: „Provided there is reciprocity, Portugal may enter into agreements for the joint exercise of the powers necessary to establish the European Union in ways that have due regard for the principle of subsidiarity and the objective of economic and social cohesion.“ Auffällig an dieser mitgliedstaatlichen Bestimmung ist zunächst die Betonung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts. Diese Besonderheit ist indes für die gesamte Portugiesische Verfassung kennzeichnend und unter Berücksichtigung der zu der Verfassungsgebung allgemein führenden Ereignisse in Portugal nachvollziehbar. So wird nicht nur in der Präambel bereits die historische Bedeutung der „Nelkenrevolution“ hervorgehoben und die Errichtung eines sozialistischen Gesellschaftssystems ausdrücklich als Möglichkeit anerkannt.23 Auch die nachfolgenden Bestimmungen weisen eine deutliche gesellschaftspolitische Ausrichtung ___________ 21

Knopp in: JR 2005, 448 (451); Vogel in: JZ 2005 801 (805). Jarass in: Jarass/Pieroth, Art. 23 GG, Rn. 7; Schmalenbach, 100; Dyèvre in: 30 ELRev. 2005, 165 (180); Bauer in: Handbuch des Staatsrechts – Band I, 699 (749); Maidowski in: JuS 1988, 114 (118); Herdegen in: EuGRZ 1992, 589 (593); näher zu einer möglichen Beendigung siehe Zuleeg in: JZ 1994, 1 (7); insgesamt kritisch gegen die Einführung von Art. 23 GG aufgrund des unklaren Wortlauts siehe jedoch auch von Simson/Schwarze in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), 53 (110). 23 In diesem Sinne siehe die Präambel „On 25 April 1974, the Armed Forces Movement, setting the seal on the Portuguese people’s long resistance and interpreting its deep-seated feelings, overthrew the fascist regime. The liberation of Portugal from dictatorship, oppression and colonialism represented a revolutionary change and a historic new beginning in Portuguese society. (...) The Constituent Assembly affirms the Portuguese people’s decision to (...) safeguard the primacy of the rule of law in a democratic state and to open the way to socialist society, with respect for the will of the Portuguese people and the goal of building a freer, more just, and more fraternal country.“ 22

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B. Das Rechtsstaatsprinzip im Gemeinschaftsrecht

auf, die im Weiteren der Verwirklichung von Werten der Freiheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit dienen sollen. Vor allem Art. 1 der Portugiesischen Verfassung, der Portugal als eine souveräne Republik kennzeichnet, die sich auf die Grundsätze der Menschenwürde und des Volkswillens gründet und vor seiner Änderung durch Gesetz vom 8. Juli 1989 als Ziel die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft vorsah, hat in diesem Zusammenhang besondere Bekanntheit erlangt.24 Neben der wirtschaftlichen und sozialen Einbindung des Europäischen Integrationsprozesses fordert Art. 7 (6) darüber hinaus die angemessene Beachtung des in Art. 5 EGV (nach der Verfassung Art. I-11 III) niedergelegten Subsidiaritätsprinzips. Dieser die vertikale Gewaltenteilung zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaftsebene betreffende Grundsatz ist eng mit dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung verbunden, so dass sich schließlich auch eine gewisse Bezugnahme auf ein zugegeben weit verstandenes Rechtsstaatlichkeitsprinzip25 in der Portugiesischen Verfassung feststellen lässt.

3. Griechenland Als Grundlage der Beteiligung der Republik Griechenlands am Europäischen Integrationsprozess ist Art. 28 der griechischen Verfassung vom 11. Juni 1975 zu nennen. Dessen Absatz 3 ermöglicht Griechenland in allgemeiner Form – der Antrag auf Beitritt zu der Europäischen Gemeinschaft erfolgte am 12. Juni 1975 – die Übertragung von Hoheitsrechten an eine internationale Organisation und die damit gleichzeitig einhergehende Entwicklung zu einer nur noch eingeschränkt gegebenen Ausübung der nationalen Souveränität. Voraussetzung für eine derartige Entscheidung des Parlaments ist zunächst überhaupt ein entsprechendes wichtiges nationales Interesse und hat zusätzlich unter Beachtung der folgenden Anforderungen zu erfolgen: „Greece shall freely proceed (...) to limit the exercise of national sovereignty, insofar as this (...) does not infringe upon the rights of man and the foundations of democratic government and is effected on the basis of the principles of equality and under the condition of reciprocity.“ Bei einer näheren Betrachtung dieser Anforderungen ist vor allem die Hervorhebung der demokratischen Strukturen auffällig. Ungeachtet der ___________ 24

Das Ziel der Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft („classless society“) ist nunmehr durch die einer „free and just society united in its common purposes“ ersetzt. 25 So beispielsweise di Fabio in: Handbuch des Staatsrechts – Band II, 613 (618); allgemein zum Zusammenhang von Gewaltenteilung und Föderalismus Schambeck in: FS Geiger 1974, 643 (661); Häberle, 425; siehe aber auch nur Sobota, 76, die im Hinblick auf einen derart weit verstandenen Gewaltenteilungsgrundsatz auf Abgrenzungsschwierigkeiten zur Bundesstaatlichkeit aufmerksam macht.

I. Anforderungen mitgliedstaatlicher Verfassungen an den Integrationsprozess

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teilweise geäußerten erheblichen Einwände gegen die Verfassung vom 11. Juni 1975, die als autoritär und undemokratisch beurteilt wurde26, ist diese Betonung der zu achtenden demokratischen Grundlagen vor dem Hintergrund der in Griechenland im Zeitraum von 1967 bis 1974 bestandenen Militärdiktatur leicht nachvollziehbar. So gab es offenbar ein deutliches Bedürfnis, die gerade erst wieder erlangten Freiheiten und politischen Rechte auch im Rahmen der Außenbeziehungen ausdrücklich zu schützen. Neben der schon aus der Portugiesischen Verfassung bekannten weiteren Bezugnahme auf das Prinzip der Gegenseitigkeit ist in der griechischen Verfassung darüber hinaus jedoch nicht eine – vor allem im Rahmen der vorliegenden Arbeit besonders interessante – ausdrückliche Einbindung des Europäischen Integrationsprozesses in rechtsstaatlicher Hinsicht vorgesehen. Nur mittelbar lässt sich eine solche Bindung mit dem Hinweis auf die zu bewahrenden individualrechtlichen Schutzpositionen und der damit einhergehenden Notwendigkeit einer unabhängigen Gerichtsbarkeit begründen.

4. Schweden Das Königreich Schweden hatte bereits in seiner am 1. Januar 1975 in Kraft getretenen Verfassung – noch vor jeder aktiven Teilnahme am Europäischen Einigungsprozess – gewisse Vorgaben über das Ausmaß einer möglichen Delegation von Hoheitsgewalt, wenn auch noch in unbestimmter Form formuliert. So findet sich in Kapitel 10 – Beziehungen zu anderen Staaten und internationalen Organisationen – in Art. 5 II immer noch die folgende Aussage: „In all other cases, a right of decision-making (...) may be transferred, to a limited extent, to an international organisation (…).“ Da eine mit dem Beitritt zur Europäischen Union erfolgende weitreichende Übertragung von Hoheitsrechten von dieser Bestimmung nicht mehr erfasst gewesen wäre, ist Artikel 5 durch das Gesetz Nr. 1994:1375 neu gefasst worden. Absatz 1 besagt nun: „The Riksdag may transfer a right of decision-making to the European Communities so long as the Communities have protection for rights and freedoms corresponding to the protection provided under this Instrument of Government and the European ___________ 26

Siehe nur das bei Kassaras, 79 abgedruckte und sich auf die Verfassung beziehende Zitat des Oppositionellen PASOK-Führers Andreas Papandreou: „Sie ist nicht parlamentarisch, weil sie kein Verfahren vorsieht, das der politischen Kraft, die die Mehrheit der abgegebenen Stimmen des Volkes erhält, auch eine Mehrheit der Sitze im Parlament verschafft. Sie ist nicht präsidial, weil der Präsident nicht durch das Volk gewählt wird und vom Parlament nicht kontrolliert wird. Nach seiner Wahl durch das Parlament verwandelt er sich zum Cäsar. Die verabschiedete Verfassung ist in der Tat eine Wiederholung des Experiments der cäsaristischen Demokratie in der Verfassung von Papadopoulos von 1973.“

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B. Das Rechtsstaatsprinzip im Gemeinschaftsrecht

Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms.“ Mit dieser Bestimmung soll demnach verhindert werden, dass durch einen Beitritt Schwedens zur Europäischen Union bisher bestehende Individualrechte und Freiheiten Beschränkungen erfahren. Auch wenn eine gewisse Orientierung am deutschen Grundgesetz und seines Art. 23 I 1 als „Struktursicherungsklausel“ sowie vor allem an der „Solange-Rechtsprechung“ des Bundesverfassungsgerichts unverkennbar ist, liegt die Betonung der schwedischen Bestimmung jedoch nicht auf der Bewahrung bestimmter Verfassungsprinzipien oder innerstaatlich gesicherter Rechte, sondern vielmehr auf den durch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) geschützten und durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Weiteren konkretisierten Individualrechten. Damit hat der schwedische Gesetzgeber in sein nationales Recht eine Art. 1 EMRK entsprechende Bestimmung sowie die ständige Rechtsprechung des EGMR umgesetzt, nach der auch ein Beitritt zu einer supranationalen Gemeinschaft die einzelnen Vertragsstaaten nicht von ihren unter dem Regime der EMRK eingegangenen Verpflichtungen befreit.27 Aber auch über eine derart individualrechtlich gefasste mitgliedstaatliche Struktursicherungsklausel kann der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit mittelbar zur Geltung gebracht werden. So sieht Art. 6 I EMRK eine unabhängige Gerichtsbarkeit vor und formuliert damit eine bedeutsame Voraussetzung für jede Ausgestaltung einer effektiven Gewaltenteilung.

5. Die neuen Beitrittsstaaten Schließlich sollen noch stellvertretend für die am 1. Mai 2004 beigetretenen Mitgliedstaaten einige ihrer Verfassungen eine kurze Betrachtung erfahren. Auffällig ist an der Verfassung der Tschechischen Republik vom 1. Januar 1993 zunächst, dass sie – vergleichbar mit dem deutschen Grundgesetz – bereits in ihrer Präambel ein deutliches Bekenntnis zur Kooperation mit anderen Staaten enthält. So bekundet die Tschechische Republik ihre Zugehörigkeit ___________ 27

So im Hinblick auf die ESA Convention EGMR, Waite, Kennedy ./. Germany – Nr. 26083/94, RJD 1999-I, 393 (410), § 65 „It would be incompatible with the purpose and object of the Convention, however, if the Contracting Parties were thereby absolved from their responsibility under the Convention in relation to the field of activity covered by such attribution. It should be recalled that the Convention is intended to guarantee not theoretical or illusory rights, but rights that are practical and effective.“; EGMR, Matthews ./. The United Kingdom – Nr. 24833/94, RJD 1999-I, 251 (265), § 32 „The Convention does not exclude the transfer of competences to international organisations provided that the Convention rights continue to be secured. Member States’ responsibility therefore continues even after such a transfer.“; Ehlers in: Jura 2000, 372 (377); Grabenwarter, 27, Rn. 6.

I. Anforderungen mitgliedstaatlicher Verfassungen an den Integrationsprozess

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deutlich „as a member of the family of democratic nations of Europe and the world“28. Mit dieser Erklärung wird vor allem das auch während des Kalten Krieges andauernde Zugehörigkeitsgefühl der in der Tschechischen Republik verfassten Bevölkerung zu Europa bekräftigt. Mangels einer bereits konkret bestehenden Beitrittsmöglichkeit zum Zeitpunkt der Verfassungsgebung fehlen aber darüber hinausgehende Anforderungen an die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaftsrechtsordnung, die bisher auch noch nicht nachträglich eingefügt worden sind. Ungeachtet des Fehlens solcher ausdrücklicher Vorgaben für den europäischen Zusammenhang ist gleichwohl diesbezüglich von einer Bindung der beteiligten tschechischen Stellen an die allgemein dieser Verfassung zugrunde liegenden Grundsätze und mithin dem Rechtsstaatsprinzip auszugehen. Die Republik Polen hat mit Art. 90 I eine Bestimmung in ihre Verfassung vom 2. April 1997 aufgenommen, die allgemein zur Übertragung von Hoheitsrechten an internationale Organisationen wie folgt Stellung nimmt: „The Republic of Poland may, by virtue of international agreements, delegate to an international organization or international institution the competence of organs of State authority in relation to certain matters.“ Eine darüber hinausgehende besondere Bezugnahme auf die Übertragung von Hoheitsrechten an die Europäische Union und die Bedingungen, unter denen eine solche stattfinden kann, fehlt indes. Deutlich wird nach dem Wortlaut des Art. 90 I lediglich, dass die Übertragungsmöglichkeiten begrenzt sind und eine umfassende Integration mithin nicht vorgesehen ist. Heranzuziehen sind demnach auch für eine weitere Beteiligung Polens am Europäischen Prozess die allgemeinen Verfassungsprinzipien dieser Rechtsordnung. Unter anderem bestimmt Art. 10 I der Verfassung als grundlegendes Prinzip die Gewaltenteilung, so dass demnach auch von einer entsprechenden Verpflichtung zur Beachtung dieses Grundsatzes in den Außenbeziehungen auszugehen ist. In der Verfassung der Republik Estland vom 28. Juni 1992 findet sich zwar gleichfalls keine ausdrückliche Bezugnahme auf die Beteiligung an der Europäischen Union. Art. 120 und 123 I sehen aber vor, dass die in den internationalen Beziehungen von Estland geschlossenen Verträge mit der Verfassung vereinbar sein müssen. Diesbezüglich ist im Rahmen der vorliegenden Arbeit insbesondere auf Art. 4 zu verweisen, der die Gewaltenteilung wie folgt ausdrücklich benennt: „The work of the Parliament, the President of the Republic, the Government of the Republic, and the courts shall be organized on the principle of separate and balanced powers.“ Damit ist – wie bereits für Polen – von einer mittelbaren rechtsstaatlichen Einbindung des Europäischen Integrationsprozesses auch durch diese Verfassung auszugehen. ___________ 28

Siehe weiterführend nur Albi in: 42 CMLRev. 2005, 399 (407).

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B. Das Rechtsstaatsprinzip im Gemeinschaftsrecht

Ein ähnlicher Befund ergibt sich für die Republik Litauen. In ihrer Verfassung vom 25. Oktober 1992 sieht Art. 136 vor dass „The Republic of Lithuania shall participate in international organizations provided that they do not contradict the interests and independence of the State.“ Versteht man den Begriff der staatlichen Unabhängigkeit derart, dass er auch kennzeichnende Grundelemente des staatlichen Aufbaus umfasst, ist im Weiteren insbesondere Art. 5 beachtlich, der die Gewaltenteilung als Verfassungsprinzip festschreibt. Damit kann auch für diesen Mitgliedstaat von einer mittelbaren rechtsstaatlichen Einbindung der Beteiligungsmöglichkeiten am Europäischen Integrationsprozess ausgegangen werden. Die Republik Lettland hat in ihrer Verfassung vom 15. Februar 1922 mit den nachträglichen und bis 2003 erfolgten Änderungen nur eine Bestimmung aufgenommen, die eine notwendige Rückbindung der Beteiligung des Landes im Rahmen der Europäischen Union an Entscheidungen der parlamentarischen Vertretung oder aber die Durchführung eines Referendum vorsieht. So bestimmt Art. 68: „All international agreements, which settle matters that may be decided by the legislative process, shall require ratification by the Parliament. Membership of Latvia in the European Union shall be decided by a national referendum, which is proposed by the Parliament. Substantial changes in the terms regarding the membership of Latvia in the European Union shall be decided by a national referendum if such referendum is requested by at least onehalf of the members of the Parliament.“ Über dieses Erfordernis einer ausreichenden demokratischen Legitimation hinausgehend sind aber ausdrückliche inhaltliche Anforderungen, die Lettland bei seiner weiteren Beteiligung an der Europäischen Union zusätzlich zu beachten hat, zunächst nicht erkennbar. Zu denken ist aber wiederum an eine mittelbare Bindungswirkung allgemeiner Verfassungsprinzipien und damit vor allem an den aus einer Zusammenschau der Verfassungsbestimmungen deutlich in Erscheinung tretenden Grundsatz der Gewaltenteilung auch für den europäischen Zusammenhang. Schließlich ist auf Art. 2 a I der Verfassung der Ungarischen Republik vom 20. August 1949 mit den nachfolgenden Änderungen hinzuweisen, der sich auch bereits vor dem Beitritt mit der Mitgliedschaft Ungarns in der Europäischen Union beschäftigt hat.29 Eine besondere rechtliche Einbindung des Integrationsprozesses – unter Beachtung bestimmter verfassungsrechtlicher Prinzipien und insbesondere der Rechtsstaatlichkeit – ist aber auch hiernach noch ___________ 29

Absatz I des Art. 2 a (European Union) der Ungarischen Verfassung bestimmt: „By virtue of treaty, the Republic of Hungary, in its capacity as a Member State of the European Union, may exercise certain constitutional powers jointly with other Member States to the extent necessary in the connection with the rights and obligations conferred by the treaties (…).“; weiterführend siehe nur Albi in: 42 CMLRev. 2005, 399 (409); Nußberger in: DÖV 2005, 357 (362).

I. Anforderungen mitgliedstaatlicher Verfassungen an den Integrationsprozess

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nicht vorgesehen. Die Aufnahme entsprechender Bestimmungen in die jeweiligen Verfassungen der zehn am 1. Mai 2004 beigetretenen Mitgliedstaaten kann jedoch noch erwartet werden, da bisher zumeist nur allgemeine Regelungen der Übertragung von gewissen Befugnissen an internationale Organisationen bestehen und gleichzeitig einige Verfassungen ausdrückliche Bekenntnisse zur Rechtsstaatlichkeit enthalten. Eine vergleichbare Entwicklung ist auch für Bulgarien und Rumänien, die der Europäischen Union am 31. Dezember 2006 beigetreten sind, nicht auszuschließen. Die Rechtslage in den neuen Beitrittsstaaten erinnert demnach deutlich an die Rechtslage in Deutschland vor der Einführung des neuen Art. 23 GG.

6. Wirksamkeit solcher Struktursicherungsregeln Wie die vorangegangene kurze Darstellung gezeigt hat, hat sich eine nicht ganz unbeträchtliche Anzahl von Mitgliedstaaten dazu entschieden, ihre Verfassungen um Bestimmungen zu erweitern, die den Europäischen Integrationsprozess zumindest mittelbar auch in rechtsstaatlicher Hinsicht einzubinden versuchen.30 Daran anschließend stellt sich die Frage nach der Zielrichtung sowie Wirksamkeit solcher Bestimmungen. Im Gegensatz zu den immer wieder erhobenen Forderungen nach einer stärkeren Deckungsgleichheit der noch in der Entwicklung begriffenen Europäischen Rechtsordnung mit denen der einzelstaatlichen Verfassungen verwirklichen diese Bestimmungen eine hiervon abweichende Vorgehensweise. Indem der in Art. 23 I 1 GG enthaltene Auftrag sich nur an den deutschen Gesetzgeber wendet, unterliegt auch nur dieser bei der von ihm entsprechend vorgenommenen Mitwirkung an der Europäischen Einigung den genannten Strukturvorgaben. Notwendig ist demnach nicht jede Wiederkehr von aus dem deutschen Recht bekannten Verfassungsprinzipien; eine Forderung, die im Übrigen auch schwer vereinbar mit der Völkerrechtsfreundlichkeit und der damit einhergehenden Achtung fremder Rechtsordnungen durch das Grundgesetz wäre. Vielmehr ist der deutsche Gesetzgeber im Rahmen des Art. 23 I 1 GG – im Übrigen in vergleichbarer Weise wie durch die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts über den auf der Europäischen Ebene zu gewährleistenden Grundrechtsschutz31 – nur derart gebunden, dass eine nach Inhalt und Wirksamkeit im We___________ 30

Huber in: 38 EuR 2003, 574 (589); Albi in: 42 CMLRev. 2005, 399 (419); Streinz in: FS Steinberger 2001, 1437 (1466) betont denn auch ausdrücklich, dass es sich bei derartigen Verfassungsvorbehalten nicht um eine „deutsche Besonderheit“ handelt. 31 BVerfGE 73, 339 (387) „Solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten,

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B. Das Rechtsstaatsprinzip im Gemeinschaftsrecht

sentlichen gleiche Lage auch für die anderen Verfassungsprinzipien gewährleistet werden muss. Vollzieht man die im Rahmen der Neufassung des Art. 23 I 1 GG geführte Diskussion nach, so findet sich folgende von Josef Isensee in der öffentlichen Anhörung am 22. Mai 1992 gemachte Aussage: „Die Bundesrepublik Deutschland kann Europa und kann den übrigen Staaten nicht die Verfassungsstrukturen vorschreiben. Sie kann nur sich selbst binden und sagen, in welchen Homogenitätsvoraussetzungen sie sich weiter integriert.“32 Damit einhergehend ist nicht zu vernachlässigen, dass im Rahmen solcher Strukturklauseln es den Mitgliedstaaten weiterhin möglich bleibt, die eigenen Vorgaben den besonderen Strukturen der Gemeinschaft anzupassen33 und andererseits die einzelstaatlichen Vorstellungen bei der Ermittlung gemeineuropäischer Überzeugungen durch den Europäischen Gerichtshof an Bedeutung gewinnen können. So können diese Klauseln als Bestätigung bestimmter Verfassungsprinzipien die Herausbildung gemeinsamer Rechtsvorstellungen fördern. Mit einer solchen angepassten Übertragung werden auch schließlich nicht die Verfassungsprinzipien in ihrer inhaltlichen Bedeutung und Verbindlichkeit für einzelstaatliche Sachverhalte in Frage gestellt, da sie gerade nicht durch vollkommen neue Begriffe ersetzt werden. Lediglich die Unterschiede zwischen den beiden Ebenen werden durch die in den Struktursicherungsklauseln enthaltene Absage einer direkten Übertragung einzelstaatlicher Bewertungsgrundlagen demnach hinreichend berücksichtigt. Inwieweit mit der Formulierung derartiger Anforderungen darüber hinaus wirksam Einfluss auf die weitere Gestaltung der Gemeinschaft genommen werden kann, muss jedoch fraglich erscheinen. So würde zum einen – aufgrund der Vorrangigkeit des Gemeinschaftsrechts gegenüber den nationalen Rechtsordnungen34 – die Berufung eines Mitgliedstaates auf eine derartige Struktursiche___________ der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt, wird das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht (...) nicht mehr ausüben (...).“; Scholz in: NJW 1992, 2593 (2598). 32 So zitiert bei Schmalenbach, 60 m. w. N. 33 Beispielsweise siehe den vom Supreme Court of the Netherlands (Hoge Raad der Nederlanden), Civil Chamber am 21. März 2003 verhandelten Fall No- C01/327HR „Stichting Waterpakt, Stichting Natuur en Milieu, Vereniging Consumentenbond and three other v. State of the Netherlands“ sowie dessen Besprechung durch Besselink in: 41 CMLRev. 2004, 1429 (1447); König, 282; allgemein auch Calliess in: JZ 2004, 1033 (1042) „So gesehen stehen europäische und nationale Werteinhalte im Werteverband in einer Wechselbezüglichkeit, im Kontext derer nicht nur der abstrakt anerkannte europäische Wert mit Inhalt angereichert wird, sondern umgekehrt auch die nationalen Werte durch diesen befruchtet und mitgestaltet werden.“ 34 EuGH, Slg. 1964, 1251 (1270) Rs. 6/64 „Costa/Enel“; dabei ist diese Rechtsprechung maßgeblich durch EuGH, Slg. 1963, 1 (25) Rs. 26/62 „Van Gend en Loos/Nieder-

II. Ausdrückliche Bezüge auf das Rechtsstaatsprinzip im Gemeinschaftsrecht

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rungsklausel der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 226 EGV durch die Kommission (nach der Verfassung Art. III-360) oder nach Art. 227 EGV durch einen Mitgliedstaat (nach der Verfassung Art. III-361) keineswegs entgegenstehen. Zum anderen würde der von anderen Mitgliedstaaten daraufhin ausgeübte und in seiner faktischen Wirkung nicht zu unterschätzende politische Druck weiter bestehen bleiben. Andererseits könnte beim Auftreten eines solch schwerwiegenden Konflikts der betroffene Mitgliedstaat eine weitere Mitwirkung am Europäischen Einigungsprozess als untragbar erklären, so dass schlussendlich die Strukturklauseln insgesamt wohl doch als wirksame Mittel der Einflussnahme auf die weitere Entwicklung der Europäischen Union zu bewerten sind.35 Dabei wurde im Übrigen die Bedeutung solcher Bestimmungen durch den Text der Verfassung, der erstmals in Art. I-60 positivrechtlich die Möglichkeit des freiwilligen Austritts eines Mitgliedstaates aus der Union vorsah, noch erhöht.

II. Ausdrückliche Bezüge auf das Rechtsstaatsprinzip im Gemeinschaftsrecht Ausdrückliche Bezüge auf das Rechtsstaatsprinzip finden sich nur vereinzelt im Gemeinschaftsrecht. Dieser Befund lässt indes noch keine Rückschlüsse auf die diesem Prinzip in der Rechtsordnung allgemein zukommende Bedeutung zu. So finden sich auch in einer Anzahl mitgliedstaatlicher Verfassungen keine ausdrücklichen Verweise auf dieses Verfassungsprinzip. Dies weist jedoch nicht auf eine fehlende Verwirklichung des Rechtsstaatsprinzips in diesen Rechtsordnungen hin. Vielmehr macht es zum einen Schwierigkeiten der direkten Übertragung dieser deutschen Begriffsbildung in andere Sprachen deutlich.36 Zum anderen entspricht die ausdrückliche und umfassende Erwähnung ___________ ländische Finanzverwaltung“ – zur unmittelbaren Anwendbarkeit von Gemeinschaftsrecht – vorbereitet worden: „Solche Rechte entstehen nicht nur, wenn der Vertrag dies ausdrücklich bestimmt, sondern auch aufgrund von eindeutigen Verpflichtungen, die der Vertrag den Einzelnen wie auch den Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft auferlegt.“ 35 Brockmeyer in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 23 GG, Rn. 6; Jarass in: Jarass/Pieroth, Art. 23 GG, Rn. 7; Scholz in: NJW 1992, 2593 (2598); Schmalenbach, 61; Huber in: 38 EuR 2003, 574 (591); Nicolaysen in: Weidenfeld/Wessels (Hrsg.), 348 (356f.). 36 Scheuner in: Listl/Rüfner, 185 (185); Stern, Das Staatsrecht der BRD – Band I, 764; Robbers in: Thesing (Hrsg.), 24 (29); Kunig, 10; siehe aber auch für entsprechende Schwierigkeiten im Hinblick auf den Begriff der „rule of law“ nur Foster/Sule, 163; Fernandez Esteban, 66; Verhoeven, The EU in Search of a Democratic and Constitutional Theory, 19; Nádrai, 58.

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B. Das Rechtsstaatsprinzip im Gemeinschaftsrecht

von Verfassungsprinzipien auch nicht der Verfassungstradition aller Mitgliedstaaten.

1. Präambel des EUV Ein erster ausdrücklicher Bezug zur Rechtsstaatlichkeit als einer Grundlage von entscheidender Bedeutung für den weiteren Prozess der europäischen Integration ist in der Präambel des Vertrages über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 hergestellt. So haben die Mitgliedstaaten „In Bestätigung ihres Bekenntnisses zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit“ beschlossen, eine Europäische Union zu gründen. Aufgrund des allgemeinen Verhältnisses dieses Vertrages als einem Rahmenvertrag zu den anderen Verträgen kann diese Aussage auf die gesamte Gemeinschaftsrechtsordnung bezogen werden. Fraglich ist jedoch, inwieweit diesem in der Präambel enthaltenen Bekenntnis eine rechtliche Bedeutung im Sinne einer für die weitere Entwicklung der Gemeinschaft verbindlichen Verpflichtungserklärung beizumessen ist. Für die Beantwortung dieser Frage können die folgenden Bestimmungen des am 27. Januar 1980 in Kraft getretenen Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (WVK) herangezogen werden, die im Übrigen schon zuvor bestehende allgemeine Rechtsauffassungen wiedergeben: Danach ist als Vertrag entsprechend Art. 2 I a) WVK in der nach Art. 85 unter anderem authentischen englischen Fassung zunächst „an international agreement concluded between States in written form and governed by international law, whether embodied in a single instrument or in two or more related instruments and whatever its particular designation“ zu verstehen. Die einem solchen Vertrag im Sinne der WVK vorangehende Präambel vermag demnach zwar selbst keine Rechte und Pflichten der Vertragsparteien zu begründen. Ihr kommt jedoch im Rahmen der Auslegung nach Art. 31 II WVK Bedeutung zu. So lässt sie vergleichbar mit den einen Vertragsschluss vorbereitenden Materialien Rückschlüsse auf die Motivationslage der Vertragsparteien im Hinblick auf die getroffenen Vereinbarungen und den noch zukünftig geplanten Formen der Zusammenarbeit zu. Insbesondere bei einer derart dynamisch verfassten Präambel wie der des EUV kommt somit nicht nur zum Ausdruck, dass beim Vertragsschluss eine gemeinsame Überzeugung der beteiligten Mitgliedstaaten bestand, dass das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit auf der Gemeinschaftsrechtsebene zu beachten ist, sondern dass es auch für jede weitere Vertiefung der europäischen Integration maßgeblich sein sollte. Mit der Bezugnahme auf den Vorrang des Rechts in der Präambel des Vertrags über eine Verfassung für Eu-

II. Ausdrückliche Bezüge auf das Rechtsstaatsprinzip im Gemeinschaftsrecht

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ropa hat diese Selbstverpflichtung im Übrigen eine erneute Bestätigung erfahren.37

2. Art. 6 I EUV Im Weiteren bezeichnet der durch den Vertrag von Amsterdam vom 2. Oktober 1997 neu gefasste Art. 6 I EUV (nach der Verfassung der noch – um die Werte der Menschenwürde, Gleichheit und Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören – erweiterte Art. I-238) als Grundlagen der Union die Grundsätze der „Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit“ und nimmt demnach das in der Präambel bereits enthaltene Bekenntnis wortgleich wieder auf. Diese nur im Hinblick auf die Rechtsverbindlichkeit für die einzelnen Mitgliedstaaten sich von den zuvor gemachten Aussagen unterscheidende Wiederholung verdeutlicht die besondere Stellung, die gerade auch dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit unter dem EUV – und auch in der Verfassung – eingeräumt werden soll und spiegelt die allgemeine Entwicklung im Selbstverständnis von einer vorrangig durch gemeinsame Wirtschaftsinteressen verbundenen Gemeinschaft zu einer Rechts- und Wertegemeinschaft wieder. Nicht mehr nur der Vereinheitlichung der Wirtschafts- und Handelspolitiken der einzelnen Mitgliedstaaten wird folglich Bedeutung zugemessen, sondern auch die nähere Bestimmung gemeinsamer Grundüberzeugungen. Wie weitgehend der letztere Ansatz verfolgt wird, verdeutlicht im Übrigen in besonderer Weise Art. I-2 der Verfassung, der – neben den Grundlagen der Europäischen Union – auch Gemeinsamkeiten der durch die Bevölkerungen der Mitgliedstaaten neu gebildeten europäischen Gesellschaft erstmals benennt. ___________ 37

In dem Entwurf zum Vertrag über eine Verfassung fand sich in der Präambel noch die folgende Formulierung: „Schöpfend aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen, (…) und die zentrale Stellung des Menschen und die Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit seiner Rechte sowie den Vorrang des Rechts in der Gesellschaft verankert haben, (…) sind die hohen Vertragsparteien (...) wie folgt übereingekommen:“; in der vom Ministerrat schließlich angenommenen Fassung des Vertrages über eine Verfassung für Europa ist gerade der Bezug zur Rechtsstaatlichkeit noch deutlicher ausgestaltet: „Schöpfend aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben, (...) sind nach Austausch ihrer in guter und gehöriger Form befundenen Vollmachten wie folgt übereingekommen.“ 38 Hinsichtlich dieser fortschreitenden Festlegung auf gemeinsame Grundwerte ist darauf hinzuweisen, dass der vom Europäischen Konvent vorgelegte Entwurf zum Vertrag über eine Verfassung noch nicht die Minderheitenrechte benannte.

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B. Das Rechtsstaatsprinzip im Gemeinschaftsrecht

Danach sind die europäischen Grundwerte „(...) allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ Dass es sich hierbei lediglich um eine sehr programmatische Zielbestimmung handelt, die keineswegs notwendigerweise mitgliedstaatliche Wirklichkeiten abbildet und diese Bestimmung auch nicht unmittelbar Rechtspositionen für den einzelnen Unionsbürger begründet, ist offensichtlich. Doch könnte zum einen diese ausdrückliche Benennung die weiterführende Ausgestaltung entsprechender Ansprüche vorbereiten und fördern. Zum anderen ist – trotz des in dieser Hinsicht leicht missverständlichen Wortlautes des Art. I-2 – die bereits bestehende Bindungswirkung für die Europäische Union als der vorrangigen Verpflichtungsadressatin im Hinblick auf diese gemeinsamen Grundlagen nicht in Frage zu stellen. Auch wenn Art. 6 I EUV (nach der Verfassung Art. I-2) einige Grundwerte der Gemeinschaftsrechtsordnung ausdrücklich benennt, ist ihre inhaltliche und gemeinschaftsspezifische Bedeutung damit noch nicht hinreichend herausgearbeitet. So besitzen sie auf der Gemeinschaftsebene nicht zwangsläufig dieselbe Bedeutung wie in einem innerstaatlichen Zusammenhang. Dies begründet sich nicht nur aufgrund der verschiedenen Inhalte, die den einzelnen Prinzipien bereits in den unterschiedlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zukommen, sondern auch gerade aufgrund der im Gegensatz zu den staatlichen Systemen bestehenden größeren Offenheit des Integrationsprozesses. So findet bereits durch jede Vertragsänderung, die neue materielle Zuständigkeitsbereiche für die Gemeinschaft begründet oder bestehende erweitert, ausgesuchte Werte besonders betont sowie die Verfahren zur Gesetzgebung umgestaltet, auch jeweils eine neue Richtungsentscheidung für den gesamten Europäischen Einigungsprozess statt. Ungeachtet der damit einhergehenden gewissen Schwierigkeiten bei der Festlegung des zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden Geltungsanspruchs der einzelnen Werte kann indes nur nach einer solchen immer wieder neu erforderlichen „inhaltlichen Bestimmung“ der Europäische Integrationsprozesses in seiner Gesamtheit überhaupt auch im Hinblick auf die einzelnen Unionsbürger identitätsbildend wirken und legitimiert werden. Die gleiche Notwendigkeit besteht zwar auch im einzelstaatlichen Bereich, doch sind die Anforderungen an die nichtstaatliche Organisationsform der Europäischen Union als ungleich höher zu bewerten. Mit der ausdrücklichen Selbstverpflichtung auf ein bereits aus dem einzelstaatlichen Bereich bekannten Prinzip wird deutlich, dass ungeachtet der zwangsläufig bestehenden Besonderheiten der Europäischen Rechtsordnung im Vergleich zu den staatlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gleichwohl ein zumindest in seinen Kernaussagen vergleichbarer Beurteilungsmaßstab im

II. Ausdrückliche Bezüge auf das Rechtsstaatsprinzip im Gemeinschaftsrecht

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Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit verwendet werden soll.39 Trotz der Offenheit des Integrationsprozesses soll demnach entsprechend einer gemeinsamen Überzeugung aller Mitgliedstaaten die auf der Gemeinschaftsrechtsebene ausgeübte Hoheitsgewalt rechtlich gebunden sein. Die immer noch nicht gegebene Staatlichkeit der Europäischen Gemeinschaft soll einer solchen entsprechend angepassten Übertragung von bisher nur aus dem staatlichen Bereich bekannten Konzepten somit nicht entgegenstehen.40 Im Übrigen ist darauf zu verweisen, dass es sich ungeachtet der – aus deutscher Sichtweise – engen sprachlichen Anlehnung bei der „Rechtsstaatlichkeit“ nicht nur um ein staatsbezogenes Prinzip handelt. Dies zeigt bereits die im angloamerikanischen Recht übliche und diesbezüglich allgemeinere Bezeichnung der „rule of law“.

3. Charta der Grundrechte der Europäischen Union Auch die vom Europäischen Rat am 7. Dezember 2000 in Nizza feierlich proklamierte Charta der Grundrechte der Europäischen Union weist bereits in ihrer Präambel einen direkten sprachlichen Bezug zur Rechtsstaatlichkeit auf, indem sie als Grundlagen der Union wiederum die Grundsätze „der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit“ hervorhebt. Mit diesen deutlichen Bekenntnissen und den danach folgenden Rechten – klassische Abwehr- und Freiheitsrechte, politische Mitwirkungsrechte sowie soziale und wirtschaftliche Grundrechte – soll dabei der Charakter der Europäischen Union als einer Wertegemeinschaft und ihr Selbstverständnis als rechtsstaatlich verfasste Organisation zum Ausdruck gebracht werden. Darüber hinaus soll im Bereich des maßgeblich durch den Europäischen Gerichtshof entwickelten Grundrechtsschutzes durch eine umfassende Zusammenstellung der einzelnen Rechte die Übersichtlichkeit und Rechtssicherheit allgemein erhöht werden und damit auch der Bevölkerung eine Unterstützung des Integrationsprozesses insgesamt erleichtert werden. So können auf dem auf ihrer Grundlage errichteten Wertesystem im Weiteren neue Diskussionen über die gemeinsam zu entwickelnde europäische Rechtsordnung geführt werden. ___________ 39 Verhoeven, The EU in Search of a Democratic and Constitutional Theory, 322 „(…) national constitutional traditions offer both the reason why fundamental principles are to be respected by the Union and a basis for determining what these principles mean in the Union context.“; Calliess in: JZ 2004, 1033 (1042); Robbers in: Thesing (Hrsg.), 24 (29); ausführlich hierzu auch Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 8; so auch implizit Schmidt-Aßmann in: Handbuch des Staatsrechts – Band II, 541 (607). 40 Calliess in: JZ 2004, 1033 (1042); Pechstein in: Streinz, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 7; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 422.

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B. Das Rechtsstaatsprinzip im Gemeinschaftsrecht

Auch wenn die EU-Grundrechtscharta bisher als bloße Erklärung der allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Werte zu verstehen ist und sie eine rechtliche Bindung der in Art. 51 I der Charta der Grundrechte aufgeführten Adressaten nach dem erklärten Willen aller Mitgliedstaaten nicht zu bewirken vermag41, kann sie solche inhaltlichen Auseinandersetzungen fördern und hat auch bereits deutlichen Einfluss auf die weitere Entwicklung des Gemeinschaftsrechts genommen. Zum einen kann der Europäische Gerichtshof – oder auch die ihn bei seiner Arbeit unterstützenden Generalanwälte – die Charta, die immerhin die gemeinsamen Vorstellungen der Mitgliedstaaten zu den Grundrechten wiedergibt, bereits als zusätzliche Rechtserkenntnisquelle im Sinne von Art. 6 II EUV (nach der Verfassung Art. I-9 III) bei seiner Rechtsprechung heranziehen.42 Zum anderem hat sie Eingang in die Verfassung in den Art. II-61 bis II-114 gefunden. Mit deren Inkrafttreten war entsprechend Art. I-9 I auch die Rechtsverbindlichkeit dieser Grundrechte vorgesehen gewesen. Demnach sollten sie zukünftig nach Art. II-111 bei der Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen durch die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union sowie durch die Mitgliedstaaten – nicht jedoch bei jedem hoheitlichen Tätigwerden der einzelnen Mitgliedstaaten43 – zu beachten sein. Die in der Charta aufgeführten Rechte sollten schließlich nach Art. II-113 der Verfassung nicht als Einschränkungen von bereits in einem anderen Zusammenhang gewährten Rechtspositionen auszulegen sein. Es sollte den Mitgliedstaaten somit weiterhin möglich sein, in von ihnen als besonders sensibel beurteilten Bereichen ein höheres Schutzniveau zu gewähren. Ungeachtet der damit eröffneten Möglichkeit eines – trotz des Gemeinschaftsbezuges – bis zu einem gewissen Grade unterschiedlich ausgestalteten Individualschutzes sollten mit Inkrafttreten der Verfassung demnach wichtige rechtsstaatliche Forderungen umgesetzt werden. Schließlich war durch die in Art. II-107 gewährleistete Unabhängigkeit der Gerichte eine bedeutsame Voraussetzung jeder Form der Gewaltenteilung ausdrücklich bestimmt.

___________ 41

Siehe für eine umfassende Bewertung der Charta nur Haltern, Europarecht und das Politische, 211. 42 Eeckhout in: 39 CMLRev. 2002, 945 (947); Nicolaysen in: 38 EuR 2003, 719 (736); Monar in: Integration 2005, 16 (22); .Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 41 m. w. N. 43 Siehe für mögliche Weiterentwicklungen Scheuning, dessen Ausführungen im Übrigen durch Art. I-9 III der Verfassung gestützt werden können, in: EuR 2005, 162 (191) „Die Hervorhebung der Durchführungskonstellationen im Verfassungstext ist nur als Bekräftigung einer bestimmten Bindungskonstellation und nicht etwa als Verbot richterrechtlicher Fortführung und Neuerschließung weiterer Bindungskonstellationen bei hinreichend engem Unionsrechtsbezug mitgliedstaatlichen Handelns zu bewerten.“

III. Mittelbare Bezugnahme auf das Rechtsstaatsprinzip – Art. 7 EUV

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III. Mittelbare Bezugnahme auf das Rechtsstaatsprinzip – Art. 7 EUV Eng verbunden mit dem Art. 6 I EUV (nach der Verfassung Art. I-2) ist der auf ihn im Weiteren verweisende Art. 7 EUV (nach der Verfassung in geänderter Form Art. I-59), der erstmals in der Gemeinschaftsrechtsordnung sich mit der Frage beschäftigt, mit welchen Sanktionsmechanismen einer möglichen Verletzung der im Vertrag ausdrücklich niedergelegten fundamentalen Grundsätze durch einen einzelnen Mitgliedsstaat begegnet werden soll. Danach ist nach der Feststellung einer solchen Verletzung im weiteren Verfahren die Aussetzung bestimmter Rechte des betroffenen Mitgliedstaates möglich.44 Mit der Einführung dieses Sanktionsmechanismus hat die Gemeinschaft in bisher unbekannter Weise ihrem Anliegen Ausdruck verliehen, als Rechtsgemeinschaft sowohl von Dritten als auch gerade von den in ihr verfassten Staaten wahrgenommen zu werden. Eine tatsächliche Anwendung hat dieser Sanktionsmechanismus bisher jedoch nicht gefunden, auch nicht in der Form einer bloßen Feststellung, was unter anderem auf die vor allem in seiner ursprünglichen Fassung besonders hohen Anforderungen an einer gemeinsamen diesbezüglichen Überzeugung der anderen Mitgliedstaaten – nämlich des Einstimmigkeitserfordernisses im Rat – zurückzuführen war. Eine wirksame Überwachung in rechtsstaatlicher Hinsicht ist demnach auch nach Einführung des Art. 7 EUV (nach der Verfassung Art. I-59) noch nicht von den Gemeinschaftsorganen oder anderen Mitgliedstaaten vorgenommen worden. Vielmehr bleibt eine entsprechende Rechtmäßigkeitskontrolle somit weiterhin dem Europäischen Gerichtshof in der Gemeinschaftsrechtsordnung vorbehalten, der nach Art. 220 EGV (nach der Verfassung Art. I-29 I) bei seiner Auslegung und Anwendung dieses Vertrages die Wahrung des Rechts zu sichern hat. Losgelöst von einem unmittelbaren Gemeinschaftsbezug ist seine Zuständigkeit, innerstaatliche Rechtsentwicklungen zu bewerten, jedoch im Verhältnis zu den jeweiligen nationalen Verfassungsgerichtsbarkeiten stark eingeschränkt. Darüber hinaus ist insbesondere seine Zuständigkeit im Hinblick auf den Sanktionsmechanismus des Art. 7 EUV (nach der Verfassung Art. I-59) nach Art. 46 e) EUV (nach der Verfassung Art. III-371) weiterhin beschränkt auf die reinen Verfahrensbestimmungen als Entscheidungsgegenstand. Dass eine abschließende inhaltliche Rechtmäßigkeitskontrolle im Rahmen des Art. 7 EUV (nach der Verfassung Art. I-59) durch den Europäischen Gerichtshof somit gerade nicht vorgesehen ist, sagt einiges über den tatsäch___________ 44

Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 7 EUV, Rn. 2; Pechstein in: Streinz, EUV/EGV, Art. 7 EUV, Rn. 1; Schorkopf in: Griller/Hummer (Hrsg.), 103 (127); Oppermann, 212, Rn. 31.

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B. Das Rechtsstaatsprinzip im Gemeinschaftsrecht

lichen Entwicklungsstand der gemeinsamen europäischen Rechtsgemeinschaft aus. Festzustellen ist demnach, dass trotz der sehr ambitionierten Zielsetzungen die einzelstaatliche Souveränität in diesem hochsensiblen Bereich gewahrt bleibt. Zwar können die im Rat versammelten anderen Mitgliedsstaaten mit Zustimmung des Europäischen Parlaments eine Verletzung fundamentaler Grundsätze durch einen Mitgliedsstaat feststellen. Eine solche Feststellung hat aber keine über den Gemeinschaftsbezug hinausgehenden möglichen Auswirkungen. An dieser konkreten Ausgestaltung des Sanktionsverfahrens und vor allem der nur eingeschränkten Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshof zeigt sich somit deutlich, dass nach der gemeinsamen Überzeugung der Mitgliedstaaten der vorgebrachte Anspruch als Rechtsgemeinschaft keineswegs notwendigerweise die Entwicklung zu einer föderalen Ordnung mit auch einer umfassenden „Verfassungsgerichtsbarkeit“ beinhaltet.

1. Österreich Erste Überlegungen zu einer möglichen Anwendung des in Art. 7 EUV (nach der Verfassung Art. I-59) vorgesehenen Sanktionsmechanismus bestanden nach den in der Republik Österreich am 3. Oktober 1999 abgehaltenen Nationalratswahlen45, nach denen mit dem Abschluss der Koalitionsverhandlungen eine Regierungsbildung unter Beteiligung der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) zustande kam. Aufgrund ihres Parteiprogramms46 und den Äußerungen und Auftritten einiger ihrer führenden Persönlichkeiten wurden immer wieder Zweifel an der rechtsstaatlich-demokratischen Ausrichtung dieser Partei geäußert.47 Zwar wurden diese Bedenken auch auf der Gemeinschaftsebene aufgegriffen, ein Verfahren nach Art. 7 EUV (nach der Verfassung Art. I-59) aber nicht in der vorgesehenen Form angestrengt. Für die Republik Österreich trat nichtsdestotrotz eine vergleichbare Lage durch die von den anderen Mitgliedstaaten auf bilateraler Ebene verhängten Sanktionen ein. Dabei reichten ___________ 45 Die Stimmverteilung gestaltete sich nach dem damaligen Wahlergebnis wie folgt 26, 9 % FPÖ, 26, 9 % ÖVP, 33, 2 % SPÖ, 7, 4 % Grüne. 46 Bei dem damaligen Parteiprogramm der FPÖ war von besonderem Interesse zum einen das Kapitel III: Österreich zuerst! und das Kapitel IX: Recht und Ordnung, sowie ihr 10-Punkte-Programm. 47 Hierfür sei nur auf den Rechtsstreit zwischen Dr. Jörg Haider/Univ. Prof. Dr. Anton Pelinka unter anderem über die Bezeichnung von nationalsozialistische Vernichtungslagern als „Straflager“ durch Herrn Haider hingewiesen, abgedruckt in: EuGRZ 2000, 392 und EuGRZ 2001, 246; im Übrigen siehe den Abschlußbericht der „Drei Weisen“, abgedruckt in: EuGRZ 2000, 404 (414) „Es gibt Gründe, die Beschreibung der FPÖ als eine rechtspopulistische Partei mit radikalen Elementen auch heute noch als zutreffend anzusehen.“

III. Mittelbare Bezugnahme auf das Rechtsstaatsprinzip – Art. 7 EUV

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diese Sanktionen vom Abbruch bilateraler Kontakte auf offizieller Ebene, der Nichtunterstützung österreichischer Kandidaten bei Wahlen in internationalen Organisationen, der Ausladung österreichischer Vertreter bei Feierlichkeiten bis hin zu öffentlichen Boykottaufrufen.48 Die später entsandte unabhängige Beobachtungsgruppe – bestehend aus Martti Ahtisaari, Jochen Frowein und Marcelino Oreja – kam in ihrem Abschlußbericht jedoch zu dem Ergebnis, dass keine Verletzung fundamentaler Grundsätze durch Österreich als Mitgliedstaat festzustellen sei, sondern vielmehr die österreichische Regierung für die gemeinsamen europäischen Werte eintrete.49 Die Sanktionen wurden daraufhin aufgehoben. Das Ergebnis des Abschlussberichts sowie die teils jede im diplomatischen Verkehr anerkannten Verhaltensweisen missachtende und auch unangemessene Vorgehensweise einiger mitgliedstaatlicher Vertreter ließ die gesamte Behandlung fragwürdig erscheinen.50 Als Folge ist denn durch den Vertrag von Nizza Art. 7 EUV (nach der Verfassung Art. I-59) insoweit geändert worden, dass zunächst ein „Frühwarnsystem“ – ein Verfahren des gemeinsamen Austausches, das vor allem dem jeweils betroffenen Mitgliedstaat eine Möglichkeit zur Stellungnahme einräumt – eingeführt worden ist. Darüber hinaus besteht zumindest eine Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs gemäß Art. 46 e) EUV (nach der Verfassung Art. III–371) hinsichtlich der Einhaltung der Verfahrensbestimmungen des Art. 7 EUV (nach der Verfassung Art. I-59).

2. Italien Nach den Wahlen vom 13. Mai 2001 sahen sich die übrigen Mitgliedstaaten einem erheblichen Druck von der Öffentlichkeit und bestimmten Medien da___________ 48 Siehe für eine nähere Darstellung Schorkopf, Die Maßnahmen der XIV EUMitgliedstaaten gegen Österreich, 27–29; Hau, 133ff. 49 Abschlußbericht der „Drei Weisen“, abgedruckt in: EuGRZ 2000, 404 (414) „Die Beachtung insbesondere der Rechte von Minderheiten, Flüchtlingen und Einwanderern bleibt nicht hinter der anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union zurück. (...) In manchen Bereichen, vor allem bei den Rechten nationaler Minderheiten, können die österreichischen Standards als den in anderen EU-Staaten überlegen angesehen werden.“; Schorkopf in: Griller/Hummer (Hrsg.), 103 (125); Duxbury in: 73 Nordic Journal of International Law 2004, 421 (454). 50 Hummer in: Hummer/Pelinka, 49 (50) äußert sich hierzu wie folgt „Die österreichische Regierung wurde in Summe sieben Monate und zehn Tage in einer Weise diplomatisch boykottiert und marginalisiert, wie dies unter befreundeten Nationen noch niemals der Fall war.“; Adamovich in: EuGRZ 2000, 399 (402); Pernthaler/Hilpold in: Integration 2000, 105 (106f.); Oppermann, 213, Rn. 32; Schorkopf in: Griller/Hummer (Hrsg.), 103 (103); Verhoeven, The EU in Search of a Democratic and Constitutional Theory, 351.

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B. Das Rechtsstaatsprinzip im Gemeinschaftsrecht

hingehend ausgesetzt, nunmehr auch gegen die Republik Italien vergleichbare Maßnahmen wie gegen Österreich zu beschließen. So führten die Koalitionsverhandlungen zu einer Regierungsbeteiligung der Alleanza Nazionale des Gianfranco Fini. Zwar bekennt sich die Alleanza Nazionale in ihrem Statut vom 21. Juli 1995 ausdrücklich zur Beachtung der demokratischen Prinzipien und verfolgt danach ihre Ziele unter Beachtung unter anderem des Wertes der persönlichen Freiheit.51 Ihre rechtspopulistische Ausrichtung ist jedoch unter anderem im Rahmen der Wahlen zum Europaparlament am 13. Juni 2004 deutlich geworden, wobei sie mit der Losung „Un solo interesse. Gli Italiani“ warb. Darüber hinaus war an der von Silvio Berlusconi geführten Regierung die Lega Nord beteiligt, die neben ihren frühen separatistischen Bemühungen insbesondere auch aufgrund rechtspopulistischer Äußerungen ihres Parteigründers – und nach Auseinandersetzungen unter anderem mit Gianfranco Fini von seinem Amt als Minister für institutionelle Reformen am 19. Juli 2004 zurückgetretene52 – Umberto Bossi immer wieder europaweite Beachtung durch die Medien gefunden hat.53 Auch in den bisherigen Wahlkämpfen hat die Lega Nord immer wieder Themen wie die Begrenzung der Zuwanderung – unter anderem 2001 mit der Losung „Stop! Immigrazione clandestina – Si ai bambini della Padania“54 – wirksam aufgenommen. Im Hinblick auf diese beiden Regierungsbeteiligungen ist es jedoch nicht zu vergleichbaren Äußerungen von Besorgnis durch die anderen Mitgliedstaaten wie nach den Wahlen in Österreich gekommen. Vielmehr führte ein Glückwunschschreiben des Kommissionspräsidenten Romano Prodi an Silvio Berlusconi vom 15. Mai 2001 zum Wahlerfolg mit dem Hinweis auf „Europe’s founding principles“ – verständlicherweise vor allem in Österreich – noch zu weiterer Irritation. ___________ 51

Im Bezug auf das Statut (Statuto Alleanza, approvato dall’Assemblea Nazionale il 21 luglio 1995) ist insbesonderezu verweisen auf: Capo 1 Finalità ed emblema „Alleanza Nazionale è un Movimento politico che ha il fine di garantire la dignità spirituale e le aspirazioni economiche e sociali del popolo italiano, nel rispetto delle sue tradizioni di civiltà e di unità, nella coerenza con i valori di libertà personale e di solidarietà generale, nella constante adesione ai principi democratici ed alle regole delle istituzioni rappresentative.“ 52 Für nähere Einzelheiten siehe den am 19. Juli 2004 im „Corriere della Sera“ erschienenen Artikel (Categoria: Primo Piano/Politica) „Umberto Bossi sceglie l’Europarlamento – Il leader leghista lascia la Camera dei deputati e il governo“, abzurufen unter: http://www.corriere.it. 53 Im Bezug auf das Statut (Statuto della Lega Nord per l’Indipendenza della Padania, approvato nel corso del Congresso Federale Ordinario del 1-2-3 Marzo 2002) ist von besonderen Interesse Art. 1 Finalità „Il movimento politico denominatio“ „Lega Nord (…) ha per finalità il conseguimento dell`indipendenza della Padania (…).“; siehe darüber hinaus auch die anderen auf der Seite abrufbaren Schriften von Umberto Bossi. 54 Eine Zusammenstellung der bisher verwendeten Wahlplakate findet sich auf der offiziellen Seite http://www.leganord.org/ unter „I manifesti della Lega Nord“.

III. Mittelbare Bezugnahme auf das Rechtsstaatsprinzip – Art. 7 EUV

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3. Dänemark Auch nachdem in Dänemark die rechtsliberale Venstre-Partei des Ministerpräsidenten Anders Fogh Rasmussen aus den Parlamentswahlen vom 20. November 2001 als stärkste Fraktion hervorgegangen war, ist wiederum kein Anlass durch die übrigen Mitgliedstaaten gesehen worden, über eine Verfahrenseinleitung nach Art. 7 EUV (nach der Verfassung Art. I-59) zu beraten. Zwar waren bereits im Wahlkampf rechtspopulistische Debatten geführt worden und vor allem eine unter Verkürzung des Rechtsschutzes für die betroffenen Personen einhergehende erhebliche Verschärfung des Asylrechts das erklärte Ziel auch der später gewählten Regierungspartei.55 Ungeachtet der damit zumindest teilweise vergleichbaren Ausgangslage mit derjenigen in der Republik Österreich sah sich diesmal unter anderem der deutsche Kanzler Gerhard Schroeder zu einem persönlichen Glückwunschschreiben an den neuen Ministerpräsidenten Anders Fogh Rasmussen veranlasst, mit dem er „ihm für seine zukünftige Tätigkeit Glück und Erfolg“ wünschte.56

4. Abschließende Beurteilung des Verfahrens nach Art. 7 EUV Der Sanktionsmechanismus nach Art. 7 EUV (nach der Verfassung Art. I-59) hat sich bisher noch nicht als ein wirksames Instrumentarium zur Wahrung und Achtung der in Art. 6 EUV (nach der Verfassung Art. I-2) niedergelegten Werte erwiesen. So ist es doch zumindest als bemerkenswert anzusehen, dass die bisher erste und einmalige Verhängung von Sanktionen, die jedoch unabhängig von Art. 7 EUV (nach der Verfassung Art. I-59) erfolgte, sich gerade gegen denjenigen Mitgliedstaat richtete, der sich zuvor maßgeblich für die Einführung der Art. 6 und 7 EUV (nach der Verfassung Art. I-2 und I-59) eingesetzt hatte. Gleichfalls ist auffällig, dass auch wenn nachfolgende Regierungsbildungen in anderen Mitgliedstaaten zu ähnlichen Bedenken hätten veranlassen können, eine Anwendung des Art. 7 EUV nur gegenüber Österreich in Erwägung gezogen worden ist. Festzuhalten bleibt somit, dass die im Zusammenhang mit Art. 7 EUV (nach der Verfassung Art. I-59) bisher getroffenen ___________ 55 So schrieb Eva Matter in der „Neue Zürcher Zeitung“ bereits am 16. November 2001 in dem Artikel „Mit rabiater Rhetorik auf Stimmenfang“: „Im dänischen Wahlkampf ist die Ausländerpolitik zum dominierenden Thema geworden. Der Ruf nach einer Verschärfung der Gesetzgebung erschallt nicht nur von der extremen Rechten. Auch die etablierten Parteien überbieten sich gegenseitig mit Vorschlägen zur Eindämmung der Einwanderung.“; siehe im Weiteren den Artikel wiederum von Eva Matter vom 21. November 2001 „Wahlsieg der Opposition in Dänemark“; beide Artikel sind abzurufen unter: http://www.nzz.ch. 56 So zitiert bei Hummer in: Hummer/Pelinka, 49 (53) m. w. N.

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B. Das Rechtsstaatsprinzip im Gemeinschaftsrecht

Entscheidungen der anderen Mitgliedstaaten vollständig dem politischen Bereich zuzuordnen sind. Die Größe und der Einfluss des betroffenen Mitgliedstaats scheinen sich jedoch nicht als allein entscheidend auszuwirken; zumindest bliebe unter solche Gesichtspunkten das wie gegenüber Italien ausgebliebene Vorgehen gegen Dänemark nur schwer erklärbar. Vielmehr scheinen die in der Europäischen Gemeinschaft versammelten Staaten insgesamt wesentlich zurückhaltender gegenüber diesem Instrumentarium geworden zu sein, auch wenn es seit seiner Änderung durch den Vertrag von Nizza nunmehr ein Vorverfahren aufweist. Als möglicher Grund hierfür können die Reaktionen in Österreich selbst auf die Sanktionen herangezogen werden, die bis zur Anregung eines Referendums über einen Austritt aus der Europäischen Union reichten.57 Des Weiteren könnte die nachfolgende Zurückhaltung auch gerade durch den Abschlußbericht für Österreich hervorgerufen worden sein, der doch mit gewisser Deutlichkeit der Vorgehensweise der anderen Mitgliedstaaten die Grundlage entzogen hat. Hiervon unabhängig bleibt die Frage interessant, inwieweit Art. 7 EUV (nach der Verfassung Art. I-59) nach der bisherigen Osterweiterung der Europäischen Union und dem damit verbundenen Beitritt der erst seit den 90er Jahren wieder rechtsstaatlich und demokratisch verfassten Staaten an Bedeutung gewinnen könnte. Aufgrund der weiterhin bestehenden hohen Anforderungen an eine gemeinsame Überzeugung aller übrigen Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine Verletzung der in Art. 6 I EUV (nach der Verfassung Art. I-2) genannten Grundsätze, einer Mehrheit von vier Fünfteln der Ratsmitglieder könnte Art. 7 EUV (nach der Verfassung Art. I-59) weiterhin bedeutungslos bleiben – ungeachtet der mit dem Beitritt keineswegs entfallenen Übergangsschwierigkeiten in den einzelnen neuen Mitgliedstaaten58 und der natürlich gleichfalls bestehenden Möglichkeit, dass einer der bisherigen 15 Mitgliedstaaten fundamentale Werte der Union verletzen kann. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang jedoch auf eine besondere Möglichkeit der Einleitung des Sanktionsverfahrens nach Art. 108 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments. Danach kann das Europäische Parlament bereits auf Antrag eines Zehntels seiner Mitglieder über die Aufforderung an die Kommission zur Verfahrenseinleitung nach Art. 7 EUV (nach der Verfassung Art. I-59) beraten und abstimmen und hat von diesem Recht bereits am ___________ 57

So der Hinweis bei Schorkopf, Die Maßnahmen der XIV EU-Mitgliedstaaten gegen Österreich, 38; für den vollständigen Text siehe: 445 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates XXI.GP „Volksbegehren für die NeuAustragung der EU-Volksabstimmung unter fairen Bedingungen“ mit der Fragestellung: „Soll der EU-Beitritt Österreichs außer Kraft gesetzt werden?“. 58 Siehe hierzu nur Szabó in: 33 Rechtstheorie 2002, 283 (284); Roos in: 33 Rechtstheorie 2002, 247 (257).

IV. Beitrittsanforderungen nach Art. 49 EUV

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22. April 2002 erstmals im Hinblick auf ein solches Verfahren gegen Italien Gebrauch gemacht.59 Dabei wiesen die Vertreter des Europäischen Parlaments in ihrem Entschließungsantrag auf das Fehlen sowohl der verfassungsmäßig vorgesehenen Anzahl der Mitglieder des Verfassungsgerichts – seit dem 21. November 2000 statt 15 nur 13 Richter – und der Abgeordnetenkammer – seit dem 30. Mai 2001 statt 630 nur 618 Abgeordnete – hin und betonten gleichzeitig die Rolle dieser beiden Organe bei der Gewährleistung unter anderem der Rechtsstaatlichkeit in Italien. Ihre Aufforderung an die Kommission, den Rat zur Feststellung einer Verletzung fundamentaler Grundsätze der Europäischen Union zu ersuchen, hatte zwar von vornherein nur geringe Erfolgsaussichten.60 Ungeachtet dessen lassen sich möglicherweise auf diesem Weg die durch den Vertrag von Nizza geschaffenen erweiterten Anwendungsbereiche des Art. 7 EUV (nach der Verfassung Art. I-59) zukünftig effektiver nutzen. Darüber hinaus kann bereits eine Befassung mit gewissen einzelstaatlichen Entwicklungen durch das Europäische Parlament die öffentliche Wahrnehmung und Diskussion beeinflussen und damit zumindest mittelbar ein erheblicher Einfluss auf den betroffenen Mitgliedstaat ausgeübt werden.

IV. Beitrittsanforderungen nach Art. 49 EUV Neben Art. 7 EUV (nach der Verfassung Art. I-59), der sich an die bereits in der Gemeinschaft verfassten Mitgliedstaaten richtet, dient auch der die Beitrittsanforderungen betreffende Art. 49 EUV (nach der Verfassung Art. I-58 I) der Gewährleistung der in Art. 6 I EUV (nach der Verfassung Art. I-2) aufgeführten Prinzipien und Grundsätze. Dass eine gewisse Homogenität der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen für eine erfolgreich verlaufende Integration notwendig ist, war bereits frühzeitig erkannt worden und entsprechende Anforderungen mussten von den jeweiligen Beitrittskandidaten früher als ungeschriebene Beitrittsvoraussetzung erfüllt werden. In seiner durch den Amsterdamer Vertrag geänderten Fassung enthält Art. 49 EUV (nach der Verfassung Art. I-58 I) nunmehr die maßgeblichen – jedoch nicht die einzigen – materiellrechtlichen Vorgaben für einen Beitritt zur Europäischen Union. Die Achtung der Grundsätze des Art. 6 I EUV (nach der Verfassung Art. I-2) ist nicht nur eine zwingende Beitrittsvoraussetzung, sondern schon die erste Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Beitrittsantrags überhaupt. Im Hinblick auf die Bedeutung, die Art. 6 I EUV (nach der Verfassung Art. I-2) als materiellrechtlicher Fundamentalnorm der Europäischen Union – gerade auch in ihrer ___________ 59

Europäisches Parlament, Sitzungsdokument B-5-0114/2002 vom 22. April 2002. Näher hierzu Hummer in: Hummer/Pelinka, 49 (58); siehe im Übrigen auch die darüber hinaus gehende allgemeine Einschätzung bei Calliess in: JZ 2004, 1033 (1036). 60

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B. Das Rechtsstaatsprinzip im Gemeinschaftsrecht

Bedeutung als Wertegemeinschaft – zukommt, erscheint dies mehr als berechtigt. Dabei muss insbesondere die bloße Absicht eines Staates, zukünftig die gemeinsamen Werte der Gemeinschaft zu achten, als ungenügend beurteilt werden.61 So hatte auch schon der ehemalige Präsident der EWG-Kommission Walter Hallstein diesbezüglich geäußert: „Aber die Anerkennung und praktische Respektierung der Menschenrechte in allen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft teilt sich doch auch als eine Verfassungseigenschaft der Gemeinschaft, die eine Rechtsgemeinschaft ist, so zwingend mit, dass ein Beitritt eines Staates undenkbar ist, in dem diese Rechte nicht vollgeachtet werden.“62

V. Länderberichte Im Rahmen des Beitrittsverfahrens der am 1. Mai 2004 beigetretenen zehn neuen Mitgliedstaaten sind seit Ende 1998 jährlich im Herbst Berichte von der Europäischen Kommission verfasst worden, die Aufschluss über den Entwicklungsstand in den neuen Beitrittskandidatenländern geben sollten. Gleiches gilt für die inzwischen gleichfalls beigetretenen Staaten Rumänien und Bulgarien sowie die noch laufenden Beitrittsverhandlungen mit unter Anderem der Türkei und Kroatien. Dabei dienen diese Berichte im Weiteren als Grundlage für die im Europäischen Rat zu fassenden Beschlüsse über die nähere Ausgestaltung der Beitrittsverhandlungen und auch für deren Ausdehnung auf andere Bewerberstaaten. Inhaltlich stellten diese häufig sehr umfangreichen Dokumente die bisherigen Beziehungen der Beitrittsstaaten mit der Europäischen Union dar und bewerteten die jeweilige Lage nach Maßgabe von politischen und wirtschaftlichen Kriterien. Zusätzlich gehen die Berichte auf die Fähigkeit der einzelnen Staaten zur Übernahme des gemeinschaftsrechtlichen Besitzstandes ein, um dann mit einer letzten Zusammenfassung der einzelnen Bewertungen und einer Formulierung von Schlussfolgerungen und teilweise auch mit Empfeh___________ 61 Verhoeven, The EU in Search of a Democratic and Constitutional Theory, 347; Hatje in: EuR 2005, 148 (152); Langenfeld in: ZRP 2005, 73 (74); Oppermann, 700, Rn. 10; Pechstein in: Streinz, EUV/EGV, Art. 49 EUV, Rn. 4; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 1. 62 Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, 48; Verhoeven, The EU in Search of a Democratic and Constitutional Theory, 320 „The European Union cannot properly function lest a similiar homogeneity as regards basic values exists.“; Langenfeld in: ZRP 2005, 73 (74); Cremer in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 49 EUV, Rn. 9 „Darüber hinaus (…) muß ein Staat, um nach Art. 49 beitrittsfähig zu sein, die in Artikel 6 Abs.1 genannten Grundsätze (...) achten.“; dass aber neben diesen vom jeweiligen Beitrittsstaat zu erfüllenden Voraussetzungen noch andere entscheidungserhebliche Umstände treten können, haben die Diskussionen zu einem möglichen EU-Beitritt der Türkei gezeigt, siehe hierzu nur Joachim Fritz-Vannahme „Auf dem Gipfel der Verzagten“ in: Die Zeit Nr. 52 vom 16. Dezember 2004.

VI. Entwicklung eines entsprechenden allgemeinen Rechtsgrundsatzes

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lungen für weitere Reformen zu enden. Im Rahmen der politischen Kriterien wird dabei regelmäßig auf die Beachtung und Verwirklichung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und dem Minderheitenschutz eingegangen und die Fortschritte auf dem Weg zum Beitritt damit nach den Kopenhagener Kriterien bewertet. So hatte bereits 1993 der Europäische Rat in Kopenhagen die „institutionelle Stabilität als Garantie für die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte sowie Achtung und Schutz von Minderheiten“ als politische Beitrittsanforderungen festgelegt, die nachfolgend in Art. 6 I EUV (nach der Verfassung Art. I-2) aufgenommen worden sind. Aufgrund der leichten Zugänglichkeit der im Internet abrufbaren Berichte können diese Entwicklungen in den jeweiligen Staaten, die im Fall der am 1. Mai 2004 beigetretenen Staaten in ihren Verfassungen auch überwiegend deutliche Bekenntnisse zur Rechtsstaatlichkeit aufgenommen haben63, sowie in den bisherigen Mitgliedstaaten von einer großen Öffentlichkeit verfolgt werden; dies wird als Mittel der Einflussnahme auch bewusst genutzt. Neben den unmittelbaren Auswirkungen der Berichte auf die einzelnen Beitrittskandidaten soll durch diese über eine gewisse Dauer erfolgende Beobachtung darüber hinaus aber auch die Europäische Union als eine der Rechtsstaatlichkeit in besonderer Weise verpflichtete Organisation von außen wahrgenommen werden.

VI. Entwicklung eines entsprechenden allgemeinen Rechtsgrundsatzes Zum Europäischen Gemeinschaftsrecht zählen neben den Gründungsverträgen und ihren nachfolgenden Änderungen die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts. Diese Rechtsgrundsätze werden vom Europäischen Gerichtshof im Wege einer wertenden Rechtsvergleichung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen unter Berücksichtigung spezifischer Gemeinschaftsinteressen gewonnen.64 Besondere Bekanntheit hat in diesem Zusammenhang seine Rechtsprechung zu den Grundrechten im Gemeinschaftsrecht erlangt, die sich sowohl auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen wie auch auf die in der EMRK aufgeführten Grundrechte gestützt hat und eine nachfolgende Bestätigung durch Art. 6 II EUV (nach der Verfassung Art. I-9 III) erfahren hat. ___________ 63 Ismayr in: Ismayr (Hrsg.), 9 (13) nennt als Ausnahmen lediglich Lettland und Litauen; für Litauen ist hinsichtlich des Gewaltenteilungsgrundsatzes indes Art. 5 zu beachten und für Lettland kann ein ähnlicher Befund diesbezüglich durch eine Gesamtbetrachtung der Verfassung festgestellt werden. 64 Suski, 97; Oppermann, 144, Rn. 21; Streinz, 130, Rn. 380; Reich, 30; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 33.

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B. Das Rechtsstaatsprinzip im Gemeinschaftsrecht

Für die Entwicklung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes, der inhaltlich dem Rechtsstaatsprinzip entspricht, müsste demnach zunächst dieses Prinzip als eine kennzeichnende Gemeinsamkeit der mitgliedstaatlichen Verfassungen zu beurteilen sein. Bei dem Rechtsstaatsprinzip handelt es sich um ein rechtliches Konzept, das gewisse Anforderungen an die Ausübung staatlicher Macht enthält und das in seinen Grundaussagen auch in allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen bekannt ist.65 So sind die Bindung staatlicher Macht an das Gesetz, die Forderung nach Vertrauensschutz und damit einhergehend der Schutz vor rückwirkenden Gesetzen sowie der Vorrang des Gesetzes allgemeineuropäische Forderungen, die in dieser Form als Grundlage zur Herausbildung gemeinsamer Rechtsgrundsätze herangezogen werden können. In der Einzelausprägung bestimmter Aspekte des Rechtsstaatsprinzips bestehen zwar – beispielsweise zwischen dem Konzept der Rechtsstaatlichkeit und der „rule of law“ – Unterschiede; diese sollen hier jedoch nicht vertiefend dargestellt werden. Vielmehr ist festzustellen, dass der Europäische Gerichtshof im Rahmen seiner Rechtsprechung zahllose Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips als für das Gemeinschaftsrecht gleichfalls erheblich anerkannt hat. Hierzu zählen der Vertrauensschutz des Einzelnen gegenüber hoheitlichen Maßnahmen und die Rechtssicherheit, die Rechtsschutzgarantie, die Grundrechte, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Gesetzesvorbehalt.66 Die Rechtsstaatlichkeit hat somit auch als allgemeiner Rechtsgrundsatz Eingang in die Gemeinschaftsrechtsordnung gefunden.

VII. Selbstverständnis als „Rechtsgemeinschaft“ Als eng verbunden mit dieser Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze ist das Selbstverständnis der Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft zu benennen. Auch wenn das Gemeinschaftsrecht immer noch hauptsächlich die Regelung wirtschaftlicher Zusammenarbeit betrifft und jede Form der weiterführenden politischen Zusammenarbeit demgegenüber bisher nur unvollkommen ausgestaltet ist, wird als kennzeichnend für die Gemeinschaftsrechtsordnung immer

___________ 65 Haratsch in: Demel (Hrsg.), 199 (207); Fuß in: DÖV 1964, 577 (578/581); Riedel in: Müller-Graff/Riedel, 77 (94); Schwarze in: DVBl. 1999, 1677 (1684); Rodriguez Iglesias in: NJW 1999, 1 (2); Zacker/Wernike, 75; Oppermann, 145, Rn. 23; Stern, Das Staatsrecht der BRD – Band I, 765; Nicolaysen in: Weidenfeld/Wessels (Hrsg.), 348 (349). 66 Für eine Übersicht siehe nur Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 19ff.; Pechstein in: Streinz, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 7; Fernandez Esteban, 160–176; Zuleeg, Der rechtliche Zusammenhalt der Europäischen Union, 141ff.

VII. Selbstverständnis als „Rechtsgemeinschaft“

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wieder der Begriff der Rechtsgemeinschaft herangezogen.67 So weist die Gemeinschaft zwar erhebliche Unterschiede zu jedem staatlich verfassten Gemeinwesen auf, ist aber andererseits aufgrund der höheren Regelungsdichte, der Wirkung der von ihr beschlossenen Rechtsakte sowie der besonderen Rolle, die dem Europäischen Gerichtshof beispielsweise im Vergleich zu Schiedsgerichten oder Gerichten in anderen Vertragsregimen zukommt, auch nicht mehr als internationale Organisation im klassischen Sinne anzusehen.68 Als Rechtsgemeinschaft erweist sich die Gemeinschaft demnach nicht nur dadurch, dass sie durch Recht begründet ist, sondern vielmehr auch gerade ihre Hauptaufgaben in der Rechtssetzung bestehen und sie bei deren Erfüllung der umfassenden Überwachung durch den Europäischen Gerichtshof unterliegt.69 So ist sie als Rechtsgemeinschaft den Grundsätzen der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in besonderer Weise verbunden, denen eine an die Gemeinschaftsstrukturen entsprechend angepasste Geltung zukommt.70 Der Begriff der Rechtsgemeinschaft bedeutet somit bezogen auf das Gemeinschaftsrecht vor allem, „dass das Recht hier nicht nur eine qualifizierende, sondern eine konstituierende Rolle erfüllt“71. Zwar ist dieser selbst formulierte Anspruch – bereits aufgrund der mit ihm im Weiteren gerade nicht verbundenen unmittelbaren rechtlichen Folgen – auch nicht überzubewerten. So scheint insbesondere der Gerichtshof im Rah___________ 67 Soweit nachweisbar, hat erstmals Walter Hallstein diesen Begriff auf die Gemeinschaft verwendet, so die Ausführungen von Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht in Einzelstudien, 113; Hirsch in: 49 JöR 2001, 79 (83); Oppermann, 282, Rn. 34; Kotzur in: DÖV 2005, 313 (317); Classen in: JZ 2006, 157 (157); Langenfeld in: ZRP 2005, 73 (74); Haltern, Europarecht und das Politische, 304; Zuleeg, Der rechtliche Zusammenhalt der Europäischen Union, 135; EuGH, Slg. 1991, I-6079 (I-6102) Gutachten 1/91 „Dagegen stellt der EWG-Vertrag, obwohl er in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossen wurde, nichtsdestoweniger die Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft dar.“ 68 Grams, 11; Suski, 103; Calliess in: JZ 2004, 1033 (1041); Grunwald in: Röttinger/Weyringer (Hrsg.), 43 (43); Streinz in: Streinz, EUV/EGV, Art. 7 EGV, Rn. 14; Beetham/Lord in: Weale/Nentwich (Hrsg.), 15 (32). 69 Fernandez Esteban, 109; Hirsch in: JöR 2001, 79 (83); Grunwald in: Röttinger/Weyringer (Hrsg.), 43 (45); von Simson in: FS von der Groeben 1987, 391 (392); Zuleeg in: NJW 1994, 545 (549); Grams, 66; Nicolysen in: Weidenfeld/Wessels (Hrsg.), 348 (356); Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, 33 äußert sich diesbezüglich wie folgt „Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ist in dreifacher Hinsicht ein Phänomen des Rechts: Sie ist Schöpfung des Rechts, sie ist Rechtsquelle und sie ist Rechtsordnung.“; EuGH, Slg. 1990/III, I-3365 (I-3372) Rs. C-2/88 „Imm. Zwartveld u.a.“. 70 EuGH, Slg. 1986/II, 1339 (1365) Rs. 294/87 „Les Verts“ „(…) Rechtsgemeinschaft derart ist, dass weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsorgane der Kontrolle darüber entzogen sind, ob ihre Handlungen im Einklang mit (...) dem Vertrag stehen.“; Streinz in: Streinz, EUV/EGV, Präambel EUV, Rn. 3; Zuleeg in: NJW 1994, 545 (546); Lorz, 128. 71 von Simson in: FS von der Groeben 1987, 391 (395); Hirsch in: 49 JöR 2001, 79 (82).

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B. Das Rechtsstaatsprinzip im Gemeinschaftsrecht

men seiner Rechtsprechung unter Bezugnahme auf diese Leitidee nur eine allgemeine Charakterisierung der Gemeinschaftsordnung zu versuchen, die mit diesem Begriff zum Ausdruck kommende Vorstellung darüber hinausgehend aber nicht in konkrete Rechte und Freiheitsansprüche zu überführen. Gleichzeitig hat diese früh formulierte Vorstellung aber maßgeblichen Einfluss auf die Fortentwicklung der Gemeinschaftsrechtsordnung ausgeübt, so dass ihm weiterhin trotz seiner inhaltlichen Unbestimmtheit Bedeutung zugemessen werden sollte.

VIII. Außenbeziehungen Seitdem die amerikanische Außenpolitik unter der Präsidentschaft von Jimmy Carter damit begonnen hat, die Bereitstellung von Mitteln der Entwicklungshilfe und die Gewährung von Handelsvorteilen von der Menschenrechtssituation in dem jeweiligen Staat abhängig zu machen, hat die Anzahl von Vertragsstaaten, die auf vergleichbarem Wege gewissen Prinzipien im internationalen Verkehr zu größerer Geltung verhelfen wollen, beständig zugenommen. Trotz teils erheblicher Kritik an dieser Praxis72 hat auch die Europäische Gemeinschaft seit den frühen 90er Jahren damit begonnen, ihren Menschenrechtsund Demokratiebemühungen im Rahmen ihrer Außenhandelsbeziehungen und der allgemeinen Gewährung von Entwicklungshilfe ein stärkeres Gewicht zukommen zu lassen.73 Die Vorteile eines solchen Vorgehens liegen dabei nicht nur in der Möglichkeit einer weitaus abgestufteren Reaktion auf die mögliche Nichterfüllung der vorgegebenen Bedingungen, die im Hinblick auf Intensität und Wirksamkeit der Ausübung von unmittelbaren Zwang sehr nahe kommen kann. So können die Reaktionen von einer bloßen Äußerung von Besorgnis über die Menschenrechtslage im betroffenen Staat, über die Weigerung, bestehende Vertragsbeziehungen fortzuführen oder auszuweiten bis zur vollständigen Aussetzung von Vertragspflichten reichen, wobei dies dann aus dem Vertrag selbst gerechtfertigt werden kann.74 Zusätzlich kann davon ausgegangen ___________ 72

So weist unter anderem Pflüger, 231 in diesem Zusammenhang gerade auf den Verzicht Argentiniens und Uruguays vom 1. März 1977 auf jegliche amerikanische Auslandshilfe – aus Protest gegen die „Einmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten“ hin. 73 Douglas-Scott, 465; Horng in: 9 ELJ 2003, 677 (678); Verhoeven, The EU in Search of a Democratic and Constitutional Theory, 8; Aschenbrenner, 69; Craig/de Burca, 354; für eine Übersicht siehe auch den „EU Annual Report on Human Rights“. 74 Aschenbrenner, 83; Hoffmeister, 4; Calliess in: JZ 2004, 1033 (1037); Horng in: 9 ELJ 2003, 677 (679); Douglas-Scott, 464; so auch „EU Annual Report on Human Rights 2003“ Unterpunkt 2.4 Mainstreaming – Trade and Cooperation „Such clauses serve to

VIII. Außenbeziehungen

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werden, dass in dem betroffenen Drittstaat bestimmte Bevölkerungsgruppen ein wesentlich größeres Interesse an der Erfüllung der vorgegebenen Bedingungen entwickeln als unter anderen Umständen. So kann sich aus Sorge vor dem Verlust von einträglichen Handelsvorteilen bereits eine Form der Zivilgesellschaft entwickeln wie sie durch den Abschluss von reinen Menschenrechtsverträgen zumeist nicht entsteht.

1. Entwicklungsabkommen mit Drittstaaten Gemäß Art. 177 II EGV (nach der Verfassung Art. III-316 in Verbindung mit Art. III-292) soll die Politik der Gemeinschaft im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit dazu beitragen, „das allgemeine Ziel einer Fortentwicklung und Festigung der Demokratie und des Rechtsstaats sowie das Ziel der Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu verfolgen.“ Beispielhaft für die Bezugnahme auf den Rechtsstaat in diesem Bereich kann hier auf das am 1. April 2003 in Kraft getretene „Abkommen von Cotonou“ mit den AKPStaaten verwiesen werden (zuvor aber auch schon 5 I 3. Unterabschnitt 3. Alternative Lome IV 1995). Dessen Art. 96 bestimmt, dass geeignete Maßnahmen getroffen werden können, wenn eine Vertragspartei eine Verpflichtung in Bezug auf die wesentlichen Elemente des Abkommens – der Achtung der Menschenrechte, der demokratischen Grundsätze und des Rechtsstaatsprinzips – nicht erfüllt. Dabei kommt der Erwähnung des Rechtsstaatsprinzips im Vergleich zur Demokratie gerade deswegen besondere Bedeutung zu, da dieser Grundsatz nicht weiter durch andere internationale Instrumente erläutert ist.75 Dennoch liegen nach allgemeiner Auffassung mehrere rechtsstaatliche Prinzipien den Menschenrechtspakten zugrunde.76 Welche Rolle der Rechtsstaatlichkeit in den Außenbeziehungen der Europäischen Union zugedacht ist, lässt sich allerdings abschließend nur unter Berücksichtigung der diesbezüglich tatsächlich stattfindenden Überwachung der anderen Vertragsparteien und der tatsächlichen Bereitschaft zur Einflussnahme beurteilen. Dabei soll hier nur festge___________ promote dialogue on human rights whilst carrying the possibility of punitive actions where human rights are violated.“ 75 Vergleiche für das Demokratieprinzip nur Art. 21 Universal Declaration of Human Rights, Art. 25 International Convenant on Civil and Political Rights, Art. 23 American Convention on Human Rights, Art. 13 African Charter on Human and Peoples’ Rights; dagegen für eine ausdrückliche Bezugnahme auf die „rule of law“ siehe die Präambel der Universal Declaration of Human Rights. 76 Smith, 248 „One of the cornerstones of the rule of law itself is the notion of a fair trial. The common philosophical origin and thus the interdependence of the rule of law and human rights is highly apparent in the right to a fair trial.“; Hoffmeister, 368; Sir Watts in: Thesing (Hrsg.), 230 (235).

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B. Das Rechtsstaatsprinzip im Gemeinschaftsrecht

stellt werden, dass die Europäische Union bisher schon häufiger – bei einer gewissen Besorgnis über die Entwicklungen in einem Land – von den sich ihr bietenden Eingriffsmöglichkeiten Gebrauch gemacht hat. So weist der „EU Annual Report on Human Rights 2003“ unter anderem auf seit 1996 in diesem Zusammenhang ergriffene Maßnahmen gegen den Togo, Sierra Leone, Niger, Guinea Bissau, Liberia, Simbabwe und Fiji hin.77

2. Ausdehnung auf weitere Bereiche Mit Inkrafttreten des Vertrages von Nizza ist darüber hinaus gemäß Art. 181a EGV der Anwendungsbereich des Art. 177 II EGV auf alle Maßnahmen der Gemeinschaft in den Bereichen der wirtschaftlichen, finanziellen und technischen Zusammenarbeit mit Drittländern ausgedehnt worden. Die Möglichkeit einer noch stärkeren Betonung unter anderem der Rechtsstaatlichkeit im Bereich der Zusammenarbeit mit Drittstaaten ist damit gegeben (nach der Verfassung Art. III-292). Mit einer solchen Vorgehensweise könnte die Übereinstimmung der inneren mit der äußeren Menschenrechtspolitik der Europäischen Union weiterhin erhöht werden. Schließlich entspricht nach dem immer wieder vorgebrachten Selbstverständnis der Europäischen Union die Beachtung der Demokratie, der Menschenrechte und des Rechtsstaatsprinzips als Grundlage für den Frieden, die Stabilität und die Weiterentwicklung in einer Gesellschaft auch einem insgesamt besonders hervorzuhebenden Anliegen der internationalen Gemeinschaft.78

IX. Europäische Menschenrechtskonvention Die EMRK vom 4. November 1950 zählt neben der Europäischen Sozialcharta vom 18. Oktober 1961 zu einem der wichtigsten Abkommen, das im Rahmen des Europarates ausgearbeitet worden ist. Dabei handelt es sich bei der EMRK um ein Menschenrechtsinstrument, das von seiner Schutzrichtung im Wesentlichen Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat im Sinne des „status negativus“ aufweist und damit die zur Zeit ihrer Ausarbeitung maßgeb___________ 77

Für weitere Nachweise siehe Aschenbrenner, 75; Douglas-Scott, 465 „(...) the purpose of these clauses is to establish dialogue and communication, rather than to be used as a blunt instrument for terminating agreements.“ 78 So auch betont bereits in der „Introduction“ zum „EU Annual Report on Human Rights 2003“; kritisch zur Umsetzung dieses Anspruchs siehe aber nur Joachim FritzVannahme „Vormarsch der Leisetreter“ in: Die Zeit Nr. 11 vom 10. März 2005; Jochen Bittner „Libysche Dienste“ in: Die Zeit Nr. 30 vom 19. Juli 2007.

IX. Europäische Menschenrechtskonvention

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lich immer noch von einem liberalen Verständnis beeinflussten Rechtstheorien sowie auch die begerenzten Kompromissmöglichkeiten der damals beteiligten Staaten widerspiegelt.79 Entsprechend der Satzungspräambel verfolgten die Gründungsstaaten des Europarates demnach das Ziel, durch ihren Zusammenschluss den Frieden auf der Grundlage der Gerechtigkeit und internationalen Zusammenarbeit zu festigen und den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt zu fördern. Auch soll dauerhaft insbesondere im Hinblick auf die Werte der Rechtsstaatlichkeit und parlamentarischen Demokratie eine gewisse europaweite Homogenität erzielt werden.80

1. Zielsetzung der EMRK – Individualschutz Da die EMRK von ihrer Zielsetzung dem Individualschutz dient, findet sich lediglich in der Präambel ein ausdrücklicher Hinweis auf das allgemeine Rechtsstaatsprinzip. Als Ausgangspunkt für eine darüber hinausgehende rechtliche Verpflichtung der Vertragsparteien zur Achtung der Rechtsstaatlichkeit kann aber Art. 6 I EMRK herangezogen werden, der die Gewährleistung einer unabhängigen Gerichtsbarkeit vorsieht. Zum Begriff des Rechtsstaats nach der EMRK hat der EGMR in seiner Entscheidung „Klass u.a. ./. Germany“ ausgeführt: „One of the fundamental principles of a democratic society is the rule of law, which is expressly referred to in the Preamble of the Convention (...). The rule of law implies, inter alia, that an interference by the executive authorities with an individual’s rights should be subject to an effective control which should normally be assured by the judiciary, at least, in the last resort, judicial control offering the best guarantees of independence, impartiality and a proper procedure.“81 Damit wird deutlich, dass obwohl das Rechtsstaatsprinzip lediglich in der Präambel benannt ist, der EGMR dies gleichwohl als ein der gesamten Konvention zugrunde liegendes Rechtsprinzip ansieht. Dies hat zur Folge, dass es bei der Auslegung einzelner Individualrechte zur weiteren Konkretisierung heranzuziehen ist. Darüber hinaus kann das Rechtsstaatsprinzip – gerade in Verbindung mit Art. 6 I EMRK – als eine absolut zu beachtende Grenze für mögliche Veränderungen des Verhältnisses der innerstaatlichen Organe unter___________ 79 Peters, Einführung in die EMRK, 8; Ehlers in: Jura 2000, 372 (374); Grabenwarter, 117, Rn. 1 weist im Weiteren aber auch auf die Bedeutung der „positive obligations“ hin. 80 Giegerich, 68; Oppermann, 24, Rn. 7; Streinz, 28, Rn. 71. 81 EGMR, Klaas and others ./. Germany, A. 28, 1 (25), § 55; so auch schon EGMR, Golder ./. United Kingdom, A. 18, 1 (18), § 35 „(...) it follows that the right of access constitutes an element which is inherent in the right stated by Art. 6 § 1.“; Wiederin in: Hofmann/Marko/Merli/Wiederin, 295 (317).

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B. Das Rechtsstaatsprinzip im Gemeinschaftsrecht

einander Bedeutung haben. Solche Veränderungen unterliegen auch mittelbar der Überwachung durch den EGMR. So kann dieser – anknüpfend an das Erfordernis einer unabhängigen Rechtsprechung in den Mitgliedstaaten – für den Einzelfall auch Aussagen über innerstaatliche Organverhältnisse treffen.

2. Bedeutung der Rechtsprechung des EGMR für die Weiterentwicklung des Gemeinschaftsrechts Dass die in der EMRK selbst enthaltenen Rechte als Rechtserkenntnisquellen für den Europäischen Gerichtshof bei der Ermittlung der allgemeinen Rechtsgrundsätze – vor allem bei seiner Grundrechtsrechtsprechung – dienen, ist ausdrücklich in Art. 6 II EUV (nach der Verfassung Art. I-9 III) bestimmt. Fraglich ist jedoch, welche Bedeutung der durch die weitere Rechtsprechung des EGMR erfolgenden Auslegung der einzelnen Rechte für die Weiterentwicklung des Europäischen Rechts zukommt. Bei der Heranziehung der Urteile des EGMR gerade auch zum Begriff des Rechtsstaatsprinzips ist zuallererst zu beachten, dass diese keine direkte Bindungswirkung gegenüber dem Europäischen Gerichtshof entwickeln können.82 Dies könnte sich lediglich durch einen Beitritt der Europäischen Union zur EMRK ändern. Zwar wurde auch schon früh ein solcher Beitritt erwogen. So stellte bereits Walter Hallstein die folgende Überlegung in seinem 1969 erschienenen Buch „Der unvollendete Bundesstaat“ an: „Denn die Menschenrechte sind Ausdruck der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie, und diese sind unverzichtbare Bedingungen für die Zugehörigkeit zur Europäischen Gemeinschaft. Deshalb wäre es auch ernstlich zu überlegen, ob die Gemeinschaft sich nicht formell an die Europäische Menschenrechtskonvention binden sollte. Es ist unwahrscheinlich, dass ein Grundrechtskatalog einer künftigen föderalen Verfassung anders aussehen würde als diese Konvention.“83 Nach dem vom Rat eingeholten Gutachten 2/94 beim Eu___________ 82

EGMR, Matthews ./. United Kingdom – Nr. 24833/94, RJD 1999-I, 251 (265), § 32: „The Court observes that acts of the EC as such cannot be challenged before the Court because the EC is not a Contracting Party.“; Grabenwarter, 27, Rn. 5; UerpmannWittzack in: DÖV 2005, 152 (153); Nicolaysen in: 38 EuR 2003, 719 (729); Peters, Einführung in die EMRK, 28; Eiffler in: JuS 1999, 1068 (1072). 83 Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, 48; Douglas-Scott, 467 „There would be many advantages in EC accession to the ECHR. A formal linking of the EC and ECHR could be seen as underlying Community concern with human rights, especially for aspiring member states emerging from totalitarian regimes, given that the ECH is seen as part of European cultural and political heritage.“; Breuer in: EuGRZ 2005, 229 (234); siehe aber auch für den „rechtlichen Mehrwert“ der Gemeinschaftsgrundrechte im Vergleich zur Bindung der Mitgliedstaaten an die – Vorbehalte zulassende – EMRK Scheuning in: EuR 2005, 162 (180).

IX. Europäische Menschenrechtskonvention

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ropäischen Gerichtshof über die gemeinschaftsrechtliche Zulässigkeit eines Beitritts zur EMRK war von einer solchen Möglichkeit mangels entsprechender Zuständigkeit der Gemeinschaft – ohne entsprechende Vertragsänderung – jedoch nicht mehr auszugehen.84 Dies hätte sich aufgrund der Festschreibung eines beabsichtigten Beitritts in der Verfassung in Art. I-9 II mit ihrem Inkrafttreten abermals geändert. Mit einem solchen Beitritt hätte die Selbstverpflichtung der Europäischen Union hinsichtlich der durch die EMRK geschützten Rechte und der in ihr verankerten Prinzipien eine umfassende Bestätigung gefunden. Ungeachtet dessen hat der Europäische Gerichtshof aber schon zuvor die Rechtsprechung des EGMR als Rechtserkenntnisquelle herangezogen.85

3. Rechtsstaatliche Beurteilung der Gemeinschaft durch den EGMR – Urteil des EGMR in der Rs. „Matthews ./. United Kingdom“ Zusätzlich zu der bisher benannten Bedeutung der EMRK sowie der Rechtsprechung des EGMR für die europäische Gemeinschaftsrechtsordnung hat der EGMR aber auch schon Aussagen über die Organstrukturen der Gemeinschaft selbst getroffen. Besondere Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die Rechtssache „Matthews ./. United Kingdom“ erlangt, die zwar vorrangig Aussagen zur Verwirklichung des Demokratieprinzips enthält, aber auch über das Verhältnis der Gemeinschaftsorgane selbst. Diese Rechtssache betraf die am 25. April 1994 – unter Hinweis auf den „Act Concerning the Election of the Representatives of the European Parliament by Direct Universal Suffrage“ vom 20. September 1976 – abgelehnte Aufnahme der in Gibraltar lebenden britischen Staatsangehörigen Denise Matthews in die Wählerliste.86 Dabei machte die Klägerin eine Verletzung von Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls (ZP) zur EMRK geltend, der in seinem – entsprechend Art. 6 neben dem französischen – auch verbindlichem englischen Wortlaut besagt: „The High Contracting Parties undertake to hold free elections at ___________ 84

EuGH, Slg. 1996-3, I-1759 (I-1789) Gutachten 2/94 „Eine solche Änderung des Systems des Schutzes der Menschenrechte in der Gemeinschaft (...) kann nur im Wege einer Vertragsänderung vorgenommen werden.“; Ehlers in: Jura 2000, 372 (377); Nicolaysen in: 38 EuR 2003, 719 (730); Craig/de Burca, 351; siehe wiederum aber auch Reich, 29, der eine unmittelbare EMRK-Geltung als Widerspruch zu „der Eigenständigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung“ ansieht. 85 EuGH, Slg. 1997-6, I-3689 (I-3717) Rs. C-368/95 „Familiapress“; Breuer in: EuGRZ 2005, 229 (232); Uerpmann-Wittzack in: DÖV 2005, 152 (153); Eiffler in: JuS 1999, 1068 (1072); Scheuning in: EuR 2005, 162 (181). 86 EGMR, Matthews ./. United Kingdom – Nr. 24833/94, RJD 1999-I, 251 (257), § 7; mit Anm. Meyer-Ladewig/Petzold in: NJW 1999, 3107ff.

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B. Das Rechtsstaatsprinzip im Gemeinschaftsrecht

reasonable intervals by secret ballot, under conditions which will ensure the free expression of the opinion of the people in the choice of the legislature.“ Nachdem der EGMR zunächst überhaupt die britische Verantwortlichkeit für die Nichtabhaltung von Wahlen zum Europäischen Parlament in Gibraltar begründet hatte87, beschäftigte er sich mit der Frage, ob Art. 3 des 1. ZP auf ein supranationales Organ wie das Europäische Parlament Anwendung finden konnte. Hierfür war eine Beurteilung dahingehend erforderlich, ob das Europäische Parlament zur maßgeblichen Zeit als gesetzgebende Körperschaft im Sinne von Art. 3 des 1. ZP anzusehen gewesen sei. Unter Berücksichtigung des mit der Bestimmung verfolgten Zwecks – der Sicherung einer wahrhaften Demokratie – wurde das Europäische Parlament nicht von vornherein aus dem Anwendungsbereich dieser Bestimmung herausgenommen. Im Rahmen der dann folgenden Überlegungen machte der EGMR auch allgemeine Aussagen über die demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen der Europäischen Gemeinschaft. Dabei stellte er zunächst fest, dass „In determining whether the European Parliament falls to be considered as the legislature (…), the Court must bear in mind the sui generis nature of the European Community, which does not follow in every respect the pattern common in many States of a more or less strict division of powers between the executive and the legislature. Rather, the legislative process in the EC involves the participation of the European Parliament, the Council and the Commission.“88 Im Weiteren führte er dann aus, dass „the European Parliament represents the principal form of democratic, political accountability in the Community system“ und das Europäische Parlament „as the part of the European Community structure which best reflects concerns as to effective political democracy“89 anzuse___________ 87 EGMR, Matthews ./. United Kingdom – Nr. 24833/94, RJD 1999-I, 251 (266), § 34 „In determining to what extent the United Kingdom is responsible for ‚securing‘ the rights in Article 3 of Protocol No. 1 in respect of elections to the European Parliament in Gibraltar, the Court recalls that the Convention is intended to guarantee rights that are not theoretical or illusory, but practical and effective. It is uncontested that legislation emanating from the legislative process of the European Community affects the population of Gibraltar in the same way as legislation which enters the domestic legal order exclusively via the House of Assembly. To this extent, there is no difference between European and domestic legislation, and nor reason why the United Kingdom should not be required to ‚secure‘ the rights of Article 3 of Protocol No. 1 in respect of European legislation, in the same way as those rights are required to be ‚secured‘ in respect of purely domestic legislation.“; Breuer in: EuGRZ 2005, 229 (233); Pellonpää in: Liber Amicorum Wildhaber 2007, 347 (352). 88 EGMR, Matthews ./. United Kingdom – Nr. 24833/94, RJD 1999-I, 251 (269), § 48. 89 EGMR, Matthews ./. United Kingdom – Nr. 24833/94, RJD 1999-I, 251 (270), § 52; Douglas-Scott, 468 „In Matthews, the European Court of Human Rights demon-

X. Schlussbetrachtung

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hen ist und die Gemeinschaft demnach rechtsstaatlichen und demokratischen Ansprüchen genügt. Schlussendlich bejahte der EGMR somit, dass das Europäische Parlament unter Berücksichtigung seiner im Vergleich zu einem nationalen Parlament besonderen Rolle die erforderlichen Merkmale für eine gesetzgebende Körperschaft im Sinne des Art. 3 des 1. ZP aufweist und dass der vollständige Ausschluss einer bestimmten Bevölkerungsgruppe von den Wahlen zum Europäischen Parlament eine Verletzung dieser Bestimmung folglich begründet. Unabhängig von diesem Ergebnis, dass die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 des 1. ZP durch einen Mitgliedstaat beinhaltete, sind – im Rahmen der vorliegenden Arbeit – die vorangegangenen Aussagen des EGMR von besonderem Interesse. Zunächst wird deutlich, dass der EGMR den Schutzbereich des Art. 3 losgelöst von allgemeinen Überlegungen zum Verhältnis der EMRK und der Gemeinschaftsrechtsordnung bestimmt. Ausgehend von dem insoweit offenen Wortlaut fasst er den Schutzbereich des Art. 3 vielmehr weit mit der Folge, dass auch Wahlen zum Europäischen Parlament von ihm umfasst sein können. Damit einhergehend wird seine allgemeine Zielsetzung deutlich, die Auslegung der in der EMRK gewährleisteten Rechte an dem Interesse eines umfassenden und effektiven Individualschutzes auszurichten. Um den Schutzbereich des Art. 3 auch als im Endergebnis eröffnet anzusehen, muss der EGMR jedoch zusätzlich Aussagen über die Eigenschaft des Europäischen Parlaments als einer gesetzgebenden Körperschaft und damit eines überstaatlichen Organs treffen. Diesen Umstand berücksichtigt der EGMR im Weiteren insoweit, als er zunächst feststellt, dass die Gemeinschaftsrechtsordnung aufgrund ihrer Nichtstaatlichkeit auch nicht einzelstaatlichen Vorstellungen vollständig zu genügen hat. Gleichzeitig macht der EGMR aber deutlich, dass die Gemeinschaftsrechtsordnung dem Demokratieprinzip sowie dem von ihm auch in Bezug genommenen Rechtsstaatsprinzip in seinen Grundaussagen entsprechen muss und die Beachtung dieser Anforderungen gerade auch von ihm im Wege der Überwachung der einzelnen Mitgliedstaaten überwacht werden kann.

X. Schlussbetrachtung Im Rahmen einer Schlussbetrachtung zu dem vorangegangenen Abschnitt dieser Arbeit ist zunächst festzustellen, dass die Rechtsstaatlichkeit ein allen

___________ strated that it felt able to scrutinise primary Community law, contrary to previous holdings.“

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B. Das Rechtsstaatsprinzip im Gemeinschaftsrecht

Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsames Strukturprinzip ist90, das sich auch in der Gemeinschaftsrechtsordnung wiederfindet. Dabei wird zum einen – teils ausdrücklich – durch nationale Verfassungen die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit für den Europäischen Integrationsprozess betont91, wobei diese Bezugnahmen indes nur mittelbar wirken, da zu ihrer Beachtung auch nur die jeweiligen nationalen Staatsorgane unmittelbar verpflichtet werden. Zum anderen finden sich – neben bloßen Zielvorstellungen – aber auch ausdrückliche und verbindliche Bezugnahmen auf das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit im Gemeinschaftsrecht selbst. Unter Berücksichtigung dieser verschiedenen Bezüge stellt sich weiterführend die Frage nach dem ihm tatsächlich zukommenden Stellenwert in der Gemeinschaftsrechtsordnung. Für die Bestimmung des dabei zugrunde zu legenden Maßstabs muss es als unzulässig betrachtet werden, die diesbezüglichen Anforderungen mit einem Hinweis auf die teils gleichermaßen nicht vollständige Verwirklichung dieses Prinzips in mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen herabzusetzen.92 So kann die Europäische Union auch nur an dem von ihr selbst vorgetragenen Verständnis als einer rechtsstaatlich verfassten Gemeinschaft gemessen werden. Ausschlaggebend für eine entsprechende Bewertung kann des Weiteren nicht die Vielzahl der Erklärungen der Gemeinschaftsorgane zur Rechtsstaatlichkeit sein, sondern nur die in der Gemeinschaftsrechtsordnung tatsächlich bestehenden Mechanismen, um die individuelle Freiheit des Einzelnen zu schützen und die Beachtung der rechtlichen Rahmenbedingungen sicherzustellen. Dabei ist – nach den bisherigen Ergebnissen – festzustellen, dass der vorgebrachte Anspruch und seine Durchsetzung gegenüber Drittstaaten, insbesondere auch den neuen Beitrittskandidaten gegenüber als ungleich höher zu bewerten

___________ 90

Siehe in diesem Zusammenhang weiterführen nur auch die Darstellung der Entwicklung einer unabhängigen Verfassungsgerichtsbarkeit bei Pieroth in: 34 Rechtstheorie 2003, 299 (302). 91 In diesem Zusammenhang ist darauf zu verweisen, dass teils der Gewaltenteilungsgrundsatz nicht nur unter den Begriff der Rechtsstaatlichkeit erfasst, sondern zusätzlich in unmittelbaren Bezug zum Demokratieprinzip gesetzt wird, siehe nur Tiedtke, 91 „Ein System parlamentarischer Demokratie impliziert zugleich, dass zwischen dem Parlament und den anderen Organen ein institutionelles Gleichgewicht bestehen muss.“ 92 Siehe aber auch für die jeder Beschäftigung mit dem Rechtsstaatsprinzip zugrunde liegende Schwierigkeit Huber in: FG Giacometti 1953, 59 (61) „Die Staaten als Gebilde der sozialen Wirklichkeit, die man dem Typus der Rechtsstaats zuzuordnen pflegt, entsprechen bei weitem nicht vollkommen der Rechtsstaatsidee. Allein die Kluft zwischen beiden ist zu einem nicht geringen Teil unausweichlich, d.h. der Polarität von Politik und Recht zuzuschreiben.“

X. Schlussbetrachtung

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ist als der unter den in der Gemeinschaft bereits verfassten Mitgliedstaaten.93 Dies zeigt zum einen die bisher noch ausgebliebene Anwendung des Verfahrens nach Art. 7 EUV (nach der Verfassung Art. I-59) im direkten Vergleich zu der demgegenüber ausgesprochen detaillierten Befassung mit den einzelstaatlichen Umständen in den jeweiligen Beitrittskandidaten, die im Übrigen auch wesentlich weniger politisch zu erfolgen scheint als beispielsweise die ihr vorangegangene Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Zum anderen ist die von den nationalen Gerichten gegenüber der Gemeinschaftsrechtsordnung ausgeübte Rechtmäßigkeitskontrolle – insbesondere die anknüpfend an die einzelstaatliche Zustimmung stattfindende mittelbare Überprüfung von Vertragsänderungen auf ihre Vereinbarkeit mit „Struktursicherungsklauseln“ – als wesentlich weitergehender als die bisherige gegenseitige mitgliedstaatliche Überwachung zu beurteilen. Aufgrund dieser noch gegebenen Defizite ist die Möglichkeit einer rechtsstaatlichen Beurteilung der Europäischen Gemeinschaftsordnung in ihrer Gesamtheit auch durch eine von ihr unabhängige Instanz demnach als wünschenswert anzusehen. Eine derartige Überwachung könnte insbesondere durch den Beitritt der Europäischen Union zur EMRK ermöglicht werden. Zwar ist der EGMR bereits in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass über die Überwachung der Vertragsstaaten er auch mittelbar Aussagen über die Gemeinschaftsrechtsordnung selbst treffen kann. Ein Beitritt der Europäischen Union zur EMRK und ihre damit einhergehende umfassende Bindung an die in der EMRK gewährleisteten Rechte könnte indes vor allem zu einer weiteren Konkretisierung der auch in rechtsstaatlicher Hinsicht zu erfüllenden Anforderungen durch den EGMR führen. Dass – unabhängig von einer solchen noch ausstehenden rechtlichen Einbindung der Europäischen Gemeinschaftsrechtsordnung – der Rechtsstaatlichkeit für den Europäischen Integrationsprozess eine besondere Bedeutung tatsächlich zukommen soll, ergibt sich unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. So hat der Gerichtshof im Rahmen seiner Rechtsprechung den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit – häufig auch in Form der Vorstellung einer Rechtsgemeinschaft – seinen Überlegungen zugrunde gelegt und auch zahlreiche Einzelausprägungen dieses Grundsatzes als allgemeine Rechtsgrundsätze anerkannt.94 Demnach findet das Rechtsstaatsprinzip durch den Ge___________ 93 Siehe für die Gründe dieser unterschiedlichen Behandlung und mögliche Auswirkungen einer Aufrechterhaltung derselben nach erfolgtem Beitritt nur Cremona in: 30 ELRev. 2005, 3 (21). 94 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 20 „Das Rechtsstaatsprinzip entstammt zwar den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, ist aber auf die Union übertragbar, auch wenn diese selbst keine Staatsqualität besitzt. Der EuGH spricht in seiner Rechtsprechung denn auch nicht ausdrücklich von dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, sondern bezeichnet die EG in Übereinstimmung mit dem Schrifttum als Rechtsgemeinschaft.“

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B. Das Rechtsstaatsprinzip im Gemeinschaftsrecht

richtshof Verwendung als ein tragender Grundsatz dieser Rechtsordnung. Dieser ist somit für den Fall einer Regelungslücke, einer Mehrdeutigkeit von Einzelbestimmungen oder auch bei Auftreten eines Wertungswiderspruchs für die weitere Entscheidungsfindung heranzuziehen.95 Des Weiteren können aus dieser Begriffsbildung Unterprinzipien entwickelt werden. Gerade letzterer Anwendungsbereich ist schließlich von methodischem Interesse, da der Gerichtshof das von ihm seiner Rechtsprechung zugrunde gelegte Verständnis der Rechtsstaatlichkeit selbst nicht umfassed kennzeichnet. Die insoweit bestehende inhaltliche Unbestimmtheit dieses Oberbegriffs ist jedoch nicht allein auf die allgemeine Rechtsprechungspraxis des Gerichtshofs, die durch ihre regelmäßig nur kurzen Urteilsbegründungen gekennzeichnet ist, zurückzuführen. Vielmehr ist die inhaltliche Unbestimmtheit in gewisser Weise kennzeichnend für die Einordnung der Rechtsstaatlichkeit als einem Prinzip, das Grund für eine Abwägung – bei der Anwendung einer anderen Norm – sein kann, selbst jedoch nicht unmittelbar in einer normativen Aussage ausgedrückt werden kann.96 Ungeachtet der insoweit bestehenden Ungewissheit über die Geltung der in einem Prinzip enthaltenen Gebote bedarf es gleichwohl einer gewissen inhaltlichen Annäherung an den Bedeutungsinhalt dieses Prinzips, da ihm auch im Sinne eines Optimierungsgebots Geltung zukommt. Inwieweit dem Gewaltenteilungsgrundsatz als einer maßgeblichen Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips im Gemeinschaftsrecht insbesondere durch institutionelle Bestimmungen Rechnung getragen wird, soll nun im Weiteren im Rahmen dieser Arbeit näher ermittelt werden. So kann die weitere Geltung des Rechtsstaatsprinzips nur durch eine Zusammenfassung aller in dieser Rechtsordnung selbst vorgesehenen Rechtmäßigkeitskontrollen – gerade auch im Verhältnis der Organe untereinander – überhaupt gewährleist werden.97 Bevor der Gewaltenteilungsgrundsatz in seiner Ausprägung in der Gemeinschafts___________ 95 Engisch in: Roellecke (Hrsg.), 262 (280); Schreiber, Die Geltung von Rechtsnormen, 197; Sieckmann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle des Rechtssystems, 86; Rüthers, 429; andererseits Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, 92. 96 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 19 „Der entwicklungsoffene Begriff des Rechtsstaats wird damit inhaltlich von EU- und EG-Vertrag ebenso vorausgesetzt wie vom deutschen Grundgesetz. In Übereinstimmung mit dem Bundesverfasssungsgericht sieht das ganz überwiegende Schrifttum im deutschen Rechtsstaatsprinzip einen Verfassungsgrundsatz, der zwar konkretisierungs- und ausfüllungsbedürftig ist, aus dem sich aber bestimmte Topoi – wenn auch nicht in jeder Einzelheit fixiert – ableiten lassen.“; Szabó in: 33 Rechtstheorie 2002, 283 (291). 97 Verhoeven, The EU in Search of a Democratic and Constitutional Theory, 324f. „Hence, Article 6, paragraph 1 TEU does not call for the elaboration of one, fullyfledged standard that should be applied uniformly throughout the Union. There is much merit in maintaining the current de-centered system for norm-production and enforcement regarding the fundamental principles.“

X. Schlussbetrachtung

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rechtsordnung eine solche Betrachtung erfahren soll, ist jedoch zunächst eine genauere inhaltliche Bestimmung dieses Prinzips sowie der mit ihm verbundenen Aussagen erforderlich.

C. Das Prinzip der Gewaltenteilung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips Ein rechtsstaatliches System kennzeichnet sich zuallererst dadurch aus, dass das Recht nicht nur als Gestaltungsmittel gesellschaftlicher Verhältnisse Verwendung findet und demnach als Ordnungsfunktion auftritt, sondern gerade auch ein Primat des Rechts besteht und somit die rechtlich gestaltend tätig werdenden Organe selbst wiederum der Bindung durch das Recht unterliegen.98 Dabei entwickelten sich diese Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit bereits in der frühen griechischen Staatsphilosophie, die als Schranken des Staates dike, themis und nomos festlegte.99 In materieller Hinsicht kommt der Sicherung und Gewährleistung von Rechten für den Einzelnen unmittelbar gegenüber dem Staat in seinen verschiedenen Erscheinungsformen und mittelbar gegenüber anderen Rechtsträgern im Wege eines ausgewogenen Interessenausgleichs besondere Bedeutung zu.100 Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung bildet der Gewaltenteilungsgrundsatz als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips in formeller Hinsicht. Doch ist auch bei einer solchen – vom deutschen Staatsrecht maßgeblich beeinflussten101 – Gegenüberstellung der unterschiedlichen ___________ 98 Stern, Das Staatsrecht der BRD – Band I, 781; Huber in: FG Giacometti 1953, 59 (60); Hesse in: FG Smend 1962, 71 (73f.); Nádrai, 14; Merkl in: FS Kelsen 1971, 126 (138) „Rechtsstaat ist der Staat, der sich irgendwie selbst verneint.“; siehe aber auch gegen ein solch klassisches Rechtsstaatsverständnis nur Sobota, 474 „Diese Anschauung ist berechtigt, wenn man den Staat als originäre Macht begreift, die mit dem Siegeszug der Bürgerrechte immer straffer gezügelt wurde.“ 99 Scheuner in: Listl/Rüfner (Hrsg.), 185 (191); Stern, Das Staatsrecht der BRD – Band 1, 768; Merkl in: FS Kelsen 1971, 126 (129ff.). 100 Siehe nur Habermas,Faktizität und Geltung, 217 „Die Institutionen des Rechtsstaates sollen eine effektive Ausübung der politischen Autonomie gesellschaftlich autonomer Staatsbürger sichern, und zwar in der Weise, dass zum einen die kommunikative Macht eines vernünftig gebildeten Willens entstehen und in den Gesetzesprogrammen verbindlichen Ausdruck finden kann, und dass zum anderen diese kommunikative Macht über die vernünftige Anwendung und administrative Implementierung von Gesetzesprogrammen gesellschaftsweit zirkulieren und – über die Stabilisierung von Erwartungen wie durch die Verwirklichung kollektiver Ziele – sozialintegrative Kraft entfalten kann.“ 101 Schmidt-Aßmann in: Handbuch des Staatsrechts – Band II, 541 (552f.); Zippelius, Rechtsphilosophie, 209; Hesse in: FG Smend 1962, 71 (71); Fernandez Esteban, 91; Grams, 57; Nádrai, 106; MacCormick in: Thesing (Hrsg.), 68 (72); Kunig, 24f.; für eine weitergehende Auseinandersetzung mit diesem Begriffspaar siehe auch Sobota, 457– 461; Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 119 (198).

I. Begründung der Notwendigkeit einer Gewaltenteilung

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Bedeutungsinhalte des Rechtsstaatsprinzips keineswegs die für den Einzelnen im Besonderen wichtige, gleichfalls bestehende materiellrechtliche, freiheitssichernde Wirkungsweise der Gewaltenteilung zu vernachlässigen.

I. Begründung der Notwendigkeit einer Gewaltenteilung Der Inhalt des Grundsatzes der Gewaltenteilung geht über eine bloße Beschreibung der staatlichen Hauptfunktionen und ihre Zusammenfassung unter den drei Begriffen der Gesetzgebung, Regierung und Rechtsprechung weit hinaus. Ansonsten wären auch alternative Unterscheidungen in mehr oder weniger oder auch andere Staatsfunktionen denkbar und gleichermaßen vertretbar. So unterscheidet denn auch John Locke in seinem Werk „Two Treatises of Civil Government“ noch zwischen „legislative, executive, and federative power of the commonwealth“102 und sieht die judikative, föderative und prärogative Gewalt als Bestandteile oder Ergänzungen der Exekutive an; ein Ansatz der im Übrigen auch nachfolgend immer wieder aufgenommen worden ist. Vielmehr besteht die entscheidende Grundaussage des Gewaltenteilungsprinzips darin, dass dieser Beschreibung des Staatswesens eine entsprechend angepasste organisatorische Struktur des Staates zu folgen hat – mit dem vorrangigen Ziel einer Machtbegrenzung und Freiheitsbewahrung.103 Seine vollständige und ideale Verwirklichung scheint das Gewaltenteilungsprinzip demnach in einem System zu finden, in dem jede staatliche Funktion einem gesonderten Funktionsträger zugewiesen ist. Entsprechende Ansätze finden sich deutlich in der Verfassung der Vereinigten Staaten von 1787, deren Artikel 1, Section 1 den „Congress of the United States“ mit der Legislative betraut, deren Artikel 2, Section 1 die Exekutive dem Präsidenten überträgt und deren Artikel 3, Section 1 schließlich die Judikative den Gerichten zuweist.104 ___________ 102 Locke, Two Treatises of Civil Government, Kapitel 12 des 2. Buch „The Legislative, Executive, and Federative Power of the Commonwealth“, Nr. 143–148; Tsatsos, 30f. sowie bei Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes, 47. 103 Ossenbühl in: DÖV 1980, 545 (546); Häberle, 410; Schambeck in: FS Geiger 1974, 643 (658); Stern, Das Staatsrecht der BRD – Band II, 518; Scheuner in: Listl/Rüfner (Hrsg.), 185 (193); Hesse in: FG Smend 1962, 71 (74) „Durch die Festlegung der staatlichen Aufgaben, die Zuweisung dieser Aufgaben an besondere Organe, die Regelung der Art und Weise ihrer Erfüllung wird der staatliche Aufbau gegliedert und begrenzt, werden der Staat und seine Wirksamkeit in Form gebracht.“ 104 Article 1, section 1: „All legislative Powers herein granted shall be vested in a Congress of the United States, which shall consist of a Senate and House of Representatives.“ Article2, section 1: „The executive Power shall be vested in a President of the United States of America. (…)“ Article 3, section 1: „The judicial Power of the United

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C. Das Prinzip der Gewaltenteilung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips

Diese klare Gliederung haben einige Staaten in Mittel- und Osteuropa – unter anderem Estland in Art. 4, Litauen in Art. 5, Polen in Art. 10 und die Tschechische Republik in den Art. 15 I, 67 I und 81 – in ihren nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Kraft getretenen Verfassungen übernommen. Nichtsdestotrotz dürfen solche scheinbar klaren sprachlichen Bekenntnisse nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine vollständige Verwirklichung des Gewaltenteilungsprinzips in keinem staatlichen System zu erkennen ist.105 Vielmehr ist in den sich zur Rechtsstaatlichkeit bekennenden Staaten eine sich nur in ihrem Grad unterscheidende Gewaltenvermischung zu beobachten. So ist insbesondere in der Amerikanischen Verfassung – ungeachtet ihrer weitreichenden Vorbildfunktion – die Trennung zwischen Legislative und Exekutive nicht so deutlich zu bestimmen wie man nach ihrem sprachlichen Befund vermuten könnte. Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang nur auf das dem Amerikanischen Präsidenten nach Artikel 1, Section 7.2 im Gesetzgebungsverfahren zukommende Vetorecht, das nur durch eine Zwei-Drittel-Mehrheit in beiden Häusern überwunden werden kann. Inwieweit in der organisatorischen Ausprägung des Prinzips eine tatsächliche Trennung der Gewalten überhaupt als erforderlich oder auch ein gewisses Maß an Gewaltenvermischung als zulässig anzusehen ist, steht dabei in direkter Abhängigkeit von den bei der Zuordnung des einzelnen Funktionsträgers zur jeweiligen Funktion – Exekutive, Legislative und Judikative – als maßgeblich zugrundegelegten Umständen. Ungeachtet der dementsprechend teils erheblich voneinander abweichenden Ausgestaltungen – als Verarbeitung von spezifischen Erfahrungen des jeweiligen Gemeinwesens – sind indes die allgemein vorgebrachten Begründungen zur Notwendigkeit einer Gewaltenteilung gleich und sollen demnach auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit nun dargestellt werden. So müssen sie doch bei jeder näheren funktionalen Betrachtung derart Berücksichtigung finden, dass jede Form der Gewaltenteilung – und somit auch das möglicherweise in der Gemeinschaftsrechtsordnung angelegte „institutionelle Gleichgewicht“ – diesen zugrunde liegenden Forderungen und sozialen Bedürfnissen entsprechen ___________ States, shall be vested in one supreme Court, and in such inferior Courts as the Congress, may from time to time ordain and establish. (…)“; Lorz, 7. 105 Loewenstein, Verfassungslehre, 110; Merten in: Weinacht (Hrsg.), 31 (43); Føllesdal in: Weale/Nentwich (Hrsg.), 34 (40); Zippelius, 332; Hofmann in: Hofmann/Marko/Merli/Wiederin (Hrsg.), 3 (11); BVerfGE 3, 225 (247) „Dieses Prinzip ist jedoch nirgends rein verwirklicht. Auch in den Staatsordnungen, die das Prinzip anerkennen, sind gewisse Überschneidungen der Funktionen und Einflussnahmen der einen Gewalt auf die andere gebräuchlich.“; Huber in FG Giacometti 1953, 59 (61) „Die Staaten als Gebilde der sozialen Wirklichkeit, die man dem Typus des Rechtsstaates zuzuordnen pflegt, entsprechen bei weitem nicht vollkommen der Rechtsstaatsidee. Allein die Kluft zwischen beiden ist zu einem nicht geringen Teil unausweichlich, d.h. der Polarität von Politik und Recht zuzuschreiben.“

I. Begründung der Notwendigkeit einer Gewaltenteilung

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muss. Zwar kann eine solche Vorgehensweise im Rahmen einer rechtswissenschaftlichen Arbeit aus methodischen Gründen in Zweifel gezogen werden. Unterstützend für eine solche Herangehensweise ist jedoch allgemein darauf zu verweisen, dass rechtliche Fragen nicht vollkommen losgelöst von den sozialen Zusammenhängen behandelt werden sollten, sofern das Recht weiterhin gerade als eine Möglichkeit zur Lösung bestehender Auseinandersetzungen in einer Gesellschaft verstanden wird.106 Darüber hinaus ist für die Gemeinschaftsrechtsordnung der auf sie konkret anzuwendende Maßstab wohl auch kaum näher bestimmbar. So ist es von vornherein als nicht sachgerecht anzusehen, für eine Gegenüberstellung Bezug allein auf eine bestimmte einzelstaatliche Ausprägung des Gewaltenteilungsgrundsatzes zu nehmen. Aber auch die Bestimmung eines Bezugspunktes für eine solche Gegenüberstellung im Wege einer rechtsvergleichenden Betrachtung der Verfassungsordnungen aller Mitgliedstaaten steht in Widerspruch zu dem überstaatlichen System der Gemeinschaftsordnung. So beinhaltet eine solche rechtsvergleichende Vorbetrachtung bereits wiederum die Aussage, dass die Gemeinschaftsrechtsordnung einem, wenn auch abstrahierten einzelstaatlichen Maßstab zu genügen hat. Wie eine solche Forderung vor dem Hintergrund, dass der Europäischen Rechtsordnung gerade keine Staatlichkeit zukommt, begründet werden sollte, wird indes nicht deutlich. Zusätzlich ist darauf zu verweisen, dass bei Festlegung eines solchen Maßstabs mit jedem Beitritt eines neuen Mitgliedstaats die Notwendigkeit zu seiner Neubestimmung bestünde.

1. Verhinderung von Machtmissbrauch Ausgehend von der für die weitere Entwicklung des Gewaltenteilungsprinzips so einflussreichen griechischen Staatsphilosophie107 fand eine Beschäftigung mit den für jedes Gemeinwesen wichtigen Fragen statt, unter welchen Bedingungen zum einen ein Machtmissbrauch zu erwarten ist und wie zum anderen eine solche Entwicklung verhindert werden kann. Dabei lassen sich aus ___________ 106 Siehe nur für die Erforderlichkeit einer Berücksichtigung des normativen wie sozialen Elements Seelmann, Rechtsphilosophie, 56; Albert in: Roellecke (Hrsg.), 289 (314); Zippelius, Rechtsphilosophie, 75. 107 Vezanis in: ÖzöR 1964, 282 (283); teils wird diese Bedeutung aber auch entscheidend relativiert, so von Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsgrundsatzes, 16; Loewenstein, Verfassungslehre, 34; McClelland, 12 „Montesquieu (...) found constitutional balances, separation of powers (...) in the ancient world because they went looking for them in the first place.“; schließlich auch von Kluxen in: Rausch (Hrsg.), 131 (132) unter Hinweis auf die noch von der Staatsformenlehre geprägten Herangehensweise von Aristoteles und Polybios; für eine nähere Auseinandersetzung siehe C. II. 2. der vorliegenden Arbeit.

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C. Das Prinzip der Gewaltenteilung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips

den damals noch sehr von der Unterscheidung in verschiedenen Staatsformen geprägten Darstellungen – ein Ansatz, den auch Charles de Montesquieu in seinem Werk „Der Geist der Gesetze“ noch verwendete – bereits abstrakte Bedingungen formulieren, die durch John Locke in seinem „Two Treatises of Civil Government“ aus dem Jahr 1690 in dem 12. Kapitel des 2. Buches „The Legislative, Executive, and Federative Power of the Commonwealth“ des Zweiten Buchs108 „An Essay concerning the true Original, Extent and End of Civil Government“ wie folgt beschrieben wurden: „And because it may be too great temptation to human frailty, apt to grasp at power, for the same persons who have the power of making laws to have also in their hands the power to execute them, whereby they may exempt themselves from obedience to the laws they make, and suit the law, both in its making and execution, to their own private advantage, and thereby come to have a distinct interest from the rest of the community, contrary to the end of the society and government. Therefore in well-ordered commonwealths, where the good of the whole is so considered as it ought, the legislative power is put into the hands of divers persons who, duly assembled, have by themselves, or jointly with others, a power to make laws, which when they have done, being separated again, they are themselves subject to the laws they made; which is a new and near tie upon them to take care that they make them for the public good“109 (Hervorhebung d. Verf.). John Locke war bei dieser Darstellung seiner Beobachtungen durch die Ereignisse geprägt, die in England zur „Glorious Revolution“ von 1688 geführt hatten. Zu einem ähnlichen Befund gelangte aber auch Charles de Montesquieu, der zwar durch seine ausgedehnten Reisen in andere europäische Länder – unter anderem nach England – auch mit diesen Ereignissen vertraut war, indes vorrangig durch die Verhältnisse unter der Herrschaft des französischen Königs Ludwig XV. selbst geprägt war.110 So schreibt Montesquieu in seinem 1748 in ___________ 108 Das Erste Buch der „Two Treatises of Civil Government“, im näheren „An Essay concerning certain false principles“, das die Vorstellung eines Gottesgnadentum verwirft, hat sich seine Bedeutung als Kritik an monarchischen Herrschaftssystemen nicht in vergleichbarer Weise wie das Zweite Buch erhalten, so dass im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht näher darauf eingegangen werden soll und nachfolgend auch nur noch auf das Zweite Buch Bezug genommen wird. 109 Locke, Two Treatises of Civil Government, Kapitel 12 „The Legislative, Executive, and Federative Power of the Commonwealth“, Nr. 143. 110 Hierbei soll nicht auf den hinlänglich bekannten Streit eingegangen werden, inwieweit seine Beobachtungen im 6. Kapitel des 11. Buchs seines „Vom Geist der Gesetze“ mit den tatsächlichen Gegebenheiten im damaligen England übereinstimmten; nur sei im Hinblick darauf, ob Montesquieu einen solchen Anspruch überhaupt selbst verfolgte, auf folgende aus gerade diesem Kapitel stammende Aussage (229) hingewiesen: „Mir steht die Prüfung nicht zu, ob die Engländer gegenwärtig diese Freiheit genießen oder nicht. Ich begnüge mich mit der Feststellung, dass sie durch ihre Gesetze in Kraft gesetzt wurde, und forsche nicht weiter.“

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Genf erschienenen dreibändigen Werk „Der Geist der Gesetze“ im 4. Kapitel des 11. Buches „Über die Gesetze, welche die politische Freiheit formen, und ihren Bezug zur Verfassung“: „Die politische Freiheit ist nur unter maßvollen Regierungen anzutreffen. Indes besteht sie selbst in maßvollen Staaten nicht immer, sondern nur dann, wenn man die Macht nicht missbraucht. Eine ewige Erfahrung lehrt jedoch, dass jeder Mensch, der Macht hat, dazu getrieben wird, sie zu missbrauchen. Er geht immer weiter, bis er an Grenzen stößt. Wer hätte das gedacht: Sogar die Tugend hat Grenzen nötig. Damit die Macht nicht missbraucht werden kann, ist es nötig, durch die Anordnung der Dinge zu bewirken, dass die Macht die Macht bremse“111 (Hervorhebung d. Verf.). Und nach dieser allgemeinen Feststellung einer immer bestehenden Möglichkeit eines Machtmissbrauchs in jeder Staatsform betont Montesquieu die Bedeutung der Gewaltenteilung als gerade einer solchen „Anordnung der Dinge“ in seinem 6. Kapitel des 11. Buchs, in dem er sich mit der Verfassung Englands, aber auch mit der von den damaligen Republiken Italiens und vor allem den „Republiken der Alten“ auseinandersetzt, in folgender Weise: „Politische Freiheit für jeden Bürger ist jene geistige Beruhigung, die aus der Überzeugung hervorgeht, die jedermann von seiner Sicherheit hat. Damit man diese Freiheit genieße, muss die Regierung so beschaffen sein, dass kein Bürger einen anderen zu fürchten braucht. Sobald in ein und derselben Person oder derselben Beamtenschaft die legislative Befugnis mit der exekutiven verbunden ist, gibt es keine Freiheit. Es wäre nämlich zu befürchten, dass derselbe Monarch oder derselbe Senat tyrannische Gesetze erließe und dann tyrannisch durchführte. Freiheit gibt es auch nicht, wenn die richterliche Befugnis nicht von der legislativen und von der exekutiven Befugnis geschieden ist. Die Macht über Leben und Freiheit der Bürger würde unumschränkt sein, wenn jene mit der legislativen Befugnis gekoppelt wäre, denn der Richter wäre Gesetzgeber. Der Richter hätte die Zwangsgewalt eines Unterdrückers, wenn jene mit der exekutiven Gewalt gekoppelt wäre. Alles wäre verloren, wenn ein und derselbe Mann beziehungsweise die gleiche Körperschaft entweder der Mächtigsten oder der Adeligen oder des Volkes folgend drei Machtvollkommenheiten ausübte: Gesetze erlassen, öffentliche Beschlüsse in die Tat umsetzen, Verbrechen und private Streitfälle aburteilen“112 (Hervorhebung d. Verf.). ___________ 111 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 11. Buch – 4. Kapitel, 215; weiterführend siehe nur di Fabio in: Handbuch des Staatsrechts – Band II, 613 (617); von Hippel, Geschichte der Staatsphilosophie – Band II, 80; Loewenstein, Verfassungslehre, 22; Vile, 78 „Montesquieu started from a rather gloomy view of human nature, in which he saw man as exhibiting a general tendency towards evil, a tendency that manifests itself in selfishness, pride, envy, and the seeing after power.“; darüber hinaus siehe auch Hegel, Der Geist in der Geschichte, 139. 112 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 11. Buch – 6. Kapitel, 216f.

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Die dem Denken von Locke und Montesquieu gemeinsame Erkenntnis besteht demnach zunächst darin, dass das Streben nach Macht als ein in der Natur des Menschen liegender und somit auch in jeder Regierungsform auftretender Umstand anzusehen ist. Das damit einhergehende Ziel einer Machtkonzentration birgt dann weiterführend immer die Gefahr eines Machtmissbrauches in sich und einer solchen drohenden Monopolisierung der Macht soll mit der Gewaltenteilung begegnet werden, die Montesquieu auch gerade in personeller Hinsicht verwirklicht wissen will. Eine positivrechtliche Bestätigung dieser Grundannahmen findet sich bereits in der – hier nur beispielhaft für andere Verfassungen der amerikanischen Kolonien anzuführenden – „Virginia Bill of Rights“ vom 12. Juni 1776. Dieses Verfassungswerk nahm die Menschen- und Grundrechte der Amerikanischen Verfassung von 1787 voraus und bildete den frühen Versuch einer wirksamen Freiheitssicherung für den Einzelnen. Mit ihrer Verbindung des Anspruchs des Volkes auf Selbstregierung, dem Schutz der Menschen- und Grundrechte und schließlich dem Grundsatz der Gewaltenteilung ist die „Virginia Bill of Rights“ zum Vorbild aller späteren demokratischen Verfassungen und Menschenrechterklärungen geworden. So bestimmt ihr Art. 5: „That the legislative and executive powers of the state should be separate and distinct from the judicative; and that the members of the two first may be restrained from oppression, by feeling and participating the burthens of the people, they should, at fixed periods, be reduced to a private station, return into that body from which they were originally taken, and the vacancies be supplied by frequent, certain, and regular elections, in which all, or any part of the former members, to be again eligible, or ineligible, as the laws shall direct.“113 In derselben Grundüberzeugung erklärte George Washington 1796 schließlich auch in seiner Abschiedsbotschaft an das Amerikanische Volk: „The spirit of encroachment tends to consolidate the powers of all the departments in one, and thus to create, whatever the form of government, a real despotism. A just estimate of that love of power, and proneness to abuse it, which predominates in the human heart, is sufficient to satisfy us of the truth of this position. The necessity of reciprocal checks in the exercise of political power, by dividing and distributing it into different depositaries, and constituting each the guardian of the public weal against invasions by the others, has been evinced ___________ 113 Siehe auch die „Constitution of Massachusetts“ (1780) „In the government of this Commonwealth the legislative department shall never exercise the executive and judicial powers or either of them; the executive shall never exercise legislative and judicial powers or either of them; to the end that it may be a government of laws and not of men“ und die „Constitution of Maryland“ (1776): „The legislative, executive and judicial powers of government ought to be forever separate and distinct from each other.“; weiterführend Vile, 133.

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by experiments ancient and modern; some of them in our country and under our own eyes. To preserve them must be as necessary as to institute them“114 (Hervorhebung d. Verf.). Wie diese angeführten Beispiele belegen, ist es demnach eine allgemeingültige Grundüberzeugung, dass ein Gemeinwesen in seiner Freiheit nur gesichert werden kann, wenn die Staatsgewalt von verschiedenen selbstständigen Organen wahrgenommen wird. In der Gewaltenteilung liegt somit der entscheidende Unterschied zwischen einem freiheitlich verfassten Staatssystem und einer Diktatur. Letztere kennzeichnet sich gerade durch die Konzentrierung aller Entscheidungsgewalt bei einem Individuum oder bei einer Partei aus.115 Ob jedoch eine Gewaltenteilung im Sinne einer Zuweisung der Staatsfunktionen auf verschiedene Organe tatsächlich bereits ausreicht, um einen Machtmissbrauch auszuschließen, bleibt fraglich. So hat sich insbesondere die zur Veranschaulichung der Gewaltenteilung unter Anleihe aus der Märchenwelt erfolgende Darstellung von Ernst von Hippel116 Kritik unter anderem von Max Imboden117 ausgesetzt gesehen, ohne dass dieser hier vollkommen gefolgt werden soll.118 Bestand haben die Beobachtungen von Max Imboden jedoch inso___________ 114 Ausführlich zur Abschiedsbotschaft von Hippel, Geschichte der Staatsphilosophie – Band II, 132ff. 115 Brunner in: Handbuch des Staatsrechts – Band I, 531 (551); Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik der Gewaltenteilungsgrundsatzes, 143; Besson/ Jasper, Das Leitbild der modernen Demokratie, 81; Stern, Das Staatsrecht der BRD – Band II, 531; Lenin, Ausgewählte Werke – Band II, 191 (193). 116 Von Hippel, Gewaltenteilung im Modernen Staate, (10f.) „Bei all dem gleicht die Freiheit des Bürgers ein wenig der Sicherheit des tapferen Schneiderleins, der die Riesen gegeneinander brachte und so selber unbeachtet und unbehelligt blieb. Indem nämlich die Inhaber der Macht diese jeweils zu erweitern trachten, ein jeder aber hier dem gleichem Streben und Vermögen des anderen begegnet, entsteht etwas wie ein druckleerer Raum für den Raum für den Bürger, in dem dieser nun unbehelligt leben kann.“ 117 Imboden, Montesquieu und die Lehre der Gewaltenteilung, 12 „Diese Betrachtung erinnert – wie Ernst von Hippel geistvoll ausgedrückt hat – recht sehr an das Märchen vom tapferen Schneiderlein; der Schwache lässt die Riesen gegeneinander kämpfen, um sich selbst den Weg freizumachen. So etwa stellt sich denn auch die langläufige Meinung die Wirkung der Teilungslehre vor. Und doch dürfte dieses Bild schwerlich eine befriedigende Deutung bringen. Die als selbstverständlich vorausgesetzte Zwangsläufigkeit des Geschehens bleibt im Grunde unerklärt. Warum kann nicht das Gegenteil eintreten?“; siehe auch allgemein Loewenstein, Verfassungslehre, 38 „Was Locke, Montesquieu (...) nicht erkannten (...) war, dass alle Regierung Macht ist.“ 118 So muss doch zumindest auf auch die vorangegangene, sehr interessante Äußerung von Ernst von Hippel, Gewaltenteilung im Modernen Staate, 10 verwiesen werden, in der er wie folgt das Gewaltenteilungsprinzip beschreibt: „Und zwar dies nicht beliebig, sondern so, dass nun zwischen den verschiedenen Machthabern ein Zustand des Gleichgewichts entsteht, der es einem jedem unmöglich macht, sich des Ganzen der Macht zu bemächtigen. Dafür aber müssen sie im Prinzip gleich stark sein, denn da für Montesquieu jeder Mensch nach eigensüchtiger Machterweiterung strebt, bis er Grenzen

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weit, als unterschiedliche Funktionsträger doch auch gleiche Interessen verfolgen können, so dass eine gegenseitige Hemmung von ihnen gerade nicht erwünscht wird, sondern vielmehr eine vergleichbare Situation auftritt wie wenn nur eine Interessengruppe die gesamte Macht ausübt. Eine Zwangsläufigkeit derart, dass durch eine Gewaltenteilung von vornherein ein Machtmissbrauch auszuschließen ist, besteht demnach nicht. Beispielhaft soll hier nur auf das Ende der Weimarer Zeit hingewiesen werden, in der Teile der Gesellschaft bei ihren Versuchen, den Staat nach ihren Vorstellungen umzugestalten, maßgebliche Unterstützung durch die Rechtsprechung erhielten, die sich bei der Verfolgung politischer Straftaten nicht mehr unabhängig und unparteiisch verhielt.119 Um einen Machtmissbrauch wirksam entgegenzuwirken, ist demnach nicht nur erforderlich, dass die Gewalt von vornherein nicht nur in wenigen Händen liegt, sondern die mit ihrer Wahrnehmung betrauten Kräfte auch durch eine Ausrichtung an unterschiedlichen Interessen gekennzeichnet sind. Je mehr demgegenüber eine Interessenidentität besteht und demnach die verschiedenen Organe effektiver – als zunächst bei der Entwicklung dieses Konzeptes vorhergesehen – bei der Verfolgung ihrer gemeinsamen Ziele zusammenarbeiten, umso wahrscheinlicher wird ein Machtmissbrauch und besteht somit für den Einzelnen die Gefahr, einer Willkürherrschaft ausgesetzt zu werden. Betrachtet man in diesem Lichte die zuvor angeführten Aussagen von John Locke nochmals eingehender, fällt vor allem der von ihm verwendete Begriff des „distinct interest“ auf, dessen Herausbildung im Interesse der Allgemeinheit durch die Errichtung eines unparteiischen Entscheidungsverfahren zu verhindern ist120. Gerade aus dem sich in der Gewaltenteilung wiederspiegelnden Gegensatz der gesellschaftlichen Interessen und dem damit bestehenden Erfordernis einer dauernden Kompromissfindung entsteht die gegenseitige Hemmung der unterschiedlichen Funktionsträger. Eine schwerfällige Entscheidungsfindung ist folglich gerade für ein gewaltenteilig organisiertes und auch „funktionierendes“ Gemeinwesen kennzeichnend. Schwierigkeiten bereitet dabei nur die Grenzziehung zu einer Lage, in der aufgrund der gegenseitig wir___________ findet, müssen Druck und Gegendruck sich die Waage halten, damit ein Zustand des Gleichgewichts bestehen kann.“ 119 Siehe nur die Kennzeichnung bei Steffani in: Rausch (Hrsg.), 313 (348) als „politischen Justiz“; so auch Arendt, 167 im Hinblick auf die Strafverfolgung durch die deutsche Justiz in der Nachkriegszeit „One is unhappily reminded of the Weimar Republic, whose specialty it was to condone political murder if the killer belonged to one of the violently anti-republican groups of the Right.“ 120 Siehe für den dahinter stehenden demokratietheoretischen Ansatz nur Weale in: Weale/Nentwich (Hrsg.), 49 (53); im Übrigen siehe für die begrenzten Wirkungsmöglichkeiten des Gewaltenteilungsgrundsatzes allgemein von Hippel, Allgemeine Staatslehre, 221.

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kenden Kräfte ein Gemeinwesen nicht mehr zur Erfüllung seiner Hauptfunktion – der zufriedenstellenden Regelung der Lebensumstände der Herrschaftsunterworfenen – fähig ist, was gleichermaßen zu einem Legitimationsproblem und damit langfristig zu einem Scheitern des Systems führen muss. Auch die von Montesquieu im „Der Geist der Gesetze“ vorgesehene Gewaltenteilung – soweit überhaupt bei seinem Werk von einer solchen zu sprechen ist – lässt schließlich deutlich die Ausrichtung an der damals bestehenden Ständeordnung erkennen. So sollte die Exekutive vom Monarchen, die Legislative vom Volk und dem Adel – organisiert in einem Zweikammersystem – und die Judikative schließlich durch den Adel und das Volk wahrgenommen werden. Die Interessen dieser drei gesellschaftlichen Gruppen unterschieden sich schon naturgegeben. Dass Montesquieu diese Interessengegensätze und die damit in Erscheinung tretende soziale Gewaltenteilung aber auch gerade als Notwendigkeit für ein funktionierendes, gewaltenteilig organisiertes Staatswesen erkannt hat und bewusst auszunutzen suchte, ist mittelbar aus seinen auch im 6. Kapitel des 11. Buch gemachten Beobachtungen über die italienischen Republiken in ihrem Vergleich zum „asiatischen Despotismus“ abzulesen. So schreibt er: „Die Ämterfülle mildert das Ämterwesen manchmal. Nicht immer verfolgen alle Adligen dieselben Pläne. Gegensätzliche Tribunale, die einander einschränken, bilden sich. Auf solche Weise hat in Venedig der Große Rat die Legislation inne, der Pregadi die Durchführung, die Vierzig die Gerichtsbefugnis. Das Übel besteht aber darin, dass diese unterschiedlichen Tribunale durch Beamte aus der gleichen Körperschaft gebildet werden. So entsteht kaum etwas anderes daraus als die eine, gleiche Befugnis“121 (Hervorhebung d. Verf.). Zwar kann demnach eine – durch Geburt und den damit verbundenen Privilegien vom Rest der Gemeinschaft deutlich geschiedene – gesellschaftliche Einheit wie der Adel auch erhebliche Interessengegensätze in sich vereinen und ist damit zu einer gegenseitigen Machtbegrenzung schon innerhalb der eigenen Gruppe in der Lage. Die immer bestehende Möglichkeit, dass eine Gruppe die ihr zugewiesene Macht zur eigennützigen Interessenverfolgung missbraucht, kann indes nur dauerhaft durch die von einer unabhängigen und vollständig anderen Interessengemeinschaft vorgenommene und einer anderen „Körperschaft“ zugewiesene Überwachung ausgeschlossen werden. Auch wenn mit Aufhebung der Ständeordnung eine derart klare Teilung der Gesellschaft wie zu Zeiten Montesquieus nicht mehr gegeben ist, bestehen nichtsdestotrotz immer noch Interessengruppen, deren Ziele gegensätzlich zueinander stehen. Bestehen für diese ___________ 121 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 11. Buch – 6. Kapitel, 218; siehe auch Georgopoulos in: 9 ELJ 2003, 530 (531) „Montesquieu’s political thought, considered as the keystone of the modern constitutional theory, explicitly appehends powers in both a legal and social way.“; Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes, 53.

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verschiedenen Gruppen entsprechende Möglichkeiten der gegenseitigen Überwachung sowie Einflussnahme und finden ihre Anliegen eine Vertretung in den unterschiedlichen Funktionsträgern, kann somit durch eine Gewaltenteilung auch erst ein Machtmissbrauch wirksam verhindert werden.122

2. Wahrung der Freiheit des Einzelnen Insbesondere aus heutigem Verständnis eng verbunden mit diesem ersten Begründungsansatz des Gewaltenteilungsgrundsatzes – der Verhinderung der Machtkonzentration bei einem Entscheidungsträger und der damit einhergehenden Gefahr eines staatlichen Machtmissbrauchs – ist das zugrunde liegende Ziel einer solchen Gestaltung des Staates, die Wahrung der Rechte und damit der Freiheit des einzelnen Bürgers. Besonders deutlich wird diese Verknüpfung bereits bei John Locke, dessen Werk „The Two Treatises of Civil Government“ von vornherein durch eine ausgesprochen individualrechtliche Ausrichtung gekennzeichnet ist. So sieht John Locke das Eigentumsrecht als eine Naturgegebenheit und damit als Rechtsposition an, die eines besonderen Schutzes bedarf, da erst durch ihre Sicherung der Einzelne sich in der Gesellschaft verwirklichen kann und auch nur aufgrund dieser Zusicherung zur vertraglichen Begründung einer Gesellschaft überhaupt bereit ist. Das Recht an der eigenen Person setzt sich im Eigentum an den erst durch die Arbeit – und der damit einhergehenden Verbindung mit der eigenen Person – geschaffenen weiteren Werten fort.123 Ausgehend von dem diesbezüglich gesteigerten individuellen Schutzbedürfnis erklärt Locke dann zunächst die Entwicklung vom Naturzustand zur Gesellschaft. Zwar geht Locke nicht wie Thomas Hobbes von einer zutiefst pessimistischen Beschreibung des ___________ 122 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 119 (199); Habermas,Faktizität und Geltung, 217; Stern, Das Staatsrecht der BRD – Band II, 549; siehe für einen hiervon abweichenden Ansatz nur Hesse in: FG Smend 1962, 71 (82) „Die Bindung aller staatlichen Gewalten an das Recht schafft auf diese Weise nicht nur Voraussetzungen und Gewährleistungen dafür, dass das Recht nicht einseitig in den Dienst einer herrschenden Gruppe gestellt werden kann; indem sie eine relative Eigenständigkeit der das Recht anwendenden Gewalten bewirkt, sichert sie zugleich die Unparteilichkeit jener Gewalten. Ebensowenig wie das Recht können daher diese Gewalten einen rein instrumentalen Charakter annehmen.“; allgemein zum Optimierungsproblem bei der Organisierung von Interessen Zippelius in: FS Eichenberger 1982, 147 (156); zum dahinterstehenden demokratietheoretischen Ansatz siehe wiederum nur Weale in: Weale/Nentwich (Hrsg.), 49 (53). 123 Locke, Two Treatises of Civil Government, Kapitel 5 „Of Property“, Nr. 27 „It being by him removed from the common state Nature placed it in, it hath by this labour something annexed to it that excludes the common right of other men.“; Euchner in: Maier/Rausch/Denzer (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens – Band II, 9 (16).

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Naturzustandes als „Krieg aller gegen alle“ und insbesondere einer Zwangsläufigkeit dieses Zustandes aus. Doch ist auch der von ihm beschriebene Naturzustand aufgrund des Fehlens einer gemeinsamen anerkannten Autorität langfristig durch Unsicherheit und gegenseitige kriegerische Auseinandersetzungen gekennzeichnet.124 So beschreibt er im 11. Kapitel „Of the Extent of the Legislative Power“ den Grund für jede Gesellschaftsbildung derart: „To avoid these inconveniencies which disorder men’s properties in the state of Nature, men unite into societies that they may have the united strength of the whole society to secure and defend their properties, and may have standing rules to bound it by which every one may know what is his“125 (Hervorhebung d. Verf.). Als Endzweck jeder gesellschaftlichen und staatlichen Gemeinschaft kann folglich die Bewahrung des Eigentums für den Einzelnen und eine damit in ihrem Bestand gesicherte materielle Verteilungslage ausgemacht werden, sofern sich die Unterschiede in den Eigentumsverhältnissen als nicht zu groß erweisen.126 Dementsprechend bestehen nach Locke bestimmte Anforderungen an ein gesellschaftliches System, die auch nur bei ihrer Erfüllung die Eingliederung des Einzelnen in dieses bewirken können und von ihm wie folgt beschrieben werden: „Absolute arbitrary power, of governing without settled standing laws, can neither of them consist with the ends of society and government, which men would not quit the freedom of the state of Nature for, and tie themselves up under, were it not to preserve their lives, liberties, and fortunes, and by stated rules of right and property to secure their peace and quit“127 (Hervorhebung d. Verf.). Die Verbindung zwischen der Freiheit des Einzelnen mit dem Prinzip der Gewaltenteilung wird dann schließlich von ihm wie folgt hergestellt: „For all the power of government has, being only for the good of the society, as it ought not to be arbitrary and at pleasure, so it ought to be exercised by established and promulgated laws, that both the people may know their duty, and be safe and secure within the limits of the law, and the rulers, too, kept within their due bounds, and not to be tempted by the power they have in their hands to employ it to purposes, and by such measures as they would not have known, and ___________ 124

Kluxen in: Rausch (Hrsg.), 131 (150); Euchner in: Maier/Rausch/Denzer (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens – Band II, 9 (16); Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes, 46; Isensee in: JZ 1999, 265 (271). 125 Locke, Two Treatises of Civil Government, Kapitel 11 „Of the Extent of Legislative Power“, Nr. 136. 126 Locke, Two Treatises of Civil Government, Kapitel 11 „Of the Extent of Legislative Power“, Nr. 138 „For the preservation of property being the end of government (…).“ 127 Siehe hierzu auch die deutliche Aussage bei Isensee in: JZ 1999, 265 (271) „Der Staatszweck Sicherheit rechtfertigt nicht den Verlust der Freiheit, sondern nur deren Beschränkung.“; Schliesky, 206.

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own not willingly“128 (Hervorhebung d. Verf.). Entsprechend dem Verständnis von John Locke bedarf der Einzelne demnach zwar des Staates, um seine persönliche Freiheit gegenüber Übergriffen durch andere Individuen gesichert zu wissen und um auf dieser Grundlage überhaupt sein Leben frei gestalten zu können. Gleichzeitig bedarf es in einem staatlichen Gemeinwesen aber klarer rechtlicher Begrenzungen, um die durch die Gesellschaftsbildung erst neu geschaffenen Gefahren von Machtmissbräuchen nunmehr durch Träger staatlicher Hoheitsgewalt auszuschließen.129 In gewissem Gegensatz zu John Locke geht Charles de Montesquieu ausdrücklich davon aus, dass erst die Errichtung einer Gesellschaft, die zu Ungleichheiten unter den einzelnen Mitgliedern führt, selbst die Schaffung von Gesetzen erforderlich macht. So schreibt er im 3. Kapitel des 1. Buches: „Sobald die Menschen vergesellschaftet sind, verlieren sie das Gefühl ihrer Schwäche. Die Gleichheit zwischen ihnen hört auf, und der Kriegszustand hebt an. Jede Einzelgesellschaft fühlt bald ihre Stärke. Das erzeugt zwischen Nation und Nation einen Kriegszustand. Innerhalb jeder Gesellschaft fangen die einzelnen an, ihre Stärke zu fühlen. Sie versuchen, die Hauptvorteile dieser Vergesellschaftung zu ihren Gunsten auszunutzen. Das schafft zwischen den einzelnen einen Kriegszustand. Diese beiden Arten des Kriegszustands veranlassen die Einführung von Gesetzen unter den Menschen“130 (Hervorhebung d. Verf.). Ungeachtet dieser unterschiedlichen Ansätze besteht jedoch gleichermaßen nach John Locke wie Charles de Montesquieu ein Bedürfnis zur gesetzlichen Regelung gesellschaftlicher Verhältnisse, die aufgrund der Befürchtung eines Machtmissbrauchs auch gewaltenteilig erfolgen sollte. Einen direkten Bezug von der Gewaltenteilung zur persönlichen Freiheit des Einzelnen stellt Charles de Montesquieu jedoch zunächst nicht her. Bereits die Gliederung seines Werkes „Der Geist der Gesetze“ scheint vielmehr gegen eine solche Bezugnahme ausdrücklich zu sprechen. So beschäftigt sich Charles de Montesquieu im 11. ___________ 128 Locke, Two Treatises of Civil Government, Kapitel 11 „Of the Extent of Legislative Power“, Nr. 137; weiterführend siehe nur Isensee in: JZ 1999, 265 (271); Loewenstein, Verfassungslehre, 32. 129 Zippelius in: FS Eichenberger 1982, 147 (148); Isensee in: JZ 1999, 265 (271); in dieser Hinsicht lässt sich im Übrigen tatsächlich vom Rechtsstaat als einer „anthropologischen Notwendigkeit“ sprechen, siehe auch Schmidt-Aßmann in: Handbuch des Staatsrechts – Band II, 541 (555); Stern, Das Staatsrecht der BRD – Band 1, 767; Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, 115 „Denn das Gesetz ist die Objektivität des Geistes und der Wille in seiner Wahrheit; und nur der Wille, der dem Gesetze gehorcht, ist frei: denn er gehorcht sich selbst und ist bei sich selbst und also frei. Indem der Staat, das Vaterland, eine Gemeinsamkeit des Daseins ausmacht, indem sich der subjektive Wille des Menschen den Gesetzen unterwirft, verschwindet der Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit.“ 130 Montesquieu, Der Geist der Gesetze, 1. Buch – 3. Kapitel, 102; siehe weiterführend McClelland, 330.

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Buch mit den Gesetzen, welche die politische Freiheit formen, und ihren Bezug zur Verfassung, um erst im daran anschließenden 12. Buch sich den Gesetzen, welche die politische Freiheit formen, in ihrem Bezug zum Bürger zu widmen. Er unterscheidet demnach deutlich zwischen diesen beiden Bezügen. So schreibt er im 1. Kapitel des 12. Buches: „Es ist nicht damit getan, die Freiheit in ihrem Bezug zur Verfassung zu behandeln. Sie muss auch in ihrem Bezug zum Bürger aufgezeigt werden. Im ersteren Fall wird sie, wie ich ausführte, durch eine bestimmte Aufteilung der drei Befugnisse ausgebildet. Im letzteren Fall muss die jedoch im Licht einer ganz anderen Idee betrachtet werden. Sie besteht in der Sicherheit oder in der Überzeugung, man habe seine Sicherheit“131 (Hervorhebung d. Verf.). Fortführend behandelt er dann im 12. Buch die besondere Bedeutung der Strafgesetze und der auf dieser Basis getroffenen verbindlichen Urteile für diese Sicherheit des Einzelnen, sowie die Sonderfrage nach einer möglichen zeitweiligen Aussetzung individueller Rechte. Gemeinsam ist jedoch beiden Bezügen der Grundbegriff, die politische Freiheit, der bereits im 3. Kapitel des 11. Buches „Worin die Freiheit besteht“ erstmals wie folgt aufgenommen wird: „Jedoch bedeutet politische Freiheit nicht, dass man machen kann, was man will. In einem Staat, das heißt einer mit Gesetzen ausgestatteten Gesellschaft, kann Freiheit lediglich bedeuten, dass man zu tun vermag, was man wollen soll, und man nicht zu tun gezwungen wird, was man nicht wollen soll“132 (Hervorhebung d. Verf.). Folglich ist die Trennung der beiden Bezüge auch nicht über zu bewerten und als das seinen Betrachtungen zur Gewaltenteilung zugrundeliegende Anliegen ist auch die Bewahrung der Individualrechte und Freiheiten anzusehen. Dabei schützt im Weiteren eine solche Aufgliederung und gegenseitige Überwachung der staatlichen Macht den Bürger dann nicht nur vor Akten staatlicher Willkür, sondern erleichtert darüber hinaus das Verständnis des Regierungsprozesses. Dass mit der Gewaltenteilung – neben ihrer individualrechtlichen Schutzrichtung – aber auch eine rein objektive Zielsetzung wie die der Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse verfolgt werden kann, sollte gleichfalls nicht vernachlässigt werden.

3. Ordnungsgemäße Wahrnehmung der Staatsfunktionen Die Notwendigkeit einer Gewaltenteilung kann darüber hinaus aus dem Interesse an einer ordnungsgemäßen und verantwortlichen Wahrnehmung der Staatsfunktionen begründet werden. Dabei erscheint jedoch zunächst fraglich, ob mit einem solch allgemein gehaltenen Begründungsansatz überhaupt weiter___________ 131 132

Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 12. Buch – 1. Kapitel, 254. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 11. Buch – 3. Kapitel, 214.

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gehende Aussagen verbunden sind, die das Verständnis der Gewaltenteilung erleichtern könnten. So ist doch jede staatsorganisationsrechtliche Grundentscheidung in einem Gemeinwesen an gerade diesem Interesse ausgerichtet, es bildet demnach einen immer zu berücksichtigenden Umstand. Vorrangige Bedeutung gewinnt das Interesse an einer ordnungsgemäßen Wahrnehmung der Staatsfunktionen zunächst nicht als Begründungsansatz, sondern in seiner Einwirkung auf bereits bestehende Strukturen im Sinne eines Optimierungsgebots. So betrifft die allgemein aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz abgeleitete Forderung nach einer funktionsgerechten Struktur133 lediglich die Organisation und den Aufbau der mit den einzelnen Staatsaufgaben betrauten Organe. Auch die damit verbundene Forderung, dass eine Aufgabe von demjenigen Funktionsträger wahrzunehmen ist, der nach Art seiner Entscheidungsfindung, seinem inneren Aufbau und seiner Sachnähe hierfür am besten geeignet ist, betrifft lediglich die nähere Ausgestaltung des bereits gegebenen Verhältnisses zwischen Funktion und Funktionsträger. Gleiches gilt im Übrigen für das spiegelbildliche Verbot der Wahrnehmung oder Zuweisung von Funktionen an ein Organ, dessen Struktur der von ihm wahrzunehmenden Grundfunktion nicht entspricht.134 Die Idee einer sachlichen Konnexität von Funktion und Organstruktur ist somit nur als ein auf ein bereits bestehendes System wirkendes Zuordnungsprinzip anzusehen. Die darüber hinausgehende Vorstellung, dass es sich bei dem Interesse an einer ordnungsgemäßen Wahrnehmung der Staatsfunktionen um einen dem Gewaltenteilungsgrundsatz gedanklich vorgelagerten, eigenständigen Begründungsansatz handelt, findet sich indes schon bei John Locke. So differenziert dieser hinsichtlich der Notwendigkeit einer ständigen Vertretung zwischen exekutiver und legislativer Gewalt wie folgt: „It is not necessary – no, nor so much as convenient – that the legislative should be always in being; but absolutely necessary that the executive power should, because there is not always need of new laws to be made, but always need of execution of the laws that are made.“135 ___________ 133

BVerfGE 68, 1 (86); Zippelius, 327; Bernhardt, 99; Lorz; 551; di Fabio in: Handbuch des Staatsrechts – Band II, 613 (618); Horn in: 49 JöR 2001, 287 (298); Ossenbühl in: DÖV 1980, 545 (549); Küster in: Rausch (Hrsg.), 1 (7) „(…) die Gewaltentrennung habe der Funktionsklarheit und auf Grund dieser Klarheit einer funktionsgerechten Organstruktur zu dienen.“ 134 BVerfGE 68, 1 (86) „(...) sie zielt auch darauf ab, dass staatliche Entscheidungen möglichst richtig, das heißt von den Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen (...).“; von Danwitz in: 35 Der Staat 1996, 319 (334). 135 Locke, Two Treatises of Civil Government, Kapitel 13 „Of the Subordination of the Power of the Commonwealth“, Nr. 153.

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Zwar kann seiner inhaltlichen Aussage, der Ablehnung einer ständigen legislativen Vertretung aus verschiedenen Gründen nicht mehr gefolgt werden. Nicht nur besteht in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft ein legitimierendes Bedürfnis nach einer dauerhaften Mitwirkung der durch das Volk gewählten Legislative an der Entscheidungsfindung und nach einer zu jedem Zeitpunkt stattfindenden gegenseitigen Überwachung der Organe untereinander. Auch erfordern die aufgrund der schnell fortschreitenden Entwicklung teils kaum noch vorhersehbaren gesellschaftlichen Veränderungen fortlaufend gesetzgeberische Anpassungen an die veränderten Gesamtumstände. Zu diesem Tätigwerden ist der Gesetzgeber schließlich nach der im deutschen Staatsrecht geltenden Wesentlichkeitstheorie im grundrechtsrelevanten Bereich auch verpflichtet.136 Entscheidend wirkt sich aber vor allem der seit dieser Äußerung von John Locke erfolgte grundlegende Wandel im modernen Staatsverständnis aus. So ist das Verhältnis zwischen dem Staat und dem einzelnen Bürger nicht mehr nur dadurch gekennzeichnet, dass Letzterer mit den ihm zustehenden Grundrechte – im Sinne von Abwehrrechten entsprechend einer liberalistischen Rechtstheorie – einen staatsfreien und unabhängigen Gestaltungsraum für die eigene Person zu verteidigen sucht. Vielmehr wird der Staat, der bestimmte Verhaltensweisen schützt und fördert und dadurch sozialgestaltend tätig wird, zunehmend auch zum Anspruchsgegner.137 Mit diesem wesentlich erweiterten Verständnis der staatlichen Aufgaben ist der auf eine deutliche Begrenzung staatlicher Einwirkungen angelegte Ansatz von John Locke demnach nicht mehr vereinbar. Bestand haben jedoch die seiner Aussage zugrunde liegenden Feststellungen. Danach erfordern zunächst die verschiedenen – in den drei Staatsfunktio___________ 136

BVerfGE 34, 165 (192); 40, 273 (249) „Im Rahmen einer demokratischparlamentarischen Verfassung, wie sie das Grundgesetz ist, liegt es näher anzunehmen, dass die Entscheidung aller grundsätzlichen Fragen, die den Bürger unmittelbar betreffen, durch Gesetz erfolgen muß, und zwar losgelöst von dem in der Praxis fließenden Abgrenzungsmerkmal des Eingriffs.“; BVerfGE 41, 251 (260); 45, 400 (417); 48, 210 (221); 49, 89 (126f.) „Heute ist es ständige Rechtsprechung, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, – losgelöst vom Merkmal des Eingriffs – in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit diese staatlicher Regelung zugänglich ist, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen.“; kritisch zur Aussagefähigkeit dieser Theorie siehe aber auch nur Ossenbühl in: DÖV 1980, 545 (550). 137 Kunig, 335; Ryffel in: FS Eichenberger 1982, 59 (64); Scheuner in: Listl/Rüfner (Hrsg.), 185 (219); Hesse in: FG Smend 1962, 71 (88) „Die Funktion des Rechtsstaats im Verfassungssystems des Grundgesetzes ist anderer Art, nicht eine negative, nur abwehrende oder hemmende, sondern eine positive.“; im Übrigen wird nicht von ungefähr im Hinblick auf diese Entwicklung auf eine gewisse Vergleichbarkeit des modernen Staates mit dem absolutistischen Wohlfahrtsstaat hingewiesen, so von Merkl in: FS Kelsen 1971, 126 (133f.); Huber in: FG Giacometti 1953, 59 (75); wohl auch Würtenberger in: JuS 1986, 344 (347).

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nen zusammengefassten – hoheitlichen Aufgabenbereiche unterschiedliche Vorgehensweisen. Besonders deutlich wird dies im Bereich der auswärtigen Gewalt, in dem ungeachtet von der – unter der Herrschaft der Wesentlichkeitstheorie – allgemein zu beobachtenden Parlamentarisierung der Entscheidungsfindung hauptsächliche Befugnisse immer noch der Exekutive zugewiesen sind.138 Dabei beruht diese grundsätzliche Zuordnung von Handlungen mit Außenbezug zum Tätigkeitsbereich der Exekutive auf der Annahme, dass nur diese institutionell und damit in hinreichender Weise über diejenigen personellen, sachlichen und organisatorischen Mittel verfügt, um auf sich schnell verändernde äußere Lagen angemessen zu reagieren. Die Übertragung der Außenbefugnisse an die Exekutive erklärt sich somit aus dem für das „Überleben“ des Staates so grundlegenden Interesse an der Sicherstellung seiner Handlungsfähigkeit.139 Neben dem auswärtigen Bereich lässt sich aber auch im Hinblick auf andere staatliche Aufgaben die Notwendigkeit sich unterscheidender Vorgehensweisen feststellen. So lässt sich die vor jeder Gesetzgebung erforderlich werdende Integration der in einer Gesellschaft vertretenen verschiedenen Interessen nur in einer Direktversammlung oder in einer stellvertretenden Vereinigung – einem gewählten Parlament140 – im Wege eines gegenseitigen Meinungsaustausches erreichen. Und die sich daran anschließende Umsetzung dieser Entscheidungen kann wiederum durch die Einsetzung weisungsgebundener Behörden entsprechend gewährleistet werden.141 Diese bisher angeführten Beispiele verdeutlichen aber nicht nur, dass die verschiedenen Aufgabenbereiche unterschiedliche Anforderungen an ihre Bewältigung stellen. Bliebe es bei einem solchen Ergebnis, könnte immer noch ein einzelner Funktionsträger verschiedene Aufgaben übernehmen, sofern seine innere Organstruktur den damit verbundenen sich unterscheidenden Anforderungen insgesamt entspräche.142 ___________ 138 BVerfGE 68, 1 (85); Brockmeyer in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 59 GG, Rn. 1; Jarass in: Jarass/Pieroth, Art. 59 GG, Rn. 1; Merten in: Weinacht (Hrsg.), 31 (52). 139 BVerfGE 68, 1 (87); Scheuner in: FS Smend 1952, 253 (283); Brockmeyer in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 59 GG, Rn. 1; Merten in: Weinacht (Hrsg.), 31 (53) „Nur Realitätsferne und Verfassungsnaivität können annehmen, dass gerade das Parlament (...) über die besten Voraussetzungen für eine Entscheidung über den Einsatz bewaffneter Kräfte verfügt.“ 140 So betont BVerfGE 40, 237 (249) dass das parlamentarische Verfahren – gegenüber dem bloßen Verwaltungshandeln – „ein höheres Maß an Öffentlichkeit der Auseinandersetzung und Entscheidungssuche und damit auch größere Möglichkeiten eines Ausgleiches widerstreitender Interessen“ aufweist; Horn in: 49 JöR 2001, 287 (295); Loewenstein, Verfassungslehre, 29. 141 Zimmer, 51; von Danwitz in: 35 Der Staat 1996, 319 (335); Loewenstein, Verfassungslehre, 29; Stern, Das Staatsrecht der BRD – Band II, 538. 142 So weist Loewenstein in: Rausch (Hrsg.), 210 (225) darauf hin, dass „vom Standpunkt der technischen Errungenschaften und Perfektion die Kombination der legislativen und exekutiven oder administrativen Ziele den Erfordernissen der Effektivität der

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Vielmehr ist die weitergehende und entscheidende Feststellung von John Locke darin zu sehen, dass aufgrund der unterschiedlichen Anforderungen die einzelnen Aufgaben unterschiedlichen Funktionsträgern unter Berücksichtigung ihrer verschiedenen Leistungsfähigkeit zuzuordnen sind. Das Interesse an einer ordnungsgemäßen Wahrnehmung der Staatsfunktionen ist mithin in seiner Wirkungsweise nicht nur auf das Verhältnis der einzelnen Aufgabe zu einer jeweils dazu angepassten Organstruktur begrenzt, sondern setzt bereits voneinander getrennte Funktionsträger mit verschiedenen Tätigkeitsbereichen als Notwendigkeit voraus. Gegen die bisherige Darstellung könnte abschließend eingewandt werden, dass im Interesse einer ordnungsgemäßen Wahrnehmung der Staatsfunktionen damit zwar eine Form der Gewaltentrennung, jedoch nur in ihrer strengen Verwirklichung begründet werden kann. Da jedoch eine derartige Form der Gewaltenteilung lediglich ein Ideal darstellt und vielmehr Gewaltenverschränkungen unterschiedlicher Intensität in den verschiedenen Regierungssystemen vorherrschen, wäre der Aussagegehalt dieses Begründungsansatzes wiederum als nur sehr eingeschränkt zu beurteilen. Jedoch bliebe mit einem solchen Einwand unberücksichtigt, dass die ordnungsgemäße Wahrnehmung der Staatsfunktionen gerade auch durch die von den verschiedenen Funktionsträgern wahrgenommenen Kontroll- und Mitwirkungsrechten sichergestellt wird.143 Rechtsverhältnisse zwischen diesen einzelnen Funktionsträgern bestehen nicht nur in den Bereichen, in denen durch kompetenzabgrenzende Bestimmungen die einzelnen Aufgabenbereiche der Organe deutlich voneinander getrennt sind, sondern gerade auch dort, wo durch kompetenzverschränkende Bestimmungen zwischen ihnen ein „konstitutionalisiertes Kooperationsverhältnis“ begründet wird.144 Solche Verhältnisse der Zusammenarbeit begründen für die Organe subjektive Rechte, aber auch Pflichten im Hinblick auf eine fortlaufende Überprüfung, Unterrichtung und gegenseitige Konsultation. Vor diesem Hintergrund kann demnach auch das Interesse an einer ordnungsgemäßen Wahrnehmung der Staatsfunktionen als ein eigenständiger Begründungsansatz für die Notwendigkeit der Gewaltenteilung angesehen werden. ___________ modernen Verwaltung besser dient als die Aufsplitterung eines im wesentlichen einheitlichen Prozesses in zwei verschiedene Bereiche.“ 143 Hahn in: Rausch (Hrsg.), 438 (453); BVerfGE 34, 52 (59) „Das Prinzip der Gewaltenteilung ist für den Bereich des Bundes jedoch nicht rein verwirklicht. Es bestehen zahlreiche Gewaltenverschränkungen und -balancierungen. Nicht absolute Trennung, sondern gegenseitige Kontrolle, Hemmung und Mäßigung der Gewalten ist dem Verfassungsaufbau des Grundgesetzes zu entnehmen.“ 144 So der Schriftsatz der Antragsstellerin, Fraktion Die Grünen vom 12. Juni 1984 im Organstreitverfahren gegen die Bundesregierung, wiedergegeben in BVerfGE 68, 1 (27); Drath in: Rausch (Hrsg.), 21 (31); Zippelius, Rechtsphilosophie, 218.

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4. Herrschaftslegitimation Abschließend soll nun der Frage nachgegangen werden, welche Bedeutung dem Gewaltenteilungsgrundsatz im Rahmen einer umfassenden Herrschaftslegitimation zukommen kann und inwieweit demnach im Rückschluss die Notwendigkeit des Gewaltenteilungsgrundsatzes auch unter diesem Gesichtspunkt begründet werden kann. Jede Herrschaftsform – abgesehen von Willkürsystemen – weist ein ihr innewohnendes Bedürfnis nach Zustimmung und damit einhergehend nach einer möglichst umfassenden Rechtfertigung auf.145 Denn nur wenn eine solche Rechtfertigung gelingt, erfährt der Bestand eines Gemeinwesens eine ständige Bestätigung durch die von einer entsprechenden Überzeugung der Herrschaftsunterworfenen getragene konkrete Normbefolgung. Eine entsprechende Vorstellung der Betroffenen ist aber nicht nur für eine gewisse Sicherung und Stabilisierung des bestehenden Systems als erforderlich anzusehen, sondern ermöglicht darüber hinaus dem Einzelnen überhaupt eine Lebensführung im Rahmen der vorgegebenen Ordnung ohne dauerhafte Normbefolgungskonflikte.146 Im Hinblick auf die verschiedenen Legitimationsgründe, die weiterführend in ihren jeweiligen Bezug zum Gewaltenteilungsgrundsatz gesetzt werden sollen, ist zunächst zwischen zwei Ebenen zu unterscheiden, der normativen und der soziologischen. Dabei soll zunächst unter dem normativen Legitimationsbegriff der Frage nachgegangen werden, auf welche Weise eine hinreichend begründete Berechtigung für eine Herrschaftsordnung abstrakt entwickelt werden kann. Im Rahmen des soziologischen Legitimationsbegriffs stehen daraufhin – in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Anspruch der Soziologie147 – diejenigen Umstände im Mittelpunkt der Betrachtungen, die für die tatsächliche Zustimmung der Unterworfenen zum Herrschaftssystem als entscheidend zu beurteilen sind. Dabei sei in diesem Zusammenhang bereits auf die sich ___________ 145 Beetham/Lord in: Weale/Nentwich (Hrsg.), 15 (15); Würtenberger, 17; Imboden, Montesquieu und die Lehre der Gewaltentrennung, 18; Zippelius, 123; Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 119 (150); Isensee in: JZ 1999, 265 (270); Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 505. 146 Würtenberger, 15 „Aufrechterhaltung und Legitimierung staatlicher Herrschaft erscheinen insofern als eine auch von der Anthropologie her gebotene soziale Notwendigkeit.“; Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 119 (149); Isensee in: JZ 1999, 265 (274); Weiler in: Curtin/Heukels, 23 (28); Schreiber, 146. 147 So definiert Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1 die Soziologie als „eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will.“; Schlieky, 153; siehe aber auch nur für eine eingeschränkte Bedeutung eines soziologisch-empirischen Erkenntnisziel Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 515, die Legitimität als „eine eigene Kategorie neben Legalität und neben tatsächlicher Wirklichkeit“ definiert und die Notwendigkeit von „externen Maßstäben“ betont.

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zwangsläufig ergebenden weiterführenden Fragen verwiesen, ob zum einen ein Legitimationsgrund überhaupt abstrakt bestimmt werden kann oder nicht vielmehr schon begriffsnotwendig eines konkreten Zusammenhanges bedarf und ob zum anderen eine wertfreie, rein soziologische Erfassung des Phänomens der Herrschaftslegitimation als angemessen anzusehen ist.148

a) Der normative Begriff der Legitimation Normative Legitimationsgründe werden im Wege einer Interessenabwägung und – ungeachtet der an sich deutlichen Abgrenzung zu soziologischen Methoden – durch eine, wenn auch zumeist nicht ausdrücklich vorgenommene Untersuchung bestehender Herrschaftsformen entwickelt. Dazu sind immer zunächst die Werte zu benennen, deren Schutz einem derart wichtigen sozialen Bedürfnis entsprechen, dass für ihre Bewahrung staatliche Einschränkungen der persönlichen Freiheit hingenommen werden und denen somit Allgemeinverbindlichkeit zukommt. Für eine normative Legitimationsbegründung ist die Vorstellung vom Bestehen gewisser absoluter Leitideen somit unerlässlich. Auch wenn einzelne dieser Werte sich als sehr zeitgebunden und mithin relativ erwiesen haben – in diesem Zusammenhang sei nur auf die wechselvolle Bedeutung der Sozialstaatlichkeit hingewiesen149 – haben sich manche, zugegeben sehr allgemeine Antworten auf die zugrundeliegende Auseinandersetzung als beständig erwiesen. Bereits John Locke ging von der aus seinem individualistischen Denken fast paradox erscheinenden Notwendigkeit aus150, dass gerade zur Bewahrung von Leben, Freiheit und Eigentum vor Fremdübergriffen die Herrschaft von Menschen über anderen anzuerkennen ist. Dabei steht eine solche offensichtlich an individualrechtlichen Schutzpositionen ausgerichtete Herrschaftsbegründung ___________ 148 Siehe nur Drath in: FS Smend 1952, 41 (45) „Wer also Staatsordnung nur als Rechtsordnung sieht, ist in Gefahr, nur die Sinneinheit mit der übrigen Rechtsordnung, aber nicht die Sinneinheit mit der außerrechtlichen Ordnung zu berücksichtigen, damit aber die Einheit der Gesamtordnung des Staats zu verlieren, da nicht wohl davon ausgegangen werden kann, dass gerade die staatliche Ordnung sich als rechtliche erschöpfe.“ 149 So wies die Weimarer Verfassung im 5. Abschnitt des 2. Hauptteils (Art. 151ff.) noch soziale Rechte auf, die subjektive Rechte des Einzelnen begründeten; diese ausdrückliche Nennung sozialer Grundrechten wurde in das GG nicht übernommen, in der nicht in Kraft getretenen Europäischen Verfassung waren sie in den Art. II-80 bis 98 wieder enthalten; Würtenberger in: JuS 1986, 344 (349); Beetham/Lord in: Weale/ Nentwich (Hrsg.), 15 (16). 150 Auf die unterschiedlichen Ausgangslagen einer Gesellschaftsbildung bei John Locke und Thomas Hobbes ist im Rahmen der vorliegenden Arbeit bereits kurz verwiesen worden, siehe C.I.2.; weiterführend Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes, 46; Isensee in: JZ 1999, 265 (271).

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auch in einem zumindest mittelbaren Zusammenhang mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz. So ist doch die Rechtsstaatlichkeit als Grundvoraussetzung dafür anzusehen, dass die in einer Gesellschaft auftretenden Auseinandersetzungen institutionalisiert – in festgelegten Verfahren – gelöst und die dabei offensichtlich werdenden verschiedenen Vorstellungen eine wirksame Integration erfahren. Der damit wiederum verbundene Schutz des Einzelnen vor willkürlichen, gewalttätigen Übergriffen Anderer und die durch die gegenseitige Kontrolle der Machtinhaber verringerte Wahrscheinlichkeit eines Missbrauches der staatlichen Gewalt lässt eine persönliche Freiheits- und Rechtsausübung im Weiteren überhaupt erst möglich werden.151 Die allgemeine demokratische Rechtfertigungstheorie stellt darüber hinausgehend in den Vordergrund, dass diese als Notwendigkeit bereits erkannte Gemeinschaftsordnung derart auszugestalten ist, dass die Herrschaft soweit wie möglich durch die Mitbestimmung und damit Zustimmung Aller ausgeübt wird und demnach die politische Freiheit des Einzelnen erhalten bleibt.152 Weiterhin wird eine Herrschaftslegitimation aber auch unter Bezugnahme auf die allgemeine Friedens- und Ordnungsfunktion des Staates begründet, die nicht unbedingt in einem Zusammenhang mit der Gewährleistung persönlicher Freiheiten stehen muss. Eine mehr an ethischen Grundwerten orientierte Rechtfertigung findet sich schließlich in der Forderung nach einer gerechten und damit guten Ordnung.153 Dabei soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht auf die immer wieder in diesem Zusammenhang unternommenen Versuche näher eingegangen werden, Gerechtigkeitsvorstellungen als bloß auf ein Herrschaftssystem begrenzt zu begreifen. Der notwendig mit einem solchen Verständnis einhergehende gleichzeitige Bedeutungsverlust von Gerechtigkeitsvorstellungen im Gesamtzusammenhang ist jedoch offensichtlich.

___________ 151 Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes, 38; Lieber, Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart, 199; Isensee in: JZ 1999, 265 (271); Ryffel in: FS Eichenberger 1982, 59 (68); Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 119 (193); Georgopoulos in: 9 ELJ 2003, 530 (532) „(...) the separation of powers develops an integration function: political conflicts and social demands are framed and expressed through constitutional process. The efficiency of the separation of powers depends on its capacity to rationalise and channel these politico-social phenomena.“ 152 Isensee in: JZ 1999, 265 (273); Beetham/Lord in: Weale/Nentwich (Hrsg.), 15 (16); Zippelius, 124; Grams, 98; Würtenberger in: JuS 1986, 344 (348); Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 515; allgemein zur demokratischen Legitimation Vollrath in: FS Sternberger 1977, 392 (393); Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 119 (156); Føllesdal in: Weale/Nentwich (Hrsg.), 34 (36). 153 Ryffel in: FS Eichenberger 1982, 59 (64); Zippelius, 124; Isensee in: JZ 1999, 265 (271); Heller, 223.

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Welchem dieser genannten Herrschaftsgründe im Einzelnen als Staatszweck in einem Gemeinwesen besondere Bedeutung zugemessen wird, ist häufig – mangels ausdrücklicher Aufzählung – erst aus einer Zusammenschau der Verfassungsbestimmungen sowie deren Auslegung durch die Rechtsprechung nachzuweisen. In gewisser Weise eine Ausnahme hiervon bildet die in dieser Hinsicht ausführlich gefasste Präambel zum Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 25. März 1957, die – entgegen eines weit verbreiten Eindrucks – nicht nur die Stärkung wirtschaftlicher Freiheiten zum Ausgangspunkt hatte, sondern auch deutlich Bezug auf diese als Staatszwecke bereits bekannten Grundanliegen nimmt. So wird als Beweggrund für die Begründung dieser Organisationsform in besonderer Weise die Befriedungsfunktion – vorrangig zwischen den in den einzelnen Mitgliedstaaten verfassten Völkern – genannt; die Vertragsausarbeitung vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges wird damit deutlich.154 Aus heutiger Sicht besonders interessant ist aber darüber hinaus die enge und dabei fast selbstverständlich erscheinende Verknüpfung der wirtschaftlichen Freiheitsausweitung mit der allgemeinen Friedens- und Freiheitssicherung. Diese spätestens seit den entsprechenden Aussagen von Adam Smith in seinem Werk „The Wealth of Nations“ immer wieder diskutierte, häufig auch deutlich abgelehnte Verbindung wirtschaftlicher und persönlicher Freiheit darf demnach zumindest nicht als Grundlage der europäischen Wirtschaftsordnung vernachlässigt werden.155 Im Übrigen hätte der Schutz der Individualrechte als wesentliche Grundlage der Europäischen Union auch eine weitere und entscheidende Aufwertung durch die in der Verfassung in den Art. II-61 bis II-114 einbezogene Charta der Grundrechte erfahren. ___________ 154 In diesem Sinne die Präambel „Entschlossen, durch diesen Zusammenschluss ihrer Wirtschaftskräfte Frieden und Freiheit zu wahren und zu festigen, und mit der Aufforderung an die anderen Völker Europas, die sich zu dem gleichen hohen Ziel bekennen, sich diesen Bestrebungen anzuschließen.“; siehe auch Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, 45 „Kein Motiv für die europäische Einigung kann es an Stärke mit dem Verlangen nach Frieden aufnehmen.“; Calliess in: JZ 2004, 1033 (1034); Føllesdal in: Weale/Nentwich (Hrsg.), 34 (46); Weiler in: Curtin/Heukels, 23 (26); Kotzur in: DÖV 2005, 313 (316); Stern in: Liber Amicorum Thomas Oppermann 2001, 143 (143); Haltern, Europarecht und das Politische, 113; Michael Elliott „The Quit Miracle“ in: Time Magazine, March 26, 2007, 22 (23); Andrew Moravcsik „The Golden Moment“ in Newsweek, March 26, 2007, 32 (34). 155 Siehe nur Hallstein, United Europe, 42 „In order to obtain all the advantages promised by a customs union, it is equally necessary to liberalize the factors of production – capital and persons.“; allgemein Smith, The Wealth of Nations – Volume II, 687; Dietze in: 25 JöR 1976, 221 (241); Würtenberger in: JuS 1986, 344 (346) „Seit Ausgang des 18. Jahrhunderts wird freilich der productive state als Legitimation staatlicher Herrschaft zunehmend fragwürdig. Nicht mehr staatliche Verordnung allgemeiner Glückseligkeit, sondern autonome und individuelle Glücksverwirklichung wird nun die Losung. (...) Adam Smith etwa fordert eine neue marktwirtschaftliche Ordnung, die auf dem aufgeklärten Selbstinteresse aller Wirtschaftssubjekte beruht.“

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Vergleichbare Bekenntnisse zum Frieden und zur Freiheit finden sich zwar darüber hinaus beispielsweise auch in der Präambel zur Satzung des Europarates vom 5. Mai 1949. Die durch diese Satzung begründete internationale Organisation weist aber nicht eine mit der Europäischen Gemeinschaftsrechtsordnung vergleichbare Integrationsdichte auf. Auch wenn sich schon aufgrund der besonderen Natur der Gemeinschaftsrechtsordnung und der ihr zugewiesenen Aufgaben die Vorstellung von „Staatszwecken“ nicht vollständig übertragen läßt, so ist demnach doch gleichermaßen der Versuch einer Herrschaftsbegründung von gleicher, wenn nicht sogar von weitergehender Bedeutung, da die mit dieser Frage verbundenen Schwierigkeiten anscheinend deutlicher im europäischen als im staatlichen Zusammenhang in Erscheinung treten. Insbesondere die allgemeine Befriedungsfunktion der europäischen Gemeinschaftsordnung hat sich bisher bewährt, von Interesse wird nun die weitere Entwicklung nach der Osterweiterung im Hinblick gerade auch auf die persönliche Freiheitsentwicklung sein.

b) Der soziologische Begriff der Legitimation Um die Legitimationswirkung gewaltenteiliger Herrschaftsstrukturen in ihrer tatsächlichen Bedeutung erfassen zu können, ist über den normativen hinaus auf den soziologischen Begriff von Legitimation einzugehen. Dieser Begriff der Legitimation ist entscheidend durch den Soziologen Max Weber und sein erstmals 1922 herausgegebenes Werk „Wirtschaft und Gesellschaft“ geprägt worden. Entsprechend seiner Darstellung lassen sich drei Gründe für eine legitim ausgeübte Herrschaft unterscheiden. Dabei ist Herrschaft zunächst zu verstehen als „Chance (…) für spezifische (oder: für alle) Befehle bei einer angebbaren Gruppe von Menschen Gehorsam zu finden.“156 Als einen ersten Legitimationsgrund führt Max Weber daraufhin die Rationalität an, die ihren Ausdruck im Glauben des Einzelnen an die Legalität der verfassten Ordnung und der in diesem Rahmen getroffenen Entscheidungen findet (legale Herrschaft). Im Weiteren kann eine Herrschaft mit dem Glauben an überkommene Traditionen und Machtstrukturen legitimiert werden (traditionelle Herrschaft) oder sich

___________ 156 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 122; Drath in: FS Smend 1952, 41 (47); Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 514; Jellinek, 186; zu den Folgen einer misslungenen Herrschaftsrechtfertigung schließlich Isensee in: JZ 1999, 265 (267) „Der Staat kann den Prozess nicht gewinnen, sondern nur durchstehen. Er kann ihn aber auch verlieren. Wenn er sich nicht vor den Anforderungen der Vernunft zu rechtfertigen vermag, riskiert er Akzeptanzverlust, Veränderungsdruck, Fundamentalopposition, Widerstand, am Ende Anarchie oder Ablösung durch eine andere Form der Organisation.“

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auf das Charisma der herrschenden Einzelperson stützen (charismatischen Herrschaft).157 Auch wenn idealerweise in einer gewaltenteilig verfassten Ordnung in den verschiedenen Gewalten diese soziologischen Legitimationsgründe allesamt in Erscheinung treten, weist der Gewaltenteilungsgrundsatz – losgelöst von seiner im Einzelfall erfolgten Umsetzung – als ein formales Ordnungs- und Strukturprinzip einen direkten Bezug lediglich zu einer Legitimitätsgeltung rationalen Charakters auf. Durch die klaren – jedoch nicht auch schon zwingend rationalen – Zuweisungen bestimmter Aufgaben an einen zuvor festgelegten Funktionsträger wird die Herrschaft berechenbar und nachvollziehbar ausgeübt und kann im Weiteren überhaupt als legitim wahrgenommen werden.158 Dieser Wert einer zunächst nur eingeschränkt bestehenden Möglichkeit einer Einordnung des Gewaltenteilungsgrundsatzes in das System der soziologischen Legitimationsgründe darf jedoch nicht unterschätzt werden. Vielmehr ist bei einer entsprechenden Bewertung der allgemein zunehmende Bedeutungsverlust einer unter Hinweis auf Tradition und Charisma unternommenen Herrschaftsrechtfertigung zu berücksichtigen.159 So kann eine charismatische Herrschaftsbegründung schon aufgrund der größtenteils noch nicht einmal gegebenen Bekanntheit europäischer Politiker in den einzelnen Mitgliedstaaten bisher keine nennenswerte Bedeutung für die Rechtfertigung der auf der europäischen Ebene ausgeübten Macht entwickeln. Versteht man darüber hinaus in Anlehnung an Max Weber eine durch Tradition legitimierte Herrschaft derart, dass eine Ordnung auf dem „Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltenden Traditionen“160 beruht, ist die Schwierigkeit offensichtlich, derartige allgemeinver___________ 157 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 124; Würtenberger, 281f.; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 514; Schliesky, 154; Habermas, Faktizität und Geltung, 541. 158 Siehe nur Schliesky, 406; Habermas, Faktizität und Geltung, 563; Hesse in: FG Smend 1962, 71 (84) „Indem der Rechtsstaat der Wirksamkeit des Staates durch Verfassung und Gesetz Maß und Form gibt und alle staatlichen Gewalten an das Recht bindet, will er nämlich nicht nur funktionelle, sondern auch substantielle Rationalität. Dem staatlichen Leben sollen Verstehbarkeit, Geformtheit, Übersichtlichkeit, Klarheit eigen sein; es soll auf gedanklicher Bewältigung beruhen; (...). Die Einsichtigkeit der staatlichen Zustände ist dabei nicht nur Selbstzweck, sondern zugleich Grundvoraussetzung einer bewussten, verantwortlichen, auf eigenem Urteil beruhenden Anteilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten und damit Grundbedingung des freien politischen Lebensprozesses der Demokratie.“ 159 So nur Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns – Band II, 136 „Die Geltungsbasis der Handlungsnormen verändert sich insofern, als jeder kommunikativ vermittelte Konsens auf Gründe verweist. Die Autorität des Heiligen, die hinter den Institutionen steht, gilt nicht mehr per se.“ 160 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 124; weiterführend hierzu Würtenberger in: JuS 1986, 344 (347).

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bindliche Traditionen und Vorstellungen heutzutage überhaupt noch zu benennen. Seit dem Beginn der Aufklärung, die das Verhältnis zwischen Staat und Religion grundlegend umgestaltet hat, und der Aufgabe der Annahme einer „societas perfecta“ und damit des Glaubens, dass der Einzelne in der staatlichen Gemeinschaft seine wesenhafte Verwirklichung findet, liegt diese Schwierigkeit jedem Versuch der Rechtfertigung von einzelstaatlicher Macht und Autorität zugrunde.161 Noch schwieriger als in den einzelnen Mitgliedstaaten gestaltet sich die gemeinsame Wertebestimmung im europäischen Zusammenhang. Diesbezüglich soll nur auf die Diskussion um die Aufnahme eines Gottesbezuges in die Präambel des Verfassungsentwurfs des Konventes vom 18. Juli 2003 sowie der endgültigen Fassung der Verfassung verwiesen werden.162 Der in der Präambel letzlich enthaltene Bezug auf kulturelle, religiöse und humanistische Überlieferungen Europas umfasste die christliche nur noch als eine unter anderen Prägungen der in der Europäischen Union zusammengefassten Staaten. Ohne zu dieser besonderen Einzelfrage – deren Lösung unter anderem aufgrund des französischen Laizismus erschwert ist – Stellung nehmen zu wollen, sollen doch zumindest dahingehend Bedenken geäußert werden, ob ein Europa, dass sich als ein Raum versteht, „in dem sich die Hoffnung der Menschen entfalten kann“, nicht einer gewissen Beliebigkeit aussetzt.163 Zusätzlich ist die bereits von Max Weber beschriebene Labilität einer Ordnung, die sich lediglich auf materielle und zweckrationale Motive gründet und nicht oder nicht ausreichend auch allgemein verbindliche Werte bestimmt, anzuerkennen.164 Dass ein umfassendes und weitergehendes Bekenntnis zu gemeineuropäischen Werten – unge___________ 161

Würtenberger in: JuS 1986, 344 (348); Isensee in: JZ 1999, 265 (269); Haltern in: 9 ELJ 2003, 13 (40); Ryffel in: FS Eichenberger 1982, 59 (60); Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 119 (172). 162 Siehe hierfür nur zum einen Jan Ross „Kontinent der leeren Kirchen“ in: Die Zeit Nr. 16 vom 7. April 2004 und zum anderen Robert Leicht „Es geht auch ohne“ in: Die Zeit Nr. 26 vom 17. Juni 2004; weiterhin auch Schwind in: 46 GYIL 2003, 353 (366ff.); Calliess in: JZ 2004, 1033 (1037). 163 Deutlich gegen die hier vertretene Ansicht aber Schwind in: 46 GYIL 2003, 353 (372) „The last part of the sentence (...) making Europe an area of hope, is probably the most poetic part of the whole preamble and highlights the historic importance of European unification in general and the constitutional project in particular.“ 164 Weber, Staat und Gesellschaft, 124; siehe weiterführend Würtenberger in: JuS 1986, 344 (348); Isensee in: JZ 1999, 265 (273) „Doch wenn und soweit die rationalen Gründe nicht ausreichen und der Macht- und Willensfaktor unübersehbar hervortritt, muss der Entscheidungsträger dartun, dass er die Willensmacht nicht als eigene ausübt, sondern im Dienste einer anderen Größe, die hinter oder über ihm steht.“; Haltern in: 9 ELJ 2003, 13 (27) „The Union, however, witnesses a debate that is fiercer than others, possibly because the foundations of ist legitimacy are in question. The reason is precisely this: the Union legal order, as a purely rational order, is unable to use the same resources as the Nation State. It has no deep structure that allows it to switch to a perspective of will.“

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achtet seiner zumindest möglichen legitimationssteigernden Wirkung – der Verfassung nicht vorangestellt worden ist, weist auf das Fehlen einer damit näher gekennzeichneten gemeineuropäischen Identität hin. Zwar fand sich in Art. I-2 der Verfassung eine Auflistung derjenigen Werte, auf die sich die Union gründet. Der Wortlaut dieser Bestimmung hätte jedoch mit Rücksicht auf die Europäische Union und die durch sie neben – bisher nicht anstelle – die einzelstaatlichen Gesellschaften tretende neue soziale Gemeinschaftseinheit als unmittelbare Adressatin einer entsprechenden Verpflichtung zur Beachtung dieser Werte wesentlich deutlicher ausfallen können.165 Die demnach wiederum auch in diesem Zusammenhang in Erscheinung tretenden Schwierigkeiten einer europäischen Identitätsbildung werden üblicherweise als Umstände bewertet, die sich nachteilig auf die weitere Vertiefung des Integrationsprozesses auswirken. Doch kann dieser zumeist mit einer großen Selbstverständlichkeit vorgetragene Wirkungszusammenhang auch hinterfragt werden. So hat sich das Fehlen einer gemeineuropäischen Identität auf den bisherigen, ausgesprochen erfolgreichen Integrationsprozess in erkennbarer Weise nicht nachteilig ausgewirkt. Die nichtsdestotrotz bestehende Notwendigkeit einer solchen Identitätsbildung kann mit der allgemeinen Erwartung ihrer insgesamt stabilisierenden Wirkung begründet werden. Das Interesse an einer solchen Stabilisierung hat durch die mit den zwischenzeitlich eingetretenen Erweiterungen der Europäischen Union veränderten Rahmenbedingungen noch zugenommen. Zusätzlich hat sich im Zusammenhang mit den gescheiterten Referenden über den Vertrag über eine Verfassung für Europa in Franreich und den Niederlanden, die zwar teils auch lediglich einzelstaatliche Schwierigkeiten zum Ausdruck gebracht haben, deutlich gezeigt, dass eine ausreichende Vermittlung europäischer Sachverhalte bisher nicht stattfindet.166 Neben dieser vorrangig von den politischen Vertretern und den Medien wahrzunehmenden Aufgabe bildet eine weitere wichtige Grundvoraussetzung für einen solchen Prozess zunächst überhaupt ein entsprechendes Interesse der gesellschaftlichen Kräfte in den einzel___________ 165 So lautet der vollständige Wortlaut des Art. I-2 der Verfassung wie folgt: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ 166 Siehe nur stellvertretend Hartmut Hausmann/Annette Sach „Doppelkrise erzwingt Denkpause“ in: Das Parlament Nr. 25/26 vom 20./27. Juni 2005, 1; Joachim FritzVannahme „Vereint im Nein“ in: Die Zeit Nr. 22 vom 25. Mai 2005; Helmut Schmidt „Wir brauchen Mut“ in: Die Zeit Nr. 24 vom 9. Juni 2005; zuvor schon in diesem Sinne Bruno Gaccio „No Text, Please, We’re French“ in: Time Magazine, May 30, 2005, 25.

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nen Staaten. Überlegungen, ob nicht beispielsweise im Rahmen der europaweiten Demonstrationen gegen den letzten Irak-Krieg bereits die Herausbildung einer länderübergreifenden Zivilgesellschaft beobachtet werden konnte, müssen indes unter Berücksichtigung des Versammlungsgrundes – der Ablehnung eines bestimmten politischen Verhaltens ohne jedoch die gleichzeitige gemeinsame Unterstützung einer anderen Vorgehensweise – fraglich erscheinen. Ohne die Bedeutung einer bewussten Abgrenzung von Anderen für eine Identitätsbildung zu verkennen, müsste ein solcher Vorgang anstatt aus der bloßen Antithese doch vielmehr durch die Entwicklung eigener und gemeinsamer Grundüberzeugungen stattfinden.167 In diesem Zusammenhang können sich zwar mittelbar identitätsstiftend gemeinsame Hilfsaktionen wie diejenigen in Reaktion auf die durch den Tsunami vom 26. Dezember 2004 ausgelösten humanitären Katastrophen in Südostasien auswirken. Doch steht bei derartigen Reaktionen nicht die Europäische Union im Mittelpunkt eines bewussten Prozesses der Identitätsbildung. Demnach kommt – wie im einzelstaatlichen Bereich – gerade auch im europäischen Recht einer rationalen Herrschaftsbegründung, für die auch der Gewaltenteilungsgrundsatz herangezogen werden kann, eine besondere Wichtigkeit zu. Darüber hinaus kann eine hinreichende Beachtung des Gewaltenteilungsgrundsatzes möglicherweise zu einer weiterführenden Legitimation dieses Herrschaftssystems führen. Dies könnte dadurch erreicht werden, dass mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz die Rahmenbedingungen geschaffen werden könnten, um die verschiedenen Interessen – bei Ausübung der verschiedenen Aufgaben – in institutionalisierten Verfahren einem Kompromiss zuzuführen. Die Notwendigkeit des Gewaltenteilungsgrundsatzes und seiner angemessenen Berücksichtigung kann somit zusätzlich mit dem allgemeinen Bedürfnis nach Herrschaftslegitimation begründet werden.

5. Schlussbetrachtung Ungeachtet der sehr verschiedenen Möglichkeiten, den Gewaltenteilungsgrundsatz in einem Herrschaftssystem zu verwirklichen, muss den als Begründungsansätzen dargestellten zugrunde liegenden sozialen und funktionalen Be___________ 167

Siehe allgemein zur Identitätsbildung Calliess in: JZ 2004, 1033 (1039) „Aus Soziologie und Sozialpsychologie ist bekannt, dass Identitätsbildung aber auch mit Abgrenzung verknüpft sein kann, ja vielleicht sogar verknüpft sein muss. Sie erfordert die Unterscheidung zwischen „Us and Them“, zwischen uns und den anderen. (...) Ein gemeinsames Wertefundament kann zur Abgrenzung beitragen, sie zugleich aber auch steuern. Insoweit geht es darum, eine Übersteuerung zu vermeiden.“; Beetham/Lord in: Weale/Nentwich (Hrsg.), 15 (16); Nettesheim in: Liber Amicorum Häberle, 193 (208); kritisch zu entsprechenden Möglichkeiten auf der europäischen Ebene siehe aber auch Haltern in: 9 ELJ 2003, 13 (27).

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dürfnissen mit jeder Umsetzung jeweils entsprochen werden. Gelingt dies nicht, ist die Legitimation der ausgeübten Herrschaft in ihrer Gesamtheit in Frage zu stellen. Auch wenn zu diesem Zeitpunkt die in dieser Arbeit zu behandelnde Frage, inwieweit der Gewaltenteilungsgrundsatz im europäischen Recht durch die Rechtsfigur des „institutionellen Gleichgewichts“ verwirklicht ist, noch nicht beantwortet werden kann, ist doch offensichtlich, dass auch ein „institutionelles Gleichgewicht“ diesen Grundüberlegungen entsprechen muss. Die Notwendigkeit einer entsprechend angepassten Berücksichtigung des Gewaltenteilungsgrundsatzes ergibt sich zunächst schon aus dem deutlichen Bekenntnis der Europäischen Union zur Rechtsstaatlichkeit. Des Weiteren kann der Gewaltenteilungsgrundsatz angesichts der für sein Verständnis unter anderem prägenden Philosophen Aristoteles, John Locke und Charles de Montesquieu als eine allen Mitgliedstaaten gemeinsame Vorstellung angesehen werden, die entsprechend der Präambel des Vertrages über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 „ihrer Kultur und ihrer Traditionen“ entspricht und damit gleichfalls als Grundlage der Gemeinschaftsrechtsordnung herangezogen werden kann.168 Die bereits in Art. 16 der französischen Erklärung der Menschenund Bürgerrechte von 1789 enthaltene und immer noch weiterwirkende Aussage, dass ein Staat ohne Grundrechte und Gewaltenteilung keine – geschriebene oder ungeschriebene – Verfassung hat und demnach auch kein Rechtsstaat ist, entwickelt somit eine neue Bedeutung auch für die bisher nichtstaatliche Organisationsform der Europäischen Union. Die besonderen Umstände des Europäischen Integrationsprozesses ermöglichen diesbezüglich eine wesentlich umfassendere und unverstelltere Befassung mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz, der in seiner Bedeutung im einzelstaatlichen Bereich häufig nur noch hervorgehoben, aber nicht mehr hinterfragt wird.169 So muss die für jedes Gemeinwesen grundsätzliche Frage, wie die Freiheit des Einzelnen vor willkürlichen Übergriffen gesichert werden kann, für die Gemeinschaftsrechtsordnung neu gestellt werden. Auch die Vereinbarkeit gemeinsam wahrgenommener und damit „gemischter“ Zuständigkeiten der einzelnen Organe mit diesen Zielsetzungen ist erneut darzulegen. Vor allem muss jedoch das Machtverhältnis der mit der gegenseitigen Kontrolle beschäftigten Gemeinschaftsorgane hinsichtlich seiner Ausgewogenheit eine Bewertung er___________ 168 Dies gilt auch nach der nicht in Kraft getretenen Verfassung, nach deren Präambel sich aus dem „kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas“ bestimmte Grundwerte entwickelt haben; siehe allgemein auch Schmidt-Aßmann in: Handbuch des Staatsrechts – Band II, 541 (547). 169 Siehe nur di Fabio in: Handbuch des Staatsrechts – Buch II, 613 (644) „Mehr noch als durch Verschiebungen in der Balance zwischen Staat und Gesellschaft wird das Prinzip der Gewaltenteilung durch die Öffnung und internationale Bindung des Verfassungsstaates herausgefordert.“

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C. Das Prinzip der Gewaltenteilung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips

fahren. Eine solche – nicht ausschließlich als europaspezifisch anzusehende – Beschäftigung mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz kann schließlich wiederum auch auf die entsprechenden einzelstaatlichen Auseinandersetzungen Einfluss nehmen.

II. Der Gewaltenteilungsgrundsatz nach Montesquieu Charles de Montesquieu gilt als der wichtigste geistige Urheber des Gewaltenteilungsgrundsatzes, eines Prinzips, das in seiner Bedeutung für eine freiheitliche Rechtsordnung immer wieder betont wird.170 Trotz dieser überragenden Bekanntheit findet eine eingehende Auseinandersetzung mit seinen Beobachtungen „Über die Verfassung Englands“ im 6. Kapitel des 11. Buchs seines Werkes „Vom Geist der Gesetze“ nur noch vereinzelt statt. Vorherrschend in der heutigen Diskussion über den Gewaltenteilungsgrundsatz sind vielmehr später erfolgte Dogmatisierungen seiner Vorstellungen. Begründet wird diese Entwicklung zumeist mit der noch stark durch die damalige Ständeordnung geprägten Darstellungsweise Montesquieus, deren Übertragbarkeit auf heutige Verhältnisse damit zweifelhaft erscheinen muss. Als umso erstaunlicher ist es demnach zu beurteilen, dass vor allem im Hinblick auf die Europäische Gemeinschaftsrechtsordnung von vielen die Ansicht vertreten wird, von einer Gewaltenteilung „im klassischen Sinne“171 oder auch „im Sinne (...) Montesquieus“172 könne keinesfalls die Rede sein. Um diese zumeist apodiktischen Feststellungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, erscheint der Versuch somit lohnenswert, sich nochmals mit dem von Montesquieu entwickelten Verständnis der Gewaltenteilung – wie es in seinem Werk „Vom Geist der Gesetze“ dargelegt worden ist – unmittelbar auseinanderzusetzen. Eine solche Vor___________ 170 So etwa beschreibt BVerfGE 3, 225 (247) den Gewaltenteilungsgrundsatz als „(...) ein tragendes Organisationsprinzip des Grundgesetzes. Seine Bedeutung liegt in der politischen Machtverteilung, dem Ineinandergreifen der drei Gewalten und der daraus resultierenden Mäßigung der Staatsherrschaft“; BVerfGE 34, 52 (59); 67, 100 (130); Drath in: Rausch (Hrsg.), 20 (21); Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes, 39; Mass in: Merten (Hrsg.), 47 (47). 171 Siehe nur Rummer in: ZEuS 1999, 249 (265); Borchardt, 76, Rn. 174; Ott in: ZeuS 1999, 231 (237); so auch Lorz, 125, der den „am klassischen Gewaltenteilungsgrundsatz ausgerichteten nationalstaatlichen Systemen“ das Gemeinschaftsrecht gegenüberstellt; Craig/de Burca, 54. 172 Merten in: Weinacht (Hrsg.), 31 (53), andererseits Verhoeven, The EU in Search of a Democratic and Constitutional Theory, 208 „The concept of institutional balance underscores once again how far EU constitutional law and practice is removed from the concept of unitary parliamentary representation of a hypothetical common will. Rather, the picture of EU governance matches the system of government Montesquieu had in mind when he wrote his De l’esprit des lois.“

II. Der Gewaltenteilungsgrundsatz nach Montesquieu

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gehensweise sollte im Weiteren vor allem die Beantwortung der dieser Arbeit auch zugrunde liegenden Frage erleichtern, inwieweit ein im europäischen Recht bestehendes „institutionelles Gleichgewicht“ der Gemeinschaftsorgane untereinander sich zwar möglicherweise nicht im Einklang mit den nachfolgenden Dogmatisierungen sowie konkreten einzelstaatlichen Umsetzungen des Gewaltenteilungsgrundsatzes, aber mit Montesquieus ursprünglichen Vorstellungen befindet.

1. Das 6. Kapitel des 11. Buches im Gesamtzusammenhang Auch wenn im Rahmen dieser Arbeit hauptsächlich eine Beschäftigung mit dem 6. Kapitel des 11. Buchs „Über die Verfassung Englands“ erfolgen soll, ist es doch im Interesse der allgemeinen Übersichtlichkeit geboten, kurz auf die Gliederung des Gesamtwerkes „Vom Geist der Gesetze“ einzugehen. Das 1. Buch beginnt mit einer Einleitung, in deren Rahmen Montesquieu zunächst seinen Gesetzesbegriff einführt und den Unterschied zwischen Naturgesetzen und positiven Gesetzen näher erläutert. Auch stellt er schon in einer Zusammenfassung all diejenigen Umstände dar, die bei der Gesetzgebung zu berücksichtigen sind. Weiterhin legt er gegenüber dem Leser Rechenschaft über den Gegenstand seiner Arbeit – die Untersuchung der verschiedenen Bezüge – und seine Vorgehensweise im Einzelnen ab. Demnach soll durch eine Zusammenstellung dieser verschiedenen Bezüge schlussendlich der „Geist der Gesetze“ erkennbar werden. Das 2. bis 8. Buch dient daraufhin der Darstellung der verschiedenen Verfassungsformen. Das 2. Buch behandelt dabei zunächst die einzelnen Regierungsformen und die Gesetze, die sich aus ihrer Natur ergeben. Dieser Untersuchung legt Montesquieu in ihrem 1. Kapitel drei verschiedene Regierungsformen, die der Republik, der Monarchie und der Despotie zugrunde und befindet sich damit nicht in vollständiger Übereinstimmung mit der klassischen Dreiteilung der Staatsformen.173 Vor allem dass er die Despotie als eine eigenständige Herrschaftsform einführt und sich auch im weiteren Verlauf seiner Arbeit noch mehrfach mit ihr auseinandersetzt, wird nur nachvollziehbar, wenn man sich der besonderen Hervorhebung der Gefahren eines Machtmissbrauches in seinem gesamten Werk vergegenwärtigt. Bereits im nachfolgenden 2. Kapitel unterscheidet er jedoch schon deutlich zwischen der unter dem Oberbegriff der Republik zusammengefassten Demokratie und der Aristokratie und befindet sich nun auch wieder in Übereinstimmung mit der aus der Antike bereits be___________ 173 Zu der Staatsformenlehre siehe die näheren Ausführungen in der vorliegenden Arbeit unter C.II.2.

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C. Das Prinzip der Gewaltenteilung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips

kannten Dreiteilung der Staatsformen. Im 3. Buch weist er jeder dieser Staatsformen jeweils ein besonders kennzeichnendes Prinzip zu, die Tugend der Demokratie, die Selbstzucht der Aristokratie, die Ehre der Monarchie und der Terror der Despotie. Das 4. Buch behandelt die Gesetze der Erziehung, die in jeder Regierungsform anderen Bedürfnissen und dem jeweils zugrundeliegenden Grundprinzip zu entsprechen haben. Im 5. Buch geht es um die notwendige Übereinstimmung der Gesetze mit dem der Regierungsform zugrunde liegenden Grundprinzip, im 6. Buch um ihre verschiedenen Auswirkungen auf die Gesetze und im 7. Buch um den Luxus, die Vergnügungsgesetze und die Stellung der Frau. Nach dieser umfassenden Darstellung der verschiedenen Einwirkungen der jeweiligen Grundprinzipien auf die einzelnen Regierungsformen endet Montesquieu mit einer Beschreibung der möglichen Entartungen der Regierungsformen, die entsprechend seinem Denken gleichbedeutend mit der Entartung ihrer jeweiligen Grundprinzips sind. Daran anschließend werden in dem 9. bis 26. Buch diejenigen Umstände näher beschrieben, die auf die Verfassungsausgestaltung in einem Staat Einfluss nehmen können. Dabei nennt Montesquieu unter anderem militärische Faktoren wie die Verteidigungs- und Angriffsstärke, die politische Freiheit in ihrem Bezug zur Verfassung und zum Bürger, die Steuererhebung in ihrem Bezug zur Freiheit, aber auch allgemeine topographische Gegebenheiten wie das Klima, die Bodenbeschaffenheit und ihre jeweiligen Auswirkungen auf die Gesetze und die Organisation des Gemeinwesens. Auch auf die Beziehung zwischen den Gesetzen und den Sitten, Gebräuchen, den wirtschaftlichen Aspekten wie den Handelsbeziehungen und der allgemeinen Geldwirtschaft und schließlich der Bevölkerungsgröße sowie der Bedeutung der Religion geht Montesquieu ein. Dabei setzt er sich in dem für die vorliegende Arbeit vor allem interessanten 11. Buch mit den „Gesetzen, welche die politische Freiheit formen, und ihren Bezug zur Verfassung“ auseinander. Nach einer ersten Abgrenzung zu den die politische Freiheit in ihrem unmittelbaren Bezug zum einzelnen Staatsbürger betreffenden Gesetzen unternimmt Montesquieu eine Annäherung an einen allgemeinen Freiheitsbegriff. Daran anschließend versucht er durch die Untersuchung verschiedener maßvoller Regierungsformen – unter anderem im 6. Kapitel der Verfassung Englands – und historischer Herrschaftsordnungen den Grad der jeweils erreichten Freiheit näher zu bestimmen. Dass diese Untersuchung jedoch keineswegs abschließend zu verstehen ist, verdeutlicht Montesquieu im 20. Kapitel zum Abschluss des 11. Buchs wie folgt: „Indes ist es unnötig, ein Thema immer derart erschöpfend zu behandeln, dass dem Leser nichts zu tun bleibt. Es geht nicht darum, zum Lesen zu bewegen, sondern zum Denken.“174 Schließlich nimmt insbesondere das 26. Buch „Über die Gesetze in ___________ 174

Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 11. Buch – 20. Kapitel, 253.

II. Der Gewaltenteilungsgrundsatz nach Montesquieu

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dem Bezug, den sie zu dem Bereich der Sachen, über die sie befinden, haben müssen“ nochmals das bereits im 1. Buch formulierte Grundanliegen seines Werkes auf, dem er in gewisser Weise durch die Zusammenfassung der bisher dargelegten engen Beziehungen der Gesetze zu den ihnen zugrunde liegenden Sachverhalten und der gegenseitigen Einwirkungen auch entsprochen hat. Die dann folgenden und das Werk „Vom Geist der Gesetze“ abschließenden 27. bis 31. Bücher lassen sich danach nur noch schwer unter einen gemeinsamen Oberbegriff fassen. So behandeln sie Gesetze aus vollkommen verschiedenen historischen Epochen, von der Zeit des antiken Roms bis zur fränkischen Feudalzeit. Auf eine nähere Darstellung dieser Bücher sowie eines Versuches ihrer Einordnung kann indes im Rahmen der vorliegenden Arbeit auch verzichtet werden.

2. Die Lehre von den Staatsformen Wie sich bereits aus der vorangegangenen kurzen Einführung ergibt, bezieht sich Montesquieu deutlich auf die Lehre von den Staatsformen. Um nachfolgend das Verständnis seiner diesbezüglichen Ausführungen zu erleichtern, soll demnach auch auf die Staatsformenlehre im Rahmen dieser Arbeit eingegangen werden. Zwar waren auch schon in der Antike verschiedene Formen der Gewaltenteilung bekannt, die unter anderem Aristoteles wie folgt beschrieb: „Es gibt drei Bestandteile der Verfassungen insgesamt, bezüglich deren der tüchtige Gesetzgeber erwägen muss, was einer jeden frommt. Sind diese drei Stücke wohl bestellt, so muss es auch die Verfassung sein, und der Unterschied in einem jeden von ihnen bestimmt zugleich den Unterschied der Verfassungen untereinander. Von diesen dreien ist eines die über die gemeinsamen Angelegenheiten beratende Gewalt, ein zweites betrifft die Magistratur – das heißt, es fragt sich, welche Magistrate sein müssen, welches ihre Zuständigkeit, und welches die Weise ihrer Besetzung sein muss –; drittens muss erwogen werden, wer mit der Rechtspflege zu betrauen ist“175 (Hervorhebung d. Verf.). Da jedoch die mit einer solchen Gewaltenteilung verfolgten Zielsetzungen nicht deutlich in Erscheinung treten, lässt sich von diesen frühen Beschreibungen keine unmittelbare Beziehung zu der Gewaltenteilung im Sinne von Montesquieu herstellen. Demgegenüber lassen sich deutliche Bezüge der Ausführungen von Montesquieu zum Gewaltenteilungsgrundsatz auf die gleichermaßen schon in der An___________ 175 Aristoteles, Politik, 4. Buch – 14. Kapitel, 140; siehe hierzu nur Loewenstein, Verfassungslehre, 34.

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tike herausgebildete Staatsformenlehre feststellen.176 Die Anzahl der einzelnen Staatsformen unterlag in der Antike erheblichen Schwankungen. So stellte Platon – in Wiedergabe der Ausführungen Sokrates – in seinem Werk „Der Staat“ zunächst noch fünf Staatsformen – die Aristokratie, die Timokratie oder Timarchie, die Oligarchie, die Demokratie und die Tyrannis – und ihr Verhältnis zueinander dar, das er in einer klaren Abfolge im Sinne eines immer wiederkehrenden Zyklus verstand. Im Weiteren ordnete er diesen Herrschaftsformen jeweils entsprechende „fünf Gestaltungen der Seele“ zu, da es aus seinem Verständnis offensichtlich war, dass an die Staatsformen eine übereinstimmende Anzahl von unterschiedlichen Menschentypen – wie beispielsweise der demokratische und tyrannische Mensch – gebunden waren.177 In Abgrenzung zu dieser Fünfteilung wählte Aristoteles in seinem Werk „Politik“ eine Dreiteilung; eine Darstellung, die sich im Weiteren auch dauerhaft durchsetzen sollte.178 Eine frühe Aufnahme dieser gedanklichen Dreiteilung findet sich beispielsweise bereits bei dem Geschichtsschreiber Polybios. So enthält sein Werk „Historiae“ auch immer wieder – unter Bezugnahme auf die Staatsformen – Kurzbeschreibungen zu der jeweiligen Form der politischen Entscheidungsfindung in den verschiedenen Staaten Griechenlands zur Zeit des Bundesgenossenkrieges.179 Im Einklang mit dem allgemeinen Gegenstand seiner Betrachtungen bewertet Polybios den Wechsel der Regierungssysteme jedoch vorrangig vor dem Hintergrund militärischer Erfolge.180 ___________ 176

Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsgrundsatzes, 17; Tsatsos, 19; McClelland, 327; für eine nur eingeschränkte Bedeutung der Staatsformenlehre siehe Kluxen in: Rausch (Hrsg.), 131 (132 und 142). 177 Platon, Der Staat, Achtes Buch I bis II, 264 – Staatsformen des Verfalls: „Weißt Du nun, dass es ebensoviel Arten von Menschen geben muss wie Staatsformen? Denn aus der Eiche oder aus dem Felsen erwachsen doch die Verfassungen nicht, sondern aus den Charakteren.“; weiterführend von Hippel, Geschichte der Staatsphilosophie – Band I, 137; Rostock, Die antike Theorie der Organisation staatlicher Macht, 123. 178 Aristoteles, Politik, 3. Buch – 7. Kapitel, 83f.; Loewenstein, Verfassungslehre, 19; Zippelius, 169; von Hippel, Geschichte der Staatsphilosophie – Band I, 156; Rostock, Die antike Theorie der Organisation staatlicher Macht, 136; Hegel, Der Geist in der Geschichte, 139. 179 Polybios, Historiae, 2. Buch, 141, Rn. 38 „Zuerst aber ist es nicht ohne Wert, sich zu unterrichten, wie und auf welche Weise der Name der Achäer im ganzen Peleponnes zur Herrschaft gelangte. (...) Es liegt aber, nach meinem Dafürhalten, die Ursache im Folgendem: Die Gleichheit und Freiheit und mit einem Worte die wahre Demokratie wird in keiner Gestalt sich reiner verwirklicht finden, als in der bei den Achäern bestehenden Staatsform. Zu dieser erfolgte der Beitritt von einigen Peleponnesiern freiwillig; viele wurden mittels Überredung und durch Gründe der Vernunft gewonnen; einige aber, da die Gelegenheit sich darbot, gezwungen, die indessen mit der aufgenötigten Verfassung sich in kurzer Zeit völlig zufrieden zeigten.“ 180 Polybios, Historiae, 2. Buch, 144, Rn. 41 „(...), da dieselben nicht eine gesetzliche, sondern Willkürherrschaft führten, verwandelten sie die Verfassung in eine Demo-

II. Der Gewaltenteilungsgrundsatz nach Montesquieu

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Ungeachtet der anzuerkennenden Bedeutung, die gerade auch internen Entscheidungsprozessen für das äußere Auftreten einer Gemeinschaft zukommen kann, ist weiterführend im Rahmen der vorliegenden Arbeit jedoch das maßgebliche Unterscheidungsmerkmal der verschiedenen Staatsformen von ungleich größerem Interesse. Danach dient die Anzahl derer, die an der Herrschaft in der jeweiligen Staatsform Anteil haben, als Kriterium der Abgrenzung. Abhängig von der jeweiligen Anzahl der Herrschenden ist daraufhin der Grund für die Herrschaftsberechtigung zu unterscheiden. Die Herrschaft eines Einzelnen, die auf das gemeine Beste sieht, wird als Monarchie oder Monokratie bezeichnet; ihre Berechtigung bezieht sie aus dessen Charisma und Autorität oder auch kraft Tradition. Die Herrschaft Weniger, die aber ihrer doch mehr sind als einer, gilt danach als Aristokratie. Als Rechtfertigung für die Herrschaft dieser Wenigen finden dabei zwei verschiedene Argumentationen Verwendung. Zum einen kann auf das verfolgte Allgemeinwohl des Staates, zum anderen auf die besonderen Fähigkeiten und Qualifikationen der Regierenden abgestellt werden. Schließlich gibt es nach dieser Dreiteilung die als Politie oder Demokratie bekannte Volksherrschaft. Ihre Rechtfertigung stützt sich auf die Beteiligungsund Mitwirkungsrechte Aller. Spiegelbildlich zu diesen drei Herrschaftsformen kommen die zu den jeweiligen Erscheinungsformen gehörenden Parekbasen oder Ausartungen, die Tyrannis, die Oligarchie und die Ochlokratie hinzu. Kennzeichnend für diese schlechten Herrschaftsformen ist dabei jeweils insbesondere das Auftreten von einem Machtmissbrauch durch eine der Bevölkerungsgruppen. So nutzt der Monarch in der Tyrannis die Monarchie zum bloßen eigenen Vorteil und ihre Bindung an das Allgemeinwohl der Gesellschaft ist damit aufgehoben. In der Oligarchie wird nur der Vorteil der Reichen und in der Ochlokratie schließlich nur der von den Armen verfolgt.181 In dieser gerade auch ethisch begründeten Unterscheidung der verschiedenen Erscheinungsformen einer Herrschaftsausübung besteht dann ein maßgeblicher Unterschied zu den nachfolgenden Weiterentwicklungen der Lehre von den Staatsformen.182 Dass sowohl diese Dreiteilung als auch die Fünfteilung im Sinne von Platon lediglich als eine stark vereinfachte Darstellung der unterschiedlichen Herrschaftssysteme unter Bezugnahme auf die für sie jeweils kennzeichnende Art ___________ kratie.“; Polybios, Historiae, 2. Buch, 149, Rn. 47 „Als aber bereits der Krieg eine Weile dauerte, und als Kleomenes die von den Vätern ererbte Verfassung aufgehoben und das rechtmäßige Königtum in eine Alleinherrschaft verwandelt hatte, zugleich aber den Krieg mit Nachdruck und Kühnheit führte, da sah Aratos voraus, was kommen würde, und weil er die Absicht der Ätoler und die Keckheit derselben fürchtete, glaubte er zum voraus, ihren Anschlag vereiteln zu müssen.“ 181 Aristoteles, Politik, 3. Buch – 7. Kapitel, 84; Loewenstein, Verfassungslehre, 8. 182 Siehe nur weiterführend von Hippel, Allgemeine Staatslehre, 114ff.

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der Willensbildung gelten kann, ist von vornherein offensichtlich. So geht Aristoteles selbst bei der näheren Auseinandersetzung mit der Monarchie zuallererst der Frage nach, ob diese Staatsform ihrer Gattung nach nur eine ist oder mehrere Arten umfasst, um daran anschließend letzteres näher – unter Anführung von weiteren 5 Unterarten – zu begründen.183 Ungeachtet der damit nur beschränkt bestehenden Anwendbarkeit der Staatsformenlehre auf bestehende Herrschaftsformen erleichtert dieses Grundmodell aber doch die Darstellung und Auseinandersetzung über die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Herrschaftsformen erheblich. Darüber hinaus lassen sich Vorhersagen treffen, mit welchen Maßnahmen die einzelnen Herrschaftsformen in ihrer Überlebensfähigkeit gefördert werden können. So führt Aristoteles – im Hinblick auf die Bewahrung einer Monarchie – aus, dass „ihre Erhaltung beruht natürlich im allgemeinen auf den entgegengesetzten Ursachen und im besonderen, was das Königtum betrifft, darauf, dass man seine Machtvollkommenheit ermäßigt.“184 Eine solche Mäßigung der Herrschaftsgewalt durch die Integration von Merkmalen anderer Staatsformen vermag demnach ein Gleichgewicht im Sinne eines „regimen commixtum“ herzustellen, einer Verfassungsform, die – unter gleichzeitiger Vermeidung der in ihnen angelegten Nachteile – die Vorteile der unterschiedlichen Herrschaftsformen in sich zu vereinigen versucht.185 Damit einhergehend kann dann eine Stabilisierung der Lebensumstände für den Einzelnen eintreten und das – der gesamten Beschäftigung mit den unterschiedlichen Verfassungen in der Antike zugrunde liegende – Anliegen, die Ermöglichung eines besten Lebens für die meisten Menschen, tritt deutlich in Erscheinung. Gerade diese den Betrachtungen zugrunde liegende und in der individuellen Erfahrungswelt angesiedelte ___________ 183 Aristoteles, Politik, 3. Buch – 14. Kapitel, 100ff.; Rostock, Die antike Theorie der Organisation staatlicher Macht, 138f.; McClelland, 77; Vollrath in: FS Sternberger 1977, 392 (394); Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 119 (218); Jellinek, 56. 184 Aristoteles, Politik, 5. Buch – 11. Kapitel, 186. 185 Aristoteles, Politik, 5. Buch – 8. Kapitel, 170f. „Hier ist vor allem klar, dass wenn wir die Ursachen kennen, aus denen die Verfassungen untergehen, wir auch die Mittel kennen, durch die sie erhalten werden. Entgegengesetztes wird durch Entgegengesetztes bewirkt.“; Imboden, Montesquieu und die Lehre der Gewaltentrennung, 15; Zippelius in: FS Eichenberger 1982, 147 (149); Isensee in: JZ 1999, 265 (266); Horn in: 49 JöR 2001, 287 (289); Loewenstein, Verfassungslehre, 20; McClelland, 84; von Hippel, Geschichte der Staatsphilosophie – Band I, 158; Scheuner in: Listl/Rüfner (Hrsg.), 185 (192); Rostock, Die antike Theorie der Organisation staatlicher Macht, 134; Tsatsos, 18; Vile, 23 „Thus the major concern of ancient theorists of constitutionalism was to attain a balance between the various classes of society and to emphasize that the different interests in the community, reflected in the organs of the government, should each have a part to play in the exercise of the deliberative, magisterial, and judicial functions alike. The characteristic theory of Greece and Rome was that of mixed government, not the separation of powers.“

II. Der Gewaltenteilungsgrundsatz nach Montesquieu

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Zielsetzung zeigt schließlich auch nochmals, dass derartige Fragen nicht abstrakt und vor allem nicht abschließend beantwortet werden können.

3. Die Zuweisung der einzelnen Funktionen Charles de Montesquieu macht in seinem 6. Kapitel des 11. Buchs detaillierte Angaben darüber, von welcher gesellschaftlichen Kraft – dem Monarchen, dem Adel oder dem Volk – jeweils die einzelnen staatlichen Grundaufgaben, im näheren „die legislative Befugnis“ (die Gesetzgebung), die „exekutive Befugnis in Sachen, die vom Völkerrecht abhängen“ (völkerrechtliches Handeln des Staates, aber auch die Gesetzesausführung umfassend) und die „exekutive Befugnis in Sachen, die vom Zivilrecht abhängen“ (die Rechtsprechung186) wahrzunehmen ist. Dabei ist diese durch die Zuweisung der einzelnen Funktionen an die – sich in ihrer Organisation und personellen Besetzung deutlich unterscheidenden – Funktionsträger geprägte Form der Regierungsorganisation von dem grundsätzlichen Anliegen geprägt, „dass kein Bürger einen anderen zu fürchten braucht.“187

a) Judikative Montesquieu beschreibt die Judikative einerseits in ihrer Beziehung zu den anderen Gewalten und andererseits in ihrer Beziehung zum einzelnen Bürger. Um seine Aussagen über die Judikative nachvollziehen zu können, sind folglich auch beide dieser Bezüge deutlich voneinander zu unterscheiden. Gegenüber dem Einzelnen tritt die Gerichtsbefugnis zunächst als eine besonders gefürchtete Gewalt in Erscheinung. So nimmt die Judikative unter den Gewalten dadurch eine Sonderstellung ein, dass durch ein rechtskräftiges Urteil unmittelbar und im Bereich des Strafrechts vor allem auch besonders intensiv in den Freiheitsraum des Bürgers eingegriffen werden kann. Um die damit gleichzeitig einhergehende Furcht vor dem Richteramt und seiner Ausübung nicht auch noch um die Furcht vor den einzelnen Amtsträgern zu vergrößern, schreibt Montesquieu: „Richterliche Befugnis darf nicht einem unabsetzbaren Senat verliehen werden, vielmehr muss sie von Personen ausgeübt werden, die ___________ 186

Dabei erweitert Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 11. Buch – 6. Kapitel, 216 sein Verständnis der Rechtsprechung noch im weiteren Verlauf um das Strafrecht wie folgt „Auf Grund der dritten bestraft er Verbrechen oder sitzt zu Gericht über die Streitfälle der Einzelpersonen.“ 187 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 11. Buch – 6. Kapitel, 216.

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C. Das Prinzip der Gewaltenteilung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips

nach einer vom Gesetz vorgeschriebenen Weise zu gewissen Zeiten im Jahr aus dem Volkskörper ausgesucht werden. Sie sollen ein Tribunal bilden, das nur so lange besteht, wie die Notwendigkeit es verlangt.“188 Demnach darf nach seiner Ansicht die Wahrnehmung der Judikative nicht einem bestimmten gesellschaftlichen Stand oder auch nur einem Berufsstand überlassen sein, sondern soll nichtständigen Gerichtshöfen zugewiesen werden, die mit Laienrichtern besetzt sind. Damit soll die Entstehung eines Rechtsprechungsmonopols bei einer gesellschaftlichen Gruppe von vornherein verhindert werden. Erst in dieser Form wird die Rechtsprechung aus Sicht des Einzelnen als Gewalt sozusagen unsichtbar und nichtig.189 Weiterhin fordert Montesquieu, dass die Richter – in Anlehnung an den Aufbau des damaligen englischen Rechtssystems – jeweils aus dem Stand des Angeklagten stammen oder ihm ebenbürtig sind. Als Begründung für diese nach dem Stand der betroffenen Person differenzierende Gerichtsbesetzung führt er die ansonsten drohende Gefahr von Ungleichbehandlungen und Ungerechtigkeiten an. Als Ausnahme von dieser für Zivil- und Strafrechtssachen geltenden Regel weist er schließlich jedoch auf Streitigkeiten hin, in denen in öffentlichen Angelegenheiten ein Bürger die Rechte des gesamten Volkes verletzt. Die Lösung solcher Konflikte ist aufgrund ihrer Besonderheit, dass das Volk als verletzte Partei an sich gleichzeitig auch die Rolle des Anklägers übernehmen müsste, zunächst der Legislative zugewiesen.190 Im Rahmen des Zweikammersystems soll dann im Weiteren mit der Versammlung des Adels die am konkreten Fall unbeteiligte Vertretung Recht sprechen. Nur auf diese Weise lässt sich nach Ansicht von Montesquieu bei diesen Ausnahmefällen eine freie Interessenabwägung und sachorientierte Urteilsfindung gewährleisten. Ansonsten ist jedoch weiterhin von der von ihm bereits einleitend betonten Notwenigkeit einer tatsächlichen Trennung der richterlichen Befugnis von der legislativen und exekutiven Befugnis auszugehen, denn nur eine solche

___________ 188

Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 11. Buch – 6. Kapitel, 218. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 11. Buch – 6. Kapitel, 218; Krauss in FS Schmitt 1959, 103 (112) betont, dass nach Montesquieu „die beiden anderen Gewalten unbedenklich ständigen Körperschaften anvertraut werden können, weil sie sich nicht unmittelbar gegen den Einzelnen richten.“; Zimmer, 189; zu den besonderen Einflussnahmemöglichkeiten der Judikative siehe nur Vezanis in: ÖzöR 1964, 282 (284); Azpitarte Sanchez in: Liber Amicorum Häberle, 579 (588). 190 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze nennt im 11. Buch – 6. Kapitel, 225f. insgesamt drei Ausnahmefälle, in denen die Vereinigung der richterlichen Befugnis mit irgendeinem Teil der Legislative aufgrund der Einzelinteressen der vor Gericht stehenden Person zulässig ist; dies sind – zusätzlich zu der bereits benannten die Verurteilung Adeliger durch den legislative Adelsvertretung – anstatt durch die ordentlichen Gerichte – sowie die nur durch die legislative Adelsvertretung mögliche Abweichung beim Strafmaß nach unten. 189

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Unabhängigkeit der Judikative vermag die Freiheit für den Einzelnen überhaupt zu bewahren.191 In ihrem Verhältnis zu den anderen Gewalten beschreibt Montesquieu die Rechtsprechung zunächst als diejenige, bei der es sich um gar keine Gewalt im Sinne der anderen handelt.192 Diese untergeordnete Rolle liegt an den ihr fehlenden Mitwirkungsrechten und Kontrollbefugnissen, mit denen sie Einfluss nehmen und die anderen Gewalten hemmen könnte. Dass sie nicht über gemeinsame Aufgabenbereiche mit den anderen Gewalten verfügt, sollte jedoch nicht nur als eine Schwächung angesehen werden. Vielmehr ist eine solche strenge Trennung der Judikative von den anderen Gewalten für die Bewahrung ihrer Unabhängigkeit nach Montesquieu gerade erforderlich. Nur unter dieser Voraussetzung weist sie im Weiteren lediglich Beziehungen zum Gesetz und zum einzelnen Gesetzesunterworfenen auf, so dass letzterer sie tatsächlich nicht zu „fürchten“ braucht.

b) Legislative In seinen daran anschließenden Ausführungen zur Legislative geht Montesquieu zunächst auf die Vor- und Nachteile einer aus der Gesamtheit des Volkes gebildeten Versammlung oder einer bloß repräsentativen Körperschaft ein. In direkter Übereinstimmung mit einem idealen freien Staat – in dem „jeder Mensch, dem man eine freie Seele zugesteht, durch sich selbst regiert werden“193 soll – befindet sich zunächst eine unmittelbare Volksvertretung. Da jedoch eine damit erforderliche, regelmäßige Versammlung aller insbesondere in bevölkerungsreichen Staaten schon aus tatsächlichen Gründen nicht zu verwirklichen ist und auch die Frage bezüglich der notwendigen Eignung des Volkes – sowie seiner Möglichkeiten zur Beschäftigung mit den entsprechenden Sachverhalten – zur Beantwortung wichtiger Sachfragen aus unterschiedlichs___________ 191 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 11. Buch – 6. Kapitel, 217; Falk in: Maier/Rausch/Denzer (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens – Band II, 45 (55); Tsatsos, 36; dabei betont Lange in: 19 Der Staat 1980, 213 (219), dass auch nur diesbezüglich eine vollständige Trennung der Gewalten durch Montesquieu vorgesehen ist. 192 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 11. Buch – 6. Kapitel, 217 „Unter den drei von uns besprochenen Befugnissen ist die richterliche gewissermaßen gar keine. Nur zwei bleiben übrig. Da sie zu ihrer Mäßigung eine regulierende Gewalt nötig haben, ist für diesen Zweck der aus Adeligen zusammengesetzte Zweig der legislativen Körperschaft sehr geeignet.“; Drath in: Rausch (Hrsg.), 21 (27); Krauss in: FS Schmitt 1959, 103 (113) „Sie kann Entwicklungen verzögern, aber nicht aufhalten und erst recht nicht rückgestalten.“ 193 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 11. Buch – 6. Kapitel, 219.

100 C. Das Prinzip der Gewaltenteilung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips

ten Bereichen offen bleibt194, ist ein Repräsentativsystem vorzuziehen. Auf der Grundlage eines solchen Repräsentativsystems ist dann im Übrigen überhaupt erst ein gewaltenteilig organisiertes Regierungssystem denkbar, in dem sich die verschiedenen Gewalten untereinander durch gegenseitige Überwachung in ihrer Machtausübung mäßigen. In Anlehnung an den englischen Staatsaufbau sieht Montesquieu im Weiteren die Errichtung eines Zweikammersystems vor, in dem zu einem der Adel, zum anderen das Volk seine Vertretung findet. Zur näheren Begründung für diese besondere Organisation der Legislative führt er dabei aus: „Stets gibt es im Staat Leute, die durch Geburt, Reichtum oder Auszeichnung hervorragen. Wenn sie aber mit dem Volk vermengt würden und wie die anderen bloß eine Stimme besäßen, so würde die gemeinsame Freiheit für sie Sklaverei bedeuten. Sie hätten keinerlei Interesse an der Verteidigung der Freiheit, denn die meisten Beschlüsse würden zu ihren Ungunsten gefasst. Ihre Teilnahme an der Gesetzgebung muss daher ihrer anderweitigen Vorrangstellung innerhalb des Staates angemessen sein. Das trifft zu, wenn sie eine Körperschaft bilden, die das Recht hat, Unternehmungen des Volkes auszusetzen, genauso wie das Volk das Recht hat, die ihrigen auszusetzen.“195 Diese Argumentation ähnelt auffällig derjenigen Erklärung für eine von dem gesellschaftlichen Status des Betroffenen jeweils abhängigen Gerichtsbesetzung. Auch in der Organisation der Legislative sollen demnach bestehende Unterschiede zwischen den einzelnen Gesellschaftsschichten und die sich daraus ergebenden verschiedenen Interessenlagen Berücksichtigung finden. Die Ausgestaltung der Legislative – im Näheren die Verwirklichung des Gewaltenteilungsprinzips innerhalb einer einzelnen Gewalt – ist bei Montesquieu somit nicht vorrangig von allgemeinen Freiheits- und Gleichheitsidealen geprägt, sondern dient vor allem auch der Bewahrung der Privilegien bestimmter Bevölkerungskreise. Denn nur unter solchen Bedingungen sieht Montesquieu den Staat als in seiner Gesamtheit von der Mehrheit der Bürger unterstützt und damit auch als überhaupt lebensfähig an. Dass Montesquieu auch ansonsten für eine Bewahrung der bestehenden sozialen Ordnung eingetreten ist, zeigt darüber hinaus die von ihm beschriebene Ausgestaltung des Wahlrechts. So schreibt er hierzu: „In den verschiedenen Distrikten müssen alle Bürger bei der Wahl der Repräsentanten das Recht zur Stimmabgabe besitzen, diejenigen ausgenommen, die in solch einem Elend leben, dass man ihnen ___________ 194

Im Hinblick auf diese Eignung – selbst von Repräsentanten – äußert Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 11. Buch – 6. Kapitel, 220 Zweifel wie folgt „Die Nöte seiner eigenen Stadt kennt man besser als die anderer Städte. Über die Leistungskraft seiner Nachbarn urteilt man sicherer als über die von fernstehenden Mitbürgern.“ 195 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 11. Buch – 6. Kapitel, 221; siehe darüber hinaus nur Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes, 55.

II. Der Gewaltenteilungsgrundsatz nach Montesquieu

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keinen eigenen Willen zutraut.“196 Die Einführung eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts erscheint von dieser klar nach Vermögenslage differenzierenden Vorstellung noch weit entfernt. Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen den beiden Vertretungen sieht Montesquieu für die Adelskörperschaft bei den sie besonders interessierenden Bereichen der Gesetzgebung – den Gesetzen zur Steuererhebung – lediglich eine Mitwirkung durch ein Verhinderungsrecht (Vetorecht), nicht aber ein Entscheidungsrecht vor. Damit soll eine rücksichtslose Verfolgung von Sonderinteressen zuungunsten der übrigen Bevölkerung verhindert werden. Auch mit der Ausgestaltung der Legislative als einem Zweikammersystem soll demnach ein System gegenseitiger Abhängigkeiten bereits im Rahmen dieser Gewalt geschaffen werden, dass einen Machtmissbrauch durch eine gesellschaftliche Gruppe verhindern soll. Den Umfang der gesetzgebenden Befugnisse beschreibt Montesquieu schließlich jeweils in Abgrenzung zu den der Exekutive zukommenden Aufgaben. So kommt der Legislative nicht die Befugnis zu, die von ihr beschlossenen Regelungen selbst umzusetzen. Zwischen der allgemeingültigen Regelung der Lebensverhältnisse und der auf dieser Grundlage erfolgenden unmittelbaren Einwirkung und Gestaltung ist demnach zu unterscheiden. Als Befugnisse von besonderer Wichtigkeit für die Legislative hebt Montesquieu dann zunächst die jährliche Festsetzung der Staatsgelder hervor. Des Weiteren nennt er die Entscheidung über den Einsatz von Land- und Seestreitkräfte.197 Aufgrund dieser einzelnen Rechte entsteht erst das für die Wahrung der Freiheit und Unabhängigkeit der Legislative so bedeutsame Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeiten zur Exekutive. Andererseits kommt der Exekutive aber das Recht zu, die Versammlung der Legislative überhaupt einzuberufen. Ein selbstständiges Versammlungsrecht der Legislative besteht somit nach Ansicht von Montesquieu nicht. Erst vom Moment ihres Zusammentritts an ist ihr ein eigener Wille zuzubilligen. Schließlich ist auf die bereits schon angesprochenen, in gewissen Umfang bestehenden Rechtsprechungsbefugnisse der Legislative hinzuweisen.198 Indem der durch den Adel besetzten Kammer die Befugnis zugestanden wird, sich bei ihrer Rechtsprechung von den gesetzlichen Rahmenbestimmungen zu lösen, kann sie rechtsfortbildend tätig werden. Diese letzte Zuweisung verdeutlicht in besonderer Weise, dass Montesquieu zum einen noch keine klare Unterschei___________ 196

Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 11. Buch – 6. Kapitel, 220. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 11. Buch – 6. Kapitel, 227; Drath in: Rausch (Hrsg.), 21 (67). 198 Siehe die vorangegangenen Ausführungen zur Judikative unter C.II.2. a). 197

102 C. Das Prinzip der Gewaltenteilung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips

dung der einzelnen staatlichen Funktionen vorgenommen hat und zum anderen auch kein System einer strengen Gewaltentrennung erdacht hat, das sich unter anderem in Inkompatibilitätsregelungen äußert199, sondern sich bei der Zuweisung der einzelnen Aufgabenbereiche maßgeblich von politischen und gesellschaftlichen Erwägungen hat leiten lassen.

c) Exekutive Die Exekutive weist Montesquieu schließlich alleinig dem Monarchen zu, da „in diesem Zweig der Regierung fast durchweg unverzügliches Handeln vonnöten ist, das besser von einem als von mehreren besorgt wird.“200 Der Gegenstand dieser klaren Zuweisung – die einzelnen Exekutivbefugnisse – ist jedoch nicht leicht zu bestimmen. So stellt Montesquieu an den Anfang seines 6. Kapitels „Über die Verfassung Englands“ zunächst eine Begriffsdefinition der Exekutiven als „Befugnis in Sachen, die vom Völkerrecht abhängen“, die an den von John Locke in seinem Werk „The Two Treatises of Civil Government“ geprägten Begriff der „federative power“ erinnert. In der weiteren Abgrenzung zu den Befugnissen der Legislative erweitert er dieses auf ein bloßes Außenvertretungsrecht beschränkte Verständnis aber deutlich um die innerstaatliche Umsetzung der vom Gesetzgeber beschlossenen Regelungen. So weist er an einer späteren Stelle ausdrücklich darauf hin, dass bei einer Verbindung von gesetzgebender und vollziehender Gewalt in der Person des Monarchen die Gefahr einer absolutistischen Regierungsform besteht. Als Exekutivbefugnisse benennt Montesquieu dann im Übrigen ausdrücklich das Recht zur Einberufung der Legislative.201 Um den Einfluss des Königs und die ihm zukommenden Sonderrechte gegenüber der Legislative im Weiteren zu sichern, hat die Legislative nicht das Recht, die exekutiven Befugnisse und ihre Wahrnehmung zu begrenzen, dies geschieht nach Ansicht Montesquieus schon aus natürlichen Ursachen. In Zeiten unmittelbarer Gefährdung des Staates soll schließlich eine eingeschränkte und zeitlich beschränkte Übertragung der Befugnisse der Legislative – „die ___________ 199

Zwar lässt sich die Vorstellung von Inkompatibilitätsregelungen nicht vollständig übertragen, eine vergleichbare Regelung der ausnahmsweise möglichen Aufgabenwahrnehmung durch den Vertreter eines anderen Organs sieht Montesquieu aber auch im Rahmen der Exekutive vor; siehe die nachfolgenden Ausführungen unter C.II.2. c). 200 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 11. Buch – 6. Kapitel, 222. 201 Diesbezüglich siehe nur Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 11. Buch – 6. Kapitel, 223 „Eine ständige Tagung der legislativen Körperschaft wäre unnütz. Dies wäre für die Repräsentanten lästig und würde überdies die exekutive Befugnis zu stark beschäftigen.“

II. Der Gewaltenteilungsgrundsatz nach Montesquieu

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Verhaftung verdächtiger Bürger für eine kurze und beschränkte Zeit“202 – auf die Exekutive möglich sein. Auch zwischen den Aufgaben der Legislative und der Exekutive besteht demnach bei Montesquieu nicht eine klare Trennung. Eine solche könnte aber auch nur einer sinnfremden Teilung der einzelnen, aufeinander bezogenen Funktionsbereiche und der in einem Staat zusammengefassten Hoheitsgewalt insgesamt gleichkommen.203 Dass Montesquieu darüber hinaus auf Aufgaben der innerstaatlichen Verwaltung nicht eingeht, erklärt sich abschließend aus dem damaligen Verwaltungsverständnis.

d) Das Verhältnis der Gewalten untereinander Das Verhältnis der drei Gewalten untereinander fasst Montesquieu schließlich folgendermaßen zusammen: „Die legislative Körperschaft setzt sich aus zwei Teilen zusammen. Durch ihr wechselseitiges Verhinderungsrecht wird der eine den anderen an die Kette legen. Beide zusammen werden durch die exekutive Befugnis gefesselt, die ihrerseits von der Legislative gefesselt wird“204 (Hervorhebung d. Verf.). In Anbetracht eines solchen Systems der gegenseitigen Überwachung und Machthemmung fällt aus heutiger Sicht wohl zuerst die vollständige Bedeutungslosigkeit der Judikative auf. Doch erklärt sich dieser Umstand leicht aus dem damaligen Rechtsprechungsverständnis, das eine Verfassungsrechtsprechung im modernen Sinne noch nicht umfasste. Auch mittelbar konnte es zu keiner Rechtmäßigkeitsüberprüfung der auf den Einzelfall angewendeten Gesetze durch die Judikative kommen, da die Richter der Nation als „(...) lediglich der Mund, der den Wortlaut des Gesetzes spricht, Wesen ohne Seele gleichsam, die weder die Stärke noch die Strenge des Gesetzes mäßigen können“205, angesehen wurden. Montesquieu befand sich mit dieser Ansicht in Übereinstimmung mit den damals vorherrschenden Vorstellungen der Aufklärung, die vor allem an dem Gedanken der Rechtssicherheit für den Ein-

___________ 202 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 11. Buch – 6. Kapitel, 219; dass es sich nach seinem Verständnis um Legislativ-, nicht um Rechtsprechungsbefugnisse handelt, ergibt sich aus seinen weiteren Ausführungen. 203 Drath in: Rausch (Hrsg.), 21 (31); Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes, 54; Falk in: Maier/Rausch/Denker (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens – Band II, 45 (55); allgemein hierzu Douglas-Scott, 48 „(...) it is both conceptually, and practically, very difficult to separate the functions of government (...).“ 204 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 11. Buch – 6. Kapitel, 227. 205 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 11. Buch – 6. Kapitel, 225; kritisch hierzu von Hippel, Geschichte der Staatsphilosophie – Band II, 82.

104 C. Das Prinzip der Gewaltenteilung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips

zelnen ausgerichtet waren.206 So sollte der Einzelne nicht nur vor einer durch die Exekutive wahrgenommenen Rechtsprechung geschützt werden. Durch die enge Bindung der Rechtsprechung an die Gesetze sollte auch nur eine Unterwerfung unter diese, nicht noch zusätzlich unter einen besonderen Stand und dessen Verständnis der einzelnen Bestimmungen stattfinden. Somit hatte der jeweils für den Einzelfall zuständige Richter nach der Sachverhaltsfeststellung seiner Entscheidungsfindung keine eigenen Wertungen zugrunde zu legen, sondern lediglich den Willen des objektiven Rechts zu verwirklichen. Inwieweit eine solche Vorstellung die sich bei jeder Rechtsanwendung stellenden Herausforderungen hinreichend berücksichtigt, muss fraglich erscheinen. Als allgemeine Zielsetzung hat sich diese Vorstellung jedoch dahingehend ihre Bedeutung bewahrt, dass der Prozess der Rechtsfindung an Objektivität und Nachvollziehbarkeit auszurichten ist. Darüber hinaus fand dieses Verständnis auch noch deutlichen Eingang in das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, das durch seine Vielzahl an Bestimmungen eine umfassende rechtliche Würdigung verschiedenster Sachverhalte bereits durch die gesetzlichen Bestimmungen selbst zu erreichen suchte. Bei einer derart verstandenen Rechtsprechung handelt es sich dann im Weiteren um eine Tätigkeit, die ohne Schwierigkeiten von Laienrichtern vorgenommen werden konnte.207 Im Gegensatz zu der zunehmenden Bedeutung der Judikative in modernen Rechtssystemen – im Hinblick auf die Kontrolle und Überwachung der Tätigkeiten anderer Organe – wurde nach Montesquieu demnach die gegenseitige Hemmung bei der Machtausübung bereits durch das Gegenspiel der Exekutive und Legislative erreicht. Letztere hatte nicht nur das entscheidende Recht zur Haushaltsfestsetzung, sondern auch eingeschränkte Befugnisse zur Rechtsprechung. So kennzeichnet er die der Legislative zukommende Aufgabe denn auch folgendermaßen: „Die repräsentierende Körperschaft darf auch nicht für irgendeine eigenmächtige Beschlussfassung gewählt werden – was sie nicht gut zu leisten vermöchte –, sondern zur Schaffung von Gesetzen beziehungsweise zur Kontrolle, ob die geschaffenen Gesetze richtig angewendet wurden. Das vermag sie sehr gut, und niemand besser als sie“208 (Hervorhebung d. Verf.). ___________ 206

Merten in: Weinacht (Hrsg.), 31 (39); Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes, 60; Beccaria, Dei delitti e delle pene – § III. Conseguenze, 13 „La prima conseguenza di questi principii è che le sole leggi possono decretar le pene su i delitti (…).“ 207 Drath in: Rausch (Hrsg.), 21 (35); Starck, Der demokratische Verfassungsstaat, 102. 208 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 11. Buch – 6. Kapitel, 221 und in diesem Sinne später auch noch folgende Aussage, 224 „Wenn indes in einem freien Staat die legislative Befugnis nicht das Recht zum Eingriff in die exekutive Befugnis haben darf, hat sie doch das Recht zur Prüfung der Art und Weise, in der die von ihr verabschiedeten Gesetze durchgeführt worden sind, oder sollte die Möglichkeit dazu haben.“

II. Der Gewaltenteilungsgrundsatz nach Montesquieu

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Dass dieses für eine wirksame Kontrolle erforderliche Gegenspiel bestand, war dabei schon aus den verschiedenen, sich gegenüber stehenden Interessengruppen gewährleistet. So war das Volk und der Adel in der Legislative vereint, der Monarch der Vertreter der Exekutive. Eine vergleichbare zwangsläufige Gegensätzlichkeit zwischen Legislative und Exekutive besteht demgegenüber in den meisten modernen Regierungssystemen parlamentarischer Prägung nicht mehr, in denen im Regelfall die Exekutive zwar überwacht, aber auch mit Unterstützung der Mehrheit der gesetzgebenden Körperschaft regiert.

4. Einfluss der Staatsformenlehre und Legitimationsbegründung In der Zuweisung der einzelnen Staatsfunktionen an die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen knüpft Montesquieu des Weiteren an die bereits zuvor dargestellte Staatsformenlehre an. Die für die einzelnen Staatsformen kennzeichnenden Merkmale der Herrschaftsverteilung müssen hierfür nur in den innerstaatlichen Zusammenhang – auf die Gewaltenteilung – übertragen werden.209 Dass sich im Träger der Exekutivbefugnisse, dem Monarchen, gleichzeitig auch das monarchische Prinzip von der Herrschaft einer Person verwirklicht, ist offensichtlich. In der Legislative, gebildet aus Vertretern des Adels und des Volkes, treten sich in den beiden Kammern das aristokratische und das demokratische Prinzip gegenüber. Die Judikative, deren Besetzung durch Wahl aus dem Volk erfolgt, weist hinsichtlich der ordentlichen Gerichtsbarkeit zunächst eine deutliche Betonung des demokratischen Prinzips auf, nur bei Betroffenheit eines Vertreters des Adels werden die Richter diesem Stand entsprechend ausgewählt. Vor allem die der adeligen Legislativversammlung darüber hinaus noch zugewiesenen Streitigkeiten führen jedoch zu einer besonderen Bedeutung des aristokratischen Prinzips in diesem Bereich. Somit treten in den verschiedenen Aufgabenwahrnehmungen durch die einzelnen Stände alle drei Gestaltungsprinzipien eines Staatsaufbaus – die Herrschaft eines Einzelnen, weniger Ausgesuchter oder der Gesamtheit – in Beziehung zueinander. Die

___________ 209

Vile, 33 „The theory of mixed government was based upon the belief that the major interests in society must be allowed to take part in the functions of government, so preventing any one interest from being able to impose its will upon the others, whereas the theory of the separation of powers, in its pure form, divides the functions of government among the parts of government and restricts each of them to the exercise of the appropriate function. Furthermore, the class basis of the theory of mixed government is overtly lacking from the doctrine of the separation of powers. But it would be quite untrue to say that the latter does not have any class bias.“; Imboden, Montesquieu und die Lehre der Gewaltentrennung, 18; McClelland, 330.

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Vorstellung des „regimen commixtum“ findet demnach in den verschiedenen Gewalten eine erneute Bestätigung.210 Neben der Anknüpfung an die Staatsformenlehre treten in der Zuweisung der einzelnen staatlichen Grundaufgaben an die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen schließlich auch die unterschiedlichen Legitimationsgründe in Erscheinung. So tritt – entsprechend seiner Zuweisung der Gewalten an die verschiedenen Gesellschaftsgruppen – unter anderem in der vom Monarchen wahrgenommenen Exekutive eine Legitimation der ausgeübten Herrschaft kraft Charisma, aber auch der „durch Tradition ihnen zugewiesenen Eigenwürde“211 ein. Die Judikative weist eine traditionell-personenbezogene, aber auch rationale und die Legislative schließlich eine überwiegend rational begründete Rechtfertigung auf. Durch diese Vereinigung der verschiedenen Legitimationsbegründungen besteht nachfolgend die Möglichkeit einer umfassenden Herrschaftsrechtfertigung. Diese Verknüpfung des Gewaltenteilungsgrundsatzes mit den verschiedenen Gründen einer Herrschaftsrechtfertigung ist indes nicht mehr zwangsläufig gegeben. Wie schon zuvor ausgeführt212, hat seit Montesquieu die Bedeutung mancher dieser Legitimationsgründe erheblich abgenommen.213 So besteht denn vor allem keine vergleichbare Zwangsläufigkeit der Zuordnung eines Legitimationsgrundes zu einer bestimmten Gewalt mehr. Die Berechtigung des Gewaltenteilungsgrundsatzes lässt sich demnach nicht mehr nur unter Hinweis auf die Vereinigung der verschiedenen Legitimationsvorstellungen begründen. Vielmehr ist der Grundsatz der Gewaltenteilung in seiner jeweiligen Ausformung wesentlich angreifbarer für kritische Auseinandersetzungen geworden. Diese allgemeine Entwicklung ist gerade durch das nunmehr bestehende Erfordernis einer hinreichenden demokratischen Rechtfertigung der Herrschaftsausübung bedingt worden. ___________ 210 Steffani in: Rausch (Hrsg.), 313 (326); von Hippel, Geschichte der Staatsphilosophie – Band II, 84; Imboden, Die Staatsformen, 52, Ziff. 44; Stern, Das Staatsrecht der BRD – Band II, 527; Vollrath in: FS Sternberger 1977, 392 (410); Riklin in: Weinacht (Hrsg.), 15 (28) „(...) Mischverfassung und Gewaltenteilung sind verschiedene Aspekte desselben Phänomens.“; für eine entsprechende Bewertung der Europäischen Union siehe nur Grams, 33 „Damit folgt das Gemeinschaftssystem einer auf antiken Einsichten und Vernunftsgründe zurückgehenden Konzeption einer gemischten Verfassung.“ 211 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 130. 212 Siehe die vorangegangenen Ausführungen zum soziologischen Legitimationsbegriff unter C.I.4. b). 213 Siehe weiterführend Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns – Band II, 137 „Das Institutionensystem kann aber nicht nur durch den Strukturwandel der Weltbilder unter Druck geraten, sondern auch von seiten eines wachsenden Spezifizierungsbedarfs für veränderte und komplexer gewordene Handlungssituationen.“

III. Weiterführende Bedeutung

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Ungeachtet dieser veränderten Rahmenbedingungen steht die von Montesquieu noch bewusst vorgesehene enge Verbindung des Gewaltenteilungsgrundsatzes mit den verschiedenen Legitimationsvorstellungen jedoch einer Übertragung seiner Vorstellungen auch auf heutige Sachverhalte nicht zwangsläufig entgegen. Vielmehr ist lediglich der Begründungsaufwand für eine – sich auf die Integration der unterschiedlichen Staatsformen und der damit auch verbundenen verschiedenen Legitimationsvorstellungen stützende – Anerkennung der Gewaltenteilung als erheblich höher anzusehen.214

III. Weiterführende Bedeutung Zwangsläufig stellt sich nun im Folgenden die Frage nach der weiterführenden inhaltlichen Bedeutung der von Montesquieu vorgenommenen Zuweisung der einzelnen staatlichen Funktionen an die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Eine Beschäftigung mit seinen Vorstellungen hat seit dem Erscheinen seines Werkes „Vom Geist der Gesetze“ im Jahre 1748 fortlaufend stattgefunden.215 Entsprechend ist eine abschließende Beantwortung dieser Frage kaum möglich. Vor allem im Rahmen dieser Arbeit soll nachfolgend nur eine sehr begrenzte Auswahl der verschiedenen Weiterentwicklungen und Kritikansätze dargestellt werden.

1. Die „Federalist Papers“ Für den europäischen Zusammenhang von besonderem Interesse sind zunächst diejenigen Auseinandersetzungen mit den Vorstellungen Montesqieus zum Gewaltenteilungsgrundsatz, die bei der amerikanischen Staatswerdung ge___________ 214

So Imboden, Die Staatsformen, 108, Ziff. 99 „Damit sich vielmehr die einzelnen Gewalten im Bewusstsein des Bürgers als eine selbstständige Gegebenheit, als eigentliches Prinzipium, zu behaupten vermag, muss die Instanzenmehrheit zugleich zum Integrationsbild verschiedener Herrschaftsformen oder verschiedener Legitimationsarten oder aber zu beiden werden. Jede Gewalt muss in die Lage versetzt werden, sich kraft eines Eigenen durchzusetzen oder zu verwirklichen.“; Steffani in: Rausch (Hrsg.), 313 (318); allgemein Ryffel in: FS Eichenberger 1982, 59 (61) „Wir müssen, nach dem Zerfall der vorgegebenen Ordnungsvorstellungen, stetsfort um die maßgeblichen Normen ringen, sie verändern, anpassen und zuweilen teilweise oder ganz neu entwerfen.“ 215 Siehe nur die Einbindung der Gewaltenteilung in ein allgemeines logisches System bei Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 129 „(...) gleich den drei Sätzen in einem praktischen Vernunftschluss: dem Obersatz, der das Gesetz jenes Willens, dem Untersatz, der das Gebot des Verfahrens nach dem Gesetz, d.i. das Prinzip der Subsumtion unter denselben, und dem Schlusssatz, der den Rechtsspruch (die Sentenz) enthält, was im vorkommenden Falle Rechtens ist.“

108 C. Das Prinzip der Gewaltenteilung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips

führt worden sind. So besteht trotz der doch erheblichen Unterschiede zum europäischen Integrationsprozess, dessen Zielsetzungen zumindest zur Zeit nicht die Schaffung eines Bundesstaates umfassen, eine Vergleichbarkeit dahingehend, dass in diesen beiden Zusammenhängen überhaupt entsprechende Diskussionen geführt wurden und werden. Der Einfluss Montesquieus auf die zu der Amerikanischen Verfassung führenden Auseinandersetzungen zwischen den „Federalists“ und „AntiFederalists“ über den Konventsentwurf von Philadelphia kann nur als weitreichend bewertet werden. So finden sich in den von Alexander Hamilton, John Jay und James Madison verfassten und in der New Yorker Presse im Zeitraum zwischen Oktober 1787 und August 1788 erschienenen Essays, den „Federalist Papers“, mehrfach deutliche Bezüge zur Person Montesquieu und seines Werkes „Vom Geist der Gesetze“. Auch wenn in den „Federalist Papers“ eine Auseinandersetzung mit den unterschiedlichsten Aussagen Montesquieus stattfindet216, sollen im Rahmen der vorliegenden Arbeit die Diskussionen über die von ihm beschriebene Ausgestaltung des Gewaltenteilungsgrundsatzes im Vordergrund stehen. Dass diesen Ausführungen immer noch erhebliche Bedeutung zukommt, gründet sich auf die besondere Bedeutung dieser Essayreihe für die weitere Auslegung der Amerikanischen Verfassung. So waren doch Alexander Hamilton als Vertreter des Staates New York und James Madison als Vertreter Virginias bereits Teilnehmer der „Constitutional Convention“ in Philadelphia gewesen und befanden sich damit in der Lage, die Vorstellungen der Verfassungsgebenden Versammlung umfassend darstellen und sich mit ihnen auseinandersetzen zu können.217 Darüber hinaus ist die überragende Vorbildfunktion der Amerikanischen Verfassung und ihrer Entstehungsgeschichte für nachfolgende Verfassungen – und auch mit Einschränkungen für den Europäischen Verfassungsprozess218 – insgesamt zu berücksichtigen. ___________ 216

Siehe nur stellvertretend Alexander Hamilton, The Federalist No. IX, 37 zu der Aussage über eine Eignung der Staatsform einer Republik nur für kleine Territorialstaaten bei Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 8. Buch – 16. Kapitel, 197. 217 McClelland, 374; Farrand, 1; von Oppen-Rundstedt, 26; Merten in: Weinacht (Hrsg.), 31 (40); Gebhardt in: Maier/Rausch/Denker (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens – Band II, 58 (58). 218 Siehe nur Michael Meyer „Founding Fathers“ in: Newsweek, March 4, 2004, 8 (10) „Will a constitution make Europe whole? Only if its leaders share a common vision – and the will is there. Those who look to Philadelphia for inspiration would do well to remember the unifying concept enshrined in the preamble to America’s founding document: We the people. We the Single Currency doesn’t quite cut it, nor does We the Fatherlands. Europeans may need a more perfect union, but neither good luck nor providence will bring it. It will take inspired work on what Europe already is, not noble rhetoric about what it ought to be. Anything less would be sham.“

III. Weiterführende Bedeutung

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In „The Federalist“ No. XLVII, in dem James Madison sich mit dem Vorwurf auseinandersetzt, die in Philadelphia beschlossene Verfassung verstoße gerade gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz – „its supposed violation of the political maxim, that the legislative, executive and judiaciary departments, ought to be separate and distinct“219 –, verdeutlicht er zunächst die besondere Bedeutung von Montesquieu folgendermaßen: „The oracle who is always consulted and cited on this subject, is the celebrated Montesquieu. If he be not the author of this invaluable precept in the science of politics, he has the merit of at least displaying and recommending it most effectually to the attention of mankind.“220 Daran anschließend stellt er dann die von Montesquieu in seinem 6. Kapitel des 11. Buchs als Ausgangspunkt für seine Ausführungen gewählte Englische Verfassung näher dar, um nachfolgend unter Berücksichtigung der bereits in diesem Verfassungssystem bestehenden weitreichenden Gewaltenverschränkungen221 deren Vereinbarkeit mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz selbst und den mit ihm verfolgten Zielsetzungen – vor allem der Vermeidung einer Tyrannis – zu belegen. So versucht Montesquieu zwar zuallererst die Vereinigung der verschiedenen Machtbefugnisse in einer Person zu vermeiden. Eine gewisse Teilhabe (wie die Rechtsprechungsbefugnisse der Legislative) und Überwachung (wie die der Exekutive durch die Legislative) der Gewalten untereinander soll jedoch gleichwohl stattfinden. Ein darüber hinausgehendes ausdrückliches Zugeständnis derart, dass eine reine Verwirklichung des Gewaltenteilungsgrundsatzes auch überhaupt nicht möglich ist, enthält im Übrigen die in „The Federalist“ No. XLVII – neben anderen – teilweise wiedergegebene Verfassung von New Hampshire, die besagt „that the legislative, executive, and judiciary powers, ought to be kept as separate from, and independent of each other, as the nature of a free government will admit; or as is consistent with that chain of connexion, that binds the whole fabric of the constitution in one indissoluble bond of unity and amity.“222 Mit der Aufzählung dieser Verfassungsauszüge versucht James Madison daraufhin ein „amerikanisches Verständnis des Gewaltenteilungsgrundsatzes“223 zu veranschaulichen, das sich gleichwohl ___________ 219

James Madison, The Federalist No. XLVII, 245. James Madison, The Federalist No. XLVII, 246; siehe auch Stern, Das Staatsrecht der BRD – Band II, 528. 221 James Madison, The Federalist No. XLVII, 246 „(…) we must perceive, that the (…) departments are by no means totally separate and distinct from each other.“ 222 James Madison, The Federalist No. XLVII, 248. 223 So ist der Gewaltenteilungsgrundsatz im Weiteren nach Angabe von James Madison, The Federalist No. XLVII, 248–251 neben New Hampshire noch ausdrücklich – und ohne Vorbehalt, aber nicht notwendigerweise auch inhaltlich – in einer größeren Anzahl der Verfassungen der Amerikanischen Kolonien, im Näheren in den Verfassungen von Massachusetts, Maryland, Virginia, North Carolina, Georgia aufgenommen worden. 220

110 C. Das Prinzip der Gewaltenteilung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips

weiterhin in Übereinstimmung mit der Lehre von Montesquieu befinden soll: „What I have wished to envince is, that the charge brought against the proposed constitution of violating a sacred maxim of free government, is warranted neither by the real meaning annexed to that maxim by its author, nor by the sense in which it has hitherto been understood in America.“224 Im darauffolgenden Essay No. LXVIII geht James Madison auf die inhaltliche Bedeutung des Gewaltenteilungsgrundsatzes ein. Dabei bestimmt er in Anbetracht der Unmöglichkeit einer vollständigen Verwirklichung diejenigen absoluten Grenzen, die nichtsdestotrotz einzuhalten sind: „It is agreed on all sides, that the powers properly belonging to one of the departments ought not to be directly and completely administered by either of the other departments. It is equally evident, that neither of them ought to possess, directly or indirectly, an overruling influence over the others in the administration of their respective powers. It will not be denied, that power is of an encroaching nature, and that it ought to be effectually restrained from passing the limits assigned to it. After discriminating, therefore, in theory, the several classes of power, as they may in their nature be legislative, executive, or judiciary; the next, and most difficult task, is to provide some practical security for each, against the invasion of the others“225 (Hervorhebung d. Verf.). Der Schwierigkeit, die Unabhängigkeit der einzelnen Gewalten voneinander wirksam zu bewahren, möchte Alexander Hamilton oder James Madison226 im Essay No. LI dann zunächst wie folgt begegnen: „The only answer that can be given is, that as all these exterior provisions are found to be inadequate, the defect must be supplied, by so contriving the interior structure of the government, as that its several constituent parts may, by their mutual relations, be the means of keeping each other in their proper place“227 (Hervorhebung d. Verf.). Im Gegensatz zu Montesquieu, der die Überwachung der verschiedenen Gewalten durch sich in ihren Interessen grundlegend unterscheidende gesellschaftliche Gruppen – dem König, dem Adel und dem Volk – vorgesehen hatte228, muss demnach aufgrund der in den ___________ 224

James Madison, The Federalist No. XLVII, 251f. James Madison, The Federalist No. LXVIII, 252. 226 Die Zuordnung mancher der allesamt unter dem Namen „Publius“ veröffentlichten Essays ist unklar; Publius bezieht sich dabei auf Publius Valerius, der, wie Plutarch beschreibt, nach dem Sturz des letzten Königs Tarquinius Superbus in Rom die Republik errichtet haben soll. 227 Alexander Hamilton oder James Madison, The Federalist No. LI, 264; siehe weiterführend McClelland, 372. 228 Lange in: 19 Der Staat 1980, 213 (233); Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes, 53; Loewenstein, Verfassungslehre, 22 „Es war Montesquieu (...), der die Regierungsinstitutionen als den organisatorischen Rahmen für die Entfaltung der in den Staatsgesellschaften wirksam werdenden sozialen 225

III. Weiterführende Bedeutung

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amerikanischen Kolonien gerade nicht mehr bestehenden Ständeordnung die Verhinderung eines Machtmissbrauchs bereits aus dem System selbst gelingen. Wie der innere Aufbau des Staates und die Beziehungen der einzelnen Gewalten untereinander hierfür im Einzelnen weiter ausgestaltet werden müssen, versucht Alexander Hamilton daraufhin im Essay No. LXXVIII näher darzustellen, in dem er sich ausführlich mit der Rolle der Judikative in ihrer Beziehung zur Legislative auseinandersetzt: „It is far more rational to suppose that the courts were designed to be an intermediate body between the people and the legislature, in order, among other things, to keep the latter within the limits assigned to their authority. The interpretation of the laws is the proper and peculiar province of the courts. A constitution is, in fact, and must be, regarded by the judges as a fundamental law. It must therefore belong to them to ascertain its meaning, as well as the meaning of any particular act proceeding from the legislative body. If there should happen to be an irreconcilable variance between the two, that which has the superior obligation and validity ought, of course, to be preferred; in other words, the constitution ought to be preferred to the statue, the intention of the people to the intention of their agents“229 (Hervorhebung d. Verf.). Mit diesem Verständnis von den Aufgaben der Judikative ist die immer noch gültige Vorstellung einer modernen Verfassungsgerichtsbarkeit begründet. Gerade hierin ist jedoch auch eine entscheidende Abweichung von den Vorstellungen von Montesquieu zu erkennen, der die Rechtmäßigkeit der legislativen Machtausübung bereits durch die gegenseitige Überwachung der beiden legislativen Kammer oder aber durch die Einflussnahme des Monarchen als gesichert ansah. Eine weitere notwendige Abweichung zu den Vorstellungen von Montesquieu findet sich schließlich in dem schon zuvor genannten Essay No. XLVIII, in dem James Madison auf eine besondere Gefährdung des republikanischen Systems hinweist. Im Gegensatz zur Monarchie, in der die Gefahr vom Monarchen ausgeht und dessen Macht demnach unter anderem durch das Haushaltsrecht der Legislative gehemmt werden muss, droht in der republikanischen Staatsform – wie schon im England zur Zeit des „Long Parliament“ – nun gerade die Legislative ein Übergewicht an Macht zu gewinnen. So sind ihre Befugnisse gegenüber denen der anderen Gewalten nur schwer abzugrenzen.230 Be___________ Kräfte erfasste – er spricht von dem Klima oder dem Geist der Gesetze – und der damit das Wesen des Machtelements in der Regierung zu erkennen in der Lage war.“ 229 Alexander Hamilton, The Federalist No. LXXVIII, 398; weiterführend Loewenstein, Verfassungslehre, 117; Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes, 130. 230 James Madison, The Federalist No. XLVIII, 253 „Its constitutional powers being at once more extensive, and less susceptible of precise limits, it can, with the greater facility, mask, under complicated and indirect measures, the encroachments which it

112 C. Das Prinzip der Gewaltenteilung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips

gegnet werden soll dieser Gefahr durch eine stärkere Orientierung an einer Theorie der „checks and balances“. So soll vor allem die Exekutive gestärkt und innerhalb der Legislative ein Zweikammernsystem errichtet werden. Letzterer Ansatz findet sich zwar auch schon bei Montesquieu, doch begründet dieser die Notwendigkeit einer solchen Organisation der Legislative in hiervon abweichender Weise.231 Unterschiede zu den von Montesquieu dargestellten Verhältnissen der Gewalten untereinander ergeben sich demnach sowohl durch den Wechsel von einem monarchischen zu einem republikanischen Regierungssystem wie allgemeinen gesellschaftlichen Veränderungen, insbesondere der Auflösung der Ständeordnung. Vor allem im Hinblick auf diese letztere Abweichung ist aber von besonderem Interesse die von Alexander Hamilton eingehend geführte Auseinandersetzung mit der demnach auch von ihm ernstgenommenen Frage, ob sich in den neu geschaffenen Vereinigten Staaten von Amerika aufgrund der Wahlrechtsbestimmungen eine Führungselite der „wealthy and the well-born“ herausbilden könnte, die dann die einzelnen Gewalten für ihre alleinige Interessendurchsetzung nutzen könnte.232 Zwar hat sich ein solcher – einer Ständeordnung nicht ungleicher – Zustand trotz gegenteiliger Befürchtungen wohl nicht vollständig ergeben.233 Jedoch sind klar umrissene gesellschaftliche Gruppen – ___________ makes on the co-ordinate departments.“; Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes, 96; Gebhardt in: Maier/Rausch/Denker, Klassiker des politischen Denkens (Hrsg.) – Band II, 58 (76f.); Vile, 144 „For it was the problem of placing limits on the legislative power that made this extreme doctrine unworkable.“ 231 Siehe die Ausführungen zur Legislative bei Montesquieu, dargestellt unter C.II.2. b) der vorliegenden Arbeit. 232 Alexander Hamilton, The Federalist No. LX, 310 „Are the wealthy and the wellborn, as they are called, confined to particular spots in the several states? Have they, by some miraculous instinct or foresight, set apart in each of them, a common place of residence? Are they only to be met with in the towns and the cities? Or are they, on the contrary, as avarice or chance may have happened to cast their own lot, or that of their predecessors? (…) With a disposition to invade the essential rights of the community, and with the means of gratifying that disposition, is it presumable that the persons who were actuated by it would amuse themselves in the ridiciculous task of fabricating election laws for securing a preference to a favourite class of men?“; allgemein zur „Gefahr einer Überrepräsentation partikulärer Meinungen“ siehe Zippelius in: FS Eichenberger 1982, 147 (153). 233 Vile, 325 „America has never been a society which was truly run by an èlite except perhaps during the years immediately following the adoption of the Constitution in 1789.“; für die in allen Demokratien zu beobachtende Entwicklung, dass die Macht – ähnlich wie in einer Oligarchie – faktisch nur von einem kleinen Teil der Bevölkerung ausgeübt wird, siehe nur Loewenstein in: Rausch (Hrsg.), 272 (275/276); Rostock, Die antike Theorie der Organisation staatlicher Macht, 94; Alexander Hamilton, The Federalist No. XXXV, 166 „The idea of an actual representation of all classes of the people, by persons of each class, is altogether visionary.“

III. Weiterführende Bedeutung

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schon im Hinblick auf die Vermögenslage – mit jeweils sehr verschiedenen Interessen entstanden. Versteht man den Gewaltenteilungsgrundsatz – losgelöst von den Beobachtungen Montesquieus über die damalige Ständeordnung – als ein Mittel zur Machtteilhabe verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und damit als Ausdruck gerade eines solchen Pluralismus bleibt eine Übertragung des Gewaltenteilungsgrundsatzes aber auch auf gesellschaftlich anders strukturierte Ordnungen weiterhin möglich. Als jeweils erforderlich ist die Möglichkeit der verschiedenen Interessengruppen anzusehen, für ihre jeweiligen Anliegen in den einzelnen Gewalten entsprechend Einfluss nehmen zu können und sich in diesem Zusammenhang auch gegenseitig zu überwachen. Erst die gleichzeitige und sehr deutliche Ausrichtung Montesquieus auf ein monarchisches System234 scheint die von den „Federalists“ als möglich angesehene Anpassung seiner Vorstellungen auf andere Verhältnisse grundlegend in Frage zu stellen. Die Hervorhebung des Monarchen – mit der gleichzeitigen Ablehnung eines parlamentarischen Regierungssystems – darf jedoch nicht losgelöst von den übrigen Ausführungen Montesquieus gesehen werden und vor allem nicht schon als Begründung für eine lediglich sehr eingeschränkte weiterführende Bedeutung seiner Gedanken herangezogen werden. Vielmehr ist die Betonung des monarchischen Prinzips als nur eine besonders deutliche Ausprägung einer insgesamt noch in einer Ständeordnung verwurzelten Gedankenwelt anzusehen. Die gleichzeitig damit verbundene Vorstellung, bestehende gesellschaftliche Gegensätze auch im Rahmen der gegenseitigen Gewaltenüberwachung für das Funktionieren des Systems allgemein nutzen zu können, kann unzweifelhaft auch unter anderen Bedingungen überzeugen. Gerade in diesem Zusammenhang wirkt sich demnach vorteilhaft aus, dass Montesquieu im Gegensatz zu Locke „keine umfassende politische Theorie, auch keine systematische Staatslehre“235 entwickelt hat. Vielmehr sollten seine Beobachtungen über die Umstände seiner Zeit – sowohl in Frankreich als auch ___________ 234 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 11. Buch – 6. Kapitel, 222 „Es gäbe keine Freiheit mehr, wenn es keinen Monarchen gäbe und die exekutive Befugnis einer bestimmten, aus der legislativen Körperschaft ausgesuchten Personenzahl anvertraut wäre, denn die beiden Befugnisse wären somit vereint. Dieselben Personen hätten an der einen und der anderen teil – und somit könnten sie immer daran teilhaben.“; Merten in: Weinacht (Hrsg.), 31 (44) sieht denn auch das parlamentarische System als Widerspruch zur Gewaltenteilung an. 235 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 29 „Montesquieu gehört zu der vom Geist der Aufklärung erfüllten, aristokratischen und großbürgerlichen Bildungsschicht des ancien regime und sein „Geist der Gesetze“ von 1748 ist bestimmt für die Landschlösser der seigneurs, die Salons bei Hofe und die Diskussionsclubs in den Kaffeehäusern. (...) Er schreibt bewusst aphoristisch und apodiktisch, unmethodisch und ohne System, bietet spielerisch hingeworfene politische Reflexionen, Beobachtungen, geistreiche Erörterungen.“; Stern, Das Staatsrecht der BRD – Band II, 527.

114 C. Das Prinzip der Gewaltenteilung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips

in anderen Ländern – und der Vergleich zu anderen historischen Herrschaftssystemen eine bloße Grundlage bilden, von der aus dann im Weiteren allgemeingültige Regeln und Gesetze für die Freiheit und Sicherheit in einer staatlichen Ordnung erkannt werden können. Dabei stellt Montesquieu seine Beobachtungen über die verschiedenen Herrschaftsformen nicht vollkommen losgelöst nebeneinander, sondern legt ihnen vielmehr die theoretische Fragestellung nach der Möglichkeit der Verhinderung eines Machtmissbrauches und der damit einhergehenden Freiheitssicherung für den Einzelnen und der Stabilisierung der Herrschaftsform insgesamt zugrunde. Mit dieser Vorgehensweise entspricht Montesquieu den Grundsätzen einer empirischen Erfassung der tatsächlichen Gegebenheiten.236 So zeitgebunden seine Beobachtungen damit im Einzelnen auch sein mögen, besitzen die ihnen zugrunde liegenden Fragestellungen wie auch Grundansätze demnach weiterhin Gültigkeit. Vor allem kann ein Regierungssystem noch so vorausschauend organisiert worden sein. Erst durch die gezielte Ausnutzung tatsächlicher Gegensätze in der Gesellschaft – und der möglichen Beteiligung der verschiedenen Gruppen an der Gewaltenausübung – kann ein Machtmissbrauch auch dauerhaft verhindert werden.237 Derjenige Gewaltenteilungsgrundsatz, der zumindest mittelbar deutlichen Einfluss auf die Gestaltung der ersten drei Artikel der Amerikanischen Verfassung genommen hat und damit zwangsläufig gleichfalls auf die Ausgestaltung zahlloser nachfolgender Verfassungen, kann somit immer noch auf die Ideen und Zielsetzungen Montesquieus direkt zurückgeführt werden.

2. Jean-Jacques Rousseau Im Gegensatz zu der in den „Federalist Papers“ noch bewusst gesuchten Anlehnung an Montesquieus Lehre vom Gewaltenteilungsgrundsatz gab es aber ___________ 236

Starck, Der demokratische Verfassungsstaat, 99 „Empirisch ist eine Wissenschaft, die die Wirklichkeit grundsätzlich unabhängig von einem bestimmten Sollen aus der Anschauung zu erkunden sucht. Dabei wird man sich freilich vor der naiven Annahme hüten müssen, dass wir unsere Beobachtungen und Erlebnisse bloß zu sammeln und zu ordnen brauchen und durch reine Induktion zu allgemeinen Grundsätzen über die Wirklichkeit aufsteigen können. Wir brauchen Gesichtspunkte und theoretische Fragestellungen, unter denen wir die Wirklichkeit betrachten.“; Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, 20 „Es ist nur die gründliche, freie, umfassende Anschauung der Situationen und der tiefe Sinn für die Idee, wie sie sich selbst auslegt, was den Reflexionen Wahrheit und Interesse geben kann. So ist es z.B. in Montesquieu’s Geist der Gesetze, der zugleich gründlich und tief ist.“ 237 Schneider in: 82 AöR 1957, 1 (26); Lange in: 19 Der Staat 1980, 213 (218) „Eine entscheidende Voraussetzung für gemäßigte staatliche Herrschaft war für ihn damit die Existenz – überbrückbarer – politischer Gegensätze in einem Gemeinwesen, der Dualismus oder gar Pluralismus der Kräfte.“

III. Weiterführende Bedeutung

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auch schon früh sehr kritische Auseinandersetzungen mit den im „Geist der Gesetze“ niedergelegten Vorstellungen. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll als Vertreter einer sich deutlich von Montesquieu distanzierenden Ansicht auf Jean-Jacques Rousseau eingegangen werden, dessen diesbezügliche Äußerungen schon aufgrund ihrer Deutlichkeit und Schärfe besondere Bekanntheit erlangt haben. Darüber hinaus weisen Rousseau und Montesquieu ein sehr ähnliches Verständnis von der Freiheit des Einzelnen auf. So verstehen beide die politische Freiheit des Einzelnen nicht so sehr als einen Zustand äußerer Unabhängigkeit von Anderen, sondern vielmehr als eine Art innerer Autonomie. Diese soll sich auf ein Gleichgewicht des Willens und des Könnens gründen, indem sich der Einzelne mit seinem Willen jeweils auch im Rahmen seiner Fähigkeiten und der von außen vorgegebenen Grenzen bewegt.238 Dabei betont letzteren Gemeinschaftsbezug insbesondere Montesquieu, der die Freiheit als einem Zustand der Unterwerfung nur unter die Gesetze ansieht.239 Dass sie nichtsdestotrotz vollkommen verschiedene Ansätze für die Bewahrung dieser persönlichen Freiheit entwickelt haben und Rousseau insbesondere der Gewaltenteilung kaum Bedeutung in diesem Zusammenhang zugesteht, macht eine Gegenüberstellung bereits interessant. Zusätzlich können Rousseaus Vorstellungen – aufgrund der sie kennzeichnenden Betonung eines allgemeinen Willens – auch allgemein für europäische Fragestellungen als wichtiger Bezugspunkt angesehen werden. So sind Auseinandersetzungen über die europäische Gemeinschaftsrechtsordnung häufig dadurch geprägt, dass auf Gemeinschaftsinteressen Bezug genommen wird. Danach werden unter anderem Gemeinschaftsorgane entsprechend ihrer Interessenausrichtung gekennzeichnet und auch Bewertungen der Rechtsordnungen erfolgen regelmäßig unter Bezugnahme auf bestehende Möglichkeiten zur Durchsetzung von Gemeinschaftsinteressen oder aber mitgliedstaatlicher Interessen. Unklar bleibt in diesem Zusammenhang jedoch zumeist der diesen Gemeinschaftsinteressen im Einzelfall zukommende Bedeutungsgehalt. Im Hinblick auf diese Unbestimmtheit eines als maßgeblich zugrunde gelegten Begriffs lässt sich damit eine gewisse Vergleichbarkeit zwischen den Ausführungen Rousseaus und bestimmten Auseinandersetzungen mit dem europäischen ___________ 238 Rousseau verweist in seinem Gesellschaftsvertrag, 1 Buch – 8. Kapitel, 51 auf vorangegangene Ausführungen, damit ist vor allem sein Roman „Emile“ gemeint, in dem er schreibt „Der wahrhaft freie Mann will nur, was er vermag, und handelt nach eigenem Gefallen.“; Würtenberger, 104. 239 Montesquieu, Der Geist der Gesetze, 11. Buch – 3. Kapitel, 214 „(...) kann Freiheit lediglich bedeuten, dass man zu tun vermag, was man wollen soll, und man nicht zu tun gezwungen wird, was man nicht wollen soll.“; Vollrath in: FS Sternberger 1977, 392 (411); auch Kägi betont eine Korrelation von Recht und Pflicht und einer Gemeinschaftsbindung der Freiheit bei Montesquieu, in: Rausch (Hrsg.), 286 (290).

116 C. Das Prinzip der Gewaltenteilung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips

Integrationsprozess feststellen. Im Bezug auf Letztere wird darüber hinaus nicht immer vollständig deutlich, wie diese Gemeinschaftsinteressen sich überhaupt herausbilden. Versteht man Gemeinschaftsinteressen vorrangig als einen Gegenbegriff zu mitgliedstaatlichen Interessen, die bereits in der Gemeinschaftsrechtsordnung selbst angelegt sind, kommt auch dem Grundsatz der Gewaltenteilung bei ihrer Herausbildung nicht notwendigerweise eine besondere Bedeutung zu. Demgegenüber kann von einer solchen Bedeutung des Gewaltenteilungsgrundsatzes ausgegangen werden, wenn Gemeinschaftsinteressen als das Ergebnis einer gemeinsamen Konsensfindung unter Beteiligung gerade auch der verschiedenen Gemeinschaftsorgane für jeden Einzelfall angesehen werden. Einer Beschäftigung mit Rousseaus Vorstellungen zum allgemeinen Willen und dessen Herausbildung sowie zum Gewaltenteilungsgrundsatz kann demnach für Betrachtungen der Gemeinschaftsrechtsordnung insoweit zusätzlich Bedeutung zukommen, als bestimmte Begriffe, die in diesem Zusammenhang Verwendung finden, nochmals zu hinterfragen sind. Über die Gewaltenteilung äußerte sich Rousseau in seinem Werk „Der Gesellschaftsvertrag“ von 1762 zunächst folgendermaßen: „Da aber unsere Staatsmänner die Staatshoheit nicht in ihrem Prinzip zerteilen können, so zerteilen sie sie wenigstens in bezug auf ihren Gegenstand; (...). Sie machen aus dem Staatsoberhaupte ein phantastisches und zusammengestückeltes Wesen; es ist, als ob sie den Menschen aus mehreren Körpern zusammensetzen, von denen der eine nur Augen, der andere nur Arme, der dritte nur Füße und sonst weiter nichts hätte. Die Gaukler in Japan sollen vor den Augen der Zuschauer ein Kind zerstückeln, und nachdem sie darauf alle seine Glieder nacheinander in die Luft geworfen haben, lassen sie das Kind wieder lebendig und mit heilen Gliedern herabfallen. Der Art sind ungefähr die Taschenspielerstreiche unserer Staatsmänner; nachdem sie den Gesellschaftskörper durch eine Gaukelei, die sich denen auf dem Jahrmarkte zur Seite stellen kann, zerlegt haben, setzen sie, man weiß nicht wie, die Stücke wieder zusammen.“240 Um diese vollständige Ablehnung der Idee einer Gewaltenteilung241 bei Rousseau überhaupt nachvollziehen zu können, muss zunächst auf seinen Entwurf einer Gesellschaftsbildung eingegangen werden. Rousseau, dessen gesamtes Werk durch den Gegensatz von Natur und Gesellschaft bestimmt ist, sieht in der Vergesellschaftung nicht notwendigerweise eine Verbesserung im Ver___________ 240 Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 2. Kapitel – 2. Buch, 57; weiterführend Vile, 177; Kägi in: FG Giacometti 1953, 107 (116). 241 Diesbezüglich ist Rousseau indes keineswegs als eine Ausnahmeerscheinung anzusehen, so sind ähnliche Vorstellungen auch in nachfolgenden Auseinandersetzungen mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz – unter besonderem Hinweis auf die Einheitlichkeit der Staatsgewalt – begründet worden.

III. Weiterführende Bedeutung

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gleich zum vorangegangenen Naturzustand. So soll für Letzteren insbesondere die natürliche Freiheit des Menschen und sein unbeschränktes Recht „auf alles, was ihn reizt und er erreichen kann“242 kennzeichnend sein. Entsprechend beklagt Rousseau auch gleich zu Beginn des Gesellschaftsvertrages: „Der Mensch wird frei geboren, und überall ist er in Banden.“243 Demnach vollzieht jeder Einzelne in seinem Leben – mit der nach der Geburt einsetzenden persönlichen Versklavung – den im Rahmen der allgemeinen Gesellschaftsentwicklung stattgefundenen Freiheitsverlust stellvertretend nochmals nach. Nur aufgrund der Hindernisse, die den Menschen ihre Erhaltung in dem Naturzustand unmöglich machen, muss denn auch im Weiteren überhaupt der daran anschließenden Frage nachgegangen werden: „Wie findet man eine Gesellschaftsform, die mit der ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes Gesellschaftsgliedes verteidigt und schützt und kraft dessen jeder einzelne, obgleich er sich mit allen vereint, gleichwohl nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie vorher?“244 Die Antwort zu dieser Grundfrage seiner staatstheoretischen Überlegungen soll dann der Gesellschaftsvertrag geben, der den Eintritt in die Gesellschaft von bestimmten und für jedermann gleichen Bedingungen abhängig macht. Dabei ist dieser Gesellschaftsvertrag nicht geschichtlich zu verstehen und soll auch nicht der Rechtfertigung einer bestehenden Herrschaftsordnung dienen. Vielmehr bildet er einen Maßstab für die Staatsführung im Allgemeinen. Entsprechend seiner einzelnen Bedingungen hat sich jeder zunächst mit seiner ganzen Person und den ihm zukommenden Rechten und Freiheiten in die Gesellschaft einzuordnen245 und dem „allgemeinen Willen“ unterzuordnen, letzteres ist gegebenenfalls auch mit Zwang durchzusetzen.246 Nur durch eine solche absolute Hingabe des Einzelnen an die Gesamtheit, die zwangsläufig mit einem Verlust an Individualität einhergehen muss, ist der Gesellschaftsvertrag wirksam und in seinem Bestand gesichert. Die für alle gleiche Ausgangslage soll nachfolgend eine gegenseitige Abhängigkeit und eine gemeinsame Interessen___________ 242

Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 8. Kapitel – 1. Buch, 51. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 1. Kapitel – 1. Buch, 34. 244 Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 6. Kapitel – 1. Buch, 45; ausführlich hierzu McClelland, 259. 245 Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 6. Kapitel – 1. Buch, 46 „das gänzliche Aufgehen jedes Gesellschaftsgliedes mit all seinen Rechten in der Gesamtheit“; siehe weiterführend nur Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 39; McClelland, 261; von Hippel, Geschichte der Staatsphilosophie – Band II, 95. 246 Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 7. Kapitel – 1. Buch, 50 „(...) sie besteht darin, dass jeder, der dem allgemeinen Willen den Gehorsam verweigert, von dem ganzen Körper dazu gezwungen werden soll; das hat keine andere Bedeutung, als dass man ihn zwingen werde, frei zu sein.“; einschränkend McClelland, 263 „Force is not a first resort but a last resort.“ 243

118 C. Das Prinzip der Gewaltenteilung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips

lage bewirken247 – inwieweit insbesondere diese letzte Annahme zu überzeugen vermag, soll im Rahmen dieser Arbeit nicht erörtert werden. Die Freiheit, die seit dem Naturzustand für den Einzelnen verloren ist, ist damit nach Rousseau nur in einem Zustand allgemeiner Unterwerfung und – dann an sich auch bloß in Form einer Kollektivfreiheit – wieder zu erlangen. Gerade die umfassende Art der Unterordnung aller Beteiligten soll jedoch zu einer Aufhebung des einzelnen Unterwerfungsaktes durch die Aufnahme in den allgemeinen Willen führen.248 Der „allgemeine Wille“ ist dabei das Ergebnis der eingetretenen Vergesellschaftung und nicht etwa nur eine bloße Zusammenfassung der Einzelinteressen.249 Ungeachtet der selbstverständlich weiterbestehenden Privatinteressen ist damit für die durch den Vertrag geschaffene Gesellschaft nicht mehr eine Vielfalt an Meinungen, sondern die ideell vorausgesetzte Einheit und Gemeinsamkeit kennzeichnend.250 Gerade mit diesem Bedeutungsinhalt des „allgemeinen Willens“ tritt demnach schon ein erheblicher Unterschied zu den Vorstellungen von Montesquieu in Erscheinung. So sollten im Rahmen der von Montesquieu vorgezeichneten institutionellen Bedingungen die voneinander ___________ 247 Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 7. Kapitel – 2. Buch, 72 „Kurz, er muss dem Menschen die ihm eigentümlichen Kräfte nehmen, um ihn mit anderen auszustatten, die seiner Natur fremd sind und die er ohne den Beistand anderer nicht zu benutzen versteht. Je mehr diese natürlichen Kräfte erstorben und vernichtet und je größer und dauerhafter die erworbenen sind, desto sicherer und vollkommener ist auch die Verfassung.“; Freund in: 7 Der Staat 1968, 1 (9); Würtenberger, 105; Kägi in: FG Giacometti 1953, 107 (112). 248 Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 6. Kapitel – 1. Buch, 46 „Während sich endlich jeder allen übergibt, übergibt er sich damit niemandem, und da man über jeden Gesellschaftsgenossen das nämliche Recht erwirbt, das man ihm über sich gewährt, so gewinnt man für alles, was man verliert, Ersatz und mehr Kraft, das zu bewahren, was man hat.“; Hoock in: 1 Der Staat 1962, 487 (494); Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 39; Freund in: 7 Der Staat 1968, 1 (15); Schefold in: GS Imboden 1972, 333 (334); McClelland, 261. 249 Nach Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag soll der „allgemeine Wille“ fast rechnerisch zu bestimmen sein, siehe das 3. Kapitel des 2. Buchs, 59 „Oft ist ein großer Unterschied zwischen dem Willen aller und dem allgemeinen Willen; letzterer geht nur auf das allgemeine Beste aus, ersterer auf das Privatinteresse und ist nur eine Summe einzelner Willensmeinungen. Zieht man nun von diesen Willensmeinungen das Mehr und Minder, das sich gegenseitig aufhebt, ab, so bleibt als Differenzsumme der allgemeine Wille übrig.“; McClelland, 262; Maier in: Maier/Rausch/Denker (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens – Band II, 80 (97). 250 Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 1. Buch – 7. Kapitel, 47 „An die Stelle der einzelnen Person jedes Vertragabschließers setzt solcher Gesellschaftsvertrag sofort einen geistigen Gesamtkörper, (...) und der durch ebendiesen Akt seine Einheit, sein gemeinsames Ich, sein Leben und seinen Willen erhält.“; Freund in: 7 Der Staat 1968, 1 (6); siehe auch Brinkmann in: FG von Hippel 1965, 17 (33), der auf die mit einem solchen Kollektivismus verbundenen Gefahren für das Glück des Einzelnen aufmerksam macht; im Weiteren siehe für interessante Parallelen zur Staatstheorie der DDR Brunner in: Handbuch des Staatsrechts – Band I, 531 (546).

III. Weiterführende Bedeutung

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abweichenden Interessen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen immer wieder neu zum Ausgleich gebracht werden. Der „allgemeine Wille“ zeichnet sich nach Rousseau darüber hinaus durch eine ausschließliche Ausrichtung am Gemeinwohl aus. Die auf seiner Grundlage erfolgenden Beschlussfassungen sind immer als „gut“ und damit auch als allgemeinverbindlich anzusehen.251 Mit dieser immer gegebenen Richtigkeit des „allgemeinen Willens“ tritt gleichzeitig eine Entfernung von einer objektiven Werteordnung ein und aufgrund seiner absoluten Überhöhung eine Annäherung an eine transzendente Verheißungslehre.252 In diesem Sinne leitet der „allgemeine Wille“ die in der Gesellschaft verfassten Menschen und die Staatshoheit, die als seine unmittelbare Ausübung gleichfalls unveräußerlich und somit auch unteilbar ist.253 Die Annahme einer solchen Identität von der unverletzlichen und unteilbaren Souveränität des Staates mit der Staatsgewalt lässt im Weiteren eine durch unterschiedliche Träger erfolgende Aufgabenwahrnehmung an sich nicht zu. Ungeachtet dieser die Einheit absolut in den Vordergrund stellende Gesellschaftsvorstellung unterscheidet aber auch Rousseau zwischen der Wahrnehmung exekutiver und legislativer Befugnisse und weist diese verschiedenen Organen zu. Zur Begründung dieses Ansatzes weist er zunächst auf die Gefahren eines Missbrauchs hin, die mit einer Monopolisierung der Macht verbunden sind: „Da andererseits die Vergrößerung des Staates den Trägern der Staatsgewalt mehr Versuchungen und Mittel gibt, ihre Macht zu missbrauchen, so muss die Regierung größere Gewalt bekommen, das Volk in Schranken, und der Fürst seinerseits ebenfalls, um die Regierung im Zaune zu halten. Ich spreche ___________ 251

Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 3. Kapitel – 2. Buch, 59; zwar behandelt er im nachfolgenden Kapitel die Frage, ob der allgemeine Wille irren kann, dies geschieht jedoch nur, wenn politische Vereinigungen bestehen; siehe weiterführend nur McClelland, 262; Roos in: 33 Rechtstheorie 2002, 247 (251). 252 von Hippel, Geschichte der Staatsphilosophie – Band II, 96 „(...) und was Rousseau dafür anstrebt und zu finden meint als eine Art menschlicher Allverbindlichkeit, ist der Volkswille, der so an die Stelle des göttlichen Willens tritt.“; Kägi in: FG Giacometti 1953, 107 (119); Schefold in: GS Imboden 1972, 333 (352) „Wer diese Frage stellt und so von Rousseau her die moderne Demokratie beurteilen will, muss sich freilich entgegenhalten lassen, dass ihr die sozialen Voraussetzungen fehlen und dass sie an den Staat der Ungleichheit erinnert, für den Rousseau den Absolutismus und die Trennung von Staat und Menschlichkeit akzeptierte.“; Würtenberger, 107. 253 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 40; Stern, Das Staatsrecht der BRD – Band II, 528; Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 2. Kapitel – 2. Buch, 56 „Derselbe Grund, aus dem die Staatshoheit unveräußerlich ist, spricht auch für ihre Unteilbarkeit, denn der Wille ist allgemein, oder er ist es nicht; er ist der Ausfluss der Gesamtheit des Volkes oder nur eines seiner Teile.“; für eine entsprechende Umsetzung im Regierungssystem in der DDR siehe wiederum nur Brunner in: Handbuch des Staatsrechts – Band I, 531 (549).

120 C. Das Prinzip der Gewaltenteilung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips

hier nicht von einer unumschränkten Gewalt, sondern von der relativen Gewalt der verschiedenen Teile des Staates“254 (Hervorhebung d. Verf.). Die Ablehnung jeglicher Beeinflussung der öffentlichen Angelegenheiten durch die Privatinteressen Weniger und die möglichen Folgen für das Staatswesen insgesamt führt er dann in dem 4. Kapitel des 3. Buches „Die Demokratie“ näher aus. Dabei betont er nochmals die Gefahr, die von einer Vereinigung der gesetzgebenden und vollziehenden Befugnisse in einer Person ausgeht und befindet sich mit diesen Feststellungen nun wiederum in Übereinstimmung mit Montesquieu: „Es ist nicht gut, dass der, der die Gesetze gibt, sie ausführt, auch nicht, dass der Volkskörper seine Aufmerksamkeit von den allgemeinen Zwecken abwendet, um sie auf besondere Gegenstände hinzulenken. Nichts ist gefährlicher, als der Einfluss der Privatinteressen in den öffentlichen Angelegenheiten, und der Missbrauch der Gesetze von Seiten der Regierung ist ein geringeres Übel als die Verdorbenheit des Gesetzgebers, die die unausbleibliche Folge einer Berücksichtigung der Privatabsichten ist. Da der Staat dann in seinem Wesen verdorben ist, wird jede Verbesserung unmöglich. Ein Volk, das mit der Regierungsgewalt nie Missbrauch triebe, würde ebenso wenig seine Unabhängigkeit missbrauchen; ein Volk, das stets gut regierte, brauchte überhaupt nicht regiert zu werden“255 (Hervorhebung d. Verf.). Vereinbar ist eine solche gegliederte Wahrnehmung der verschiedenen Staatsfunktionen durch unterschiedliche Träger mit den übrigen Vorstellungen von Rousseau indes nur, indem er die gesetzgebende Gewalt – als Ausdruck des „allgemeinen Willens“ – allein als souverän ansieht. Die von der Gesamtheit des Volkes wahrgenommene gesetzgebende Gewalt kann im Weiteren nicht delegiert werden256 und Rousseau begründet somit eine totalitäre Form der Demokratie, in der Herrscher und Herrschaftsunterworfene identisch sein sollen.257 In diesem Zusammenhang bleibt jedoch unberücksichtigt, dass eine Gesellschaft – um artikulations- wie handlungsfähig zu sein – eines gewissen Maßes an Organisation und Herrschaft bedarf und demnach auch jede Form der Demokratie bereits ein repräsentatives Element beinhaltet. ___________ 254

Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 1. Kapitel – 3. Buch, 92. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 4. Kapitel – 3. Buch, 101. 256 Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 1. Kapitel – 3. Buch, 89 „Wie wir einsahen, gehört die gesetzgebende Gewalt dem Volke und kann nur ihm gehören“; Maier in: Maier/Rausch/Denker (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens – Band II, 80 (97); siehe auch Brunner in: Handbuch des Staatsrechts – Band I, 531 (551). 257 Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 15. Kapitel – 3. Buch, 131 „Die Vertretung ist der Ausfluß jener unbilligen und sinnlosen Regierungsform der Feudalzeit, in der die menschliche Gattung herabgewürdigt und der Name Mensch geschändet wird.“; Grams, 100; Schefold in: GS Imboden 1972, 333 (334); Loewenstein, Verfassungslehre, 38; einschränkend McClelland, 270 „What is democratic about Rouseau’s Social Contract is that massive consent is required before a state can be made legitimate.“ 255

III. Weiterführende Bedeutung

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Hinsichtlich des Umfangs der gesetzgeberischen Befugnisse bestehen bei Rousseau weiterführend kaum Einschränkungen, da jede allgemeine Anordnung – unabhängig von ihrer Bedeutung – als Ausdruck des „allgemeinen Willens“ anzusehen ist.258 Die Gesetzesausführung weist Rousseau schließlich der Regierung als einem von der Legislative weisungsabhängigen Organ zu: „Der Staatsgewalt ist folglich ein eigener Agent nötig, der sie zusammenfasst und nach der Anleitung des allgemeinen Willens in Tätigkeit setzt, der die Verbindung zwischen dem Staate und dem Oberhaupte herstellt, der in der Person des Staates gewissermaßen dasselbe verrichtet, was die Verbindung der Seele und des Körpers in dem Menschen hervorruft. Im Staate ist dies die Vernunft der Regierung, die fälschlicherweise gar oft mit dem Oberhaupte verwechselt wird, obgleich sie nur dessen Werkzeug ist“259 (Hervorhebung d. Verf.). Dieses Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive verdeutlicht Rousseau auch noch entsprechend der Beziehung von Ursache und Wirkung wie folgt: „Der politische Körper hat die gleichen bewegenden Kräfte: man unterscheidet in ihm ebenfalls Kraft und Willen, letzteren unter dem Namen der gesetzgebenden Gewalt, erstere unter dem Namen der vollziehenden Gewalt. Ohne ihr Zusammenwirken geschieht oder darf wenigstens in ihm nichts geschehen.“260 Indem die Legislative derart weitreichende Möglichkeiten der Einflußnahme auf die Exekutive hat, ist letztere in ihrer Bedeutung zu einem bloßen Vollzugsorgan der Gesetzgebung marginalisiert. Somit besteht nach Rousseau – im deutlichen Gegensatz zu Montesquieu und den in den „Federalist Papers“ gemachten Aussagen – keine Nebenordnung und gegenseitige Überwachung der beiden Gewalten untereinander. Vielmehr sind die Vertreter der Exekutive bloße Diener des Volkes und eine – mit dem Grundanliegen des Gewaltenteilungsgrundsatzes nicht zu vereinbarende – funktionelle, organisatorische und personelle Unterordnung der Exekutive unter die Legislative ist vorgesehen.261 Ohne das Ergebnis der nachfolgenden Betrachtung der Organverhältnisse vorwegzunehmen, ist für die Gemeinschaftsrechtsordnung von einer solchen Unterordnung der Exekutive im Verhältnis der Legislative zwar nicht auszugehen. Unabhängig hiervon kommt den entsprechenden Ausführungen Rousseaus ___________ 258

Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 42; McClelland, 271 „In principle at least, nothing is outside the legitimate concern of the sovereign people as legislators.“ 259 Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 1. Kapitel – 3. Buch, 90. 260 Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 1. Kapitel – 3. Buch, 89. 261 Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 3. Buch – 18. Kapitel, 137; Schneider in: 82 AöR 1957, 1 (10); Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 44; Merten in: Weinacht (Hrsg.), 31 (48), siehe im Übrigen für eine deutliche Anlehnung an diese Vorstellungen im Staatsaufbau der DDR nochmals Brunner in: Handbuch des Staatsrechts – Band I, 531 (551).

122 C. Das Prinzip der Gewaltenteilung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips

jedoch insoweit Bedeutung zu, als eine Herrschaftsstruktur, die lediglich verschiedene Organe vorsieht, den mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz verbundenen Anforderungen noch nicht entsprechen muss. Auch wenn Rousseau selbst die Gefahr eines Machtmissbrauchs durch die Wahrnehmung aller Funktionen durch einen Funktionenträger benennt, sind seine Überlegungen nicht maßgeblich an dieser Zielsetzung ausgerichtet. Zumindest wird bei seinen entsprechenden Ausführungen die Verbindung dieses Begründungsansatzes mit demjenigen der individuellen Freiheitsbewahrung nicht hinreichend deutlich. Durch seine umfassende Ablehnung von Privatinteressen, denen bereits bei der Bestimmung des „allgemeinen Willens“ keine Bedeutung zukommen soll, werden die Möglichkeiten zur individuellen Freiheitsbewahrung von vornherein beschränkt. Damit einhergehend wird – wie bereits zuvor kurz angesprochen – ein entscheidender Unterschied zu Montesquieu offenbar, der als Gefahr nicht die Entscheidungsfindung unter Beteiligung verschiedener Interessen, sondern die die Möglichkeit einer Interessendurchsetzung durch nur eine gesellschaftliche Gruppe zu Lasten der anderen bezeichnete. Die damit einhergehende Gefahr eines Machtmissbrauchs durch eine Interessengruppe soll nach Montesquieu durch instituionelle Einschränkungen solcher Möglichkeiten der einseitigen Interessendurchsetzung verhindert werden. Demgegenüber geht es Rousseau um die Durchsetzung des von vornherein als gut bezeichneten „allgemeinen Willens“. Diese Durchsetzung des „allgemeinen Willens“ stellt die allgemeine Grundlage der von ihm beschriebenen Gesellschaft dar. Vor diesem Hintergrund kann die nachfolgend von ihm vorgesehene Organstruktur als überwiegend an der Zielsetzung einer ordnungsgemäßen Aufgabenwahrnehmung ausgerichtet bezeichnet werden. Die möglichen Auswirkungen einer solchen einseitigen Betonung eines der Begründungsansätze des Gewaltenteilungsgrundsatzes für den einzelnen Herrschaftsunterworfenen machen mithin nochmals die Notwendigkeit deutlich, alle mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz verbundenen Zielsetzungen hinreichend zu berücksichtigen.

3. Einfluss der Lehre von den Funktionen Abschließend soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit auf den Einfluss der Lehre von den Funktionen eingegangen werden. Der Gewaltenteilungsgrundsatz hat in seiner ideengeschichtlichen Entwicklung weiterführend eine erhebliche Abstraktion erfahren. Anstelle früherer Überlegungen zum Gewaltenteilungsgrundsatz, für die die von Montesquieu getroffenen Aussagen sowie die in den Federalist Papers gemachten Ausführungen als stellvertretend angesehen werden können und denen vorab als möglich erkannte Auswirkungen einer bestimmten Gewaltenverteilung auf ein einzelnes Herrschaftssystem sowie das Verhältnis der in ihm verfassten gesellschaftlichen Gruppen zugrunde lagen,

III. Weiterführende Bedeutung

123

traten mithin zunehmend Bemühungen um eine deutliche Verallgemeinerung der gewonnenen Aussagen. Grundsätzlich sind solche Bemühungen um eine Verallgemeinerung der mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz verbundenen Aussagen ausgehend von zwei verschiedenen Ansätzen möglich. Zum einen kann die Ordnung eines Herrschaftssystems und damit auch der Gewaltenteilungsgrundsatz als Mittel zu einer möglichst umfassenden Verwirklichung einer bestimmten politischen Zielsetzung angesehen werden. In negativer Weise tritt ein solcher Ansatz bereits bei Rousseau deutlich in Erscheinung, dessen Ablehnung des Gewaltenteilungsgrundsatzes sich gerade aus seinem Demokratie- und Gesellschaftsverständnis begründet. Zum anderen kann unter Zugrundelegung der bereits bestimmten Begründungsansätze für die allgemeine Notwendigkeit eines gewaltenteilig organisierten Herrschaftssystems auch eine Dogmatisierung der bisherigen Aussagen derart erfolgen, dass eine strenge Trennung der verschiedenen Gewalten und ihrer jeweiligen Aufgabenbereiche zur Hauptforderung des Gewaltenteilungsgrundsatzes formuliert wird. Der zuvor an sich den Regelfall bildende und durch tatsächliche Gegebenheiten begründete Umstand einer gemeinsamen Aufgabenwahrnehmung durch verschiedene Gewalten und damit des Bestehens weitreichender Gewaltenverbindungen wird somit als eine Abweichung vom Regelfall angesehen und zu einer in besonderer Weise jeweils zu rechtfertigenden Ausgestaltung des organisierten Herrschaftssystems. Auch wenn der institutionelle Rahmen der Europäischen Gemeinschaftsrechtsordnung sowie der einzelnen Staaten einem solchen dogmatisch-strengen Verständnis der Gewaltentrennung nicht entspricht und auch nicht entsprechen kann262, ist dieser letztgenannte Ansatz doch aus methodischen Gründen von besonderem Interesse. Als kennzeichnend für ihn ist zunächst überhaupt die Hinwendung zum Begriff der „Funktionen“ anzusehen.263 Zwar benennt auch schon Montesquieu die drei Grundfunktionen staatlichen Handelns, die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung. Doch bestimmt er den Inhalt der drei Grundfunktionen nicht umfassend und grenzt sie demnach ___________ 262

Allgemein überhaupt zur Übertragbarkeit des Gewaltenteilungsgrundsatzes Ossenbühl in: DÖV 1980, 545 (546); Stern, Das Staatsrecht der BRD – Band II, 521 „(...) die Gewaltenteilung gibt es nicht (…).“ 263 Achterberg, 110; Loewenstein, Verfassungslehre, 33; Bernhardt, 98; Horn in: 49 JöR 2001, 287 (290); Vezanis in: ÖzöR 1964, 282 (285) „Es wird heute allgemein anerkannt, dass es richtiger ist, nicht von Gewaltenteilung, sondern von Funktionentrennung zu sprechen. Die Gewalt oder Macht ist eine; die staatliche, aus der jede andere Gewalt fließt. Es gibt also nur Funktionen, die bestimmten Organen oder Organgruppen anvertraut sind.“; Tsatsos, 54ff.; Kelsen, Die Lehre von den drei Gewalten oder Funktionen des Staates, 1625 (1627).

124 C. Das Prinzip der Gewaltenteilung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips

auch nicht vollständig voneinander ab.264 So ist insbesondere sein Gesetzesbegriff, den er gleich am Anfang im 1. Kapitel des 1. Buches seines Werkes „Vom Geist der Gesetze“ einführt, derart weit gefasst, dass auf dieser Grundlage schon eine genauere Bestimmung der Befugnisse der Gesetzgebung nicht gelingen kann.265 Gerade diese Behandlung des Gesetzesbegriffs macht deutlich, dass Montesquieu demnach die zugrunde liegende Schwierigkeit einer genauen inhaltlichen Bestimmung der einzelnen Funktionen umgangen hat, indem er von ihr als Postulat ausgehend sich nur mit der weiteren Zuweisung der Funktionen unter Bezugnahme auf die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und ihre unterschiedlichen Interessenausrichtungen beschäftigt hat.266 So ist seine daran anschließende Zuweisung der Aufgaben an die einzelnen Funktionsträger hauptsächlich nicht durch den jeweiligen Gegenstand bestimmt, sondern soll vor allem der Vermeidung von Machtmissbrauch und dem Ausgleich entgegengesetzter Interessen dienen und mithin die Herstellung eines gesellschaftlichen Gleichgewichts im Interesse des Einzelnen fördern. Aufgrund der dabei offensichtlich werdenden sehr engen Bezugnahme auf die gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten seiner Zeit ist diese von ihm konkret vorgenommene Zuweisung somit von vornherein wohl kaum je auf ein anderes Regierungssystem übertragbar gewesen.267 ___________ 264 Drath in: Rausch (Hrsg.), 21 (24); Horn in: 49 JöR 2001, 287 (291); Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 37 „Der Grund für die Bedeutung und die geschichtliche Wirkung Montesquieus als politischer Theoretiker liegt nicht in seinem Beitrag zur Staatsfunktionenlehre, sondern in dem von ihm entwickelten System der Gewaltentrennung und -balancierung.“; Steffani in: Rausch (Hrsg.), 313 (323) „Montesquieu selbst entwickelt keine Funktionenlehre, er ist in dieser Frage höchst unklar, lässig und widersprüchlich.“ 265 Gesetze sind nach Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 1. Buch – 1. Kapitel, 97 „die notwendigen Bezüge, wie sie sich aus der Natur der Dinge ergeben.“; Vollrath in: FS Sternberger 1977, 392 (402); von Hippel, Geschichte der Staatsphilosophie – Band II, 79; Sobota, 280. 266 Drath in: FS Smend 1952, 41 (51); Achterberg, 177 „Mit Recht bemerkt Max Imboden, die bestechende Einfachheit der Lehre Montesquieus sei dadurch erreicht und damit erkauft worden, dass alle Schwierigkeiten der begrifflichen Differenzierung auf die unausgesprochenen Prämissen der aufgestellten Postulate – nämlich eine bestimmt geartete Funktionenlehre, die Gegenüberstellung inhaltlich gekennzeichneter staatlicher Grundfunktionen – verlagert worden seien.“ 267 Drath in: Rausch (Hrsg.), 21 (22) „Solche Kampfprogramme werden immer gegen bestimmte bestehende Verhältnisse aufgestellt. (...) Wenn sie sich durchsetzen, verschiebt sich die Bedeutung des Programminhalts für die veränderten Verhältnisse. Es lässt sich auf andere Situationen nicht ohne weiteres anwenden, sondern enthält bestenfalls ein schöpferisches Prinzip, das sich nur bewähren kann, wenn es neu konkretisiert (...) wird.“; Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes, 176; Schambeck in: FS Geiger 1974, 643 (660); Bernhardt, 97; Ossenbühl in: DÖV 1980, 545 (546); Loewenstein in: Rausch (Hrsg.), 210 (211) „Die Lehre (...) erfüllte mehr als politische Ideologie denn als Maßstab einer modernen politischen

III. Weiterführende Bedeutung

125

a) Nähere Bestimmung der Funktionen Inwieweit die einzelnen Funktionen überhaupt näher bestimmbar sind, muss jedoch fraglich erscheinen. So bezieht sich der Begriff der Funktionen nicht mehr nur auf die tatsächlichen Handlungsformen eines Staates. Vielmehr hat er durch die Soziologie auch einen darüber hinausgehenden Bedeutungsinhalt im Sinne von sozialen Funktionen – wie die der Stabilisierung einer Herrschaftsordnung oder auch der Bewahrung der Rechte des Einzelnen – erfahren und findet auch in der vorliegenden Arbeit teils eine entsprechende Verwendung. Ohne zu dieser sprachlichen Entwicklung näher Stellung nehmen zu wollen, wird doch offensichtlich, dass eine nähere Bestimmung dieses Begriffs in rechtlicher Hinsicht durch diese Erweiterung zusätzlich erschwert worden ist. Unabhängig hiervon lässt sich der Begriff der Funktion zunächst materiell – nach dem inhaltlichen Aufgabenbereich – oder formell – nach dem mit ihrer Wahrnehmung betrauten Organen – bestimmen.268 Erste Schwierigkeiten ergeben sich jedoch bereits dadurch, dass eine funktionsbezogene materielle Unterscheidung staatlichen Handelns zumeist nur in Form einer Zweiteilung in Rechtssetzung und Rechtsanwendung zu überzeugen vermag. Demgegenüber ist eine darüber hinausgehende Abgrenzung zwischen der Rechtsprechung und der Verwaltung deutlich schwieriger, da doch in beiden Bereichen allgemeine Bestimmungen auf einen konkreten Einzelsachverhalt Anwendung finden sollen.269 Darüber hinaus bereitet die Einordnung bestimmter Staatstätigkeiten wie die der Planung, Regierung und Verteidigung seit jeher Schwierigkeiten.270 Auch um nicht wieder zu einer rein deskriptiven Beschreibung der Staatstätigkeiten zurückkehren zu müssen, die indes all diese Sonderfälle zumindest zu erfassen vermag, ist die Dreiteilung der staatlichen Funktionen weiterhin überwiegend anerkannt geblieben. So können vor allem aufgrund der weiten Fassung der einzelnen Aufgabenbereiche auch untypische Tätigkeiten ihnen zuge___________ Organisation ihren Zweck in der Periode des Übergangs von der absoluten Monarchie zum vollentwickelten Verfassungsstaat.“ 268 Siehe nur die Ausführungen zum dualistischen Gesetzesbegriff der konstitutionellen Zeit bei Zimmer, 38f. sowie allgemein zum Dualismus „formell-materiell“, 45. „Es hat sich gezeigt, dass jeder Versuch, die gegenwärtige Funktionenordnung aus der Perspektive des Dualismus „formell-materiell“ zu erklären, (…) Maßstäbe an die Ordnung des Grundgesetzes heranträgt, die nicht aus ihr entwickelt wurden und ihr unangemessen sind. Die demokratische Verfassung kennt nur verfassungsgemäße oder verfassungswidrige Befugnisse.“ 269 Jahrreiß in FS Nawiasky 1956, 119 (129); Vezanis in: ÖzöR 1964, 282 (287); Stern, Das Staatsrecht der BRD – Band II, 524; Kelsen, Die Lehre von den drei Gewalten oder Funktionen des Staates, 1625 (1638); Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsgrundsatzes, 161 m. w. N.; Zimmer, 62ff. 270 Siehe hierfür nur ausführlich Scheuner in: FS Smend 1952, 253 (278).

126 C. Das Prinzip der Gewaltenteilung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips

ordnet werden.271 Das Ziel einer tatsächlichen inhaltlichen Annäherung an einen materiellen Funktionenbegriff ist dadurch jedoch nicht erreicht worden. Aber auch eine auf formeller Grundlage erfolgende Beschreibung der Funktionen hat sich als nur eingeschränkt aussagekräftig erwiesen.272 So wird in diesem Zusammenhang von Zimmer darauf verwiesen, dass die Unterscheidung zwischen „materiellen“ und „formellen“ Gesetz überhaupt nur aus der Entwicklung zur konstitutionellen Staatsform und der damit notwendigen Abgrenzung von Befugnissen der Exekutive zur Legislative zu verstehen ist und ihre Übertragbarkeit auf ein demokratisch verfasstes Herrschaftssystem als nicht sachgerecht zu beurteilen ist, da in einer solchen Ordnung sich die Gesetzmäßigkeit staatlichen Handelns allein auf Grundlage der bestehenden Verfassung bestimmt.273 Damit einhergehend wird von Zimmer die grundsätzliche Frage gestellt, inwieweit tatsächlich ein Rechtfertigungsbedarf für bereits in der Verfassung vorgesehene Gewaltenverschränkungen besteht und welche Aussagefähigkeit solchen Überlegungen überhaupt zugewiesen werden kann, wenn doch die Vorstellungen bezüglich des tatsächlichen Inhalts und der Bedeutung des Gewaltenteilungsgrundsatzes und mithin der an sich vorgesehenen Ordnungsstruktur unklar bleiben. Für diese für eine einzelstaatliche Funktionenzuweisung entwickelte Sichtweise spricht zunächst, dass sie einer Relativierung der bestehenden verfassungsrechtlichen Aufgabenzuweisungen unter Bezugnahme auf ein wie auch immer geartetes und den gesetzlichen Bestimmungen vorgelagertes Verständnis des Gewaltenteilungsgrudsatzes wirksam entgegenwirkt. Die Übertragbarkeit ___________ 271

Schmidt-Aßmann in: Handbuch des Staatsrechts – Band II, 541 (568); Stern, Das Staatsrecht der BRD – Band II, 523; Vile, 237 „It is a remarkable fact that after the great weight of criticism that had been poured upon the categories of the functions of government they still remained, (...), the basis of the discussion about the structure of government. The simple fact, of course, is that if one abandons the Montesquieu functions altogether, closely related as they are to the concept of the supremacy of law, one is left without any criteria for the orderly conduct of government business.“; siehe aber auch für eine „neue Dreiteilung“ Loewenstein, Verfassungslehre, 40 sowie Kelsen, Die Lehre von den drei Gewalten oder Funktionen des Staates, 1625 (1643). 272 Siehe zur Ablösung des materiellen durch den formellen Gesetzesbegriff nur Huber in: FG Giacometti 1953, 59 (74); Vollrath in: FS Sternberger 1977, 392 (402). 273 Zimmer, 56 „Die Bestimmung dessen, was einerseits (nur) Gerichte und Richter, Legislative (Volksvertretung) oder Exekutive tun müssen, und andererseits dessen, was sie alle darüber hinaus ohne Beeinträchtigung der nach demokratischer Verantwortlichkeit, Kompetenz, Legitimation und Sanktion strukturierten Funktionsbereiche der anderen Funktionsträger verfassungsrechtlich noch alles tun dürfen, muß scharf getrennt werden. Das Gegensatzpaar ‚formell-materiell‘ sollte also ersetzt werden durch die an das positive Verfassungsrecht zu richtende Frage: verfassungsmäßig oder verfassungswidrig?“

III. Weiterführende Bedeutung

127

eines solchen Ansatzes auf eine Beurteilung der in der Gemeinschaftsrechtsordnung bestehenden institutionellen Rahmenbedingungen muss jedoch unter Berücksichtigung der bestehenden Unterschiede zwischen staatlichen Verfassungssystemen und der Gemeinschaftsrechtsordnung fraglich erscheinen. So besteht in der Gemeinschaftsrechtsordnung, in deren Gesetzgebungsverfahren jeweils ein Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen stattfindet, ein Machtdualismus dahingehend, dass die Gemeinschaft nur unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzip sowie der ihr übertragenen Zuständigkeiten überhaupt tätig werden darf. Durch die ihr gerade nicht selbst zukommende umfassende Regelungskompetenz stehen damit mitgliedstaatliche Interessen an der Bewahrung der ihnen zumindest auch noch zustehenden Befugnisse einer Verlagerung dieser Zuständigkeiten auf die Gemeinschaftsebene entgegen. Dieser im Hinblick auf die weiteren Entwicklungen des Integrationsprozesses strukturell bedingte Machtdualismus äußert sich auch bei jedem Tätigwerden der Gemeinschaft in den verschiedenen Beteiligungsmöglichkeiten der Organe in unterschiedlichen Politikbereichen deutlich. Eine mit dem Übergang zu einer demokratisch organisierten Staatsform allgemein einhergehende Entwicklung zu einer monistischen Machtstruktur ist damit für den europäischen Zusammenhang gerade nicht in vergleichbarer Weise festzustellen. So ist diesbezüglich vielmehr die ausgeprägte Aufgabenzuweisung an Organe, deren Vertreter der Exekutive entweder im einzelstaatlichen oder im gemeinschaftsrechtlichen Bereich angehören, kennzeichnend. Aufgrund der damit angelegten Entwicklung zu einem Organverhältnis, das sich durch die Vorrangstellung einer Gewalt auszeichnet, besteht demnach die Notwendigkeit, auch die mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz verbundenen Grundzielsetzungen weiterhin in Bezug zu nehmen. Darüber hinaus ist die Möglichkeit einer Übertragbarkeit der für den einzelstaatlichen Bereich entwickelten Vorstellungen zur Funktionenlehre auf die Gemeinschaftsrechtsordnung bereits dadurch als eingeschränkt anzusehen, dass im Gegensatz zu einzelstaatlichen Ordnungen für die Gemeinschaftsrechtsordnung die auf verstärkte Integration angelegte und dauerhafte Fortentwicklung dieser Rechtsordnung ausdrücklich als programmatisches Ziel vorgesehen ist. Ungeachtet der offenbar gewordenen Schwierigkeiten jeder genaueren Funktionenbestimmung kann mithin für eine Betrachtung der Gemeinschaftsrechtsordnung die Unterscheidung zwischen den drei abstrakten Funktionen eines jeden Herrschaftssystems und den tatsächlich durch die jeweiligen Organe wahrgenommenen Aufgaben dahingehend als sinnvoll angesehen werden, dass sofern keine Deckungsgleichheit zwischen beiden möglichen Betrachtungsweisen gegeben ist, die gegebenen Abweichungen jeweils zu rechtfertigen sind. Festzustellen bleibt schließlich, dass die Diskussion um eine neue Lehre von den Funktionen immer noch nicht als beendet angesehen werden kann und eine um-

128 C. Das Prinzip der Gewaltenteilung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips

fassende Klärung der inhaltlichen Begrifflichkeiten der einzelnen Funktionen noch aussteht, sofern diese überhaupt möglich sein sollte.274

b) Zuweisung der Funktionen Ist eine nähere Bestimmung der Funktionen demnach nur unter Einschränkungen möglich, muss dies gleichzeitig erhebliche Auswirkungen auf eine daran anschließende Zuweisung an die verschiedenen Funktionenträger haben. Ungeachtet der gegebenen Unsicherheiten über ihre jeweilige inhaltliche Bedeutung ist die im Einzelfall gegebene Begründung – für die Zuweisung einer bestimmten Funktion an ein unabhängiges Organ275 – indes von grundlegendem methodischem Interesse. So legt unter anderem auch das Bundesverfassungsgericht zunächst immer eine strikte Gewaltentrennung seinen Überlegungen zugrunde und leistet jeweils eine intensivere Begründungarbeit im Hinblick auf die Zulässigkeit von Verschränkungen dieser an sich unabhängig gedachten Funktionen. Erst unter Hinzuziehung der mit der Gewaltenteilung verfolgten Ziele – vor allem der individuellen Freiheitssicherung durch die gegenseitige Hemmung der staatlichen Organe – können diese im Weiteren gegebenenfalls gerechtfertigt werden. Demnach haben die Zuweisung einzelner Funktionen und die Festlegung unterschiedlicher Verantwortungsbereiche normativ und nicht vorwiegend unter Berücksichtigung soziologischer Gegebenheiten zu erfolgen. Dass die von Montesquieu zum maßgeblichen Ausgangspunkt seiner ___________ 274

Zimmer, 29; Ossenbühl in: DÖV 1980, 545 (548); Achterberg, 213 „Die weitere Funktionendiskussion der Staatsrechtswissenschaft steht mithin noch vor einer Fülle ungelöster Probleme. Sie lassen als zweifelhaft erscheinen, ob es überhaupt jemals gelingen wird, die Funktionenbegriffe so zu bestimmen, dass die Funktionen ihren Organen überschneidungslos zugeordnet werden können.“ 275 Loewenstein, Verfassungslehre, 32; Stern, Das Staatsrecht der BRD – Band II, 522; Schneider in: 82 AöR 1957, 1 (19) „Die große Bedeutung des Funktionellen (...) ist aber über Montesquieu hinaus eine Tatsache, die gerade heute, in einer Situation, in der von vornherein unmöglich erscheint, fest umrissene Körperschaften als Funktionsträger zu fixieren, respektiert werden muss.“; siehe aber auch Leisner in: DÖV 1969, 405 (410) „Bisher wurden die Gewalten nach der rechtlichen Qualität der von ihnen erlassenen Akte unterschieden (Normsetzung – Ausführung – Streitentscheidung). Das parlamentarische Regime des Grundgesetzes verlangt, dass die ineinandergreifende Gewaltenteilung zuallererst als eine quantitative begriffen werde: Verschieden strukturierte Gewalten entscheiden, gemeinsam oder getrennt – dasselbe. Jede von ihnen hat so eine quantitativ bestimmbare Fraktion der Staatsgewalt inne, ein Machtquantum, das aber nur zusammen mit anderen Quanten die rechtserhebliche Dezision bringt. Die eine Gewalt des Staates ist in der Gewaltenteilung wahrhaft – in gleiche, gleichartige Teile geteilt. Der Körper des Staates wird nicht, wie in Rousseaus Bild von den japanischen Scharlatanen, zerstückelt in die Lüfte geworfen, aus denen er in wunderbarer Einheit zurückkehrt: Beide Gewalten lancieren vereint den Staat, beide fangen ihn auf.“

III. Weiterführende Bedeutung

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Vorstellungen zur Gewaltenteilung gewählten Umstände somit nur noch zur unterstützenden argumentativen Begründung von Abweichungen von einem dogmatischen Verständnis herangezogen werden, stellt eine bedeutende Fortentwicklung dar. Als idealtypische Verwirklichung einer normativen Gewaltenteilung ist demnach die voneinander getrennte Zuweisung der verschiedenen Bereiche staatlichen Handelns an die drei unabhängigen Gewaltenträger zur jeweils eigenständigen Wahrnehmung anzusehen.276 Eine solche strenge Gewaltentrennung – als Inhalt des Dogmas – äußert sich im Weiteren auch in Inkompatibilitätsregelungen. Danach soll eine Staatsfunktion nicht durch einen Funktionenträger ausgeübt werden, der bereits auch schon eine andere Staatsfunktion wahrnimmt.

c) Notwendigkeit und Art der Verschränkungen Da durch eine solche Ausgestaltung der Gewaltenteilung – mangels einer Entsprechung durch gegeneinander stehende gesellschaftliche Interessen und auch der allgemein auftretenden Schwierigkeiten bei der Bestimmung und Zuweisung der Funktionen – jedoch nicht notwendig eine Mäßigung der Macht sowie überhaupt ihre sinnvolle Wahrnehmung gewährleistet werden kann, hat das Dogma einer strengen Gewaltentrennung keine Verwirklichung finden können. Auch das Bundesverfassungsgericht betont als Ziel der durch gegenseitige Überwachung der Organe eintretenden Machtmäßigung die Freiheit des Einzelnen, so dass auch nicht eine absolute Trennung, sondern die gegenseitige Kontrolle, Hemmung und Mäßigung der Gewalten aus dem Grundgesetz abzuleiten ist.277 Um eine gegenseitige Beschränkung der Machtausübung überhaupt gewährleisten zu können, muss demnach bis zu einem gewissen Maß die gemeinsame Wahrnehmung von Einzelfunktionen ermöglicht werden.278 Gerade ___________ 276 Stern, Das Staatsrecht der BRD – Band II, 518 „(...) jedes Organ soll mit der Wahrnehmung einer Funktion, und nur mit dieser betraut werden.“; Loewenstein, Verfassungslehre, 32. 277 BVerfGE 9, 267 (279); 34, 52 (59); Ermacora, Allgemeine Staatslehre – Zweiter Teilband, 613; Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsgrundsatzes, 172; Zimmer, 188, Bernhardt, 98; Stern, Das Staatsrecht der BRD – Band II, 532; di Fabio in: Handbuch des Staatsrechts – Band II, 613 (632); Leisner in: DÖV 1969, 405 (406) „Die Dogmatik der Trennung von Legislative und Exekutive ist heute weithin lediglich – die Lehre von deren Durchbrechungen.“ 278 Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsgrundsatzes, 164; Horn in: 49 JöR 2001, 287 (291); Schambeck in: FS Geiger 1974, 643 (661); Küster in: Rausch (Hrsg.), Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, 1 (18) „Die einzelne Gewalt wird nicht als Ganzes einem Träger zugewiesen, sondern sie wird in sich aufgespalten und auf mehrere Organgruppen verteilt. Und dieselben Organgruppen partizipieren dann auch wieder an den anderen Gewalten.“

130 C. Das Prinzip der Gewaltenteilung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips

die verschiedenen Mitwirkungsrechte, Pflichten zur gemeinsamen Beratung und Vorbereitung, und Überwachungsbefugnisse lassen ein gewaltenhemmendes System gegenseitiger „checks and balances“ entstehen und fördern darüber hinaus die Sachgerechtigkeit der einzelnen Entscheidungen und damit die Integrationsfähigkeit des gesamten Systems.279 Schließlich entspricht ein solches System der gegenseitigen Hemmung und Einflussnahme gerade auch einem parlamentarischen System, in dem die Regierung gegenüber dem Parlament verantwortlich ist. Zur abschließenden Sicherung der Funktionsfähigkeit dieser auch gemeinsam wahrgenommenen Herrschaftsausübung ist eine unabhängige Rechtsprechung damit aber von besonderer Bedeutung.

d) Grenzen möglicher Verschränkungen Die Aufgliederung der einzelnen Prozesse der Entscheidungsfindung darf jedoch auch nicht soweit gehen, dass die Funktionsfähigkeit des gesamten Systems in Mitleidenschaft gezogen wird oder die Selbständigkeit der einzelnen Gewalten nicht mehr gewahrt ist. Dies führt zu der Notwendigkeit einer Grenzbestimmung dahingehend, wann ein Funktionenträger in den Aufgabenbereich eines anderen unzulässigerweise einwirkt. So ist eine Unterordnung einer Gewalt unter eine andere mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz nicht vereinbar und jeder Gewalt muss ein Kernbereich der jeweiligen Funktion zur selbstständigen Wahrnehmung verbleiben und in diesem Bereich auch vor Übergriffen geschützt werden.280 Dabei hat der zugewiesene Kernbereich der inneren Organisationsstruktur der einzelnen Gewalt zu entsprechen und muss auch in etwa eine mit den anderen Funktionen vergleichbare Bedeutung aufweisen. Dieser an sich unbestimmte Kernbereichsgedanke ist bei jeder Auslegung einer Rechtsgrundlage zu berücksichtigen und auch im Hinblick auf den Umfang von Beteiligungsrechten verschiedener Organe näher zu konkretisieren. So sind Mischorgane mit Entscheidungsbefugnissen in verschiedenen Kernbereichen als nicht mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz vereinbar anzusehen. Schwierigkeiten sehr grundsätzlicher Art ergeben sich in diesem Zusammen___________ 279

Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 119 (205); Schmidt-Aßmann in: Handbuch des Staatsrechts – Band II, 541, (570); Hahn in: Rausch (Hrsg.), 438 (453); Stern, Das Staatsrecht der BRD – Band II, 539; Scheuer in: FS Smend 1952, 253 (290). 280 Ossenbühl in: DÖV 1980, 545 (548); Stern, Das Staatsrecht der BRD – Band I, 795; Horn in: 49 JöR 2001, 287 (292); Hahn in: Rausch (Hrsg.), 438 (462); Rüther, 54; Merten in: Weinacht (Hrsg.), 31 (49); Schmidt-Aßmann in: Handbuch des Staatsrechts – Band II, 541 (571); Schneider in: 82 AöR 1957, 1 (19); BVerfGE 9, 268 (280); 30, 1 (28); 34, 52 (59); 49, 89 (124); 68, 1 (87); 95, 1 (15); Leisner in: DÖV 1969, 405 (406) „Letzter Sinn der Gewaltenteilung ist hier die Erhaltung des Identitätszentrums jeder Gewalt, nicht eine gewisse Balancebeziehung zwischen beiden.“

IV. Schlussbetrachtung

131

hang jedoch dadurch, dass ohne umfassende Kenntnisse im Hinblick auf den Inhalt der Funktionen an sich die Bestimmung des Kernbereichs – vergleichbar mit dem Begriff des Wesensgehalts im Grundrechtsbereich – als einem weiteren Unterbegriff kaum möglich erscheint. Auch wenn der Vorstellung eines derart geschützten Kompetenzbereichs an sich nur zuzustimmen ist und auch der Europäische Gerichtshof seiner Rechtsprechung zum „institutionellen Gleichgewicht“ vergleichbare Erwägungen zugrundelegt, muss die begriffliche Weite und Unbestimmtheit und der damit gleichzeitig eröffnete weite Entscheidungsspielraum demnach als bedenklich angesehen werden.281

IV. Schlussbetrachtung Dass dem Gewaltenteilungsgrundsatz in der Vergangenheit große Bedeutung zugekommen ist, kann ohne Schwierigkeiten festgestellt werden. So ist auch schon im Rahmen der vorliegenden Arbeit zum einen bereits auf den immer noch fortwirkenden Vorbildcharakter der Amerikanischen Verfassung auf weitere Verfassungsbemühungen eingegangen worden. Zum anderen sollte im europäischen Zusammenhang vor allem aber auf die Polnische Maiverfassung „Konstytucia“ vom 3. Mai 1791 verwiesen werden, in der die Errichtung einer konstitutionellen Monarchie vorgesehen war.282 Weiterhin bekannte sich diese erste geschriebene europäische Verfassung ausdrücklich zum Prinzip der Gewaltenteilung und der Volkssouveränität283 und ist deshalb zum Anlass für die Zweite Polnische Teilung von 1793 – durch die Intervention Russlands, Preußens und Österreichs – genommen worden. Dementsprechend besteht gerade auch in den seit dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime nunmehr wieder zu einem gesamteuropäischen Staatenverbund gehörenden Staaten Mittel- und Osteuropas eine lange Tradition der Rezeption der Gedanken Montesquieus. Dies zeigte sich wiederum besonders deutlich an dem ursprünglich in Polen verfolgten Ziel, eine neue Verfassung bis zum 200. Jahrestag der Maiver___________ 281

Achterberg, 201; Zimmer, 30; Stern, Das Staatsrecht der BRD – Band II, 542; Leisner in: DÖV1969, 405 (407). 282 Art. VII – The King, the Executive Authority: „The executive authority is strictly bound to observe the laws and to carry them out.“ 283 Art. V – The Government, or Designation of Public Authority: „All authority in human society takes its origin in the will of the people. Therefore, that the integrity of the states, civil liberty, and social order remain forever in equal balance, the government of the Polish nation ought to, and by the will of the present law forever shall, comprise three authorities, to wit, a legislative authority in the assembled estates, a supreme executive authority in a king and guardianship, and a judicail authority in jurisdictions to that end instituted or to be instituted.“

132 C. Das Prinzip der Gewaltenteilung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips

fassung fertig zu stellen. Aufgrund von Verzögerungen konnte diesem Anliegen jedoch schlussendlich nicht entsprochen werden.284 Fraglich bleibt im gemeinschaftsrechtlichen Zusammenhang jedoch die darüber hinausgehende bleibende Bedeutung der von Montesquieu gemachten Aussagen über den Gewaltenteilungsgrundsatz. So sind teilweise doch erhebliche Zweifel dahingehend geäußert worden, welchen Wert dem Grundsatz der Gewaltenteilung überhaupt noch zugemessen werden kann. Insbesondere wird dabei auf die einerseits immer wieder betonte überragende Bedeutung des Gewaltenteilungsgrundsatzes, andererseits aber die nur in geringem Maße überhaupt stattgefundene Verwirklichung desselben Prinzips in den verschiedenen Regierungssystemen hingewiesen. Im Hinblick auf den Grundsatz der Gewaltenteilung ist damit ein besonders auffälliges Missverhältnis zwischen faktischem Umsetzungsbefund und erhobenen Anspruch festzustellen.285 Entsprechend geht auch das Bundesverfassungsgericht vom Gewaltenteilungsgrundsatz zwar als einem tragenden Organisationsprinzip des Grundgesetzes aus, weist aber gleichzeitig darauf hin, dass dieses nirgends – auch nicht in den sich zur Beachtung dieses Prinzips verpflichteten Regierungssystemen – rein verwirklicht ist.286 Dass demnach für den Begriff der Gewaltenteilungsgrundsatz insgesamt eine gewisse Inhaltslosigkeit kennzeichnend ist und es sich somit um eine Leerformel handelt, liegt als weiterführende Schlussfolgerung nahe.287 Dabei erinnern derartige Beurteilungen des Gewaltenteilungsprinzips deutlich an Äußerungen in Bezug auf ein möglicherweise im Gemeinschaftsrecht angelegtes „institutionelles Gleichgewicht“. Bei jeder näheren Auseinandersetzung mit diesen teils sehr kritischen Ansätzen zum Gewaltenteilungsgrundsatz ist jedoch zunächst eine Unterscheidung zwischen den gegen ein dogmatisches Verständnis der Gewaltenteilung und ___________ 284

Siehe weiterführend nur Ziemer/Matthes in: Ismayr (Hrsg.), 189 (192). Leisner in: DÖV 1969, 405 (405); Kunig, 233; Vile, 318; Loewenstein in: Rausch (Hrsg.), 210 (220) „Wir kommen somit zu dem Ergebnis, dass – mit Ausnahme der Vereinigten Staaten – der Lehre von dem Gleichgewicht zwischen der Legislative und der Exekutive durch Trennung nirgendwo ein bleibender Erfolg beschert war. Das dogmatische Postulat hatte sich zu einem Mythos entwickelt, der als solcher die Verfassungslehre in besonders nachhaltiger Weise beeinflusst hat.“ 286 BVerfGE 3, 225 (247); Stern, Das Staatsrecht der BRD – Band II, 528; SchmidtAßmann in: Handbuch des Staatsrechts – Band II, 541 (566); bereits jede Bedeutung des Gewaltenteilungsgrundsatzes verneint Peters in: Rausch (Hrsg.), 78 (99) „(...) kein absolut grundlegendes verfassungsrechtliches Gebot ist und dass daher aus seiner Verletzung nicht die Nichtigkeit einer Vorschrift der Rechtsordnung gefolgert werden kann.“ 287 Vezanis in: ÖzöR 1964, 282 (288); Loewenstein, Verfassungslehre, 32 „Selbst die jüngste Ernte der Verfassungen nach dem Zweiten Weltkrieg hält unentwegt an der Gewaltentrennung fest, wobei völlig übersehen wird, dass die Doktrin in der Praxis im 20. Jahrhundert überholt und lebensfremd geworden ist.“; Leisner in: DÖV 1969, 405 (408). 285

IV. Schlussbetrachtung

133

den unmittelbar gegen die Vorstellungen Montesquieus vorgebrachten Einwänden geboten.288 So ist eine Dogmatisierung immer durch das Bemühen zur Formulierung allgemeingültiger Gesetzmäßigkeiten gekennzeichnet, um daraufhin deren allgemeine Übertragbarkeit und Anwendbarkeit überhaupt zu ermöglichen. Hierfür müssen die ursprünglichen Feststellungen vereinfacht, formalisiert und abstrahiert werden. Der Aussagegehalt und die weitere Brauchbarkeit von derart gewonnenen Aussagen sind jedoch zwangsläufig als eingeschränkt zu beurteilen.289 Auch eine sich auf ein dogmatisches Verständnis der Gewaltenteilung beziehende Kritik – gerade im Hinblick auf dessen Inhaltslosigkeit – sollte demnach wohl eher an dieser zugrunde liegenden Methodik ansetzen. So erscheint es offensichtlich, dass die sich immer wieder neu stellende Frage nach der konkreten Ausgestaltung eines Staatswesens nicht unter direkter Bezugnahme auf die bereits erfolgten Dogmatisierungen des Gewaltenteilungsgrundsatzes zu beantworten ist. Die Frage nach einer dem Gewaltenteilungsgrundsatz entsprechenden Ausgestaltung eines Herrschaftssystems oder aber nach dem bei einer solchen Beurteilung heranzuziehenden Maßstab kann auch nicht unter direkter Übertragung der Vorstellungen Montesquieus beantwortet werden. Die seinen Überlegungen zugrunde liegenden Zielsetzungen können jedoch als ein solcher Beurteilungsmaßstab herangezogen werden. Trotz ihrer gewissen Unbestimmtheit sowie der damit im Weiteren erforderlichen – und von den jeweiligen Begriffsverständnissen abhängigen – wertenden Betrachtung bietet sich eine solche Vorgehensweise insbesondere für eine Beurteilung der Gemeinschaftsrechtsordnung an. Aufgrund der strukturbedingten Besonderheiten dieser Rechtsordnung sowie ihrer Ausrichtung auf eine fortlaufende Entwicklung haben Prinzipien wie der Gewaltenteilungsgrundsatz besondere Berücksichtigung zu finden. Dass gerade Montesquieus Ausführungen einen Bezugspunkt für die Bewertung und weitere Entwicklung einer Europäischen Gemeinschaftsrechtsordnung bilden können, begründet sich durch die sie kennzeichnende besondere Betonung der politischen Freiheit des Einzelnen. So ist die der Gewaltenteilung von ihm zugewiesene Funktion der Freiheitssicherung als Maßstab jeder Rechtsordnung heranzuziehen. Diese Freiheit steht schließlich im Mittelpunkt seiner zahlreichen Überlegungen über die möglichen Organisationsformen einer Ge___________ 288 Merten in: Weinacht (Hrsg.), 31 (42); Steffani in: Rausch (Hrsg.), 313 (322); Mass in: Merten (Hrsg.), 47 (47); Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes, 210f. 289 Kägi in: FG Giacometti 1953, 107 (133) „Der Rechtsstaat wird aus einer Ordnungsidee zur bloßen Technik.“; Ossenbühl in: DÖV 1980, 545 (547) „Montesquieu hat versucht, die normative Gewaltenteilung mit den vorgefundenen Machtstrukturen zu verbinden, um so zu einem wirksamen Machtgleichgewicht zu kommen. Die Verbindung ist uns, wie ich meine, verlorengegangen.“

134 C. Das Prinzip der Gewaltenteilung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips

meinschaft sowie der zahlreichen Darstellungen von den verschiedenen Gesetzesbezügen und nicht etwa die Größe oder das Ansehen des jeweiligen Staates. In dieser Schwerpunktsetzung zeigt sich somit bereits die humanistische Grundeinstellung Montesquieus.290 Ungeachtet der Veränderungen, die seit dem Erscheinen von Montesquieus Werk „Vom Geist der Gesetze“ in der Gesellschaft und in den politischen Systemen in Europa eingetreten sind, haben sich die der Gewaltenteilung zugrunde liegenden Zielsetzungen demnach weiterhin ihre Bedeutung erhalten können.291 Dass zur Bewahrung dieser individuellen Freiheiten sich Montesquieus weitere Folgerungen für den Staatsaufbau demgegenüber nicht vollständig übertragen lassen, ergibt sich bereits aufgrund der zwischenzeitlich eingetretenen politischen wie gesellschaftlichen Veränderungen. Im Hinblick auf letztere Entwicklung ist vor allem mit dem Ende der Ständeordnung die von Montesquieu noch maßgeblich genutzte klare gesellschaftliche Aufteilung in drei Gruppen mit klar voneinander zu entscheidenden Interessenausrichtungen verschwunden.292 Zwar gibt es – auch in der Europäischen Union – weiterhin eine Vielzahl an Interessengruppen, doch unterliegt deren Verhältnis untereinander einer andauernden Veränderung. Damit lassen sich diese unterschiedlichen Interessenausrichtungen auch nicht mehr für eine Zuordnung der verschiedenen Einzelbefugnisse in vergleichbarer Weise nutzen. Das nunmehr fehlende notwendige Gegenüber der Legislative und Exekutive kann jedoch durch den Bedeutungszugewinn der Rechtsprechung und dabei insbesondere der Verfassungsrechtsprechung in ausreichender Weise ausgeglichen werden. Dies stellt eine Weiterentwicklung des Gewaltenteilungsgrundsatzes dar, die bereits in den ___________ 290

Stern, Das Staatsrecht der BRD – Band II, 518 „Die Dreiteilung ist kein Prinzip um ihrer selbst willen oder ihrer Vernünftigkeit willen oder bloß Ausdruck der staatlichen Wirklichkeit, sondern in den Dienst einer höheren Idee, letztlich des Menschen, gestellt.“; Kägi in: Rausch (Hrsg.), 286 (288); von Hippel, Geschichte der Staatsphilosophie – Band II, 76; Loewenstein in: Rausch (Hrsg.), 210 (225). 291 Ossenbühl in: DÖV 1980, 545 (546) „Die Grundidee der Gewaltenteilung ist ein überzeitliches Phänomen. Sie hat Gültigkeit für alle Länder und Zeiten, weil sie einen nach unserer Auffassung unbezweifelbaren Staatszweck in sich birgt, nämlich die Bewahrung der Menschenwürde und die Sicherung der Freiheit.“; Horn in: 49 JöR 2001, 287 (294); Schambeck in: FS Geiger 1974, 643 (660). 292 Siehe nur für diese Verbindung Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes, 219 „Allgemein lässt sich vielleicht sagen, dass die gemäßigte, spätständische Monarchie praktisch die ideale Verfassungslage für ein Balancesystem, einen Schwebezustand koordinierter Gewalten darstellt. Aber auch hier ist diese Gleichgewichtslage immer nur ein Übergangszustand, nicht ein verfassungsnormativ konservierbarer Dauerzustand. Die Abweichungen von dieser aufklärerischen Idealvorstellung einer balancierten Gewaltenkoordination, die sich vorwiegend im Wege der Verfassungswandlung vollzogen, wurden zumeist nur oberflächlich erkannt als Abweichungen und Ausnahmen vom Gewaltenteilungsprinzip.“

IV. Schlussbetrachtung

135

„Federalist Papers“ ihren Anfang genommen hat. Dadurch kommt der Judikative jedoch keine Vorrangstellung gegenüber den anderen Gewalten zu. Vielmehr soll durch die Gesetzesverwirklichung nicht der Gerichtsbarkeit, sondern den Gesetzen und damit dem Volk mehr Einfluss zukommen.293 Dass das Entstehen eines Über- und Unterordnungsverhältnisses der Organe untereinander nicht mit dem Gewaltenteilungsprinzip vereinbar und demnach zu verhindern ist, hat im Übrigen die vorangegangene Beschäftigung mit den entsprechenden Ansätzen Rousseaus deutlich gemacht. So beinhaltet der Grundsatz der Gewaltenteilung die gleichzeitige Vorstellung einer dauerhaften Notwendigkeit, verschiedene Gruppen und ihre jeweiligen Interessen gegenseitig abzustimmen. Das Ergebnis dieses Abstimmungsprozesses ist dann dahingehend zu beurteilen, ob ein Machtmissbrauch zu Lasten einer Gruppe und ihrer Interessen durch die einseitige Interessenverfolgung einer anderen Gruppe eingetreten ist. Damit einhergehend besteht die Forderung nach einer wirksamen gegenseitigen Überwachung und Hemmung der Organe. Eine solche ist nur in einem System vorstellbar, in dem zumindest annähernd gleichwertige Akteure sich gegenüber stehen. Im Unterschied hierzu betreffen Rousseaus Ausführungen nicht vorrangig die Art und Weise der Entscheidungsfindung. Ausgehend von der Vorstellung eines „allgemeinen Willens“, der bereits die im Einzelfall gute Entscheidung vorgibt, geht es demnach lediglich um die Sicherstellung auch seiner Durchsetzung. Damit einhergehend entfällt aber die Forderung zu einer effektiven gegenseitigen Überwachung der verschiedenen Organe. Gerade da zumindest früher häufig festgestellt worden ist, dass im gemeinschaftsrechtlichen Verhältnis der Organe untereinander dem Ministerrat eine überragende Rolle zukommt, wird sich im weiteren Verlauf dieser Arbeit demnach die Frage stellen, ob für die Gemeinschaftsordnung strukturell immer noch nur eine solche „Gewaltenteilung“ im Sinne von Rousseau kennzeichnend ist oder bereits eine deutlichere Ausrichtung an die zugrunde liegenden Vorstellungen Montesquieus zu erkennen ist. Darüber hinaus darf neben der Möglichkeit, auf die eingetretenen gesellschaftlichen Veränderungen mit entsprechend angepassten Organstrukturen – vor allem durch die Entwicklung einer unabhängigen Rechtsprechung – zu reagieren, nicht der Umstand vernachlässigt werden, dass sich im einzelstaatlichen Bereich seit Montesquieu zahlreiche weitere Möglichkeiten zur Einflussnahme und Überwachung für außerhalb der drei Gewalten stehende gesellschaftliche Kräfte – vor allem für eine unabhängige Presse und die Verbände – entwickelt ___________ 293

Merten in: Weinacht (Hrsg.), 31 (43); Alexander Hamilton, The Federalist No. LXXVIII, 398; Gebhardt in: Maier/Rausch/Denker (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens – Band II, 58 (79); Sobota, 524.

136 C. Das Prinzip der Gewaltenteilung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips

haben.294 Auch hat die Rolle der Parteien in den demokratischen Systemen erheblich zugenommen, so dass teils schon von der Gefahr einer Übernahme der Alleingewalt durch die Parteien ausgegangen wird.295 Da indes europaweit herausgegebene Presseerzeugnisse oder auch europaweit arbeitende Verbände und Parteien bisher zumeist lediglich aus dem Zusammenschluss nationaler Vereinigungen hervorgegangen sind, scheint sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Integration im gemeinschaftsrechtlichen Zusammenhang immer noch vorrangig eine Berücksichtigung der Grundansätze von Montesquieu auf der Organebene anzubieten. Gleichwohl sind diese weiteren Interessenvertreter und ihre Rolle bei der gegenseitigen Überwachung nicht zu vernachlässigen. Als einen weiteren übertragbaren Grundgedanken Montesquieus ist abschließend derjenige einer Gewaltenverantwortlichkeit zu benennen. So setzt eine Unterscheidung der einzelnen Funktionen und deren Zuweisung an verschiedene Träger ein gesamtverantwortliches Verhalten aller Beteiligten voraus. Um einen Zustand der Untätigkeit zu vermeiden, müssen die einzelnen gleichberechtigten Organe zusammenarbeiten und damit gleichzeitig gemeinsam Verantwortung übernehmen. Nur durch eine solche Machtausübung durch verschiedene Machträger wird jeder einzelne Machtträger einer Beschränkung und Kontrolle durch ein System der „checks and balances“ ausgesetzt.296 Für das Selbstverständnis der Funktionsträger folgt daraus, dass nicht Zurückhaltung und Selbstbeschränkung, sondern die verantwortliche Wahrnehmung der zugewiesen Kompetenzen vom Verfassungsprinzip Gewaltenteilung gefordert ist. ___________ 294

Küster in: Rausch (Hrsg.), 1 (17); Häberle, 414; Ossenbühl in: DÖV 1980, 545 (547); zu den „Operationstechniken“ im Einzelnen siehe Loewenstein, Verfassungslehre, 378 „(...): die Interessengruppen versuchen entweder, in den Rahmen der offiziellen Machtträger selbst einzudringen – in Regierung und Parlament – und von innen her zu bohren, oder sie bearbeiten das einzelne Regierungs- oder Parlamentsmitglied von außen her. Wenn möglich, kommen beide Techniken zur Anwendung.“; Stern, Das Staatsrecht der BRD – Band II, 551. 295 Merten in: Weinacht (Hrsg.), 31 (55); Loewenstein, Verfassungslehre, 414 „Wie kann der schrankenlose laissez faire-Pluralismus der technologischen Massengesellschaft überwunden, und wie können die pluralistischen Gruppen, die Parteien ebenso wie die Interessenverbände, durch wirksame und erzwingbare gesetzliche Regelungen in den politischen Prozeß eingegliedert werden?“; Schambeck in: FS Geiger 1974, 643 (658); für eine deutliche Relativierung derartiger Befürchtungen siehe aber auch Tsatsos, 86. 296 Loewenstein in: Rausch (Hrsg.), 272 (281) „Der wirkungsvollste Mechanismus zur Kontrolle der politischen Macht besteht in der Zuweisung verschiedener Staatsfunktionen an verschiedene Machtträger oder Staatsorgane, die sie zwar in vollständiger Autonomie und unter ihrer eigenen Verantwortung ausüben, aber letzten Endes zum Zusammenwirken gezwungen sind, soll ein gültiger Staatswille hervorgebracht werden.“

IV. Schlussbetrachtung

137

Gleiches gilt auch für den Einzelnen und seiner Beteiligung an der allgemeinen Machtausübung. So fordert der Ansatz von Montesquieu, bestehende gesellschaftliche Gruppen in einem gewaltenteiligen System zu berücksichtigen und sie auf diese Weise zu integrieren, eine zunehmend pluralistisch ausgerichtete Gesellschaft in besonderer Weise heraus. So ist die Gewaltenteilung gerade durch die Einbindung und die damit gleichzeitig ermöglichte Überwachung der verschiedenen gesellschaftlichen Mächte überhaupt erst zur Stabilisierung einer Herrschaftsordnung und Integration des Einzelnen in der Lage.297 Als Grundvoraussetzung für ein solches System ist jedoch vor allem auch zunächst die Bereitschaft des Einzelnen anzusehen, Macht und Verantwortung mitzutragen.298

___________ 297

Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 119 (205); Imboden in: Rausch (Hrsg.), 487 (503); Ryffel in: FS Eichenberger 1982, 59 (70); Küster in: Rausch (Hrsg.), 1 (8); Kägi in: FG Giacometti 1953, 107 (141); Ossenbühl in: DÖV 1980, 545 (546); Steffani in: Rausch (Hrsg.), 313 (349) „Die Gewaltenteilung erschließt ihren Sinngehalt als fundamentales Strukturprinzip erst dann, wenn sie mit dem sozialen Gruppengefüge in Beziehung gesetzt wird.“; siehe aber auch Loewenstein, Verfassungslehre, 40. 298 Schambeck in: FS Geiger 1974, 643 (660); Zimmer, 188; Vollrath in: FS Sternberger 1977, 392 (408); Imboden in: Rausch (Hrsg.), 487 (504) „Der gewaltenteilige Verfassungsstaat ruft als gefestigtes Gefüge nach dem gereiften Menschen. Er verwirklicht eine starke Ordnung und sucht das Bündnis mit dem starken Bürger.“

D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht Im nun folgenden Teil der Arbeit soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit im Europäischen Gemeinschaftsrecht von einem „institutionellen Gleichgewicht“ überhaupt in sinnvoller Weise gesprochen werden kann. Dabei sollen zunächst ausgehend von den geltenden Vertragsbestimmungen die den einzelnen Organen allgemein zugewiesenen Aufgaben dargestellt werden. Daran anschließend soll im Rahmen einer Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs diese Aufgabenverteilung in einzelnen Zuständigkeitsbereichen der Europäischen Union eine nähere Betrachtung erfahren. So bestehen doch zum einen im Hinblick auf die Mitwirkungsrechte der einzelnen Organe bei der Gesetzgebung in den verschiedenen Politikbereichen erhebliche Unterschiede. Zum anderen sind damit einhergehend auch die gegenseitigen Überwachungsmöglichkeiten unterschiedlich ausgestaltet. Unter besonderer Berücksichtigung der vom Europäischen Gerichtshof verwendeten Argumentation unter Bezugnahme auf das „institutionelle Gleichgewicht“ sollte dann die Frage zu beantworten sein, ob diesem Begriff tatsächlich eine eigenständige Bedeutung zukommt oder seine Verwendung insgesamt als wenig hilfreich zu beurteilen ist, da mit ihm lediglich eine politische Zielsetzung formuliert wird.

I. Die Organstruktur der Europäischen Union Betrachtet man die den Organen der Europäischen Union im Einzelnen zugewiesenen Rollen, scheint zunächst eine Unterscheidung dahingehend möglich, ob sie vorrangig der Interessenwahrnehmung der Gemeinschaft oder der einzelnen Mitgliedstaaten dienen sollen. Demnach ist die Vorstellung naheliegend, dass ähnlich den gesellschaftlichen Voraussetzungen, die Charles de Montesquieu seinen Überlegungen zur Gewaltenteilung zugrundelegte, auch die Gemeinschaftsrechtsordnung von klar zu unterscheidenden Interessengruppen geprägt ist. Damit einhergehend scheint sich eine Übertragbarkeit seiner weiteren Ausführungen unmittelbar anzubieten, nach denen durch eine bewusste Ausnutzung bestehender Interessengegensätze ein möglicher Machtmissrauch verhindert werden soll. Inwieweit jedoch tatsächlich eine derartige Vergleichbarkeit der Ausgangslagen festzustellen ist, bedarf einer genaueren

I. Die Organstruktur der Europäischen Union

139

Betrachtung dieser „sozialen Gewaltenteilung“ im europäischen Zusammenhang. Als eine gut abzugrenzende Interessengruppe in der Gemeinschaftsrechtsordnung sind zunächst die auf die Bewahrung ihrer einzelstaatlichen Souveränität bedachten Mitgliedstaaten zu benennen, die ihren jeweiligen Anliegen vor allem im Ministerrat, aber auch im Europäischen Rat Ausdruck verleihen können und dabei auch häufig in Konflikt untereinander treten.299 Bereits im Rahmen einer solchen Kennzeichnung ist jedoch darauf zu verweisen, dass im Einzelfall auch eine gemeinschaftliche Regelung gerade den mitgliedstaatlichen Interessen entsprechen kann. Eine Zwangsläufigkeit, dass Mitgliedstaaten unter allen Umständen auf die Bewahrung ihrer Souveränität bedacht sind, besteht somit nicht. Im Gegensatz zu diesen Organen, die der mitgliedstaatlichen Interessenvertretung dienen, sind die auf eine weiterreichende Integration und am Gemeinschaftsinteresse ausgerichteten Gemeinschaftsorgane zu berücksichtigen. Zu diesen zählt zunächst die zumeist als „Hüterin der Verträge“300 oder auch als „Motor, Wächter und ehrlicher Makler“301 bezeichnete Europäische Kommission. Des Weiteren verdient der als „Integrationsfaktor erster Ordnung“302 oder „Motor der Integration“303 gekennzeichnete Europäische Gerichtshof in diesem Zusammenhang besondere Beachtung. So leistet Letzterer unter anderem mit seiner Rechtsprechung zum Vertrauensschutz immer wieder ___________ 299 Huber in: 38 EuR 2003, 574 (577); Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, 95 „Es ist nicht paradox zu sagen, dass selbst Interessengegensätze ein konstitutives Element der Gemeinschaft sind. Die elementarste Kraft jeder Gemeinschaft ist die Verschiedenheit der Partner. Es gibt auch in einer Gemeinschaft wie der unseren keine Kraftentfaltung und Entwicklung ohne Widerstand. Jeder Sieg der Gemeinschaft über das besondere macht sie stärker.“ 300 Geiger, EUV/EGV, Art. 211 EGV, Rn. 6; Kugelmann in: Streinz, EUV/EGV, Art. 211 EGV, Rn. 2; Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 211 EGV, Rn. 2; Peterson in: Peterson/Shackleton, 72 „guardian of the EU’s Treaties“; siehe auch Streinz, 118, Rn. 341 sowie Borchardt, 129, Rn. 311, die beide die Europäische Kommission nur leicht abweichend hiervon als „Hüterin des Gemeinschaftsrechts“ bezeichnen. 301 Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, 58; Peterson in: Peterson/Shackleton, 72 „honest broker in EU policy-making“; siehe die Kennzeichnung als „Motor der Gemeinschaftspolitik“ bei Borchardt, 128, Rn. 305. 302 So unter anderem Oppermann, 144, Rn. 116; zu den Auswirkungen eines solchen Verständnisses siehe nur Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 416. 303 Huber in: Streinz, EUV/EGV, Art. 220 EGV, Rn. 5; Mittmann, 2; Nettesheim in 28 EuR 1993, 243 (244); Faber in: DVBl. 1990, 1095 (1100) „Integrationsmotor“; kritisch hinsichtlich dieser Kennzeichnung heutzutage aber Hirsch in: 49 JöR 2001, 79 (83) sowie Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 416, die wie folgt auf ein gewandeltes Selbstverständnis aufmerksam macht: „Der Gerichtshof scheint sich selbst nicht mehr primär als Motor der Integration zu sehen, sondern ist um Festigung und Sicherung des erreichten Standes bemüht – was einzelne gemeinschaftskompetenzausweitende Urteile nicht ausschließt.“

140 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

einen wichtigen Beitrag zur Konkretisierung des ansonsten nur schwer zu bestimmenden Gemeinschaftsinteresses.304 Indem jedoch gerade das Gemeinschaftsinteresse jeweils für den Einzelfall – und auch unter Abwägung mit den mitgliedstaatlichen Interessen sowie den Interessen anderer Beteiligter – erst ermittelt werden muss und es sich somit um einen offenen und auslegungsfähigen Begriff handelt, tritt eine erste Abweichung zu den von Montesquieu entwickelten Vorstellungen deutlich in Erscheinung. So wird das Gemeinschaftsinteresse nicht von einer in der Gesellschaft bereits vorhandenen Interessengruppe vertreten, sondern stellt vielmehr eine Folgeerscheinung der besonderen Struktur der Europäischen Union dar. Das Gemeinschaftsinteresse und seine Herausbildung kann demnach als eine zunächst unbestimmte und allgemeine – in gewisser Weise auch über die einzelnen Beteiligten hinausgehende – Zielsetzung des Integrationsprozesses angesehen werden. Dass ungeachtet dieser gewissen Unbestimmtheit die an diesem Interesse ausgerichteten Organe die Entstehung eines Machtmonopols und der damit einhergehenden Gefahren gleichwohl dauerhaft verhindern können, muss mithin fraglich erscheinen. Darüber hinaus kann aufgrund ihrer unbestimmten Interessenausrichtung die Gefahr eines Machtmissbrauchs gerade durch die Gemeinschaftsorgane selbst nicht ausgeschlossen werden. Im Bezug auf letztere Gefährdungen des Integrationsprozesses ist weiterführend Folgendes anzumerken: Allgemein kann einem Machtmissbrauch zum einen – in Anlehnung an Montesquieu – durch die bewusste Ausnutzung bestehender gesellschaftlicher Interessengegensätze begegnet werden305, die im Rahmen jeder institutionalisierten Entscheidungsfindung weiterführend in ein Gleichgewicht miteinander gebracht werden müssen. Dieser Ansatz kann indes im Gemeinschaftsrecht aufgrund nicht vorhandener natürlicher Interessengegensätze nur beschränkt zur Anwendung kommen oder zumindest nicht zum Ausgangspunkt entsprechender Überlegungen gewählt werden. Zum anderen kann die Verhinderung eines Machtmissbrauchs gerade durch eine Beschränkung des Einflusses der unterschiedlichen Einzelgruppen erfolgen, ausgehend von der Überlegung, dass die verschiedenen Interessengruppen zum einen in voneinander abweichender Weise zur Einflussnahme überhaupt in der Lage sind und zum anderen ihre Bedeutung darüber hinaus auch Veränderungen un___________ 304 Siehe zum Vertrauensschutz Wegener in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 220 EGV, Rn. 39; Borchardt, 94, Rn. 221; EuGH Slg. 1961, 109 (172) Verb. Rs. 42 und 49/59 „SNUPAT/Hohe Behörde“; EuGH, Slg. 1992, I-3061 (I-3132) Verb. Rs. C-104/89 und C-37/90 „Mulder u.a./Rat und Kommission“; EuGH Slg. 1997-3, I-1591, (I-1616) Rs. C-24/95 „Alcan Deutschland“. 305 Siehe nur Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes, 53 für die Kennzeichnung der „sozialen Gewaltenteilung“ als dem Prinzip der Machmäßigung bei Montesquieu.

I. Die Organstruktur der Europäischen Union

141

terliegt.306 Die damit an die Stelle eines offenen Austausches zwischen den bestehenden Partikularinteressen tretende Herausbildung allgemeiner Interessen soll daraufhin – einhergehend mit der Entwicklung zu einer normativ geprägten Betrachtung – mit unabhängigen und unparteiischen Verfahrensformen der Entscheidungsfindung gefördert werden.307 Somit soll nach diesem zuletzt genannten Ansatz ein immer möglicher Machtmissbrauch vorrangig durch bereits im System angelegte Sicherungsmechanismen und ein damit gleichfalls verbundener Schutz der Minderheiten verhindert werden. Dass eine derartige institutionelle Ausgestaltung eine zusätzliche Verstärkung finden kann, wenn sich im Verhältnis der einzelnen Gewalten auch tatsächliche Interessengegensätze gegenüberstehen, ist davon unabhängig weiterhin anzuerkennen. Doch auch in der zuletzt beschriebenen Weise – im Sinne eines Stufenverhältnisses von institutionellen und tatsächlichen Sicherungen – sind in der Gemeinschaftsrechtsordnung diese beiden unterschiedlichen Ansätze zur Verhinderung eines Machtmissbrauches nicht vereint. So werden zwar zunächst mit den Organen, die hauptsächlich mitgliedstaatliche Interessen vertreten, bewusst tatsächlich bestehende Interessenlagen ausgenutzt. Ihnen gegenüber steht jedoch mit den gemeinschaftsorientierten Organen keine vergleichbar festgelegte Interessenvertretung. Vielmehr wird das von ihnen vertretene allgemeine Gemeinschaftsinteresse bereits bei seiner Herausbildung durch die einzelstaatlichen Partikularinteressen und die weitreichenden Einflussmöglichkeiten der Mitgliedstaaten maßgeblich beeinflusst. Dieser Umstand ist auf die institutionellen Rahmenbedingungen – insbesondere die weitreichenden Einflussmöglichkeiten des Ministerrates – zurückzuführen. Andererseits unterliegt insbesondere die Kommission als einem gemeinschaftsorientierten Organ aufgrund der häufig bloß Zielsetzungen vorgebenden Rechtsgrundlagen bei der Ausarbeitung ihrer Gesetzgebungsvorschläge kaum Einschränkungen. Ihre Tätigkeiten werden jedoch wiederum nicht nur durch die Mitgliedstaaten überwacht, sondern sind in ihrer Umsetzung auch unmittelbar von deren Zustimmung ab___________ 306

James Madison, The Federalist No. X, 41 „Complaints are everywhere heard from our most considerate and virtuous citizens, equally the friends of public and private faith, and of public and personal liberty, that our governments are too unstable; that the public good is disregarded in the conflicts of rival parties; and that measures are too often decided, not according to the rules of justice, and the rights of the minor party, but by the superior force of an interested and overbearing majority.“; Dyèvre in: 30 ELRev. 2005, 165 (173). 307 James Madison, The Federalist No. X , 45 „The effect of the first difference is, on the one hand, to refine and enlarge the public views, by passing them trough the medium of a chosen body of citizens, whose wisdom may best discern the true interest of their country, and whose patriotism and love of justice, will be least likely to sacrifice it to temporary or partial considerations.“; siehe im Übrigen für entsprechende demokratietheoretische Überlegungen nur Weale in: Weale/Nentwich (Hrsg.), 49 (53).

142 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

hängig. Demnach erscheint ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den verschiedenen Gemeinwohlausrichtungen der Organe bereits strukturbedingt – aufgrund des diesbezüglich nicht vollkommen überzeugenden Aufbaus der Gemeinschaftsrechtsordnung – kaum möglich. Erst unter ausreichender Berücksichtigung dieser sich aus dem Aufbau der Europäischen Union ergebenden Besonderheiten und der damit notwendigerweise besonders hervorgehobenen Stellung der Judikative ist eine Beurteilung dahingehend möglich, ob ein gegebenenfalls bestehendes „institutionelles Gleichgewicht“ im Gemeinschaftsrecht die Funktionen des Gewaltenteilungsgrundsatzes gleichermaßen zu erfüllen in der Lage ist. Erste konkrete Aussagen über den institutionellen Rahmen der Europäischen Gemeinschaft – aber noch nicht über ein möglicherweise gleichzeitig bestehendes „institutionelles Gleichgewicht“ – enthalten die Art. 7 I EGV in Verbindung mit Art. 5 EUV (nach der Verfassung Art. I-19 bis I-29). Dabei nennt Art. 7 I EGV (nach der Verfassung Art. I-19 I) zunächst als Organe das Europäische Parlament, den Ministerrat, die Europäische Kommission und den Gerichtshof. Nähere Regelungen zu den sonstigen Organen und Einrichtungen wie der Europäische Zentralbank308, dem Rechnungshof und den beratenden Einrichtungen der Union enthalten die Art. 7 bis 9 EGV (nach der Verfassung Art. I-30 bis I-32); auf diese letzteren Organe soll aber im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht weiter eingegangen werden. Gleiches gilt für den in Art. 4 EUV (nach der Verfassung Art. I-21) aufgeführten Europäischen Rat – trotz seiner besonderen Bedeutung für den gemeinsamen Meinungsaustausch zwischen den Vertretern der Mitgliedstaaten und der Kommission sowie für die Festlegung der gemeinsamen weiteren Vorgehensweise. So gibt er entsprechend Art. 4 EUV (nach der Verfassung Art. I-21 I) der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt ihre allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten fest.309 Nähere Einzelheiten zu seiner Arbeitsweise waren in Art. III-341 der Verfassung enthalten. Da dieses sich aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie dem Präsidenten des Europäischen Ra___________ 308 Zum Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs und der EZB unter Berücksichtigung des institutionellen Gleichgewichts siehe nur EuGH, Slg. 2004-10, I-9873 (I-9905) Rs. 409/02 P „Jan Pflugradt/EZB“. 309 Siehe nur die Bewertung bei Giering/Neuhann in: Weidenfeld/Wessels (Hrsg.), 53 (61) „Der Europäische Rat ist zu einem der zentralen Organe der Europäischen Union avanciert. Dies gilt bei weitem nicht nur für den Verfassungsprozess, sondern auch für viele andere drängende Fragen der Europapolitik: vom Lissabon-Prozess über den Kampf gegen den Terror bis hin zur Erweiterung der EU bestimmt der Europäische Rat die Richtung und oft auch die Ausgestaltung der Europapolitik.“; Streinz, 109, Rn. 321; Glaesner in: Curtin/Heukels, 101 (107); Hartley, The Foundations of European Community Law, 25; so trotz gewisser Vorbehalte auch schon Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften – Band I, 505.

I. Die Organstruktur der Europäischen Union

143

tes und dem Kommissionspräsidenten zusammensetzende Organ jedoch nach Art. 4 EUV (nach der Verfassung Art. I-21 I 2) nicht gesetzgeberisch tätig wird, muss er im Rahmen einer Bestimmung der institutionellen Verhältnisse der Organe untereinander nicht unbedingt behandelt werden. Dieser Entscheidung steht im Übrigen auch nicht seine ausdrückliche Nennung als Organ der Europäischen Union in Art. I-19 II der Verfassung entgegen.

1. Das Europäische Parlament Das Europäische Parlament ist mit großer Wahrscheinlichkeit dasjenige Organ im institutionellen Rahmen der Gemeinschaftsrechtsordnung, dessen Entwicklung die umfassendste Betrachtung erfahren hat. Dieser Befund muss zunächst bemerkenswert erscheinen, da es sich ausgehend von den Gründungsverträgen der Gemeinschaften bei dem Europäischen Parlament um ein Organ mit deutlich eingeschränkten Rechten gehandelt hat. Durch die nachfolgenden Vertragsänderungen hat es jedoch zunehmend an Einfluss gegenüber den anderen Organen gewonnen. Ungeachtet dieser im Einzelnen noch zu beurteilenden Aufwertungen ist dem Europäischen Parlament als dem zentralen Repräsentativorgan der europäischen Bürger in der Gemeinschaftsrechtsordnung bereits eine besondere Rolle zugewiesen.

a) Wahl und Zusammensetzung Nach dem Wortlaut des bisherigen Art. 189 I EGV besteht das Europäische Parlament aus Vertretern der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossen Staaten. Nicht nur in sprachlicher Hinsicht hiervon deutlich abweichend sah zunächst der Art. I-19 II des Entwurfs einer Verfassung für Europa die Wahl des Europäischen Parlaments unmittelbar durch die europäischen Bürgerinnen und Bürgern für eine Amtszeit von fünf Jahren in allgemeiner, freier und geheimer Wahl vor. Eine weitere sprachliche Änderung erfolgte mit Art. I-20 II der Verfassung, nach der sich das Europäische Parlament aus Vertretern der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger zusammensetzt. Auch wenn die genannte Eigenschaft als Unionsbürger nach Art. 17 EGV (weiterhin auch nach der Verfassung Art. I-8 I) von der Staatsangehörigkeit eines der Mitgliedstaaten abhängig ist, wurde mit dieser sich direkt auf den Einzelnen beziehenden Bestimmung dem Gemeinschaftsrecht demnach erstmals – zumindest sprachlich – das Verständnis eines einheitlichen europäischen Wahlvolkes zugrunde gelegt. Dabei war diese Neugestaltung als eine sinnvolle Fortführung der bisherigen Regelung des Art. 19 II EGV (nach der Verfassung Art. II-99 I) anzusehen, nach der bereits ein in einem anderen Mitgliedsstaaten lebender

144 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

Unionsbürger auch an diesem Wohnsitz das aktive und passive Wahlrecht zum Europäischen Parlament besitzt. Als kaum vereinbar mit dieser zunehmenden Annäherung an die Idee eines einheitlichen Wahlvolkes, das mit dem Europäischen Parlament über eine unmittelbare Interessenvertretung auf der Gemeinschaftsebene verfügt, ist jedoch die immer noch ausstehende Regelung eines einheitlichen Wahlrechts zum Europäischen Parlament anzusehen. Zwar ist schon am 1. Juli 1978 der „Beschluss und Akt des Rates zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen“ in Kraft getreten. Dessen Art. 7 II, nach dem sich das Wahlrecht bis zum Inkrafttreten eines einheitlichen Wahlverfahrens nach den innerstaatlichen Vorschriften richtet, kommt aber weiterhin Gültigkeit zu. Aufgrund der unterschiedlichen Ausgestaltungen des Wahlrechts in den einzelnen Mitgliedstaaten – Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht sowie zahlreiche Zwischenformen dieser beiden möglichen Ausgestaltungen – werden die abgegebenen Stimmen demnach weiterhin verschieden berücksichtigt. Verstärkend kommt hinzu, dass die nach Art. 190 II EGV (nach dem Art. I-20 II der Verfassung in Verbindung mit Art. 1 I des „34. Protokoll über die Übergangsbestimmungen für die Organe und Einrichtungen der Union“ war dieser Verteilungsschlüssel bis zu den Wahlen 2009 neu zu regeln) den einzelnen Mitgliedstaaten jeweils zugewiesene Anzahl von parlamentarischen Vertretern – als zahlenmäßige Obergrenze sieht Art. 189 II EGV 732 Mitglieder vor (nach der Verfassung Art. I-20 II 750 Abgeordnete) – trotz erfolgter Annäherungen nicht mit der Vorstellung einer Erfolgswertgleichheit der abgegebenen Stimmen zu vereinbaren ist.310 An diesem Befund vermögen im Übrigen auch Verweise auf eine nicht vollständige Verwirklichung der Erfolgswertgleichheit in den politischen Systemen der Mitgliedstaaten nichts zu ändern. Eine sich selbst zu demokratischen Grundsätzen bekennende Europäische Union – ausdrücklich in den Art. I-45 bis I-47 der Verfassung311 – ist auch nur an diesem Anspruch zu messen. Mit den bestehenden Ungleichheiten werden den bevölkerungsschwächeren Mitgliedsstaaten – in Einklang mit dem gesamten bisherigen Integrationsprozess – demnach besondere Einflussmöglichkeiten bewahrt. Vom Grund___________ 310

Douglas-Scott, 86; Oppermann, 84, Rn. 18; Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 190 EGV, Rn. 10; Papier in: EuGRZ 2004, 753 (756); Streinz, 123, Rn. 354; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 666; Hartley, The Foundations of European Community Law, 31; Shackleton in: Peterson/Shackleton, 95 (111); andererseits Reich, 67 „Das ungleiche Wahlrecht in der Gemeinschaft dient insoweit der Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Organs und dem Minderheitenschutz.“ 311 Siehe nur die allgemeine Erklärung des Art. I-45 der Verfassung „Grundsatz der demokratischen Gleichheit“: „Die Union achtet in ihrem gesamten Handeln den Grundsatz der Gleichheit ihrer Bürgerinnen und Bürger, denen ein gleiches Maß an Aufmerksamkeit seitens der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union zuteil wird.“

I. Die Organstruktur der Europäischen Union

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anliegen wird dem völkerrechtlichen Grundsatz der Staatengleichheit damit weiterhin mehr Bedeutung zugemessen als dem Anliegen einer langfristigen Demokratisierung der Gemeinschaftsrechtsordnung.312 Grundsätzlich ist zwar der – in den internationalen Beziehungen maßgebliche – formale Grundsatz der souveränen Gleichheit der gleichberechtigten Staaten als vollkommen unabhängig von den jeweiligen innerstaatlichen Ordnungen anzusehen. Eine wertgebundene zwischenstaatliche Rechtsordnung – wie die Gemeinschaftsrechtsordnung – formuliert jedoch darüber hinaus gegenüber ihren Mitgliedern sowie im Hinblick auf die eigene Organisationsstruktur gewisse inhaltliche Vorgaben. Dieser selbst vorgebrachte Anspruch hat indes noch keine vollständige Verwirklichung in den entsprechenden Bestimmungen gefunden. Im Hinblick auf die seit 1979 stattfindenden – und die vorangegangene Ernennung der Abgeordneten durch die nationalen Parlamente ablösenden – Direktwahlen zum Europäischen Parlament ist des Weiteren festzustellen, dass sie noch nicht als europäische Wahlen anzusehen sind.313 Vielmehr haben sich wahlkampfbestimmend bisher hauptsächlich nationale Themen ausgewirkt. Zwar haben die im Europäischen Parlament versammelten Parteien transnationale Binnenorganisationen gebildet. Ihre weiterhin bestehende nationale Fragmentierung, die sich beispielsweise deutlich bei der Aufstellung ihrer jeweiligen Kandidaten zeigt314, verhindert jedoch bisher immer noch, dass sie die ih___________ 312 Zu dieser Problematik schon früh Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, 45 „Hier erhebt sich wie in allen föderalen Gebilden demokratischer Prägung nur die Frage: soll der Maßstab für die Zusammensetzung der Organe die Zahl der Staaten oder die Zahl ihrer Bürger sein; welche der beiden Lösungen ist die gleichere? Eine mittlere Antwort wird gegeben. Die kleineren würden zu schlecht wegkommen, wenn die Zahl der Bürger den Ausschlag gäbe, aber zu gut, wenn alle Staaten gleichbehandelt würden. Diese Lösung nähert sich prinzipiell dem deutschen bundesstaatlichen Modell.“; Oppermann, 84, Rn. 18 kennzeichnet den Verteilungsschlüssel „im Sinne eines Kompromisses zwischen dem völkerrechtlichen Prinzip der Staatengleichheit und dem bundesstaatlich-demokratischen der Proportionalität zur Bevölkerungszahl“; Dashwood/Johnston in: 41 CMLRev. 2004, 1481 (1487). 313 Siehe nur die immer noch gültigen – sich aber noch auf die damals von den Parlamenten aus ihrer Mitte benannten Vertreter beziehenden – Feststellungen von Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, 75 „Es fehlt also an einem Wahlkampf um europäische Fragen. Nur ein Wahlkampf aber, der den Bürger zu den Optionen über die Frage zwingt, die das künftige Parlament zu entscheiden haben wird, begründet die repräsentative Stellung des Parlamentariers; nur er wird schließlich auch zu europäischen Parteien führen. Die Mitglieder des Europäischen Parlaments sind also zwar direkt gewählt, aber sie sind nicht im Sinne eines echten europäischen Auftrags der Wähler repräsentativ.“; Maurer in: Weidenfeld/Wessels (Hrsg.), 63 (63); Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 664; Beetham/Lord in: Weale/Nentwich (Hrsg.), 15 (26); Hartley, European Union Law in a Global Context, 41. 314 Siehe nur die entsprechende Regelung für Deutschland in § 8 II des Europawahlgesetzes (EuWG), nach der eine Partei oder sonstige politische Vereinigung „entweder Listen für einzelne Länder, und zwar in jedem Land nur eine Liste, oder eine gemeinsa-

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nen in Art. 191 I EGV (nach der Verfassung Art. I-46 IV) zugewiesene Aufgabe, die Herausbildung eines europäischen Bewusstseins vollständig ausfüllen. Diese noch nicht durch die Parteien geleistete Integrationsleistung kann neben anderen Umständen zur Begründung der bislang gering gebliebenen und ständig abnehmenden Beteiligung bei den Wahlen zum Europäischen Parlament – und der damit deutlich werdenden fehlenden allgemeinen Unterstützung des Integrationsprozesses – herangezogen werden.315

b) Tätigkeitsbereiche In Übereinstimmung mit der sich bereits in zahlreichen anderen Bearbeitungen als hilfreich erwiesenen Unterscheidung sind zunächst als Tätigkeitsbereiche des Europäischen Parlaments die Gesetzgebung und die Haushaltsbefugnisse, die Überwachung der anderen Organe, die allgemeine Information, Kommunikation und Integration sowie die Wahl- und Abberufungsrechte zu benennen.316 Dabei soll nur kurz bemerkt werden, dass eine entsprechende Gliederung von der Verfassung aufgenommen worden war, die sich – unbeschadet der zahllosen inhaltlichen Kritikpunkte – doch zumindest um deutlich mehr Klarheit und Übersichtlichkeit bei der Beschreibung der den einzelnen Organen zugewiesenen Befugnissen bemühte. So bestimmte Art. I-20 I der Verfassung, dass das Europäische Parlament zusammen mit dem Ministerrat für die Gesetzgebung zuständig ist – das ordentliche Gesetzgebungsverfahren und die dem Europäischen Parlament zukommenden Mitwirkungsrechte waren dann ausführlich in Art. III-396 geregelt – und gemeinsam mit ihm die Haushaltsbefugnisse ausübt. Weiterhin kommen ihm Befugnisse zur politischen Kontrolle und Beratung der anderen Organe zu. Nähere Bestimmungen zur Arbeitsweise des Europäischen Parlaments – unter anderem zur möglichen Einsetzung eines nichtständigen Untersuchungsausschusses oder zur Ernennung eines Europäischen Bürgerbeauftragten – finden sich dann in den Art. III-333 bis Art. III-340 der Verfassung. Demgegenüber sieht der bisherige Art. 189 I EGV nur vor, dass das Europäische Parlament die ihm durch den Vertrag zugewiesenen Befugnisse wahrnimmt und Art. 192 EGV verweist im Weiteren für die Annahme eines Ge___________ me Liste für alle Länder einreichen“ kann; Zuleeg in: 7 EuR 1972, 1 (6); Huber in: 38 EuR 2003, 574 (581); Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 664. 315 Schliesky, 325; Tsatsos in: EuGRZ 2000, 517 (521); siehe aber auch Weiler in: Curtin/Heukels, 23 (23). 316 Borchardt, 136, Rn. 327; Suski, 100f.; in vergleichbarer Weise auch Oppermann, 86–90, Rn. 29–44; Streinz, 124–128, Rn. 358–374; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 670.

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meinschaftsaktes auf die verschiedenen Beteiligungsformen der Zustimmung, der Abgabe von Stellungnahmen sowie die Verfahren der Mitentscheidung und der Zusammenarbeit. Diese Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments haben durch die nachfolgenden Vertragsänderungen – insbesondere durch die Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens durch den Vertrag von Amsterdam – eine erhebliche Aufwertung erfahren. Im Hinblick auf die Rolle des Europäischen Parlaments im gemeinschaftsrechtlichen institutionellen Rahmen insgesamt ist jedoch nicht nur auf den Umfang der Mitwirkungsrechte an der Gesetzgebung abzustellen. So ist die gesetzgeberische Beteiligung des Europäischen Parlaments in bestimmten, aber wichtigen Aufgabenbereichen immer noch als nur sehr eingeschränkt zu beurteilen, so dass eine eindeutige Gesamtbeurteilung diesbezüglich schwer fällt. Vielmehr sind auch die Rechte zur Überwachung in ausreichendem Maße zu beachten.317 So kommt dem Europäischen Parlament – bereichsunabhängig – nach Art. 197 III EGV (nach der Verfassung Art. III-337 II) ein Fragerecht gegenüber der Europäischen Kommission zu, gegen die sie im Übrigen gemäß Art. 201 EGV (nach der Verfassung Art. III-340) einen Misstrauensantrag stellen kann. Die bisher in das Europäische Parlament eingebrachten Misstrauensanträge haben zwar nicht die erforderliche Mehrheit gefunden.318 Gleichwohl bedarf schon die Ernennung der Kommission nach Art. 214 II EGV (nach der Verfassung Art. I-27 II) der Zustimmung des Europäischen Parlaments.319 Faktische Wirksamkeit hat dieses Erfordernis erstmals im Zusammenhang mit der Ernennung der Kommission José Manuel Barrosos 2004 erhalten, nachdem einige Mitglieder in den Abschlussberichten der für die Anhörungen zuständigen Parlamentsko___________ 317 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 674; Zuleeg in: 7 EuR 1972, 1 (9); Dann in: 9 ELJ 2003, 549 (569); Craig/de Burca, 75; Hallstein, United Europe, 25 „Despite its title, it is not strictly a legislative body, but it has the task of exercising democratic supervision over the workings of the Community.“; Guazzaroni, 299 (312) „Il meccanismo dei Trattati riconosce infatti esplicitamente al Parlamento un ruolo di controllo, di critica e di propulsione sull’operato delle altre Istituzioni, man non scende in profondità nella definizione degli strumenti operativi; cosicché può affermare che l’azione condotta in questo campo dall’Assemblea discende dai Trattati non soltanto in via diretta ma ancora più spesso per un rapporto di causalità mediata.“ 318 Der gegen die Santer-Kommission eingebrachte Misstrauensantrag vom 14. Januar 1999 ist mit 293 zu 232 Stimmen (Enthaltungen: 27) abgelehnt worden; siehe hierzu nur Ott in: ZEuS 1999, 231 (233). 319 Douglas-Scott, 56 „All those nominated, including the President, are subject (…) to a vote approval by the European Parliament, a role that the Parliament takes seriously. In 1994, it required the Commission nominees to appear before its committees, in the style of US Senate hearings for federal appointees. (...) This process, while increasing the role and importance of the Parliament, also introduced a greater democratic input into the Commission’s appointment.“; siehe für weiterführende Schwierigkeiten indes nur Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 677; Beetham/Lord in: Weale/Nentwich (Hrsg.), 15 (25).

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mitees als für die vorgesehenen Ressorts nicht geeignet beurteilt worden waren.320 Dementsprechend musste der Kommissionspräsident unter dem Eindruck, mit seinen Vorschlägen keine Mehrheit im Europäischen Parlament finden zu können, um mehr Zeit für eine Umbildung der Kommission bitten.321 Erst am 18. November erteilte das Europäische Parlament der von Josè Manuel Barroso am 4. November vorgestellten neuen Kommission mit einer deutlichen Mehrheit von 449 zu 149 Stimmen (82 Enthaltungen) schließlich die Zustimmung, diese nahm daraufhin am 22. November ihre Arbeit auf. Auch wenn diese Ereignisse nicht notwendigerweise als ein „Sieg des Europäischen Parlaments“ zu beurteilen sind322, hat sich doch daran anschließend zumindest die öffentliche Wahrnehmung dieses Organs erheblich verändert. Darüber hinaus kann eine Zunahme der Einflussmöglichkeiten des Europäischen Parlaments dahingehend festgestellt werden, dass zwar nach der bisher geltenden Regelung des Art. 214 EGV (nach der Verfassung Art. I-27 II) sich die Europäische Kommission als Kollegium insgesamt einem Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments stellt, faktisch durch das Anhörungsverfahren aber auch das Ergebnis eintreten kann, dass aufgrund einzelner Mitglieder diese Zustimmung insgesamt verweigert wird. Welche langfristigen Auswirkungen dieser Bedeutungszuwachs des Europäischen Parlaments im Rahmen der Ernennung der Europäischen Kommission insbesondere auf das Kollegialitätsprinzip hat, bleibt abzuwarten. Bereits vor dieser ersten offenen Auseinandersetzung zwischen dem Europäischen Parlament und der Kommission war die Beteiligung des Europäischen Parlaments an sowohl der Ernennung als auch am gegenläufigen Verfahren allgemein als besonders wichtig anzusehen. So besteht keine klar ___________ 320 Schild in: Integration 2005, 33 (42); Hartmut Hausmann „Die neue Kommission kann ihre Arbeit sofort aufnehmen“ in: Das Parlament Nr. 48 vom 22. November 2004, 20. 321 Rede vom designierten Kommissionspräsidenten vor dem Europäischen Parlament vom 27.10.2004: „I have come to the conclusion that if a vote is taken today, the outcome will not be positive for European Institutions or for the European project. In these circumstances, I have decided not to submit a New Commission for your approval today. I need more time to look at this issue and to consult with the European Council further so that we have strong support or the new Commission, once finally approved.“; für eine weitergehende Bewertung siehe Hartmut Hausmann „Die neue Kommission kann ihre Arbeit sofort aufnehmen“ in: Das Parlament Nr. 48 vom 22. November 2004, 20. 322 So auch Josep Borrell in seinem Interview mit „Das Parlament“ Nr. 49 vom 29. November 2004, 13 auf die Frage: „Herr Präsident, das Europäische Parlament hat die neue Barroso-Kommission im zweiten Anlauf bestätigt. Ein Sieg für das Parlament, eine Schwächung für die Kommission?“ – „Erinnern Sie sich daran, dass man die Anhörungen als eine einfache Formalität ansah, das Europäische Parlament als Papiertiger? Damit ist es vorbei. Das Parlament bleibt in der öffentlichen Meinung in Erinnerung. Und die Regierungen haben ihm zugehört.“; für eine weitergehende Bewertung siehe aber auch Schild in: Integration 2005, 33 (43).

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ausgebildete Opposition gegenüber der Exekutive in der Gemeinschaftsrechtsordnung, da das Europäische Parlament nicht – wie in einigen Mitgliedstaaten – selbst eine Regierung aus seiner Mitte wählt, sondern vielmehr unabhängige Organe sich gegenüber stehen.323 Im Gegensatz zu diesen bestehenden Überwachungsmöglichkeiten des Parlaments gegenüber der Kommission sind darüber hinaus diejenigen gegenüber dem Ministerrat als nur sehr eingeschränkt zu beurteilen.324 Begründet wird dieser Umstand zumeist mit dem von den Mitgliedstaaten verfolgten Ziel, weiterhin als „Herren der Verträge“ maßgeblichen Einfluss auf die Weiterentwicklung des Integrationsprozesses nehmen zu können und im Rahmen dieser Entscheidungen dementsprechend auch nur der Überwachung durch die jeweiligen nationalen Organe ausgesetzt zu sein.325 Ungeachtet dieser leicht nachvollziehbaren Begründung erscheint indes die bisher noch unzureichend ausgebildete Überwachung der Tätigkeiten des Ministerrates auf europäischer Ebene mit dem übrigen System enger Verflechtungen der verschiedenen Ebenen und Organe kaum vereinbar.326 Als weitere Möglichkeit der Überwachung der anderen Organe ist die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses nach Art. 193 EGV (nach der Verfassung Art. III-333) durch das Europäische Parlament zu benennen. Darüber hinaus nimmt das Europäische Parlament wichtige Informations- und Überwachungsfunktionen hinsichtlich des Haushaltsplanes nach Art. 276 EGV (nach ___________ 323 Neßler in: ZEuS 1999, 157 (159) „Der die nationalen Parlamente prägende Gegensatz von Regierungsmehrheit und Oppositionsfraktion existiert im Europäischen Parlament nicht. Die Europäische Union ist ein Regierungssystem ohne institutionalisierte Opposition.“; Zuleeg in: 7 EuR 1972, 1 (4); Schild in: Integration 2005, 33 (44); Bieber in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV – Band 1, Art. 7 EGV, Rn. 36; Reich, 74; relativierend aufgrund der „mitgliedstaatlichen Wirklichkeit“ siehe aber auch Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 677. 324 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 676; Huber in: 38 EuR 2003, 574 (582); Ott in: ZeuS 1999, 231 (246); Zuleeg in: 7 EuR 1972, 1 (4); Roos in: 33 Rechtstheorie 2002, 247 (266); Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften – Band I, 466 „Das institutionelle System der EG wird eine demokratische Lücke aufweisen, solange der Rat als Entscheidungsorgan politisch unkontrollierbar ist. Das heutige System, das auf der Unverantwortlichkeit des Rates und dadurch auch der nationalen Regierungen, die hinter ihm stehen, basiert, erklärt einen großen Teil der Rückschläge des Einigungsprozesses.“ 325 Oppermann, 89 Rn. 40; Zuleeg in: 7 EuR 1972, 1 (11); Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 676 „In strikt europa-föderalistischer Perspektive erscheinen die geringen Kontrollmöglichkeiten des Europäischen Parlaments gegenüber dem Rat schlüssig.“ 326 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 677 „Wie dargelegt, wird aber das föderale Schema der komplexen, ineinander verzahnten, nicht primär territorial organisierten Struktur von governance in der EU nicht gerecht.“

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der Verfassung Art. I-20 I/Art. I-56) wahr. So wird die ordnungsgemäße Verwendung der Haushaltsmittel fortlaufend vom Europäischen Parlament überwacht, das auch erst nach einer jährlich stattfindenden Bewertung die sogenannte Haushaltsentlastung beschließt. Besondere Bekanntheit hat in diesem Zusammenhang die Verweigerung der Haushaltsentlastung für das Jahr 1996 durch das Europäische Parlament erlangt, die nachfolgend zum geschlossenen Rücktritt der Kommission unter Führung von Jacques Santer am 16. März 1999 führte.327 Eine gewisse Beziehung zu den bisher genannten verschiedenen Möglichkeiten der Überwachung der anderen Organe weist im Übrigen die Ernennung eines Europäischen Bürgerbeauftragten durch das Europäische Parlament nach Art. 195 EGV (nach der Verfassung Art. III-335) auf. Ein unmittelbarer Zusammenhang besteht jedoch mit der allgemeinen Funktion des Europäischen Parlaments zur Kommunikation mit den Unionsbürgern und ihren Anliegen und damit zur Förderung der Integration insgesamt. So hat mit dem Europäischen Bürgerbeauftragten jeder Bürger der Europäischen Union einen direkten Ansprechpartner auf der Gemeinschaftsebene, an den er Beschwerden über Missstände bei der Tätigkeit der Organe, Einrichtungen oder Ämter und Agenturen richten kann. Diese vorgetragenen Missstände werden einer Untersuchung unterzogen, deren Ergebnis dem Europäischen Parlament, dem jeweils betroffenen Organ und den Beschwerdeführer mitgeteilt wird. Mit diesem unabhängigen Verfahren, an dessen Einleitung auch keine mit einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof vergleichbar hohen Zulässigkeitsvoraussetzungen gestellt werden, können demnach frühzeitig Fehlentwicklungen erkannt werden. Im Übrigen werden durch solche Untersuchungen die Vorgehensweisen der Organe dem einzelnen Bürger gegenüber transparenter und damit nachvollziehbarer. Schließlich hat das Europäische Parlament von der ihm wie auch den anderen Organen zukommenden Organisationsgewalt durch Erlass einer Geschäftsordnung Gebrauch gemacht.

c) Weiterführende Funktion Über die ihm im Gemeinschaftsrecht ausdrücklich zugewiesenen Tätigkeitsbereiche hinaus kommt dem Europäischen Parlament die wichtige Aufgabe zu, ___________ 327 Siehe „Entschließung des Europäischen Parlaments zur Verbesserung der Haushaltsführung der Kommission vom 14. Januar 1999 (B4-0065, 0109 und 0110/99)“ sowie den vom Ausschuss Unabhängiger Sachverständiger vorgelegten „1. Bericht über Anschuldigungen betreffend Betrug, Missmanagement und Nepotismus in der Europäischen Kommission vom 15. März 1999“.

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die Europäische Union in demokratischer Hinsicht zu legitimieren.328 So kann von dem Europäischen Parlament als dem maßgeblichen Ort des gegenseitigen Meinungsaustausches der einzelstaatlichen, direkt gewählten Vertreter und der damit einhergehenden Bestimmung gemeinsamer Positionen eine besondere identitätsbildende und integrierende Wirkung ausgehen. Ungeachtet der langsam fortschreitenden Entwicklung zu einem immer mehr mit einem einzelstaatlichen Parlament vergleichbaren Organ im Hinblick auf seine Kreation und seiner Rolle bei der Europäischen Gesetzgebung kann die Vorstellung einer demokratischen Parlamentssouveränität auf das Europäische Parlament indes nicht vollständig übertragen werden. So ist die immer wieder erhobene Forderung nach einer größeren demokratischen Legitimation der auf der Unionsebene ausgeübten Hoheitsgewalt – oder der damit einhergehenden Feststellung eines bestehenden demokratischen Legitimationsdefizits – und einer weiterführenden Ausweitung der Rechte des Parlaments eng mit dem angestrebten Endziel der Europäischen Union verbunden.329 Sofern nicht ein Europäischer Bundesstaat in der Entstehung begriffen ist, sind entsprechende Forderungen nach einem „Vollparlament“ als nicht strukturangepasst zu beurteilen. Vielmehr ist aufgrund des Charakters als einer Rechtsordnung sui generis auch ein Gleichgewicht eigener Art – etabliert durch Formen der Zusammenarbeit, der gegenseitigen Überwachung und Beratung – zwischen dem Europäischen Parlament und den anderen Organen und den demokratischen und föderalen Interessen als angemessen anzusehen. Im Rahmen der bereits bestehenden und insbesondere der ausschließlichen Zuständigkeitsbereiche der Gemeinschaft sollte gleichwohl ein weiterer Ausbau der Beteiligungsrechte des Europäischen Parlaments erfolgen. ___________ 328 EGMR Matthews ./. United Kingdom – Nr. 24833/94, RJD 1999-I, 251 (270), § 52 „As to the context in which the European Parliament operates, the Court is of the view that the European Parliament represents the principal form of democratic, political accountability in the Community system. The Court considers that whatever its limitations, the European Parliament, which derives democratic legitimation from the direct elections by universal suffrage, must be seen as that part of the European Community structure which best reflects concerns as to effective political democracy.“; Peterson/Bomberg, 44; Bieber in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV – Band 1, Art. 7 EGV, Rn. 35; Geiger, EUV/EGV, Art. 189 EGV, Rn. 3; Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 189 EGV, Rn. 6; Huber in: 38 EuR 2003, 574 (582); siehe auch allgemein di Fabio in: Handbuch des Staatsrechts – Band II, 613 (654). 329 Suski, 102; Streinz in: DVBl. 1990, 949 (958); Zuleeg in: 7 EuR 1972, 1 (13); Maurer in: Weidenfeld/Wessels, 63 (65) „Das Europäische Parlament erhält trotz dieser neuen Systemgestaltungsrechte nicht die Funktion eines zentralen Verfassungsgebers, weil darin eine Verselbständigung der Union liegen würde.“; Hartley, European Union Law in a Global Context, 41; Douglas-Scott, 134 „There are reasons for the continued limitations on the European Parliament. The EU is not a state and to increase the Parliament’s powers might be to run the risk of upsetting the institutional balance, the feature which prevents too much power being accumulated in any one EU institution.“

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Auch wenn es sich bei dem direkt gewählten Europäischen Parlament um das besonders für die Beteiligung an den Entscheidungsprozessen geeignete und legitimationsbegründende Organ handelt330, ist es zum jetzigen Zeitpunkt als noch nicht allein zur Legitimationsbegründung in der Lage anszusehen. Vielmehr bedarf es hierzu zusätzlich der nationalen Parlamente und ihrer mittelbaren Einflussnahme auf die nationalen Regierungsvertreter als Mitglieder des Ministerrates, so dass in diesem Bereich tatsächlich von einem „Kooperationsverhältnis“ der beiden Ebenen ausgegangen werden kann.331 Dieser Annahme steht auch nicht entgegen, dass seit Einführung der Direktwahl zum Europäischen Parlament 1979 die personelle Identität zwischen europäischen und nationalen Abgeordneten aufgegeben worden ist. Diese ersten deutlichen Demokratisierungsbemühungen sollten und konnten nicht „die Anerkennung der eigenständigen Legitimationsfähigkeit des Europäischen Parlaments bedeuten.“332 Eine erneute und deutliche Bestätigung fand die Vorstellung einer gemeinsamen demokratischen Legitimierung der Gemeinschaftshandlungen durch nationale wie supranationale Stellen auch durch Art. I-46 II der Verfassung, der erstmals die Überwachungsfunktion der nationalen Parlamente anspricht. Dass deren allgemeiner Einfluss auf die weitere Entwicklung der gemeinsamen europäischen Rechtsordnung zunehmen sollte, verdeutlichte insbesondere Art. IV-444, der ein vereinfachtes Änderungsverfahren im Rahmen der Gesetzgebung, aber nur bei unterbliebener Ablehnung desselben durch die nationalen ___________ 330 Reich, 87; EGMR Matthews ./. United Kingdom – Nr. 24833/94, RJD 1999-I, 251 (270) § 52 „(...) the Court is of the view that the European Parliament represents the principal form of democratic, political accountability in the Community system. The Court considers that whatever its limitations, the European Parliament, which derives democratic legitimation from the direct elections by universal suffrage, must be seen as that part of the European Community structure which best reflects concerns as to effective political democracy.“; Geiger, EUV/EGV, Art. 189 EGV, Rn. 7; siehe allgemein zur Bedeutung von Parlamenten als „besonderer diskursiver Ort“ di Fabio in: Handbuch des Staatsrechts – Band II, 613 (623). 331 BVerfGE 89, 155 (186) „Bereits in der gegenwärtigen Phase der Entwicklung kommt der Legitimation durch das Europäische Parlament eine stützende Funktion zu (...).“; Bieber in: ZEuS 1999, 141 (142) „Die Parlamente der Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament wirken auf unterschiedliche und auf sich verändernde Weise an der Errichtung der EU mit. Beide parlamentarischen Ebenen berühren sich, überschneiden sich teilweise und sind in unterschiedlichen Dimensionen miteinander verzahnt. Dieser Umstand kann Konflikte fördern, aber auch Legitimation verstärken.“; Huber in: 38 EuR 2003, 574 (594); Tiedtke, 152; Köppen, 190; Streinz, 112, Rn. 325; Papier in: EuGRZ 2004, 753 (756); Dashwood/Johnston in: 41 CMLRev. 2004, 1481 (1482); für weitere Schlussfolgerungen aus dieser Annahme einer zusätzlichen mittelbaren Legitimierung siehe nur zum einen Ress in: ZEuS 1999, 219 (220); zum anderen Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 681; Schliesky, 390; Zuleeg, Der rechtliche Zusammenhalt der Europäischen Union, 170. 332 So aber Bieber in: ZEuS 1999, 141 (150).

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Parlamente ermöglicht.333 Dieses Verfahren stellte demnach in gewisser Weise eine Umkehrung des bisherigen Prinzips der ausdrücklichen und positiven Einzelermächtigung dar. Ungeachtet dieses ausdrücklichen Bekenntnisses zu einem Demokratieverständnis der doppelten Legitimation erscheint gleichzeitig die Frage berechtigt, inwieweit eine derart durch Zusammenfassung von an sich getrennten Legitimationsquellen begründete demokratische Rechtfertigung der europäischen Hoheitsgewalt dauerhaft tragbar ist. Ob eine solche Annahme vor allem nicht in zunehmenden Widerspruch zu der ansonsten immer wieder – neben dem sui generis Charakter – betonten Eigenständigkeit der Europäischen Rechtsordnung steht, kann jedoch im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter erörtert werden.334

d) Bewertung der bisherigen Entwicklung Das in den Gründungsverträgen noch – in Anlehnung an den entsprechenden französischen Begriff – als „Versammlung“ bezeichnete Europäische Parlament hat einhergehend mit seiner schließlich auch vertraglich festgelegten Umbenennung durch die weiterführenden Vertragsänderungen immer mehr Rechte zur Mitwirkung am Europäischen Gesetzgebungsverfahren in den verschiedenen Politikbereichen hinzugewonnen.335 So wirken im Mitentscheidungsverfahren nach Art. 251 EGV der Ministerrat und das Europäische Parlament bei der Europäischen Gesetzgebung gleichberechtigt zusammen und tragen demnach ___________ 333 Siehe hierzu Papier in: EuGRZ 2004, 753 (754) „Die Änderung des Verfassungsvertrags bleibt also letztlich nach wie vor vom Willen der mitgliedstaatlichen Parlamente abhängig, nur sind diese im Falle der Ablehnung gezwungen, aktiv zu werden. Im Ergebnis ist mit dieser – durchaus ungewöhnlichen – Widerspruchsregelung der kritische Punkt der Kompetenz-Kompetenz wohl noch nicht berührt. Für die Zukunft wird man allerdings darauf achten müssen, dass sich die Form der vereinfachten Vertragsänderungsverfahren nicht zum Einfalltor für eine verdeckte Kompetenz-Kompetenz der Europäischen Union entwickelt.“ 334 Siehe für entsprechende Ansätze Bieber in: ZEuS 1999, 141 (144) „Der auf fortwährende Zustimmung der Betroffenen beruhende Zusammenschluss der europäischen Völker bedarf einer eigenständigen auf diesen Zusammenschluss bezogenen Legitimation. (...) Das Europäische Parlament bildet daher nicht nur ein beliebiges Teilelement im Legitimationsprozess der Union, sondern steht in dessen Zentrum.“; andererseits aber Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 645 „Zweitens wird Herrschaft in einem horizontal und vertikal untergliederten und verflochtenen System ausgeübt, weshalb die europäischen Institutionen und Verfahren nicht isoliert gesehen werden dürfen, sondern nur in Zusammenhang mit den mitgliedstaatlichen Organen und Verfahren, mit denen sie verwoben sind.“; Calliess in: JZ 2004, 1033 (1043); Tiedtke, 153. 335 Craig/de Burca, 75; von Buttlar, 190; Føllesdal in: Weale/Nentwich (Hrsg.), 34 (35); Lasok, 214; für eine Übersicht zu den Neuregelungen des Verfassungsvertrages Maurer in: Weidenfeld/Wessels (Hrsg.), 63 (69).

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gemeinsam die politische Verantwortung für die beschlossenen Maßnahmen. Wie schon Art. 251 V EGV stellte auch Art. I-34 I der Verfassung in diesem Zusammenhang nochmals ausdrücklich klar, dass ein Rechtsakt nach diesem Verfahren nicht als angenommen betrachtet werden kann, wenn Rat und Europäisches Parlament nicht zu einer entsprechenden Einigung gelangen. Zunächst erfordert dieses Verfahren einen Vorschlag der Europäischen Kommission, der im Weiteren vom Rat und Europäischen Parlament unabhängig voneinander geprüft wird. Dabei kommt dem Europäischen Parlament eine gewisse Vorrangstellung zu. Folgt es dem Kommissionsvorschlag oder schlägt es in seiner Stellungsnahme Änderungen vor, so hängt es nachfolgend von der Position des Rates ab, ob und gegebenenfalls nach wie vielen Lesungen der Rechtsakt angenommen wird. Meinungsunterschiede zwischen den beiden Organen werden regelmäßig in der zweiten Lesung, notfalls nach der Einschaltung eines Vermittlungssausschusses in der dritten Lesung beseitigt336. Im verkürzten Verfahren nach Art. 251 II EGV wird der jeweilige Rechtsakt schon in seiner ersten Lesung angenommen. Eine solche Verfahrensabkürzung ist möglich, wenn das Europäische Parlament in seiner Stellungnahme zwar Änderungen beschlossen hat, der Rat den vorgeschlagenen Rechtsakt aber in seiner abgeänderten Fassung mit qualifizierter Mehrheit annimmt. Neben dieser damit zumindest teils gleichwertig ausgestalteten Beteiligung des Europäischen Parlaments an der Gesetzgebung ist darüber hinaus seine Anhörung und Zustimmung zum Abschluss aller wichtigen internationalen Abkommen nach Art. 300 III EGV (nach der Verfassung Art. III-325 VI) sowie zu den Beitrittsverträgen mit neuen Mitgliedstaaten nach Art. 49 EUV (nach der Verfassung Art. I-58 II) erforderlich. Somit ist das Europäische Parlament an grundlegenden Entscheidungen für die weitere Entwicklung der Europäischen Union in angemessener Weise beteiligt. Auch durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hat es schließlich eine bedeutende materiellrechtliche wie verfahrensrechtliche Aufwertung erfahren.337 Gerade letzteres hat sich für die Bewahrung und Sicherung der bestehenden Rechte als von entscheidender Bedeutung erwiesen. Ungeachtet dieser Entwicklungen stehen ihm aber in einigen Politikbereichen immer noch nicht derart ausgeprägte Befugnisse zu, insbesondere im Bereich der Agrar-, Steuer- sowie Wettbewerbspolitik. Damit einhergehend stellt sich die Frage nach einer hinreichenden demokratischen Legitimation der in ___________ 336

Zum Mitentscheidungsverfahren siehe nur EuGH, Slg. 2006-1, I-403 (I-431) Rs. C-344/04 „IATA und ELFAA“ – Schlussanträge des GA L. A. Geelhoed. 337 Siehe für diese Entwicklungen unter Zugrundelegung des „institutionellen Gleichgewichts“ im Rahmen der vorliegenden Arbeit die nachfolgenden Ausführungen unter D.II.

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diesen Bereichen getroffenen Entscheidungen. Für die Beantwortung dieser Frage kann nicht – im deutlichen Unterschied zu entsprechenden Überlegungen im Hinblick auf den Gewaltenteilungsgrundsatz – auf andere wirksame Überwachungsmöglichkeiten verwiesen werden. Das Europäische Parlament ist mithin als dasjenige Organ anzusehen, bei dem der selbst vorgebrachte Anspruch als demokratische Vertretung und die tatsächlichen Einflussmöglichkeiten besonders augenfällig auseinanderfallen. Dahingehende Zweifel, ob es sich bei dem Europäischen Parlament tatsächlich um eine „Volksvertretung“ im mitgliedstaatlichen Sinne handelt, werden somit auch immer noch geäußert. Begründet werden derartige kritische Ansätze zum einen mit dem dem Europäischen Parlament fehlenden und anstatt dessen der Europäischen Kommission regelmäßig zukommenden Initiativrecht im Europäischen Gesetzgebungsverfahrens.338 Jedoch wird man unter Berücksichtigung nur dieses Umstandes allein dem sui generis Charakters der Gemeinschaftsrechtsordnung nicht vollständig gerecht.339 Zwar muss die Europäische Rechtsordnung schon bereits aufgrund ihrer diesbezüglichen Selbstverpflichtungen demokratischen Forderungen in angepasster Weise entsprechen, doch muss gleichzeitig die weitere Richtungsentscheidung für das gesamte Integrationsvorhaben gelöst werden.340 Sofern eine solche Entscheidung noch nicht herbeigeführt ist, müssen demokratietheoretische Überlegungen mit einer umfassenden qualitativen und quantita___________ 338

Siehe aber auch Douglas-Scott, 63 „The Commission has described itself as the driving force behind European integration, but it might be thought that this is an inappropriate role for an unelected body. However, the Commission has the advantage of relatively long terms of office and the benefit of no direct political influence or constraints (unlike national government ministries) so, in fact, it can be quite well-placed to shape and manage policy. It also has better access to information than the Council or the Parliament, being, as it has been described, at the hub of numerous highly specialised policy networks of technical experts designing detailed regulations.“; Schlieky, 407. 339 EGMR Matthews ./. United Kingdom – Nr. 24833/94, RJD 1999-I, 251 (269), § 48 „In determining whether the European Parliament falls to be considered as the legislature, or part of it, in Gibraltar for the purpose of Article 3 of Protocol No. 1, the Court must bear in mind the sui generis nature of the European Community, which does not follow in every respect the pattern common in many states of a more or less strict division of powers between the executive and the legislature. Rather, the legislative process in the EC involves the participation of the European Parliament, the Council and the European Commission.“; Zuleeg in: 7 EuR 1972, 1 (10); Tsatsos in: EuGRZ 2000, 517 (519). 340 Köppen, 190; Guazzaroni, 299 (301) „Certamente, nel valutare il ruolo del Parlamento Europeo, e più in generale delle Istituzioni previste dai Trattati di Parigi e di Roma, non possiamo ricollegarci agli schemi tradizionali di funzionamento e di ripartizione delle competenze tra i vari organi istituzionali operanti all’interno degli Stati moderni. È questa, d’altra parte, la riprova della novità della costruzione europea e, soprattutto, della volontà dei suoi promotori di operare attraverso strumenti originali, più confacenti agli ambiziosi obiettivi da perseguire.“

156 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

tiven Bewertung der einzelnen Parlamentsrechte einhergehen.341 Zusammenfassend lässt sich – zumindest im Bezug auf den Gewaltenteilungsgrundsatz – feststellen, dass durch die Vielzahl der dem Europäischen Parlament inzwischen eingeräumten Befugnisse dieses Organ zumindest in seinen Beziehungen zu den anderen Organen ein entsprechendes Gewicht gewonnen hat, dass es seine Funktionen – bisher teils noch zusammen mit den nationalen Parlamenten – ausreichend erfüllen kann.342 Darüber hinausgehende Versuche einer direkten Übertragung nationalstaatlicher Forderungen müssen demgegenüber als nicht angemessen beurteilt werden. So erscheint die Frage berechtigt, inwieweit die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments bei vollständiger Berücksichtigung des Grundsatzes der Erfolgswertgleichheit der abgegebenen Stimmen in der nun nochmals erweiterten Europäischen Union gewahrt werden kann.343 Schließlich sind auch die Auswirkungen einer zunehmenden Demokratisierung auf der Gemeinschaftsebene für die einzelnen Mitgliedstaaten und die für sie verbleibende demokratische Legitimation der von ihnen weiterhin ausgeübten Hoheitsgewalt ___________ 341 In diesem Sinne auch der EGMR, Matthews ./. United Kingdom – Nr. 24833/94 RJD 1999-I, 251 (269), § 49 „The Court must ensure that effective political democracy is properly served in the territories to which the Convention applies, and in this context, it must have regard not solely to the strictly legislative powers which a body has, but also to that body’s role in the overall legislative process.“; Bröhmer in: ZEuS 1999, 197 (205) „Die drei genannten Kriterien sind dabei nicht isoliert nebeneinander zu betrachten; vielmehr ist eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen.“ 342 Hallstein, United Europe, 27 „(...) despite the shortcomings inevitable in the evolutionary nature of the Community, the European Parliament is proving itself a real and positive force in the work of European Integration.“; Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 189 EGV, Rn. 8; Maurer in: Weidenfeld/Wessels (Hrsg.), 63 (70) „In den zentralen Wahl- und Rekrutierungsakten sowie bei den Legislativ- und Haushaltsverfahren entwickelt sich das Europäische Parlament zu einem dem Rat weitgehend gleichgestellten Organ.“; einschränkend Roos in: 33 Rechtstheorie 2002, 247 (269); im Übrigen siehe Josep Borrel in seinem Interview mit „Das Parlament“ Nr. 49 vom 29. November 2004, 13 auf die Frage: „Werden die Rechte des Europaparlaments nach Inkrafttreten der Verfassung endgültig vergleichbar mit denen nationaler Parlamente sein?“ – „Ich denke nicht, dass wir uns hier in Vergleichsbegriffen bewegen sollten. Wie Sie wissen, stärkt die Verfassung die Befugnisse des Europäischen Parlaments, indem sie es zum fast gleichberechtigten Gesetzgeber macht. Sie stärkt gleichzeitig die nationalen Parlamente, indem diese in den legislativen Prozess einbezogen werden. Ich bin mir des demokratischen Defizits in Europa bewusst. Es ist wahr, dass die nationalen Parlamente bis heute nur eine marginale Rolle in der europäischen Debatte spielen. Es ist daher wichtig, dass wir enger zusammenarbeiten. Diese Aufgabe ist einfach überfällig.“; für eine Bewertung der Bedeutung der Verfassungsreform für das Europäische Parlament siehe schließlich nur Weber in: EuR 2004, 841 (850f.). 343 Gegen entsprechende Befürchtungen siehe nur Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 668.

I. Die Organstruktur der Europäischen Union

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nicht zu vernachlässigen.344 Eine diese Entwicklung nicht berücksichtigende und damit zwangsläufig einseitige Behandlung eines auch durch das Europäische Parlament nicht vollkommen ausgleichbaren Demokratiedefizits auf der supranationalen Ebene könnte den weiteren Prozess der Integration insgesamt in Frage stellen.

2. Der Ministerrat Der Rat ist als das maßgebliche Vertretungsorgan der Einzelstaaten und ihrer Interessen auf der Gemeinschaftsebene anzusehen. Aufgrund seiner weitreichenden Einflussmöglichkeiten auf die allgemeine Entwicklung der Europäischen Union und die Ausgestaltung der einzelnen Politikbereiche kommt ihm auch im Verhältnis zu den anderen Organen eine zentrale Bedeutung zu.

a) Zusammensetzung Gemäß Art. 203 I EGV (nach der Verfassung Art. I-23 II) besteht der Rat aus je einem Vertreter jedes Mitgliedstaats auf Ministerebene, der befugt sein muss, für seine Regierung verbindlich zu handeln. Diese Befugnis richtet sich im Weiteren nach den jeweiligen einzelstaatlichen Bestimmungen. Über den ausdrücklichen Wortlaut des Art. 203 I EGV hinausgehend ist auch die Vertretung eines Mitgliedstaates durch einen Staatssekretär zulässig. Diese weitergehende Vertretungsmöglichkeit ist dabei als ein Beispiel für eine gewohnheitsrechtliche Weiterentwicklung des Gemeinschaftsrechts anzusehen.345 Eine Einflussnahme des Europäischen Parlaments auf die Besetzung des Ministerrates in vergleichbarer Weise wie bei dem zur Einsetzung einer neuen Europäischen Kommission führenden Verfahren ist nicht vorgesehen.

___________ 344 BVerfGE 89, 155 (186) „Entscheidend ist, dass die demokratischen Grundlagen der Union schritthaltend mit der Integration ausgebaut werden und auch im Fortgang der Integration in den Mitgliedstaaten eine lebendige Demokratie erhalten bleibt. Ein Übergewicht von Aufgaben und Befugnissen in der Verantwortung des europäischen Staatenverbundes würde die Demokratie auf staatlicher Ebene nachhaltig schwächen, so dass die mitgliedstaatlichen Parlamente die Legitimation der von der Union wahrgenommenen Hoheitsgewalt nicht mehr ausreichend vermitteln könnten.“; Kabel in: GS Grabitz 1995, 241 (245); Geiger, EUV/EGV, Art. 189 EGV, Rn. 6; Craig/de Burca, 75; Beetham/Lord in: Weale/Nentwich (Hrsg.), 15 (18); Huber in: 38 EuR 2003, 574 (595); Roos in: 33 Rechtstheorie 2002, 247 (264). 345 Streinz, 99, Rn. 281; Borchardt, 117, Rn. 269; Wichard in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 203, Rn. 6; Geiger, EUV/EGV, Art. 203 EGV, Rn. 2; Lasok, 248.

158 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

Die Vereinbarkeit dieser Besetzung des auch gesetzgeberisch tätig werdenden Rates mit mitgliedstaatlichen Regierungsvertretern mit den üblichen Inkompatibilitätsregelungen ist wiederholt bezweifelt worden.346 Doch muss es fraglich erscheinen, inwieweit diese Forderungen überhaupt vollständig auf die Gemeinschaftsrechtsordnung übertragen werden können. So könnte dieser mögliche Widerspruch dadurch gelöst werden, dass die Exekutivzugehörigkeit der Ratsmitglieder auf einer anderen Ebene oder die Eigenständigkeit der Europäischen Rechtsordnung in den Vordergrund gestellt wird und demnach insgesamt ein Verständnis dahingehend zugrunde zu legen ist, dass der Gewaltenteilungsgrundsatz in seiner Bedeutung auch jeweils nur für eine Ebene und damit in einem Herrschaftssystem Berücksichtigung zu finden hat. Sofern eine solche Bewertung unter Berücksichtigung der bestehenden engen Beziehungen der beiden Ebenen untereinander als nicht angemessen angesehen werden sollte, könnte aber die Vereinbarkeit dieser Ratszusammensetzung mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz auch immer noch durch eine stärkere Orientierung an den ursprünglichen Vorstellungen Montesquieus begründet werden. So ist danach bereits in einem geschlossenen Herrschaftssystem die Wahrnehmung bestimmter Aufgaben ausdrücklich durch Vertreter anderer Gewalten vorgesehen, unter anderem bei der Übertragung bestimmter Rechtsprechungsbefugnisse an die mit Vertretern des Adels besetzte Legislativkammer. Zwar lässt sich die von Montesquieu für diese Abweichung angeführte Begründung nicht vollständig auf die Gemeinschaftsrechtsordnung übertragen. Doch bleibt zu beachten, dass der Rat gleichwohl keineswegs allein für die Gesetzgebung zuständig ist. Die geltende Regelung der personellen Besetzung des Rates kann somit als mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz vereinbar angesehen werden. Beim Ministerrat handelt es sich ferner nicht um ein immer in gleicher Besetzung zusammenkommendes Organ. Vielmehr ist seine personelle Zusammensetzung jeweils abhängig vom einzelnen Fachbereich – beispielsweise der Landwirtschaft, Fischerei, Justiz und Inneres oder Wirtschaft und Finanzen.347 Darüber hinaus kommt der Rat jeweils nach Art. 2 II Geschäftsordnung des Rates als „Rat für Allgemeine Angelegenheiten“ – nach der Verfassung in Art. ___________ 346 Siehe nur Geiger, EUV/EGV, Art. 189 EGV, Rn. 6 „Zum einen handelt es sich bei der unmittelbar in den innerstaatlichen Bereich hineinwirkenden Rechtsetzungstätigkeit des Rates um eine Tätigkeit der vereinigten nationalen Exekutiven, die auf dem Umweg über den Rat die ihnen im Sinne der Gewaltenteilungslehre nicht zustehende Funktion des Gesetzgebers übernommen haben.“ 347 Dashwood/Johnston in: 41 CMLRev. 2004, 1481 (1502); Peterson/Bomberg, 35; Lasok, 248; Craig/de Burca, 66; Wichard in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 203 EGV, Rn. 7; Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften – Band I, 406 „Als Gemeinschaftsorgan ist der Rat juristisch stets identisch; seine Gestalt und seine personelle Besetzung sind hingegen unterschiedlich; denn diese hängen von den Beratungsthemen der jeweiligen Ratstagung ab.“

I. Die Organstruktur der Europäischen Union

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I-24 II – zur Behandlung fachübergreifender Angelegenheiten zusammen, um die einzelnen Treffen der verschiedenen Fachminister aufeinander abzustimmen. Vorbereitet werden die Arbeiten des Rates nach Art. 207 EGV durch ein Hilfsorgan, den Ausschuss der ständigen Vertreter, dessen Bedeutung nicht unterschätzt werden sollte. Den Vorsitz des Rates nimmt schließlich gemäß Art. 203 II EGV jeweils ein Mitgliedsstaat nach einem festgelegten Rotationsprinzip für ein halbes Jahr wahr. Danach soll im Interesse einer ausgeglichenen Allgemeinleitung der Vorsitz abwechselnd von einem großen und einem kleinen Mitgliedstaat wahrgenommen werden.348 Der Ratsvorsitz ermöglicht – trotz des relativ kurzen Zeitraumes – jedem Mitgliedsstaat auf die von ihm als besonders wichtig angesehenen Angelegenheiten zusätzliche Aufmerksamkeit zu lenken. So benannte beispielsweise die Niederlande als Prioritäten für ihren Ratsvorsitz für die zweite Jahreshälfte 2004: „The priorities of the Dutch presidency of the European Union in the second half of this year are, in brief, the enlargement of the European Union, the sustainable growth of the European economy, security, a sound European multi-annual budget and a more effective role for the EU in the world. The Netherlands also plans to start a debate with the Union’s citizens and governments on how to advance European integration and cooperation and on common European values.“349 Ungeachtet der Weite und auch gewissen Unbestimmtheit der meisten dieser gesetzten Ziele ist die besondere Aufmerksamkeit, die dem Dialog mit den Bürgern sowie auch den neuen Mitgliedstaaten – gerade durch eines der Gründungsmitglieder – dementsprechend zukommen soll, sehr zu begrüßen. Schließlich bietet der wechselnde Ratsvorsitz den einzelnen Mitgliedstaaten die Möglichkeit, sich in allgemeiner Form der interessierten europäischen Öffentlichkeit zu präsentieren. So ist es nicht unüblich, dass das den Ratsvorsitz innehabende Land neben Angaben über sein jeweiliges politisches System, die wirtschaftliche Entwicklung und das Bildungswesen auch Berichte über kulturelle wie sportliche Ereignisse veröffentlicht. Damit ___________ 348

Siehe 95/2 Euratom, EGKS: Beschluss des Rates vom 1. Januar 1995 zur Festlegung der Reihenfolge für die Wahrnehmung des Vorsitzes im Rat, insbesondere Artikel 1 (1): „Der Vorsitz im Rat wird wie folgt wahrgenommen: – im ersten Halbjahr 1995 von Frankreich, – im zweiten Halbjahr 1995 von Spanien,– in den darauffolgenden Halbjahren von den folgenden Mitgliedstaaten nacheinander in folgender Reihenfolge: Italien, Irland, den Niederlanden, Luxemburg, dem Vereinigten Königreich, Österreich, Deutschland, Finnland, Portugal, Frankreich, Schweden, Belgien, Spanien, Dänemark, Griechenland.“; siehe die weiterführende Bewertung des Rotationsprinzips bei Hartley, The Foundations of European Community Law, 19 „In recent years, the Presidency has become increasingly important, and the Member States compete with each other to achieve maximum progress during their term of office.“; Craig/de Burca, 67. 349 Eine Übersicht der verschiedenen Ratsprogramme ist abrufbar unter: http:// www.europa.eu.

160 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

wird die Gelegenheit, das gegenseitige Interesse an Entwicklungen in den einzelnen Mitgliedstaaten zu erhöhen und die Herausbildung eines Bewusstseins für bestehende Gemeinsamkeiten in der Europäischen Union zu fördern, gezielt wahrgenommen. Um die Handlungsfähigkeit des Ministerrates auch unter den durch die letzten Erweiterungen veränderten Bedingungen weiterhin aufrecht zu erhalten, sollte die Regelung betreffend des Vorsitzes zunächst grundlegend umgestaltet werden. Da jedoch eine Mehrheit der Mitgliedstaaten an der wechselnden Präsidentschaft des Rates festhalten wollte, fand der Grundsatz einer gleichberechtigten Rotation in Art. I-24 VII der Verfassung in Verbindung mit der „4. Erklärung zu Art. I-24 Absatz 7 zu dem Beschluss des Europäischen Rates über die Ausübung des Vorsitzes im Rat“ eine erneute Bestätigung. Zwar sind Einzelheiten bezüglich des Rotationsprinzips noch durch einen mit qualifizierter Mehrheit zu fassenden Beschluss des Europäischen Rates festzulegen. Diese Vorgehensweise bietet im Übrigen den entscheidenden Vorteil, dass bei entsprechendem Änderungsbedarf keine gleichzeitige Verfassungsänderung notwendig ist. Doch war der „4. Erklärung zu Art. I-24 Absatz 7 zu dem Beschluss des Europäischen Rates über die Ausübung des Vorsitzes im Rat“ bereits ein Entwurf eines solchen europäischen Beschlusses beigefügt, dessen Art. 1 I die gemeinsame Vorsitzausübung durch drei Mitgliedstaaten für den Zeitraum von 18 Monaten vorsieht.350 Damit sollte die bisher schon übliche Zusammenarbeit zwischen den drei jeweils nachfolgenden Mitgliedstaaten vertraglich festgelegt und noch weiter verstärkt werden. Die im Rahmen der Neuregelung der Vorsitzausübung im Ministerrat aufgetretenen erheblichen Interessenkonflikte unter den Mitgliedstaaten zeigen schließlich wiederum deutlich, welche Bedeutung teils auch rein formalen Regelungen zukommen kann.

b) Tätigkeitsbereiche Der Ministerrat ist gemäß Art. 202 EGV (nach der Verfassung Art. I-23 I mit einer leicht veränderten Beschreibung der Aufgabenbereiche) für eine Abstimmung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten untereinander zustän___________ 350 Art. 1 I des „Entwurf eines Europäischen Beschlusses des Europäischen Rates über die Ausübung des Vorsitzes im Rat“ lautet: „Der Vorsitz im Rat außer in der Zusammensetzung „Auswärtige Angelegenheiten“ wird von zuvor festgelegten Gruppen von drei Mitgliedstaaten für einen Zeitraum von 18 Monaten wahrgenommen. Die Gruppen werden in gleichberechtigter Rotation der Mitgliedstaaten unter Berücksichtigung ihrer Verschiedenheit und des geographischen Gleichgewichts innerhalb der Union zusammengestellt.“

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dig351, besitzt eine Entscheidungsbefugnis und kann der Kommission Durchführungsbefugnisse im Hinblick auf von ihm erlassene Rechtsakte übertragen352. Allgemein kommen ihm demnach (so ausdrücklich Art. I-23 I der Verfassung) Gesetzgebungsbefugnisse zu, die er gemeinsam mit der Europäischen Kommission wie dem Europäischen Parlament ausübt. Seine Funktion als gesetzgebendes Organ stellt ein Grundprinzip der Gemeinschaftsrechtsordnung dar.353 Zwar ist er in seinem Tätigwerden zunächst von einem Vorschlag der Europäischen Kommission abhängig. Unterbleibt ein solcher jedoch, besteht für den Rat die Möglichkeit nach Art. 208 EGV (nach der Verfassung Art. III-345), die Kommission zur Unterbreitung entsprechender Vorschläge aufzufordern. Dieses Recht hatte in der Verfassung noch eine weitere erkennbare Verstärkung dadurch erfahren, dass die Kommission bei einer vom Rat abweichenden Beurteilung der Notwendigkeit einer Regelung diesem ihre Gründe mitteilen muss und demnach gegenüber einem anderen Organ Rechenschaft ablegen muss. Im Hinblick auf die im Rat zu treffenden Abstimmungen, bei denen die einzelnen Ratsmitglieder der mitgliedstaatlichen Rückbindung unterliegen, ist schließlich die in Art. 205 II EGV näher dargelegte Stimmgewichtung zu beachten. Diese für qualifizierte Mehrheitsentscheidungen geltende Stimmgewichtung ist in ihrer jeweiligen Ausgestaltung – in vergleichbarer Weise wie die jedem Mitgliedstaat im Europäischen Parlament zugewiesene Abgeordnetenzahl – immer wieder Gegenstand von Reformansätzen gewesen. So führt auch die bisherige Stimmgewichtung im Rat zu einer besonderen Sicherung der Einflussrechte für kleinere Mitgliedstaaten auf den weiteren Integrationspro___________ 351 Wichard in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 202 EGV, Rn.3; Streinz, 102, Rn. 291 „Dies ist eine der bedeutsamsten Aufgaben, da unterschiedliche Wirtschaftspolitiken eine Gefahr für die Gemeinschaft in einem einheitlichen Wirtschaftsraum darstellen.“ 352 Zu den unter Berücksichtigung des institutionellen Gleichgewichts zu stellenden Anforderungen an eine ablehnende Übertragungsentscheidung des Rates siehe nur EuGH, Slg. 2005-1, I-345 (I-361) Rs. C-257/01 „Kommission/Rat“ – Schlussanträge des GA P. Leger. 353 Hayes-Renshaw in: Peterson/Shackleton, 47 (53); Peterson/Bomberg, 32; Craig/de Burca, 69; Lasok, 247; Hartley, The Foundations of European Community Law, 19; Huber in: 38 EuR 2003, 574 (579); Streinz, 100, Rn. 287; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 681; Oppermann, 97, Rn. 67; einschränkend Dashwood in Curtin/Heukels, 117 (117) „The Council is sometimes referred to as the Community legislator but that is doubly misleading. On the one hand, the Community does not have a legislature but a legislative process to which other institutions and organs, besides the Council, variously contribute. On the other hand, a glance at the multifarious provisions of the treaties conferring powers on the Council shows that its functions are by no means confined to legislation.“

162 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

zess.354 Ungeachtet aller möglichen Bewertungen dieser Ausgestaltung der Abstimmungen muss in diesem Zusammenhang die grundlegende Frage zulässig sein, inwieweit diese Staaten ansonsten überhaupt zu einer Teilnahme bereit gewesen wären oder nach einer entsprechenden Veränderung weiterhin die notwendige Bereitschaft hierzu aufbringen würden. Um indes auf die im Hinblick auf die Erweiterung der Europäischen Union nochmals erheblich veränderten Machtverhältnisse und auch auf die zunehmenden allgemeinen Demokratisierungsbemühungen hinsichtlich der Entscheidungsfindung angemessen zu reagieren, findet sich nun in Art. 205 IV EGV (nach der Verfassung Art. I-25 ohne das Erfordernis eines gesonderten Antrags) eine stärkere Berücksichtigung der Bevölkerungszahlen bei qualifizierten Mehrheitsbeschlüssen.355 Doch wurde mit der in Art. I-25 der Verfassung enthaltenen Regelung der qualifizierten Mehrheitsbeschlüsse nicht nur ein weitergehender Einfluss der bevölkerungsstarken Mitgliedstaaten gewährleistet. Mit der nachfolgenden Bestimmung der Sperrminorität wurde darüber hinaus gleichzeitig die Notwendigkeit der Kompromissfindung zwischen größeren und kleineren Mitgliedstaaten festgelegt. Im Übrigen führte Art. I-25 II der Verfassung zu einer gewissen Neubestimmung des Verhältnisses zwischen dem Ministerrat und der Europäischen Kommission. Sofern der Ministerrat danach von einem Vorschlag der Kommission abzuweichen beabsichtigte, waren die Anforderungen an eine gemeinsame nachfolgende Beschlussfindung im Ministerrat nochmals höher angesetzt und ein flexibles Gleichgewicht zwischen den mitgliedstaatlichen Interessen und dem Gemeinschaftsinteresse somit etabliert. Bei einfachen Mehrheitsentscheidungen, die jedoch entgegen dem in dieser Hinsicht irreführenden Wortlaut sowie der Systematik des Art. 205 EGV keineswegs den Regelfall darstellen, hat jedes Ratsmitglied bereits nur eine Stimme.356 Für Bereiche, die in besonderer Weise die Souveränität der Einzelstaaten berühren, ist darüber ___________ 354 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 683 „Die Stimmenwägung im Rat wird als Kompromiss zwischen Staatengleichheit und Unionsbürgergleichheit interpretiert.“; Huber in: 38 EuR 2003, 574 (578); Føllesdal in: Weale/Nentwich (Hrsg.), 34 (43); Hartley, European Union Law in a Global Context, 32; Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften – Band I, 429 „Die Grunderwägung bei der Stimmverteilung nach dem Stimmwägungssystem beruht auf Gründen rein politischer Opportunität.“ 355 Hayes-Renshaw in: Peterson/Shackleton, 47 (58); Dashwood/Johnston in: 41 CMLRev. 2004, 1481 (1495); Huber in: 38 EuR 2003, 574 (578); Streinz, 104, Rn. 302; Papier in: EuGRZ 2004, 753 (756); Monar in: Griller/Hummer (Hrsg.), 41 (64) „Die neue Stimmgewichtung bedeutet zumindest einen ersten Schritt in Richtung auf eine größere Proportionalität zur Bevölkerungszahl und reduziert das in den letzten Jahren gewachsene Spannungspotential zwischen großen und kleinen Mitgliedstaaten.“ 356 Demgegenüber fand sich in der Verfassung in Art. I-23 III folgende Grundaussage: „Soweit in der Verfassung nichts anderes festgelegt ist, beschließt der Rat mit qualifizierter Mehrheit.“

I. Die Organstruktur der Europäischen Union

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hinaus weiterhin Einstimmigkeit erforderlich. Es ist damit als wahrscheinlich anzusehen, dass die Beschlussfassung im Rat sich aufgrund der mit den letzten Erweiterungen noch erhöhten Heterogenität der in der Europäischen Union nunmehr versammelten Staaten und den damit einhergehenden Interessengegensätzen zunehmend schwieriger gestalten wird. Neben den weitreichenden Gesetzgebungsbefugnissen übt der Ministerrat gemeinsam mit dem Europäischen Parlament die Haushaltsbefugnisse aus. So stellt der Rat entsprechend Art. 272 III EGV (nach der Verfassung Art. III-404) den Entwurf des Haushaltsplanes auf und leitet diesen an das Europäische Parlament weiter, das seine Zustimmung erteilen muss und dem demnach die Befugnis zur endgültigen Feststellung zukommt. Neben der gemeinsamen Aufstellung überwachen der Rat und das Europäische Parlament fortlaufend die weitere Einhaltung des Haushaltsplans bei seiner Ausführung durch die Europäische Kommission. So muss die Europäische Kommission nach Art. 275 EGV (nach der Verfassung Art. III-408) die Rechnungsvorgänge des Haushaltsplans vorlegen. Weiterhin müssen der Ministerrat und das Europäische Parlament ihr nach Art. 276 EGV (nach der Verfassung Art. III-409) zur Ausführung des Haushaltsplans die Entlastung erteilen. Der Rat ist weiterhin gemäß Art. 210 EGV für die Festsetzung der Vergütung der Mitglieder der verschiedenen Organe der Europäischen Union zuständig. Neben diesen Haushaltsbefugnissen kommen dem Rat insbesondere im Bereich der Außenbeziehungen nach Art. 300 EGV (nach der Verfassung Art. III325) entscheidende Gestaltungsrechte zu. Gleiches gilt für die noch intergouvernmental ausgestalteten Bereiche der Europäischen Union, die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen wie auch der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.357 Weiterhin kann der Ministerrat – wie auch die anderen Beteiligten – die Tätigkeit der anderen Organe gegebenenfalls auf ihre Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht gerichtlich überprüfen lassen. Schließlich ist er für die allgemeine Politikfeststellung und Koordinierung zuständig. Im Rat vollzieht sich demnach der notwendige Ausgleich der Einzelinteressen der Mitgliedstaaten und des Gemeinschaftsinteresses.358 ___________ 357

Oppermann, 97, Rn. 64; Cremer in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 13 EUV, Rn. 1; Suhr in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 32 EUV, Rn. 1; Streinz, 103, Rn. 298. 358 Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, 63; Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften – Band I, 366; Dashwood in: Curtin/Heukels, 117 (134) „In summary, that implies: a place for the representatives of those wielding political powers in the Member States at the centre of Community/Union decision-making; a process of decision-making by negotiations in which the reconciliation of national interests is mediated through interactions with the other Community institutions; a certain indirectness in the democratic input of decisions; and limits on the degree to which the process can

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Eine weitere Konkretisierung und übersichtliche Zusammenfassung der Tätigkeitsbereiche des Ministerrates war im Übrigen durch die Verfassung vorgesehen. Danach ist der Ministerrat gemäß Art. I-23 I – aber auch schon nach dem zuvor im Zusammenhang mit dem Europäischen Parlament angesprochenen Art. I-20 I – als Gesetzgeber tätig und übt gemeinsam mit ihm die Haushaltsbefugnisse aus. Für letztere Aufgabe regeln die Art. III-404 bis Art. III-409 der Verfassung seine Arbeitsweise näher.

c) Weiterführende Funktion Eine Zusammenschau der einzelnen Aufgaben des Ministerrates und seiner personellen Besetzung macht deutlich, dass es sich bei diesem Organ – in Anlehnung an die einzelstaatlichen politischen Systeme – zum einen um die Regierung der Europäischen Union handelt.359 Im Gesetzgebungsverfahren kommt dem Ministerrat zum anderen regelmäßig die abschließende Entscheidungsbefugnis zu, so dass er als das Hauptrechtssetzungsorgan anzusehen ist. Lediglich in dem Verfahren der Mitentscheidung nach Art. 251 EGV kann eine Verweigerung derselben durch das Europäische Parlament das Zustandekommen eines europäischen Rechtsaktes endgültig verhindern. Abgesehen vom Verfahren der Zustimmung kann ansonsten demnach eine jeweilige Entscheidung des Europäischen Parlaments bei entsprechenden Mehrheitsverhältnissen im Rat überstimmt werden. Im Weiteren sind die Koordinierung der verschiedenen Politikbereiche und die zukünftige Richtungs- wie Zielbestimmung für die weitere Entwicklung des europäischen Integrationsprozesses von entscheidender Bedeutung. Zwar werden diese Aufgaben auch von der Europäischen Kommission wahrgenommen. Ohne eine entsprechende Unterstützung durch die Mitgliedstaaten führen deren Empfehlungen jedoch nicht notwendig zu Ergebnissen. So können nur im Rat die verschiedenen Vorstellungen der einzelnen Mitgliedstaaten zur weiteren Entwicklung des Integrationsprozesses zunächst erörtert werden, um nach einer entsprechenden Abstimmung als Grundlage konkreter Ent___________ be opened up to the public gaze.“; zur wichtigen Vorbereitungsarbeit durch die COREPER siehe nur Peterson/Bomberg, 35. 359 Bieber in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV – Band 1, Art. 7 EGV, Rn. 36 „Gleichzeitig wird damit die Rolle des Rates als zentrales Steuerungsorgan der EG unterstrichen. Er ist Teil-Gesetzgeber, ohne jedoch den im staatlichen Bereich üblichen Kontrollsystemen der Gesetzgebung (Öffentlichkeit, Möglichkeit der Abwahl) zu unterliegen.“; Oppermann 97, Rn. 66; siehe aber auch die deutliche und grundlegende Aussprache gegen eine solche Betrachtungsweise bei Dashwood in: Curtin/Heukels, 117 (117) „Indeed, the whole tendency to equate Community institutions with familiar national institutions or to regard them as evolving naturally towards those models, seems thoroughly misconceived to the present writer.“

I. Die Organstruktur der Europäischen Union

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scheidungen zu dienen.360 Schließlich kommt dem jeweiligen Ratspräsidenten – neben dem Kommissionspräsidenten und teils auch dem Präsidenten des Europäischen Parlamentes – häufig die Aufgabe zu, die Europäische Gemeinschaft nach außen zu vertreten. Die damit deutlich werdende besondere Bedeutung des Rates im Verhältnis zu den anderen Organen wird jedoch dadurch eingeschränkt, dass er bei seinen Tätigkeiten zum einen der Überwachung der anderen Beteiligten ausgesetzt ist. Zum anderen kann eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit seiner Handlungen vor dem Europäischen Gerichtshof angestrengt werden, so dass institutionell zumindest kein Ungleichgewicht im Sinne eines deutlichen und mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz nicht zu vereinbarenden Unter-Überordnungsverhältnis festzustellen ist. Seine weitreichenden Einflussrechte lassen sich schließlich bisher gerade durch seine Funktion als mitgliedstaatliche Interessenvertretung in der Gemeinschaftsrechtsordnung begründen. Solange für den Europäischen Integrationsprozess das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und der Subsidiaritätsgrundsatz wie die Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten kennzeichnend ist, ist die bisherige Stellung des Rates somit als angemessen zu beurteilen.

d) Bewertung der bisherigen Entwicklung Auch wenn der Ministerrat dasjenige Organ ist, das schon aufgrund seiner personellen Zusammensetzung der mitgliedstaatlichen Rückbindung in besonderer Weise unterliegt, handelt es sich doch ebenfalls um ein Gemeinschaftsorgan. Schon aufgrund des allgemeinen und in Art. 10 EGV (nach der Verfassung Art. I-5 II) ausdrücklich niedergelegten Grundsatzes der Gemeinschaftstreue sind die einzelnen Mitgliedstaaten demnach verpflichtet, auch durch ihre Arbeit im Ministerrat die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaftsrechtordnung sicherzustellen. Die von Frankreich in den 60er Jahren betriebene Politik des „leeren Stuhls“, die zu einer vollständigen Lähmung des Integrationsprozesses führte und erst durch den „Luxemburger Kompromiss“361 vom 29. Januar 1966 ein ___________ 360 Kugelmann in: Streinz, EUV/EGV, Art. 211 EGV, Rn. 4; Dashwood in: Curtin/Heukels, 117 (126); Douglas-Scott, 74 „It is the main political and legislative institution of the European Union and the nearest to what one finds in a conventional international organisation, depending as much on diplomacy and bargaining among representatives of national interest as on collegiate interactions.“ 361 Streinz, 104, Rn. 304; Peterson/Bomberg, 49; Lasok, 257; Constantineso, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften – Band I, 432; Hartley, The Foundations of European Community Law, 23ff.; Wichard in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 205 EGV, Rn. 8f.; Stern in: Liber amicorum Thomas Oppermann 2001, 143 (151).

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Ende fand, ist mit diesem Verständnis der Funktion des Ministerrates im institutionellen Rahmen nicht vereinbar. Eine entsprechende Situation könnte jedoch aufgrund der unterbliebenen Änderung der entsprechenden Bestimmungen erneut auftreten. So steht einer Beschlussfassung durch den Ministerrat zwar nach Art. 205 III EGV (nach der Verfassung Art. III-344 III) nicht die Stimmenthaltung durch einen Mitgliedstaat entgegen. Jedoch kommt ein Beschluss des Rates nicht zustande, wenn ein Mitglied weder anwesend ist, noch sich gemäß Art. 206 EGV (nach der Verfassung Art. III-343 I) durch einen anderen Staat, dem er sein Stimmrecht übertragen hat, vertreten lässt.362 Zwar kann die Festschreibung einer Anwesenheitspflicht für die jeweiligen Vertreter der einzelnen Mitgliedstaaten oder auch die verbindliche Anordnung einer Stimmrechtsübertragung bei einer grundsätzlich fehlenden Bereitschaft eines Staates zur weiteren Mitwirkung am Integrationsvorhaben langfristig keine wirksame Regelung darstellen. Doch ist demnach unter den geltenden Bestimmungen immer noch die auch rechtlich anerkannte Möglichkeit gegeben, dass ein Mitgliedsstaat auf dem Wege der verweigerten Mitwirkung seine spezifischen Interessen durchsetzen kann. Gleiches gilt im Übrigen für ein systematisches Abstimmungsverhalten derart, dass regelmäßig eine von der Mehrheit abweichende Stimmgabe bei allen noch Einstimmigkeit erfordernden Abstimmungen im Rat erfolgt. Dass es sich bei letzterem nicht nur um eine theoretische Möglichkeit handelt, zeigt die vom Vereinigten Königreich gewählte Vorgehensweise nach den zur Bekämpfung der Maul- und Klauenseuche gegenüber britischem Rindfleisch 1996 verhängten Handelsbeschränkungen.363 Abschließend festzustellen ist demnach, dass vor derartigen Vorgehensweisen einzelner Mitgliedstaaten der Ministerrat sowie die Gemeinschaftsrechtsordnung insgesamt mit rechtlichen Mitteln nicht wirksam geschützt werden können. Vielmehr zeigt sich in diesen Verhaltensmöglichkeiten, dass ungeachtet der erheblichen Integrationstiefe, die inzwischen in der Europäischen Union bereits erreicht worden ist, die Mitgliedstaaten in diesem Sinne weiterhin als „Herren der Verträge“ anzusehen sind. Verstärkend kommt hinzu, dass mit den letzten Erweiterungen, denen noch weitere folgen sollen, aufgrund der geringeren Homogenität der Staaten untereinander und der zu erwartenden größeren Interessengegensätze hinsichtlich gemeinsamer Vorgehensweisen eine zukünftige Konsensfindung weiter erschwert wird. So ergeben sich aufgrund der erhebli___________ 362 Wichard in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 205 EGV, Rn. 7; Ummer/Obwexer in: Streinz, EUV/EGV, Art. 205 EGV, Rn. 7; Oppermann, 94, Rn. 55; Borchardt, 123, Rn. 295. 363 Zur gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit des am 27. März 1996 mit der Entscheidung 96/239 der Kommission in deren Art. 1 verhängten Importverbots gegenüber britischem Rindfleisch – im Rahmen der allgemein vorgesehenen Dringlichkeitsmaßnahmen zum Schutz vor BSE – siehe nur EuGH, Slg. 1996-7, I-3903 (I-3935) Rs. C-180/96 R „Vereinigtes Königreich/Kommission“.

I. Die Organstruktur der Europäischen Union

167

chen politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen wie kulturellen Unterschiede gewisse Folgefragen im Hinblick auf die Entscheidungsfähigkeit, Handlungsfähigkeit sowie die weitere Integrationsfähigkeit im Allgemeinen. Aber auch ungeachtet dieser Veränderungen ist die Europäische Union schon zuvor nicht nur im Hinblick auf ihre Errichtung, sondern auch die weitere Geltung der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen von deren Beachtung und vor allem Umsetzung durch die Mitgliedstaaten abhängig gewesen. Wie in jeder Rechtsordnung finden auch auf europäischer Ebene die rechtlichen Möglichkeiten zur Beeinflussung von Handlungsweisen ihre deutlichen Grenzen im politischen Bereich. So verfügt die Europäische Union gegenüber einem sich im Einzelfall verweigernden Mitgliedstaat über keine unmittelbaren Zwangsmittel. Zwar kann der Europäische Gerichtshof im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 228 II EGV (nach der Verfassung Art. III-362 II) nachträglich Zwangsgelder verhängen, um die Befolgung eines Urteils zu erzwingen. Zahlt der Mitgliedstaat nicht, ist aber die Wirkungsweise auch dieser Maßnahme begrenzt. Auch seine mit der Entscheidung Andrea Francovich u.a. gegen die Italienische Republik364 begründete Möglichkeit eines darüber hinausgehenden staatshaftungsrechtlichen Anspruchs des einzelnen Betroffenen gegenüber dem jeweiligen Mitgliedstaat bleibt in ihrer Wirksamkeit vorrangig und endgültig von der Anwendung durch die nationalen Gerichte abhängig. Eine gewisse Lösung für derartige, wohl kaum anders zu klärende Konflikte bot die in der Verfassung mit Art. I-60 I aufgenommene ausdrückliche Möglichkeit des Austritts eines Staates. Damit wurde gleichzeitig deutlich, dass die Vorstellung einer bestimmten Zielrichtung im Sinne einer Finalität der Mitgliedschaft in der Europäischen Union – wie sie noch deutlich in der Präambel des Vertrages über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 in Erscheinung getreten ist365 – nicht mehr vollständig aufrechterhalten wurde, sondern vielmehr eine realistische Betrachtung der zu erwartenden Entwicklungen insgesamt eingesetzt hat. So ist der Austritt eines Mitgliedstaates, der zumindest zum Zeitpunkt seines Beitrittes zur Europäischen Union seine Bereitschaft zur Mitwirkung und Unterstützung der gemeinsamen Werte und Vorhaben deutlich zu erkennen ge-

___________ 364 EuGH, Slg. 1991, I-5357 (I-5414) Rs. C-6/90 und C-9/90 „Francovich u.a.“ „Die Möglichkeit einer Entschädigung durch den Mitgliedstaat ist vor allem dann unerlässlich, wenn die volle Wirkung der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung wie im vorliegenden Fall davon abhängt, dass der Staat tätig wird, und der einzelne deshalb im Falle einer Untätigkeit des Staates die ihm durch das Gemeinschaftsrecht zuerkannten Rechte vor nationalen Gerichten nicht geltend machen kann.“ 365 Siehe nur den letzten Erwägungsgrund „Im Hinblick auf weitere Schritte, die getan werden müssen, um die europäische Integration voranzutreiben, haben beschlossen, eine Europäische Union zu gründen (...).“

168 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

geben hat, immer noch als erheblich vorteilhafter als das Scheitern des gesamten Integrationsvorhabens zu bewerten.366 Im Rahmen einer allgemeinen Bewertung der bisherigen Entwicklung stellt sich aufgrund der allgemein zunehmenden Ausweitung der Gemeinschaftsbefugnisse und damit auch der Rechtssetzungskompetenzen des Ministerrates – und trotz der thematischen Begrenzung der vorliegenden Arbeit auf das „institutionelle Gleichgewicht“ – im Weiteren die Frage nach einer ausreichenden demokratischen Legitimation seiner Beschlüsse.367 So ist schon im Rahmen der vorangegangenen Beschäftigung mit dem Europäischen Parlament offensichtlich geworden, dass dieses Organ zu einer alleinigen demokratischen Legitimation der auf der Gemeinschaftsebene ausgeübten Hoheitsgewalt bisher und auch in absehbarer Zukunft nicht in der Lage sein wird. Da es sich bei den Mitgliedern des Ministerrates nicht um unmittelbar für ihre Gemeinschaftstätigkeiten gewählte Vertreter handelt, sondern sie ihre Legitimation aus den nationalen Wahlen beziehen, ist gerade im Hinblick auf ihre Tätigkeiten eine enge Rückbindung mit den nationalen Parlamenten erforderlich.368 Diese einzelstaatliche Überwachung und Einflussnahme, die sich jedoch jeweils immer nur auf einen Vertreter der Exekutive und vor allem sein Abstimmungsverhalten und nicht auf die Tätigkeiten des Gesamtorgans beziehen kann, ist als umso wichtiger zu beurteilen, da der Rat in vielen Bereichen immer noch das eigentliche Legislativorgan der Gemeinschaft darstellt.369 Beispielhaft für Versuche der Etablie___________ 366

Hatje in: EuR 2005, 148 (161) „Die Vorschrift markiert zum einen die Grenzen der Integrationsverpflichtung. (...) Zum anderen könnten einige Mitgliedstaaten durch Austritt und Neugründung einer supranationalen Gemeinschaft den Integrationsprozess ohne die Mitgliedschaft in der EU nach ihren Vorstellungen fortsetzen – so wäre ein Kerneuropa zu schaffen. Aber so weit sollte es nicht kommen.“ 367 Höreth, 46; Oppermann, 92, Rn. 50; Kabel in: GS Grabitz 1995, 241 (245); Streinz, 111, Rn. 323; siehe aber auch Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 681 „Diese Einwände verfangen nicht, da, wie bereits erörtert, in einer pluralistischen Demokratie letzter Bezugspunkt von Legitimation die Einzelnen sind, nicht ein hypostasiertes Kollektiv.“ 368 Duina/Oliver in: 11 ELJ 2005, 173 (175); Bieber in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV – Band 1, Art. 7 EGV, Rn. 36 „Die Nennung des Rates an zweiter Stelle verdeutlicht den zweiten Legitimationsstrang der Hoheitsgewalt der EG, d.h. die Ableitung aus den Regierungen der Mitgliedstaaten.“; Streinz, 112, Rn. 325; zweifelnd unter Hinweis auf eine Überforderung der nationalen Parlamente siehe aber auch Höreth, 52. 369 EGMR Matthews ./. United Kingdom – Nr. 24833/94, RJD 1999-I, Joint Dissenting Opinion of Judges Sir John Freeland and Jungwiert, 276 (277), § 7 „In fact, of the institutions of the Community it is the Council of Ministers which performs the functions most closely related to those of a legislature at national level.“; so auch Streinz, 100, Rn. 287 „Nach dem EGV und dem EAGV ist der Rat das Hauptrechtssetzungsorgan für sekundäres Gemeinschaftsrecht zur Durchführung der Gemeinschaftsverträge.“; MüllerGraff in: Weidenfeld/Wessels (Hrsg.), 39 (46); Douglas-Scott, 84; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 685.

I. Die Organstruktur der Europäischen Union

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rung solcher Legitimationsketten zu den nationalen Parlamenten soll nur auf die Regelung des Art. 23 II bis VI GG in Verbindung mit dem Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschen Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union verwiesen werden.370 So wirken nach der allgemeinen Regelung des Art. 23 II GG der Bundestag und Bundesrat in den Angelegenheiten der Europäischen Union mit und sind – um diese Mitwirkungsrechte wirksam zu gewährleisten – durch die Bundesregierung umfassend zum frühestmöglichen Zeitpunkt über neue Entwicklungen zu unterrichten. Art. 23 III GG beschreibt im Weiteren die Rechte des Bundestages, Stellungnahmen abzugeben, die von der Bundesregierung bei ihrem weiteren Vorgehen auch derart zu berücksichtigen sind, dass sie in die zur Bestimmung der Verhandlungspositionen führenden Abwägungen einzubeziehen sind.371 Insbesondere die Beteiligung der Länder bei den in ihre Zuständigkeit fallende Regelungsgegenständen ist schließlich in Art. 23 V und VI GG ausführlich geregelt. Folglich ist der föderale Aufbau der Bundesrepublik Deutschland bei den die Mitwirkung am europäischen Integrationsvorhaben näher ausgestaltenden einzelstaatlichen Bestimmungen umfassend berücksichtigt. Aber auch andere Mitgliedstaaten haben entsprechende Regelungen getroffen, so unter anderem das Vereinigte Königreich. Vorbild für diese Bestimmungen bildete im Übrigen der in Dänemark eingerichtete und ehemals als Marktausschuss bezeichnete Europa-Ausschuss des Folketing. Seit dem Beitritt Dänemarks 1973 zu den Europäischen Gemeinschaften hat sich das nach der dänischen Verfassung an sich nur in beratender Funktion an der Außenpolitik beteiligte Folketing weitgehende Informationsrechte zu sichern lassen und diese auch in Form von Mitwirkungsrechten mit zunehmender Integration weiter ausgebaut. So muss dieser Ausschuss seit 1997 über die Umsetzung von allen gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen durch den jeweils zuständigen Minister in Kenntnis gesetzt werden und wird somit häufig für das ansonsten nicht mehr zu beteiligende Parlament stellvertretend tätig. Indem die jeweiligen dänischen Ratsmitglieder nur mit einem entsprechenden Mandat dieses Ausschusses tätig werden können, kann eine effektive parlamentarische Überwachung der Regierung trotz weitreichender Kompetenzverlagerungen auf die Gemeinschaftsebene folglich als gewährleis___________ 370

Kabel in: GS Grabitz 1995, 241 (246); siehe aber auch allgemein zweifelnd im Hinblick auf die allgemeine Tragfähigkeit von „Legitimationsketten“ Schliesky, 394; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 646 „Das Kettenbild kann jedoch als Maßstab demokratischer Legitimation verabschiedet werden. Erstens sind auch in einem Staat wie der Bundesrepublik die imaginierten Ketten in aller Regel zu lang, als dass von einer authentischen Repräsentation des Volkes durch Amtsträger am Ende der Kette die Rede sein könnte.“ 371 Brockmeyer in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 23 GG, Rn. 19; Jarass in: Jarass/Pieroth, Art. 23 GG, Rn. 53; Degenhart, 206, Rn. 519; Kabel in: GS Grabitz 1995, 241 (244).

170 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

tet angesehen werden. Insbesondere die enge Anlehnung des Art. 23 III GG an dieses dänische Modell ist offensichtlich, das im Übrigen eine umfassende Bekanntheit nochmals im Rahmen der vom 1. Juli bis 31. Dezember 2002 dauernden letzten dänischen Ratspräsidentschaft erfahren hat. So hatte sich die dänische Ratspräsidentschaft in ihrem am 28. Juni 2002 vorgestellten Arbeitsprogramm nicht nur unter anderem als ausdrückliches Ziel gesetzt, dass der dänische Vorsitz im Zeichen der Transparenz stehen wird und den europäischen Bürgern und der Presse zu ermöglichen ist, die Arbeit im Rahmen der EU aus der Nähe zu verfolgen.372 Darüber hinaus stellte Dänemark in diesem Zusammenhang auch nochmals der europäischen Öffentlichkeit sein AusschussSystem vor. Trotz dieser allgemein legitimationssteigernden Überwachung durch die nationalen Parlamente, die in der Verfassung in Art. I-46 II auch eine ausdrückliche Erwähnung findet, muss die parlamentarische Kontrolle durch das Europäische Parlament indes weiterhin ausgebaut werden, da schon aufgrund der verschiedenen Gemeinwohlausrichtungen die Mitwirkung der jeweiligen nationalen Stellen keineswegs vollständig die demokratische Kontrolle durch das Europäische Parlament ersetzen kann.373 Auch müssen die nationalen Parlamente – trotz einer nochmals gesteigerten Arbeitsbelastung – über eine ausreichende Bereitschaft verfügen, diese Mitwirkungs- und Überwachungsrechte gerade gegenüber der an Bedeutung gewinnenden einzelstaatlichen Exekutive wirksam wahrzunehmen.374 Demnach kann wohl nur mit einer damit einhergehenden Verstärkung der bestehenden Beteiligungsrechte des Europäischen Parlaments an der Gesetzgebung auch der maßgebliche Einfluss der Exekutive auf die weiterführenden Entwicklungen begrenzt werden.

3. Die Europäische Kommission Der Europäischen Kommission als das die Gemeinschaftsinteressen in besonderer Weise vor allem gegenüber den Mitgliedstaaten vertretende Organ kommen nach den ausdrücklichen Bestimmungen zahlreiche Aufgaben im in-

___________ 372

Eine Übersicht der Ratsprogramme ist abrufbar unter: http://www.europa.eu. Müller-Graff in: Weidenfeld/Wessels (Hrsg.), 39 (46); Douglas-Scott, 84; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 677 „Auf eine Kontrolle des Rates auf europäischer Ebene kann nicht verzichtet werden.“ 374 Siehe für erneute, deutliche Zweifel an dieser Bereitschaft nur Martin Klingst, „Wenn Jecken küssen“ in: Die Zeit Nr. 17, 21. April 2005 „Manchmal ist Europa aber auch zum Heulen. Vor allem, wenn man mitbekommt, was der Deutsche Bundestag aus Europa macht – oder besser gesagt, nicht daraus macht.“; Schliesky, 407; Geiger, EUV/EGV, Art. 189 EGV, Rn. 6. 373

I. Die Organstruktur der Europäischen Union

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stitutionellen Rahmen der Europäischen Union zu.375 Vor allem aufgrund des ihr im Gesetzgebungsverfahrens regelmäßig zukommenden Initiativrechts sowie der ihr nach Art 202 EGV (nach der Verfassung Art. I-37 II) vom Rat zur Durchführung der von ihm getroffenen Maßnahmen regelmäßig übertragenen Rechtssetzungsbefugnisse hat sie maßgeblichen Einfluss auf die weitere Ausgestaltung des Integrationsprozesses.

a) Zusammensetzung Die Europäische Kommission besteht gemäß Art. 213 I EGV zunächst aus zwanzig Mitglieder, die von den im Europäischen Rat versammelten Mitgliedstaaten nach Gesprächen mit dem designierten Kommissionspräsidenten benannt werden376 und nach Anhörungen durch das Europäische Parlament insgesamt zur Abstimmung stehen. Dabei soll ihre vorangegangene Ernennung durch die verschiedenen Mitgliedstaaten anstatt durch das Europäische Parlament ihre Akzeptanz und Autorität gerade auch in den Einzelstaaten steigern. Diese Anerkennung ist von entscheidender Bedeutung, da es sich bei der Europäischen Kommission um dasjenige Organ im institutionellen Rahmen der Europäischen Union handelt, dass ungeachtet seiner allgemeinen Ausrichtung auf das Gemeinschaftsinteresse gerade auch Koordinierungsfunktionen wahrzunehmen hat. Neben dieser gewissen Anbindung an die Mitgliedstaaten im Hinblick auf ihre Zusammensetzung ist die Europäische Kommission darüber hinaus im gemeinschaftsrechtlichen institutionellen Aufbau dem Europäischen Parlament in besonderer Weise politischer Rechenschaft schuldig. So kann die Europäische Kommission nach Art. 197 EGV (nach der Verfassung Art. III337) an allen Parlamentstagungen teilnehmen, auf denen sie im Weiteren ihre Programme erläutern und begründen muss. Auch können die Mitglieder des Europäischen Parlaments mündliche wie schriftliche Anfragen stellen, die zu beantworten sind. Dass diese Kontrollfunktion des Europäischen Parlaments ___________ 375 So schon Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, 58 „Ihre Funktion ist, dass reine Gemeinschaftsinteresse zu verkörpern und zu vertreten, nach innen, besonders den partikularen Gewalten der Mitgliedstaaten gegenüber, und nach außen – denn die Gemeinschaft soll mit einer Stimme sprechen, nicht mit mehreren. (..) Die Funktion der Kommission ist dreifach: sie ist Motor, Wächter und ehrlicher Makler.“; Oppermann, 100, Rn. 75; Hartley, The Foundations of European Community Law, 11; Kugelmann in: Streinz, EUV/EGV, Art. 211 EGV, Rn. 2; Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 211 EGV, Rn. 1; Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften – Band I, 378; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 686. 376 Borchardt, 127, Rn. 300; Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 214 EGV, Rn. 1; Douglas-Scott, 55 „The appointment of the Commission has been described as one of the messiest, often nastiest, episodes of EU decision making.“

172 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

gegenüber den Tätigkeiten der Europäischen Kommission gegebenenfalls auch wirksam durchgesetzt werden kann, zeigt Art. 201 EGV (nach der Verfassung Art. III-340) besonders deutlich, nach dem ein Misstrauensantrag möglich ist, der zu einer Niederlegung der Amtsgeschäfte führen kann. Die Anzahl der Kommissionsmitglieder kann entsprechend Art. 213 I EGV durch den Ministerrat mit einer einstimmigen Entscheidung verändert werden. Die Besetzung der Europäischen Kommission als einem zentralen Exekutivorgan in der Gemeinschaftsrechtsordnung erfolgte bisher unter besonderer Berücksichtigung der Interessen kleinerer Mitgliedstaaten, gleichberechtigt Einfluss auf die gemeinsame Entwicklungen nehmen zu können.377 So muss ihr gemäß Art. 213 I EGV mindestens ein Staatsangehöriger jedes Mitgliedstaates angehören und im Weiteren dürfen nicht mehr als zwei ihrer Mitglieder dieselbe Staatsangehörigkeit besitzen. Um die Arbeitsfähigkeit der Europäischen Kommission auch nach den zuletzt erfolgten Erweiterungen weiterhin zu gewährleisten, sollte ihre Zusammensetzung erhebliche Veränderungen durch die Verfassung erfahren. So sah zwar deren Art. I-26 IV noch die Vertretung jedes Mitgliedstaates durch einen Staatsangehörigen vor und als weitere Mitglieder der ersten Kommission nach Inkrafttreten der Verfassung den Präsidenten und den Außenminister der Union, der einer der Vizepräsidenten der Kommission ist. Doch nach Ende der Amtszeit dieser ersten Europäischen Kommission sollte sich ihre Zusammensetzung nach Art. I-26 VI der Verfassung dahingehend ändern, dass die Kommission dann aus dem Präsidenten und Außenminister sowie einer Anzahl von Mitgliedern bestehen sollte, die nur noch zwei Drittel der Zahl der Mitgliedstaaten entsprach. Langfristig sollte somit nicht mehr jeder Mitgliedstaat zu jeder Zeit in der Europäischen Kommission vertreten sein und die Auswahl der einzelnen Mitglieder nach einem System der gleichberechtigten Rotation zwischen den Mitgliedstaaten erfolgen. In diesem Zusammenhang war entsprechend Art. I-26 VI der Verfassung zu beachten, dass das demokratische und geographische Spektrum der Gesamtheit der Mitgliedstaaten in angemessener Weise zum Ausdruck kommen sollte. Auch wenn diese stufenweise Entwicklung zu einem Rotationssystem einen erheblichen Schritt in Richtung weiterer Integration darstellt, soll gleichwohl nicht unerwähnt blei___________ 377 Douglas-Scott, 55; Hallstein, United Europe, 24 „This system therefore gives the smaller countries a certain guarantee, whose embodiment, so to speak, is the independent Commission.“; näher hierzu auch Kugelmann in: Streinz, EUV/EGV, Art. 213 EGV, Rn. 2 „Die Zusammensetzung der Kommission steht in engem Zusammenhang mit der institutionellen Struktur der Gemeinschaft und der Union insgesamt. Die Prinzipien der Funktionsfähigkeit der Kommission und der Repräsentativität sind in Ausgleich zu bringen. Immerhin spielen die Kommissionsmitglieder bei der Vermittlung der Gemeinschaftspolitik in ihren Heimatstaaten eine politisch beträchtliche Rolle und fördern dadurch die Akzeptanz bei den Bürgern. Die angemessene Repräsentation der Mitgliedstaaten in der Kommission dient insoweit dem Gemeinschaftsinteresse.“

I. Die Organstruktur der Europäischen Union

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ben, dass der Entwurf einer Verfassung Europas in seinem Art. I-25 III die sofortige Etablierung eines solchen Rotationssystems vorsah.378 Da offensichtlich erhebliche nationale Interessen einer solchen Vorgehensweise entgegenstanden haben, war in der Verfassung mit dieser Übergangsregelung eine Kompromissformel zwischen diesen einzelstaatlichen Interessen und dem allgemeinen Interesse an der Aufrechterhaltung der Handlungsfähigkeit der Europäischen Union enthalten. Erklären lässt sich dieses Verhandlungsergebnis nur dadurch, dass entweder nicht alle Mitgliedstaaten vollständig von der Unabhängigkeit und ausschließlichen Gemeinschaftsorientierung der Europäischen Kommission überzeugt sind oder doch zumindest zur Sicherheit im Übergangszeitraum noch an einem Kommissionsmitglied eigener Staatsangehörigkeit festhalten wollten. Die Auswahl der einzelnen Kommissionsmitglieder muss gemäß Art. 213 I EGV (nach der Verfassung Art. I-26 IV im Übrigen noch erweitert um die Anforderung „ihres Einsatzes für Europa“) zunächst unter Berücksichtigung ihrer allgemeinen Befähigung erfolgen. Diesbezügliche Zweifel gab es im Hinblick auf ungarischen Kandidaten László Kovács, der zunächst als Kommissar für das später dem Letten Andris Piebalgs zugewiesene Ressort Energie in der Kommission unter der Führung von José Manuel Barroso vorgesehen war, dann aber doch nach einem Tausch nunmehr für den Bereich Steuern und Zollunion zuständig ist.379 Des Weiteren muss die Unabhängigkeit der einzelnen Kommissare vollständig gewährleistet sein. Vor allem dem Erfordernis der vollen Gewähr ihrer Unabhängigkeit war wiederum im Rahmen der Anhörung der neuen Kommission unter Führung José Manuel Barrosos durch das Europäische Parlament entscheidende Beachtung zugekommen. So waren im Hinblick auf die von der Niederlande vorgeschlagene und für das Ressort Wettbewerb vorgesehene Kommissarin Neelie Kroes Zweifel an ihrer vollständigen Unabhängigkeit aufgrund ihrer zahllosen früheren Positionen in der Wirtschaft380 geäußert worden. Einen gewissen Eindruck von der Art der geübten Kritik vermitteln immer noch ___________ 378 Art. I-25 III des Entwurfs einer Verfassung für Europas vom 18. Juli 2003 lautete: „Die Kommission besteht aus einem Kollegium, das sich aus ihrem Präsidenten, dem Außenminister der Union, der Vizepräsident ist, und aus dreizehn Europäischen Kommissaren, die nach einem System der gleichberechtigten Rotation zwischen den Mitgliedstaaten ausgewählt werden, zusammensetzt.“; Bauer in: Integration 2005, 47 (53). 379 Hartmut Hausmann „Die neue Kommission kann ihre Arbeit sofort aufnehmen“ in: Das Parlament Nr. 48 vom 22. November 2004, 20; Schild in: Integration 2005, 33 (39). 380 Eine Auflistung ihrer geschäftlichen Aktivitäten kann abgerufen werden unter: http://www.europa.eu; danach war sie unter anderem Member Supervisory Board bei Nederlandse Spoorwegen, Volvo Group; Thales Group; Corio und Royal P & O Nedloyd NV; siehe auch Schild in: Integration 2005, 33 (39).

174 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

die einführenden Bemerkungen zu der von ihr am 9. Dezember 2004 in Brüssel abgehaltenen Pressekonferenz: „I know that some people had doubts that someone who is passionate about business and knows it inside out could act with the impartiality and sense of fair play needed. A few went further and suggested that I would hold back from taking tough action against businesses that violate the competition rules because I was „too close to business interests“, that I would be some kind of ‚pussy cat‘.“381 Diese vor der endgültigen Arbeitsaufnahme durch die Europäische Kommission geäußerten Bedenken führten jedoch nicht zu einer Ressortveränderung wie noch bei László Kovács, sondern vielmehr dazu, dass Neelie Kroes sich über den allgemeinen Verhaltenskodex der neuen Kommission hinausgehend unter anderem die folgende konkrete Verpflichtung gegenüber dem Kommissionspräsidenten Barroso auferlegte: „In order to avoid any actual or potential conflict of interest in the performance of my duties as Commissioner: I hereby commit to recuse myself and thus not participate in the investigation, negotiation, discussion or decision-making on any particular matter which relates to factual circumstances involving any specific company during the time that I served in its supervisory board, governing board, advisory board, board, or as its advisor. In such circumstances, I will ask my services to report to you, or another Commissioner nominated by you for the purpose, so that the Commission may take any necessary decisions on the matter concerned without my involvement.“382 Auch wenn eine derartige Selbstbeschränkung zur Vermeidung etwaiger Interessenkonflikte und einer damit einhergehenden möglichen Befangenheit als angemessen zu beurteilen ist, kann die Vereinbarkeit eines solchen Vorgehens mit dem allgemeinen Interesse einer unbeschränkt handlungsfähigen Europäischen Kommission indes auch kritisch hinterfragt werden. Ihre Beschlüsse trifft die Europäische Kommission schließlich entsprechend Art. 219 EGV (nach der Verfassung Art. III-351) mit der absoluten Mehrheit ihrer Mitglieder. Mit dieser Regelung der Abstimmungen tritt demnach wiederum die Supranationalität des Europäischen Integrationsprozesses deutlich in Erscheinung.383 Der Bestimmung des Art. 219 EGV (nach der Verfassung so ___________ 381

Neelie Koes: Introductory Remarks at press conference on Choline Chloride cartel and EDP/ENI/GDP merger decisions, Brussels, 9 December 2004. 382 Abzurufen unter: http://www.europa.eu. 383 Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften – Band I, 374; Kugelmann in: Streinz, EUV/EGV, Art. 219 EGV, Rn. 2; Peterson in: Peterson/Shackleton, 71 (85); Scott-Douglas, 61 „According to Article 219 EC, the Commission acts by the majority of its members. However, given the Commission’s huge body of work, Commissioners act through various types of delegation in order to improve efficiency. They may use the delegation procedure whereby individual Commissioners themselves act through delegated powers. This is usually only possible for administrative and technical matters. But the entire Commission must adopt the act as a whole.“

I. Die Organstruktur der Europäischen Union

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auch ausdrücklich Art. I-26 VIII) liegt im Weiteren das Kollegialprinzip zugrunde. Danach sind alle Mitglieder der Europäischen Kommission gleichberechtigt an der Entscheidungsfindung zu beteiligen, deren Ergebnis sie auch in ihrer Gesamtheit politisch zu verantworten haben.384 Für ihre Beschlussfähigkeit ist zunächst erforderlich, dass die in ihrer – auf Grundlage von Art. 218 II EGV (nach der Verfassung Art. III-351) erlassenen – Geschäftsordnung näher bestimmte Zahl von Mitgliedern an der jeweiligen Tagung überhaupt anwesend ist.

b) Tätigkeitsbereiche Die Tätigkeitsbereiche der Europäischen Kommission sind ausgesprochen vielfältig. Vor jeder näheren Beschreibung ist festzustellen, dass die damit einhergehenden sehr verschiedenen Anforderungen an ihre Arbeitsweise die Europäische Kommission bei ihrer Aufgabenerfüllung immer wieder vor erhebliche Schwierigkeiten stellen. So kommen ihr bereits nach der allgemeinen Beschreibung des Art. 211 EGV zur Gewährleistung des ordnungsgemäßen Funktionierens und der Entwicklung des Gemeinsamen Marktes vier Hauptaufgaben zu: Erstens hat sie für die Anwendung dieses Vertrages sowie der von den Organen auf seiner Grundlage im Weiteren getroffenen Bestimmungen Sorge zu tragen. Dabei hat sie insbesondere gegenüber den einzelnen Mitgliedstaaten die Möglichkeit, die Anwendung des Primär- wie Sekundärrechts gegebenenfalls auch durch eine Klageerhebung beim Europäischen Gerichtshof im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens gemäß Art. 226 EGV (nach der Verfassung Art. III-360) sicherzustellen. Vor einer solchen offenen Konfrontation durch die Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens werden jedoch zuvor regelmäßig alle Möglichkeiten der gegenseitigen Konsultation und Kooperation erschöpfend genutzt, um noch zu einer gemeinsamen und von allen Seiten einvernehmlich getragenen Lösung zu gelangen.385 Darüber hinaus hat die Europäische Kom___________ 384 Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 219 EGV, Rn. 1; Schild in: Integration 2005, 33 (44); Streinz, 121, Rn. 349; Oppermann, 104, Rn. 89; Lasok, 234; ScottDouglas, 61 „The concept of collegiality has always been important to the functioning of the Commission. It may also be a way of countering nationalistic influence. It has meant that in theory, important decisions should be taken at meetings of the college, and that no commissioner should show too much independence. (...) However, (…) collegiality is best thought of as an ideal, one which came closest to being achieved during Hallstein’s strong presidency.“ 385 Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 211 EGV, Rn. 5; siehe im Übrigen auch die Reihenfolge der gesetzlich vorgesehenen Maßnahmen gegen unstatthafte Beihilfen im Rahmen des mehrstufigen Verfahrens nach Art. 88 EGV (nach der Verfassung Art. III-57).

176 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

mission gegenüber den anderen Organen der Europäischen Union die Möglichkeit, eine Untätigkeitsklage unter den Voraussetzungen des Art. 232 EGV (nach der Verfassung Art. III-367) oder eine Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 EGV (nach der Verfassung Art. III-365) anzustrengen. Schließlich kann sie im Bereich der Wettbewerbs- und Verkehrspolitik gegenüber natürlichen und juristischen Personen bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht Sanktionen im Wege von individualgerichteten Entscheidungen verhängen.386 Mit diesen Überwachungs- und Sanktionsbefugnissen in ihrer Gesamtheit zeigt sich demnach in besonderer Weise die Funktion der Europäischen Kommission als „Hüterin des Gemeinschaftsrechts“387. Zweitens hat sie Empfehlungen und Stellungnahmen abzugeben, denen indes nach Art. 249 EGV (nach der Verfassung Art. I-33 I) keine Rechtsverbindlichkeit zukommt. Neben allgemeinen Empfehlungen kann die Europäische Kommission ergänzend länderspezifische Empfehlungen abgeben. In Bezug auf diese von ihr gegenüber den Mitgliedstaaten ausgesprochenen Empfehlungen ist sie nicht auf eine ausdrückliche vertragliche Ermächtigung angewiesen, sondern kann nach eigenem Ermessen tätig werden. Ein entscheidender Vorteil dieser Vorgehensweise besteht darin, dass zum einen durch eine Zusammenstellung und Bewertung der verschiedenen Entwicklungen in den einzelnen Mitgliedstaaten auch bestimmte, bereits erfolgreich angewendete Konzepte eine größere Bekanntheit erlangen. Zum anderen können die von ihr vorgenommenen Bewertungen bestimmter Sachverhalte zu einem größeren Maß an Rechtssicherheit führen. Darüber hinaus entwickelt die Europäische Kommission allgemeine Richtlinien und Zielsetzungen und formuliert konkrete Programmvorgaben für die verschiedenen Politikbereiche der Europäischen Union. Letztere sind in den sogenannten Weißbüchern der Europäischen Kommission enthalten, die zum Ziel die Einleitung eines Konsultationsprozesses auf der europäischen Ebene haben. Ihnen teils auch schon zum gleichen Gegenstand in wesentlich umfassenderer Behandlung voraus gehen die sogenannten Grünbücher. Diese beinhalten diejenigen von der Europäischen Kommission jährlich unter Offenlegung ihrer integrationspolitischen Positionen veröffentlichten Mitteilungen, die allgemein zur öffentlichen Diskussion über einen bestimmten Politikbereich gerade unter Beteiligung interessierter Dritter, Organisationen und ___________ 386 Siehe nur die Art. 75 und 76 EGV im Bereich der Verkehrpolitik, Titel V des Vertrages sowie Art. 88 EGV im Bereich der Wettbewerbspolitik, Titel VI, Kapitel 1, Abschnitt 2. 387 Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften – Band I; 381; Kugelmann in: Streinz, EUV/EGV, Art. 211 EGV, Rn. 15; Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 211 EGV, Rn. 2; Douglas-Scott, 69; Lasok, 238; Føllesdal in: Weale/ Nentwich (Hrsg.), 34 (41); einschränkend Hartley, The Foundations of European Community Law, 313.

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auch Einzelpersonen dienen sollen. Mit den insbesondere durch die Grünbücher angeregten allgemeinen Diskussionen versucht demnach auch die Europäische Kommission, einen wichtigen Beitrag zur Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit zu leisten und im Allgemeinen die Vorhersehbarkeit und Transparenz nachfolgender Gemeinschaftsaktionen zu erhöhen388. In diesem Zusammenhang ist jedoch zu berücksichtigen, dass aufgrund der dauerhaften Einrichtung des Europäischen Rates die Europäische Kommission im Hinblick auf gerade diese Funktion als ein die Weiterentwicklung des Integrationsprozesses aktiv mitgestaltendes Organ eine gewisse Schwächung erfahren hat.389 Die von ihr verfassten Stellungnahmen stellen demgegenüber regelmäßig – beispielsweise im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV (nach der Verfassung Art. III-362) oder auch im Zusammenhang mit einem Defizitverfahren gegen einen Mitgliedstaaten nach Art. 104 EGV (nach der Verfassung Art. III-184 V) – einen notwendigen Bestandteil eines im Gemeinschaftsrecht ausdrücklich vorgesehenen Verfahrens dar. Das Fehlen oder aber die unterbliebene Berücksichtigung einer solchen Stellungnahme kann demnach einen beachtlichen Verfahrensfehler darstellen, der insbesondere die formelle Rechtswidrigkeit einer möglicherweise nichtsdestotrotz im Weiteren beschlossenen rechtsverbindlichen Maßnahme zur Folge hat.390 So soll der Einfluss der unabhängigen, nur dem Gemeinschaftsinteresse verpflichteten Europäischen Kommission auf die Gesamtentwicklung der Gemeinschaftsrechtsordnung gerade mit der Verfahrensabfolge von zunächst einer Stellungnahme ihrerseits und daran anschließend erst einer Handlung des Ministerrates sichergestellt werden. Drittens hat die Europäische Kommission in ihrem Aufgabenbereich Entscheidungen zu treffen. Dabei ist als ein solcher Aufgabenbereich insbesondere das Wettbewerbsrecht zu benennen. So kann sie zum einen nach Art. 85 II EGV (nach der Verfassung Art. III-165 II nun nach neuer Terminologie ein eu___________ 388 Ausführlich zum Tranzparenzgebot siehe Riemann, Die Transparenz der Europäischen Union, 98 m. w. N. 389 Oppermann, 96, Rn. 63 „Mit der Errichtung des Europäischen Rates 1974 hat ein Verfassungswandel innerhalb der EG/EU stattgefunden. Nach der Philosophie der europäischen Föderalisten der fünziger Jahre sollte die EG-Kommission als Motor des Vertrages allmählich in die Funktion einer Europäischen Regierung hineinwachsen, während der Rat als zweite Kammer zurücktratt. Ziel dieser Vision war der Europäische Bundesstaat. Die tatsächliche Entwicklung der EG/EU ist seit den sechziger Jahren im Sinne des Staatenverbundes verlaufen. Die Kommission bleibt zwar eigenständiges Organ und soll weiterhin der Gemeinschaftsaktion Impulse geben. Die großen Richtlinien der Gemeinschaftspolitik fallen indessen im Europäischen Rat.“; einschränkend von Buttlar, 125. 390 Kugelmann in: Streinz, EUV/EGV, Art. 211 EGV, Rn. 36; siehe auch die Besprechung des Urteils C-27/04 vom 13.07.2004 zum Defizitverfahren bei Häde in: 39 EuR 2004, 750 (763).

178 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

ropäischer Beschluss) mit einer Entscheidung die Zuwiderhandlung eines Mitgliedstaates für den Bereich der Wettbewerbsregeln feststellen. Darüber hinaus kann sie nach Art. 88 II EGV (nach der Verfassung Art. III-168 II) nach Feststellung einer mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbaren Beihilfe entscheiden, dass der betreffende Staat diese innerhalb einer bestimmten Frist aufzuheben oder umzugestalten hat. Demnach wird die Europäische Kommission im Bereich des Wettbewerbsrechts und der Genehmigung staatlicher Beihilfen – im Regelfall ist die Anwendung des Gemeinschaftsrechts Aufgabe der jeweils zuständigen mitgliedstaatlichen Stellen – auch unmittelbar als Exekutivorgan der Europäischen Union tätig.391 Vergleichbar mit den von einer einzelstaatlichen Verwaltungsbehörde wahrgenommenen Aufgaben prüft die Europäische Kommission in diesen Politikbereichen somit eigenständig Sachverhalte, erteilt Genehmigungen oder Verbote und verhängt bei Zuwiderhandlungen Sanktionen.392 Des Weiteren hat sie am Zustandekommen von Handlungen der anderen Organe mitzuwirken. Vor allem im Gesetzgebungsverfahren ist regelmäßig jeweils eine entsprechende Initiative der Europäischen Kommission erforderlich.393 Kein Rechtsakt kann demnach ohne einen vorangegangenen Vorschlag ihrerseits erlassen werden und das sich daran anschließende Verfahren – auch hinsichtlich der weiteren Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments – steht in direkter Abhängigkeit von der von ihr gewählten Rechtsgrundlage. Insbesondere der Umstand, dass der Rat nur einstimmig einen solchen Vorschlag der Europäischen Kommission ändern kann, führt zu einem ausgeglicheneren Verhältnis der beiden Organe untereinander, das ansonsten von einem gewissen Übergewicht zugunsten des häufig letztentscheidungsbefugten Ministerrates gekennzeichnet ist. Die Entscheidung, ihr Vorschlagsrecht auszuüben, hat die ___________ 391

Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften – Band I, 387; Borchardt, 129, Rn. 312; Kugelmann in: Streinz, EUV/EGV, Art. 211 EGV, Rn. 40; Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 211 EGV, Rn. 9; Craig/de Burca, 61. 392 Borchardt, 129, Rn. 310; Streinz, 119, Rn.343; EuGH, Slg. 1989, 2859 (2926) Rs. 46/87 und 227/88 „Hoechst/Kommission“ „Dabei kommt dem Recht, alle Räumlichkeiten, Grundstücke und Transportmittel der Unternehmen zu betreten, insofern besondere Bedeutung zu, als es der Kommission damit ermöglicht werden soll, das Beweismaterial für Zuwiderhandlungen gegen die Wettbewerbsregeln an den Orten zu sammeln, an denen es sich normalerweise befindet, d.h. in den Geschäftsräumen der Unternehmen.“ 393 Lorz, 141; Streinz, 119, Rn. 344; Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 211 EGV, Rn. 13; Scott-Douglas, 64; Peterson/Bomberg, 38; von Buttlar, 22; Peterson in: Peterson/Shackleton, 71 (88); Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften – Band I, 380 „Durch ihr Initiativmonopol beteiligt sich die Kommission unmittelbar und entscheidend an der Rechtsetzungstätigkeit des Rates. Das Vorschlagsmonopol gibt der Kommission einen maßgeblichen Einfluss auf die Orientierung des Gemeinschaftsrechts, der allgemeinen Tätigkeit der Gemeinschaft und auf die Gestaltung des Gemeinschaftsrechts obwohl die Gestaltung formal dem Rat zukommt.“

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Kommission unter alleiniger Berücksichtigung des allgemeinen Gemeinschaftsinteresses sowie der Interessen der einzelnen Unionsbürger zu treffen. Gerade ihre Unabhängigkeit von den Mitgliedstaaten und den von ihnen jeweils verfolgten Interessen sowie ihre Funktion zur verbindlichen Formulierung politischer Zielsetzungen treten damit in diesem Zusammenhang wiederum deutlich in Erscheinung. Zu einem entsprechenden Tätigwerden kann sie jedoch gegebenenfalls durch den Ministerrat nach Art. 208 EGV (nach der Verfassung Art. III-345) oder das Europäische Parlament nach Art. 192 II EGV (nach der Verfassung Art. III-332) aufgefordert werden. Um ein höheres Maß an Akzeptanz ihrer Vorschläge zu gewährleisten, bestehen im Übrigen schon während der Ausarbeitung eines Kommissionsvorschlags verschiedene Möglichkeiten zur Konsultation mit den anderen Gemeinschaftsorganen. Aufgrund dieser informellen Absprachen kann demnach von den vertraglichen Bestimmungen ausgehend keineswegs zwangsläufig auf die politische Verantwortlichkeit der Europäischen Kommission bei jeder Ausübung ihres Initiativrechts geschlossen werden. Wie wichtig dem Europäischen Parlament eine umfassende und frühzeitige Information durch die einzelnen Kommissionsmitglieder über geplante Vorhaben ist, trat erneut deutlich in den einzelnen Anhörungsverfahren der Europäischen Kommission unter Leitung José Manuel Barroso in Erscheinung.394 Darüber hinaus holt die Europäische Kommission vor der verbindlichen Formulierung eines entsprechenden Vorschlags Stellungnahmen der jeweiligen nationalen Parlamente und Regierungen ein. Nur nach einem solchen Meinungsaustausch mit den mitgliedstaatlichen Stellen kann sie eine Einschätzung dahingehend treffen, ob ein gemeinschaftsrechtliches Vorgehen auch unter Berücksichtigung des in Art. 5 EGV (nach der Verfassung Art. I-11 III) niedergelegten Subsidiaritätsprinzips als angemessen zu beurteilen ist. Schließlich hat die Europäische Kommission diejenigen Befugnisse auszuüben, die ihr vom Ministerrat gemäß Art. 202 EGV (nach der Verfassung Art. I-36) regelmäßig zu seiner Entlastung übertragen worden sind. Bei der Wahrnehmung dieser übertragenen Befugnisse kommen der Europäischen Kommission grundsätzlich umfassende Beurteilungs- und Handlungsspielräume zu.395 So kann die Europäische Kommission auf Grundlage einer entsprechenden ausdrücklichen Ermächtigung des Rates diejenigen Maßnahmen, nach bisheriger Terminologie Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen ergreifen, die ___________ 394

Siehe nur den Abschlussbericht zur öffentlichen Anhörung von Margot Wallström durch den Ausschuss für konstitutionelle Fragen (Vorsitzender: Jo Leinen) vom 6. Oktober 2004, abzurufen unter: http://www.europa.eu. 395 EuGH, Slg. 1975/II, 1279 (1302) Rs. 23/75 „Rey Soda/Cassa Conguaglio Zucchero“; EuGH, Slg. 1984/II, 2063 (2066) Rs. 121/83 „Zuckerfabrik Franken/Hauptzollamt Würzburg“ – Schlussanträge des GA G. Frederico Mancini; Kugelmann in: Streinz, EUV/EGV, Art. 211 EGV, Rn. 43.

180 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

zur Durchführung der Grundvorschriften des Rates erforderlich sind. Der Umfang dieser übertragenen und im Weiteren als eigene wahrgenommenen Befugnisse übertrifft bei weitem den Umfang der ihr originär im Gemeinschaftsrecht zugewiesenen Befugnisse und die Rolle der Europäischen Kommission im Verhältnis zu den anderen Organen hat somit eine weitere Aufwertung erfahren. Schwierigkeiten ergeben sich in diesem Zusammenhang bei der Bestimmung des nicht näher gemeinschaftsrechtlich selbst bestimmten Begriffes der „Durchführungsbefugnisse“. Der Europäische Gerichtshof hat im Rahmen seiner Rechtsprechung festgelegt, dass dieser Begriff unter Berücksichtigung des vertraglichen Gesamtzusammenhanges und den Anforderungen der Praxis weit auszulegen ist.396 Gleichwohl dürfen durch eine weitreichende Übertragung von Zuständigkeiten an die Europäische Kommission nicht die Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments in unzulässiger Weise beschränkt werden.397 So hat das Europäische Parlament vor allem bei Maßnahmen, die im Verfahren der Mitentscheidung nach Art. 251 EGV (nach der Verfassung Art. III-396 als „Ordentliches Gesetzgebungsverfahren“ bezeichnet) gefasst werden, ein maßgebliches Interesse daran, seine Zustimmung auch weiterhin zu allen wesentlichen Elementen eines Rechtsaktes zu erteilen.398 Neben dem auf die Wahrung seiner Mitwirkungsrecht bedachten Europäischen Parlament hat aber auch der Ministerrat ein Interesse daran, nach – wie beispielsweise im Politikbereich der Landwirtschaft sehr umfassend – erfolgter Übertragung der Befugnisse die Europäische Kommission weiterhin bei der konkreten anschließenden Wahrneh___________ 396 EuGH, Slg. 1975/II, 1279 (1302) Rs. 23/75 „Rey Soda/Cassa Conguaglio Zucchero“; EuGH, Slg. 1998, I-7379 (I-7416) Rs. C-159/96 „Portugal/Kommission“; Wichard in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 202 EGV, Rn. 8; kritisch hierzu Scott-Douglas, 68. 397 EuGH, Slg. 2003-1, I-937 (I-959) Rs. 378/00 „Kommission/Parlament und Rat“; Kugelmann in: Streinz, EUV/EGV, Art. 211 EGV, Rn. 46; Wichard in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 211 EGV, Rn. 6; Scott-Douglas, 67 „The European Parliament, however, dislikes comitology, seeing it as an unreasonable constraint on the Commission, as well as being annoyed by the fact that it, the Parliament, has been excluded from scrutiny of legislation passed this way.“ 398 EuGH, Slg. 1988, 5615 (5640) Rs. 302/87 „Parlament/Rat“; Streinz, 193, Rn. 524; Peterson/Bomberg, 42; Kugelmann in: Streinz, EUV/EGV, Art. 211 EGV, Rn. 46; Wichard in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 202 EGV, Rn. 6 „Nach der Rechtsprechung des EuGH gelten die Verfahrensvorschriften des EGV nur für die Maßnahmen, die ihre Grundlage unmittelbar im Vertrag selbst finden, die Basisrechtsakte, nicht jedoch für das abgeleitete Recht, das zur Durchführung dieser Maßnahmen dienen soll. Zum Ausgleich dafür, und zur Wahrung des institutionellen Gleichgewichts, müssen in den Basisrechtsakten aber die wesentlichen Grundzüge der zu regelnden Materie festgelegt werden.“; EuGH, Slg. 1995/I, I-1185 (I-1219) Rs. C-417/93 „Parlament/Rat“ „Wie der Gerichtshof, insbesondere im Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik entschieden hat, (...) können die Durchführungsbestimmungen zu diesen Verordnungen vom Rat nach einem abweichenden Verfahren erlassen werden.“

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mung zu überwachen und gegebenenfalls eingreifen zu können.399 Mit der Frage, inwieweit aufgrund dieser letzteren Einflussnahmen – durch die Einschaltung von Ausschüssen – möglicherweise die Unabhängigkeit der Europäischen Kommission wiederum beeinträchtigt werden kann, hat sich der Europäische Gerichtshof schon mehrfach befasst. So stellen sich in diesem Zusammenhang zunächst allgemeine Fragen nach der konkreten Zulässigkeit solcher Delegationsbestimmungen und ihrer möglichen Auswirkungen auf das institutionelle Verhältnis der Organe untereinander. Die im Hinblick auf die Durchführungsbefugnisse konkret bestehende Möglichkeit des Rates, gegebenenfalls die Entscheidung wieder an sich ziehen zu können, sah der Gerichtshof als grundsätzlich mit der Gemeinschaftsstruktur und dem „institutionellen Gleichgewicht“ vereinbar an.400 Damit ist gleichzeitig davon auszugehen, dass der Rat auch schon zuvor die Art und Weise der Wahrnehmung der übertragenen Befugnisse durch die Europäische Kommission näher bestimmen kann. Ausgeschlossen ist damit lediglich eine vertraglich nicht vorgesehene Übertragung von Befugnissen, die ein Ermessen einräumen, an Dritte, da ein solches Vorgehen eine tatsächliche und gerade vertraglich nicht vorgesehene Verlagerung der Verantwortung zur Folge haben kann.401 Darüber hinaus ist die Europäische Kommission im Bereich der Außenbeziehungen nach Art. 300 I EGV (nach der Verfassung Art. III-325 III auch der Außenminister) zuständig für die Aushandlung – der Abschluss selbst fällt in den Aufgabenbereich des Ministerrates – von Abkommen und vertritt im Übrigen entsprechend Art. 302 EGV bis 304 EGV (nach der Verfassung Art. III327 II zusammen mit dem Außenminister) die Gemeinschaft bei internationalen ___________ 399 EuGH, Slg. 1975/II, 1279 (1302) Rs. 23/75 „Rey Soda/Cassa Conguaglio Zucchero“; Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften – Band I, 404; siehe im Übrigen ausführlich zum Ausschussverfahren den „Beschluß des Rates zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse“ vom 28. Juni 1999; weiterhin Borchardt, 202, Rn. 492; Oppermann, 104, Rn. 88; Streinz, 193, Rn. 522 „Dies trägt dem Bedürfnis des Rates Rechnung, durch die Delegation von Befugnissen entlastet zu werden, ohne die Kontrolle über die übertragenen Materien völlig zu verlieren.“ 400 EuGH, Slg. 1975/II, 1279 (1302) Rs. 23/75 „Rey Soda/Cassa Conguaglio Zucchero“ „Auch erlaubt Artikel 155 dem Rat, gegebenenfalls festzulegen, von welchen Voraussetzungen die Ausübung der der Kommission verliehenen Befugnis im einzelnen anhängt. Die Befugnisse der Kommission aus Artikel 37 Absatz 2 der Grundverordnung sind im sogenannten Verwaltungsausschussverfahren auszuüben. Dieses ermöglicht dem Rat, der Kommission eine umfassende Durchführungsbefugnis zu übertragen, wobei ihm selbst aber im Einzelfall eine Eingriffsermächtigung vorbehalten ist.“ 401 So schon früh EuGH, Slg. 1958 IV, 9 (45) Rs. 9/56 „Meroni/Hohe Behörde“; eine ausführlichere Besprechung dieser Arbeit im Rahmen der vorliegenden Arbeit findet sich unter D.III.1.

182 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

Organisationen.402 Demnach kommt ihr eine besondere Bedeutung im Hinblick auf die Koordinierung des Auftretens der in der Europäischen Gemeinschaft zusammengefassten Mitgliedstaaten in den Außenbeziehungen zu. Eine gewisse Schwächung der Europäischen Kommission ist jedoch durch die dauerhafte Einrichtung des Amtes eines Außenministers der Union – wie nach Art. I-28 der Verfassung vorgesehen war – zu erwarten. Als weitere Aufgabe der Europäischen Kommission ist die gerichtliche Vertretung der Gemeinschaft vor mitgliedstaatlichen Gerichten nach Art. 282 EGV (nach der Verfassung Art. III-426) zu benennen. Diese Zuweisung steht im engen Zusammenhang mit der allgemeinen Aufgabe der Europäischen Kommission, auch im Rahmen von Gerichtsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof häufig die Interessen der Gemeinschaft gegenüber den Mitgliedstaaten zu vertreten. Abschließend soll aufgrund ihrer Übersichtlichkeit noch die in der Verfassung enthaltene Beschreibung der Zuständigkeiten der Europäischen Kommission kurz dargestellt werden. Nach Art. I-26 I der Verfassung fördert die Europäische Kommission zunächst die allgemeinen europäischen Interessen und ergreift entsprechende Initiativen zu diesem Zweck. Im Weiteren überwacht sie als „Hüterin der Verträge“ die Anwendung des Unionsrechts. Auch führt sie den Haushaltsplan aus und verwaltet die Programme der Europäischen Union. Nach Maßgabe der einzelnen Bestimmungen übt sie demnach Koordinierungs-, Exekutiv- und Verwaltungsfunktionen aus. Abgesehen vom Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik vertritt sie die Europäische Union im Übrigen nach außen. Schließlich regt sie sowohl die einjährige wie mehrjährige Programmplanungen der Union an, um interinstitutionelle Vereinbarungen zu bewirken. Besondere Bedeutung kommt schließlich ihrem in Art. I-26 II bestimmten Initiativrecht im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zu. Ihre Arbeitsweise war in den Art. III-347 bis Art. III-352 der Verfassung geregelt.

c) Weiterführende Funktion Über die ihr in den Verträgen ausdrücklich zugewiesenen Befugnisse kommt der Europäischen Kommission zunächst im Verhältnis zu den anderen rechtsgestaltenden Organen die vorrangige Bedeutung zu, alleinig am Gemeinschaftsinteresse ausgerichtet zu sein und auch nur dieses zu vertreten zu haben.403 Um ___________ 402 EuGH, Slg. 2004-3, I-2759 (I-2778f.) Rs. 233/02 „Frankreich/Kommission“ – Schlussanträge des GA S. Alber. 403 Harlow in: 23 Yearbook of European Law 2004, 57 (62); Douglas-Scott, 53; von Buttlar, 23; Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften – Band I,

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diesem Auftrag in angemessener Weise nachkommen zu können, ist die Wahrung ihrer Unabhängigkeit sowohl gegenüber den Mitgliedstaaten als auch gegenüber der Einflussnahme durch die anderen Organe, vor allem durch den Ministerrat von besonderer Wichtigkeit. Gleiches gilt im Übrigen für die ihr neben dem Europäischen Gerichtshof zukommende grundsätzliche Aufgabe, die Anwendung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen. Zusätzlich kommt der Europäischen Kommission die wichtige Aufgabe zu, die Europäische Union in ihrer Gesamtheit – in Unabhängigkeit von etwaigen Interessen einzelner Mitgliedstaaten – in den Außenbeziehungen mit anderen Staaten oder im Rahmen von internationalen Organisationen zu vertreten. Nur unter entsprechenden institutionellen Rahmenbedingungen, die ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gewährleisten können, ist sie demnach überhaupt in der Lage, als „Motor der Integration“ der Europäischen Union auch zukünftig wichtige Impulse für ihre Weiterentwicklung zu vermitteln.404 Zwar ist allgemein festzustellen, dass die Bezeichnung „Motor der Integration“ mittlerweile eine so häufige und unterschiedliche Verwendung zur Beschreibung des Europäischen Integrationsprozess sowie der Kennzeichnung der Organe gefunden hat, dass sich der Eindruck aufdrängen könnte, für die Gemeinschaftsrechtsordnung sei ein Übermaß an schnellfortschreitender und unablässiger Entwicklung kennzeichnend. Ein solcher Endruck ist indes unter Berücksichtigung der bisher schon häufig aufgetretenen und teils auch langandauernden Phasen, in denen der Integrationsprozess gerade nicht fortgeschritten ist405, sowie im Hinblick auf bestimmte Politikbereiche – wie beispielsweise die gemeinsamen Bestimmungen zum Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr –, in denen eine Formulierung gemeinsamer Ziele sich bereits als ausgesprochen schwierig erwiesen hat, als ___________ 373; Oppermann, 100, Rn. 75; Kugelmann in: Streinz, EUV/EGV, Art. 211 EGV, Rn. 4; Craig/de Burca, 64 „The Commission has always been the single most important political force for integration, ever seeking to press forward to attain the Community’s objectives.“; di Fabio in: Handbuch des Staatsrechts – Band II, 613 (657) „(...) sie ist eine supranationale Organinnovation, die über spezifische Kooperationsfähigkeiten (…) verfügt.“ 404 Höreth, 199; Oppermann, 100, Rn. 75; Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften – Band I, 373; Harlow in: 23 Yearbook of European Law 2004, 57 (62); Craig/de Burca, 65; Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 213 EGV, Rn. 8; Bernhardt, 103. 405 Oppermann, 11, Rn. 26; Streinz, 12, Rn. 25; Joachim Fritz-Vannahme „Ein, zwei oder drei Europas?“ in: Die Zeit Nr. 52 vom 17. Dezember 2003; Melissa Rossi/ Christopher Dickey „The Awkward Squad“ in: Newsweek, December 22, 2003, 28f.; allgemein zur Bedeutung der Europäischen Kommission Douglas-Scott, 54 „What makes it so central as a Community institution is that it possesses the sole right of policy initiative giving rise to its description as the motor of integration, a title which it has, however, only sometimes lived up to.“

184 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

nicht gerechtfertigt zurückzuweisen. Aufgrund dieser Schwierigkeiten ist die besondere Bedeutung der Kommission bei der Gestaltung der weiteren gemeinsamen Entwicklung weiterhin anzuerkennen. Darüber hinaus hat die Europäische Kommission auf eine Gesamtentwicklung hinzuwirken, in deren Mittelpunkt gerade die Interessen des einzelnen Unionsbürgers in ausreichender Weise Berücksichtigung finden.406 Nur wenn diese individuelle Ausrichtung der Gemeinschaftsordnung deutlicher in Erscheinung tritt, ist eine zunehmende Anerkennung und Unterstützung des Integrationsprozesses durch die Mehrheit der Unionsbürger überhaupt realistischerweise zu erwarten. Bisher ist die Europäische Kommission – in einem ungleich stärkeren Ausmaß als die anderen Organe – jedoch noch gewissen Vorurteilen von Seiten der europäischen Öffentlichkeit ausgesetzt. So sind weithin bestehende Vorstellungen, dass der europäische Integrationsprozess starke bürokratische wie auch technokratische und lebensfremde Züge trage, häufig in Bezug auf die Europäische Kommission entwickelt worden.407 Aufgrund dieser besonderen öffentlichen Wahrnehmung sowie den Nachwirkungen der gegenüber der Santer-Kommisssion erhobenen Anschuldigungen408 unterliegt gerade die Europäische Kommission folglich einem höheren Rechtfertigungszwang im Hinblick auf die Wahrnehmung ihrer Aufgaben und muss um ein höheres Maß an Transparenz und Bürgernähe besonders bemüht sein. In diesem Zusammenhang ist die im Internet über die offizielle Seite der Europäischen Union abruf___________ 406 Höreth, 198; Verhoeven, The EU in Search of a Democratic and Constitutional Theory, 234 „While it does not represent any particular interest or constituency, its role is to guard that all interests can interact at the European level in a balanced manner. (…) Thus while in the legislative process the Commission’s monopoly of initiative no longer serves the goal of giving more voice to the European Parliament, the Commission should now use that power in order to broker between interests that might not or insufficiently be heard at the European level.“ 407 Zu dieser Wahrnehmung Oppermann (2. Auflage), 137, Rn. 340; Bauer in: Integration 2005, 47 (50); Haltern in: 9 ELJ 2003, 13 (35); Stern in: Liber amicorum Thomas Oppermann 2001, 143 (162); Verhoeven, The EU in Search of a Democratic and Constitutional Theory, 228; Douglas-Scott, 53 „The Commission has been traditionally described as the most supranational of the EU institutions: it is also what many people have in mind when they refer to the Brussels bureaucracy. And yet this is unfair, for most Community regulation is actually passed not by the Commission, but by the Parliament and Council, and the Commission, although at around 21 000 employees the biggest of the EU institutions, is actually smaller than most national government departments.“; Petra Pinzler „Neuer Kurs“ in: Die Zeit Nr. 6 vom 3. Februar 2005. 408 Zu den damaligen Ereignisse siehe Peterson in: Peterson/Shackleton, 71 (78); Bauer in: Integration 2005, 47 (51); Ott in: ZeuS 1999, 231 (233); Douglas-Scott, 53 „However, its image was certainly not improved by the infamy of the revelations of mismanagement and fraud brought to light in March 1999: a state of affairs which contributed to a popular perception of the Commission as inefficient, bungling and undemocratic (...).“

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bare Präsentation der einzelnen Kommissionsmitglieder sowie ihrer Tätigkeiten als ein gelungener Versuch zu werten, ein größeres Maß an Bürgernähe zu erzielen. Solche Bemühungen müssen jedoch im Hinblick auf die nunmehr nochmals erweiterte Europäische Union weiter zunehmen. Bei solchen Forderungen ist gleichzeitig zu berücksichtigen, dass den Möglichkeiten der Europäischen Kommission selbst eine solch veränderte Wahrnehmung herbeizuführen, gewisse Grenzen gesetzt sind. So kommt der Berichterstattung in den jeweiligen nationalen Medien eine besondere Bedeutung für die Vermittlung europäischer Sachverhalte und damit auch der Tätigkeiten der Europäischen Kommission zu.

4. Der Europäische Gerichtshof Der Europäische Gerichtshof hat für eine lange Zeit mit seiner ausgesprochen integrationsfreundlichen Rechtsprechung den allgemeinen europäischen Prozess sowie die konkrete Weiterentwicklung der Europäischen Rechtsordnung maßgeblich mitgestaltet. So hat er das politische Ziel einer vertieften Integration durch seine am „effet utile“ orientierte Auslegung des Gemeinschaftsrechts in konkrete rechtliche Aussagen überführt. Beispielhaft soll hier nur auf seine Rechtsprechung zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts als einer eigenständigen Rechtsordnung gegenüber den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen409, zur unmittelbaren Anwendbarkeit von gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen410 und der Anerkennung und Konkretisierung von Gemeinschafts___________ 409 EuGH, Slg. 1963, 1 (25) Rs. 26/62 „Van Gend en Loos“ „Aus alledem ist zu schließen, dass die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben, eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind.“; EuGH, Slg. 1964, 1251 (1270) Rs. 6/64 „Costa/Enel“ „Aus alledem folgt, dass dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll.“; Craig/de Burca, 278; Wegener in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 220 EGV, Rn. 20; Douglas-Scott, 255; Dyèvre in: 30 ELRev. 2005, 165 (177); Harlow in: 23 Yearbook of European Law 2004, 57 (77); Gellermann in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 33, Rn. 9. 410 So zur Auslegung des damaligen Art. 53 EuGH, Slg. 1964, 1251 (1273) Rs. 6/64 „Costa/ENEL“ „Diese Verpflichtung der Mitgliedstaaten ist rechtlich eine reine Unterlassungspflicht, die durch keinerlei Bedingungen eingeschränkt ist und zu ihrer Erfüllung oder Wirksamkeit keiner weiteren Handlungen der Staaten oder der Kommission bedarf. Sie ist also vollständig, rechtlich vollkommen und infolgedessen geeignet, unmittelbare Wirkungen in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den Einzelnen hervorzurufen.“; Douglas-Scott, 288; Wegener in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV,

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grundrechten411 sowie zu den Außenkompetenzen der Gemeinschaft412 verwiesen werden. Mit diesen Fortbildungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts hat der Europäische Gerichtshof demnach die supranationale, teils schon annähernd föderale Natur der Europäischen Rechtsordnung wiederholt betont und gleichzeitig die Mitgliedstaaten in ihren jeweiligen Souveränitätsansprüchen herausgefordert. Dass diese Rechtsprechung immer wieder zu Konfrontationen mit den mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichtsbarkeiten geführt hat, ist leicht nachvollziehbar. So war für gewisse Urteile des Europäischen Gerichtshofs nicht unbedingt ihre Nähe zu den vertraglichen Bestimmungen, sondern vielmehr ihre integrationspolitische Konsequenz kennzeichnend.413 Vor allem die starke Betonung des Effektivitätsgebots durch seine Rechtsprechung kann nur unter Zugrundelegung eines Verständnisses der Europäischen Integration als eines ständig weiterfortschreitenden und offenen Prozesses zur Erreichung gemeinsamer und insgesamt vorteilhafter Ziele überzeugen. Ohne die Anerkennung dieser Vorbedingung erweist sich die bloße Argumentation mit der Effektivität als eines Wertes an sich als wenig überzeugend. Ein gewisser Wandel in dem vom Europäischen Gerichtshof selbst zugrunde gelegten Verständnis der ihm zukommenden Aufgaben wie auch hinsichtlich der vorrangig verwendeten

___________ Art. 220 EGV, Rn. 27; Craig/de Burca, 202; zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien Schroeder in: Streinz, EUV/EGV, Art. 249 EGV, Rn. 106. 411 EuGH, Slg. 1969, 419 (425) Rs. 29/69 „Stauder/Stadt Ulm“ „Bei dieser Auslegung enthält die streitige Vorschrift nichts, was die in den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat, enthaltenen Grundrechte der Person in Frage stellen könnte.“; Nicolaysen in: 38 EuR 2003, 719 (722); Streinz, 140, Rn. 413; Craig/de Burca, 319; Hartley, The Foundations of European Community Law, 136; Borchardt, 77, Rn. 180; Gellermann in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 33, Rn. 6; Hirsch in: 49 JöR 2001, 79 (84); UerpmannWittzack in: DÖV 2005, 152 (153); Knook in: 42 CMLRev. 2005, 367 (368). 412 EuGH, Slg. 1971, 263 (275) Rs. 22/70 „AETR“ „Diese Bestimmung betrifft für den innergemeinschaftlichen Streckenteil auch den Verkehr aus oder nach dritten Staaten. Sie setzt daher voraus, dass die Zuständigkeit der Gemeinschaft sich auf Beziehungen erstreckt, die dem internationalen Recht unterliegen, und schließt damit insoweit die Notwendigkeit ein, mit den beteiligten dritten Ländern Abkommen zu schließen.“; Wichard in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 281 EGV, Rn. 16. 413 Hartley, The Foundations of European Community Law, 72 „(...) even when there are no linguistic problems, the Court does not put a great deal of weight on the literal meaning of the words. Policy considerations play a particularly important role and sometimes prevail over the literal meaning even when it is clear.“; Haltern in: 9 ELJ 2003, 13 (27); Craig/de Burca, 279; Höreth, 224; Nettesheim in: 28 EuR 1993, 243 (244); Oppermann, 113, Rn. 116 „Aus diesen Bedingungen hat es der Gerichtshof seit den sechziger Jahren als seine Aufgabe angesehen, durch gelegentlich kühn vorwärtsweisenden Judiacial Activism die Geltung des Gemeinschaftsrechtes unzweideutig zu sichern.“

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Begründungsansätze ist jedoch in seinem Urteil zur Tabakwerberichtlinie in Erscheinung getreten.414

a) Zusammensetzung Gemäß Art. 221 EGV (nach der Verfassung Art. I-29 II) ist am Gerichtshof zunächst ein Richter aus jeweils einem Mitgliedstaat tätig. Schon aufgrund dieser Zusammensetzung kann die zusammen ausgeübte Rechtsprechung demnach kaum vergleichbar mit der eines Mitgliedstaates sein.415 So weisen die Einzelrichter unterschiedliche Prägungen durch die jeweilige Rechtsordnung ihres Heimatstaates und den ihr zugrundegelegten Vorstellungen auf. Ernannt werden die einzelnen Richter, die gewisse persönliche wie fachliche Anforderungen erfüllen müssen, von ihren Regierungen im gegenseitigen Einvernehmen mit den anderen Mitgliedstaaten gemäß Art. 223 EGV (nach der Verfassung Art. III-355) für eine Amtszeit von sechs Jahren. Eine interessante Veränderung im Verfahren der Ernennung der Einzelrichter sah Art. III-355 in Verbindung mit Art. III-357 der Verfassung vor. Danach sollten die Richter zwar weiterhin im gegenseitigen Einvernehmen von den einzelstaatlichen Regierungen ernannt werden, zuvor war aber eine Anhörung der Kandidaten durch einen Ausschuss vorgesehen. Die Befähigung der Einzelrichter sollte demnach eine weitere Überprüfung durch ein von den Mitgliedstaaten unabhängiges Gremium erfahren. Mit diesem zwischengeschalteten Bewertungsverfahren hätten Absprachen zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten über die gegenseitige Unterstützung der jeweiligen Kandidaten an Bedeutung verloren. Zwar blieb unklar, welche Auswirkung eine möglicherweise nachteilige Bewertung eines Kandidaten auf das weitere Besetzungsverfahren gehabt hätte. Jedoch sollten die faktischen Folgen einer ablehnenden Stellungnahme des Ausschusses nicht unterschätzt werden. Weiterhin sind dem Gerichtshof nach Art. 222 EGV (nach der Verfassung Art. III-354) acht Generalanwälte zugeordnet, die mit ihren Schlussanträgen eine umfassende rechtliche Bewertung der sich in einem Fall ergebenden Fragen – in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit – liefern und dadurch die Urteilsfindung allgemein vorbereiten. Darüber hinaus sind schon aufgrund des durch die französische Rechtspraxis beeinflussten apodiktisch kurzen Begründungsstils des Europäischen Gerichtshofs diese Schlussanträge von großer Be___________ 414 EuGH, Slg. 2000-10, I-8419 (I-8532) Rs. C-376/98 „Deutschland/EP und Rat“; Huber in: Streinz, EUV/EGV, Art. 220 EGV, Rn. 5; Craig/de Burca, 101. 415 Hirsch in: 49 JöR 2001, 79 (86); Huber in: Streinz, EUV/EGV, Art. 221, Rn. 1; Borchardt, 147, Rn. 360.

188 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

deutung für ein tiefergehendes Verständnis der Urteile. Um einer Zunahme der Arbeitsbelastung angemessen begegnen zu können, kann die Zahl der Generalanwälte im Übrigen durch einen entsprechenden Ratsbeschluss erhöht werden. Der Europäische Gerichtshof entscheidet im Weiteren – abhängig von den sich in der jeweiligen Rechtssache stellenden Schwierigkeiten, dem Bestehen einer bereits gefestigten Rechtsprechung sowie den politischen und finanziellen Folgen des Verfahrens – gemäß Art. 221 EGV (nach der Verfassung Art. III353) in Kammern, als Große Kammer oder als Plenum. Durch den Vertrag von Nizza neu eingeführt ist die Bestimmung des Art. 225a EGV (nach der Verfassung Art. III-359), nach dem die Errichtung weiterer Gerichtskammern möglich ist. Mit zum einen der Errichtung eines ausschließlich für europäische Dienststreitigkeiten zuständigen Fachgerichtes416, zum anderen mit dem Vorschlag der Europäischen Kommission für einen Ratsbeschluss zur Errichtung eines Gemeinschaftspatentgerichts417 ist von dieser Ermächtigungsgrundlage bereits Gebrauch gemacht worden. Aufgrund der ständig gestiegenen Arbeitsbelastung des Europäischen Gerichtshofes418 sind diese Möglichkeiten zu seiner Entlastung schon im Hinblick auf den ansonsten kaum noch zu gewährleistenden Rechtsschutz als notwendige Maßnahmen anzusehen. Inwieweit die derart errichteten Kammern, auch wenn sie dem Europäischen Gerichtshof beigeordnet sind, zukünftig an Unabhängigkeit gewinnen und demnach die weitere Ausgestaltung der Rechtsordnung eigenständig beeinflussen sowie in Konflikt mit dem Gerichtshof selbst treten werden, bleibt abzuwarten. Nähere Regelungen zur Arbeitsweise des Europäischen Gerichtshofs sind schließlich in der Satzung und Verfahrensordnung enthalten.

b) Tätigkeitsbereiche Der Gerichtshof – im Näheren der Europäische Gerichtshof, das Gericht und die Fachgerichte – gewährleistet nach der in Art. 220 EGV (nach der Verfassung Art. I-29 I) enthaltenen allgemeinen Aufgabenbeschreibung im Rahmen seiner Zuständigkeiten die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und An___________ 416

2004/752/EG, Euratom: „Beschluss des Rates vom 2. November 2004 zur Errichtung des Gerichts für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union“. 417 KOM (2003) 828 endgültig vom 23.12.2003: „Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Errichtung des Gemeinschaftspatentgerichts und betreffend das Rechtsmittel vor dem Gericht erster Instanz“. 418 Zuleeg in: JZ 1994, 1 (7); Oppermann, 113, Rn. 115; Hirsch in: 49 JöR 2001, 79 (88); Borchardt, 157, Rn. 379; Huber in: Streinz, EUV/EGV, Art. 220 EGV, Rn. 3; Middeke in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 3, Rn. 7; Wegener in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 220 EGV, Rn. 25.

I. Die Organstruktur der Europäischen Union

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wendung dieses Vertrages. Im Einzelnen ergeben sich seine Zuständigkeiten aus den jeweiligen Bestimmungen des EGV und EUV sowie auch des hier nicht näher behandelten Euratom. Eine Zusammenschau dieser Bestimmungen verdeutlicht, dass der Europäische Gerichtshof für die Lösung sehr verschiedener, in der Gemeinschaftsrechtsordnung zwischen den unterschiedlichen Beteiligten auftretenden Interessenkonflikte zuständig ist. Zusätzlich unterscheiden sich die vor dem Europäischen Gerichtshof möglichen Verfahren nach ihrer Zielsetzung erheblich, da sie teils als Direktklagen, teils als bloße Zwischenverfahren im Rahmen mitgliedstaatlicher Gerichtsverfahren ausgestaltet sind. Nähere Ausführungen zur konkreten Arbeitsweise des Gerichtshofs und vor allem der vor ihm zulässigen Klagen sind unter anderem in den Art. 226, 227, 230, 232 sowie 234 bis 239 EGV (nach der Verfassung Art. III-360, 361, 365, 367, 369) enthalten. Danach ist der Europäische Gerichtshof für die Entscheidung im Vertragsverletzungsverfahren, für Nichtigkeits-, Untätigkeitsklagen sowie im Vorabentscheidungsverfahren zuständig. Dabei zeigt sich nicht nur im Vorabentscheidungsverfahren deutlich die Notwendigkeit eines Kooperationsverhältnisses zwischen dem Europäischen Gerichtshof und den mitgliedstaatlichen Gerichten, denen auch im Übrigen überwiegend die Aufgabe der Anwendung von Gemeinschaftsrecht im Einzelfall zukommt.419 Auch aufgrund der nur sehr eingeschränkten Möglichkeiten für den Einzelnen, überhaupt eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof anzustrengen, sind gerade die mitgliedstaatlichen Gerichte als Gemeinschaftsgerichte anzusehen.420 So bestimmt Art. 230 EGV, dass für die Erhebung einer Nichtigkeitsklage eine natürliche oder juristische Person neben den allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen zusätzlich die folgenden Anforderungen zu erfüllen hat. Sofern der Kläger nicht Adressat ist und eine Klage gegen eine Verordnung oder gegen eine an eine andere Person ergangene Entscheidung erhoben wird, muss ein Nachweis der unmittelbaren und individuellen Betroffenheit gelingen. Demnach muss der einzelne Kläger in einer qualifizierten Beziehung zum Klagegegenstand stehen. Dabei soll mit der Einbeziehung von Verordnungen als mögliche Klagegegenstände zunächst verhindert werden, dass ___________ 419 Calliess in: NJW 2005, 929 (933); Classen in: JZ 2006, 157 (165); Douglas-Scott, 250; Craig/de Burca, 433; Komárek in: 42 CMLRev. 2005, 9 (22); Middeke in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 10, Rn. 2; Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften – Band I, 823; Huber in: Streinz, EUV/EGV, Art. 220 EGV, Rn. 40; Hirsch in: 49 JöR 2001, 79 (83) „Dieses Verfahren trägt der spezifischen Gemengelage von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht und der Aufteilung der Zuständigkeiten der gemeinschaftsrechtlichen und mitgliedstaatlichen Gerichtsbarkeit Rechnung.“ 420 Craig/de Burca, 450; Zuleeg in: JZ 1994, 1 (2); Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften – Band I, 838; Rengeling/Middeke in: Rengeling/ Middeke/Gellermann, § 1, Rn. 10; Wegener in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 1.

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der Rechtsschutz bereits aus formalen Gründen allein durch die gewählte Rechtsform begrenzt wird. So ist eine Verordnung, die einen deutlichen unmittelbaren und individuellen Bezug aufweist, als eine lediglich verdeckte Entscheidung anzusehen. Indem jedoch im weiteren, vor allem an die individuelle Betroffenheit durch die „Plaumann-Formel“421 hohe Anforderungen gestellt werden, ist dieser Schutz vor einem rechtsmissbräuchlichen Handeln der Gemeinschaftsorgane doch nicht so weitreichend wie zunächst angenommen werden könnte. Zwar erscheint in Anbetracht des legitimen Interesses, Popularklagen auszuschließen, grundsätzlich eine gewisse Beschränkung des individuellen Rechtsschutzes sinnvoll. Doch ist diese restriktive frühere Rechtsprechung einerseits kaum noch mit dem besonderen Anspruch der Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft vereinbar.422 Andererseits bleibt mit der Beschränkung des Klagegegenstandes auf Verordnungen die allgemeine Entwicklung unberücksichtigt, dass auch zunehmend Richtlinien als unmittelbares und dem einzelnen Mitgliedstaaten kaum einen Umsetzungsspielraum einräumendes Gestaltungsmittel eingesetzt werden. So befindet sich die Vorstellung, dass gegenüber Richtlinien, die zunächst von den einzelnen Mitgliedstaaten umgesetzt werden, demnach auch Rechtsschutz durch die nationalen Gerichten zu gewähren ist423, zum einen nicht notwendigerweise mehr im Einklang mit der tatsächlichen Verantwortungsverteilung. Die allgemeine Urheberschaft einer sich mit ihren Vorgaben derart einer Verordnung annähernden Richtlinie liegt trotz des nachfolgenden nationalen Umsetzungsaktes weiterhin auf der Gemeinschaftsebene. Zum anderen kann eine Richtlinie – ungeachtet ihres regelmäßigen Charakters

___________ 421

EuGH, Slg.1963, 211 (238) Rs. 25/62 „Plaumann/Kommission“ „Wer nicht Adressat einer Entscheidung ist, kann nur dann geltend machen, von ihr individuell betroffen zu sein, wenn die Entscheidung ihn wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten.“; Burgi in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 7, Rn. 60; Borowski in: 39 EuR 2004, 879 (890); Cremer in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 EGV, Rn. 49; Streinz, 222, Rn. 606. 422 Cremer in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 EGV, Rn. 59; Borowski in: 39 EuR 2004, 879 (891); Oppermann (2. Auflage), 283, Rn. 753 „Ob diese mit dem Gedanken der Rechtssicherheit begründete Beschränkung der Anfechtungsklage Privater auf Entscheidungen angesichts der von der Gemeinschaft zunehmend in Anspruch genommenen Möglichkeiten, durch Normativakte unmittelbar in Rechte des einzelnen Marktbürgers einzugreifen, heute rechtspolitisch noch gerechtfertigt ist, erscheint zweifelhaft.“; siehe aber auch Ehricke in: Streinz, EUV/EGV, Art. 230 EGV, Rn.60; für eine sich auch nicht aus einer möglichen Verletzung des institutionellen Gleichgewichts ergebenden Klagebefugnis siehe nur EuGH, Slg. 2006-5, I-3881 (I-3893) Rs. C-417/04 P „Regione Siciliana/Kommission“ – GA Ruiz-Jarabo Colomer. 423 Burgi in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 7, Rn. 58; Borchardt, 240, Rn. 579, Borowski in: 39 EuR 2004, 879 (889); Oppermann, 166, Rn. 84.

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als einer normativen, allgemeinen und abstrakten Maßnahme424 – im Einzelfall eine individuelle und unmittelbare Ausrichtung aufweisen, so dass wiederum eine verschleierte Entscheidung vorliegt.425 In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass Art. III-365 IV der Verfassung nach seinem ausdrücklichen Wortlaut gerade nicht mehr eine vergleichbare Beschränkung auf Entscheidungen und Verordnungen aufwies, indem von den nicht privilegierten Klägern Klage erhoben werden konnte „gegen die an sie gerichteten oder sie unmittelbar und individuell betreffenden Handlungen sowie gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, (...).“ Weitere Zuständigkeiten des Europäischen Gerichtshofs ergeben sich bei Schadensersatzforderungen, bei gewissen Streitsachen betreffend der Europäischen Investitionsbank und der Europäischen Zentralbank sowie aufgrund besonderer Vereinbarung. Darüber hinaus nimmt der Europäische Gerichtshof auch eine rechtsberatende Aufgabe wahr, indem er auf Anfrage Gutachten zu rechtserheblichen Fragen erstellt. So kann er gemäß Art. 300 VI EGV (nach der Verfassung Art. III-325 XI) vom Europäischen Parlament, dem Rat, der Kommission oder auch einem Mitgliedstaat über die Vereinbarkeit eines geplanten verbindlichen völkerrechtlichen Abkommens mit diesem Vertrag befragt werden. Kommt der Europäische Gerichtshof in seinem darauffolgenden Gutachten zu dem Ergebnis, dass ein solches Abkommen unvereinbar mit den vertraglichen Bestimmungen ist, ist dessen Abschluss erst nach einer entsprechenden Vertragsänderung möglich. Besondere Bekanntheit hat in diesem Zusammenhang sein ablehnen-

___________ 424 Schroeder in: Streinz, EUV/EGV, Art. 249, Rn. 71; EuGH, Slg. 1995/I, I-4149 (I-4161) Rs. C-10/5 P „Asocarne/Rat“; allgemein zur Einordnung eines Rechtsaktes in die vorgesehenen Handlungsformen Oppermann, 163 Rn. 75. 425 Borchardt, 240, Rn. 579; Schroeder in: Streinz, EUV/EGV, Art. 249, Rn. 71; in gewisser Weise noch offen gelassen in EuGH, Slg. 1995/I, I-4149 (I-4160) Rs. C-10/95 P „Asocarne/Rat“; siehe aber auch EuG, Slg. 1998-5/6, II-2335 (II-2362f.) Rs. T-135/96 „UEAPME/Rat“ „Zwar behandelt Art. 173 Absatz 4 des Vertrages die Zulässigkeit der von einer juristischen Person gegenüber einer Richtlinie erhobenen Nichtigkeitsklage nicht ausdrücklich, der Rechtsprechung des Gerichtshofes ist jedoch nicht zu entnehmen, dass dies allein nicht ausreicht, solche Klagen für unzulässig zu erklären. (...) Unter diesen Umständen kann der Rat nicht durch die bloße Wahl der Form der Richtlinie die einzelnen an der Ausübung der Klagerechte hindern, die der Vertrag ihnen zur Verfügung stellt. Es ist daher zunächst zu prüfen, ob die Richtlinie ein normativer Akt ist oder ob sie als Entscheidung in der Gestalt einer Richtlinie anzusehen ist. Bei der Prüfung, ob ein Rechtsakt allgemeine Geltung hat oder nicht, sind seine Rechtsnatur und die Rechtswirkungen zu ermitteln, die er erzeugen soll oder tatsächlich erzeugt.“

192 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

des Gutachten zum Beitritt der Europäischen Gemeinschaft zur EMRK erlangt.426 Schließlich kommt dem Europäischen Gerichtshof aufgrund seines Auftrages zur „Wahrung des Rechts“ und der allgemeinen Dynamik der Entwicklung der Gemeinschaftsrechtsordnung auch die Befugnis zu, rechtsfortbildend tätig zu werden.427 Dass Gerichte unter Beachtung gewisser – sich vor allem aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz ergebender – Beschränkungen rechtsfortbildend tätig werden dürfen, schon um sich nicht dem Vorwurf einer Rechtsverweigerung auszusetzen, ist in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen allgemein anerkannt. Inwieweit aber auch dem Europäischen Gerichtshof diese Befugnis zukommt, war zumindest nicht von vornherein geklärt. Doch sind unter Hinweis auf bestimmte, einzuhaltende Grenzen seine entsprechenden Entscheidungen von den Mitgliedstaaten – ihren rechtssetzenden wie rechtsanwendenden Organen – anerkannt worden.428 So überführt bereits der Wortlaut des Art. 220 EGV (nach der Verfassung Art. I- 29 I) die allgemeine Erfahrung, dass die Begriffe von Gesetz und Recht nicht notwendigerweise vollkommen deckungsgleiche Bereiche erfassen, auch in die gemeinsame Europäische Rechtsordnung. Eine spezifisch für das Gemeinschaftsrecht zu beachtende Grenze überschreitet zunächst eine Rechtsfortbildung, die gleichbedeutend mit einer Vertragsänderung im Sinne von Art. 48 EUV (nach der Verfassung Art. IV-443) ist.429 In diesem Zusammenhang ist vor allem die teils extensive Auslegung des ___________ 426

EuGH, Slg. 1996, I-1763 (I-1789) Gutachten 2/94 „EMRK“ „Daher ist festzustellen, dass die Gemeinschaft beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts nicht über die Zuständigkeit verfügt, der Konvention beizutreten.“; Schwarz in: Rengeling/ Middeke/Gellermann, § 16, Rn. 14; Winkler, 72; Uerpmann-Wittzack in: DÖV 2005, 152 (153). 427 Middeke in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 4, Rn. 8; Huber in: Streinz, EUV/EGV, Art. 220 EGV, Rn. 12; Zuleeg in: JZ 1994, 1 (6); Hirsch in: 49 JöR 2001, 79 (86); Nicolaysen in: 38 EuR 2003, 719 (726); Calliess in: NJW 2005, 929 (930); Borchardt in: GS Grabitz 1995, 29 (30); BVerfGE 75, 223 (244); 89, 155, (209); Faber in: DVBl. 1990, 1095 (1098). 428 BVerfGE 75, 223 (244) „Die Gemeinschaftsverträge sind auch im Lichte gemeineuropäischer Rechtsüberlieferung und Rechtskultur zu verstehen. Zu meinen, dem Gerichtshof der Gemeinschaften wäre die Methode der Rechtsfortbildung verwehrt, ist angesichts dessen verfehlt.“; BVerfGE 89, 155 (209); Middeke in: Rengeling/ Middeke/Gellermann, § 4, Rn. 7; Oppermann, 114, Rn. 117. 429 Borchardt in: GS Grabitz 1995, 29 (32); Höreth, 224; Calliess in: NJW 2005, 929 (930); Oppermann, 277, Rn. 18; BVerfGE 75, 223 (243) „Auch gegen die Methode richterlicher Rechtsfortbildung, deren sich die der Gerichtshof bedient hat, ist weder unter dem Maßstab des Zustimmungsgesetzes zum EWG-Vertrag noch dem des Art. 24 Abs. 1 GG etwas zu bewenden. Zwar ist dem Gerichtshof keine Befugnis übertragen worden, auf diesem Wege Gemeinschaftskompetenzen beliebig zu erweitern; ebenso wenig aber können Zweifel daran bestehen, dass die Mitgliedstaaten die Gemeinschaft mit einem

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Art. 308 EGV (nach der Verfassung Art. I-17 I), nach der die Gemeinschaft ausnahmsweise in unvorhergesehenen und demnach nicht im positiven Recht geregelten Fällen tätig werden kann, Gegenstand kritischer Auseinandersetzungen gewesen. Somit hat der Europäische Gerichtshof bei seiner Rechtsprechung zum einen die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten zu beachten. Zum anderen ergeben sich allgemeine Grenzen einer solchen auch nur in Einzelfällen aus methodischen Gründen gebotenen Rechtsfortbildung aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung, dem aufgrund der klaren Bekenntnisse zur Rechtsstaatlichkeit auch im Gemeinschaftsrecht Beachtung zukommen muss. Die positivgesetzlich bestimmte Aufgabenzuweisung an die verschiedenen Gemeinschaftsorgane darf demnach durch Rechtsfortbildung nicht verändert werden.430 So kann der Europäische Gerichtshof wie auch die nationalen Verfassungsgerichte in den einzelnen Mitgliedstaaten nicht stellvertretend für die an sich für die Gesetzgebung zuständigen Organe tätig werden, um rechtspolitisch als unbefriedigend angesehene Regelungslücken zu schließen. Außerdem hat er bei jeder Rechtsfortbildung die bereits in den gesetzlichen Bestimmungen angelegten Werte in ausreichender Weise zu beachten. Einen allgemeinen Ausdruck findet diese Werteorientierung in Art. 6 I EUV (nach der Verfassung Art. I-2), der bestimmte fundamentale Prinzipien der Europäischen Union festlegt. Darüber hinaus legt der Europäische Gerichtshof seiner Ermittlung allgemeiner Rechtsgrundsätze nach Art. 6 II EUV (nach der Verfassung Art. I-9) unter anderem auch die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten zugrunde. Methodisch geschieht die Rechtsfortbildung durch eine wertende, nicht eine umfassende Rechtsvergleichung. Begründet werden kann diese Vorgehensweise nicht nur durch einen Hinweis auf die Eigenständigkeit der Gemeinschafts___________ Gericht ausstatten wollten, dem Rechtsfindungswege offen stehen sollten, wie sie in jahrhunderterlanger gemeineuropäischer Rechtsüberlieferung und Rechtskultur ausgeformt worden sind.“; BVerfGE 89, 155 (209) „Darüber hinaus verdeutlicht der UnionsVertrag durch ausdrückliche Hinweise auf das Erfordernis einer Vertragsänderung oder einer Vertragserweiterung die Trennlinie zwischen einer Rechtsfortbildung innerhalb der Verträge und einer deren Grenzen sprengenden, vom geltenden Vertragsrecht nicht gedeckten Rechtssetzung.“ 430 EuGH, Slg. 2000-10, I-8577 (I-8584f.) Verb. Rs. C-434/98 P und C-433/98 P „Rat/Busacca u.a.“ – Schlussanträge des GA S. Alber; Middeke in: Rengeling/ Middeke/Gellermann, § 4, Rn. 8; Calliess in: NJW 2005, 929 (930); für ein weiteres Verständnis siehe Borchardt in: GS Grabitz 1995, 29 (39) „Danach ist es zwar in erster Linie Sache des Gesetzgebers, die Ordnung wichtiger Lebensbereiche in ihren Grundzügen selbst zu gestalten und für eine Rechtsordnung materialer Gerechtigkeit zu sorgen; kommt jedoch der Gesetzgeber dieser Verpflichtung aus sachlich nicht gerechtfertigten Gründen nicht nach, liegt es unter der Geltung des Gewaltenteilungsprinzips bei den Gerichten, ihre (konkurrierende) Kompetenz zur Normsetzung auszuüben.“; so wohl auch Pescatore in: FS Kutscher 1981, 319 (329).

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rechtsordnung, sondern auch durch die ansonsten bestehende Gefahr, dass ohne eine derartige abschließende Bewertung durch den Europäischen Gerichtshof selbst die Gemeinsamkeit einer Rechtsüberzeugung durch den Beitritt neuer Mitgliedstaaten jeweils wieder in Frage gestellt werden könnte. Schließlich ist eine Rechtsfortbildung zu Lasten des Einzelnen als nicht zulässig anzusehen. Diesen im deutschen Recht unter anderem durch die Wesentlichkeitstheorie, für den Bereich des Strafrechts durch das Analogieverbot verankerten Grundsatz hat der Europäische Gerichtshof beispielsweise durch die Ablehnung einer horizontalen Wirkung von nicht umgesetzten Richtlinien zwischen Privaten in entsprechender Weise berücksichtigt.431 Trotz der diesbezüglich sehr deutlichen Aussagen des Europäischen Gerichtshofs kann jedoch aufgrund des gleichzeitigen Gebotes der richtlinienkonformen Auslegung zwischen Privaten eine gewisse mittelbare Drittwirkung eintreten.432

c) Weiterführende Funktion Der Europäische Gerichtshof nimmt bereits aufgrund der ihm ausdrücklich zugewiesenen Zuständigkeiten sehr unterschiedliche Funktionen in der gemeinsamen europäischen Rechtsordnung wahr. Zum einen überwacht er die verschiedenen Beteiligten – Mitgliedstaaten wie auch Gemeinschaftsorgane – bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts. Zum anderen überprüft er aber auch die Vereinbarkeit sekundärrechtlicher Bestimmungen mit dem Primärrecht und wahrt auf diese Weise die Einheitlichkeit des gesetzten Gemeinschaftsrechts in seiner Gesamtheit. Weiterhin erfolgt auch die nähere Normbestimmung durch seine Rechtsprechung; auf diesem Wege gestaltet er die Rechtsordnung unmittelbar mit und sichert wiederum die Identität und konkrete einheitliche Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen durch die sie ausführenden

___________ 431 EuGH, Slg. 1986/I, 723 (749) Rs. 152/84 „Marshall/Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority“ „Zu dem Argument, wonach eine Richtlinie nicht gegenüber einem einzelnen in Anspruch genommen werden könne, ist zu bemerken, dass nach Art. 189 EWG-Vertrag der verbindliche Charakter einer Richtlinie, auf dem die Möglichkeit beruht, sich vor einem nationalen Gericht auf die Richtlinie zu berufen, nur für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, besteht. Daraus folgt, dass eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für einen einzelnen begründen kann und dass eine Richtlinienbestimmung daher als solche nicht gegenüber einer derartigen Person in Anspruch genommen werden kann.“; Oppermann, 169, Rn. 93; Schroeder in: Streinz, EUV/EGV, Art. 249, Rn. 116. 432 Oppermann, 169, Rn. 93; siehe aber auch Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 249 EGV, Rn. 115.

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Stellen.433 Diese Fortentwicklung der Gemeinschaftsrechtsordnung geschieht sowohl durch Auslegung, als auch – in begründeten Einzelfällen – durch Rechtsfortbildung. Ungeachtet der erheblichen Aufmerksamkeit, die seine rechtsfortbildende Tätigkeit erfahren hat, ist der Europäische Gerichtshof im Regelfall mit der bereits durch Auslegung erfolgenden Anpassung gesetzlicher, zumeist sehr offen formulierter Bestimmungen an veränderte Umstände wie auch ihrer Konkretisierung beschäftigt – unter Berücksichtigung des integrationsoffenen Charakters der Gemeinschaftsrechtsordnung. Als eine ihm darüber hinaus zukommende allgemeine Funktion von überragender Wichtigkeit ist die Identifizierung und bis zu einem gewissen Grade auch die Herausbildung eines gemeinsamen Wertekonsenses durch seine Rechtsprechung zu benennen. Die Vorstellung der Europäischen Union als einer lebendigen Werte- und Rechtsgemeinschaft kann nicht durch die Vielzahl diesbezüglicher Erklärungen der Gemeinschaftsorgane etabliert werden, sondern bedarf vielmehr einer dauernden Bestätigung durch ein entsprechendes Tätigwerden. Mit einer sich auch immer wieder auf übergeordnete Werte berufenden Rechtsprechung kann der Europäische Gerichtshof grundsätzlich auch die Anerkennung seiner Urteile erhöhen.434 Indes darf in diesem Zusammenhang nicht vernachlässigt werden, dass es sich beim Gerichtshof – im Gegensatz zum Parlament – nicht um ein direkt gewähltes Organ handelt und demnach durch die Rechtsprechung nicht unzulässigerweise im Sinne des Gewaltenteilungsgrundsatzes in die Befugnisse des Parlaments eingegriffen wird. Unter ausreichender Beachtung der Aufgaben der anderen Organe ist demnach Zurückhaltung bei der Beantwortung politischer Fragen zu üben. Auch wenn die politische Natur der zugrundeliegenden Fragestellung ein nur bedingt hilfreiches Abgrenzungskriterium im Einzelfall darstellt, muss der Europäische Gerichtshof demnach in jeder seiner Entscheidungen die Balance zwischen „judicial activism“ und „judicial restraint“ neu bestimmten.435 Vor allem mit seiner allgemein anerkannten Rechtsprechung zu den Grundrechten hat der Europäische Gerichtshof einen wichtigen Beitrag zu einer gewandelten Wahrnehmung ___________ 433 Zuleeg in: JZ 1994, 1 (6) „Er hat die Einheit des Gemeinschaftsrechts zu wahren, indem er für eine gleichförmige und wirksame Anwendung des Gemeinschaftsrechts Sorge trägt.“; Wegener in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 220 EGV, Rn. 10; Höreth, 223; Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften – Band I, 472; Mittmann, 183. 434 Siehe zum allgemeinen Unterschied zwischen normativ begründeten und an Werten orientierten Entscheidungen und den damit verbundenen Folgen wie auch diesbezüglich bestehenden Bedenken Pawlowski in: ZRph 2004, 97 (98). 435 EuGH, Slg. 2000-10, I-8535 (I-8555) Verb. Rs. C-432/98 P und C-433/98 P „Rat/Chvatal u.a.“ – Schlussanträge des GA S. Alber; allgemein zu diesen beiden grundsätzlichen Forderungen Lenta in: 20 SAJHR 2004, 544 (547); Mittmann, 259; Rasmussen, 33; Pawlowski in: ZRph 2004, 97 (110).

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der Gemeinschaftsrechtsordnung als einer Werteordnung in den einzelnen Mitgliedstaaten – und nicht nur durch die mitgliedstaatlichen Gerichte – geleistet.436 So kann die durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs erfolgende Betonung der Rechtsgebundenheit der supranational ausgeübten Herrschaft auch die allgemeine Legitimation dieser gemeinsam geschaffenen Rechtsordnung stärken. Darüber hinaus sind die Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof – wie auch mitgliedstaatliche Gerichtsverfahren – als grundlegende Mittel zur Kommunikation der Beteiligten untereinander anzusehen. In ihrem Rahmen können diejenigen Interessenkonflikte abschließend und – idealerweise – auch zufriedenstellend gelöst werden, denen in den anderen vorgeschalteten Verfahren zur Konsensbildung und allgemeinen Verständigung nicht angemessen begegnet werden konnte.437 Außerdem können die Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof gerade denjenigen Betroffenen ein Forum bieten, die in die vorangegangenen Entscheidungsprozesse nur unzureichend eingebunden worden sind und auch auf diese Weise langfristig integrierend wirken. Dem Europäischen Gerichtshof kommt demnach die wichtige Rolle als einem Mittler zwischen den Bereichen von Recht und Politik zu. Gerade die damit einhergehende Vermittlung zwischen den unterschiedlichen Ebenen und den verschiedenen Vorstellungen über die weitere Entwicklung des Europäischen Integrationsprozesses ist somit zu seinen Hauptaufgaben zu zählen, die in dieser umfassenden Weise auch von keinem anderen Gemeinschaftsorgan wahrgenommen werden kann.

d) Bewertung der bisherigen Entwicklung Auch wenn bei einer aus mehreren Staaten bestehenden Organisation nicht die Vollkommenheit eines mitgliedstaatlichen Rechtsschutzsystems verlangt werden kann, so ist doch die Europäische Rechtsordnung hinsichtlich der Gewährleistung einer unabhängigen Gerichtsbarkeit ihren Mitgliedstaaten als fast gleichwertig anzusehen. Der Europäische Gerichtshof hat zudem im Laufe seiner Rechtsprechungstätigkeit rechtsstaatliche Elemente wie die Gesetzmäßig___________ 436

Zuleeg in: JZ 1994, 1 (6) „Er gestaltet durch Auslegung und Rechtsfortbildung die Rechtsordnung der Gemeinschaft so aus, dass die Gemeinschaft rechtsstaatliche Züge aufweist, insbesondere die Grundrechte schützt, dass die demokratischen Ansätze in der Gemeinschaftsrechtsordnung zur Geltung kommen und föderative Grundsätze das Verhältnis der Gemeinschaft zu ihren Mitgliedstaaten bestimmen.“; Wegener in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 220 EGV, Rn. 11; Beetham/Lord in: Weale/Nentwich (Hrsg.), 15 (29); Borchardt, 154, Rn. 376; allgemein Calliess in: NJW 2005, 929 (930); Knook in: 42 CMLRev. 2005, 367 (369). 437 Siehe zu den allgemeinen Aufgaben einer Verfassungsgerichtsbarkeit Azpitarte Sanchez in: Liber Amicorum Häberle, 579 (582).

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keit der Verwaltung, den Vertrauensschutz und die Verhältnismäßigkeit eingeführt und damit die bereits in der Gemeinschaftsrechtsordnung angelegten rechtsstaatlichen Elemente, wie den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung und die allgemein bestimmte Zuständigkeitsverteilung auf verschiedene Organe, weitgehend ergänzt. Der Europäische Gerichtshof hat somit als das maßgebliche Überwachungs- und Streitentscheidungsorgan zur Stabilisierung der bestehenden Integrationsordnung einen wesentlichen Beitrag geleistet. Darüber hinaus hat er die Weiterentwicklung des Gemeinschaftsrechts mit dem seiner Auslegung immer wieder zugrunde gelegten Prinzip der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaften gefördert. Eine gewisse Schwierigkeit bei seiner Aufgabenerfüllung ergibt sich jedoch dadurch, dass der Europäische Gerichtshof kaum über Sanktionsmaßnahmen verfügt, um die Umsetzung und Beachtung seiner Urteile zu gewährleisten.438 Zwar hat sich für die weitere Durchsetzung gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen seine in der Entscheidung Francovich439 erstmals enthaltene Begründung eines staatshaftungsrechtlichen Anspruchs gegenüber einem Mitgliedsstaat, der seiner Umsetzungspflicht von Richtlinien nicht fristgemäß nachkommt, als wichtig erwiesen. Aufgrund der Besonderheiten der Gemeinschaftsrechtsordnung handelt es sich jedoch bei der zwangsweise Durchsetzung von Urteilen wohl um einen Bereich, der abschließend rechtlich kaum geregelt werden kann. So ist der Europäische Gerichtshof hinsichtlich der Befolgung seiner Urteile – wie auch das Fortschreiten des gesamten Integrationsprozesses – auf Dauer abhängig von einer entsprechenden Bereitschaft der beteiligten Staaten. Zwar stellen sich Schwierigkeiten im Hinblick auf die Akzeptanz und Befolgung von Urteilen auch in den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen. Doch wird die in ihrem jeweiligen Rahmen ausgeübte Hoheitsgewalt nicht in vergleichbarer Weise in Frage gestellt wie im europäischen Zusammenhang, vor allem bei der Berührung hochsensibler Bereiche für die Einzelstaaten.440 ___________ 438 Ehricke in: Streinz, EUV/EGV, Art. 228 EGV, Rn. 1; Dyèvre in: 30 ELRev. 2005, 165 (178); Lasok, 327 „There can be no physical enforcement of judgements against Member States. The Treaty simply relies on the provisions of EC Article 228, that states have an obligation to take the necessary measures to comply with the judgement. The Community follows the ethos of Rechtsstaat, ie the state governed by law and the ultimate sanction of the law which is an ethical one.“ 439 EuGH Slg. 1991, I-5357 (I-5403) Rs. C-6 und 9/90 „Francovich Bonifaci/Italien“; Zuleeg in: JZ 1994, 1 (6); Borchardt in: GS Grabitz 1995, 29 (35); Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 288 EGV, Rn. 36; Oppermann, 114, Rn. 116; weiterführend Komárek in: 42 CMLRev. 2005, 9 (11). 440 Borchardt in: GS Grabitz 1995, 29 (39); Komárek in: 42 CMLRev. 2005, 9 (10); Peterson/Bomberg, 46; Wincott in: Arnull/Wincott, 485 (492) „Of course, not everyone feels fully part of their own national community. Indeed, the discussion above suggests that the era of tendential national cultural homogenisation may have come to an end.

198 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

Schließlich kommen im Hinblick auf die letzten Erweiterungen auf die Europäische Union und damit auch auf den Europäischen Gerichtshof erhebliche Herausforderungen zu. So müssen die neuen Mitgliedstaaten nicht nur den erfolgten Übergang von sozialistischen zu demokratischen Regierungssystemen sowie die vollständige Umgestaltung ihrer wirtschaftlichen Systeme bewältigen. Auch schwere ökologische Folgeschäden, eine immer noch in einigen Regionen in erheblicher Weise bestehende ökonomische Rückständigkeit wie eine teils wenig entwickelte allgemeine Infrastruktur, aber auch zivilgesellschaftliche Defizite machen erhebliche weitere Anstrengungen notwendig. Solange in den verschiedenen Staaten – aufgrund der teils immer noch verbreiteten Korruption und Bestechlichkeit, aber auch aufgrund früherer Erfahrungen – das Vertrauen gegenüber dem Staat und seinen Institutionen sowie dem Rechtssystem insgesamt gering bleibt, kann ein solches wohl auch kaum auf der europäischen Ebene entstehen. Gerade unter diesen veränderten Bedingungen bleibt die fortgesetzte gemeinsame Wertebestimmung – gerade auch durch die Europäische Rechtsprechung – in der Europäischen Union von großer Wichtigkeit.441 Ansonsten wird auf Dauer ein kohärentes Vorgehen, das von den jeweiligen Bevölkerungen mitgetragen wird, kaum möglich sein. Ungeachtet dieser sich abzeichnenden Schwierigkeiten muss aber – neben all den anderen mit den Erweiterungen verbundenen Vorteilen – auch die sich gerade bietende Möglichkeit erkannt werden, neben dem Charakter als einem wirtschaftlichen Interessenzusammenschluss die Europäische Union als eine besondere Solidargemeinschaft deutlicher in Erscheinung treten zu lassen.442 Dem Europäischen Gerichtshof wird mit seiner Rechtsprechung in den kommenden Jahrzehnten in dieser Hinsicht eine besondere Bedeutung zukommen. Doch kann er keineswegs eine gegebenenfalls fehlende Bereitschaft der Mitgliedstaaten, diesen ___________ Moreover, patterns of interaction across national boundaries facilitated by the EU may allow other aspects of identity to flourish, and even help to create such identities. Nonetheless, my own feeling is that even if it proved possible to do so, it is forlorn to hope that allowing various identities within Europe to feel represented in the Union’s political process will solve its legitimacy problems.“ 441 Siehe allgemein zur Herausforderung der Neubestimmung von gesellschaftlichen Grundstrukturen durch kommunikatives Handeln nur Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns – Band II, 593; zur Frage der Nachprüfbarkeit der Richtigkeit von in einem Diskurs entwickelten Regeln siehe nur Alexy, 351ff. 442 Arnull in: Arnull/Wincott, 1 (7); Cremona in: 30 ELRev. 2005, 3 (9); Hallström in: 39 Sc. St. L 2000, 79 (85); Hatje in: EuR 2005, 148 (153); dass im Übrigen die Förderung strukturschwacher Gegenden und benachteiligter Regionen ein Grundanliegen der Gemeinschaft darstellt, verdeutlicht bereits Art. 158 EGV, sehr deutlich und darüber hinausgehend für außergewöhnliche Notstände Art. I-43 der Verfassung; Oppermann, 295, Rn. 29; Weiler in: Curtin/Heukels, 23 (30); Cremona in: 30 ELRev. 2005, 3 (4); Puttler in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 158 EGV, Rn. 7 „Die Politik richtet sich dabei auf eine Verstärkung der Bindungen zwischen den Mitgliedstaaten nicht nur in einem ökonomischen, sondern in einem umfassenden Sinn.“

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neuen Herausforderungen angemessen zu begegnen, ersetzen. Sollte ein Mitgliedstaat oder mehrere Mitgliedstaaten sich dem weiteren gemeinsamen Vorgehen verweigern, sind die Grenzen des Integrationsprozesses erreicht. Trotz seiner häufig betonten Rolle als „Integrationsfaktor erster Ordnung“ kann der Europäische Gerichtshof darüber hinaus nicht anstelle der gesetzgebenden Organe handeln und hat das institutionelle Gleichgewicht auch bei seiner Überprüfung von Gesetzgebungsakten hinreichend zu berücksichtigen.443 So würde eine zu weitgehende Rechtsfortbildung den Europäischen Gerichtshof nicht nur dem berechtigten Vorwurf aussetzen, unzulässigerweise unter Verletzung des Gewaltenteilungsgrundsatzes als Ersatzgesetzgeber tätig zu werden, sondern darüber hinaus die Legitimation des gesamten Gemeinschaftsprojektes abschließend in Frage stellen.

5. Überblick über die den Organen allgemein zugewiesenen Funktionen Wie bereits die vorangegangene, sehr allgemeine und demnach auch lediglich einführende Darstellung der einzelnen Organe und der ihnen zugewiesenen Aufgaben gezeigt hat, sind mit der Legislative zunächst durch ihr Initiativrecht die Europäische Kommission sowie im Weiteren das Europäische Parlament und der Ministerrat gemeinsam betraut. Demnach weist die Gemeinschaft kein einzelnes Legislativorgan auf, sondern vielmehr sind die verschiedenen Organe in unterschiedlichen Rollen an jedem Gesetzgebungsverfahren beteiligt444. Ihre jeweiligen Einflussmöglichkeiten und damit einhergehenden Überwachungsfunktionen stehen darüber hinaus in Abhängigkeit zu dem im Einzelnen zur Anwendung kommenden Verfahren. Im geltenden Gemeinschaftsrecht lassen sich das Anhörungsverfahren, das Verfahren der Zusammenarbeit nach Art. 252 EGV, das Verfahren der Mitentscheidung gemäß Art. 251 EGV und das Verfahren der Zustimmung unterscheiden. Demnach finden sich einerseits in einigen Politikbereichen vorwiegend Rechtssetzungsverfahren wie das Mitent___________ 443

Siehe in diesem Zusammenhang EuGH, Slg. 1970, I-4021 (I-4048) Rs. 244/03 „Frankreich/Parlament und Rat“ – Schlussanträge des GA L. A. Geelhoed „Aus diesem Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts wie aus dem Demokratieprinzip selbst folgt meines Erachtens, dass der Gerichtshof bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit eines Gesetzgebungsakts, der vom Rat und vom Parlament gemeinsam im Wege des Mitentscheidungsverfahrens verabschiedet wurde, besonders vorsichtig sein sollte.“ 444 Horn in: 49 JöR 2001, 287 (297); Ott in: ZeuS 1999, 231 (237) „Das Europäische Parlament erfüllt mit den nationalen Parlamenten vergleichbare Funktionen der Kontrolle der Exekutive, ist aber nicht als die Legislative in der Gemeinschaft tätig, sondern nimmt daran teil. Damit gerät jeder direkte Vergleich mit der klassischen Aufteilung der Gewalten in Exekutive, Legislative und Judikative in eine Schieflage, denn die am Rechtssetzungsprozeß beteiligten Institutionen Kommission, Rat und Parlament erfüllen überschneidende Funktionen.“

200 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

scheidungs- und Zustimmungsverfahren, in deren Rahmen gerade die hauptsächlich am Gemeinschaftsinteresse ausgerichteten Organe einen maßgeblichen Einfluss auf die weitere Ausgestaltung des Integrationsprozesses nehmen können und vor allem das Europäische Parlament die Rolle eines gleichwertigen Mitgesetzgebers neben dem Ministerrat übernommen hat. Andererseits sind die für die Mitgliedstaaten besonders sensiblen Regelungsbereiche zumeist noch nicht derart supranational ausgestaltet und damit einhergehend sind schwächere Beteiligungsverfahren für das Europäische Parlament vorgesehen. Als einen dieser Bereiche, in denen die Mitwirkung des Parlaments an der Gesetzgebung immer noch lediglich auf die schwächste Beteiligungsform – die Anhörung – beschränkt ist, sei nur die gemeinsame Agrarpolitik genannt.445 Die näheren Bestimmungen zum Gemeinsamen Markt für die Landwirtschaft finden sich in den Art. 32 bis 38 EGV. Danach werden zunächst in Übereinstimmung mit Art. 37 II EGV die notwendigen gesetzlichen Maßnahmen vom Rat mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments erlassen. Darüber hinaus kann die Europäische Kommission durch die jeweiligen Ratsverordnungen – auf der Grundlage von Art. 37 in Verbindung mit Art. 202 EGV – zum Erlass von Durchführungsbestimmungen ermächtigt werden. Von dieser Möglichkeit zur Übertragung von Rechtssetzungsbefugnissen ist gerade in der Agrarpolitik weitreichend Gebrauch gemacht worden. Nicht nur aufgrund der erheblichen finanziellen Interessen und einzelner sehr starker nationaler Interessenverbände, sondern auch aufgrund der weitreichenden Zielsetzungen und der Notwendigkeit, schnell auf Marktänderungen zu reagieren, handelt es sich im Übrigen um einen der Politikbereiche der Europäischen Union, der eine besonders hohe Intensität an Regulierungen aufweist. Doch auch im Hinblick auf diese in einzelnen Bereichen nur eingeschränkt bestehenden Mitwirkungsrechte ist festzustellen, dass der Europäische Gerichtshof im Rahmen seiner bisherigen Rechtsprechung wiederholt gerade diese Arten der Beteiligung des Europäischen Parlaments und der Kommission am Gesetzgebungsverfahren sichergestellt hat. Die anfangs deutlich am Ministerrat ausgerichtete institutionelle Aufgabenverteilung in der Gemeinschaftsrechtsordnung ist demnach schon durch den Europäischen Gerichtshof vor dem in ihr zumindest als Gefahr angelegten Bedeutungsverlust der anderen Organe geschützt worden. Darüber hinaus hat sich das Verhältnis der Organe untereinander durch die mit den nachfolgenden Vertragsänderungen eingetretene zuneh___________ 445 Siehe im Weiteren nur das Verfahren der Beschlussfassung nach Art. 67 EGV für den Bereich Visa, Asyl, Einwanderungen und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr, so auch das Verfahren zur Angleichung der Rechtsvorschriften nach Art. 94 EGV (andererseits aber auch das Verfahren des Art. 95 EGV), schließlich Art. 181a EGV für die sonstige Entwicklungszusammenarbeit.

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mende Parlamentarisierung des europäischen Gesetzgebungsverfahrens erheblich verändert. So hat sowohl die Europäische Kommission als auch der Ministerrat gegenüber dem Europäischen Parlament an Einfluss auf die weitere Entwicklung des Integrationsprozesses verloren. Die Entwicklung, dass das Mitentscheidungsverfahren nach Art. 251 EGV446 zunehmend an Bedeutung gewonnen hat, fand einen gewissen Abschluss mit Art. III-396 der Verfassung, nach dem es ausdrücklich als das ordentliche Gesetzgebungsverfahren benannt wird. Damit war durch die Verfassung eine vor allem auch für den einzelnen Unionsbürger erkennbare deutliche Stärkung des Europäischen Parlaments im institutionellen Verhältnis zu den anderen Organen vorgesehen. So kommt dem Mitentscheidungsverfahren als ordentlichem Gesetzgebungsverfahren die Bedeutung zu, dass das Verhältnis zum Ministerrat ausgewogener gestaltet wird und auch die bestehenden Mitwirkungsrechte bei der Bestimmung des Kommissionspräsidenten sowie beim Auswahlverfahren der einzelnen Kommissionsmitglieder sollten langfristig das Verhältnis zur Europäischen Kommission nochmals zu Gunsten des Parlaments verschieben. Hinzu kam verstärkend die in Art. I-46 II der Verfassung enthaltene besondere Zuweisung einer Überwachungsfunktion an die nationalen Parlamente, die jedoch nur zu einer erhöhten demokratischen Legitimation der auf der Gemeinschaftsebene ausgeübten Herrschaft bei tatsächlicher Wahrnehmung dieser neuen Mitwirkungs- und Einflussmöglichkeiten geführt hätte. Exekutive Aufgaben – sofern sie nicht bereits durch die einzelstaatlichen Behörden wahrgenommen werden447 – sind im Weiteren hauptsächlich der Europäischen Kommission zugewiesen. Im Hinblick auf ihre allgemeine Stellung ist jedoch festzustellen, dass ungeachtet ihrer vorrangigen Ausrichtung am Gemeinschaftsinteresse bereits eine gewisse Abhängigkeit von den einzelnen Mitgliedstaaten durch die Art und Weise der Benennung ihrer Mitglieder besteht. Faktisch ist sie im Übrigen – trotz ihres Initiativmonopols – bei der Wahrneh___________ 446 Das Verfahren der Mitentscheidung nach Art. 251 EGV findet nach geltendem Recht bereits unter anderem nach Art. 71 EGV im Bereich Verkehr, mit gewissen Ausnahmen nach Art. 137 EGV für Sozialvorschriften sowie nach Art. 157 EGV bei der Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie Anwendung. 447 Ausführlicher zum Verhältnis zu den nationalen Behörden siehe nur Georgopolous in: 9 ELJ 2003, 530 (541) „In final analysis, the balanced government of the American constitutional model and the premise of catholic control of national authorities’ action are both edified on the idea le pouvoir arrete le pouvoir. Nevertheless, the resemblance between the two doctrines is to a great extent illusionary. The American checks and balances obeys the logic of constitutional consistency. On the contrary, the EC law’s multiplication of national controls does not stem from the need inherent in all legal orders to define the centre of gravity in the decision-making process. It mainly responds to the lack of trust on behalf of a distinct legal order in the face of national authorities, whose presence is necessary for the enforcement of EC law.“

202 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

mung ihrer Aufgaben direkt abhängig vom Ministerrat als dem mitgliedstaatlichen Vertretungsorgan auf der Gemeinschaftsebene. Ohne dessen Unterstützung hat kein Gesetzgebungsvorschlag ihrerseits Aussicht auf Erfolg. Weiterhin ist die Europäische Kommission sowohl dem Europäischen Parlament wie auch dem Ministerrat bis zu einem gewissen Grad rechenschaftspflichtig. Keineswegs ist sie demnach als das die Gesetzgebung alleinig beeinflussende Organ oder aber als eine Art europäische Regierung anzusehen. Nur aufgrund ihrer alleinigen Ausrichtung auf das europäische Gemeinwohl kommt ihr eine für den Integrationsprozess überragend wichtige Rolle zu.448 Exekutive Befugnisse nehmen darüber hinaus neben der Europäischen Kommission aber auch der Ministerrat sowie teilweise der Europäische Rat wahr. Die Judikative ist schließlich nach Art. 220 EGV (nach der Verfassung Art. I-29 I) dem Europäischen Gerichtshof zugewiesen, doch darf die gleichzeitige Bedeutung der einzelstaatlichen Gerichte als Gemeinschaftsgerichte nicht vernachlässigt werden. Ungeachtet seiner entscheidenden Bedeutung für den gesamten Integrationsprozess bleibt im Weiteren die Abhängigkeit des Europäischen Gerichtshofs im Hinblick auf die Beachtung und Umsetzung seiner Urteile von den Mitgliedstaaten wie auch den anderen Organen zu berücksichtigen. Ausgehend von dem anfangs in der Gemeinschaftsrechtsordnung etablierten Verhältnis der Organe untereinander könnten demnach bereits an dieser Stelle der vorliegenden Arbeit leicht zu begründende Zweifel dahingehend geäußert werden, ob nicht anstatt eines „institutionellen Gleichgewichts“ vielmehr ein „institutionelles Ungleichgewicht“ zugunsten des Ministerrates für die Gemeinschaftsrechtsordnung kennzeichnend ist.449 Doch würde einer solchen Feststellung – nach einem bloß ersten und auch vornehmlich vergangenheitsbezogenen Überblick der Aufgaben der Organe – ein zu mechanistisches Verständnis der Gewaltenteilung zugrunde liegen. Ungeachtet naheliegender sprachlicher Assoziationen müssen die verschiedenen Organe in einem gewaltenteilig organisierten Herrschaftssystem keineswegs in einem tatsächlichen Gleichgewicht zueinander angeordnet sein, sondern lediglich derart Einfluss aufeinander ausüben können, dass sie sich in ihrer unterschiedlichen Aufgabenwahrnehmung gegenseitig wirksam überwachen und damit auch hemmen können. So ist neben der ___________ 448 Streinz, 117, Rn. 336; Oppermann, 109, Rn. 103; Jacqué in: 41 CMLRev. 2004, 383 (390); Craig/de Burca, 64; Douglas-Scott, 53; Hartley, The Foundations of European Community Law, 11; Craig in: 3 ELJ 1997, 105 (117); Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 211 EGV, Rn. 12. 449 Ott in: ZeuS 1999, 231 (247); andererseits Pescatore in: FS Kutscher 1981, 319 (326) „Dieses verfassungsrechtliche Kennzeichen steht im Mittelpunkt der Verträge, die, nach dem Leitbild der Gewaltenteilung, eine originelle und einigermaßen ausgewogene Organstruktur geschaffen haben.“

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individuellen Freiheitsbewahrung gerade die Herstellung eines Gleichgewichts zwischen den verschiedenen Interessen, die zu einzelnen Fragen mit Gemeinschaftsbezug vertreten werden, das Ziel der von den Organen gemeinsam wahrgenommenen Entscheidungsfindung. Es kann kaum genug betont werden, dass die Vorstellung eines „Gleichgewichts“ sich somit nicht auf einen statischen Zustand bezieht, sondern das Ziel eines andauernden Prozesses darstellt.450 Darüber hinaus hat die vorangegangene Beschäftigung mit den Vorstellungen Montesquieus und insbesondere Rousseaus deutlich gemacht, dass erst ein offensichtliches Über-Unterordnungsverhältnis der verschiedenen Organe untereinander nicht mehr mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz zu vereinbaren ist, da hiervon ausgehend sich tatsächlich kein „Gleichgewicht“ der vertretenen Interessen etablieren lässt und den verschiedenen, als gleichwertig anzusehenden Begründungsansätzen mit einer solchen Organstruktur nicht insgesamt entsprochen werden kann. Nur solche bereits strukturell bedingten Ungleichheiten lassen sich nachfolgend auch nicht durch die Aufwertung einzelner Organe durch die Rechtsprechung beheben. Demgegenüber kann ein System, das zwar einem Organ ein besonderes Maß an Mitwirkungs- und Entscheidungsrechten zuweist, aber auch den anderen Organen ausreichende Möglichkeiten zur Überwachung und Beeinflussung gibt, grundsätzlich mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz vereinbar sein. Im Übrigen ist nochmals zu betonen, dass die Vereinbarkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung mit dem Gewaltenteilungsprinzip zumindest im

___________ 450 Siehe in diesem Sinne nur Würtenberger, 295; Craig in: 3 ELJ 1997, 105 (114); Zippelius in: FS Eichenberger 1982, 147 (153) „Wo sich nicht annähernd gleichstarke Kräfte die Waage halten, entsteht die Gefahr eines unausgewogenen Interessenausgleichs. (...) Konzentration im Bereich der sozialen Gewalten bedeutet nicht nur das Risiko eines unausgewogenen Interessenausgleichs in der Gesellschaft. Auf dem Gebiet der Massenkommunikation bedeutet sie auch die Gefahr einer Überrepräsentation partikulärer Meinungen. Dies gefährdet den demokratischen Meinungsbildungsprozess, der sich in offener Auseinandersetzung und unter ausgewogener, proportionaler Berücksichtigung der in der Gemeinschaft vorhandenen Meinungen vollziehen sollte.“; darüber hinaus siehe aber auch Jacqué in: 41 CMLRev. 2004, 383 (383) „The balance between the institutions can be envisaged in two different ways, one legal, the other political. From the legal point of view, institutional balance is a constitutional principle which must be respected by the institutions and the Member States; infringements may be condemned and sanctioned by the Court of Justice. From a political point of view, it can be envisaged as a means of describing the way the relationship between the institutions is organized. (…) We would like to examine further these two facets of the principle, the one static, the other dynamic; at the same time, we cannot ignore the fact that these two aspects may also interact. Moreover, the case law of the Court has encouraged or prevented certain developments, depending on how the Court itself interpreted the principle.“

204 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

Sinne Montesquieus nicht bereits schon durch die gemeinsame Aufgabenwahrnehmung durch verschiedene Organe ernsthaft in Frage gestellt wird.451 Schließlich steht das Verhältnis der Organe untereinander nicht nur in Abhängigkeit zu den institutionellen Rahmenbedingungen wie sie sich bereits aus dem gesetzten Recht ergeben, sondern auch gerade zu der tatsächlichen Art und Weise der Wahrnehmung der ihnen zugewiesenen Aufgaben. Darüber hinaus lässt auch erst die Bereitschaft der Organe, die ihnen zugesicherten Rechte gegebenenfalls gerichtlich zu sichern, wichtige Rückschlüsse über das von ihnen zugrundegelegten Selbstverständnis zu. Zweifel begründeter Natur an der Aussagefähigkeit des vom Europäischen Gerichtshofs immer wieder verwendeten Begriffs des „institutionellen Gleichgewichts“ könnten schließlich jedoch durch die – vor allem im Rahmen des Europäischen Gesetzgebungsverfahrens – bereits offensichtlich werdenden erheblichen Unterschiede und nachträglich eingetretenen Veränderungen im Verhältnis der Organe untereinander angelegt sein.452 So ist die Vorstellung einer zu___________ 451 Fernandez Esteban, 157 „Therefore, it is not possible to characterise the several Community institutions as holders of one or another power since an analysis of the prerogatives does not indicate a clear-cut line between the executive and the legislative branches of the Community government. Accordingly, the separation of powers in the Community legal order should be understood functionally and not organically. The principle of separation of powers in the functional sense is a structural feature underlying the Community legal order. The difficulty in identifying a Community institution with one or another power, according to the organic definition, cannot be an excuse to avoid finding better ways to define the Community system of checks and balances.“; Fuß in: FS Küchenhoff 1972, 781 (782); Grams, 144; zum Gewaltenteilungsgrundsatz nach Montesquieu siehe nur Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes, 54; Schroeder, 356. 452 Hummer in: FS Verdross 1980, 459 (484); Craig/de Burca, 54 „Many of these duties are shared between different institutions in a manner that renders it impossible to describe any one of them as the sole legislator, or the sole executive. In this sense, the Community does not conform to any rigid separation-of-powers principle of the sort which has shaped certain domestic political systems. The pattern of institutional competence within the Community has not remained static. It has altered both as a consequence of subsequent Treaty revisions and as a result of organic change in the political balance of power between the institutions over time, including through the emergence of a web of committees and institutional actors beyond the original canonical institutions.“; siehe aber auch von Buttlar, 64; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 7 EGV, Rn. 14; Bieber in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV – Band 1, Art. 7 EGV, Rn. 66 „Der Begriff des institutionellen Gleichgewichts enthält entweder nur eine Umschreibung der in der Organisationsverfassung positiv geregelten Organbeziehungen – dann bildet er eine Leerformel – oder artikuliert eine verfassungspolitische Zielsetzung – dann befindet er sich außerhalb des normativen Bereichs. Es erscheint geboten, verfassungspolitisches Desiderat und normative Aussage deutlich zu trennen und dem Begriff institutionelles Gleichgewicht allenfalls beschreibende Funktion zuzuweisen, der den Zustand des institutionellen Systems zu einem bestimmten Zeitpunkt widerspiegelt. Allerdings bleibt seine Verwendung auch dann irreführend, da jedenfalls die Verteilung der

II. Das „institutionelle Gleichgewicht“ in der Rechtsprechung

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mindest potentiell umfassenden und vor allem allgemeingültigen und bei jeder nachfolgenden Änderung jeweils zu beachtenden Ordnungsidee mit diesen weitreichenden Entwicklungen nur schwer vereinbar. Doch lassen sich diese Überlegungen nur abschließend durch eine genauere Betrachtung der jeweiligen Rechtsprechung einordnen, die im Weiteren erfolgen soll.

II. Das „institutionelle Gleichgewicht“ in der Rechtsprechung Bei jeder Beschäftigung mit dem „institutionellen Gleichgewicht“ muss die in diesem Zusammenhang ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs einen besonderen Schwerpunkt bilden. Nicht nur im Hinblick auf die Begriffsprägung an sich, sondern auch mit der nachfolgenden Konkretisierung durch die teils deutlich über den positiven Gesetzesrahmen hinausgehenden Entscheidungen hat der Europäische Gerichtshof das Verhältnis der Organe untereinander – und damit die ihnen im einzelnen zukommenden Rechte und Pflichten – maßgeblich beeinflusst. Erst unter ausreichender Berücksichtigung dieser – zugegebenerweise meist älteren453, aber immer noch einflussreichen und weiterhin in Bezug genommenen – Rechtsprechung zu innergemeinschaftlichen Strukturfragen und der damit einhergehenden allgemeinen Aussagen zu Verfahrensfragen sind überhaupt weiterführende Bewertungen dieser Begriffsneubildung möglich. Zwar ist grundsätzlich festzustellen, dass die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Abgrenzung von Zuständigkeiten der Gemeinschaft in ihrem Verhältnis zu den Mitgliedstaaten wesentlich umfangreicher ist. So war bereits die nähere Bestimmung des Verhältnisses der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zur Gemeinschaftsrechtsordnung Gegenstand zahlreicher Entscheidungen. Doch lassen sich auch einige der von ihm in diesem Zusam___________ Befugnisse zwischen den Organen bisher keine gleichgewichtigen Beziehungen erzeugt.“ 453 Betrachtet man die neuere Rechtsprechung des EuGH – beispielhaft sei auf EuGH, Slg. 2001-12, I-10119 (I-10160) Rs. C-93/00 „Parlament/Rat“ verwiesen – fällt auf, dass in Entscheidungen, in denen früher eine Bezugnahme auf das „institutionelle Gleichgewicht“ zu erwarten gewesen wäre, nunmehr häufig auf die Vertragsbestimmungen selbst abgestellt wird oder gewisse aus diesem Grundsatz abgeleitete Forderungen als allgemein anerkannt vorausgesetzt werden. Dies hat zur Folge, dass im Rahmen der vorliegenden Arbeit nun auch vorrangig eine Beurteilung der älteren Rechtsprechung erfolgen soll; dies bedeutet indes nicht, dass nicht weiterhin in der neueren Rechtsprechung das „institutionelle Gleichgewicht“ als zugrunde liegendes Prinzip der Gemeinschaftsrechtsordnung Erwähnung findet, siehe nur EuGH, Schlussanträge des GA Mengozzi vom 26.10.2006 zu Rs. C-354/04 P „Gestoras Pro Amnistia, Juan Mari Olano Olano, Julen Zelarain Errasti/Rat“ und C-355/04 P „Segi, Araitz Zubimendi Izaga, Aritza Galarraga/Rat“, Rn. 168.

206 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

menhang verwendeten Argumentationsstrukturen ohne größere Schwierigkeiten auf die rechtliche Behandlung von Organkonflikte übertragen. So sind Rechtsstreitigkeiten, die vollständig auf der Gemeinschaftsebene angesiedelt sind, – schon aufgrund der verschiedenen Interessenausrichtung der unterschiedlichen Organe – gleichfalls häufig nur ein anderer Ausdruck von Konflikten zwischen Zielsetzungen und Vorhaben der Gemeinschaft einerseits und einzelstaatlicher Interessen andererseits.454 Darüber hinaus ist bei einer ersten Übersicht der Rechtsprechung festzustellen, dass anfangs Auseinandersetzungen zwischen dem Ministerrat und der Europäischen Kommission zumeist vor einer gerichtlichen Klärung der zugrunde liegenden Streitfragen bereits beigelegt worden sein müssen.455 Demgegenüber hat das Europäische Parlament – aufgrund der allgemeinen Parlamentarisierung der Entscheidungsfindung und wohl auch aufgrund des von ihm selbst immer wieder vorgetragenen weiten Verständnisses seiner Aufgaben – frühzeitig eine größere Bereitschaft gezeigt, Klagen vor allem gegen den Ministerrat zu erheben. In diesem Ansatz hat es im Übrigen maßgebliche Unterstützung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs erfahren.456 Ungeachtet dieser gewissen Beschränkungen sollte eine nähere Auseinandersetzung mit der bisher erfolgten Rechtsprechung Aussagen über das Verhältnis der Organe in ihrer Gesamtheit ermöglichen, denen weiterhin Bedeutung zukommt.

1. Begriff des „Gleichgewichts der Gewalten“ Zu Beginn seiner Rechtsprechung und noch vor der Verwendung des Begriffes eines „institutionellen Gleichgewichts“ hat der Europäische Gerichtshof in seiner am 13. Juni 1958 ergangenen Meroni-Entscheidung von einem „Gleichgewicht der Gewalten“ gesprochen.457 Bevor im weiteren Verlauf der vorlie___________ 454 Pescatore in: FS Kutscher 1981, 319 (328) „Bei näherem Zusehen stellt sich heraus, dass in Wirklichkeit die Organ-Konflikte nur der Ausdruck einer Spannung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten sind.“; Schroeder, 354; Nettesheim in: 28 EuR 1993, 243 (244); für diesen engen Zusammenhang siehe auch EuGH, Slg. 199710, I-5245 (I-5249f.) Rs. C-180/97 „Regione Toscana/Kommission“; zur „Doppelfunktion“ des Rates siehe nur Streinz in: Streinz, EUV/EGV, Art. 7 EGV, Rn. 19. 455 Siehe aber auch EuGH, Slg. 1971, 263 (280) Rs. 22/70 „AETR“ sowie EuGH, Slg. 1973, 575 (582) Rs. 81/72 „Kommission/Rat“. 456 Pescatore in: FS Kutscher 1981, 319 (328); Huber in: 38 EuR 2003, 574 (581); EuGH, Slg. 1980, 3333 (3360) Rs. 138/79 „Roquette Frères/Rat“ „Die ordnungsgemäße Anhörung des Parlaments in den vom Vertrag vorgesehenen Fällen stellt somit eine wesentliche Formvorschrift dar, deren Missachtung die Nichtigkeit der betroffenen Handlung zur Folge hat.“ 457 EuGH, Slg. 1958, 1 (44) Rs. 9/56 „Meroni/Hohe Behörde“; von Buttlar, 63; für eine gewisse Anlehnung an diese Begrifflichkeit siehe EuGH, Slg. 1971, 284 (291) Rs.

II. Das „institutionelle Gleichgewicht“ in der Rechtsprechung

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genden Arbeit der Frage nachgegangen werden soll, ob überhaupt ein inhaltlicher Unterschied zwischen diesen beiden verwendeten Begriffen festzustellen ist, sollen zunächst die der Entscheidung zugrunde gelegenen Umstände und daran anschließend die Argumentation des Europäischen Gerichtshof eine kurze Betrachtung erfahren: In der Rs. 9/56 „Meroni & CO., Industrie Metallurgiche, S.P.A. gegen Hohe Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ erhob die Klägerin Nichtigkeitsklage gegen die Entscheidung, dass sie 54 819 656 Lire an die Ausgleichskasse für eingeführten Schrott zu bezahlen hatte. Diese von ihr angegriffene Entscheidung war auf Grundlage der Entscheidungen Nr. 22/54 vom 26. März 1954 und Nr. 14/55 vom 26. März 1955 ergangen, die eine Ausgleichsregelung für den aus dritten Ländern eingeführten Schrott vorsahen. Die mit dieser Maßnahme verfolgte marktregulierende Zielsetzung bestand in der Verhinderung einer Angleichung der Schrottpreise innerhalb der Gemeinschaft an die höheren Preise für Einfuhrschrott.458 Die vor allem im Rahmen der vorliegenden Arbeit interessanten rechtlichen Schwierigkeiten ergaben sich im folgenden aus dem Vortrag der Klägerin, die Hohe Behörde habe mit der Entscheidung Nr. 14/55 eine unzulässige Übertragung von Befugnissen auf die Brüsseler Organe vorgenommen.459 Entsprechend diesem Vortrag musste der Europäische Gerichtshof nachfolgend zwei Fragen beantworten: Zunächst bedurfte es überhaupt der Feststellung einer tatsächlichen Übertragung von Befugnissen, diese wurde unter Auslegung der Klagebeantwortung durch die Hohe Behörde bejaht.460 Im Zusammenhang mit dieser ersten Fragestellung betonte der Gerichtshof bereits, dass eine Übertragung von hoheitlichen Befugnissen – auch an private Einrichtungen – nicht von vornherein als unzulässig anzusehen sei. Doch habe eine solche Delegation zunächst unter Beachtung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes, dass „keine weiterreichenden Befugnisse übertragen werden können, als sie der übertragenden Behörde nach dem Vertrag selbst zustehen“461, zu erfolgen. Dementsprechend hat ___________ 22/70 „Kommission/Rat“ – Schlussanträge des GA Alain Dutheillet de Lamothe „Endlich würde dieses System vielleicht die Erhaltung des vom Vertrag geschaffenen Gleichgewichts zwischen den Gemeinschaftsorganen am besten gewährleisten.“ 458 EuGH, Slg. 1958, 1 (20) Rs. 9/56 „Meroni/Hohe Behörde“; siehe für eine weitergehende Beschreibung der rechtlichen Konstruktion der damals geltenden Schrottausgleichsregelung EuGH, Slg. 1958 IV, 87 (92) Rs. 9/56 und 10/56 – Schlussanträge des GA Karl Roemer; Hartley, The Foundations of European Community Law, 121; Douglas-Scott, 128. 459 EuGH, Slg. 1958, 1 (36) Rs. 9/56 „Meroni/Hohe Behörde“; Hartley, The Foundations of European Community Law, 122; Douglas-Scott, 128. 460 EuGH, Slg. 1958, 1 (39) Rs. 9/56 „Meroni/Hohe Behörde“; Hartley, The Foundations of European Community Law, 122. 461 EuGH, Slg. 1958, 1 (40) Rs. 9/56 „Meroni/Hohe Behörde“; Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften – Band I, 400; Hartley, The Foundations of European Community Law, 122; Majone in: Peterson/Shackleton, 299 (302).

208 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

eine mögliche Delegation von Befugnissen keinen Einfluss auf diejenigen Anforderungen, die bei ihrer Ausübung einzuhalten sind, sowie auf den diesbezüglich zu gewährenden Rechtsschutz. Im Weiteren musste der Europäische Gerichtshof sich zum Umfang der übertragenen Befugnisse als der zweiten maßgeblichen Fragestellung äußern. Bei der Übertragung von Befugnissen ist zuallererst eine Unterscheidung dahingehend zu treffen, ob eine gebundene oder freie Entscheidungsgewalt delegiert wird. So kann vor allem die Übertragung von Ermessensentscheidungen an private Einrichtungen – wie die Ausgleichskasse – eine tatsächliche Verlagerung der Verantwortung mit sich bringen. Eine solche Delegation ist als unvereinbar mit der ursprünglich im Vertrag vorgesehenen Aufgabenverteilung anzusehen. In diesem Sinne stellte der Europäische Gerichtshof demnach auch im Rahmen seiner Entscheidung fest: „Die in Art. 3 des Vertrages aufgezählten Ziele gelten zudem nicht nur für die Hohe Behörde als solche, sondern allgemein für die Organe der Gemeinschaft (...) im Rahmen der jedem von ihnen zugewiesenen Befugnisse und im gemeinsamen Interesse. Aus dieser Bestimmung ist zu schließen, dass das für den organisatorischen Aufbau der Gemeinschaft kennzeichnende Gleichgewicht der Gewalten eine grundlegende Garantie darstellt, insbesondere zugunsten der Unternehmen und Unternehmensverbände, auf welche der Vertrag Anwendung findet. Die Übertragung von Befugnissen mit Ermessensspielraum auf andere Einrichtungen als solche, die im Vertrag zur Ausübung und Kontrolle dieser Befugnisse im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten vorgesehen sind, würde diese Garantie jedoch verletzen.“462 Eine inhalts- wie wortgleiche Aussage machte der Europäische Gerichtshof in seiner anschließenden Entscheidung 10/56 „Meroni gegen Hohe Behörde“, die trotz gleichen Namens eine unabhängige und selbständige andere Gesellschaft des italienischen Handelsrechts betraf, die gleichfalls eine Nichtigkeitsklage gegen die in Form einer Entscheidung ihr gegenüber ergangene Zahlungsverpflichtung in Höhe von 23 174 181 Lire an die Ausgleichskasse erhoben hatte.463 Beide Zahlungsentscheidungen wurden durch den Europäischen Gerichtshof schließlich am 13. Juni 1958 aufgehoben. ___________ 462

EuGH, Slg. 1958, 1 (44) Rs. 9/56 „Meroni/Hohe Behörde“; Lenaerts in: ELJ 1993, 23 (42); Craig/de Burca, 533; Harlow in: 23 Yearbook of European Law 2004, 57 (68); Lenaerts/Verhoeven in: 37 CMLRev. 2000, 645 (656); Winter in: EuR 2005, 255 (263); kritisch Majone in: Peterson/Shackleton, 299 (306) „At any rate, the principle of delegation expressed by the old Meroni doctrine is totally out of step with the development of social scientific knowledge about means of controlling agency discretion without excessively intruding upon the delegated authority implicit in an enabling statute. This doctrine is also out of step with the development of European regulatory policies over the last three decades.“ 463 EuGH, Slg. 1958, 51 (82) Rs. 10/56 „Meroni/Hohe Behörde“.

II. Das „institutionelle Gleichgewicht“ in der Rechtsprechung

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Zunächst fällt bereits in sprachlicher Hinsicht auf, dass der vom Europäischen Gerichtshof gewählte Begriff eines „Gleichgewichts der Gewalten“ im Vergleich zum „institutionellen Gleichgewicht“ einen wesentlich engeren Bezug zum Gewaltenteilungsgrundsatz aufweist. Inwieweit der Europäische Gerichtshof mit dieser Begrifflichkeit gleichzeitig eine größere inhaltliche Annäherung an dieses staatliche Prinzip beabsichtigt hat, kann allein unter Zugrundelegung seiner Meroni-Entscheidung aber nicht entschieden werden. Demgegenüber lassen sich bereits für die Entscheidung des Gerichtshofs, in nachfolgenden Entscheidungen zu dieser Begrifflichkeit nicht mehr zurückzukehren464, zwei mögliche, jeweils an eines der beiden Wortelemente anknüpfende Gründe anführen. Zunächst fordert die Beschreibung des Gewaltenverhältnisses als eines „Gleichgewichts“ die naheliegende Feststellung heraus, dass die „Gewalten“ in der Gemeinschaftsrechtsordnung sich keinesfalls in einem Gleichgewichtsverhältnis, sondern vielmehr in einem Unter- und Überordnungsverhältnis zueinander befinden. Die gewählte Beschreibung kann demnach als reine Fiktion angesehen werden.465 Ein mit diesem Einwand verbundenes wörtliches Verständnis des „Gleichgewichts der Gewalten“ offenbart indes ein mechanistisches Verständnis der Wirkungsweisen des Gewaltenteilungsgrundsatzes, das als nicht angemessen zu beurteilen ist. So müssen die Gemeinschaftsorgane keineswegs über – im Übrigen kaum in dieser Hinsicht bewertbare – gleiche Einflussmöglichkeiten im Rahmen der Rechtssetzung verfügen.466 Darüber hinaus besteht wohl kaum in einem mitgliedstaatlichen Regierungssystem wie allgemein in einem funktionierenden gewaltenteilig organisierten Gemeinwesen ein derart ausgewogenes Verhältnis im Sinne eines tatsächlichen, gewissermaßen rechnerisch feststellbaren Gleichgewichtes zwischen den üblicherweise miteinander verschränkten Gewalten.467 Vielmehr ist ___________ 464

Siehe aber wiederum auch EuGH, Slg. 1986/III, 2403 (2409) Rs. 149/85 „Wybot/Faure“ „Im Rahmen des in den Verträgen vorgesehenen Gewaltengleichgewichts zwischen den Organen kann nämlich die Praxis des Europäischen Parlaments den anderen Organen nicht ein Recht nehmen, das ihnen den Verträgen selbst zusteht.“; siehe zu dieser Entscheidung nur Jacqué in: 41 CMLRev. 2004, 383 (385). 465 So weiterhin auch im Hinblick auf das „institutionelle Gleichgewicht“ Hummer in: FS Verdross 1980, 459 (484); Lorz, 125; Bieber in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV – Band 1, Art. 7, Rn. 66. 466 So ausdrücklich Jacqué in: 41 CMLRev. 2004, 383 (383) „The principle of institutional balance does not imply that the authors of the treaties set up a balanced distribution of the powers, whereby the weight of each institution is the same as that of the others. It refers simply to the fact that the Community institutional structure is based on the division of powers between the various institutions established by the treaties.“ 467 So allgemein Leisner in: DÖV 1969, 405 (411) „Sinn der Balance in der Gewaltenteilung kann also nur sein: Die beiden zentralen Staatsfunktionen werden – weithin in gleichartiger Zusammenarbeit – von Organen wahrgenommen, deren Kompetenzen, global betrachtet, in einem Gleichgewicht stehen. Die Gewaltenteilung verlangt, dass die

210 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

es als Regelfall anzusehen, dass einem Organ eine besondere Rolle hinsichtlich der allgemeinen Politikfestlegung und Gestaltung von Sachverhalten im Verhältnis zu den anderen Organen zukommt. Ein solches Ungleichgewicht hebt jedoch noch nicht zwangsläufig die Wirkungsweisen des Gewaltenteilungsgrundsatzes auf. So kann die ausgeübte Herrschaft im Interesse individualrechtlicher Positionen gleichfalls wirksam relativiert werden, sofern nur vergleichbare Möglichkeiten der Einflussnahme und Mitwirkung bestehen und die Organe vor allem in ihren gegenseitigen Überwachungsfunktionen als gleichberechtigte Partner auftreten können.468 Dass die an der Vorstellung eines „Gleichgewichts“ geübte Kritik vom Europäischen Gerichtshof im Übrigen nicht aufgenommen worden ist, lässt sich schließlich leicht durch den von ihm nunmehr verwendeten Begriff eines „institutionellen Gleichgewichts“ nachweisen. Die eingetretene sprachliche Veränderung muss demnach von der Bezugnahme auf den Begriff der „Gewalten“ ausgelöst worden sein. Die enge sprachliche Anlehnung an ein aus dem einzelstaatlichen Bereich bekanntes Prinzip muss zum einen als ein zu deutlicher Hinweis auf eine möglicherweise zukünftig stattfindende Entwicklung der Gemeinschaftsrechtsordnung angesehen worden sein. Zum anderen fügt sich diese Hinwendung zu dem gemeinschaftsrechtlichen Begriff eines „institutionellen Gleichgewichts“ auch in die – gerade vom Europäischen Gerichtshof selbst vorangetriebenen – allgemeinen Bemühungen ein, die bestehenden Besonderheiten der Gemeinschaftsrechtsordnung gegenüber den Mitgliedstaaten und anderen internationalen Organisationen in den Vordergrund zu stellen. So lässt sich nur durch Anerkennung des sui generis Charakters der Gemeinschaftsrechtsordnung und ihrer Eigenständigkeit im Weiteren ein hierarchisches Verhältnis etablieren, durch das die Verbindlichkeit gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen in den Mitgliedstaaten umfassend gewährleistet werden kann. Diese sprachliche Entfernung vom Gewaltenteilungsgrundsatz weist somit auf den zunehmend vertretenen Ansatz hin, dass ___________ Gesetz- und Verfassungsgesetzgebung ein solches Gleichgewicht nicht zuungunsten Organes verschiebt, dass dieses nicht mehr als ein gleichstarker Partner in der notwendigen Kooperation der Gewalten auftreten kann. Und hier zeigt sich die ganze Schwierigkeit, vielleicht Unmöglichkeit, die Gewaltenteilung heute normativ fruchtbar zu machen. Was das Gewicht eines Pouvoir ist, kann doch mit rechtlichen Maßstäben kaum gemessen werden. (demnach also reine Werteentscheidung) (...) Wer schon das Gewicht nicht kennt, sollte nicht das Gleichgewicht definieren.“ 468 Lenaerts/van Nuffel in: Bray, 414f., Ziff. 10-004 „Since the institutions (and bodies) of the Community act as a mouthpiece for national or common interests, the allocation of powers among the institutions is based on a delicate balance between the interests which they represent. The balance which has to be guaranteed does not necessarily mean the most balanced relationship between the different interests at stake has to be achieved, but reflects the balance of power laid down in the Treaties.“; Craig in: 3 ELJ 1997, 105 (116).

II. Das „institutionelle Gleichgewicht“ in der Rechtsprechung

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den aus dem innerstaatlichen Bereich bereits bekannten Prinzipien nicht mit identischem Bedeutungsinhalt, sondern vielmehr in entsprechend angepasster Form in der Europäischen Union Gültigkeit zukommen soll. Zusätzlich ist darauf zu verweisen, dass der Begriff des „Gleichgewichts der Gewalten“ für den Bereich des EGKS, derjenige des „institutionellen Gleichgewichts“ hingegen für den Bereich des EGV geprägt wurde.469 In inhaltlicher Hinsicht ist weiterführend die vom Europäischen Gerichtshof erfolgte Begründung des „Gleichgewichts der Gewalten“ von besonderem Interesse. Als ausdrücklicher Anknüpfungspunkt dient zunächst Art. 3 des Vertrages über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Dieser Art. 3 beinhaltet verschiedene Zielsetzungen, die von den Organen „im Rahmen der jedem von ihnen zugewiesenen Befugnisse und im gemeinsamen Interesse“ zu beachten und zu sichern sind. Aus dem Umstand, dass demnach jedes Organ gleichberechtigt über einen ihm ausdrücklich und zur alleinigen Wahrnehmung zugewiesenen Aufgabenbereich verfügt und kein Rangverhältnis zwischen den Beteiligten aus dem Wortlaut dieser Bestimmung erkennbar wird, schließt der Europäische Gerichtshof auf ein „Gleichgewicht der Gewalten“470. Diese Bestimmung der Organisationsstrukturen der Gemeinschaft kennzeichnet der Gerichtshof als eine grundlegende Garantie, die eine zusätzliche individualgerichtete Schutzrichtung – insbesondere zugunsten der Unternehmen und Unternehmensverbände – aufweist.471 Dieser Hinweis auf die Interessen derjenigen Unternehmen und Unternehmensverbände, die von den europarechtlichen Bestimmungen betroffen sind, ist zwar sicherlich maßgeblich durch die Verfahrensform – einer Nichtigkeitsklage erhoben von einer Firma – vor ___________ 469 Diese nach Verträgen zunächst verschiedenen Begrifflichkeiten sollte jedoch nicht überbewertet werden, da der Begriff des „institutionellen Gleichgewichts“ bereits auch schon Verwendung im Hinblick auf den EUV gefunden hat, siehe hierfür nur EuGH, Schlussanträge des GA Mengozzi vom 26.10.2006 zu Rs. C-354/04 P „Gestoras Pro Amnistia, Juan Mari Olano Olano, Julen Zelarain Errasti/Rat“ und C-355/04 P „Segi, Araitz Zubimendi Izaga, Aritza Galarraga/Rat“, Rn. 168. 470 So auch Jacqué in: 41 CMLRev. 2004, 383 (384); gegen eine solche Herleitung siehe aber auch nur Bieber in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV – Band 1, Art. 7 EGV, Rn. 66 „Nicht zu den aus Artikel 7 oder sonstigen Vertragsbestimmungen abzuleitenden Strukturdeterminanten der EG-Verträge gehört ein institutionelles Gleichgewicht.“ 471 Siehe für eine eingeschränkte verfahrensrechtliche Bedeutung einer Verletzung des institutionellen Gleichgewichts aber auch nur EuGH, Slg. 2001-5, I-3811 (3828) Rs. 345/00 P „FNAB/Rat“ „(...) doch kann diese Feststellung nicht so ausgelegt werden, dass sie einen Rechtsweg für jede natürliche oder juristische Person eröffnet, nach deren Meinung die Handlung eines Gemeinschaftsorgans unter Verstoß gegen den Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts vorgenommen wurde, unabhängig von der Frage, ob diese Person von der betreffenden Handlung unmittelbar und individuell betroffen ist.“

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dem Europäischen Gerichtshof bestimmt gewesen. Darüber hinaus weisen aber auch einige der in Art. 3 des Vertrages enthaltenen Zielbestimmungen einen direkten Bezug auf den einzelnen Verbraucher, die Unternehmen sowie die einzelnen Arbeiter auf. Die zugrunde liegende Vorstellung, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der als einem „Gleichgewicht der Gewalten“ beschriebenen Organisationsstruktur und den Rechtspositionen des Einzelnen besteht, kann demnach möglicherweise auch als Grundlage für das spätere „institutionelle Gleichgewicht“ herangezogen werden. So darf nicht vernachlässigt werden, dass auch im Rahmen der Meroni-Entscheidung die Unzulässigkeit der Übertragung von Befugnissen mit Ermessensspielraum anders möglich und ausreichend zu begründen gewesen wäre. So hätte der Europäische Gerichtshof zum einen stärker auf mögliche Rechtsbeeinträchtigungen der Organe durch die Delegation von Hoheitsbefugnissen an dritte Einrichtungen verweisen können. Zum anderen wäre eine stärkere Betonung des Vertrages zur Gründung einer Gemeinschaft für Kohle und Stahl als eines in sich geschlossenen Regimes denkbar gewesen. Dass der Europäische Gerichtshof ungeachtet dessen mit dem „Gleichgewicht der Gewalten“ eine individualgerichtete Schutzrichtung verbindet, macht somit bereits eine gewisse Anlehnung an allgemein zur Begründung des Gewaltenteilungsgrundsatzes angeführte Vorstellungen deutlich. Was indes unter dieser Garantie inhaltlich zu verstehen ist, wird nicht vollkommen deutlich.472 Diese inhaltliche Unbestimmtheit erklärt sich indes im Folgenden durch die methodische Verwendung der Begriffsneubildung durch den Europäischen Gerichtshof. So fehlen nähere Aussagen zu dem Begriff als einem grundlegenden Gestaltungsprinzip der Gemeinschaft. Anstatt dessen wird aus diesem Grundprinzip lediglich eine bei jeder Delegation von Befugnissen zu beachtende Grenze abgeleitet und damit auch nur auf eine Einzelausprägung des „Gleichgewichts der Gewalten“ eingegangen. Die Überlegung liegt damit zunächst nahe, dass es sich bei dem verwendeten Begriff lediglich um einen Oberbegriff473 für eine Anzahl selbstständiger Prinzipien handelt, aber nicht notwendigerweise – entgegen der Aussagen des Gerichtshofs – um eine darüber hinausgehende Garantie mit eigenständigem Bedeutungsgehalt. ___________ 472 Verhoeven, The EU in Search of a Democratic and Constitutional Theory, 206 „With this wording, the Court of Justice established what has come to be known as the Meroni-doctrine, which precludes the delegation of discretionary powers to bodies other than those established by the European Treaties on the ground that this would upset a fundamental contained in the balance of powers between European institutions. It failed to establish, however, what this guarantee was and why it was important.“; Bernhardt, 89f. 473 Siehe nur im Allgemeinen zur Funktion eines Oberbegriffs Sobota, 411 „Die Aufgabe eines Oberbegriffs besteht in der zusammenfassenden Ordnung anderer Begriffe, die unter dem Gesichtspunkt des Oberbegriffs als diesem untergeordnet verstanden werden.“

II. Das „institutionelle Gleichgewicht“ in der Rechtsprechung

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2. Begriff des „institutionellen Gleichgewichts“ In den der Meroni-Entscheidung nachfolgenden Urteilen, die zumeist den EGV betrafen, verwendet der Europäische Gerichtshof zur Beschreibung des Verhältnisses der Organe untereinander den Begriff eines „institutionellen Gleichgewichts“. Erste Ausführungen zu der diesem Begriff zukommenden inhaltlichen Bedeutung sind in dem Urteil vom 17. Dezember 1970 in der Rs. 25/70 „Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel gegen Köster, Berodt & Co.“ enthalten. In diesem vom Hessischen Verwaltungsgerichtshof vorgelegten Vorabentscheidungsverfahren musste der Europäische Gerichtshof über die Gültigkeit der Verordnung Nr. 102/64/EWG der Kommission vom 28. Juli 1964 über die Einfuhr- und Ausfuhrlizenzen für Getreide und Getreideerzeugnisse, Reis, Bruchreis und Verarbeitungserzeugnisse aus Reis entscheiden.474 Gegen die Gültigkeit der in dieser Verordnung – insbesondere in den Artikel 1 und 7 – enthaltenen Kautionsregelung machte die Firma Köster, Berodt & Co. unter anderem geltend, dass das zugrundeliegende Verfahren, das „Verwaltungsausschuß-Abstimmungsverfahren“ gegen den Vertrag verstoße und demnach rechtswidrig sei. Um diese Ansicht zu stützen, wurden weitergehend vor dem Europäischen Gerichtshof drei Gründe ausgeführt: Erstens wurde darauf verwiesen, dass das Verfahren dem Verwaltungsausschuß ein Mitwirkungsrecht an der gesetzgebenden Tätigkeit der Kommission einräume, zweitens die Verpflichtung zur Anhörung des Parlaments illusorisch mache und drittens den Mitgliedstaaten die Möglichkeit gebe, vom Rat eine Kassation der Kommissionsverordnungen zu erlangen.475 Als die diesem Vorlageersuchen zugrunde liegende Fragestellung formulierte der Gerichtshof demnach die „Vereinbarkeit des Verwaltungsausschußverfahrens mit der Gemeinschaftsstruktur und dem institutionellen Gleichgewicht unter den Gesichtspunkten des Verhältnisses der Organe zueinander und der Ausübung ihrer jeweiligen Befugnisse.“476 Nach einer genaueren Beschreibung des Verwaltungsausschussverfahrens befand der Europäische Gerichtshof abschließend, dass diese Form der Übertragung von Durchführungsbefugnissen das „institutionelle Gleichgewicht“ nicht verfälsche und demnach die fragliche Verordnung als rechtmäßig zu beurteilen sei.477 ___________ 474 EuGH, de/Köster“. 475 EuGH, de/Köster“. 476 EuGH, de/Köster“. 477 EuGH, de/Köster“.

Slg. 1970, 1161 (1170) Rs. 25/70 „Einfuhr- und Vorratsstelle GetreiSlg. 1970, 1161 (1165) Rs. 25/70 „Einfuhr- und Vorratsstelle GetreiSlg. 1970, 1161 (1171) Rs. 25/70 „Einfuhr- und Vorratsstelle GetreiSlg. 1970, 1161 /1173) Rs. 25/70 „Einfuhr- und Vorratsstelle Getrei-

214 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

Im Rahmen dieser Entscheidung machte der Europäische Gerichtshof zwar keine weitergehenden Ausführungen im Hinblick auf eine Begründung des „institutionellen Gleichgewichts“. Vielmehr setzte er dieses bereits als anerkanntes Grundprinzip der Gemeinschaftsrechtsordnung voraus, dessen Nichtbeachtung somit zur Rechtswidrigkeit einer Maßnahme führen kann. Auch zur inhaltlichen Bedeutung des „institutionellen Gleichgewichts“ äußerte er sich nicht direkt. Doch sind mittelbar aus seinen Ausführungen zum Verwaltungsausschussverfahren gewisse Rückschlüsse auf das von ihm zugrunde gelegte Verständnis möglich. Ausgangspunkt seiner Argumentation bildete die allgemein anerkannte Feststellung, dass eine Übertragung von Befugnissen vom Ministerrat an die Europäische Kommission nach Art. 202 EGV zulässig ist, sofern nicht wesentliche Grundzüge der zu regelnden Materie betroffen sind.478 In diesem Zusammenhang machte der Europäische Gerichtshof – ungeachtet der weitreichenden Bedeutung – keine näheren Ausführungen zu der von ihm als maßgeblich zugrunde gelegten Unterscheidung zwischen diesen beiden Arten von Befugnissen.479 Vielmehr betonte der Gerichtshof, dass mit einer Delegation solcher Durchführungsbefugnisse der Ministerrat nicht alle weiteren Einflussmöglichkeiten auf die Politikgestaltung verliert.480 Demnach kann der Rat im Rahmen des Verwaltungsausschussverfahrens die Entscheidung gegebenenfalls wieder an sich ziehen.481 Eine solche Vorgehensweise steht auch nicht im Widerspruch zu der im Primärrecht angelegten Aufgabenverteilung der Organe untereinander, da dem Ministerrat ursprünglich die vollständige Entscheidungsbefugnis zugewiesen gewesen ist. Entgegen den Ausführungen der Beklagten kommen dem Verwaltungsausschuss im Weiteren selbst keine unmittelbaren Mitwirkungsrechte an der Ge___________ 478 Bernhardt, 89; Hummer/Obwexer in: Streinz, EUV/EGV, Art. 202 EGV, Rn. 34; Wichard in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 202 EGV, Rn. 8; Lenaerts/Verhoeven in: 37 CMLRev. 2000, 645 (651); Winter in: EuR 2005, 255 (262). 479 Siehe aber auch Lenaerts/Verhoeven in: 37 CMLRev. 2000, 645 (670) „As we have already mentioned, detailed rules on what is implementation and what is legislation, are neither necessary nor desirable. The distinction defined in Köster and subsequent case law between what is essential and what is ancillary seems sufficient.“ 480 EuGH, Slg. 1970, 1161 (1173) Rs. 25/70 „Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide/Köster“ „Demnach gibt das Verwaltungsausschussverfahren dem Rat die Möglichkeit, der Kommission beträchtliche Durchführungsbefugnisse unter dem Vorbehalt zu übertragen, dass er gegebenenfalls die Entscheidung an sich ziehen kann (...).“; Jacqué in: 41 CMLRev. 2004, 383 (385). 481 EuGH, Slg. 1970, 1161 (1173) Rs. 25/70 „Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide/Köster“; Lenaerts/Verhoeven in: 37 CMLRev. 2000, 645 (652) „In short, Köster imposes limits on what may be delegated to the Commission by way of implementation, without making a strict distinction between legislative and implementing activity.“

II. Das „institutionelle Gleichgewicht“ in der Rechtsprechung

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setzgebung zu und vor allem steht ihm keine Befugnis dahingehend zu, „anstelle der Kommission oder des Rates“ eine Entscheidung zu treffen.482 Seine Einflussmöglichkeiten beschränken sich anstatt dessen auf die Erarbeitung von Stellungnahmen zu den Kommissionsvorschlägen. Im Falle einer ablehnenden Stellungnahme des Ausschusses ist die Kommission lediglich zu einer Mitteilung an den Rat verpflichtet. Der Verwaltungsausschuss soll somit „eine ständige Konsultation“ zwischen Ministerrat und Kommission sicherstellen und verändert das Verhältnis dieser beiden Organe untereinander nicht.483 Diese Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs machen deutlich, dass er in enger Anlehnung an die Meroni-Entscheidung als Grundlage des „institutionellen Gleichgewichts“ die vertragliche Aufgabenzuweisung an die verschiedenen Organe ansieht. Ungeachtet der möglichen Veränderungen dieser einzelnen Bestimmungen des Primärrechts durch eine Vertragsänderung sowie der ihnen durch die Ermöglichung der Übertragung von Durchführungsbefugnissen bereits selbst innewohnenden Flexibilität lassen sich damit gewisse allgemeine Aussagen formulieren. Zum einen darf es zu keiner Verfälschung des Verhältnisses der Organe untereinander kommen. Zwar scheint der Wortlaut des Art. 202 EGV zunächst als Regelfall nur eine vorbehaltlose Übertragung von Durchführungsbefugnissen durch den Ministerrat an die Kommission vorzusehen.484 In seiner Eigenschaft als übertragendes Organ kann der Rat aber gleichermaßen auch gewisse Anforderungen an die nachfolgende Ausübung dieser ihm ursprünglich zustehenden Befugnisse knüpfen.485 Zum anderen darf das Verhältnis der Organe untereinander auch nicht durch die Beteiligung zunächst nicht vorgesehener dritter Einrichtungen gestört werden. Unter Aufnahme der in der Meroni-Entscheidung bereits formulierten Grenze einer Übertragung von Befugnissen ist demnach die Einrichtung eines Ausschusses mit einer selbstständigen Entscheidungsbefugnis und eigenständigen Mitwirkungsrechten nicht mit dem „institutionellen Gleichgewicht“ vereinbar. ___________ 482 EuGH, Slg. 1970, 1161 (1173) Rs. 25/70 „Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide/Köster“; allgemein zum Verhältnis von Rat und Kommission siehe nur HayesRenshaw in: Peterson/Shackleton, 47 (62). 483 EuGH, Slg. 1970, 1161 (1173) Rs. 25/70 „Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide/Köster“; so auch EuGH, Slg. 1970, 1197 (1210) Rs. 30/70 „Scheer/Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide“; EuGH, Slg. 1970, 1142 (1145/1146) Rs. 11/70 – Schlussanträge des GA Alain Dutheillet de Lamothe. 484 Oppermann, 104, Rn. 87; Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften – Band I, 402; Lenaerts/Verhoeven in: 37 CMLRev. 2000, 645 (646) „The comitology system was initially set up praeter legem, but could count on the – conditional – approval of the Court of Justice.“ 485 Harlow in: 23 Yearbook of European Law 2004, 57 (69); Oppermann, 104, Rn. 88; Lenaerts/Verhoeven in: 37 CMLRev. 2000, 645 (652); Streinz, 193, Rn. 522; Lenaerts in: ELJ 1993, 23 (34).

216 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

Diese Argumentation des Europäischen Gerichtshofs ist in sich als gut nachvollziehbar und überzeugend zu beurteilen. Auffällig ist jedoch, dass er sich bei seiner rechtlichen Bewertung des Verwaltungsausschussverfahrens nicht mit allen Argumenten auseinandersetzt, die für die Annahme einer Verletzung des „institutionellen Gleichgewichts“ angeführt worden sind. So fehlt zum einen jede Bezugnahme auf die möglichen Folgen des Verfahrens auf die Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments. Zum anderen nimmt er keine Stellung zu der gleichfalls aufgeworfenen Frage, ob durch die Verfahrensausgestaltung der Einfluss der Mitgliedstaaten nicht erheblich zunimmt. Letzteres betrifft offensichtlich nach seiner Einschätzung ein vollkommen anderes Verhältnis als das die Organe selbst betreffende „institutionelle Gleichgewicht“. Unter Zugrundelegung dieses Verständnisses einer klaren Trennung zwischen diesen beiden Ebenen können Verfahren unter Beteiligung verschiedener Organe tatsächlich keinen Einfluss auf das grundlegende Verhältnis der Gemeinschaftsrechtsordnung und der Mitgliedstaaten haben.486 Unbeachtet bleibt jedoch bei einer solch formalen Betrachtung, dass durch die Stellungnahmen des zusätzlich in das Verfahren eingeschalteten Verwaltungsausschusses, dem mitgliedstaatliche Vertreter angehören, und den damit möglicherweise ausgelösten Konsultationen zwischen den Ministerrat und der Kommission faktisch eine größere Betonung mitgliedstaatlicher Interessen erfolgen kann. Damit kann gleichzeitig der Ministerrat als das die mitgliedstaatlichen Interessen maßgeblich vertretende Organ eine Verstärkung erfahren. Das Verwaltungsausschussverfahren kann somit – entgegen der Annahme des Europäischen Gerichtshofs – das Verhältnis der Organe untereinander doch langfristig verändern. Zwar handelt es sich vor der entsprechenden Übertragung, die regelmäßig der Kommission größere Einflussmöglichkeiten verschafft, um originäre – jedoch nicht notwendig alleinige – Rechtssetzungsbefugnisse des Ministerrates.487 Zusätzlich besteht kein direktes Verhältnis zwischen dem Rat und dem Ausschuss im Rahmen des Verwaltungsausschussverfahrens. Unter Berücksichtigung der besonderen Bedeutung, die Interessengegensätze bei der wirksamen gegenseitigen Überwachung der Organtätigkeiten haben können, ist jedoch festzustellen, dass die Europäische Kommission im Einzelfall den Überlegungen von zwei unab___________ 486

Siehe aber auch – hinsichtlich der Klageberechtigung einer Region im Rahmen der Nichtigkeitsklage – EuGH, Slg. 1997-10, I-5245 (I-5249f.) Rs. C-180/97 „Regione Toscana/Kommission“ „Andernfalls würde das institutionelle Gleichgewicht beeinträchtigt, das in den Verträgen vorgesehen ist, die insbesondere die Bedingungen festlegen, unter denen die Mitgliedstaaten, d.h. die Staaten, die Parteien der Gründungs- und Beitrittsverträge sind, bei der Tätigkeit der Gemeinschaftsorgane mitwirken.“ 487 Wichard in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 202 EGV, Rn. 18; Hartley, European Union Law in a Global Context, 24; Shackleton in: Peterson/Shackleton, 95 (108); Douglas-Scott, 67; Borchardt, 202, Rn. 491; Verhoeven, The EU in Search of a Democratic and Constitutional Theory, 249.

II. Das „institutionelle Gleichgewicht“ in der Rechtsprechung

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hängigen Gremien mit gleicher Interessenausrichtung sowie einer Überwachung ihrerseits ausgesetzt ist.488 Dass sich der Ministerrat gegebenenfalls die ablehnende Stellungnahme des Ausschusses zu Eigen macht und damit die mitgliedstaatlichen Interessen eine weitere Verstärkung erfahren, kann darüber hinaus einen erheblichen Einfluss auf die Herausbildung des Gemeinschaftsinteresses haben. Damit einhergehend kann die Rolle der Europäischen Kommission im Gesamtzusammenhang geschwächt werden. Trotz der damit bestehenden Zweifel an der Angemessenheit einer rein formalen Betrachtung – so muss eine derartige Beschränkung doch immer in gewisser Weise unvollständig erscheinen – ist der gewählte Ansatz des Europäischen Gerichtshofs jedoch insoweit als nachvollziehbar zu beurteilen, als er im Rahmen dieser Entscheidung ein normatives, justiziables Prinzip versucht hat zu etablieren und anzuwenden.489 Des Weiteren ist auf den nicht näher behandelten Hinweis auf die möglichen Folgen des Verwaltungsausschussverfahrens auf die Mitwirkungsrechte des Parlaments einzugehen.490 Wiederum kann zunächst auf das Argument des Europäischen Gerichtshofs, dass der Ministerrat lediglich eine bereits vertraglich vorgesehene Möglichkeit zur Übertragung von Befugnissen nutzt, verwiesen werden. Beachtung hat demnach der Umstand zu finden, dass der Vertrag gerade keine weitere Mitwirkung des Parlaments bei der Wahrnehmung übertragener Befugnisse ausdrücklich vorsieht und im Übrigen das Verhältnis zu den anderen gesetzgebenden Organen auch von vornherein nicht statisch festlegt ist.491 Doch kann in Frage gestellt werden, inwieweit das Verwaltungsaus___________ 488

Douglas-Scott, 66; Lenaerts/Verhoeven in: 37 CMLRev. 2000, 645 (646); Nugent in: Peterson/Shackleton, 141 (153); Oppermann, 104, Rn. 88; Verhoeven, The EU in Search of a Democratic and Constitutional Theory, 249; Hartley, European Union Law in a Global Context, 24. 489 Bernhardt, 89 „Aus den genannten Urteilen wird deutlich, dass der EuGH das institutionelle Gleichgewicht als normatives Kriterium für die Beurteilung von (horizontalen) Kompetenzfragen benutzt, wobei allerdings dieses Prinzip für die Bestimmung der Grenzen für die eigenen Tätigkeiten des EuGH noch nicht herangezogen wurde.“ 490 Hummer/Obwexer in: Streinz, EUV/EGV, Art. 202 EGV, Rn. 39; Douglas-Scott, 67; Lenaerts/Verhoeven in: 37 CMLRev. 2000, 645 (646); EuGH, Slg. 1988, 5615 (5638) Rs. 302/87 „Parlament/Rat“. 491 Wichard in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 202 EGV, Rn. 6; Lenaerts/Verhoeven in: 37 CMLRev. 2000, 645 (647); Verhoeven, The EU in Search of a Democratic and Constitutional Theory, 248; EuGH, Slg. 1995/I, I-1185 (I-1219) Rs. C-417/93 „Parlament/Rat“ „Wie der Gerichtshof, insbesondere im Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik, bereits entschieden hat, ist das Verfahren, nach dem der Rat eine gemeinschaftliche Politik betreffende Verordnungen auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Parlaments erlässt, nur auf Grundverordnungen anwendbar, die die wesentlichen Elemente der zu regelnden Materie enthalten, und können die Durchführungsbestimmungen zu diesen Verordnungen vom Rat nach einem abweichenden Verfahren erlassen werden.“

218 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

schussverfahren mit dem zunehmenden allgemeinen Bedürfnis nach einer demokratischen Legitimation der von der Europäischen Union ausgeübten Hoheitsgewalt zu vereinbaren ist.492 So tritt in diesem Zusammenhang das bestehende Spannungsverhältnis zwischen Bemühungen einer effektiven Aufgabenbewältigung und einer Demokratisierung der Gemeinschaftsrechtsordnung besonders deutlich in Erscheinung.493 Derartige Überlegungen können jedoch für den vertraglich vorgesehenen Regelfall nicht vollständig überzeugen, nach dem grundlegende Entscheidungen von einer Delegation ausgeschlossen sind und lediglich Durchführungsbefugnisse übertragen werden können. Nur sofern sich eine deutliche und allgemeine Entwicklung zu weiterreichenden Übertragungen von Befugnissen abzeichnet, könnte das „institutionelle Gleichgewicht“ im Hinblick auf die dem Europäischen Parlament in der Gesetzgebung zugewiesene Rolle als unzulässigerweise verändert angesehen werden.494 Im Hinblick auf die nachfolgende Entwicklung ist schließlich zu erwähnen, dass das Europäische Parlament nunmehr nach Art. 5 und 7 des „Beschluß der Rates zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse“ vom 28. Juni 1999 auch gewisse Rechte vor allem für den Fall besitzt, dass der Ministerrat Befugnisse überträgt, für die vormals das Mitentscheidungsverfahren Anwendung gefunden hat. Im Anschluss an diese Entscheidung hat der Europäische Gerichtshof noch mehrfach den Begriff des „institutionellen Gleichgewichts“ verwendet, in teils sehr verschiedenem Zusammenhang. So stützt der Gerichtshof unterschiedlichste Aussagen zu prozessrechtlichen, verfahrensrechtlichen wie auch materiellrechtlichen Fragen auf dieses von ihm entwickelte Grundprinzip der Gemeinschaftsrechtsordnung. Darüber hinaus weist das „institutionelle Gleichgewicht“ eine enge Beziehung zu anderen allgemeinen Grundprinzipien auf. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll nun auf jeden dieser Anwendungsbereiche kurz eingegangen werden.

___________ 492

Streinz, 193, Rn. 524; Shackleton in: Peterson/Shackleton, 95 (109); Wichard in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 202 EGV, Rn. 11; Hummer/Obwexer in: Streinz, EUV/EGV, Art. 202 EGV, Rn. 40. 493 Siehe aber auch Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 689; Lenaerts/Verhoeven in: 37 CMLRev. 2000, 645 (664) „Efficiency and expertise are sometimes claimed to be diametrically opposed to democracy. Nevertheless, democracy is not necessarily assisted by having a public debate on all subjects.“ 494 Streinz, 193, Rn. 524; Wichard in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 202 EGV, Rn. 11.

II. Das „institutionelle Gleichgewicht“ in der Rechtsprechung

219

a) Prozessrechtliche Bedeutung des „institutionellen Gleichgewichts“ Im Hinblick auf die prozessrechtliche Bedeutung des „institutionellen Gleichgewichts“ in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist die diesbezüglich erfolgte Aufwertung des Europäischen Parlaments von besonderem Interesse. So sind dem Europäischen Parlament, das anfangs nur über einen im Vergleich zu den anderen Organen sehr eingeschränkten Zugang zum Europäischen Gerichtshof verfügte, durch die Rechtsprechung zunehmend Möglichkeiten der Verfahrensbeteiligung und damit einhergehend der gerichtlichen Interessendurchsetzung eröffnet worden. In diesem Zusammenhang sei nur auf das Recht zum Streitbeitritt495, die Fähigkeit, Beklagter im Rahmen einer Nichtigkeitsklage zu sein496, sowie das Recht zur Erhebung einer Untätigkeitsklage497 verwiesen. Zur Begründung dieser durch die gleichzeitig erfolgte Aufwertung des Europäischen Parlaments im Rahmen der Gesetzgebung bedingten erweiterten prozessrechtlichen Rechte verwendete der Gerichtshof das „institutionelle Gleichgewicht“ methodisch als ein auslegungsbegleitendes Prinzip. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll die mit Rücksicht auf die prozessrechtliche Stellung des Europäischen Parlaments gleichfalls – unter Bezugnahme des „institutionellen Gleichgewichts“ – erörterte Frage nach einer Befugnis zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage näher behandelt werden. Eine erste Mög___________ 495 EuGH, Slg. 1980/III, 3333 (3357) Rs. 138/79 „Roquette Frères/Rat“ „Nach Artikel 37 Absatz 1 haben alle Organe der Gemeinschaft dasselbe Recht zum Beitritt. Man würde die vom Vertrag und insbesondere von Artikel 4 Absatz 1 gewollte institutionelle Stellung eines Organs beeinträchtigen, wollte man es in der Ausübung dieses Rechts einschränken.“; EuGH, Slg. 1980/III, 3393 (3420) Rs. 139/79 „Maizena/Rat“; Bernhardt, 122. 496 EuGH, Slg. 1986/II, 1339 (1366) Rs. 294/83 „Les Verts/Parlament“ „Die Handlungen des Europäischen Parlaments in der Sphäre des EWG-Vertrags könnten in diesem Fall nämlich – ohne dass die Möglichkeit bestünde, sie durch den Gerichtshof überprüfen zu lassen – in die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten oder der anderen Organe eingreifen oder die Grenzen überschreiten, die den Zuständigkeiten ihres Urhebers gezogen sind. Daher ist festzustellen, dass gegen Handlungen des Europäischen Parlaments, die gegenüber Dritten Rechtswirkungen entfalten sollen, die Nichtigkeitsklage erhoben werden kann.“; Burgi in: Rengeling/Middeke/Gellermann, 104; Faber in: DVBl. 1990, 1095 (1097). 497 EuGH, Slg. 1985/II, 1513 (1588) Rs. 13/83 „Parlament/Rat“ „Dazu ist zu bemerken, dass Artikel 175 Absatz 1, wie auch der Rat einräumt, die Möglichkeit, eine Untätigkeitsklage gegen den Rat und die Kommission zu erheben, unter anderem ausdrücklich den anderen Organen der Gemeinschaft eröffnet. Nach dieser Vorschrift haben somit alle Organe der Gemeinschaft dieselbe Befugnis zur Erhebung der Untätigkeitsklage. Man würde die vom Vertrag und insbesondere von Artikel 4 Absatz 1 gewollte institutionelle Stellung eines Organs beeinträchtigen, wollte man es in der Ausübung dieser Befugnis einschränken.“; EuGH, Slg. 1988, 4017 (4046) Rs. 377/87 „Parlament/Rat“; Burgi in: Rengeling/Middeke/Gellermann, 156.

220 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

lichkeit, sich zu dieser Frage zu äußern, nahm der Gerichtshof in seinem Urteil vom 27. September 1988 in der Rs. 302/87 wahr. Im Rahmen dieser Entscheidung hatte das Europäische Parlament unter anderem vorgebracht, dass zur Aufrechterhaltung des „institutionellen Gleichgewichtes“ auch das Europäische Parlament zur Klageerhebung gegen Handlungen des Rates und der Kommission in der Lage sein müsste.498 Zusätzlich verwies das Europäische Parlament darauf, dass diese Erweiterung der Klageberechtigung als eine notwendige Fortführung der in der Rs. 294/83 bereits ergangenen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs anzusehen sei. In diesem angeführten Urteil hatte der Gerichtshof begründet, dass auch Handlungen des Europäischen Parlaments mit Rechtswirkungen gegenüber Dritten Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sein können.499 Dieser Argumentation folgte der Gerichtshof indes nicht und auch der Hinweis auf das „institutionelle Gleichgewicht“ wurde von ihm nicht in erkennbarer Weise aufgenommen. Anstatt dessen wies der Gerichtshof in diesem Zusammenhang auf alternativ bestehende Rechtsschutzmöglichkeiten hin. Neben der Untätigkeitsklage durch das Parlament selbst nannte er die mögliche Klageeinleitung durch die Europäische Kommission sowie durch Dritte. Darüber hinaus machte er deutlich, dass nach seiner Ansicht das Europäische Parlament nicht hinreichend dargelegt hatte, dass die Erhebung einer Nichtigkeitsklage zur Verteidigung eigener Prärogativen erforderlich gewesen wäre.500 Somit kam er abschließend zu der Überzeugung, eine solche Befugnis stehe dem Europäischen Parlament auch nicht zu.501 Eine erneute Erörterung dieser Frage erfolgte jedoch bereits in dem Urteil in der Rs. C-70/88, der eine Klage des Europäischen Parlaments gegen den Rat der Europäischen Gemeinschaften zugrunde lag. Zwischen diesen beiden Organen bestand Uneinigkeit hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Verordnung (Euratom) Nr. 3954/87 des Rates vom 22. Dezember 1987 zur Festlegung von Höchstwerten an Radioaktivität in Nahrungsmitteln und Futtermitteln im Falle eines nuklearen Unfalls oder einer anderen radiologischen Notstandssituation. So machte das Europäische Parlament im Rahmen seines Vorbringens geltend, dass diese – in Reaktion auf den Reaktorunfall in Tschernobyl am 26. April 1986 ergangene – Verordnung anstatt auf Art. 31 EAG-Vertrag auf Art. 100a ___________ 498 EuGH, Slg. 1988/V, 5615 (5623) Rs. 302/87 „Parlament/Rat“ „Erstens verlange das institutionelle Gleichgewicht, dass das Parlament im Rechtsschutzsystem der Gemeinschaft den übrigen Organen gleichgestellt sei. Es wäre keine Anerkennung der parlamentarischen Befugnisse, sondern ein Rückschritt, wenn das Parlament nur verklagt werden könne, ohne selbst klagen zu können.“ 499 EuGH, Slg. 1986/II, 1339 (1366) Rs. 294/83 „Les Verts/Parlament“. 500 EuGH, Slg. 1988/V, 5615 (5644) Rs. 302/87 „Parlament/Rat“. 501 EuGH, Slg. 1988/V, 5615 (5644) Rs. 302/87 „Parlament/Rat“; Hilf in: 25 EuR 1990, 273 (274).

II. Das „institutionelle Gleichgewicht“ in der Rechtsprechung

221

EWG-Vertrag gestützt hätte werden müssen und demnach rechtswidrig ergangen wäre.502 Bevor sich der Europäische Gerichtshof indes mit dieser die Rechtsgrundlage betreffenden Frage auseinander zu setzen hatte, musste er vorab über die vom Rat erhobene Einrede der Unzulässigkeit der Klage entscheiden. Als Ausgangspunkt zu seinen Ausführungen diente dem Ministerrat das von den Verträgen geschaffene „institutionelle Gleichgewicht“, zu dessen Wahrung die Organe gehalten seien, „die ihnen in den Verträgen übertragenen Befugnisse im Einklang mit der allgemeinen Bestimmung des Artikels 4 EWG-Vertrags auszuüben.“503 Daran anschließend verwies er auf die besondere Rolle der Europäischen Kommission als „Hüterin des Vertrages“, um schließlich – im Rahmen einer Folgebetrachtung – eine Verfälschung des „institutionellen Gleichgewichts“ durch die Zulassung einer Nichtigkeitsklagebefugnis für das Europäische Parlament wie folgt zu begründen: „Werde dem Parlament auf der Grundlage von Artikel 173 EWG-Vertrag eine allgemeine Befugnis zur Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Organe zuerkannt, so würden die Aufgaben und Befugnisse der Organe miteinander vermischt. Diese würde zu einer Situation führen, in der das Parlament in unmittelbarer Konkurrenz zur Kommission träte, was zu einer doppelten politischen Kontrolle führen würde.“504 Darüber hinaus bezog sich der Rat auch auf die bereits in der Rs. 302/87 vom Gerichtshof genannten Gründe gegen die Zulassung einer Nichtigkeitsklage durch das Europäische Parlament. So verwies er wiederum auf die zur Verfügung stehenden anderen Rechtsbehelfe, um die Beachtung der Rechte und Interessen des Parlaments in angemessener Weise zu gewährleisten. Demgegenüber betonte das Europäische Parlament, dass zu der Rs. 302/87 bereits erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Ausgangslage bestehen würden. So kam die Erhebung einer Untätigkeitsklage durch das Parlament nicht mehr in Betracht, da die anderen Organe bereits rechtssetzend tätig geworden waren. Aber auch eine Nichtigkeitsklage durch die Kommission erschien ausgesprochen unwahrscheinlich, da diese die Überzeugung des Rates hinsichtlich der Rechtsgrundlage geteilt hatte; eine immerhin nicht auszuschließende Klage durch eine Einzelperson war schließlich nicht absehbar. Dieser Einschätzung der Ausgangslage durch das Parlament ist der Europäische Gerichtshof im Anschluss an die Schlussanträge des Generalanwalts505 ___________ 502

EuGH, Slg. 1990/II, I-2041 (I-2045) Rs. C-70/88 „Parlament/Rat“. EuGH, Slg. 1990/II, I-2041 (I-2048) Rs. C-70/88 „Parlament/Rat“. 504 EuGH, Slg. 1990/II, I-2041 (I-2048) Rs. C-70/88 „Parlament/Rat“. 505 EuGH, Slg. 1999/II, I-2052 (I-2052) Rs. C-70/88 „Parlament/Rat“ – Schlussanträge des GA Walter van Greven „Heute dagegen steht die Verteidigung seiner eigenen Befugnisse durch das Parlament ganz im Mittelpunkt, mit der Besonderheit, dass das Par503

222 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

auch gefolgt, indem er feststellte: „Die Umstände der vorliegenden Rechtssache und ihre Erörterungen haben jedoch gezeigt, daß sich diese verschiedenen im EAG-Vertrag wie im EWG-Vertrag vorgesehenen Rechtsbehelfe, so nützlich und vielfältig sie auch sein mögen, als unwirksam oder ungewiß erweisen können.“506 Der Gerichtshof erkannte demnach ausdrücklich die Möglichkeit an, dass im Rahmen des bestehenden Rechtsschutzsystems eine Nichtbeachtung von Befugnissen des Europäischen Parlaments erfolgen kann, die im Weiteren nicht vor den Gerichtshof geltend gemacht wird. Aufgrund der damit in Erscheinung getretenen Rechtsschutzlücke, die unter Berücksichtung des „institutionellen Gleichgewichts“ auch als planwidrig zu beurteilen ist, bejahte der Europäische Gerichtshof schließlich die Befugnis des Europäischen Parlaments zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage.507 Auffallend an der gerade dargestellten Entscheidung ist zunächst, dass nicht mehr nur das Europäische Parlament unter Heranziehung des „institutionellen Gleichgewichts“ die Wahrung seiner Rechte wie auch den Ausbau seiner prozessrechtlichen Stellung zu begründen sucht.508 Vielmehr bezog sich auch der Ministerrat auf diesen durch den Europäischen Gerichtshof entwickelten Grundsatz zur Unterstützung seiner Einrede der Unzulässigkeit.509 Hinsichtlich des vom Europäischen Gerichtshof zugrunde gelegten Verständnisses des „institutionellen Gleichgewichts“ wird darüber hinaus deutlich, dass dieser Grundsatz der Gemeinschaftsordnung sehr verschiedene Funktionen zu erfüllen hat. Zunächst ist eine positive Stützungsfunktion dieses Begriffs dahingehend festzustellen, dass ausgehend von der in den Verträgen festgelegten Zuständigkeitsverteilung das „institutionelle Gleichgewicht“ „jedem Organ seinen eigenen Auftrag innerhalb des institutionellen Gefüges der Gemeinschaft und bei der Erfüllung der dieser übertragenen Aufgaben zuweist.“510 Im Interesse der Bewahrung dieser jeweiligen Aufgabenbereiche der einzelnen Organe ___________ lament mit seiner Sache allein steht und daher für die Verteidigung seiner Befugnisse ausschließlich auf sich selbst angewiesen ist.“ 506 EuGH, Slg. 1990/II, I-2041 (I-2072) Rs. C-70/88 „Parlament/Rat“. 507 EuGH, Slg. 1990/II, I-2041 (I-2073) Rs. C-70/88 „Parlament/Rat“; EuGH, Slg. 1994/I, I-625 (I-658) Rs. C-316/91 „Parlament/Rat“; Burgi in: Rengeling/Middeke/ Gellermann, 101; Huber in: 38 EuR 2003, 574 (576); Hilf in: 25 EuR 1990, 273 (277); für die fehlende Übertragbarkeit dieser Vorstellung auf die Prozessbeteiligung natürlicher oder juristischer Personen, die gerade in keinem unmittelbaren Verhältnis zu den anderen Organen stehen, siehe aber EuGH, Slg. 2001-5, I-3811 (I-3828) Rs. C-345/00 P „FNAB/Rat“. 508 EuGH, Slg. 1990/II, I-2041 (I-2049) Rs. C-70/88 „Parlament/Rat“. 509 EuGH, Slg. 1990/II, I-2041 (I-2048) Rs. C-70/88 „Parlament/Rat“; kritisch zu dieser damit deutlich werdenden Offenheit des Begriffes Bieber in: 21 CMLRev. 1984, 505 (519). 510 EuGH, Slg. 1990/II, I-2041 (I-2041) Rs. C-70/88 „Parlament/Rat“.

II. Das „institutionelle Gleichgewicht“ in der Rechtsprechung

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– und damit auch ihrer Unabhängigkeit – kann das „institutionelle Gleichgewicht“ demnach zur konkretisierenden Auslegung einzelner Bestimmungen herangezogen werden. Darüber hinaus wirkt das „institutionelle Gleichgewicht“ aber auch negativ im Sinne einer zu beachtenden allgemeinen und absoluten Grenze in dem Sinne, dass „jedes Organ seine Befugnisse unter Beachtung der Befugnisse der anderen Organe ausübt. Sie verlangt auch, dass eventuelle Verstöße gegen diesen Grundsatz geahndet werden können.“511 Diese letztere Wirkungsrichtung des „institutionellen Gleichgewichts“ scheint zunächst lediglich eine spiegelbildliche Ausformung der positiven Begriffsfunktion zu sein oder aber eine nur andere Betrachtungsweise darzustellen, die sich vorrangig auf das Außenverhältnis – sowie die gerichtliche Durchsetzung der Beachtung der Befugnisse – bezieht. Bei einer derartigen Beurteilung bleibt jedoch eine entscheidende Bedeutung dieser sanktionierenden Wirkungsweise des „institutionellen Gleichgewichts“ unberücksichtigt. So kann die dem Europäischen Gerichtshof nach eigenen Aussagen zukommende Aufgabe der Sicherstellung und Gewährleistung des „institutionellen Gleichgewichts“ im konkreten Fall eine Rechtsfortbildung seinerseits notwendig machen.512 Demnach kann dem „institutionellen Gleichgewicht“ ein – über die bereits in den Verträgen ausdrücklich enthaltene Zuständigkeitsverteilung hinausgehender – eigenständiger Bedeutungsinhalt zukommen. Neben seiner Verwendung als auslegungsbegleitendes Prinzip ist das „institutionelle Gleichgewicht“ somit als ein übergeordnetes Prinzip anzusehen, aus dem sich gegebenenfalls auch durch Rechtsfortbildung zu gewinnende weiterführende Aussagen ableiten lassen. Damit einhergehend ist eine genauere Betrachtung der vom Europäischen Gerichtshof im vorliegenden Fall vorgenommenen Rechtsfortbildung von besonderem Interesse. Zwar beschreibt der Europäische Gerichtshof zunächst die bestehende Regelungslücke im Gemeinschaftsrecht hinsichtlich der Erhebung einer Nichtigkeitsklage durch das Europäische Parlament und begründet daraufhin die Planwidrigkeit dieser Regelungslücke unter Bezugnahme auf das ___________ 511

EuGH, Slg. 1990/II, I-2041 (I-2041) Rs. C-70/88 „Parlament/Rat“; siehe weiterführend nur Verhoeven, The EU in Search of a Democratic and Constitutional Theory, 206 „The principle of institutional balance requires EU institutions, positively, to fully assume the political responsibilities confers upon by the Treaties and negatively, to refrain from abusing their powers, by using them in a way that usurps the powers granted to other institutions.“; Faber in: DVBl. 1990, 1095 (1099). 512 EuGH, Slg. 1990/II, I-2041 (I-2073) Rs. C-70/88 „Parlament/Rat“ „Es obliegt ihm jedoch, die volle Anwendung der Vertragsbestimmungen über das institutionelle Gleichgewicht sicherzustellen und dafür zu sorgen, dass das Parlament – wie die anderen Organe – nicht in seinen Befugnissen beeinträchtigt werden kann, ohne über eine der in den Verträgen vorgesehenen Klagemöglichkeiten zu verfügen, von der in gesicherter und wirksamer Weise Gebrauch gemacht werden kann.“; Hilf in: 25 EuR 1990, 273 (279).

224 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

„institutionelle Gleichgewicht“. Danach muss die zunehmende Beteiligung des Parlaments an der Gesetzgebung auch eine gewisse Entsprechung hinsichtlich des gewährten Rechtsschutzes finden.513 Bemerkenswert muss in diesem Zusammenhang aber erscheinen, dass der Europäische Gerichtshof abschließend noch eine Abwägung zwischen der bestehenden prozessrechtlichen Lücke und dem Interesse an der Aufrechterhaltung und Wahrung des „institutionellen Gleichgewichts“ vornimmt. So spricht eine Abwägung regelmäßig dafür, dass gleichwertige Prinzipien in einem System einen Wertungswiderspruch offenbaren, der nachfolgend eine Entscheidung erforderlich macht. Aufgrund der Gleichwertigkeit der zu berücksichtigenden Umstände ist das Ergebnis einer solchen Abwägung grundsätzlich offen, da das Verhältnis der in Konflikt zueinander stehenden Grundwerte erst durch die herbeizuführende Entscheidung festgelegt wird. Die Vornahme einer solchen Abwägung erscheint indes nicht notwendig und damit auch methodisch kaum nachvollziehbar, sofern das „institutionelle Gleichgewicht“ allgemein als ein übergeordnetes Rechtsprinzip der Gemeinschaftsrechtsordnung anzusehen ist. Mit dieser Abwägung scheint demnach die Planwidrigkeit der Lücke wiederum in Frage gestellt. Diese Vorgehensweise des Europäischen Gerichtshofs könnte jedoch auch dahingehend gedeutet werden, dass er – in Übereinstimmung mit den Schlussanträge des Generalanwaltes514 – selbst nur unter engsten Voraussetzung zugunsten dieses Grundwertes zu einer durch Rechtsfortbildung erfolgenden Veränderung des positiven Rechts bereit ist. Dass der Gerichtshof eine größere Bereitschaft aufweist, dass „institutionelle Gleichgewicht“ als stützendes Element im Rahmen seiner Auslegung bestehender Rechte heranzuziehen als die Durchsetzung dieser Rechte losgelöst von dem bestehenden rechtlichen Rahmen zu begründen, zeigt sich schließlich auch an der von ihm nachfolgend benannten Beschränkung. So betont der Gerichtshof, dass das Europäische Parlament den anderen Organen nicht vollständig gleichzustellen sei, ___________ 513

EuGH, Slg. 1990/II, I-2052 (I-2054) Rs. C-70/88 „Parlament/Rat“ – Schlussanträge des GA Walter van Greven „Die Tatsache, dass das Parlament in diesem gerichtlich durchsetzbar gemachten Zuständigkeitsgefüge keine ebenso ausgeprägte Rolle eingeräumt wird wie dem Rat oder der Kommission, liegt nach allgemeiner Ansicht daran, dass das Parlament anfangs kaum Macht besaß. Hätte das Parlament von Anfang an bindende Befugnisse gehabt, so wäre ihm aller Wahrscheinlichkeit nach im Rechtsschutzsystem des Vertrags eine ebenso ausgeprägte Rolle zugewiesen worden.“; Faber in: DVBl. 1990, 1095 (1097). 514 EuGH, Slg. 1990/II, I-2052 (I-2057) Rs. C-70/88 „Parlament/Rat“ – Schlussanträge des GA Walter van Greven „Die soeben getroffene Unterscheidung zwischen einer Auslegung des Vertrags, die auf die Gewährleistung eines angemessenen und kohärenten Rechtsschutzsystems abzielt, und einer Auslegung, die das empfindliche politische Gleichgewicht zu beeinträchtigen droht, ist meines Erachtens von höchster Bedeutung.“

II. Das „institutionelle Gleichgewicht“ in der Rechtsprechung

225

sondern nur soweit tatsächlich eigene Befugnisse, im Besonderen Mitwirkungsrechte im Rahmen der Gesetzgebung betroffen sind.515

b) Verfahrensrechtliche Bedeutung des „institutionellen Gleichgewichts“ In verfahrensrechtlicher Hinsicht kommt der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur formellen Beteiligung des Europäischen Parlaments an der Gesetzgebung besondere Bedeutung zu. Anfänglich verfügte das Parlament im Gesetzgebungsverfahren über nur sehr eingeschränkte Mitwirkungsrechte – zumeist in Form eines Anhörungsrechtes. Dass diese zwar schwache, aber im Gemeinschaftsrecht ausdrücklich vorgesehene Beteiligungsform des Parlaments nachfolgend ausreichend berücksichtigt worden ist, hat der Gerichtshof unter begleitender Bezugnahme auf das „institutionelle Gleichgewicht“ sichergestellt. Eine Möglichkeit, sich zur notwendigen Beachtung des Rechtes auf Anhörung des Europäischen Parlaments zu äußern, bot sich dem Europäischen Gerichtshof in dem Urteil in der Rs. 138/79.516 Den Hintergrund dieser Entscheidung bildete die Klage der SA Roquette Frères gegen den Rat der Europäischen Gemeinschaften auf Nichtigerklärung der Verordnung Nr. 1293/79 des Rates vom 25. Juni 1979.517 Regelungsgegenstand dieser Verordnung war die Einführung eines vorübergehenden Produktionsquotensystems für Isoglucose. Dieses als Zuckerersatz verwendbare Süßmittel sollte langfristig denselben Bestimmungen unterworfen werden, die bereits auf die Zuckerproduktion Anwendung fanden.518 So sollte die Produktion von Isoglucose gerade auch durch die Einführung eines Quotensystems – und den damit verbundenen erheblichen Auswirkungen auf die mögliche Preisgestaltung – eingeschränkt werden, um nachteilige Auswirkungen auf den Zuckermarkt zu verhindern. Ein erster Versuch zur Regelung des Süßmittelmarktes war zwar bereits mit der Verordnung Nr. 1111/77 unternommen worden, doch war diese vom Europäischen Gerichtshof für teilweise nichtig erklärt worden. Die dadurch entstandene Regelungslücke machte ein schnelles gesetzgeberisches Tätigwerden erforderlich, so ___________ 515 EuGH, Slg. 1990/II, I-2041 (I-2073) Rs. C-70/88 „Parlament/Rat“; Leibrock in: DVBl. 1990, 1018 (1018). 516 Diese Entscheidung hat im Übrigen im Rahmen der vorliegenden Arbeit bereits eine kurze Erwähnung mit Rücksicht auf die prozessrechtliche Bedeutung des „institutionellen Gleichgewicht“ gefunden. So war doch in diesem Urteil vom Europäischen Gerichtshof darüber hinaus bejahend zu der Frage Stellung genommen worden, ob dem Parlament ein Recht auf Streitbeitritt zukommt. 517 EuGH, Slg. 1980/III, 3333 (3334f.) Rs. 138/79 „Roquette Frères/Rat“. 518 EuGH, Slg. 1980/III, 3333 (3338) Rs. 138/79 „Roquette Frères/Rat“.

226 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

dass der Ministerrat sich entschied, die noch ausstehende Stellungnahme des Europäischen Parlaments nicht abzuwarten. So hätte der Rat entweder auf die Arbeitsaufnahme durch das erstmals direkt gewählte Parlament warten müssen oder aber einen Dringlichkeitsantrag für eine außerordentliche Sitzung des bisherigen Parlament stellen müssen. Von letzterer Vorgehensweise sah er indes ab, da er die Stellungnahme unter den besonderen Begleitumständen als nicht notwendig ansah. Das unter anderem Isoglucose herstellende Unternehmen SA Roquette Frères war von der Verordnung Nr. 1293/79 insoweit betroffen, als ihm in Anhang II eine Grundquote von 15 887 Tonnen zugewiesen worden war.519 In seiner Klage machte es daraufhin geltend, dass die in Artikel 43 Absatz 2 EWGVertrag an sich vorgesehene, aber unterbliebene Stellungnahme des Europäischen Parlaments die Verletzung einer wesentlichen Formvorschrift und damit die Rechtswidrigkeit der Verordnung begründete.520 Der Ministerrat erkannte in seiner Entgegnung zwar gleichermaßen die Wesentlichkeit dieser formellen Beteiligung des Europäischen Parlaments am Gesetzgebungsverfahren an. Doch stellte er im Weiteren die außergewöhnlichen Begleitumstände in den Vordergrund seiner Ausführungen. So betonte er zum einen die durch die vorangegangene Nichtigerklärung der Verordnung Nr. 1111/77 ausgelöste besondere Regelungsbedürftigkeit des Süßmittelmarktes. Zum anderen verwies er auf die erfolgte Zuleitung des Verordnungsvorschlags an das Parlament. Damit einhergehend versuchte der Rat zu begründen, dass erst die Entscheidung des Parlaments, sich noch ausführlicher mit dem Vorschlag unter Berücksichtigung der vom Gerichtshof in seinem vorangegangenen Urteil formulierten Anforderungen auseinander zu setzen, zu weiteren Verzögerungen im Gesetzgebungsverfahren geführt hatte. Mittelbar erhob der Rat folglich den Vorwurf eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens des Parlaments. Die mögliche Schlussfolgerung einer Rechtsverwirkung wurde indes nicht ausdrücklich von ihm gezogen, sondern vielmehr die Stellungnahme – gerade auch unter Bezugnahme auf deren mögliche Auswirkungen – als erfolgt unterstellt.521 Des Weiteren sah der Ministerrat unter Berücksichtigung der verschie___________ 519

EuGH, Slg. 1980/III, 3333 (3340) Rs. 138/79 „Roquette Frères/Rat“. EuGH, Slg. 1980/III, 3333 (3352) Rs. 138/79 „Roquette Frères/Rat“. 521 EuGH, Slg. 1980/III, 3333 (3352) Rs. 138/70 „Roquette Frères/Rat“ „In Beantwortung dieser Frage legt der Rat dar, das Konsultationsverfahren habe bis zur nahezu letzten Phase stattgefunden, die Beratung sei in Anbetracht der Schließung der allgemeinen Debatte angeschlossen gewesen, der wesentliche Inhalt der möglichen künftigen Stellungnahme sei festgelegt gewesen, da zu dem Entwurf keine Änderungsverträge mehr zulässig gewesen seien, und der einzige Grund für den Ablehnungsentwurf seien juristische Skrupel gewesen, die in letzter Minute von einem Mitglied des Parlaments aufgeworfen worden seien. In Wirklichkeit habe somit eine Stellungnahme vorgelegen.“ 520

II. Das „institutionelle Gleichgewicht“ in der Rechtsprechung

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denen Formen der Anhörung auch keinen unbedingten Zusammenhang zwischen der nicht erfolgten Anhörung und der Rechtswidrigkeit der ungeachtet dessen beschlossenen Verordnung. Vielmehr sah er einen Ermessensspielraum für den Europäischen Gerichtshof bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Verordnung eröffnet.522 Gerade letztere Beurteilung des Ministerrates widersprach das als Streithelfer im Verfahren zugelassene Europäische Parlament besonders deutlich, indem es zunächst feststellte, dass den Organen keineswegs „ein Ermessen bei der Wahrung des Anhörungsverfahrens“ zustehen würde.523 Im Übrigen verwies das Europäische Parlament darauf, dass eine Anhörung erst mit der endgültigen Willensäußerung des Parlaments und der tatsächlichen Kenntnisnahme von dieser Stellungnahme durch den Rat als abgeschlossen anzusehen sei.524 In seiner Entscheidung bestätigt der Europäische Gerichtshof zunächst die von allen Beteiligten vorgetragene Überzeugung, dass es sich bei der Anhörung des Parlaments im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens um eine wesentliche Formvorschrift handelt. Die Wesentlichkeit dieser Verfahrensbeteiligung begründet der Gerichtshof mit Hinweis auf zwei grundlegende Prinzipien der Gemeinschaftsrechtsordnung. Zum einen betont er die wesentliche Bedeutung der Anhörung für das „vom Vertrag gewollte institutionelle Gleichgewicht“525. Zum anderen weist er – in deutlicher Anlehnung an die Ausführungen des Generalanwaltes526 – auf die demokratische Bedeutung der Beteiligung des Europäischen Parlaments an der Gesetzgebung hin. Damit einhergehend verletzt das Fehlen einer ordnungsgemäßen Anhörung eine wesentliche Formvorschrift mit der gleichzeitigen Folge, dass die betroffene gesetzgeberische Maßnahme rechtswidrig ist.527 Abschließend wies der Gerichtshof auch den Einwand des Rates zurück, das Europäische Parlament habe durch eigenes Verhalten die Beachtung dieser Formvorschrift unmöglich gemacht. So hebt er im Besonderen ___________ 522

EuGH, Slg. 1980/III, 3333 (3346) Rs. 138/79 „Roquette Frères/Rat“. EuGH, Slg. 1980/III, 3333 (3347) Rs. 138/79 „Roquette Frères/Rat“. 524 EuGH, Slg. 1980/III, 3333 (3347) Rs. 138/79 „Roquette Frères/Rat“. 525 EuGH, Slg. 1980/III, 3333 (3360) Rs. 138/79 „Roquette Frères/Rat“; Bieber in: 21 CMLRev. 1984, 505 (512). 526 EuGH, Slg. 1980/III, 3362 (3375) Rs. 138/79 „Roquette Frères/Rat“ – Schlussanträge des GA Gerhard Reischl „Wenn schon die Verträge die Mitwirkung des Europäischen Parlaments bei der Gemeinschaftsgesetzgebung auf eine bloße Beratungsund Konsultationsbefugnis reduzieren, so darf diese abgeschwächte und auf einzelne Fälle beschränkte Beteiligung der Völker der Mitgliedstaaten an der Rechtssetzung nicht noch dadurch praktisch wirkungslos gemacht werden, daß sie ohne Rechtsfolgen völlig ausgeschaltet werden kann.“ 527 EuGH, Slg. 1980/III, 3333 (3360) Rs. 138/79 „Roquette Frères/Rat“; so auch EuGH, Slg. 1980/III, 3393 (3424) Rs. 139/79 „Maizena/Rat“; von Buttlar, 197. 523

228 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

die gerade nicht vom Ministerrat wahrgenommene Möglichkeit hervor, eine außerordentliche Sitzung des Parlaments nach Art. 196 EGV zu beantragen. In dieser Entscheidung treten die allgemeinen Bemühungen des Europäischen Gerichtshofs sehr deutlich in Erscheinung, die durch die Gemeinschaftsrechtsordnung erfolgte Aufgabenzuweisung an die verschiedenen Organen und die ihnen zukommenden Rechte durch seine Rechtsprechung zu sichern. Insbesondere in den Fällen, in denen eine Beteiligung des Europäischen Parlaments vorgesehen ist, muss diese auch als eine wesentliche Ausprägung des „institutionellen Gleichgewichts“ tatsächlich erfolgen.528 Dass eine solche Mitwirkung das Gesetzgebungsverfahren zwangsläufig verlängert, muss demnach hingenommen werden und kann keineswegs vor dem Gerichtshof als rechtfertigende Begründung für ihr Fehlen geltend gemacht werden. Weiterführende inhaltliche Aussagen über das „vom Vertrag gewollte institutionelle Gleichgewicht“ macht der Europäische Gerichtshof jedoch nicht. Nur die nach seiner Ansicht bestehende enge Verbindung zum Demokratieprinzip wird deutlich. So spielt das Anhörungsrecht des Parlaments „auf Gemeinschaftsebene, wenn auch in beschränktem Umfang, ein grundlegendes demokratisches Prinzip wieder, nach dem die Völker durch eine Versammlung ihrer Vertreter an der Ausübung der hoheitlichen Gewalt beteiligt sind“.529 Zu dieser Begründung des Europäischen Gerichtshofs ist zunächst anzumerken, dass die Wesentlichkeit einer wie auch immer gearteten Beteiligung einer parlamentarischen Versammlung an der Entscheidungsfindung immer mit dem Demokratieprinzip begründet werden kann. Von methodischem Interesse ist in diesem Zusammenhang jedoch die genauere Bestimmung des Verhältnisses der gemeinsam angeführten Prinzipien. Eine rein sprachliche Betrachtung der entsprechenden Aussagen des Europäischen Gerichtshofs lässt zunächst auf eine gleichberechtigte Heranziehung beider Begründungsansätze schließen. Doch muss auch die dem Europäischen Parlament durch das Anhörungsverfahren tatsächlich eingeräumte Rolle im Gesetzgebungsverfahren und die damit erkennbar werdende Geltung des Demokratieprinzips in der Gemeinschaftsrechtsord___________ 528 EuGH, Slg. 1980/III, 3333 (3360) Rs. 138/79 „Roquette Frères/Rat“; EuGH, Slg. 1995/I, I-643 (I-668) Rs. C-65/93 „Parlament Rat“; EuGH, Slg. 1995/I, I-1827 (I-1851) Rs. C-21/94 „Parlament/Rat“; Pescatore in: FS Kutscher 1981, 319 (329). 529 EuGH, Slg. 1980/III, 3333 (3360) Rs. 138/79 „Roquette Frères/Rat“; siehe weiterführend EuGH, Slg. 1991, I-2867, (I-2900) Rs. C-300/89 „Kommission/Rat“ „Das mit dem Verfahren der Zusammenarbeit verfolgte Ziel, die Beteiligung des Europäischen Parlaments am Gesetzgebungsverfahren der Gemeinschaft zu stärken, wäre damit in Frage gestellt. Wie der Gerichtshof in den Urteilen vom 29. Oktober 1980 in der Rechtssache 138/79 und in der Rechtssache 139/79 festgestellt hat, spiegelt diese Beteiligung auf der Gemeinschaftsebene ein grundlegendes demokratisches Prinzip wider, nach dem die Völker durch eine Versammlung ihrer Vertreter an der Ausübung der hoheitlichen Gewalt beteiligt sind.“; EuGH, Slg. 1995/I, I-643 (I-668) Rs. C-65/93 „Parlament Rat“.

II. Das „institutionelle Gleichgewicht“ in der Rechtsprechung

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nung berücksichtigt werden. So ist die Beteiligung des Europäischen Parlaments im Rahmen des Anhörungsverfahrens nur gering ausgeprägt und die endgültige, möglicherweise auch abweichende Beschlussfassung verbleibt weiterhin beim Ministerrat. Darüber hinaus ist allgemein anerkannt, dass sich der Ministerrat bereits vor der Stellungnahme des Europäischen Parlaments mit dem Gesetzesvorschlag zur eigenen Vorbereitung und zur Vermeidung unnötiger Verzögerungen beschäftigen kann.530 Verändert der Rat schließlich die zugrunde liegende Fassung nochmals, bedarf es nur einer erneuten Anhörung des Parlaments, sofern eine wesentliche Abweichung festzustellen ist.531 Aufgrund der damit allgemein durch das Anhörungsverfahren nur sehr schwach in Erscheinung tretenden Demokratisierung der Gemeinschaftsrechtsordnung kann in diesem Zusammenhang auch der Verweis des Gerichtshofs auf das damit deutlich werdende Demokratieprinzip wohl kaum eine tragende Begründung darstellen. Vielmehr zeigt sich bei näherer Betrachtung der in den Verträgen angelegten Zuständigkeitsverteilung zunächst nur, dass auch das Parlament über Beteiligungsrechte im Rahmen der Gesetzgebung verfügt. Damit lässt sich weiterführend aus dem – den konkreten Regelungen zugrunde liegenden – „institutionellen Gleichgewicht“ auf die gleichzeitige, wenn auch eingeschränkte Verwirklichung des Demokratiegrundsatzes in der Gemeinschaftsrechtsordnung schließen. Demnach kann die Wesentlichkeit der Anhörung des Europäischen Parlaments wohl lediglich unter unterstützendem und begleitendem Hinweis auf das Demokratieprinzip begründet werden.532 Im Hinblick auf die for___________ 530

EuGH, Slg. 1995/I, I-1185 (I-1214) Rs. C-417/93 „Parlament/Rat“ „Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass im Rahmen des Anhörungsverfahrens keine Vorschrift des Gemeinschaftsrechts den Rat verpflichtet, sich jeder Prüfung des Vorschlags der Kommission oder jeder Suche nach einer allgemeinen Orientierung oder sogar nach einem gemeinsamen Standpunkt in seiner Mitte zu enthalten, bevor die Stellungnahme des Parlaments abgegeben wird, sofern er nicht seinen endgültigen Standpunkt festlegt, bevor er von dieser Stellungnahme Kenntnis genommen hat. Im Übrigen ergibt sich ein solches Verbot aus keiner institutionellen oder verfahrensmäßigen Zielsetzung.“ 531 EuGH, Slg. 1994/I, I-2067 (I-2085) Rs. C-388/92 „Parlament/Rat“ „Nach der Ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes schließt das Erfordernis der Anhörung des Europäischen Parlaments während des Gesetzgebungsverfahrens in den vom Vertrag vorgesehenen Fällen das Erfordernis ein, das Parlament immer dann erneut anzuhören, wenn der endgültig verabschiedete Wortlaut als Ganzes gesehen in seinem Wesen von demjenigen abweicht, zu dem das Parlament bereits angehört worden ist, es sei denn, die Änderungen entsprechen dem vom Parlament selbst geäußerten Wunsch.“; EuGH, Slg. 1995/I, I-1185 (I-1186) Rs. C-417/93 „Parlament/Rat“; von Buttlar, 196; siehe aber auch Everling in: 33 CMLRev 1996, 401 (423). 532 Siehe in diesem Sinne auch EuGH, Slg. 1995/I, I-1827 (I-1854) Rs. C-21/94 „Parlament/Rat“ „Die ordnungsgemäße Anhörung des Parlaments in den vom Vertrag vorgesehenen Fällen stellt nämlich eines der Mittel dar, die dem Parlament eine wirksame Beteiligung am Gesetzgebungsverfahren der Gemeinschaft ermöglichen; würde aber der Auffassung des Rates gefolgt, so würde dies dazu führen, dass diese Beteiligung, die für die Aufrechterhaltung des vom Vertrag gewollten institutionellen Gleichgewichts we-

230 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

mellrechtliche Beteiligung des Europäischen Parlaments kommt in dieser Entscheidung somit weiterhin dem „institutionellen Gleichgewicht“ eine tragende Bedeutung zu. Vor allem aufgrund der allgemeinen Entwicklung, dass das Anhörungsverfahren nur noch selten zur Anwendung kommt, erscheint die weiterführende Bedeutung des gerade dargestellten Urteils in der Rs. 138/79 fraglich. Seitdem darüber hinausgehende Beteiligungsrechte für das Europäische Parlament geschaffen worden sind, ist diese Verfahrensform immer weiter in den Hintergrund gedrängt worden. Zwar findet sie immer noch Anwendung unter anderem beim Vertragänderungsverfahren und bei Entscheidungen hinsichtlich des Gemeinsamen Agrarmarktes. Doch sind seit der zunehmenden Ausweitung der Mitwirkungsrechte und den allgemeinen Auswirkungen eines vertieften Integrationsprozesses regelmäßig auch höhere Anforderungen zum einen an die horizontalen Kontrollbefugnisse und zum anderem an die demokratische Rückbindung der ausgeübten Hoheitsgewalt zu stellen. Damit scheinen die Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs zum Anhörungsverfahren nur noch von geringem Interesse zu sein. Bei einer solchen Einschätzung bleibt indes unberücksichtigt, dass die Bedeutung des Rechts auf Anhörung sich nicht nur auf die damit vertraglich vorgesehene Beratungsfunktion des Europäischen Parlaments beschränkt. Vielmehr entfalten die diesbezüglich gemachten Aussagen des Europäischen Gerichtshofs auch Wirkung für andere Verfahrensformen und die Organverhältnisse im Allgemeinen. So ist grundsätzlich eine frühzeitige Unterrichtung und gegenseitige Konsultation – wie sie auch im Rahmen des Anhörungsverfahrens vorgesehen ist – als eine notwendige Grundbedingung für jede nachfolgende wirksame gegenseitige Überwachung der Tätigkeiten der Organe untereinander anzusehen. Zwar ist darüber hinaus auch erforderlich, dass die derart ermöglichten Kontrollen zu weiteren rechtlich verbindlichen Schlussfolgerungen oder Empfehlungen führen können. Ungeachtet dessen lassen jedoch das Anhörungsverfahren und damit auch die näher dargestellte Entscheidung bereits mittelbar weitere Rückschlüsse über die Ausgestaltung der Organverhältnisse insgesamt zu. So haben demnach die Organe bei der Wahrnehmung ihrer Befugnisse nicht nur die ausdrücklich festgelegten Beteiligungsrechte der anderen Organe ausreichend zu berücksichtigen. Vielmehr soll das Verhältnis der Organe untereinander darüber hinaus von einem ständigen Dialog und einer gegenseitigen Abstimmung gekennzeichnet sein und somit ge-

___________ sentlich ist, erheblich beeinträchtigt würde und der Einfluss verkannt würde, den die ordnungsgemäße Anhörung des Parlaments auf den Erlass des betreffenden Rechtsakts haben kann.“

II. Das „institutionelle Gleichgewicht“ in der Rechtsprechung

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prägt von der Vorstellung einer „Organtreue“ als einer weiteren Ausprägung des „institutionellen Gleichgewichts“ sein.533

c) Materiellrechtliche Bedeutung des „institutionellen Gleichgewichts“ Als sehr eng verbunden mit dem Interesse an einer ausreichenden Beachtung formeller Beteiligungsrechte der verschiedenen Organe bei der Politikgestaltung sind die Auseinandersetzungen über die im Einzelfall zugrunde gelegte Rechtsgrundlage anzusehen. So hat die Wahl der Rechtsgrundlage nachfolgend erhebliche Auswirkungen auf die den einzelnen Organen zukommenden Mitwirkungsrechte und Unterrichtungspflichten bei der Gesetzgebung und die von ihnen gegenseitig ausgeübte Überwachung sowie demnach auch auf ihr allgemeines Verhältnis untereinander. Unter Berücksichtigung der Bedeutung dieser Streitigkeiten auch für das Verhältnis der Mitgliedstaaten zur Europäischen Union ist es somit leicht nachvollziehbar, dass der Europäische Gerichtshof sich zunehmend mit dieser gleichfalls für das „institutionelle Gleichgewicht“ bedeutsamen Frage auseinander gesetzt hat.534 Auch wenn im Rahmen der vorliegenden Arbeit das durch das Subsidiaritätsprinzip535 – als Ausdruck einer vertikalen Gewaltenteilung – geprägte Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Union nicht behandelt werden kann, ist festzustellen, dass vor allem bei Rechtsstreitigkeiten unter Beteiligung des Ministerrates die einzelstaatlichen Interessen an der Bewahrung ihrer Einflussmöglichkeiten die Auseinandersetzungen prägen und auch im Übrigen enge Beziehungen zwischen den beiden Verhältnissen bestehen.536 ___________ 533 EuGH, Slg. 1995/I, I-643 (I-668) Rs. C-65/93 „Parlament/Rat“ „Wie der Gerichtshof jedoch entschieden hat, gelten im Rahmen des Dialogs der Organe, auf dem insbesondere das Anhörungsverfahren beruht, die gleichen gegenseitigen Pflichten zu redlicher Zusammenarbeit, wie sie die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den Gemeinschaftsorganen prägen.“ 534 EuGH, Slg. 2006-1, I-107 (I-117) Rs. C-178/03 „Kommission/Parlament und Rat“ – Schlussanträge der GA J. Kokott; EuGH, Slg. 1997-10, I-5245 (I-5249f.) Rs. C-180/97 „Regione Toscana/Kommission“; Zuleeg in: JZ 1994, 1 (4); Nettesheim in: 28 EuR 1993, 243 (244); Verhoeven, The EU in Search of a Democratic and Constitutional Theory, 203; Wegener in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 220 EGV, Rn. 31. 535 Siehe für den sozialphilosophischen Hintergrund unter besonderer Bezugnahme auf die Enzyklika „Quadragesimo anno“ von Pius XI. nur Süsterhenn in: Rausch (Hrsg.), 113 (118) „Da die menschliche Persönlichkeit wegen ihrer Würde den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens bildet und gegenüber dem Einzelmenschen ihrem Wesen nach subsidiär ist, ergibt sich auch eine Werteordnung und damit ein Subsidiaritätsverhältnis unter den menschlichen Sozialgebilden je nach ihrer Menschennähe.“ 536 Siehe nur EuGH, Slg. 1981/II, 1045 (1074) Rs. 804/79 „Kommission/Vereinigtes Königreich“ „Diese Prinzipien verlangen, dass die Gemeinschaft unter allen Umständen

232 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

So wirkt zum einen das Verhältnis der Gemeinschaft zu den Mitgliedstaaten, das sich in den ihr zur Wahrnehmung übertragenen Befugnissen äußert, auf die im Rahmen des „institutionellen Gleichgewichts“ von den Organen getroffenen Maßnahmen hinsichtlich ihrer jeweiligen sachlichen Regelungsgegenstände ein. Zum anderen beeinflusst aber auch das „institutionelle Gleichgewicht“ wiederum dieses der Gemeinschaftsrechtsordnung zugrunde liegende Verhältnis dahingehend, dass die Bedingungen festgelegt werden, unter denen die Mitgliedstaaten bei den Tätigkeiten der Gemeinschaftsorgane mitwirken und demnach ihre Interessen weiterhin wirksam vertreten können. In seinem Urteil vom 26. März 1987 in der Rs. 45/86 hat sich der Europäische Gerichtshof zunächst überhaupt zur Notwendigkeit der Nennung einer Rechtsgrundlage geäußert. In diesem Rechtsstreit bemühte sich die Kommission als gegen den Rat auftretende Klägerin um die Nichtigerklärung der Verordnung (EWG) Nr. 3599/85 des Rates vom 17. Dezember 1985 zur Anwendung allgemeiner Zollpräferenzen für bestimmte gewerbliche Waren mit Ursprung in Entwicklungsländern im Jahre 1986 sowie der Verordnung (EWG) Nr. 3600/85 des Rates vom 17. Dezember zur Anwendung allgemeiner Zollpräferenzen für Textilwaren mit Ursprung in Entwicklungsländern im Jahre 1986.537 Diese Verordnungen waren im Rahmen des gemeinschaftlichen Systems allgemeiner Präferenzen erlassen worden, das zur Einfuhrerleichterung bestimmter Waren die nicht auf Gegenseitigkeit beruhende Aussetzung der Zölle des Gemeinsamen Zolltarifs für bestimmte Entwicklungsländer vorsieht.538 Auch wenn die Europäische Kommission ausdrücklich den getroffenen Regelungen inhaltlich zustimmte und für den Fall einer Nichtigerklärung ihre weitere Geltung beantragte, machte sie doch geltend, dass bereits der fehlende Hinweis auf eine Rechtsgrundlage die Rechtswidrigkeit der Verordnungen begründete. So hatte der Rat die Verordnungen lediglich „gestützt auf den Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ in seiner Gesamtheit erlassen.539 Zur weiteren Unterstützung ihres Vorbringens führte die Kommission zur Begründungspflicht aus, dass diese „insbesondere eingeführt worden sei, damit die Erwägungen des Organs von allen Betroffenen zur Kenntnis genommen werden können, auf diese Weise die Einhaltung des materiellen ___________ imstande bleibt, ihren Verantwortlichkeiten unter Beachtung der vom Vertrag geforderten wesentlichen Gleichgewichtsverhältnisse nachzukommen.“ 537 EuGH, Slg. 1987/I, 1493 (1517) Rs. 45/86 „Kommission/Rat“. 538 EuGH, Slg. 1987/I, 1493 (1495) Rs. 45/86 „Kommission/Rat“; EuGH, Slg. 1987/I, 1501 (1502) Rs. 45/86 „Kommission/Rat“ – Schlussanträge des GA Carl Otto Lenz. 539 EuGH, Slg. 1987/I, 1493 (1495) Rs. 45/86 „Kommission/Rat“.

II. Das „institutionelle Gleichgewicht“ in der Rechtsprechung

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Rechts kontrolliert werde und gegebenenfalls eine wirksame gerichtliche Kontrolle gewährleistet sei.“540 Nachdem der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil gleichermaßen zunächst die Bedeutung einer ausreichenden Begründung unter Darlegung der tatsächlichen und rechtlichen Umstände für die von ihm auszuübende Rechtmäßigkeitskontrolle wie für die anderen Beteiligten betont hat, folgte er auch im Weiteren der Bewertung der Europäischen Kommission überwiegend. Einschränkend stellte er lediglich fest, dass die fehlende Bezugnahme auf eine Vertragsbestimmung nicht notwendig einen wesentlichen Mangel begründen muss, sofern die Rechtsgrundlage „anhand anderer Anhaltpunkte bestimmt werden kann.“541 Zu der ihm selbst zukommenden Aufgabe und eines möglicherweise zurückgenommenen Prüfungsmaßstabs führte er schließlich aus, dass die Wahl einer Rechtsgrundlage im Rahmen des Zuständigkeitssystems der Gemeinschaft nicht allein davon abhängen kann, „welches nach der Überzeugung eines Organs das angestrebte Ziel ist.“542 Vielmehr muss sich diese Entscheidung im Einzelfall „auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände gründen.“543 Auch wenn der Europäische Gerichtshof in dieser Entscheidung nicht ausdrücklich auf das „institutionelle Gleichgewicht“ Bezug genommen hat, ist es als zugrunde liegender Ansatz für seine Überlegungen leicht erkennbar. Zwar stellt er in den Vordergrund seiner Ausführungen zunächst die Interessen der Mitgliedstaaten sowie der übrigen Beteiligten an einer Unterrichtung darüber, „in welcher Weise die Gemeinschaftsorgane den Vertrag angewandt haben.“544 Neben diesem individuellen, am Rechtsschutz ausgerichteten Ansatz nimmt er jedoch gleichzeitig Bezug auf die ihm zukommende Aufgabe der Überwachung der anderen Organe bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben sowie der Sicherung des in den Verträgen angelegten Zuständigkeitssystems. Schon aufgrund der Auswirkungen der Wahl der Rechtsgrundlage auf das im Weiteren zur Anwendung kommende Gesetzgebungsverfahren und auf die Mehrheitserfordernisse bei der Abstimmung im Rat und damit gleichzeitig auf den Inhalt des verabschiedeten Rechtsaktes kann somit nicht die subjektive Überzeugung nur eines Organs allein ausschlaggebend sein, sondern lediglich eine erste Grundlage für die weiteren Überlegungen des Gerichtshofs bilden. Um darüber hinaus eine – häufig dem Interesse der Mitgliedstaaten entsprechende – Umgehung von denjenigen Vertragsbestimmungen zu vermeiden, die eine größere Beteiligung anderer Organe oder auch eine erleichterte Entscheidungsfin___________ 540

EuGH, Slg. 1987/I, 1493 (1497) Rs. 45/86 „Kommission/Rat“. EuGH, Slg. 1987/I, 1493 (1520) Rs. 45/86 „Kommission/Rat“. 542 EuGH, Slg. 1987/I, 1493 (1520) Rs. 45/86 „Kommission/Rat“. 543 EuGH, Slg. 1987/I, 1493 (1520) Rs. 45/86 „Kommission/Rat“. 544 EuGH, Slg. 1987/I, 1493 (1519) Rs. 45/86 „Kommission/Rat“. 541

234 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

dung durch Mehrheitsentscheidung vorsehen, muss der Gerichtshof folglich die Wahl der Rechtsgrundlage umfassend nachprüfen können. Damit einhergehend und wenig überraschend hat zum einen die Stellung des Europäischen Gerichtshofs in der Gemeinschaftsrechtsordnung eine weitere Aufwertung im Verhältnis zu den Legislativorganen – im Sinne eines Verfassungsgerichts – erfahren.545 Eine Annäherung an die bereits in den „Federalist Papers“ – im Hinblick auf ein gewaltenteilig organisiertes System – angedachte Stellung der Gerichte ist damit deutlich erkennbar. Zum anderen tritt wiederum das Anliegen des Gerichtshofs deutlich in Erscheinung, durch seine Rechtsprechung die Vorrangstellung nur eines Organs zu vermeiden und dadurch schließlich das „institutionelle Gleichgewicht“ sicherzustellen. So ist mit der Vorstellung, dass jedem Organ durch die Gemeinschaftsrechtsordnung ein bestimmter Aufgabenbereich zur selbstständigen Wahrnehmung zugewiesen ist, ein Verhältnis der deutlichen Unterordnung unter die rechtlichen Bewertungen nur eines Organs nicht vereinbar. Nachdem der Europäische Gerichtshof damit zunächst die Notwendigkeit der erkennbaren Bezugnahme auf eine Rechtsgrundlage bestimmt hatte, musste er sich im Weiteren mit der Frage auseinandersetzen, welche Rechtsgrundlage bei der Berührung verschiedener Politikbereiche vorrangig heranzuziehen ist und ob demnach eine Hierarchie der im Vertrag bestehenden Zuständigkeitsbestimmungen besteht. Nähere Ausführungen zu den objektiven, gerichtlich nachprüfbaren Umständen, auf die die Wahl einer Rechtsgrundlage zu gründen ist, machte der Gerichtshof in seiner Entscheidung in der Rs. C-300/89 vom 11. Juni 1991. Im dieser Rechtsstreitigkeit beantragte die Kommission die Nichtigerklärung der Richtlinie 89/428/EWG des Rates vom 21. Juni 1989 über die Modalitäten zur Vereinheitlichung der Programme zur Verringerung und späteren Unterbindung der Verschmutzung durch Abfälle der Titandioxid-Industrie.546 Dieses Vorbringen unterstützte die Kommission mit dem Hinweis, dass die Richtlinie entgegen der Vorstellung des Rates auf Artikel 130s, sondern vielmehr auf Artikel 100a gestützt hätte werden müssen. Zwar wies die Richtlinie nach Beurteilung der Europäischen Kommission auch einen Bezug zum Umweltschutz auf, ___________ 545 Schroeder, 361 „Der EuGH hat sich durch seine Rechtsprechung ebenfalls selber den Platz einer „Dritten Gewalt“ in der Gemeinschaft verschafft. Er übernimmt einen wesentlichen Teil der Aufgabe des institutionellen Gleichgewichts, indem er die „Wahrung des Rechts“ nach Art. 220 EGV sichert. Eine solche Entwicklung legitimiert sich im Übrigen dadurch, dass auch in der Gemeinschaft eine Gewaltenverfilzung droht. (...) In einer solchen Situation ist das Erstarken der dritten Gewalt ein natürlicher Vorgang, weil diese über die größte juristische Legitimität verfügt.“ 546 EuGH, Slg. 1991, I-2867 (I-2896) Rs. C-300/89 „Kommission/Rat“.

II. Das „institutionelle Gleichgewicht“ in der Rechtsprechung

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doch sei als ihr „Hauptziel“ oder „Schwerpunkt“ die Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen für die Titandioxid-Industrie und damit allgemein die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes im Sinne des damaligen Artikels 130s anzusehen.547 Im Rahmen dieser Auseinandersetzung über die richtige Rechtsgrundlage wurde damit im Übrigen erkennbar, dass der Rat zur weiteren Beibehaltung der Einstimmigkeit spezielle Handlungsermächtigungen, die Mehrheitsentscheidungen vorsahen, zumeist eng auslegte, um sich den Rückgriff auf erstgenannte Rechtsgrundlagen zu ermöglichen.548 Vor der inhaltlichen Klärung der dieser Rechtssache zugrunde liegenden Frage nahm der Europäische Gerichtshof zunächst bestätigend auf seine bereits in der Rechtssache 45/86 gemachten Ausführungen Bezug, indem er feststellte: „Vorab ist darauf hinzuweisen, dass im Rahmen des Zuständigkeitssystems der Gemeinschaft die Wahl der Rechtsgrundlage eines Rechtsakts nicht allein davon abhängen kann, welches nach der Überzeugung eines Organs das angestrebte Ziel ist, sondern sich auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände gründen muß.“549 Weiterführend gab er als maßgeblich zu berücksichtigende Umstände „das Ziel und der Inhalt des Rechtsaktes“550 an. Mit diesem Ansatz für seine weitere Beurteilung berücksichtigt der Europäische Gerichtshof, dass die im Vertrag enthaltenen Handlungsermächtigungen teils final, teils bereichsbezogen ausgestaltet sind. Bei der gleichzeitigen Verfolgung verschiedener Ziele muss nach Vorstellung des Gerichtshof darüber hinaus regelmäßig der Rechtsakt auf der Grundlage aller in Betracht kommenden Rechtsgrundlagen erlassen werden, sofern nicht einem Gesetzgebungsverfahren durch diese Vorgehensweise seine Bedeutung genommen wird.551 Als interessant in diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass durch den durch nachfolgende Vertragsänderungen eingetretenen Wandel der Rolle des Europäischen Parlaments der Hinweis auf das Demokratieprinzip nunmehr eine ___________ 547

EuGH, Slg. 1991, I-2867 (I-2898) Rs. C-300/89 „Kommission/Rat“. Leibrock in: DVBl. 1990, 1018 (1018). 549 EuGH, Slg. 1991, I-2867 (I-2898) Rs. C-300/89 „Kommission/Rat“; EuGH, Slg. 1991, I-4529 (I-4564) Rs. C-70/88 „Parlament/Rat“; EuGH, Slg. 1995/I, I-3723 (I-3752) Rs. C-426/93 „Deutschland/Rat“; EuGH, Slg. 1999-2, I-1139 (I-1162) Verb. Rs. C-164/97 und C-165/97 „Parlament/Rat“. 550 EuGH, Slg. 1991, I-2867 (I-2898) Rs. C-300/89 „Kommission/Rat“; EuGH, Slg. 1991, I-4529 (I-4565) Rs. C-70/88 „Parlament/Rat“; EuGH, Slg. 1992, I-4193 (I-4234) Rs. C-295/90 „Parlament/Rat“. 551 EuGH, Slg. 1991, I-2867 (I-2900) Rs. C-300/89 „Kommission/Rat“; EuGH, Slg. 1995/I, I-3723 (I-3752) Rs. C-426/93 „Deutschland/Rat“; EuGH, Slg. 1999-2, I-1139 (I-1163) Verb. Rs. C-164/97 und C-165/97 „Parlament/Rat“ „Eine solche Verbindung ist jedoch ausgeschlossen, wenn die für die beiden Rechtsgrundlagen jeweils vorgesehenen Verfahren miteinander unvereinbar sind.“; EuGH, Slg. 2006-1, I-107 (I-127) Rs. C-178/03 „Kommission/Parlament und Rat“ – Schlussanträge der GA J. Kokott. 548

236 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

autonome Begründung bildet. So macht der Europäische Gerichtshof weiterführend Ausführungen über das Verfahren der Zusammenarbeit, bei dem zwar die letztliche Entscheidung weiterhin beim Rat verbleibt. Das Europäische Parlament kann jedoch mit seinen Änderungsvorschlägen erheblichen Einfluss nehmen und durch seine insgesamt gestärkte Rolle wird regelmäßig ein stärkerer Zwang zur Kompromissfindung ausgeübt. Soweit vorgesehen muss dieses Gesetzgebungsverfahren folglich auch zur Anwendung kommen muss. Ist ein Rückgriff auf eine doppelte Rechtsgrundlage entsprechend ausgeschlossen, muss zum einen eine Bewertung dahingehend erfolgen, welches Hauptziel durch den fraglichen Rechtsakt verfolgt wird. Der Europäische Gerichtshof stellt somit eine Schwerpunktbetrachtung dahingehend an, dass nur nebenher erzielte Wirkungen einer Maßnahme außer Betracht zu bleiben haben.552 Zum anderen müssen die in Betracht kommenden Rechtsgrundlagen auch auf ihr Verhältnis untereinander untersucht werden. Nachdem der Europäische Gerichtshof im Hinblick auf die Richtlinie 89/428 festgestellt hatte, dass sie „sowohl den Charakter einer Maßnahme im Umweltbereich im Sinne von Artikel 130s EWG-Vertrag als auch den Charakter einer auf die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes gerichteten Harmonisierungsmaßnahme im Sinne von Artikel 100a EWG-Vertrag“553 hat und damit eine gleichwertige Zielsetzung verfolgt, musste er sich anschließend mit dem allgemeinen Verhältnis dieser beiden final ausgestalteten Rechtsgrundlagen auseinandersetzen. Diesbezüglich machte er zunächst deutlich, dass die umweltrechtliche Zielsetzung einer Maßnahme nicht bereits notwendig auf Artikel 130s als allein in Betracht kommende Rechtsgrundlage weist. Vielmehr sind nach dem Artikel 130r Absatz 2 Satz 2 EWG-Vertrag „die Erfordernisse des Umweltschutzes (...) Bestandteil der anderen Politiken der Gemeinschaft“. Mit diesem allgemeinen Hinweis auf diese wohl immer möglichen Überschneidungen zu anderen Regelungsbereichen tritt deutlich die untergeordnete Bedeutung des Artikel 130s im Verhältnis zu anderen vertraglichen Rechtsgrundlagen in Erscheinung. Vor diesem Hintergrund erscheint fraglich, inwieweit überhaupt für Artikel 130s ein eigenständiger Anwendungsbereich verbleiben soll. Unter Berücksichtigung der gleichzeitigen Bemühungen, durch umweltschutzrechtliche Vorschriften nicht den Wettbewerb in der Gemeinschaft zu verfälschen, war nach abschlie___________ 552 Grams, 218; kritisch Nettesheim in: 28 EuR 1993, 243 (257) „Normative Prinzipien widerlegen daher auch die wiederholt vorgeschlagene Qualifikation von Sachmaterien nach Sachnähe, Schwerpunkt, Zweck, Wirkung oder Intensität. Alle Vorschläge sehen einen graduellen, abgestuften, flexiblen Übergang zwischen zwei Kompetenznormen vor. Sie haben nicht nur argumentativ gemein, dass ihre Anwendung eine Wertung über den rechtlichen Gehalt eines Rechtsaktes voraussetzt. Regelmäßig wird diese nicht aufgedeckt; die Argumentation beschränkt sich dementsprechend häufig auf Behauptungen.“ 553 EuGH, Slg. 1991, I-2867 (I-2900) Rs. C-300/89 „Kommission/Rat“.

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ßender Auffassung des Europäischen Gerichtshofs die fragliche Richtlinie auf Artikel 100a – als „einer auf die Vollendung des Binnenmarktes speziell zugeschnittenen Bestimmung“ – zu stützen gewesen und somit nichtig.554 Dieser Rechtssache lag jedoch nicht nur die formelle Entscheidung über die richtige Rechtsgrundlage für die Richtlinie 89/428/EWG zugrunde, sondern auch eine allgemeine Richtungsentscheidung für das gesamte weitere Integrationsvorhaben. So betonte der Generalanwalt Tesauro zunächst in seinen Schlussanträgen, dass Artikel 130r ff. – im Gegensatz zu Artikel 100a mit seiner Zielsetzung eines hohen gemeinsamen Schutzniveaus – für die Gemeinschaften lediglich eine nachgeordnete Zuständigkeit begründete und von der Vorstellung eines angestrebten Schutzminimums ausging.555 Mittelbar wurde damit wohl gleichzeitig die Forderung erhoben, im Zweifelsfalle der integrationsfreundlichen und weitergefassten Bestimmung den Vorzug zu geben. Die Folgewirkungen der im Einzelfall zur Anwendung kommenden Rechtsgrundlagen für das Verhältnis der Gemeinschaft zu den Mitgliedstaaten werden damit wiederum deutlich. Umso mehr Beachtung muss demnach der vom Europäischen Gerichtshof gewählte methodische Ansatz zur Klärung dieser wichtigen Fragestellungen finden. Diesbezüglich ist – gerade auch unter Berücksichtigung der Rs. C-300/89 – festzustellen, dass die Möglichkeiten, durch eine objektive Schwerpunktbetrachtung tatsächlich die richtige Rechtsgrundlage zu ermitteln, als eingeschränkt beurteilt werden müssen. So ist es keineswegs außergewöhnlich, dass mit einer Maßnahme verschiedene Zielsetzungen gleichermaßen verfolgt werden. Folglich müssen bei einer derartigen Vorgehensweise endgültig doch auch die vorangegangenen subjektiven Vorstellungen einzelner Organe in die Überlegungen miteinbezogen werden und die Entscheidung über die Rechtsgrundlage wird damit im Grunde genommen wiederum von politischen Überlegungen maßgeblich beeinflusst.556 Zusätzlich zum Ziel und Inhalt des Rechtsaktes und einer Folgenbetrachtung für den Integrationsprozess in seiner Gesamtheit sind gleichzeitig die weiteren Folgen für das Verhältnis der Organe untereinander ausreichend zu berücksichtigen. In diesem Sinne stützt der Generalanwalt Tesauro seine Ausführungen zu den möglichen Gefahren für das Verfahren der Zusammenarbeit mit folgender Überlegung: „Wie mir scheint, ist es aber klar, dass die interinstitutionelle Dialektik, die diese – vielleicht ein wenig ___________ 554

EuGH, Slg. 1991, I-2867 (I-2901) Rs. C-300/89 „Kommission/Rat“; Nettesheim in: 28 EuR 1993, 243 (249). 555 EuGH, Slg. 1991, I-2867 (I-2878) Rs. C-300/89 „Kommission/Rat“ – Schlussanträge des GA Giuseppe Tesauro. 556 EuGH, Slg. 1991, I-2867 (I-2886) Rs. C-300/89 „Kommission/Rat“ – Schlussanträge des GA Giuseppe Tesauro.

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komplizierten – Bestimmungen ins Werk setzen wollen, gefährdet wäre, wenn der Rat infolge der gleichzeitigen Heranziehung einer anderen Rechtsgrundlage in jenem Stadium des Verfahrens genötigt wäre, einstimmige Beschlüsse zu fassen.“557 Nur mit einer entsprechenden Bezugnahme auch auf das allgemein im Vertrag angelegte Verhältnis der Organe untereinander und der Handlungsfähigkeit jedes einzelnen Organs kann demnach eine Auslegung der jeweiligen Handlungsermächtigungen verhindert werden, die den Einfluss eines Organs gegenüber den anderen zu sehr stärkt. Auch kann nur unter einer solchen Berücksichtigung des allgemeinen vertraglichen Rahmens tatsächlich die getroffene Entscheidung über eine Rechtsgrundlage objektiv nachgeprüft werden. Neben Streitigkeiten über die im Einzelfall zur Anwendung kommende Rechtsgrundlage musste sich der Europäische Gerichthof auch häufig mit Auseinandersetzungen über die Reichweite einer vertraglichen Handlungsermächtigung befassen. Aufgrund der im Rahmen der vorliegenden Arbeit besonders interessanten Verweise auf den Gewaltenteilungsgrundsatz soll stellvertretend seine Entscheidung in der Verbundenen Rs. 188 bis 190/80 vom 6. Juli 1982 eine nähere Betrachtung erfahren. In diesem Verfahren beantragten die Französische Republik, Italienische Republik und das Vereinigte Königreich und Nordirland die Nichtigerklärung der Richtlinie 80/723/EWG der Kommission vom 25. Juni 1980 über die Transparenz der finanziellen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den Öffentlichen Unternehmen.558 Die Europäische Kommission hatte sich zum Erlass dieser Richtlinie, die eine Offenlegung der bereitgestellten öffentlichen Mitteln für öffentliche Unternehmen sowie deren tatsächliche Verwendung vorsah, auf Artikel 90 Absatz 3 EWG-Vertrag gestützt.559 Dieses gesetzgeberische Tätigwerden sah sie als eine besondere Befugnis im Zusammenhang mit ihrer allgemeinen Aufgabe als Hüterin des Vertrages an mit der Folge, dass es ihr danach möglich sein musste, zwecks präventiver Maßnahmen geeignete Richtlinien oder Entscheidungen an die Mitgliedstaaten zu richten.560 Gerade dieses Verständnis der Europäischen Kommission von ihrem eigenen Aufgabenbereich wurde indes von den auf Nichtigerklärung der Richtlinie klagenden Mitgliedstaaten in Zweifel gezogen. So machte zunächst die französi___________ 557 EuGH, Slg. 1991, I-2867 (I-2890) Rs. C-300/89 „Kommission/Rat“ – Schlussanträge des GA Giuseppe Tesauro. 558 EuGH, Slg. 1982/II, 2545 (2549) Verb. Rs. 188 bis 190/80 „Frankreich, Italien und Vereinigtes Königreich/Kommission“; Bernhardt, 105. 559 EuGH, Slg. 1982/II, 2545 (2550) Verb. Rs. 188 bis 190/80 „Frankreich, Italien und Vereinigtes Königreich/Kommission“. 560 EuGH, Slg. 1982/II, 2545 (2554) Verb. Rs. 188 bis 190/80 „Frankreich, Italien und Vereinigtes Königreich/Kommission“.

II. Das „institutionelle Gleichgewicht“ in der Rechtsprechung

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sche Regierung geltend, dass Artikel 94 dem Rat die ausschließliche Befugnis überträgt, die Durchführung der Artikel 92 und 93 durch Rechtsakte mit allgemeiner Geltung zu regeln und demgegenüber Artikel 90 Absatz 3 lediglich die Anwendung dieser Bestimmungen erleichtern sollte, der Kommission aber gerade nicht ermögliche, „die Anwendung der Vertragsvorschriften in ihrer Gesamtheit auf die öffentlichen Unternehmen generell zu regeln.“561 Die italienische Regierung unterstützte in ihrem Vorbringen diese Beurteilung einer eingeschränkten Reichweite dieser Handlungsermächtigung indem sie betonte, dass die der Kommission eingeräumte Befugnis nur repressiv ausgeübt werden könnte. Eine allgemeine Rechtssetzungsbefugnis der Europäischen Kommission sei demnach nach dem Vertrag in diesem Politikbereich gerade nicht vorgesehen.562 Ergänzend führte die britische Regierung aus, dass die weite Auslegung des Artikel 90 Absatz 3 durch die Kommission „ganz offensichtlich in erheblichen Maße die Gewaltenteilung zwischen den Organen“ gefährde.563 Gegen diesen letzteren Ansatz wendete sich indes bereits deutlich der Generalanwalt Reischl in seinen Schlussanträgen, indem er zunächst grundsätzlich feststellte: „Ganz abgesehen davon, dass das Montesquieu’sche Prinzip in der Gemeinschaft ohnehin nur unvollkommen verwirklicht ist, kann nicht davon gesprochen werden, dass die Kommission immer nur exekutive, der Rat immer nur legislative Entscheidungskompetenzen hat.“564 Weiterführend bemerkte er, dass die der Gemeinschaftsrechtsordnung zugrunde liegende „balance of power“ derart Berücksichtigung findet, dass die Rechtssetzungskompetenz der Europäischen Kommission im Übrigen nur auf die Anwendung dieses Artikels beschränkt ist.565 In seinem Urteil folgte der Europäische Gerichtshof dieser rechtlichen Beurteilung des Generalanwalts und traf hinsichtlich der britischen Auffassung folgende sehr deutliche Aussage: „Diese Auffassung findet jedoch in den Vorschriften des Vertrages über die Organe keine Stütze. Nach Artikel 4 ist die Kommission in gleicher Weise an der Wahrnehmung der Aufgaben beteiligt wie die anderen Organe, von denen jedes nach Maßgabe der ihm im Vertrag zugewiesenen Befugnisse handelt. (...) Gemäß Artikel 189 Absatz 1 ist die ___________ 561 EuGH, Slg. 1982/II, 2545 (2555) Verb. Rs. 188 bis 190/80 „Frankreich, Italien und Vereinigtes Königreich/Kommission“. 562 EuGH, Slg. 1982/II, 2545 (2559) Verb. Rs. 188 bis 190/80 „Frankreich, Italien und Vereinigtes Königreich/Kommission“. 563 EuGH, Slg. 1982/II, 2545 (2563) Verb. Rs. 188 bis 190/80 „Frankreich, Italien und Vereinigtes Königreich/Kommission“. 564 EuGH, Slg. 1982/II, 2545 (2585) Verb. Rs. 188 bis 190/80 „Frankreich, Italien und Vereinigtes Königreich/Kommission“ – Schlusssanträge des GA Gerhard Reischl. 565 EuGH, Slg. 1982/II, 2545 (2586) Verb. Rs. 188 bis 190/80 „Frankreich, Italien und Vereinigtes Königreich/Kommission“ – Schlussanträge des GA Gerhard Reischl.

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Kommission ebenso wie der Rat befugt, nach Maßgabe des Vertrages Richtlinien zu erlassen. Daraus folgt, dass die Schranken für eine Befugnis, die der Kommission durch eine spezielle Bestimmung des Vertrages übertragen ist, nicht aus einem allgemeinen Grundsatz, sondern aus dem Wortlaut der betreffenden Bestimmung selbst, hier also des Artikels 90, unter Berücksichtigung ihrer Zielsetzung und ihrer Stellung im Aufbau des Vertrages abzuleiten sind.“566 Abschließend befand der Gerichtshof, dass neben dem soeben näher dargestellten Klagegrund der Unzuständigkeit der Kommission auch die weiteren Klagegründe zurückzuweisen waren und demnach die Regierungen nicht ausreichend Gründe für die Rechtswidrigkeit der fraglichen Richtlinie dargelegt hatten und ihre Klagen mithin abzuweisen waren.567 Im Hinblick auf das „institutionelle Gleichgewicht“ sind zunächst vorrangig die Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs zur Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung der jeweiligen Vertragsbestimmungen von Interesse. So scheint sich der Gerichtshof von der Vorstellung eines der Gemeinschaftsrechtsordnung in ihrer Gesamtheit zugrunde liegenden und auch prägenden allgemeinen Grundsatzes in dieser Entscheidung zu entfernen.568 Doch wird bei einer solchen Bewertung der betreffenden Aussagen nicht ausreichend berücksichtigt, dass im Gegensatz zu den vorangegangenen Entscheidungen, in denen der Gerichtshof Stellung zum „institutionellen Gleichgewicht“ genommen hat, keine Rechtsfortbildung und eine damit entsprechend angepasste richterliche Weiterentwicklung des Gemeinschaftsrechts unter Berücksichtigung allgemeiner Grundsätze wie auch Wertungen der bestehenden Rechtsordnung erfolgte, sondern lediglich die Auslegung einer spezifischen Vertragsbestimmung. Mittelbar überprüft der Europäische Gerichtshof aber auch die Vereinbarkeit dieser speziellen Ermächtigung der Kommission zur Gesetzgebung, indem er gerade ihren Einklang mit der vertraglichen Zuständigkeitsverteilung betont. Demnach bleibt auch durch diese Entscheidung die Vorstellung des „institutionellen Gleichgewichts“ in der Gemeinschaftsrechtsordnung unangetastet. Der ___________ 566 EuGH, Slg. 1982/II, 2545 (2573) Verb. Rs. 188 bis 190/80 „Frankreich, Italien und Vereinigtes Königreich/Kommission“. 567 EuGH, Slg. 1982/II, 2545 (2581) Verb. Rs. 188 bis 190/80 „Frankreich, Italien und Vereinigtes Königreich/Kommission“. 568 Siehe für die zugrundeliegende Schwierigkeit nur Douglas-Scott, 50 „Indeed, trying to provide a single, effective theory of EU institutions is well nigh impossible. For rather than unity it might seem the EU is a fragmented, polycentric, multi-level creature – a post-modern structure, as much made up of informal networks as of formal institutions. What is needed is to take account of these other features of the institutional structure of the EU which render its consideration in the formalistic terms of political theory inadequate. What is required is an understanding of how the EU institutions operate in practice, of the real or substantive constitution.“

II. Das „institutionelle Gleichgewicht“ in der Rechtsprechung

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Gerichtshof weist lediglich daraufhin, dass dieses gerade aus der vertraglichen Aufgabenzuweisung an die verschiedenen Organe erkennbar werdende und demnach abzuleitende allgemeine Grundprinzip bei einer ausdrücklichen Regelung derart zurücktritt, dass mit ihm keine gegenteilige Aufgabenverteilung begründet werden kann. Ungeachtet dessen ist der inhaltliche Aussagegehalt des „institutionellen Gleichgewichts“ jedoch nicht nur auf eine Wiedergabe des bereits in den Verträgen angelegten Verhältnisses der Organe untereinander beschränkt. Auch bei der näheren inhaltlichen Konkretisierung einzelner vertraglicher Bestimmungen ist es weiterhin als begleitendes Auslegungsprinzip heranzuziehen. Aufgrund der sehr verschieden ausgestalteten einzelnen Politikbereiche sind in diesem Zusammenhang aber die mit dem „institutionellen Gleichgewicht“ verbundenen verallgemeinerungsfähigen Aussagen als nur beschränkt anzusehen.

d) Weitere Bedeutungsmöglichkeiten des „institutionellen Gleichgewichts“ Schließlich findet das „institutionelle Gleichgewicht“ in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Verwendung in Verbindung mit anderen allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts zu deren stützender Begründung. So sah sich der Gerichtshof in der Verbundenen Rs. C-46/93 und C-48/93 beispielsweise dem Vorwurf der deutschen Regierung ausgesetzt, mit dem durch die Francovich-Entscheidung – anstatt durch ein entsprechendes gesetzgeberisches Tätigwerden – begründeten Staatshaftungsanspruch das in den Verträgen vorgesehene „institutionelle Gleichgewicht“ selbst verletzt zu haben.569 Gegen diesen Einwand und gleichzeitig zur Unterstützung der von ihm vorgenommenen Rechtsfortbildung machte der Gerichtshof folgende Aussage: „Dazu ist anzumerken, dass die Frage des Bestehens und des Umfangs der Haftung eines Staates für Schäden, die sich aus einem Verstoß gegen seine gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen ergeben, die Auslegung des Vertrages betrifft, die als solche in die Zuständigkeit des Gerichtshofes fällt.“570 Zwar scheint der Europäische Gerichtshof mit seinem Verweis auf die ihm zukommenden Aufgaben in der Gemeinschaftsrechtordnung und die ihm damit auch unter Berücksichtigung des „institutionellen Gleichgewichts“ zugewiesene Rolle zunächst nur seine methodische Vorgehensweise – insbesondere seine Befugnis zur Rechtsfortbildung – nochmals zu bestätigen. Mit der engen Bezugnahme auf die im konkreten Fall erfolgte Rechtsfortbildung wird das „institutionelle ___________ 569 EuGH, Slg. 1996-3, I-1029 (I-1143) Verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 „Brasserie du Pêcheur und Factortame“. 570 EuGH, Slg. 1996-3, I-1029 (I-1143) Verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 „Brasserie du Pêcheur und Factortame“.

242 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

Gleichgewicht“ darüber hinausgehend aber auch in inhaltlicher Beziehung zu anderen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung gesetzt. Des Weiteren lassen sich Unterprinzipien aus diesem allgemeinen Grundsatz der Gemeinschaftsrechtsordnung ableiten. Als eines dieser ableitbaren Unterprinzipien ist insbesondere die Vorstellung der „Organtreue“ anzusehen. So finden sich eine ausdrückliche Verpflichtung zur gegenseitigen Beachtung der Rechte der anderen Organe und die allgemeine Verpflichtung zur frühzeitigen Kommunikation und Konsultation sowie dem Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme zwar in einigen Bestimmungen. Eine mit Artikel 10 EGV vergleichbare allgemeine Bestimmung über das – von der Verpflichtung zur Gemeinschaftstreue gekennzeichnete – Verhältnis der Mitgliedstaaten zur Gemeinschaft ist in den Verträgen jedoch nicht enthalten.571 Ungeachtet dessen hat der Europäische Gerichtshof seinen Entscheidungen zu Auseinandersetzungen der Organe untereinander auch die Vorstellung der „Organtreue“ zugrundegelegt.572 Seine Aufgabe besteht damit gerade in der Überwachung der Organe dahingehend, dass sie bei der vorgesehenen Zusammenarbeit von den ihnen zugewiesenen Befugnissen nicht zu Lasten anderer Organe missbräuchlich Gebrauch machen.573 Zwar ist bereits im Interesse der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung diese Vorstellung eines durch „Organtreue“ gekennzeichneten Verhältnisses der Organe untereinander als erforderlich anzusehen. So sind die einzelnen Organe nur unter entsprechenden Rahmenbedingungen überhaupt zu einer angemessenen und damit ordnungsgemäßen Wahrnehmung ihrer Aufgaben in der Lage. Zusätzlich treffen sie – im Rahmen der vertraglichen Bestimmungen und unter Beachtung des „institutionellen Gleich___________ 571

Lorz, 74; siehe aber auch Kahl in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 10 EGV, Rn. 56 „Art. 10 betrifft auch das Verhältnis der EG-Organe untereinander. (…) Wird das Parlament nicht in der Weise am Rechtssetzungsverfahren beteiligt, wie es der Vertrag vorsieht, so liegt hierin nicht nur ein Verstoß gegen den Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts und das Demokratieprinzip, sondern zugleich gegen die Gemeinschaftsbzw. Unionstreue.“ 572 EuGH, Slg. 1988, 5323, (5359) Rs. 204/86 „Griechenland/Rat“ „Das Funktionieren des Haushaltsverfahrens, wie es den Finanzvorschriften des EWG-Vertrags zugrunde liegt, beruht wesentlich auf dem Dialog der Organe. Im Rahmen dieses Dialogs gelten die gleichen gegenseitigen Pflichten zu redlicher Zusammenarbeit, wie sie nach der Entscheidung des Gerichtshofes die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den Gemeinschaftsorganen prägen.“; EuGH, Slg. 1995, I-643, (I-668) Rs. C-65/93 „Parlament/Rat“ „Wie der Gerichtshof jedoch entschieden hat, gelten im Rahmen des Dialogs der Organe, auf dem insbesondere das Anhörungsverfahren beruht, die gleichen gegenseitigen Pflichten zur redlichen Zusammenarbeit, wie sie die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den Gemeinschaftsorganen prägen.“; EuGH, Slg. 2002-12, I-11221 (I-11306) Rs. C-29/99 „Kommission/Rat“; Bernhardt, 116. 573 EuGH, Slg. 1988, 5323, (5359) Rs. 204/86 „Griechenland/Rat“; Bieber in: 21 CMLRev. 1984, 505 (520); Geiger, EUV/EGV, Art. 7 EGV, Rn. 19.

II. Das „institutionelle Gleichgewicht“ in der Rechtsprechung

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gewichts“ – zur Formalisierung ihrer Beziehungen entsprechende Interorganvereinbarungen. Begründet werden kann die „Organtreue“ aber auch – unabhängig von diesen allgemein auf eine Effektuierung der bestehenden gesetzlichen Rahmenbedingungen gestützten Überlegungen – als direkt abgeleitete Forderung aus dem „institutionellen Gleichgewicht“, nach dem jedes Organ in der Gemeinschaftsrechtsordnung ein eigenständiger Aufgabenbereich zur selbstständigen Wahrnehmung zugewiesen ist, der im Weiteren von den anderen Beteiligten ausreichend zu beachten ist.

e) Allgemeiner Aussagegehalt des „institutionellen Gleichgewichts“ Trotz der weitreichend bestehenden Verschränkungen zwischen den Organen in der Gemeinschaftsrechtsordnung hat die nähere Betrachtung der vertraglichen Zuständigkeitsverteilung gezeigt, dass doch jedem einzelnen Organ in erkennbarer Weise eigene Aufgabenbereiche zur selbstständigen Wahrnehmung zugewiesen sind. Durch die durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sowie die nachfolgenden Vertragsänderungen erfolgte Verschiebung des Verhältnisses der Organe untereinander – insbesondere zugunsten des anfangs nur mit sehr eingeschränkten Rechten ausgestatteten Europäischen Parlaments – kann darüber hinaus festgestellt werden, dass diese Mitwirkungsrechte am Gesetzgebungsverfahren und die Einflussmöglichkeiten auf die allgemeine Politikgestaltung den Organen auch gleichwertige Rollen im Gesamtgefüge der Verträge zuweisen. Mit Rücksicht auf die Verwendung der Begrifflichkeit des „institutionellen Gleichgewichts“ in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs konnte im Weiteren dargelegt werden, dass dieser Grundsatz – ungeachtet seiner engen Anlehnung an die vertraglichen Rahmenbedingungen – nicht bloß aus einer Gesamtschau verschiedener Bestimmungen ermittelt worden ist.574 Demnach kann der Vorstellung, die das „institutionelle Gleichgewicht“ lediglich als eine ___________ 574 Für entsprechende Überlegungen zum Rechtsstaatsprinzip in der deutschen Rechtsordnung siehe nur Kunig, 94 „Sie gewinnen das Rechtsstaatsprinzip aus einzelnen im Grundgesetz enthaltenen Normen und wollen damit eine Lücke des geschriebenen Rechts abdecken. Dabei wird gern der Begriff der Gesamtschau oder Zusammenschau von Normen verwendet, also Aufschluß über den zweiten Schritt der Analogiebildung, das Schließen der Lücke, gegeben, während diese selbst nicht angesprochen wird. In der Tat liegt das Problem bei der Gewinnung des Rechtsstaatsprinzips durch Analogie darin begründet, eine Lücke auszumachen und ihre Planwidrigkeit nachzuweisen, während die Schließung der Lücke angesichts der zahlreichen rechtsstaatlichen Normen des Grundgesetzes leichter zu leisten sein dürfte.“; gegen eine solche Bewertung des „institutionellen Gleichgewichts“ siehe aber auch nochmals nur Bieber in: 21 CMLRev. 1984, 505 (519).

244 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

verfassungspolitische Zielsetzung ansieht und mit dem Begriff keinen eigenen und über die geltende Zuständigkeitsverteilung hinausgehenden Aussagegehalt verbindet, nicht gefolgt werden.575 Gleiches gilt damit im Übrigen für die anfangs vom Europäischen Gerichtshof zugrunde gelegte Vorstellung eines „Gleichgewichts der Gewalten“. So weichen die begleitenden und erläuternden Beschreibungen zum „institutionellen Gleichgewicht“ nicht erkennbar von den in der Meroni-Entscheidung enthaltenen Ausführungen ab. Damit kann das „institutionelle Gleichgewicht“ als eine für die gesamte Gemeinschaftsrechtsordnung Geltung beanspruchende Vorstellung angesehen werden. Zwar findet das „institutionelle Gleichgewicht“ häufig Verwendung nur als begleitendes Auslegungsprinzip bei der Konkretisierung von vertraglichen Einzelbestimmungen, als Gültigkeitsmaßstab für das Sekundärrechts576 sowie in Verbindung mit anderen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts wie dem Demokratieprinzip. In diesem Zusammenhang werden mit ihm sowohl positive Rechtsbehauptungen – beispielsweise zu der Notwendigkeit der Beteiligung des Europäischen Parlaments an der Gesetzgebung577 – als auch negative Rechtsbehauptungen578 – beispielsweise zu den Grenzen einer möglichen Übertragung von Befugnissen – unterstützt. Darüber hinaus hat der Europäische Gerichtshof jedoch auch zum einen im Rahmen rechtsfortbildender Weiterentwicklungen des Gemeinschaftsrechts sich maßgeblich auf diesen Grundsatz als einem zugrunde liegenden Strukturprinzip gestützt. Zum anderen hat er gerade zur näheren Bestimmung der ihm selbst zukommenden Aufgaben die Aufrechterhaltung des „institutionellen Gleichgewichts“ in den Mittelpunkt gestellt. ___________ 575 Streinz in: Streinz, EUV/EGV, Art. 7 EGV, Rn. 21; von Buttlar, 63; Verhoeven, The EU in Search of a Democratic and Constitutional Theory, 207 „From the institutional balance case law of the Court of Justice, the following three principles can be distilled: each institution should enjoy a sufficient independence in order to exercise its powers. Institutions should not unconditionally delegate their powers to other institutions and institutions may not, in the exercise of their powers, encroach on the powers and prerogatives of other institutions.“; andererseits Lorz, 124f. „Zwar entfaltet er als verfassungspolitische Zielsetzung durchaus beachtliche appellative Wirkungen. Entscheidungsrelevanz im Sinne rechtlicher Verbindlichkeit vermag er jedoch nur in Verbindung mit konkreten Bestimmungen des EGV zu gewinnen, denen er allenfalls in teleologischer Hinsicht zu einer erweiterten Auslegung verhelfen kann.“ 576 Siehe nur EuGH, Slg. 2004-7, I-6649 (I-6675) Rs.27/04 „Kommission/Rat“ – Schlussanträge des GA A. Tizzano „Dies stünde aber in offensichtlichem Widerspruch zu dem im Vertrag festgelegten institutionellen Gleichgewicht sowie zu dem System, das durch die spezielle hier in Rede stehende Regelung geschaffen wurde.“ 577 Siehe zur Anhörung des Parlaments als wesentliches Formerfordernis EuGH, Slg. 1997-6, I-3213 (I-3248) Rs. C-392/95 „Parlament/Rat“. 578 Siehe nur zur Unzuständigkeit des Gerichtshofs für Klagen von Regionen EuGH, Slg. 1997-3, I-1787 (I-1791) Rs. C-95/97 „Wallonische Region/Kommission“.

II. Das „institutionelle Gleichgewicht“ in der Rechtsprechung

245

Schließlich ist nicht zu vernachlässigen, dass sowohl die anderen Organe, Dritte wie auch die Mitgliedstaaten zur Stützung ihrer jeweiligen Klagegründe wiederholt versucht haben, ihre Ausführungen allein auf das „institutionelle Gleichgewicht“ zu stützen. Diese Vorgehensweise macht somit die weite Anerkennung deutlich, die dieser vom Europäischen Gerichtshof entwickelte Grundsatz der Gemeinschaftsrechtsordnung tatsächlich gefunden hat. Im Übrigen hat der Gerichtshof auch schon im Rahmen seiner Rechtsprechung eine alleinige Verletzung des „institutionellen Gleichgewichts“ geprüft.579 Von weiterführendem Interesse sind damit die Auswirkungen der Anerkennung dieser ursprünglich zumindest nicht ausdrücklich in der Gemeinschaftsrechtsordnung enthaltenen Begriffsprägung. Vergegenwärtigt man sich nochmals die inhaltliche Bedeutung des „institutionellen Gleichgewichts, wonach jedem Organ ein eigenständiger Tätigkeitsbereich im Gemeinschaftsrecht zukommt, dessen ordnungsgemäße Wahrnehmung – auch gerade gegenüber den anderen Organen – vom Gerichtshof sowie durch die gegenseitige Überwachung gesichert wird, ist erkennbar, dass es sich um einen allgemeinen und zunächst auch unbestimmten Rechtsbegriff handelt. Besonders deutlich ist diese Unbestimmtheit gerade in den Entscheidungen in Erscheinung getreten, in denen sich Kläger wie Beklagte gleichermaßen zur Unterstützung ihrer jeweiligen Rechtsansichten auf diesen Grundsatz bezogen haben. Als ursächlich für diese Schwierigkeiten einer genaueren inhaltlichen Bestimmung des „institutionellen Gleichgewichts“ ist zunächst die teils sehr verschiedene Ausgestaltung der Organverhältnisse in den einzelnen Zuständigkeitsbereichen anzusehen. Besonders deutlich zeigt sich dies im Rahmen der verschiedenen zur Europäischen Gesetzgebung führenden Verfahren. So sind die Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments – trotz der allgemeinen Parlamentarisierung der Entscheidungsfindung – teils immer noch in erheblicher Weise eingeschränkt. Aber auch die Einflussmöglichkeiten der anderen Organe – wie der Europäischen Kommission im Wettbewerbsrecht im Vergleich zu anderen Politikbereichen – unterscheiden sich in den verschiedenen Bereichen erheblich. In enger Anlehnung an die Entscheidung Verbundene Rs. 188 bis 190/80, in deren Rahmen der Europäische Gerichtshof selbst die Notwendigkeit einer differenzierenden Betrachtung begründet hat, lassen sich demnach kaum losgelöst vom Einzelfall allgemeine Aussagen über das „institutionelle Gleichgewicht“ treffen. Ungeachtet dieser Einschränkung, dass dem „institutionellen Gleichgewicht“ zumeist erst in Verbindung mit anderen Bestimmungen eine Bedeutung zugewiesen werden kann, kann es gleichwohl als ein der gesamten Gemeinschafts___________ 579 So – zugegeben nur kurz – EuGH, Slg. 1982/II, 3107 (3133) Rs. 108/81 „Amylum/Rat“ „Gegen die Rückwirkung dieser Vorschriften bringt die Klägerin außerdem vor, dass sie das institutionelle Gleichgewicht der Gemeinschaften beeinträchtigen. Diese Rüge ist zurückzuweisen.“

246 D. Das „institutionelle Gleichgewicht“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht

rechtsordnung zugrunde liegendes Prinzip angesehen werden. So ist die gewisse inhaltliche Unbestimmtheit dieses Begriffs für seine Verwendung als Prinzip kennzeichnend. Danach bedeutet – im Gegensatz zu einer Regel, deren Geltung das Gebot ihrer umfassenden Anwendung und Befolgung umfasst – die Geltung eines Prinzips, dass es im Sinne eines Zielvorgaben beinhaltenden Optimierungsgebots wirkt.580 Als Prinzip gibt das „institutionelle Gleichgewicht“ demnach Gründe für eine Abwägung im Einzelfall. Die Sicherstellung seiner notwendigen und hinreichenden Beachtung ergibt sich dann unter weiterführender Beachtung seines Charakters als verbindliches Optimierungsgebots, von dem es an sich keine Ausnahmen geben kann. Die mit der Verwendung dieses Begriffes damit zwangsläufig einhergehende erhebliche Erweiterung seiner Entscheidungsmöglichkeiten hat der Europäische Gerichtshof hinreichend anerkannt. So setzt er sich weiterhin zunächst mit den jeweiligen speziellen Handlungsermächtigungen auseinander, bevor er sich gegebenenfalls auf das „institutionelle Gleichgewicht“ als ein dem Gemeinschaftsrecht insgesamt zugrunde liegendes Prinzip bezieht.581 Mit einer solchen engen Verknüpfung seiner Aussagen zum „institutionellen Gleichgewichts“ an einzelne Vertragsbestimmungen besteht im Übrigen für den Gerichtshof auch fortführend überhaupt nur die Möglichkeit einer von allen Beteiligten anerkannten Verwendung des „institutionellen Gleichgewichts“ als allgemeinen Maßstab für die Ausübung europäischer Hoheitsgewalt sowie zu seiner damit möglichen fortschreitenden Verallgemeinerung.582 Damit einhergehend sollen offensichtlich Befürchtungen entkräftet werden, dass in vergleichbarer Weise wie mit dem Effektivitätsgebot der Gerichtshof mit dem „institutionellen Gleichgewicht“ einen weiteren Begründungsansatz in seinen Entscheidungen heranzieht, der aufgrund seiner Weite zur Unterstützung unterschiedlichster Aussagen Verwendung finden kann. Somit soll dem Eindruck einer erheblichen Aufwertung der Rolle des Gerichtshofs selbst begegnet werden. Des Weiteren ___________ 580

Sieckmann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle des Rechtssystems, 86. Zur Gefahr eines unbestimmten Rechtsbegriffs wie des Rechtsstaatsprinzips siehe nur Kunig, 286 „Hier erkennen wir bereits den hohen Grad der Beliebigkeit, positiv gewendet: den Entscheidungsspielraum, der durch die Verlagerung der Entscheidung in das Rechtsstaatsprinzip bei gleichzeitiger Annahme eines inneren Spannungsverhältnisses entsteht. Plausibel wäre oft auch eine gegenteilige Entscheidung. Differenzierte Argumente kommen nicht in den Blick, wenn lapidar ein Entscheidung zwischen konkurrierenden Elementen des Rechtsstaatsprinzips getroffen wird.“ 582 Di Fabio in: Handbuch des Staatsrechts – Band II, 613 (654) „Es bietet sich an, den vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Gedanken des institutionellen Gleichgewichts weiter zu präzisieren und als einen besonderen Ausdruck supranationaler Gewaltenteilung zu verallgemeinern. Es mag sein, dass dieser Grundsatz bisher wie eine Leerformel wirkt, er steht aber offen für Konkretisierungen, die im Blick auf die europäische Konstitutionalisierungsdebatte vorgenommen werden.“ 581

II. Das „institutionelle Gleichgewicht“ in der Rechtsprechung

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sollen aber auch die mit der Bezugnahme auf das „institutionelle Gleichgewicht“ eröffneten Möglichkeiten, das Verhältnis der übrigen Organe zu verändern, eine deutliche Begrenzung finden. Mit dieser eingeschränkten Bedeutung des „institutionellen Gleichgewichts“ werden somit mögliche Folgen einer zu freien Rechtsfindung durch den Europäischen Gerichtshof berücksichtigt. So nimmt doch die durch die Urteile erzielbare Integrationswirkung mit der Allgemeinheit der gegebenen Begründungen weitgehend wieder ab.583 Nicht nur die Mitgliedstaaten sehen in der Verwendung zu weiter Rechtsbegriffe die Gefahr einer schleichenden Vertragsänderung zu ihren Lasten. Auch für den einzelnen Unionsbürger werden die Urteile schwerer nachvollziehbar. So kann langfristig durch eine zu starke Anlehnung an vom Gerichtshof selbst entwickelte Grundsätze der Gemeinschaftsrechtsordnung die Befolgung seiner Urteile und die Anerkennung seiner Auslegung insgesamt in Frage gestellt werden.

___________ 583 Für eine Parallelbetrachtung der deutschen Rechtsordnung siehe wiederum Kunig, 488 „Die im Grundgesetz niedergelegte Ordnung ist und bleibt konsensfähig durch die Freilegung von Rechtsstaatlichkeit im Verzicht auf ein Rechtsstaatsprinzip, dessen gegenwärtige Omnipräsenz und Allgewalt die integrierende Kraft dieser Ordnung bedrohen kann.“

E. Gegenüberstellung der beiden Begriffe und ihrer Bedeutungen Nachdem dem „institutionellen Gleichgewicht“ demnach ein zwar allgemeiner, aber doch selbstständiger Bedeutungsgehalt im Rahmen der vorliegenden Arbeit zugewiesen werden konnte, stellt sich nun die Frage nach der inhaltlichen Vergleichbarkeit des „institutionellen Gleichgewichts“ mit dem aus dem innerstaatlichen Bereich bereits bekannten Grundsatz der Gewaltenteilung. Bei der Beantwortung dieser Frage bleibt jedoch zum einen zu berücksichtigen, dass eine „Gewaltenteilung“ an sich kaum näher zu bestimmen ist und in ihrem wörtlichen Sinne wohl auch als eine nicht erreichbare Zielsetzung anzusehen ist. Zum anderen sind die engen Verknüpfungen der Gemeinschaftsebene mit den einzelstaatlichen Rechtsordnungen kaum mit einem dogmatisch-strengen Verständnis der Gewaltenteilung zu erfassen. So ist für diese Besonderheit der Europäischen Rechtsordnung nochmals auf den hauptsächlich durch die mitgliedstaatlichen Behörden erfolgenden Vollzug des Gemeinschaftsrechts584 sowie dessen einzelfallbezogene Anwendung vor allem durch die mitgliedstaatlichen Gerichte als „Gemeinschaftsgerichte“ hinzuweisen. Demnach sind auch die weiteren Schlussfolgerungen, die durch eine direkte Gegenüberstellung des „institutionellen Gleichgewichts“ mit diesem Staatsprinzip möglich sein könnten, als nur eingeschränkt zu beurteilen. Vor diesem Hintergrund soll somit nachfolgend eine Vergleichbarkeit des „institutionellen Gleichgewichts“ mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz nur im Hinblick auf dessen Wirkungsrichtungen – unter anderem der Machtmäßigung und gleichzeitigen Freiheitsbewahrung für den Einzelnen – untersucht werden.585 Die zugrunde liegende Frage, ob auch das im Gemeinschaftsrecht angelegte „institutionelle Gleichgewicht“ als ein allgemeines und übergeordnetes Grundprinzip ähnliche Zielsetzungen wie das Gewaltenteilungsprinzip im staatlichen Zusammenhang zu erfüllen in der Lage ist und somit zur Legitimation dieser Herrschaftsordnung insgesamt beitragen kann, sollte daran anschließend zu beantworten sein. Nur sofern diese Frage bejaht werden kann, ist schließlich eine Aussage dahingehend möglich, in welchem Umfang sich der Gewaltentei___________ 584

Winter in: EuR 2005, 255 (255). Siehe nur die vorangegangenen Ausführungen im Rahmen der vorliegenden Arbeit unter C.I. 585

I. Verhinderung von Machtmissbrauch

249

lungsgrundsatz als Ausprägung des allgemein anerkannten Rechtsstaatsprinzips in entsprechend angepasster Form auch in der Gemeinschaftsrechtsordnung wiederfindet und demnach die Europäische Union dem von ihr vorgetragenen Selbstverständnis tatsächlich entspricht. Nochmals zu betonen ist, dass eine darüber hinausgehende vergleichbare Ausgestaltung des Gewaltenteilungsprinzips im Gemeinschaftsrecht wie in einer nationalen Rechtsordnung nicht zu fordern ist. So hat der Gewaltenteilungsgrundsatz bereits sehr verschiedene Umsetzungen in den jeweiligen einzelstaatlichen Rechtsordnungen erfahren. Demnach muss eine entsprechende Möglichkeit zu seiner angepassten Weiterentwicklung erst Recht für seine Übertragung auf eine supranationale und sich ständig weiterentwickelnde Organisationsform wie die der Gemeinschaftsrechtsordnung gelten.586 Schließlich ist aber auch der im Einzelnen gewählte einzelstaatliche Vergleichsmaßstab als wenig aussagekräftig für eine Rechtsordnung zu beurteilen, die sich nach Art. 6 III EUV (nach der Verfassung Art. I-5 I587) zu einer ausreichenden Beachtung der nationalen Identität aller Mitgliedstaaten verpflichtet.

I. Verhinderung von Machtmissbrauch Eine grundlegende Schwierigkeit bei jeder Organisation eines gemeinschaftlichen Zusammenschlusses von Personen ist die Verhinderung eines durch weitreichende und unkontrollierte Gestaltungsmöglichkeiten eines Organs re___________ 586

Kugelmann in: Streinz, EUV/EGV, Art. 211 EGV, Rn. 6 „Das System des institutionellen Gleichgewichts der Organe untereinander funktioniert als Gewaltenverschränkung. Einfache Raster der Gewaltentrennung greifen hier ebenso wenig wie in den gewachsenen und komplexen Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten.“; Schliesky, 408; Huber in: 38 EuR 2003, 574 (576); siehe auch allgemein zum Verhältnis mitgliedstaatlicher und europäischer Werte Ballaguer Callejón in: Liber Amicorum Häberle, 311 (312); Calliess in: JZ 2004, 1033 (1042) „Europäische Werte haben aber trotz ihrer Rückkoppelung an die nationalen Werte einen eigenen, selbstständigen Gehalt, den es herauszuarbeiten gilt. Mit anderen Worten sind die Werte der EU zwar ursprünglich Werte der Mitgliedstaaten, sie haben sich jedoch in gewissem Umfang von den jeweiligen nationalen Werten emanzipiert, indem sie von letzteren auf die Ebene der Gemeinschaft hochgezont wurden, gerade um eine europäische Werteordnung zu gewährleisten. Geht es also darum, einen anerkannten europäischen Wert inhaltlich zu konkretisieren, so ist zunächst ein Vergleich der entsprechenden mitgliedstaatlichen Werteinhalte vorzunehmen. Das Ergebnis dieses Vergleichs ist mit Blick auf das Wertesystem der europäischen Verfassung zu gewichten.“ 587 Siehe nur die im Vergleich zu Art. 6 III EUV eingetretene Verdeutlichung im insoweit erweiterten Art. I-5 I der Verfassung, der vorsah „Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor der Verfassung sowie die nationale Identität der Mitgliedstaaten, die in deren grundlegender politischer und verfassungsrechtlicher Struktur einschließlich der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt.“

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E. Gegenüberstellung der beiden Begriffe und ihrer Bedeutungen

gelmäßig begünstigten Machtmissbrauches durch die jeweiligen Herrschaftsausübenden.588 Dass der Gewaltenteilung als einem Grundprinzip für die weitere Ausgestaltung der Verhältnisse der Organe untereinander in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zukommt, ist bereits auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit dargestellt worden.589 Auch wenn die Gefahr eines Machtmissbrauchs im europäischen Zusammenhang gleichfalls besteht und unter anderem im Zusammenhang mit den Vorfällen in der Santer-Kommission auch deutlich in Erscheinung getreten ist, lässt sich indes eine „klassische Gewaltenteilung“ – sofern von einer solchen überhaupt in sinnvoller Weise gesprochen werden kann – aus einer Zusammenschau derjenigen Bestimmungen der Gemeinschaftsrechtsordnung, die sich mit den verschiedenen Institutionen und ihrer Zusammenarbeit untereinander beschäftigen, nicht etablieren und ist darüber hinaus nicht als interessengerecht aus Sicht der Mitgliedstaaten anzusehen. So würde eine vollständige Verwirklichung des Gewaltenteilungsprinzips – vergleichbar mit dem Demokratieprinzip – voraussetzen, dass es sich bei der Europäischen Union um ein in sich geschlossenes und von den Mitgliedstaaten unabhängiges Herrschaftssystem handelt. Einhergehen würde ein solches Verständnis demnach nicht nur mit einer (bundes-)staatsähnlichen Anerkennung der Europäischen Union. Zusätzlich würden die verbleibenden Aufgaben der einzelstaatlichen Organe zunehmend verringert und damit langfristig die Mitgliedsstaaten in ihrer Berechtigung zur Herrschaftsausübung selbst erkennbar in Frage gestellt. Dass die bisherige, strukturbedingte Offenheit der Europäischen Rechtsordnung gegenüber den einzelstaatlichen Rechtsordnungen, die sich in den Einfluss- und Überwachungsmöglichkeiten der Mitgliedstaaten besonders deutlich äußert, und die bestehenden gegenseitigen Abhängigkeiten weiterhin beibehalten werden sollen, zeigt bereits das in Art. 5 EGV (nach der Verfassung Art. I-11 I) enthaltene Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Danach finden die Tätigkeiten der Gemeinschaft ihre Grenzen in den von den Mitgliedstaaten ihr eingeräumten ___________ 588

Siehe nur Zippelius in: FS Eichenberger 1982, 147 (147) „Es gibt Grundprobleme der Staatstheorie und der praktischen Politik, die zu allen Zeiten eine befriedigende Lösung verlangen, weil sonst das Zusammenleben in den politischen Gemeinschaften zur Tyrannei wird. Ein Hauptproblem, wenn nicht die wichtigste Sorge überhaupt, ist es, eine Gemeinschaft so zu organisieren, dass sie mit hinreichender Integrationskraft ausgestattet ist und gleichwohl eine gefährliche Konzentration von Macht verhindert wird.“ 589 So beschreibt die Zielsetzung der Gewaltenteilung Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes, 199 wie folgt „die Relativierung der Staatsgewalt (zugunsten der individuellen Freiheitssphäre) durch ein System von Vorkehrungen, die auf Gesetzmäßigkeit, Kompetenzmäßigkeit, Kontrollierbarkeit und Justizförmigkeit abzielen.“; siehe auch Zippelius in: Merten (Hrsg.), 27 (27); Schroeder, 356; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 422; Ossenbühl in: DÖV 1980, 545 (546); Imboden in: Rausch (Hrsg.), 487 (487).

I. Verhinderung von Machtmissbrauch

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Befugnissen, so dass trotz zunehmender Integration die einzelstaatliche Souveränität zu bewahren ist und damit einhergehend ihnen auch einzelne Aufgaben im Bereich der Legislative, Exekutive und Judikative allein und unabhängig zur Wahrnehmung verbleiben sollen. Neben diesen engen Verknüpfungen der Gemeinschaftstätigkeiten mit den Mitgliedstaaten werden aber auch die der Gemeinschaft bereits übertragenen Befugnisse in den einzelnen Politikbereichen nach den geltenden rechtlichen Bestimmungen in der Europäischen Union von den verschiedenen Organen gemeinsam wahrgenommen.590 Bereits im Rahmen der europäischen Gesetzgebung sind in Abhängigkeit von dem im Einzelfall zur Anwendung kommenden Verfahren die Europäische Kommission, der Ministerrat sowie das Europäische Parlament – teils auch unterstützt vom Sozialausschuss und Ausschuss der Regionen – in unterschiedlicher Weise beteiligt. Gleiches gilt für die Aufstellung sowie Durchführung und der damit einhergehenden Überwachung des Haushaltsplanes sowie für die Entscheidung über den Beitritt eines Drittstaates zur Europäischen Union. Diese verschiedenen Formen der Zusammenarbeit der Organe untereinander und die daraus sich entwickelnden Interdependenzen sind demnach für den institutionellen Aufbau und damit auch für das auf seiner Grundlage näher ausgestaltete „institutionelle Gleichgewicht“ im Gemeinschaftsrecht als besonders kennzeichnend zu bewerten. Darüber hinaus ist mit dem Ministerrat nicht nur ein Organ an der Gesetzgebung beteiligt, das sich aus Vertretern der Exekutive zusammengesetzt, sondern vielmehr handelt es sich immer noch – abgesehen von den Fällen, in denen das Verfahren der Mitentscheidung nach Art. 251 EGV zur Anwendung kommt oder eine Zustimmung des Europäischen Parlaments erforderlich ist – um das „Hauptrechtssetzungsorgan“ in der Gemeinschaftsrechtsordnung. Die damit bestehenden engen Gewaltenverschränkungen bedeuten jedoch nicht, dass dem Gewaltenteilungsprinzip als einer Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips nicht in angemessener und gerade europaspezifischer Weise Rechnung getragen wird.591 So ist die Gemeinschaftsrechtsordnung ungeachtet ___________ 590 Horn in: 49 JöR 2001, 287 (297) „So gesehen haben wir es mit einer Vermischung von legislativen und exekutiven Befugnissen zu tun, also nicht mit einer Gewaltenteilung im herkömmlichen Verständnis, sondern mit einem System, das daher auch der EuGH bis heute nicht als Gewaltenteilung, sondern als „institutionelles Gleichgewicht“ bezeichnet.“; Fuß in: FS Küchenhoff 1972, 781 (783); Hahn in: Rausch (Hrsg.), 438 (451); Schroeder, 355; Geiger, EUV/EGV, Art. 7 EGV, Rn. 17. 591 Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, 38 „Anstelle der klassischen Form der Gewaltenteilung hat die Gemeinschaft ein anderes System gegenseitiger Hemmungen und Kontrollen der Kräfte aufzuweisen, an dem die vier Institutionen Rat, Kommission, Parlament und Gerichtshof beteiligt sind.“; Fuß in: FS Küchenhoff 1972, 781 (782); Verhoeven, The EU in Search of a Democratic and Constitutional Theory, 205 „As we have argued elsewhere, institutional balance carries an important message, akin to the

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E. Gegenüberstellung der beiden Begriffe und ihrer Bedeutungen

fehlender feststehender Interessengruppen doch deutlich an dem Anliegen ausgerichtet, eine Einbindung verschiedenster Interessen im Rahmen der Entscheidungsfindung zu gewährleisten. Damit einhergehend besteht – in enger Anlehnung an Montesquieus ursprüngliche Vorstellungen zur Gewaltenteilung als Ausdruck einer sozialen Machtverteilung592 – eine wichtige Vorbedingung für die erfolgreiche Verhinderung eines Machtmissbrauches durch nur eine gesellschaftliche Gruppe.593 Auch wenn das Gemeinschaftsinteresse regelmäßig lediglich das Ergebnis eines andauernden und gegenseitigen Abstimmungsprozesses der verschiedenen Interessen darstellt und eine vollständige Vergleichbarkeit mit den von Montesquieu noch vorgefundenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen damit gerade nicht besteht, wird seine Herausbildung doch vom Europäischen Gerichtshof durch seine Rechtsprechung maßgeblich unterstützt. Durch die einzelne Regelungen wird im Weiteren zwar nicht in allen Bereichen – teils sind diese auch weiterhin hauptsächlich nur bestimmten Organen zur Wahrnehmung übertragen – eine umfassende Überwachung gewährleistet, doch ist eine uneingeschränkte Ausübung der übertragenen Hoheitsrechte durch nur ein Organ wiederum auch nicht möglich. Trotz der weitgehend gemeinsam wahrgenommenen Aufgaben und der besonderen Einflussmöglichkeiten des Rates hinsichtlich der Ausgestaltung des weiteren Integrationsprozesses kommt ___________ message inspiring the age-old doctrine of separation of powers and of balanced government.“ 592 Zippelius in: FS Eichenberger 1982, 147 (152) „Geblieben ist aber die grundsätzliche Einsicht, dass die sozialen Gewalten eine bestimmende Rolle im politischen Prozess spielen, dass sie insbesondere in der Demokratie an der Vorformung des politischen Willens beteiligt sind. Zugleich ist die Einsicht gewachsen, dass die Staatstheorie die sozialen Gewalten als Machtfaktoren in Rechnung stellen muss.“; Jahrreiß in: FS Nawiasky 1956, 119 (121); Zimmer, 54; Lorz, 3; Dahrendorf, 216; Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes, 211; Ermacora, Allgemeine Staatslehre – Zweiter Teilband, 613; Imboden in: Rausch (Hrsg.), 487 (488f.) spricht von „Objektivierung, Stabilisierung und Differenzierung der Herrschaft“ in diesem Zusammenhang. 593 Fernandez Esteban, 156 „The concept of separation of powers may have two complementary readings: an organic reading, meaning the separation of powers in different institutions, and a functional reading, determining that different functions must be allocated to different institutions, but still considering the interplay between them. The organic understanding relates to the definition of the legislative, executive and judicial functions of government. The functional understanding looks to the identity of the different organic inputs in the performance of each of these functions and assesses critically these inputs in terms of the Community checks and balances.“; Craig in: 3 ELJ 1997, 105 (114); Verhoeven, The EU in Search of a Democratic and Constitutional Theory, 210 „The principle of institutional balance within the Union can be seen as a radicalisation of that project. As will be further fleshed out, the Union’s institutional balance does not rest on organic separation of powers but rather on a balanced interaction between representatives of various interests.“; siehe aber auch nur Köppen, 272.

I. Verhinderung von Machtmissbrauch

253

somit jedem Organ nach dem durch die Verträge und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs näher ausgeformten „institutionellen Gleichgewicht“ zum einen jeweils ein eigenständiger Aufgabenbereich zur selbstständigen Wahrnehmung zu, der auch gegenüber Übergriffen anderer Organe zu schützen ist. Zum anderen ist für das „institutionelle Gleichgewicht“ ein System der wirksamen und umfassenden gegenseitigen Überwachung der Organe untereinander kennzeichnend, das zusätzlich zu den Vertragsänderungen gerade vom Europäischen Gerichtshof – durch die Anerkennung einer Nichtigkeitsklage durch das Europäische Parlament – maßgeblich ausgestaltet worden ist. Nur mit den auch für das – unmittelbar demokratisch durch Wahlen legitimierte – Europäische Parlament bestehenden wirksamen Möglichkeiten der Überwachung und gerichtlichen Überprüfung wird im Übrigen dem deutlichen Bekenntnis der Europäischen Union zu demokratischen Grundsätzen in angemessener Weise Rechnung getragen. Durch die gegebenenfalls stattfindende Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Handlungen der anderen Beteiligten durch die unabhängige und unparteiische Europäische Gerichtsbarkeit und deren starke Stellung kann die Wahrscheinlichkeit einer Machtausübung unter Nichtbeachtung der rechtlichen Bindungen wesentlich verringert werden. Ähnlich einem einzelstaatlichen Verfassungsgericht überwacht der Europäische Gerichtshof die Anwendung des Gemeinschaftsrechts in verschiedenen Verfahren, die von den Organen, den Mitgliedstaaten oder Dritten angestrengt werden können und entwickelt diese Rechtsordnung unter Beachtung der in ihr festgelegten Grundwerte damit einhergehend fortlaufend weiter. Diese besondere Rolle des Europäischen Gerichtshofs – aufgrund seiner weitreichenden Überwachungsmöglichkeiten – als einer gleichgewichtigen Gewalt gegenüber den gemeinschaftsrechtssetzenden Organen entspricht im Übrigen einer auch in den einzelnen Staaten erfolgten Weiterentwicklung der Vorstellungen Montesquieus, die sich zwar bereits in den „Federalist Papers“ andeutete.594 Ihre erste ausdrückliche Anerkennung erfuhr sie jedoch in der Entscheidung des Amerikanischen Supreme Court in der Rechtssache Marbury v. Madison, die auch auf das europäische Verständnis der Aufgaben der Judikative dahingehend einen erheblichen Einfluss ausübte, dass Akte der Legislative auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfbar sind.595 ___________ 594 So nur Grams, 144; gegen diese Bewertung der „Federalist Papers“ siehe aber auch Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes, 101. 595 Siehe nur die Ausführungen des Chief Justice John Marshall „It is emphatically the province and duty of the judicial department to say what the law is. Those who apply the rule to particular cases, must of necessity expound and interpret that rule. If two laws conflict with each other, the courts must decide on the operation of each.“; Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes, 131.

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E. Gegenüberstellung der beiden Begriffe und ihrer Bedeutungen

Weiterhin – und für jede Vermeidung eines machtmissbräuchlichen Handelns von besonderer Wichtigkeit – steht dem Einzelnen gegenüber Gemeinschaftsakten ein gut ausgebautes Rechtsschutzsystem zur Seite und damit eine weitere mittelbare Möglichkeit zur Einflussnahme sowie zur Machtteilhabe. Dabei werden gewisse Beschränkungen im Individualrechtsschutz auf europäischer Ebene dadurch ausgeglichen, dass nationale Gerichte in diesem Bereich gleichfalls und zumeist auch vorrrangig als Gemeinschaftsgerichte tätig werden. Ungeachtet dieser Aufgabenverteilung bleibt die Befugnis des Europäischen Gerichtshofs zur allein verbindlichen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und damit einhergehend zur abschließenden Klärung von Organkonflikten durch mit dem Vorabentscheidungsverfahren hinreichend gewährleistet. Im Hinblick auf die Stellung und die Aufgaben des Europäischen Gerichtshofs ist demnach diejenige Ausgestaltung der Gemeinschaftsrechtsordnung zu erkennen, die noch am ehesten einer wörtlich verstandenen „Trennung“ der Gewalten nahe kommt. Zusammenfassend ist festzustellen, dass das vom Europäischen Gerichtshof seiner Rechtsprechung zugrunde gelegte und von ihm geschützte „institutionelle Gleichgewicht“ somit gleichfalls darauf ausgerichtet ist, einen Machtmissbrauch durch ein Gemeinschaftsorgan wirksam zu verhindern und folglich in vergleichbarer Weise der Verwirklichung dieser Wirkungsrichtung des aus dem einzelstaatlichen Bereich bekannten Gewaltenteilungsgrundsatzes dient.

II. Wahrung der Freiheit des Einzelnen Weiterführend stellt sich die Frage, ob der Grundsatz des „institutionellen Gleichgewichts“ in der Gemeinschaftsrechtsordnung zur Verwirklichung der mit dem Gewaltenteilungsprinzip gleichfalls verfolgten freiheitlichen, individualrechtlichen Zielsetzung beizutragen in der Lage ist.596 In den einzelstaatlichen Rechtssystemen sind die jeweiligen Ausgestaltungen der Gewaltenteilung – vor allem nach den nunmehr allgemein vorherrschenden Vorstellungen – letztlich daran ausgerichtet, durch die Zuweisung der verschiedenen Funktionen an die einzelnen Organe ein System der „checks and balances“ zu errichten, das die Herrschaftsausübung mäßigt und damit eng verbunden die individuelle Freiheit sichert. Die notwendige Beziehung zwischen dem ersten und zweiten Begrün___________ 596 Hiervon deutlich zu unterscheiden ist die vom EuGH verneinte Frage, ob eine Verletzung des „institutionellen Gleichgewichts“ aufgrund seiner Individualschutzrichtung eine Haftung der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen begründen kann, siehe nur EuGH, Slg. 1992, I-1937 (I-1968) Rs. C-282/90 „Vreugdenhil/Kommission“ „Insoweit genügt es festzustellen, daß das System der Verteilung der Zuständigkeiten auf die verschiedenen Organe der Gemeinschaft die Beachtung des vom Vertrag vorgesehenen institutionellen Gleichgewichts sicherstellen, nicht aber den Einzelnen schützen soll.“

II. Wahrung der Freiheit des Einzelnen

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dungsansatz einer jeden Form der Gewaltenteilung, die sich ideengeschichtlich erst langsam entwickelt hat, hat damit eine umfassende Anerkennung erfahren.597 Ungeachtet dessen, dass diese weitreichende Entwicklung zumeist als selbstverständlich dargestellt wird, sollte indes die ursprüngliche Bedeutung des Gewaltenteilungsgrundsatzes als eines rein organisatorischen und institutionellen Prinzips, das demnach zunächst nur Aussagen über das Verhältnis der Organe beinhaltet hat, nicht vernachlässigt werden. So ist die zunehmend betonte Individualausrichtung des Gewaltenteilungsgrundsatzes als Folgeerscheinung der allgemein immer zentraler gewordenen Rolle des Individuums in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen anzusehen, die folglich auch in staatsorganisatorischer Hinsicht entsprechend zu berücksichtigen ist. Damit einhergehend findet die Freiheitsbewahrung gerade dadurch statt, dass die Gewaltenteilung dem Herrschaftsunterworfenen in seinem Bestehen gegen die Macht bestärkt.598 Hinsichtlich der Entstehungsgeschichte der Gemeinschaftsrechtsordnung ist festzustellen, dass bei ihrer institutionellen Ausgestaltung ursprünglich das Ziel der individuellen Freiheitssicherung nicht im Vordergrund stand, sondern vielmehr die wirtschaftliche Integration der mitgliedstaatlichen Volkswirtschaften. Die in diesem Zusammenhang angestrebte Vereinheitlichung der wirtschaftlichen Regelungen zwischen den einzelnen Staaten machte vorrangig eine funktionsgerechte Wahrnehmung der neu geschaffenen Befugnisse und die Herstellung eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen den Gemeinschaftsinteressen und den Interessen der Mitgliedstaaten sowie deren Vertretung durch die verschiedenen Organe erforderlich. Damit einhergehend fehlte es zunächst auch an einer ausdrücklichen Bezugnahme im Gemeinschaftsrecht auf Grundrechte der einzelnen Betroffenen.599 So nahm der Europäische Gerichtshof in seiner frü___________ 597

Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 11. Buch – 6. Kapitel, 216 „Sobald in ein und derselben Person oder derselben Beamtenschaft die legislative Befugnis mit der exekutiven verbunden ist, gibt es keine Freiheit.“; Stern, Das Staatsrecht der BRD – Band II, 518; Schroeder, 358; Weber in: Rausch (Hrsg.), 185 (186); Stammen in: Andersen/Woyke, 227 (229); Ossenbühl in: DÖV 1980, 545 (546); Zippelius in: Merten (Hrsg.), 27 (27); Craig in: 3 ELJ 1997, 105 (114); Verhoeven, The EU in Search of a Democratic and Constitutional Theory, 209 „Montesquieu’s notion of trias politica refers to something more fundamental and more comprehensive than the need to separate three branches of government. It entails a call for constitutionalism as a means to ensure that all interests in society can live together and politically interact in a harmonious manner. In fact, Montesquieu’s basic concern in his famous Eleventh book of the De l’esprit des lois is building a constitutional system capable of safeguarding the political liberty of its citizens.“; siehe aber auch einschränkend Sobota, 32. 598 Imboden in: Rausch (Hrsg.), 487 (492); Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes, 198; Zippelius in: Merten (Hrsg.), 27 (32). 599 Für die verschiedenen möglichen Begründungsansätze für dieses Fehlen siehe nur Craig/de Burca, 318.

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E. Gegenüberstellung der beiden Begriffe und ihrer Bedeutungen

hen Rechtsprechung an, dass ein grundrechtlicher Schutz auf der Gemeinschaftsebene nicht erforderlich sei, und lehnte folglich eine Auseinandersetzung mit dem Klagevorbringen einzelner Parteien ab, die eine Verletzung des deutschen Verfassungsrechts durch eine Entscheidung der Hohen Behörde geltend zu machen versuchten.600 Im Weiteren erklärte er sich für nicht befugt, „für die Beachtung solcher innerstaatlichen Vorschriften Sorge zu tragen, die in dem einen oder anderen Mitgliedsstaat gelten, mag es sich hierbei auch um Verfassungsrechtssätze handeln“601, und wies anschließend daraufhin, dass „andererseits enthält das Recht der Gemeinschaft, wie es im EGKS-Vertrag niedergelegt ist, weder einen geschriebenen noch einen ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Inhalts, dass ein erworbener Besitzstand nicht angetastet werden darf.“602 Diese Ansicht ließ sich jedoch unter Berücksichtigung der zunehmenden Betroffenheit des Einzelnen durch Handlungen der Gemeinschaft dauerhaft nicht aufrecht erhalten und in der Folgezeit hat der Europäische Gerichtshof zunächst ausgeführt, dass in den allgemeinen und von ihm zu sichernden Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung auch die Grundrechte der Person mitumfasst sind.603 Dieser Rechtsprechungswandel hat im Übrigen eine ausdrückliche vertragliche Bestätigung durch die Einführung des Art. 6 II EUV schließlich gefunden. Damit lehnt der Europäische Gerichtshof zwar weiterhin die Vorstellung ab, dass eine Gemeinschaftsmaßnahme aufgrund einzelstaatlicher verfassungsrechtlicher Bedenken als ungültig zu beurteilen sei, da ein solcher Prüfungsmaßstab mit dem von ihm gleichfalls begründeten Vorrang des Gemeinschaftsrechts unvereinbar ist. Um nichtsdestotrotz eine rechtliche Einbindung der ausgeübten Hoheitsgewalt sicherzustellen, ist aber eine Gemeinschaftsmaßnahme auf ihre Vereinbarkeit mit gemeinschaftsrechtlichen Grund___________ 600 EuGH, Slg. 1958-1959, 42 (63f.) Rs. 1/58 „Friedrich Stork & Co./Hohe Behörde“ „Wie sich aus Artikel 8 des Vertrages ergibt, ist die Hohe Behörde nur berufen, das Recht der Gemeinschaft anzuwenden; für die Anwendung innerstaatlicher Vorschriften der Mitgliedstaaten fehlt ihr die Zuständigkeit. Auch der Gerichtshof hat, gemäß Artikel 31 des Vertrages, lediglich die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages und seine Durchführungsvorschriften zu sichern, im Regelfall aber sich nicht über nationale Rechtsvorschriften auszusprechen. Infolgedessen kann auch auf den Vorwurf, die Hohe Behörde habe mit ihrer Entscheidung Grundsätze des deutschen Verfassungsrechts verletzt, im Verfahren vor diesem Gericht nicht eingegangen werden.“ 601 EuGH, Slg. 1960 – Zweiter Teil, 885 (921) Verb. Rs. 36/59, 37/59, 38/59 und 40/59 „Präsident Ruhrkohlen-Verkaufsgesellschaft, Geitling, Mausegatt, Nold KG/Hohe Behörde“. 602 EuGH, Slg. 1960 – Zweiter Teil, 885 (921) Verb. Rs. 36/59, 37/59, 38/59 und 40/59 „Präsident Ruhrkohlen-Verkaufsgesellschaft, Geitling, Mausegatt, Nold KG/Hohe Behörde“. 603 EuGH, Slg. 1969, 419 (425) Rs. 29/69 „Stauder/Ulm“ „Bei dieser Auslegung enthält die streitige Vorschrift nichts, was die in den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat, enthaltenen Grundrechte der Person in Frage stellen könnte.“

II. Wahrung der Freiheit des Einzelnen

257

rechten als Ausprägung der in dieser Rechtsordnung geltenden allgemeinen Rechtsgrundsätze zu überprüfen.604 Zur näheren Bestimmung dieser gemeinschaftsrechtlichen Grundrechte bezog sich der Europäische Gerichtshof auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und den von ihnen im Einzelnen gewährten Schutzumfang.605 Nachdem der Europäische Gerichtshof insoweit seine rechtsvergleichende Methodik festgelegt hatte – noch mit der Erweiterung der heranzuziehenden Rechtsquellen insbesondere um die EMRK – hat er verschiedenste Grundrechte entwickelt und ihre Bindungswirkung für das hoheitliche Handeln der Gemeinschaftsorgane begründet. Somit ist der Einzelne und die Wahrung seiner Rechte erst durch die fallgebundene Weiterentwicklung des Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof und damit im Rahmen eines langsam fortschreitenden Prozesses – in vergleichbarer Weise wie in den einzelstaatlichen Rechtsordnungen – zunehmend in den Mittelpunkt auch der Gemeinschaftsrechtsordnung gerückt. Diese allgemeine Entwicklung hat im Weiteren Einfluss auf das ausgehend vom institutionellen Aufbau vom Europäischen Gerichtshof entwickelte „institutionelle Gleichgewicht“ genommen. So ist zum einen im Hinblick auf die prozessrechtliche Bedeutung dieses allgemeinen Grundprinzips des Gemeinschaftsrechts festzustellen, dass die gerade auf diesem Wege ermöglichte wirksame gegenseitige Überwachung im Interesse des einzelnen Unionsbürger ausgeübt wird. Zum anderen ist aber unter Berücksichtigung der verfahrensrechtlichen Bedeutung des „institutionellen Gleichgewichts“ anzumerken, dass die mit diesem Grundsatz gesicherten Beteiligungs- und Mitwirkungsrechte der ___________ 604 EuGH, Slg. 1970, 1125 (1135) Rs. 11/70 „Internationale Handelsgesellschaft/Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide“ „Die einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts würde beeinträchtigt, wenn bei der Entscheidung über die Gültigkeit von Handlungen der Gemeinschaftsorgane Normen oder Grundsätze des nationalen Rechts herangezogen würden. (...) Daher kann es die Gültigkeit einer Gemeinschaftshandlung oder deren Geltung in einem Mitgliedstaat nicht berühren, wenn geltend gemacht wird, die Grundrechte in der ihnen von der Verfassung dieses Staates gegebenen Gestalt oder die Strukturprinzipien der nationalen Verfassung seien verletzt. Es ist jedoch zu prüfen, ob nicht eine entsprechende gemeinschaftsrechtliche Garantie verkannt worden ist; denn die Beachtung der Grundrechte gehört zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat.“; weiterführend siehe nur Scheuning in: EuR 2005, 162 (163). 605 EuGH, Slg. 1974, 491 (507) Rs. 4/73 „Nold/Kommission“ „Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, die er zu wahren hat, und dass er bei der Gewährleistung dieser Rechte von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten auszugehen hat. (...) Auch die internationalen Verträge über den Schutz der Menschenrechte, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind, können Hinweise geben, die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen sind.“

258

E. Gegenüberstellung der beiden Begriffe und ihrer Bedeutungen

verschiedenen Organe erst eine umfassende Vertretung der unterschiedlichen Interessen im Rahmen der Entscheidungsprozesse ermöglichen. Dass demnach gerade dieser Anwendungsbereich des „institutionellen Gleichgewichts“ eine individuelle Schutzrichtung aufweist, ist leicht nachvollziehbar. Weiterhin ist nochmals darauf hinzuweisen, dass der Europäische Gerichtshof bereits im seiner Meroni-Entscheidung Aussagen über die von ihm zugrunde gelegten engen Beziehungen zwischen dem „Gleichgewicht der Gewalten“ und der einzelnen Betroffenen gemacht hat.606 Unter anderem sein Verweis auf die betroffenen Unternehmen und Unternehmensverbände diente ihm in diesem Zusammenhang als Begründungsansatz für diesen neuen Rechtsbegriff. Ungeachtet der nachfolgenden sprachlichen Veränderung kann dieser individualrechtliche Begründungsansatz als Grundlage auch für das „institutionelle Gleichgewicht“ in der Gemeinschaftsrechtsordnung insgesamt herangezogen werden. So lässt sich in vergleichbarer Weise aus Art. 7 EGV in Verbindung mit den Grundbestimmungen der Art. 2 und 3 EGV bereits eine individualrechtliche Ausrichtung des gesamten Integrationsprozesses ableiten. Darüber hinaus hat sich ungeachtet der anfangs vorrangig verfolgten wirtschaftlichen Zielsetzungen nach dem allgemein eingetretenen Wandel im zugrunde gelegten Selbstverständnis der Europäischen Union als einer Rechts- und Wertegemeinschaft eine erhebliche freiheitssichernde Wirkung des institutionellen Aufbaus entwickelt.607 Auch wenn diese Wirkungsrichtung des „institutionellen Gleichgewichts“ lediglich mittelbar in Erscheinung tritt, ist im Übrigen zu berücksichtigen, dass gleiches im einzelstaatlichen Bereich gilt. So muss schließlich die zunehmend betonte Forderung nach einer an der ordnungsgemäßen Aufgabenwahrnehmung ausgerichteten Ausgestaltung der Organverhältnisse im einzelstaatlichen Zusammenhang eine ausreichende Berücksichtigung finden. Danach liegt dem Gewaltenteilungsprinzip zwar weiterhin die individuelle Freiheitsbewahrung als grundsätzliche Zielsetzung zugrunde, doch sind weitere Forderungen hinzugekommen. Darüber hinaus ist ein Wandel im zugrunde gelegten Staatsverständnis dahingehend festzustellen, dass der Einzelne als an den Entscheidungsprozessen Beteiligter nicht mehr alleinig vor der Willkür einer übermächtigen Staatsgewalt zu schützen ist. ___________ 606 EuGH, Slg. 1958, 1 (44) Rs. 9/56 „Meroni/Hohe Behörde“; Jacqué in: 41 CMLRev. 2004, 383 (384); siehe im Übrigen die Ausführungen im Rahmen der vorliegenden Arbeit unter D.II.1. 607 Häberle, 422; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 423 „Was immer aber die ursprüngliche Zielsetzung der Vertragsschöpfer gewesen sein mag, sie ändert nichts daran, dass der Kompetenzaufteilung unter verschiedenen Gemeinschaftsorganen und dem Verbot ihrer Verschiebung de facto ein freiheitssichernder Effekt innewohnen dürfte.“; siehe aber auch Jacqué in: CMLRev. 2004, 383 (384).

III. Ordnungsgemäße Wahrnehmung der Funktionen

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III. Ordnungsgemäße Wahrnehmung der Funktionen Dem Gewaltenteilungsprinzip wird neben seiner negativen Wirkungsrichtung im Sinne einer staatlichen Machtbegrenzung zugunsten des einzelnen Bürgers auch eine rein positive Bedeutung mit Hinblick auf die Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Aufgabenwahrnehmung zugewiesen.608 So macht bereits die Verschiedenheit der unterschiedlichen staatlichen Tätigkeiten eine gleichfalls differenzierte und den einzelnen Anforderungen entsprechend angepasste Organstruktur erforderlich. Bei der nachfolgenden Zuordnung der Aufgaben zu den einzelnen Organen sind jedoch nicht nur Überlegungen dahingehend notwendig, welches Organ bereits von seinem inneren Aufbau zur Aufgabenerfüllung im Einzelfall besonders geeignet ist. Vielmehr müssen bei der im Interesse einer ordnungsgemäßen Wahrnehmung der Funktionen erfolgenden Aufgabenzuweisung auch die Auswirkungen auf das allgemeine Organverhältnis – im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz – ausreichend Berücksichtigung finden. Inwieweit indes in der Gemeinschaftsrechtsordnung zum einen der institutionelle Aufbau und zum anderen die in diesem Zusammenhang zur näheren Bestimmung der Organverhältnisse herangezogene Vorstellung eines „institutionellen Gleichgewichts“ auch der ordnungsgemäßen Wahrnehmung der Funktionen dienen, bedarf einer genaueren Betrachtung. So kann der Erreichung dieser Zielsetzung bereits das gleichzeitig im Rahmen jeder Entscheidungsfindung neu zu bestimmende Gleichgewicht der mitgliedstaatlichen Interessen und des Gemeinschaftsinteresses bis zu einem bestimmten Grad entgegenstehen. Ungeachtet dieser sich aus der Beteiligung der verschiedener Interessen ergebenden Besonderheiten hat die Beantwortung dieser Fragen jedoch eine deutlich über ihren Sachbereich hinausgehende Bedeutung. So kann langfristig nur eine Überzeugung über die Notwendigkeit des Integrationsvorhabens entstehen, sofern die Herrschaftsausübung im europäischen Zusammenhang als ordnungsgemäß wahrgenommen wird. Wichtige Vorbedingung für eine solche Überzeugung ist eine transparente und damit für den einzelnen Unionsbürger nachvollziehbare Verteilung der Befugnisse. Zwar ist der europäische Integrationsprozess nicht nur als ein technisches Instrument anzusehen, mit dem grenzüberschreitenden Herausforderungen gemeinsam begegnet werden kann. So muss ihm darüber hinaus eine weiterführende Bedeutung – unter anderem hinsicht___________ 608 Küster in: Rausch (Hrsg.), 1 (7); Schroeder, 358 „Das Gewaltenteilungsprinzip wird als Garant für die funktionsgerechte Aufgabenverteilung zwischen den Gewalten verstanden, welche der sachgemäßen Bewältigung von Staatsaufgaben dient.“; siehe weiterführend nur die Ausführungen im Rahmen der vorliegenden Arbeit unter C.I.3.

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E. Gegenüberstellung der beiden Begriffe und ihrer Bedeutungen

lich der Gewährleistung einer verantwortungsvollen und friedenssichernden Beziehung zwischen den Mitgliedstaaten sowie von ihnen zu den angrenzenden Nachbarstaaten – zukommen. Doch ist für die weitere Unterstützung der politischen Integration der verschiedenen Aufgabenbereiche neben solchen begleitenden Zielsetzungen erforderlich, dass – wie sich auch deutlich aus dem in Art. 5 II EGV niedergelegten Subsidiaritätsprinzip für nicht ausschließliche Gemeinschaftszuständigkeiten ergibt – für die Erreichung bestimmter Zielsetzungen ein Tätigwerden der Gemeinschaft zunächst als notwendig angesehen wird. Sofern eine ordnungsgemäße Wahrnehmung der an die Europäische Union übertragenen Befugnisse nicht möglich ist, kann demnach auf Dauer auch dieser nach dem Subsidiaritätsprinzip geforderte Nachweis nicht mehr gelingen. Somit tritt die wechselseitige Abhängigkeit der weiteren Ausgestaltung des Verhältnisses der gemeinschaftlichen zur mitgliedstaatlichen Ebene von dem organisatorischen und institutionellen Aufbau der Europäischen Union wiederum deutlich in Erscheinung. Unter Berücksichtigung dieser möglichen Auswirkungen ist zunächst festzustellen, dass der vertraglich festgelegte institutionelle Aufbau – die Organstruktur der Europäischen Union – den an ihn gestellten Anforderungen nur eingeschränkt genügt.609 So sind die jeweils in den verschiedenen Politikbereichen unterschiedlich ausgestalteten Befugnisse der Organe nicht als geeignet anzusehen, dem einzelnen Unionsbürger einen schnellen Überblick über den organisatorischen Aufbau der Europäischen Union zu ermöglichen. Diese fehlende klare Aufgabenzuweisung macht im Übrigen ein allgemein durch solche institutionellen Rahmenbedingungen erleichtertes Tätigwerden der Europäischen Union auf Grundlage der für sie bestehenden Handlungsermächtigungen nicht wahrscheinlicher. Zusätzlich bestehen erhebliche Schwierigkeiten bei einer direkten Übertragung einzelstaatlicher Vorstellungen auf diese neuen Formen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit, die – soweit möglich – ein Verständnis des Verhältnisses der Organe untereinander in der Gemeinschaftsrechtsordnung zumindest erleichtern könnten. So ist trotz der zunehmenden Parlamentarisierung der Gemeinschaftsrechtssetzung zum einen eine Vergleichbarkeit der Rolle des Europäischen Parlaments mit dem eines einzelstaatlichen Parlaments nicht vollständig gegeben.610 Zum anderen weist die Gemeinschaftsrechtsord___________ 609 Siehe aber auch nur Köppen, 272 „(…) dass eine europäische Gewaltenteilung sicherlich weniger um der Gewährleistung individueller Freiheitssphären – prioritäres Anliegen des staatsrechtlichen Modells –, denn um der Funktionsfähigkeit der EG willen erdacht wurde.“ 610 Siehe nur die immer noch gewisse Gültigkeit beanspruchende Feststellung bei Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat (42) „Das demokratische Prinzip in seiner parlamentarischen Ausprägung stellt dagegen einige Probleme, denn die Funktion unseres Parlaments ist noch unvollkommen.“; in gewisser Weise diesen Befund jedoch zurücknehmend Jacqué in: 41 CMLRev. 2004, 383 (388).

III. Ordnungsgemäße Wahrnehmung der Funktionen

261

nung mit der Europäischen Kommission ein Organ auf, das aufgrund seiner sowohl legislativen wie exekutiven Aufgabenbereiche und seiner Bedeutung bei der Bestimmung des Gemeinschaftsinteresses überhaupt keine Entsprechung auf der einzelstaatlichen Ebene findet. Darüber hinaus ist die Zusammensetzung des als „Hauptrechtssetzungsorgan“ bezeichneten Rates mit Vertretern der mitgliedstaatlichen Exekutive nur unter gewissen Schwierigkeiten mit den Grundaussagen des Gewaltenteilungsprinzips vereinbar. Schließlich sei auch nochmals auf die engen Beziehungen zwischen dem Europäischen Gerichtshof und den nationalen Gerichten im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens verwiesen. Im Bereich der Rechtsprechung wird damit einhergehend die Rolle der nationalen Gerichte als Gemeinschaftsgerichte gekennzeichnet. Eine Erklärung für diese notwendigen Abweichungen bieten die bestehenden engen Verschränkungen der Gemeinschaftsrechtsordnung mit den Mitgliedstaaten. Dadurch, dass die Europäische Union zwar eine eigenständige Rechtsordnung, aber kein autonomes Herrschaftssystem bildet, sondern vielmehr gewisse Befugnisse weiterhin von den Mitgliedstaaten allein ausgeübt werden und diese darüber hinaus bei der Ausübung von Hoheitsbefugnissen durch die Europäische Union mitwirken und wichtige Überwachungsfunktionen wahrnehmen, ist die Struktur dieser neuen und sich auch ständig fortentwickelnden Organisationsform mangels einer anderen Einordnungsmöglichkeit als sui generis zu beschreiben. Die ordnungsgemäße Wahrnehmung der Gemeinschaftsbefugnisse wird demnach sowohl von den einzelstaatlichen wie gemeinschaftlichen Stellen gewährleistet. Das europäische „Mehrebenensystem“611 ist damit durch das Zusammenwirken verschiedener Herrschaftsgewalten gekennzeichnet, wobei deren Verhältnis jedoch aus dem Grund keine Vergleichbarkeit mit einer bundesstaatlichen Ordnung aufweist, dass eine allgemeine und umfassende Vorrangstellung zugunsten der Gemeinschaftsebene nicht besteht. Dieser Ansatz eines Zusammenwirkens der verschiedenen Herrschaftsgewalten fand im Übrigen eine weitere Bestätigung durch die mit der Verfassung vorgesehene Stärkung der nationalen Parlamente im Integrationsprozess für den Bereich der Gesetzgebung. Aufgrund gewisser Interessen der Mitgliedstaaten an der Bewahrung ihrer Souveränität weist die Gemeinschaftsrechtsordnung darüber hinaus Regelungen auf, die gerade die Entscheidungsfindung – unter anderem durch das in einigen ___________ 611 Häberle, 4255; Schliesky, 474 „Der Vorteil dieser analytischen Kategorie liegt (...) darin, dass die mehrstufige Aufgabenerfüllung und Untergliederung des Nationalstaates in mehrere Ebenen der Aufgabenerfüllung gerade im deutschen Bundesstaat (...) bekannt ist.“; kritisch zu dieser Begriffsverwendung siehe aber auch nur Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 189 „Mein Vorbehalt gegen die Konzeption der EU als föderales Mehrebenensystem betrifft dessen territoriale Radizierung und seine Unterkomlexität.“

262

E. Gegenüberstellung der beiden Begriffe und ihrer Bedeutungen

Bereichen geltende Einstimmigkeitserfordernis bei der Beschlussfassung im Rat – auf der Gemeinschaftsebene erschweren. Die gemeinsame Aufgabenwahrnehmung durch die verschiedenen Organe führt regelmäßig zu einer wesentlichen Verlängerung der Entscheidungsprozesse. Trotz der Pflichten der einzelnen Organe zur gegenseitigen Unterrichtung sind indes die daran anschließenden tatsächlichen Einflussmöglichkeiten teils nur sehr eingeschränkt ausgestaltet. Insbesondere im Rahmen des vormals häufig zur Anwendung kommenden Anhörungsverfahrens ist abgesehen von der Abgabe einer weiteren Stellungnahme eine weiterführende Beteiligung des Europäischen Parlaments nicht vorgesehen. Aber auch die Gestaltungsmöglichkeiten für den Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen beschränken sich auf beratende Funktionen, so dass zwar von einer wirksamen Interessenäußerung, aber nicht von einer sich daran anschließenden gleichfalls wirksamen Interessendurchsetzung gesprochen werden kann. Eine sachliche Begründung dieser nichtsdestotrotz vorgesehenen institutionellen Verschränkungen kann dann aber unter Berücksichtigung der allgemeinen Zielsetzung einer ordnungsgemäßen Aufgabenwahrnehmung kaum gelingen. Des Weiteren ist darauf zu verweisen, dass die gemeinsame Aufgabenwahrnehmung und die in einer Vielzahl von Politikbereichen vorherrschenden gemischten Zuständigkeiten eine klare Verantwortungsverteilung erheblich erschweren. Eine solche klare Zuweisung politischer Verantwortlichkeiten sichert jedoch zumeist erst eine ordnungsgemäße Aufgabenwahrnehmung. Im Gegensatz zu diesen vertraglich festgelegten institutionellen Rahmenbedingungen weist das vom Europäischen Gerichtshof in seiner Rechtsprechung zugrunde gelegte „institutionelle Gleichgewicht“ einen wesentlich deutlicheren Bezug zu dem allgemeinen Anliegen einer ordnungsgemäßen Wahrnehmung der zugewiesenen Aufgaben durch die Organe und damit der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit auf.612 So wird dieser allgemeine Grundsatz der Europäischen Rechtsordnung nicht nur zur Wahrung bestehender Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte verwendet, die zu einer größeren Sachgerechtigkeit der getroffenen Entscheidungen führen können. Auch eine wirksame Überwachung der Tätigkeiten der anderen Organe wird mit Bezugnahme auf das „institutionelle Gleichgewicht“ gerade in den Verfahren vor dem Euro___________ 612

Schroeder, 362; EuGH, Slg. 1981/II, 1045 (1074) Rs. 804/79 „Kommission/Vereinigtes Königreich“ „In Anbetracht der durch die Untätigkeit des Rates geschaffenen Lage müssen die Voraussetzungen, unter denen diese Maßnahmen ergehen können, anhand aller verfügbaren rechtlichen Gesichtspunkte, seien sie auch fragmentarischer Natur, bestimmt werden, und es müssen dabei ferner die Strukturprinzipien, die der Gemeinschaft zugrunde liegen, berücksichtigt werden. Diese Prinzipien verlangen, dass die Gemeinschaft unter allen Umständen imstande bleibt, ihren Verantwortlichkeiten unter Beachtung der vom Vertrag geforderten wesentlichen Gleichgewichtsverhältnisse nachzukommen.“

III. Ordnungsgemäße Wahrnehmung der Funktionen

263

päischen Gerichtshof gewährleistet. Diese Überprüfung der getroffenen Maßnahmen bezieht sich nicht nur auf ihre Vereinbarkeit mit den primärrechtlichen Vorgaben, sondern erfolgt auch unter Berücksichtigung der weiteren Auswirkungen auf die Rolle der anderen Organe. Diese sehr verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten des „institutionellen Gleichgewichts“ dienen damit in ihrer Gesamtheit deutlich der Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Wahrnehmung der zugewiesenen Befugnisse und können damit legitimationssteigernd im Sinne einer output-Legitimität oder auch Ergebnislegitimation wirken.613 Erklären lässt sich diese unterschiedliche Ausrichtung damit, dass das „institutionelle Gleichgewicht“ als ein der Gemeinschaftsrechtsordnung zugrunde liegendes organisatorisches Prinzip tatsächlich nur Anwendung auf die nach dem geltenden Recht bestehenden Organverhältnisse findet und damit die faktischen und wechselseitig bestehenden Verknüpfungen zu den mitgliedstaatlichen Entscheidungsprozessen vom Europäischen Gerichtshof in seiner Rechtsprechung zur „horizontalen Gewaltenteilung“ gerade nicht berücksichtigt werden. Demnach geht der Europäische Gerichtshof unter Zugrundelegung einer formalen Betrachtung von der Möglichkeit einer klaren Trennung dieser Verhältnisse aus. Damit einhergehend gilt insbesondere auch der Rat – trotz der ihm in den vertraglichen Bestimmungen zugewiesenen Rolle als das die Interessen der Mitgliedstaaten vertretende Organ – wie die anderen Organe als Gemeinschaftsorgan. Zusammenfassend lässt sich somit feststellen, dass der von der geltenden Gemeinschaftsrechtsordnung vorgegebene institutionelle Rahmen durch seine weitreichenden Aufgabenzuweisungen an die Organe zur gemeinsamen Wahrnehmung nicht deutlich an dem Interesse einer ordnungsgemäßen Aufgabenerfüllung ausgerichtet ist. Vielmehr sind die institutionellen Rahmenbedingungen vorrangig darauf gerichtet, eine hinreichende Abstimmung der mitgliedstaatlichen Interessen mit dem Gemeinschaftsinteresse zu ermöglichen. Doch tritt die mit Gewaltenteilungsgrundsatz gleichzeitig verfolgte Zielsetzung der Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Aufgabenwahrnehmung in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum „institutionellen Gleichgewicht“ erkennbar in Erscheinung, indem er dieses Anliegen seinen Begründungen jeweils zugrunde legt. So wird bei seiner Rechtsprechung zu den Beteiligungsrechten des Parlaments sowie der Bestimmung der im Einzelfall heranzuziehenden Rechtsgrundlage deutlich, dass der Gerichtshof als eine Grundvoraus___________ 613

Siehe zum Begriff der output-Legitimität nur Schliesky, 153 „Die outputLegitimität beschreibt die Leistungsdimension der Herrschaftsgewalt und nimmt die Ergebnisse der Herrschaftsgewalt in den Blick; sie hängt von der Fähigkeit der Herrschaftsgewalt ab, effiziente und effektive Problemlösungen zu erbringen, die den Bedürfnissen, Wünschen und Zielen der Regierten entsprechen.“; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 522.

264

E. Gegenüberstellung der beiden Begriffe und ihrer Bedeutungen

setzung einer ordnungsgemäßen Aufgabenwahrnehmung durch die Gemeinschaftsorgane deren gleichberechtigtes Verhältnis untereinander ansieht. Der Gerichtshof weist demnach dem „institutionellen Gleichgewicht“ keine Funktion zu, die unter Bezugnahme der jeweiligen Vertragsbestimmungen für jeden Politikbereich einzeln zu bestimmen ist, sondern sieht seine Bedeutung vielmehr in der Gewährleistung der allgemeinen Grundlagen einer gewaltenteiligen Entscheidungsfindung.

IV. Herrschaftslegitimation Wie schließlich auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit bereits aufgezeigt worden ist, entspricht es einer allgemeinen Erfahrung, dass der Bestand einer Gemeinschaft nur als in gewisser Weise dauerhaft gesichert bezeichnet werden kann, wenn diese sich über materielle und zweckgebundene Erwägungen hinaus auf übergeordnete und allgemeinverbindliche Ideen überzeugend berufen und sich demnach auf einer ideellen Ebene zu rechtfertigen vermag.614 Nur unter solchen Bedingungen wird die ausgeübte Herrschaftsgewalt als rechtlich verbindlich angesehen und kann eine berechtigte Erwartung von Seiten der Herrschenden entstehen, von den Herrschaftsunterworfenen anerkannt und gerade in Krisenzeiten weiterhin bei ihren Tätigwerden unterstützt zu werden. Um eine rein formalistische Betrachtung einer Rechtsordnung zu vermeiden, sollten diese Wirkungen demnach auch eine ausreichende Berücksichtigung im Rahmen einer rechtlichen Beurteilung der gleichfalls Herrschaft ausübenden Europäischen Union finden.615 So stellt im Hinblick auf die Europäische Union ___________ 614

Schliesky, 160; Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns – Band II, 280; zu den verschiedenen Gründen der Legitimitätsgeltung Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 124; gegen eine Übertragung dieser allgemeinen Vorstellungen auf die Gemeinschaftsrechtsordnung siehe aber nur Haltern in: 9 ELJ 2003, 13 (43) „The Euroconsumer can easily do without constitutional pathos. What she needs is the possibility of free movement of goods, persons, and capital, freedom of establishment and to provide services, and a good measure of consumer protection. (…) The Union could be the first polity that adapts to the new conditions of today’s postmodern existence of its citizens. It could renounce stories of shared values and historically situated commonality, and could, instead, take seriously its citizens’ psychology. In practical terms, this is already the case.“ 615 Nettesheim in: Liber Amicorum Häberle, 193 (194); Weiler in: Curtin/Heukels, 23 (29) „It appears to me that, even to a body of social scientists, it is a totally serious, and possibly longer lasting enterprise, to try and define European integration in terms of its ideals and not only in terms of its structural, processual and material components. It is an enterprise which will help locate the idea of the Community in the flow of European intellectual history.“; Haltern in: 9 ELJ 2003, 13 (17) „Social scepticism is, in fact, not the exclusive domain of empirical sociology. Rather, it is closely and, indeed, inseparably linked with the domain of law. Social legitimacy, then, is a matter of legal consid-

IV. Herrschaftslegitimation

265

als eines zunächst hauptsächlich wirtschaftlich motivierten Zusammenschlusses und Zweckverbandes und mangels vorrechtlicher Voraussetzungen eine solche umfassende Legitimationsbegründung eine überragend wichtige Aufgabe dar.616 Schon aufgrund des erheblichen und ständig zunehmenden Maßes an persönlicher Betroffenheit der einzelnen Unionsbürger durch gemeinschaftsrechtliche Regelungen ist ihre Anerkennung von besonderer Wichtigkeit. Verstärkend kommt hinzu, dass trotz entsprechender Bemühungen – wie der Einführung einer Unionsbürgerschaft durch Art. 17 EGV – im Rahmen dieser Organisationsform bisher eine gemeinsame und integrierend wirkende Identitätsbildung nur sehr eingeschränkt stattgefunden hat. Die in diesem Zusammenhang aufgetretenen Schwierigkeiten werden noch beachtlicher, wenn ausreichend Berücksichtigung findet, dass diese gemeinsame Identitätsbildung bisher keineswegs die bisherigen einzelstaatlichen Identitäten vollständig ablösen soll, sondern lediglich neben sie mit Wirkung für den Europäischen Integrationsprozess treten soll.617 Neben diesen im europäischen Zusammenhang auftretenden Besonderheiten gestaltet sich jedoch bereits aufgrund der in jeder Gesellschaft insgesamt verstärkt auftretenden Pluralisierungstendenzen die Bestimmung übergeordneter Ordnungsprinzipien zunehmend schwieriger. Demnach kommt dem Recht eine immer größere, jedoch nicht – zumindest bei Ablehnung eines strengen Rechtspositivismus – die alleinige Bedeutung bei der Legitimationsbegründung einer Herrschaft zu.618 Im Rahmen einer Herrschaftslegitimation werden somit auch im europäischen Zusammenhang zwei verschiedene Ansätze verfolgt, die indes eng miteinander verbunden sind. Zum einen wird mit dem allgemeinen Bekenntnis zu ___________ eration, and deserves attention from the perspective of the law.“; siehe aber auch Dyèvre in: 30 ELRev. 2005, 165 (169); Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 319. 616 Beetham/Lord in: Weale/Nentwich (Hrsg.), 15 (17); Langenfeld in: ZRP 2005, 73 (75); von Simson in: FS Kutscher 1981, 481 (482); Dyèvre in: 30 ELRev. 2005, 165 (186); Schliesky, 408. 617 Siehe in diesem Zusammenhang aber auch Nettesheim in: Liber Amicorum Häberle, 193 (198) „Die Vorstellung, dass sich die Europäer zu einer nationalen politischen Gemeinschaft entwicklen könnten, ohne dass dies Auswirkungen auf die nationale Identität hätte, ist illusorisch.“ 618 Sobota, 271 „Wenn Herkommen und Religion nicht mehr hinreichen, um die staatliche Ordnung zu tragen, konzentriert sich die Legitimations- und Organisationslast immer stärker auf das Recht. Im Gegensatz zu Tradition, Glaube und Moral ist Recht, zu einer eigenständigen Ordnung ausdifferenziert, eine neutrale Normenquelle, die bewusst geformt und gewandelt werden kann.“; Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns – Band I, 361; Haltern, Europarecht und das Politische, 308; Nettesheim in: Liber Amicorum Häberle, 193 (198); siehe zur Unterscheidung von Legitimität und Legalität nur Schliesky, 169.

266

E. Gegenüberstellung der beiden Begriffe und ihrer Bedeutungen

gewissen und allgemeinverbindlichen Grundwerten und der damit zugrunde liegenden Vorstellung der Europäischen Union als einer Wertegemeinschaft eine legitimationssteigernde Wirkung zu erzielen versucht. Ungeachtet der bestehenden Schwierigkeiten bei der Bestimmung der europäischen Gemeinsamkeiten zählen zu diesen Werten – wie sich ausdrücklich auch aus Art. 6 I EUV ergibt – unter anderem die Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten Als identitätsbildend ist in diesem Zusammenhang zunächst und vor allem auf die Individualrechtsprechung des Gerichtshofs zu verweisen, durch die als eine gemeinsame Grundlage eines europäischen Volkes für jeden Unionsbürger – über die im positiven Recht bereits enthaltenen Rechte – zusätzlich Rechte konkretisiert und weiterentwickelt worden ist. Darüber hinaus ist auf die Rechtsstaatlichkeit und damit den Gewaltenteilungsgrundsatz als einer besonderen Einzelausprägung dieses Grundprinzips zu verweisen. Mittelbar kann demnach die fortlaufende Anerkennung des „institutionellen Gleichgewichts“ als der gemeinschaftsrechtlichen Entsprechung des aus dem einzelstaatlichen Bereich bekannten Gewaltenteilungsgrundsatzes durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs legitimierend wirken. Doch tritt diese Werteorientierung für den Einzelnen nicht immer deutlich in Erscheinung, sondern überwiegt weiterhin zumeist die allgemeine Wahrnehmung der Europäischen Union als eines vorrangig wirtschaftlichen Zusammenschlusses.619 Zum anderen wird eine verstärkte Legitimationsbildung der Europäischen Union gerade im Rahmen eines dynamischen Integrationsprozesses und einer ständigen Auseinandersetzung versucht zu erzielen, der nachfolgend zu einer politischen und gesellschaftlichen Identitätsbildung führen soll. Diese legitimationsbildenden Prozesse werden im Allgemeinen unter den Oberbegriff der input-Legitimität oder aber der Verfahrenslegitimation zusammengefasst.620 Grundsätzlich ist festzustellen, dass bereits aufgrund der wechselnden Bedeutung, die den Grundüberzeugungen in einer Gesellschaft zukommen, eine maß___________ 619

Harlow in: 23 Yearbook of European Law 2004, 57 (73); Haltern in: 9 EJL 2003, 14 (27) „There is hardly anything new in noting that the Union is of little use as a projection surface for emotional identification. Jacques Delors, as President of the European Commission, remarked that ‚you don’t fall in love with an internal market without borders‘. Basically, the whole debate about democracy and legitimacy is about little else.“; siehe aber auch Köppen, 249. 620 Zum Begriff der input-Legitimität siehe nur allgemein Schliesky, 152f. „Unter input-Legitimität wird die Beteiligungsdimension der Herrschaftsunterworfenen verstanden, die als kennzeichnend für das neuzeitliche demokratische Staatsmodell gesehen wird; der Grad der input-Legitimität bestimmt sich nach dem Maße, in dem die Bürger durch demokratische Verfahren an der Entscheidungsfindung beteiligt sind.“; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 522; Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns – Band I, 358.

IV. Herrschaftslegitimation

267

gebliche Wertebestimmung auch nur im Rahmen eines dauerhaften und integrierend wirkenden Prozesses der öffentlichen Verständigung stattfinden kann.621 Die bereits angelegte Werteorientierung der Europäischen Union zeigt sich demnach dadurch, dass im Rahmen der verschiedenen Entscheidungsprozesse fortlaufend über den Rang der verschiedensten Werte in der Gemeinschaft durch alle interessierten Beteiligten gleichberechtigt diskutiert werden kann. Von besonderer Wichtigkeit ist für eine solche dauerhafte Verständigung gerade im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Organen folglich die Offenheit dieser Kommunikationsprozesse auf der europäischen Ebene.622 Der Kreis der an dieser Entwicklung beteiligten Kräfte ist nicht zuvor festzulegen. Vielmehr müssen gerade aufgrund der noch nicht gegebenen gemeineuropäischen Identität623 im Rahmen des „institutionellen Gleichgewichts“ gleichberechtigte Möglichkeiten für die verschiedenen europäischen gesellschaftlichen Kräfte bestehen, sich an der zukünftigen – und für die nachfolgende Handlungskoordinierung notwendigen – Zielbestimmung sowie der allgemeinen Schaffung eines gemeinsamen Wertekonsensus beteiligen zu können.624 ___________ 621

Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 119 (136) „Geistige Kollektivgebilde sind als Teile der Wirklichkeit nicht statisch daseiende Substanzen, sondern die Sinneinheit reelen geistigen Lebens, geistiger Akte. Ihre Wirklichkeit ist die einer funktionellen Aktualisierung, Reproduzierung, genauer einer dauernden geistigen Bewältigung und Weiterbildung – nur in diesem Prozeß und vermöge dieses Prozesses sind sie oder werden sie in jedem Augenblick von neuem wirklich.“; Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns – Band I, 413; Schliesky, 500; Harlow in: 23 Yearbook of European Law 2004, 57 (59); Habermas, Faktizität und Geltung, 217; Kotzur in: DÖV 2005, 313 (321); kritisch Kelsen, Der Staat als Integration, 47; Seelmann, Rechtsphilosophie, 169. 622 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns – Band II, 136 „An diesem Grundzug der Sprache kann man sich klarmachen, was es bedeutet, wenn die sakral begründeten Institutionen nicht nur lenkend, präformierend und präjudizierend durch die Verständigungsprozesse hindurchgreifen, sondern selber auf die Bindungseffekte der sprachlichen Konsensbildung angewiesen sind. Dann vollzieht sich die soziale Integration nicht mehr unmittelbar über institutionalisierte Werte, sondern über die intersubjektive Anerkennung der mit Sprechhandlungen erhobenen Geltungsansprüche.“; siehe für entsprechende Bemühungen nach den gescheiterten Verfassungsreferenden nur Jeannette Goddar „Politur für Europas verblassende Sterne“ in: Das Parlament Nr. 28/29 vom 11./18. Juli 2005, 7; siehe aber auch Köppen, 245. 623 Wahl in: JZ 2005, 916 (921); Kotzur in: DÖV 2005, 313 (313); Haltern in: 9 ELJ 2003, 13 (18) „The reason for the curious and specifically European dilemma is not a lack of transparency. Rather, the problem is that the Union texts are merely texts, and nothing more. They are not our texts. They lack constitutive social meaning. In the EU, meaning must be constructed and maintained in different ways, namely by ceaseless political action. The myth of never-ending progression in the Union is a veil that hides the double failure of Union law. That failure consists of its inability to store meaning; also, it is impossible to retrieve meaning by reading and interpreting the Union’s law.“ 624 Everling in: FS Ipsen 1977, 595 (612); Craig in: 3 ELJ 1997, 105 (129); Schliesky, 501; von Simson in: FS von der Groeben 1987, 391 (404); für nur eine sehr eingeschränkte Möglichkeit einer solchen gemeinsamen Wertebestimmung siehe aber

268

E. Gegenüberstellung der beiden Begriffe und ihrer Bedeutungen

So kann bereits von den jeweiligen Institutionen und den unter ihrer Beteiligung stattfindenden Entscheidungsprozessen eine erhebliche soziale Integrationswirkung ausgehen. Damit einhergehend wird die Bedeutung der zwischen den einzelnen Institutionen zur Anwendung kommenden Verfahren zumeist in ihrer gesellschaftlich stabilisierenden Wirkung gesehen. Doch muss gleichzeitig Berücksichtigung finden, dass die Einrichtung bestimmter Institutionen sowie von bestimmten Entscheidungsverfahren darüber hinaus schon vorweggenommene Entscheidungen darstellen können, so dass sie fortlaufend diesbezüglich beobachtet und hinterfragt werden müssen. Weiterhin ermöglichen Zuständigkeiten und Einzelbefugnisse nicht nur bestimmte Handlungsweisen. Vielmehr stellen sich mit ihnen verbundene wichtige Folgefragen zur politischen Verantwortlichkeit. Sofern sie im Einzelfall gerade nicht wahrgenommen werden, kann mit dem Verweis auf sie und der gleichzeitigen Formulierung rechtspolitischer Zielsetzung ein gewisser Handlungsdruck auf die jeweils betroffenen Akteure ausgeübt werden. Im Hinblick auf die Legitimationsbegründung kommt ferner dem Europäischen Parlament als dem unmittelbar von den Unionsbürgern gewählten Organ auf der supranationalen Ebene eine besondere Rolle zu, so dass dessen Mitwirkung im Rahmen der bestehenden Zuständigkeiten auch weiterhin ausgeweitet werden sollte.625 So bietet nur dieses Organ im institutionellen Rahmen der Gemeinschaftsrechtsordnung die Möglichkeit zur Vertretung der Partikularinteressen, die miteinander in Wettstreit treten können. Erst nach entsprechender Aufarbeitung europäischer Fragen lassen sich im Weiteren Kompromisse finden, die auch als sachgerecht angesehen werden können. Eine vermittelte Legitimation nur über die Vertreter der Mitgliedstaaten im Ministerrat ist demgegenüber als nicht ausreichend anzusehen.626 ___________ auch wiederum nur Haltern in: 9 EJL 2003, 14 (27) „It has no deep structure that allows it to switch to a perspective of will. Unlike national legal orders, the Union legal order is what it professes to be: a legal order originating from contract and exhausting itself in reason and interest. The Union has no subtext of will, and hence battles with the fatal difficulty to explain to us, its citizens, why its legal order is uniquely ours.“ 625 Craig in: 3 ELJ 1997, 105 (116); Grams, 146 „Die bisher ungenügende unionsspezifische Legitimität der Exekutivrechtssetzung durch den Rat und die Kommission kann nicht damit gerechtfertigt werden, dass es Eigenart des Integrationsprozesses sei, technisch-administrative Sachgebiete wie im Umweltschutz, wie die Sicherheit der Atomenergiewirtschaft, der Währungsstabilität usw. zu normieren. Das wird in Deutschland auch getan, und trotzdem wird niemand parlamentarische Gesetzgebung deshalb grundsätzlich für entbehrlich halten.“; Borchardt, 136, Rn. 327; mit gewissen Einschränkungen so auch Streinz, 113, Rn. 326. 626 Everling in: FS Ipsen 1977, 595 (610); Streinz, 113, Rn. 326; einschränkend Craig in: 3 ELJ 1997, 105 (117).

IV. Herrschaftslegitimation

269

Gerade im Hinblick auf einen solchen allgemeinen Diskurs besteht in der Gemeinschaftsrechtsordnung indes noch ein gewisser Handlungsbedarf, da europäische Diskussionen unter einer wirksamen und gleichberechtigten Beteiligung aller Betroffenen und damit unter idealen Bedingungen noch kaum stattfinden. So lenken bisher nur bestimmte, besonders gut organisierte Interessengruppen gezielt Aufmerksamkeit auf ihre Belange durch öffentlichkeitswirksame Aktionen sowie konsequenzorientierten Sprachgebrauch und schöpfen die gegebenen Beteiligungsmöglichkeiten wirksam aus.627 Zwar ist der Entwurf einer „idealen Kommunikationsgemeinschaft“628 nicht vollständig überführbar in die Wirklichkeit, doch muss er als allgemeine Zielsetzung und Ausgangspunkt weiterführender Bewertungen dienen, da die von bestimmten Gruppen besonders deutlich vertretenen Interessen nachfolgend im politischen Prozess auch eine vorrangige Bedeutung erhalten. Fraglich ist demnach, ob diese gerade beschriebene Entwicklung einer teils einseitigen Interessenvertretung auf das bestehende „institutionelle Gleichgewicht“ zurückzuführen ist und es sich demnach um eine bereits allgemein strukturbedingte Erscheinung handelt. Sofern das „institutionelle Gleichgewicht“ in dieser Hinsicht als nicht ausreichend anzusehen wäre und die ihm zugewiesenen sozialen Funktionen nicht erfüllte, hätte dies nicht nur weitreichende Auswirkungen für den allgemeinen Europäischen Integrationsprozess. Aufgrund der teils weitreichenden Vorbildfunktion der Gemeinschaftsrechtsordnung für die Zusammenarbeit von Staaten in anderen Regionen könnte ein damit möglich erscheinendes Scheitern des europäischen Einigungsprozesses weitreichende Fernwirkungen in der von Alexander Hamilton im Rahmen der Amerikanischen Verfassungsgebung wie folgt beschriebenen Art und Weise haben: „If there be any truth in the remark, the crisis at which we are arrived, may with propriety be regarded as the period when that decision is to be made; and a wrong election of the part we shall act, my, in this view, deserve to be considered as the general misfortune of mankind.“629 ___________ 627 Zu dieser allgemein zu beobachtenden Erscheinung und ihrem Verhältnis zur „Sprechhandlung als Modell für verständigungsorientiertes Handeln“ siehe nur Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns – Band I, 388. 628 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns –Band II, 163 „Die Konstruktion des unbegrenzten und unverzerrten Diskurses kann man den uns bekannten modernen Gesellschaften allenfalls als eine Folie mit der Absicht unterlegen, undeutliche Entwicklungstendenzen in grelleren Konturen hervortreten zu lassen.“; siehe hierzu auch Alexy, 158ff. 629 Alexander Hamilton, The Federalist No. I, 1; siehe für eine eingeschränkte, aber immerhin bestehende Vergleichbarkeit der beiden verfassungsgebenden Prozesse Michael Elliot, The Decline and Fall of Rome, in: Time Magazine, June 13, 2005, 20; für die allgemeine Attraktivität der Europäischen Union für Drittstaaten siehe nur Jan Ross, „Mut zur Freiheit“ in: Die Zeit Nr. 6 vom 3. Februar 2005.

270

E. Gegenüberstellung der beiden Begriffe und ihrer Bedeutungen

Bei einer näheren Betrachtung scheint es sich jedoch bei den bisher noch nicht von allen Beteiligten genutzten Mitwirkungsmöglichkeiten um einen auch in der europäischen Zivilgesellschaft angelegten Grund zu handeln. So bietet das „institutionelle Gleichgewicht“ zum einen gezielt den verschiedenen Beteiligten im Rahmen der Organe die Möglichkeit zur gegenseitigen Interessenabstimmung und kann damit eine erhöhte Problemlösungsfähigkeit zur Folge haben.630 Zusätzlich ist vor einem Gesetzgebungsverfahren häufig ein Austausch mit betroffenen Dritten vorgesehen, die somit auf die besondere oder aber abweichende Regelungsbedürftigkeit bestimmter Bereiche aufmerksam machen können. Zum anderen trägt das „institutionelle Gleichgewicht“ durch die gegenseitig ausgeübten Überwachungsfunktionen nicht nur zur inhaltlichen Richtigkeit der getroffenen Entscheidungen, sondern auch zu ihrer Anerkennung durch die in die Entscheidungsfindung einbezogenen betroffenen Interessengruppen insgesamt bei.631 Betrachtet man die Wirkungsweisen des „institutionellen Gleichgewichts“ in ihrer Gesamtheit lässt sich somit abschließend feststellen, dass ungeachtet der bestehenden Abweichungen von den jeweiligen mitgliedstaatlichen Ausprägungen des Gewaltenteilungsprinzips diese wichtigen Anforderungen zur Herrschaftslegitimation auch in der Gemeinschaftsrechtsordnung als erfüllbar beurteilt werden können. Dass tatsächlich eine umfassende Herrschaftslegitimation in dem Sinne, dass die Europäische Gemeinschaftsrechtsordnung eine dauerhafte Legitimation erfährt, nicht stattfindet, ist demgegenüber auf zwei Umstände zurückzuführen. Zum einen kann die Legitimation einer Herrschaftsausübung – auch im einzelstaatlichen Zusammenhang – jeweils nicht dauerhaft, sondern nur fortlaufend stattfinden.632 Zum anderen ist die tatsächlich gering gebliebene und wohl auch bleibende Legitimation dieser Rechtsordnung als unmittelbare Folge ihrer Gesamtstruktur anzusehen. Mit ___________ 630 Siehe für den amerikanischen Einigungsprozess nur Alexander Hamilton, The Federalist No. I, 1 „It has been frequently remarked, that, it seems to have been reserved to the people of this country, to decide by their conduct and example, the important question, whether societies of men are really capable or not, of establishing good government from reflection and choice, or whether they are for ever destined to depend, for their political constitutions, on accident and force.“; einschränkend Harlow in: 23 Yearbook of European Law 2004, 57 (85); Oppermann in: JZ 2005, 1017 (1020); Hienbaum in: 32 Rechtstheorie 2001, 393 (401); für einen insbesondere um Wertneutralität bemühten Ansatz siehe nur Haltern, Europarecht und das Politische, 517. 631 Haltern in: 9 ELJ 2003, 13 (27) „The Union, however, witnesses a debate that is fiercer than others, possibly because the foundations of its legitimacy are in question. The reason is precisely this: the Union legal order, as a purely rational order, is unable to use the same resources as the Nation State. It has no deep structure that allows it to switch to a perspective of will.“; Weiler in: Curtin/Heukels, 23 (40). 632 Siehe in diesem Zusammenhang weiterführend zur allgemeinen Frage einer Identitätsbildung und ihrer Grenzen Hienbaum in: 32 Rechtstheorie 2001, 393 (413).

V. Schlussbetrachtung

271

dem Prinzip der begrenzten Ermächtigung, das grundsätzlich von der Notwendigkeit einer Kompetenzübertragung ausgeht, sowie den von der Gemeinschaft wie den Mitgliedstaaten gemeinsam wahrgenommenen Kompetenzen weist die Gemeinschaftsrechtsordnung bereits eine Grundstruktur auf, die einer fortlaufenden, zumindest aber einer umfassenden Herrschaftslegitimation entgegensteht.633 Diese Umstände müssen zwar nicht zwangsläufig zu nachteiligen Folgen führen. Da das Verhältis zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft sich jedoch aufgrund von Vertragsänderungen wie auch der Rechtsprechung des Gerichtshofs – insbesondere zum Anwendungsbereich bestimmter Rechtsgrundlagen – deutlich zugunsten letzterer verschoben hat, bedarf es weiterführender Bemühungen, gerichtet auf eine umfassendere Herrschaftslegitimation. Bis es zu einer Annäherung an dieses Endziel kommt, das wohl nur auf dem Wege einer umfassenden Vertragsumgestaltung erreicht werden könnte, kommt dem institutionellen Gleichgewicht als einem institutionalisierten Verfahren zur Kompromissfindung weiterhin eine besondere Bedeutung zu.

V. Schlussbetrachtung Zusammenfassend ist festzustellen, dass das „institutionelle Gleichgewicht“ mit gewissen Einschränkungen vergleichbare Funktionen wie der aus dem einzelstaatlichen Bereich bekannte Gewaltenteilungsgrundsatz erfüllt. So ist hinsichtlich der Verhinderung eines immer möglichen Machtmissbrauchs zu beachten, dass die Überwachungsmöglichkeiten der Organe untereinander – insbesondere des Europäischen Parlaments – unter Berufung auf diesen Grundsatz der Gemeinschaftsrechtsordnung vom Europäischen Gerichtshof fortlaufend gestärkt und gesichert worden sind. Des Weiteren sieht der Gerichtshof die Sicherstellung der Mitwirkungsrechte der verschiedenen Organe im Rahmen der Gesetzgebung als eine seiner Hauptaufgaben an. Zwar unterliegen diese Beteiligungsrechte durch Vertragsänderungen und auch interinstitutionellen Absprachen einem gewissen Wandel. Eine Entwicklung dahingehend, dass einem Organ kein eigenständiger Aufgabenbereich und damit keine Unabhängigkeit gegenüber den anderen Institutionen zukommt, lässt sich indes nicht feststellen. Im Weiteren sind diese tatsächlichen Einflussmöglichkeiten auf die Zielsetzungen und damit einhergehend auf die Ausgestaltung des Integrationsprozesses als notwendige Voraussetzungen dafür anzusehen, dass ___________ 633

Siehe für mögliche weitere Folgen dieser fehlenden Vollständigkeit – „Einheit“ der europäischen Rechtsordung nur Ballaguer Callejón in: Liber Amicorum Häberle, 311 (321).

272

E. Gegenüberstellung der beiden Begriffe und ihrer Bedeutungen

nicht ein Organ allein tätig werden kann und somit ein Machtmonopol entsteht. Die Vermeidung der Entstehung eines solchen Machtmonopols auf der Gemeinschaftsebene war schließlich von vornherein im Interesse der Mitgliedstaaten. So sollten die bereits im institutionellen Aufbau angelegten weitreichenden Gewaltenverschränkungen ihre einzelstaatliche Souveränität vor einem immer weiter fortschreitenden und sich möglicherweise verselbständigenden Integrationsprozess ausreichend schützen. Die individualrechtliche und freiheitssichernde Wirkungsrichtung des „institutionellen Gleichgewichts“ ist demgegenüber erst mit der weiteren Entwicklung der Gemeinschaftsrechtsordnung zu einer Werte- und Rechtsgemeinschaft deutlicher in Erscheinung getreten. Mit der Begründung eines gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes durch den Europäischen Gerichtshof sowie auch der zunehmenden Vergemeinschaftung weiterer Aufgabenbereiche mit engem gesellschaftlichen Bezug – unter anderem des Verbraucherschutzes, der Kultur, der allgemeinen und beruflichen Bildung und Jugend – ist der einzelne Unionsbürger mit seinen über eine wirtschaftliche Betätigung hinausgehenden Belangen immer mehr in den Vordergrund gerückt. Die Sicherstellung des „institutionellen Gleichgewichts“ mit Rücksicht auf die notwendige Beteiligung der verschiedenen Organe dient in diesem Zusammenhang gerade einer möglichst umfassenden Interessenvertretung und damit auch mittelbar dem Individualrechtsschutz. Darüber hinaus ist für die Sicherstellung dieser Rechte als eine Grundvoraussetzung die Möglichkeit einer wirksamen gerichtlichen Überprüfung durch den einzelnen Unionsbürger anzusehen, die zwar auf der Gemeinschaftsrechtsebene unter ausschließlicher Bezugnahme auf das „institutionelle Gleichgewicht“ noch keine Verstärkung erfahren hat, aber von den nationalen Gerichten gewährleistet wird. Zwar kann allgemein in Zweifel gezogen werden, inwieweit unter Zugrundelegung eines modernen Staatsverständnisses dieser individualorientierten Wirkungsrichtung des Gewaltenteilungsgrundsatzes noch eine vorrangige Bedeutung im einzelstaatlichen Bereich zukommt. Eine entsprechende Änderung des Verständnisses des Verhältnisses des Einzelnen zu den Herrschaft ausübenden Organen ist zumindest in der Gemeinschaftsrechtsordnung jedoch nicht im gleichen Ausmaß festzustellen. So tritt die Europäische Union weiterhin hauptsächlich in ihrer Funktion, die rechtlichen Rahmenbedingungen für den weiteren Integrationsprozess durch Rechtsvereinheitlichung und -angleichung zu schaffen, in Erscheinung. Trotz der zahlreichen, gemeinschaftsrechtlich gewährten Leistungen – insbesondere in Form von Förderungsmaßnahmen – ist mangels einer gemeinsamen und umfassenden Sozialpolitik eine Wahrnehmung der Mehrheit der Unionsbürger als Anspruchsinhaber gegenüber der Europäischen Union noch nicht in vergleichbarer Weise wie im einzelstaatlichen Zu-

V. Schlussbetrachtung

273

sammenhang ausgeprägt.634 Die freiheitssichernde Wirkung des „institutionellen Gleichgewichts“ ist somit weiterhin in der Gemeinschaftsrechtsordnung zu betonen und sicherzustellen. Bei einer ersten Betrachtung des vertraglich vorgesehenen institutionellen Rahmens ist dessen vorrangige Ausrichtung am Interesse einer ordnungsgemäßen Wahrnehmung der übertragenen Aufgaben nicht erkennbar. Vielmehr geht mit den bestehenden Beteiligungsrechten regelmäßig eine Verlängerung des Entscheidungsfindungsprozesses einher, die jedoch teils nicht mit entsprechenden Überwachungsmöglichkeiten korrespondieren oder allgemein zu schwach ausgebildet sind. In Sachlagen, die durch einen besonderen Handlungsbedarf gekennzeichnet sind, können diese weitgehenden Gewaltenverschränkungen zwischen den Organen einer ordnungsgemäßen Wahnehmung der vertraglich ausdrücklich vorgesehenen Aufgaben demnach gegebenenfalls entgegenstehen.635 Dass hiervon ausgehend die Vorstellung eines „institutionellen Gleichgewicht“ gleichwohl eine ordnungsgemäße Aufgabenwahrnehmung begünstigen könnte, muss demnach fraglich erscheinen. Doch muss gleichzeitig ausreichend Berücksichtigung finden, dass häufig erst durch die Mitwirkung der an verschiedenen Interessen ausgerichteten Organen sachgerechte Lösungen gefunden werden können und erst nach Abstimmung der Partikularinteressen abschließend überhaupt ein Allgemeininteresse im Sinne eines „Gemeinschaftsinteresses“ formuliert werden kann.636 Entscheidend ist in diesem Zusammenhang damit das jeweils zugrunde gelegte Verständnis der von der europäischen ___________ 634

Siehe weiterführend nur Nettesheim in: Liber Amicorum Häberle, 193 (206); sowie den am 21. April 2005 erschienenen Artikel „Wo bleiben die kleinen Leute“ von Petra Pinzler in: Die Zeit Nr. 17 „Die Debatte muss nicht in Regulierungswut münden. Doch wenn die Union mehr als ein gemeinsamer Markt sein will, braucht sie einen neuen Konsens über soziale Minimalstandards. So zu tun, als ob sich alle sozialen Probleme national lösen ließen, ist nicht nur unsensibel, sondern auch schlechte Wirtschaftspolitik.“ 635 Zippelius in: FS Eichenberger 1982, 147 (156) „Es liegt auf der Hand, dass die Forderung nach Dekonzentration, struktureller Vielfalt und Funktionenteilung nicht radikalisiert werden darf, weder im Bereich der Staatsorganisation, noch in dem der sozialen Gewalten, noch auch im internationalen Bereich. Stets müssen die Grenzen gesehen werden, die jeder Dekonzentration und Funktionenteilung gesetzt sind. (...) Alle Maßnahmen, die auf strukturelle Vielfalt und Funktionenteilung zielen, dürfen nicht zur politischen Desintegration führen, also nicht dazu, dass die Befriedigungsfunktion und die unentbehrlichen Steuerungsfunktionen des politischen Gesamtsystems unwirksam werden. Dem entspricht es, dass für den staatlichen Bereich die klassische Gewaltenteilung nie isolierende Gewaltentrennung bedeutet hat, sondern immer nur Balance und wechselseitige Kontrolle kooperierender Gewalten.“ 636 Schroeder, 362; Harlow in: 23 Yearbook of European Law 2004, 57 (60); Verhoeven, The EU in Search of a Democratic and Constitutional Theory, 210 „(…) the Union’s institutional balance does not rest on an organic separation of powers but rather on a balanced interaction between representatives of various interests.“

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E. Gegenüberstellung der beiden Begriffe und ihrer Bedeutungen

Herrschaftsgewalt wahrgenommenen Aufgaben. Nur wenn man als eine dieser Aufgaben über den Vertragstext hinausgehend die Schaffung eines Interessenausgleichs zwischen den Mitgliedstaaten und den gemeinschaftsorientierten Organen anerkennt637, kann dem „institutionellen Gleichgewicht“ als Ausdruck einer differenzierten Organstruktur eine besondere Bedeutung bei der ordnungsgemäßen Aufgabenwahrnehmung zugewiesen werden. Schließlich kann durch die gegenseitige und auch inhaltlich ausgeübte Kontrolle die ordnungsgemäße Wahrnehmung der Aufgaben zusätzlich gesichert werden. Lediglich hinsichtlich der unmittelbar legitimationssteigernden Wirkung des „institutionellen Gleichgewichts“ lassen sich somit deutliche Grenzen erkennen. Die mit einer Legitimation der auf der europäischen Ebene ausgeübten Herrschaft verbundenen Schwierigkeiten sind zwar nicht nur auf das „institutionelle Gleichgewicht“ zurückzuführen. So ist – abgesehen von vereinzelten Interessengruppen – eine allgemeine Organisation der verschiedenen Meinungen und Interessen in der Europäischen Union und eine darauf aufbauende Entscheidungsfindung bisher nicht erkennbar. Zwar führt eine Parallelbetrachtung in den mitgliedstaatlichen Gesellschaften zu einem ähnlichen Befund. So erfolgt auch in den einzelnen Staaten die Entscheidungsfindung im Einzelfall nicht unter Beteiligung aller betroffenen gesellschaftlichen Gruppen, sondern wird maßgeblich von bestimmten Eliten beeinflusst. Dieser mit der Zielsetzung einer möglichst umfassenden Repräsentation nur schwer zu vereinbarende Umstand führt indes in den Mitgliedstaaten nicht zu einem vergleichbaren Legitimationsdefizit, da in ihnen doch zumeist – ungeachtet eines auch in ihnen festzustellenden allgemein abnehmenden Wertekonsens – immer noch gewisse Grundauffassungen über den zugrunde liegenden strukturellen Aufbau des Staates und seiner Aufgaben sowie die Stellung des Einzelnen von überwiegenden Teilen der Bevölkerung geteilt werden. Im hiervon abweichenden und erst nachträglich entstandenen europäischen Zusammenhang muss – mangels bereits überwiegend geteilter ideeller und integrierend wirkender Überzeugun___________ 637

Langenfeld in: ZRP 2005, 73 (75); Rummer in: ZEuS 1999, 249 (264) „Mit dem europäischen Modell ist jedoch trotz fehlender Gewaltenteilung ein System gegenseitiger Verschränkungen und Hemmungen (checks and balances) entstanden, dass ähnliche Auswirkungen hat wie das Prinzip der Gewaltenteilung: Das institutionelle Gleichgewicht, das vom EuGH überwacht wird. So besteht im Gesamtgefüge der Organe die Gewaltenbalance zwischen der Kommission, die das Gemeinschaftsinteresse wahrnimmt, und dem Rat, dessen Mitglieder auch ihre eigenen nationalen Interessen zu vertreten haben; das Parlament dagegen vertritt die Völker der Mitgliedstaaten. Dass ein solches ‚originelles Verfassungssystem‘ entstanden ist, ist darauf zurückzuführen, dass die Verbandsgewalt der Europäischen Gemeinschaften auf Liberalisierung, Harmonisierung, Koordinierung und Integration der mitgliedstaatlichen Volkswirtschaften, somit auf eine effektive Funktionswahrnehmung gerichtet war. Die staatsrechtliche Gewaltenteilung wurde dagegen zur Sicherung der individuellen Freiheitssphäre der Bürger entwickelt.“

V. Schlussbetrachtung

275

gen – diese allgemeine Identitätsbildung und individuelle Sinngebung durch das Zusammenwirken mit den anderen Beteiligten im Rahmen formalisierter Entscheidungsprozesse erfolgen. Für einen derartigen Meinungsaustausch muss es zunächst überhaupt Möglichkeiten geben, in deren Rahmen die Einzelnen gleichberechtigt zur Regelung ihrer gemeinsamen Angelegenheiten zusammenwirken können. Im Hinblick auf diese Vorbedingungen kann das „institutionelle Gleichgewicht“ durchaus einen wichtigen Beitrag leisten. Hinsichtlich der Beteiligung an den verschiedenen Abstimmungsprozessen wird auch nochmals die enge Beziehung des „institutionellen Gleichgewichts“ mit dem Demokratieprinzip deutlich. Die Herausbildung einer vergleichbaren und legitimationsfördernden gemeinsamen europäischen Identität unmittelbar durch das „institutionelle Gleichgewicht“ ist jedoch bisher – trotz der in seinem Rahmen gerade gewährleisteten Möglichkeiten des Dialogs – nicht absehbar. So muss vielmehr festgestellt werden, dass die Vielzahl der in der Gemeinschaftsrechtsordnung getroffenen Maßnahmen teils als Überregulierung der persönlichen Lebensverhältnisse wahrgenommen werden und demnach gerade desintegrierend wirken kann. Zur Entwicklung einer Legimitationsbegründung der europäischen Hoheitsgewalt, soweit sie unter den bestehenden strukturellen Rahmenbedingungen möglich ist, kann zwar demnach das „institutionelle Gleichgewicht“ bereits einen wesentlichen Beitrag leisten. Daneben müssen aber auch weitere Veränderungen treten, insbesondere eine Bereitschaft zur Verständigung über weitere Ziele des Integrationsprozesses.

F. Endbetrachtung und Zusammenfassung Sowohl nach den gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen wie auch den jeweiligen einzelstaatlichen verfassungsrechtlichen Einbindungen des europäischen Integrationsprozesses – im Näheren durch die jeweiligen „Struktursicherungsklauseln“ sowie die Rechtsprechung der Höchsten Gerichte in den Mitgliedstaaten – sind das Rechtsstaatsprinzip und damit einhergehend auch der Grundsatz der Gewaltenteilung als unverzichtbare Elemente der Gemeinschaftsrechtsordnung anzusehen.638 Zusätzlich ist die angemessene Beachtung dieses Grundsatzes bei der näheren Ausgestaltung der Organverhältnisse in der Gemeinschaftsrechtsordnung schon aufgrund der diesbezüglich erhobenen Forderungen der Europäischen Union gegenüber Drittstaaten geboten. So muss sich eine Europäische Union, die den Status als zukünftiger Beitrittsstaat sowie den eines Empfängerstaates im Bereich der Entwicklungshilfe unter anderem gerade von einer rechtsstaatlichen Staatsorganisation abhängig macht639, an diesem Selbstverständnis gleichfalls selbst messen lassen, um ein gewisses Maß an Glaubwürdigkeit in ihrem internationalen Auftreten zu bewahren. Die nähere inhaltliche Bestimmung dieser Begriffe in ihrem gemeinschaftsrechtlichen Zusammenhang stellt demnach eine Aufgabe von besonderer Wichtigkeit dar, der sich vor allem der Europäische Gerichtshof in seiner Rechtsprechung angenommen hat. Darüber hinaus hat der Europäische Gerichtshof bereits durch seine bewusste Begriffswahl des „institutionellen Gleichgewichts“ eine deutliche Anknüpfung an die mitgliedstaatlichen Vorstellungen zur Gewaltenteilung und den ideengeschichtlichen Hintergrund dieses staatsorganisatorischen Grundsatzes erkennen lassen. Gleichzeitig weist die bestehende sprachliche Abweichung auf die notwendigerweise nur strukturangepasst mögliche Übertragung des Gewaltenteilungsgrundsatzes auf die Gemeinschaftsrechtsordnung hin. So kommt schon aufgrund der Eigenständigkeit der europäi___________ 638 Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, 41f. „Zwei oberste Gestaltungsprinzipien beherrschen die Gemeinschaftsrechtsordnung: Recht (die ‚rule of law‘ – um nicht zu früh von Rechts‚staatlichkeit‘ zu sprechen) und die Demokratie. Alles, was sie bewirkt, muss sowohl rechtlich wie demokratisch legitimiert sein: Gründung, Aufbau, Zuständigkeiten, Funktionen; die Stellung der Mitgliedstaaten und ihrer Organe; die Stellung des Bürgers.“; Fuß in: FS Küchenhoff 1972, 781 (782). 639 Siehe für eine Bewertung wie auch weiterführende Überlegungen für andere europäische Organisationen nur Duxbury in: 73 Nordic Journal of International Law 2004, 421 (450).

F. Endbetrachtung und Zusammenfassung

277

schen Rechtsordnung und der ihr gegenüber den nationalen Rechtsordnungen zukommenden Vorrangigkeit eine direkte Übertragung einzelstaatlicher Vorstellungen nicht in Betracht. Weiterhin lässt der ideengeschichtliche Hintergrund des Gewaltenteilungsgrundsatzes dessen inhaltliche Vielfältigkeit deutlich in Erscheinung treten. Schwierigkeiten ergeben sich demnach bereits bei der Festlegung eines auf die Gemeinschaftsrechtsordnung anwendbaren Maßstabes. Dass ein streng dogmatisches Verständnis des Gewaltenteilungsgrundsatzes den Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts nicht gerecht wird, konnte auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit nachgewiesen werden. So sichern die den einzelnen Gemeinschaftsorganen zugewiesenen und sich häufig überschneidenden Funktionen und damit die weitreichend bestehenden Gewaltenverschränkungen im Gemeinschaftsrecht bisher den so notwendigen Ausgleich der verschiedenen betroffenen Interessen. Erst diese Interessenabstimmung ermöglicht im Weiteren ein von der Allgemeinheit getragenes gemeinsames Handeln. Trotz der zahlreichen Weiterentwicklungen, die dieses Staatsorganisationsprinzip aufgrund sozialer und politischer Veränderungen und auch spezifischer einzelstaatlicher Erfahrungen erfahren hat, spricht im europäischen Zusammenhang viel für eine stärkere Rückbesinnung auf die von Charles de Montesquieu in seinem Werk „Vom Geist der Gesetze“ zugrunde gelegten Vorstellungen. So lassen sich bereits im Rahmen seiner Ausführungen zur Verfassung Englands zumindest mittelbar vier grundsätzliche und verallgemeinerungsfähige Zielsetzungen erkennen, an denen jede Einzelausgestaltung des Gewaltenteilungsgrundsatzes und damit jede Form der Herrschaftsausübung gleichfalls ausgerichtet sein muss. Diesbezüglich sind zunächst zu benennen die eng aufeinander bezogenen ersten zwei Begründungsansätze, die Verhinderung eines Machtmissbrauchs im Interesse einer individuellen Freiheitsbewahrung. Zwar haben diese zunächst im Hinblick auf die Rolle des Einzelnen in einer absoluten Monarchie formulierten Zielsetzungen für den einzelstaatlichen Bereich in gewisser Weise – schon aufgrund des zwischenzeitlich eingetretenen Wandels der Staatsformen und des zugrunde liegenden Staatsverständnisses – an Bedeutung verloren. Für die gerade hinsichtlich ihrer Organstruktur durch ein System gegenseitiger Überwachungsmöglichkeiten gekennzeichnete europäische Rechtsordnung haben diese Begründungsansätze jedoch ihre Bedeutung uneingeschränkt beibehalten können. Dies liegt zum einen an der immer noch nur eingeschränkt bestehenden demokratischen Legitimation der auf dieser supranationalen Ebene ausgeübten Hoheitsgewalt. Die nur über die Direktwahlen zum Europäischen Parlament und mittelbar durch die jeweiligen nationalen Wahlen im Hinblick auf die Ratsvertreter an den Volkswillen gebundene europäische Herrschaft macht es demnach für den einzelnen Unionsbürger wesentlich wichtiger, einen

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F. Endbetrachtung und Zusammenfassung

persönlichen Freiheitsraum im Sinne des „status negativus“ auch durch Organstrukturen sicherzustellen. Zum anderen fehlt es der Europäischen Union bisher immer noch an hinreichenden Möglichkeiten, zur gemeinsamen Identitätsbildung ihrer Herrschaftsunterworfenen entscheidend beizutragen.640 Die damit gering bleibenden Integrationswirkung des europäischen Rechts und den zu seiner Setzung führenden Verfahren machen es somit weiterführend erforderlich, bestehende Befürchtungen in der Bevölkerung vor einer uneingeschränkten und wenig transparenten Herrschaftsausübung gerade durch klare Organstrukturen zu begegnen. So könnte bereits eine verstärkte Betonung dieser allgemeinen Zielsetzungen des Gewaltenteilungsgrundsatzes die Individualorientierung auch dieser Rechtsordnung deutlicher in Erscheinung treten lassen und damit eine größere Anerkennung des Integrationsprozesses zur Folge haben. Als die weiteren zwei Zielsetzungen, an denen ein gewaltenteilig organisiertes Herrschaftssystem auszurichten ist, sind das Interesse an einer ordnungsgemäßen Aufgabenwahrnehmung durch die verschiedenen Organe und die Herrschaftslegitimation zu berücksichtigen. Mit gewissen Einschränkungen lassen sich diese Funktionen auch für den vom Europäischen Gerichtshof zur Kennzeichnung der Gemeinschaftsrechtsordnung verwendeten Begriff des „institutionellen Gleichgewichts“ nachweisen. So findet diese von ihm als Verfassungsprinzip gekennzeichnete Verhältnisbeschreibung einen wichtigen Anwendungsbereich dahingehend, dass die von den Verträgen vorgesehenen Beteiligungs- und Überwachungsrechte der Organe untereinander volle Wirksamkeit entfalten können. Dass gerade die vertragliche Aufgabenzuweisung und damit auch das auf sie aufbauende „institutionelle Gleichgewicht“ jedoch nicht nur ausschließlich am Interesse einer ordnungsgemäßen Aufgabenwahrnehmung ausgerichtet ist, erklärt sich im Weiteren unter Berücksichtigung anderer, gleichwertig zu beachtender Verfassungsprinzipien wie des Demokratieprinzips. Der Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Aufgabenwahrnehmung durch die Gemeinschaftsorgane steht im Übrigen teilweise das Interesse der Mitgliedstaaten entgegen, die ihnen verbleibenden Befugnisse selbstständig wahrnehmen zu können. Das Verhältnis der verschiedenen Ebenen untereinander, dass im Sinne einer „vertikalen Gewaltenteilung“ durch das Subsidiaritätsprinzip und das Prinzip der begrenzten Ermächtigung gekennzeichnet ist, übt demnach gleichzeitig erheblichen und einschränkenden Einfluss auf das „institutionelle Gleichgewicht“ und ___________ 640 Siehe nur allgemein zu dieser Schwierigkeit den Artikel „In Grenzen gut“ von Karl Lamers in: Die Zeit Nr. 20 vom 12. Mai 2005 „Dabei ist das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit das letztlich entscheidende, belastbare Fundament eines politischen Europas. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl ist die eigentliche Vertiefung, die selbst mit der Annahme der Verfassung gefährdet bleibt.“

F. Endbetrachtung und Zusammenfassung

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die Erreichung der mit ihm zu gewährleistenden Zielsetzungen aus. Um dieses – nur nach lang andauernden und sich häufig schwierig gestaltenden Verhandlungen nunmehr erreichte – Verhältnis zwischen den Möglichkeiten einzelstaatlicher Einflussnahme und der darüber hinausgehenden gemeinsamen Zielgestaltung auf der Gemeinschaftsebene insgesamt nicht in Frage zu stellen und damit zu gefährden, ist eine umfassende Verwirklichung einer gewaltenteiligen organisierten Struktur der Gemeinschaft somit wohl in absehbarer Zeit nicht vorgesehen und auch nicht zu fordern. In Anlehnung an vergleichbare Überlegungen zur Verwirklichung des Demokratieprinzips in der Gemeinschaftsrechtsordnung ist eine zunehmende Ausrichtung des Verhältnisses der Gemeinschaftsorgane untereinander am Gewaltenteilungsgrundsatz eng mit der allgemeinen Entwicklung der Europäischen Union verbunden. Solange es sich bei der Gemeinschaft nicht um ein autonomes Herrschaftssystem handelt, sondern vielmehr das Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaftsebene geprägt ist durch die engen Verflechtungen beider Ebenen, werden folglich Mitwirkungs- und Überwachungsrechte weiterhin von den einzelstaatlichen Organen wahrgenommen. Unter Zugrundelegung eines funktionalen Verständnisses der Gewaltenteilung ist diese gemeinsame und damit von beiden Ebenen wahrgenommene Aufgabenerfüllung zunächst auch als zulässig anzusehen. Insbesondere spielt die unterschiedliche Gemeinwohlausrichtung der Organe bei der Verhinderung eines Machtmissbrauchs nicht die ausgeprägte Rolle wie noch bei der demokratischen Legitimation. So behalten die nationalen Parlamente zwar bei der Überwachung der Tätigkeiten der nationalen Ratsvertreter – trotz der damit bestehenden faktischen Eingliederung in die Gemeinschaftsrechtsordnung – ihren mitgliedstaatlichen Status und werden nicht zu Gemeinschaftsorganen. Da bisher ihr Aufgabenbereich aber auch nur die Überwachung des jeweils ihnen rechenschaftspflichtigen Ratsvertreter umfasst, ist dies nicht nachteilig zu bewerten. Die ordnungsgemäße Aufgabenwahrnehmung kann demnach trotz gewisser strukturbedingter Grenzen auch im Rahmen eines Mehrebenensystems durch die verschiedenen Beteiligten ausreichend sichergestellt werden. Wohl eher auf eine allgemeine Schwierigkeit des gesamten Integrationsprozesses zurückzuführen ist, dass die im „institutionellen Gleichgewicht“ immerhin deutlich angelegten Möglichkeiten zu einer europäischen Herrschaftslegitimation bisher nur eine begrenzte Wirksamkeit entfalten konnten.641 Zurückzu___________ 641 Siehe nur allgemein zum Zusammenhang der Beteiligung und Legitimation Craig in: 3 ELJ 1997, 105 (122) „The direct legitimating function flows from the fact that people are more likely to accept the resulting norms where they are involved in their formation, rather than simply having such acts thrust upon them.“; siehe im Übrigen

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F. Endbetrachtung und Zusammenfassung

führen ist diese Feststellung auf den Umstand, dass sich die jeweiligen Beteiligten im europäischen Zusammenhang strukturell bedingt – für bestimmte Regelungsbereiche – überhaupt nur auf einen Diskurs einlassen. Unabhängig von diesem Befund lassen sich aber auch generell Grenzen einer sozialen Integration durch Kommunikationsprozesse feststellen.642 Erschwerend kommt hinzu, dass dem Europäischen Integrationsprozess überwiegend immer noch vorrangig eine rein wirtschaftliche Ausrichtung zuerkannt wird.643 Dass diese Wahrnehmung verbunden mit den Grundfreiheiten und einem gemeinsamen Binnenmarkt den Unionsbürger zwangsläufig auf die Funktion eines Marktbürgers beschränkt, macht eine weiterführende Verständigung über übergeordnete und gemeinsame Werte nicht wahrscheinlicher. Die mit dem „institutionellen Gleichgewicht“ eröffneten Kommunikationsmöglichkeiten finden demnach bisher hauptsächlich auch nur hinsichtlich der Verständigung über wirtschaftliche Fragen Beachtung. Damit einhergehend werden diese Einflussmöglichkeiten überwiegend nur von wirtschaftlichen Interessengruppen wirksam genutzt. Um diesbezüglich zunächst überhaupt eine den bereits eingetretenen Weiterentwicklungen der Europäischen Union angemessene Außenwahrnehmung herbeizuführen, müsste sich unter anderem die nationale Medienberichterstattung sowie im allgemeinen die Vermittlung europäischer Sachverhalte durch die Regierungen der einzelnen Mitgliedstaaten erheblich verändern.644 Die besondere Förderung europaweit herausgegebener Presseerzeugnisse, deren Berichterstattung nicht nur ausschließlich von einer einzelstaatlichen Sichtweise ___________ Harlow in: 23 Yearbook of European Law 2004, 57 (88); Michael Elliot, „The Decline and Fall of Rome“, in: Time Magazine, June 13, 2005, 20f. 642 So auch Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns – Band II, 169. 643 Wie ungeklärt die weitere Entwicklung des Europäischen Integrationsprozesses ist, hat sich deutlich nach dem Scheitern des Brüssler Gipfels vom 16. bis 17. Juni 2005 gezeigt, siehe nur die Bewertung von Hartmut Hausmann „Reinigendes Gewitter nach hitzigem Gipfel“ in: Das Parlament vom 4. Juli 2005, Nr. 27 sowie die Rede von JeanClaude Junker vor dem Europäischen Parlament am 22. Juni 2005 „We are told and I have said that during this budgetary debate, we have seen two confronting conceptions of Europe: a conception that relies solely on the virtues of the market, which is incapable of producing solidarity, and a conception that relies wholly on more extensive political integration. The free trade zone against political union: this is the debate that we are going to have, and we can already see now that there are two confronting camps in Europe. Those that believe that Europe as it is now has already taken a step too far and those like myself who believe that it must go much, much further. This explanatory debate must be taken advantage of to reconcile both parties of public opinion, which today do not and cannot talk to each other. We, as European institutions, must build a bridge between these two camps.“ 644 Schliesky, 501 „Zu bedenken ist überdies, dass in einem miteinander verzahnten Mehrebenensystem die Integrationsleistung nicht zwangsläufig allein auf der oberen europäischen Ebene erbracht werden muss, sondern gerade auch durch die mitgliedstaatliche Ebene bewirkt werden kann.“; Dyèvre in: 30 ELRev. 2005, 165 (166).

F. Endbetrachtung und Zusammenfassung

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geprägt wäre, könnte ebenso wie die weitere Unterstützung des gegenseitigen Austausches im Bildungsbereich zu einer größeren individuellen Bereitschaft zur Beteiligung am Integrationsprozess insgesamt führen. Eine solche Verlagerung europaspezifischer Diskussionen in diesen neuen – und eine stellvertretende Funktion zukommenden – Rahmen könnte gleichzeitig den Einzelnen hinsichtlich seiner notwendigen Beteiligung an der gemeinsamen Konsensfindung entlasten. Unabhängig von entsprechenden Entwicklungen, die tatsächlich auf ein weiteres und bisher so – zumindest nicht umfassend – vorgesehenes Verständnis des Europäischen Integrationsprozesses abzielen, ist indes als interessant anzumerken, dass die europäische Herrschaftsausübung – trotz ihrer allgemeinen Legitimationsschwierigkeiten – nicht entscheidend hinterfragt wird. Dies eröffnet die Möglichkeit, die Frage zu stellen, ob frühere Vorstellungen hinsichtlich einer guten und gerechten Herrschaft, die für frühere Versuche der Herrschaftslegitimation herangezogen wurden, sich bereits überholt haben. Insbesondere durch den Zugewinn an persönlichen Freiheiten und Rechten könnte demnach auch vertreten werden, dass die staatlich wie überstaatlich ausgeübte Herrschaftsgewalt und damit auch deren konkrete Ausgestaltung in der Öffentlichkeit nicht mehr – in vergleichbarer Weise wie früher – wahrgenommen wird. Da eine solche Ansicht indes ein gewisses Vertrauen in bestehenden Herrschaftsstrukturen voraussetzt, das nicht unbedingt vorausgesetzt werden sollte, sollte der Herrschaftslegitimation – verstanden als der Zustimmung der Mehrheit der Normunterworfenen – gerade wegen der zunehmenden europäischen Befugnisse weiterhin entscheidende Bedeutung zukommen. Darüber hinaus ist jedoch festzustellen, dass – trotz der bestehenden Möglichkeit zu einer Rückbesinnung auf frühere Vorstellungen – gleichwohl eine vollständige Übertragung der Vorstellungen Montesquieus zur Gewaltenteilung auf die Gemeinschaftsrechtsordnung gleichfalls gewissen Grenzen unterliegt. So ist die von ihm vorgenommene Aufgabenzuweisung nicht nur sehr stark in die damalige Ständeordnung eingebunden. Sie stellt darüber hinaus eine deutliche Bemühung dahingehend dar, durch staatsorganisatorische Entscheidungen gleichzeitig ein bereits bestehendes „soziales Gleichgewicht“ abzubilden und zu verfestigen. Dass ein solches gesellschaftliches Gleichgewicht überhaupt – wie von Montesquieu beabsichtigt – durch eine besondere Form der Staatsorganisation jemals zu erreichen war, ist wohl auf die zeitbedingten Umstände zurückzuführen. So war bis zur Entwicklung einer – ihren Anfang mit den Forderungen der Französischen Revolution nehmenden – egalitären Gesellschaft die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, die ihre Interessen daran anschließend auch gemeinsam vertrat, bereits durch Geburt bestimmt und eine Veränderung dieser Gruppenzugehörigkeit daran anschließend kaum möglich.

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F. Endbetrachtung und Zusammenfassung

Auch wenn zur Verdeutlichung der Aufgaben der Gemeinschaftsorgane zumeist auf ihre Ausrichtung auf entweder das Gemeinschaftsinteresse oder die mitgliedstaatlichen Interessen hingewiesen wird, bestehen in der Europäischen Union demgegenüber gerade nicht solche natürlichen und eindeutig festgelegten Interessengegensätze und -gruppen. So muss vor jedem gemeinsamen europäischen Tätigwerden das Gemeinschaftsinteresse im Rahmen eines offenen Kommunikationsprozesses – bereits unter besonderer Berücksichtigung der mitgliedstaatlichen Interessen sowie der Anliegen betroffener Dritter – bestimmt werden. Damit einhergehend erfolgt – wie auch in den einzelstaatlichen Rechtsordnungen, in denen gleichfalls keine deutlich voneinander abgrenzbaren und feststehenden gesellschaftlichenn Gruppen mehr vorherrschen – zwangsläufig ein erheblicher Bedeutungszugewinn für die Judikative.645 So können die sich in den verschiedenen Fällen jeweils neu ergebenden Interessenauseinandersetzungen unter Beteiligung unterschiedlicher Gruppen nur durch eine unabhängige und unparteiische Instanz abschließend und unter ausreichender Beachtung anderer Wertungen gelöst werden. Unter Berücksichtigung der Rolle des Europäischen Gerichtshofs als des obersten und mit einem Rechtsprechungsmonopol ausgestatteten „Verfassungsgerichts“ kann damit einhergehend die Gemeinschaftsrechtsordnung als eine Symbiose der Vorstellungen Montesquieus und des amerikanischen Verfassungsdenkens beschrieben werden. Auch wenn eine klare Gewaltenteilung mit einer deutlich getrennten Aufgabenwahrnehmung schon von Montesquieu nicht vorgesehen war, ist darüber hinaus aus der amerikanischen Verfassungslehre die Vorstellung einer zulässigen Verschränkung der Gewalten im Rahmen eines Systems gegenseitiger „checks and balances“ zu übernehmen. Grenzen der gemeinsamen Aufgabenwahrnehmung, die so kennzeichnend auch für die Gemeinschaftsrechtsordnung gerade im Bereich der Gesetzgebung und des Haushaltsverfahrens ist, lassen sich im Weiteren aus einer Beschäftigung mit den Ausführungen Jean-Jacques Rousseaus bestimmen. So lässt ein – wie von ihm vorgesehenes – Unter- und Überordnungsverhältnis der Organe einen Machtmissbrauch gerade zu und muss demnach verhindert werden. Ferner ist aufgrund der damit nur eingeschränkt bestehenden Möglichkeiten einer Übertragung des Gewaltenteilungsgrundsatzes als einer „sozialen Gewaltenteilung“ auf die Organstruktur der Gemeinschaftsrechtsordnung bei jeder Beschäftigung mit der in den Verträgen angelegten Aufgabenzuweisung als Ausgangspunkt zunächst ein funktionales Verständnis zu wählen. Indes sind die mit einem solchen funktionalen Verständnis verbundenen Aussagen des Gewaltenteilungsgrundsatzes sehr begrenzt, sofern danach – ohne weitere Be___________ 645 Dyèvre in: 30 ELRev. 2005, 165 (173); kritisch Harlow in: 23 Yearbook of European Law 2004, 57 (77).

F. Endbetrachtung und Zusammenfassung

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rücksichtigung der spezifischen Organstruktur und der Zusammensetzung des jeweiligen Organs – nur bestimme Aufgaben von bestimmten Organen wahrzunehmen sind.646 Schon im Hinblick auf die Schwierigkeiten einer inhaltlichen Bestimmung der einzelnen Funktionen müssen demnach mit einem solchen Ansatz zu seiner Präzisierung weitere Zielsetzungen verbunden werden, um vor allem die Frage der Zulässigkeit einer gemeinsamen Aufgabenwahrnehmung durch verschiedene Organe für den Einzelfall abschließend beantworten zu können.647 Nur auf diesem Weg können damit aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz als einem übergeordneten Verfassungsprinzip tatsächlich verbindliche Schranken und Aussagen über das Organverhältnis abgeleitet werden.648 Gleiches gilt für das „institutionelle Gleichgewicht“ und zeigt sich auch deutlich in einzelnen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs. So werden vom Gerichtshof als zu beachtende Ziele unter anderem die Aufrechterhaltung einer wirksamen gerichtlichen Überprüfung durch den einzelnen Unionsbürger, die Mitgliedstaaten oder die anderen Organe angeführt. Auch wenn die Vorstellung einer wirksamen Überwachung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen demnach weder im einzelstaatlichen noch im europäischen Zusammenhang als Ausgangspunkt für die nähere Ausgestaltung der Organverhältnisse genommen werden kann, kann ihr somit doch eine wichtige unterstützende Folgebedeutung zukommen. ___________ 646

Reich, 53 „Für die supranationale Entscheidungsfindung des europäischen Staatenverbundes werden – funktional vergleichbar mit der einzelstaatlichen Ebene – Aufgaben der Rechtsetzung, Verwaltung und Rechtsprechung wahrgenommen.“ 647 Leisner in: DÖV 1969, 405 (408); Vile, 316 „In the history of constitutional theory the most persistently used concept has been that of function. It finds its roots in Greek political thought, it is the basis of the idea of a government of laws, and it has been the most used tool of analysis for purposes of articulating the parts of government. Yet it has been subjected to a vast amount of criticism, and by many writers has been rejected as a useless concept. (…) The nature of the functions of government thus requires considerable clarification. The long discussions of the powers of government has been conducted largely in terms of the legislative, executive, and judicial functions. These abstract concepts emerged after a long period in which men thought mainly in terms of the tasks which government had to perform, such as conducting war and diplomacy, and maintaining order. The emergence of the idea of legislative and executive powers, or functions, had in itself little to do with an analysis of the essential nature of government; it was concerned more with the desire, by delimiting certain functional areas, to be able to restrict the rulers to a particular aspect of government and so to exercise limits on his power.“; deutlich gegen eine solche funktionale Betrachtung aber Dyèvre in: 30 ELRev. 2005, 165 (169). 648 Vile, 72 „(...) which was very different from the earlier theory of mixed government; for in the latter the branches of the government were intended to share in the exercise of its functions. In the new doctrine each branch, it is true, was to share in the supreme legislative power, but each was also to have a basis of its own distinctive functions that would give it independence, and at the same time would give it the power to modify positively the attitudes of the other branches of government.“

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F. Endbetrachtung und Zusammenfassung

Nachdem die Grenzen einer Übertragung des Gewaltenteilungsgrundsatzes deutlich geworden sind und gleichwohl eine inhaltliche Vergleichbarkeit des „institutionellen Gleichgewichts“ mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz hinsichtlich seiner Wirkungsrichtungen festgestellt werden konnte, stellen sich jedoch weitere Fragen. Insbesondere bedarf es einer Auseinandersetzung dahingehend, inwieweit der Verwendung dieses neuen Begriffs eine inhaltlich eigenständige Bedeutung im Gemeinschaftsrecht zukommt. So kann ein unbestimmt bleibender oder auch zu weit formulierter Rechtsstaatsbegriff in seiner gemeinschaftsrechtlichen Ausprägung als „institutionelles Gleichgewicht“ nicht nur beliebig und austauschbar wirken. Darüber hinaus kann er sogar langfristig gegen rechtsstaatliche Zielsetzungen gewendet werden. Auch eine Begriffsverwendung, die inhaltlich nicht über die bereits aus den Verträgen selbst ableitbaren Aussagen hinausgeht, sondern vielmehr eine rein politische Zielsetzung bezeichnet, könnte keine oder nur eine sehr geringe selbstständige Integrationswirkung zugesprochen werden. Wie eine nähere Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs gezeigt hat, findet das „institutionelle Gleichgewicht“ jedoch nicht nur im Zusammenhang mit sehr verschiedenen Fragen Anwendung. So hat unter Zugrundelegung dieses allgemeinen Ordnungsprinzips der Gemeinschaftsrechtsordnung der Europäische Gerichtshof wiederholt Stellung zu prozessrechtlichen, verfahrensrechtlichen sowie materiellrechtlichen Fragen genommen und allgemeine Aussagen über das Verhältnis der Organe untereinander gemacht. Aufgrund der vorrangigen und durch den Gewaltenteilungsgrundsatz gebotenen Berücksichtigung der bereits in der Gemeinschaftsrechtsordnung angelegten Zuweisung der verschiedenen Befugnisse an die unterschiedlichen Organe ist diese eigenständige inhaltliche Bedeutung des „institutionellen Gleichgewichts“ zwar zumeist als eingeschränkt zu beurteilen. Doch erfüllt das „institutionelle Gleichgewicht“ – zumindest in seiner Verwendung durch die Rechtsprechung – keineswegs die bloße Funktion einer politischen Zielsetzung, mit der ansonsten begründungsschwache Entscheidungen legitimiert werden sollen oder auch rechtspolitisch als nicht befriedigend empfundene Gesetzeslücken ausgefüllt werden. Vielmehr können eine weiterführende Berücksichtigung des „institutionellen Gleichgewichts“ als eines übergeordneten und damit nicht selbst einschränkbaren Ordnungsprinzips und die damit angelegte Folgebetrachtung wichtige zusätzliche Lösungsmöglichkeiten im Rahmen einer allgemeinen Abwägung zwischen verschiedenen Interessen eröffnen. Eine solche Vermehrung an Lösungsmöglichkeiten stellt zwar sicherlich noch keinen Wert an sich dar. Mit der notwendigen Berücksichtigung des „institutionellen Gleichgewichts“ im Rahmen von Abwägungen zwischen widerstreitenden Interessen kann jedoch gerade ein neuer und spezifischer Bedeutungsinhalt hinzugewonnen werden. Dies ist im Besonderen bei der Rechtsfortbildung zur Zulässigkeit der Erhebung einer Nichtigkeitsklage durch das Europäische Parlament deutlich geworden. Aber auch bei der nä-

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heren Bestimmung des Anhörungsverfahrens konnten die Organverhältnisse unter Berücksichtigung des „institutionellen Gleichgewichts“ durch den Europäischen Gerichtshof weiter konkretisiert und damit ausgestaltet werden. Ein Hinweis auf das „institutionelle Gleichgewicht“ kann in diesem Zusammenhang zum einen seine Beziehungen zu anderen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechtes – wie des Demokratieprinzips – verdeutlichen. Zum anderen kann die Begründung und damit die Bedeutung anderer Vorstellungen – wie die der in Anlehnung an die Gemeinschaftstreue entwickelten Organtreue – in erheblicher Weise unterstützt werden. Als rechtliche Begriffsneubildung und gerade auch in seiner Funktion als Oberbegriff bietet das institutionelle Gleichgewicht somit eine wichtige Orientierungsmöglichkeit.649 Des Weiteren tritt in diesem Begriff das allgemeine Anliegen der Europäischen Union wiederum deutlich in Erscheinung, als Rechtsgemeinschaft wahrgenommen zu werden. Bei der Eigenschaft als einer Rechtsgemeinschaft handelt es sich jedoch nicht um einen abschließend zu erreichenden Zustand, sondern um einen dauerhaften Prozess, der einer ständigen Bestätigung bedarf. Damit ist das „institutionelle Gleichgewicht“ als eine zielbestimmende Begrifflichkeit und aufgrund seiner allgemeinen Offenheit gegenüber verschiedensten Anwendungsmöglichkeiten von besonderer Bedeutung für diese Fortentwicklung. Dem „institutionellen Gleichgewicht“ ist demnach eine Leistungsfähigkeit hinsichtlich der Verhinderung von Auseinandersetzungen der Organe untereinander zuzuerkennen, die in Anlehnung an Sobotas Ausführungen zum Rechtsstaatsprinzip gleichfalls als „wirkungsbezogene Tauglichkeit“650 bezeichnet werden kann. Im Weiteren ist diese Begriffsneubildung jedoch auch widerspruchsfrei und unter ausreichender Berücksichtigung anderer bereits in der Rechtsordnung enthaltener Wertungen zu begründen.651 Diesbezüglich ist fest___________ 649

Siehe für eine entsprechende Parallelwertung des Rechtsstaatsprinzips in der deutschen Rechtsordnung nur Sobota, 412; deutlich einschränkend aber Bieber in: 21 CMLRev. 1984, 505 (519) „In short, the concept as a guiding principle might, at most, assume some significance when related to the existing provisions of the Treaties. In itself, it conveys nothing. Of course, its use as an empty formula would be of no consequence, if this did not in turn create institutional problems. The risk exists because each interested party tends to interpret the formula in the manner which seems subjectively most appropriate.“ 650 Sobota, 417 „Der Versuch einer Strukturierung des Normensystems Rechtsstaat muß sich, wie jede juristische Konstruktionsarbeit, an zwei ganz unterschiedlichen und doch miteinander verbundene Kriterien orientieren: der dogmatischen Richtigkeit und der wirkungsbezogenen Tauglichkeit.“ 651 Zu den Kriterien jeder juristischen Konstruktion siehe wiederum nur Sobota, 417 „Das Merkmal der Richtigkeit, das vor allem bei der Rechtsanwendung zum Tragen kommt, ist ein Maßstab nach ausschließlich juristischen Kriterien. ‚Richtig‘ ist in diesem Sinne eine Lösung, wenn sie nicht gegen die Gesetzeslage verstößt, sich widerspruchsfrei begründen lässt oder in Einklang mit Rechtsprechung und Lehre steht.“

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zustellen, dass der Europäische Gerichtshof nur sehr vereinzelt Aussagen über die dogmatische Begründung des „institutionellen Gleichgewichts“ gemacht hat. Soweit überhaupt aus seinen Entscheidungen eine solche zu entnehmen ist, scheint der Europäische Gerichthof die allgemeine und in Art. 7 EGV enthaltene Organbeschreibung als Ausgangspunkt seiner Überlegungen gewählt zu haben. So sieht Art. 7 EGV nach einer Übersicht der Organe der Gemeinschaft vor, dass jedes dieser Organe nach Maßgabe der ihm in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse handelt. Ungeachtet der tatsächlich bestehenden erheblichen Unterschiede hinsichtlich der weiteren Einflussmöglichkeiten auf den Integrationsprozess liegt der Gemeinschaftsrechtsordnung damit die Vorstellung zugrunde, dass die Organe in einem grundsätzlich gleichberechtigten Verhältnis zueinander stehen. Vor allem muss somit jedem dieser Organe ein eigenständiger Aufgabenbereich zur selbstständigen Wahrnehmung zukommen, in dem er auch vor der unzulässigen Beeinflussung durch andere Organe zu schützen ist. Indem der Europäische Gerichtshof wiederholt die Rechtswidrigkeit von gesetzlichen Maßnahmen auf die Verletzung des in den Verträgen angelegten „institutionellen Gleichgewichts“ gestützt hat, zeigt sich deutlich sein Charakter als Verfassungsprinzip mit eigenständigem und auch sanktionierendem Bedeutungsinhalt. Aufgrund der ihm damit zukommenden Bedeutung ist das „institutionelle Gleichgewicht“ somit von den Mitgliedstaaten als den „Herren der Verträge“ auch bei nachfolgenden Vertragsänderungen ausreichend zu beachten. Gerade aufgrund dieses weitreichenden Einflusses wäre jedoch grundsätzlich eine umfangreichere dogmatische Begründung des von ihm bezeichneten Verfassungsprinzips durch den Europäischen Gerichtshof zu begrüßen. Eine solche Vorgehensweise könnte nicht nur allgemein die Überzeugungskraft seiner Urteile erhöhen. Auch muss fraglich erscheinen, inwieweit die deutliche Orientierung an der Rechtsprechungspraxis eines Mitgliedsstaates in einer wesentlich erweiterten Europäischen Union noch zu überzeugen vermag. Im Übrigen könnte eine ausführlichere Auseinandersetzung unter anderem mit den Schlussanträgen der Generalanwälte zum einen eine Vorbildfunktion gerade für die verfassungsrechtliche Rechtsprechung in den Mitgliedstaaten entwickeln. Darüber hinaus könnte das Verständnis für die im Einzelnen als maßgeblich zugrunde gelegten Umstände erhöht werden. Einhergehend mit der zunehmenden Heterogenität der nunmehr in der Europäischen Union vertretenen Rechtsvorstellungen sollte demnach auch der gemeinschaftsrechtliche Begründungsaufwand umfangreicheren Anforderungen genügen. So kann nur unter solchen Rahmenbedingungen der Europäische Gerichtshof weiterhin der ihm durch Art. 220 EGV auch zugewiesenen Rolle als „Motor der Integration“ gerecht werden. Schließlich könnte die notwendige Unterstützung des gesamten Integrationsprozesses durch die mitgliedstaatlichen Bevölkerungen, die teils äußerst gering

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ist, wie sich in den Referenden zur Europäischen Verfassung gezeigt hat652, zusätzlich auf diesem Wege erhöht werden. Gleichzeitig stellt sich damit die grundsätzliche Frage, inwieweit die Verwendung des „institutionellen Gleichgewichts“ im Allgemeinen die Übersichtlichkeit, Verständlichkeit und Transparenz der Gemeinschaftsrechtsordnung zu erhöhen in der Lage ist.653 So ist ein ausreichendes Maß an Transparenz gerade des institutionellen Aufbaus der Gemeinschaftsrechtsordnung als wichtige Vorbedingung jeder gemeinsamen Identitätsbildung und weitergehenden Unterstützung des Integrationsprozesses durch den einzelnen Unionsbürger anzusehen.654 Diesbezüglich ist zunächst festzustellen, dass auch diese nachfolgende Begriffsbildung des Europäischen Gerichtshofs keineswegs die in der bestehenden und gesetzlich geregelten Organstruktur angelegten strukturellen Unklarheiten vollständig ausgleichen kann. So bilden die Gemeinschaftsverträge als Ergebnis verschiedener und durch Kompromissfindung erzielter Vertragsänderungen keinen einheitlichen und übersichtlichen rechtlichen Rahmen. Beispielhaft sei nur nochmals auf den durch den Vertrag von Nizza nachträglich eingeführten Art. 225a EGV verwiesen, nach dem zusätzliche gerichtliche Kammern gebildet werden können. Diese sind im Weiteren zuständig für Entscheidungen im ersten Rechtszug über bestimmte Kategorien von Klagen, die in besonderen Sachgebieten erhoben werden. Welcher Einfluss von solchen Kammern auf die nachfolgende Rechtsentwicklung und deren Einheitlichkeit ausgehen wird und wie sich das Verhältnis dieser Kammern zum Europäischen Gerichtshof entwickelt, bleibt abzuwarten. Des Weiteren sei auf die auch im Rahmen der Verfassungsgebung wiederum angesprochene Notwendigkeit eines einheitlichen europäischen Auftretens in den internationalen Beziehungen verwiesen. Das in Art. I-28 der Verfassung vorgesehene Amt des Außenministers der Union zeigte deutlich dieses Interesse an einer Bewahrung des europäischen Einflusses auch im Verhältnis zu anderen Staaten und Organisationen. Unklar sind jedoch die zu erwartenden Folgewirkungen für die Europäische ___________ 652 Siehe für eine Bewertung der ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden nur einerseits den Beitrag von Joachim Rogge „Rote Karte nicht nur für die Verfassung“ in: Das Parlament Nr. 23/24 vom 6./13. Juni 2005, 3; andererseits Jeannette Goddar „Ein Land auf der Suche nach der verlorenen Identität“ in: Das Parlament Nr. 23/24 vom 6./13. Juni 2005, 3; Hartmut Hausmann „Wege aus dem Dilemma gesucht“ in: Das Parlament Nr. 23/24 vom 6./13. Juni 2005, 11. 653 Dass die Europäische Union insgesamt diesen Anforderungen entsprechen soll, ergibt sich bereits aus der Präambel des EUV, nach der die Mitgliedstaaten „entschlossen, den Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker, in der die Entscheidungen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip möglichst bürgernah getroffen werden, weiterzuführen“ über den Vertrag übereingekommen sind. 654 Craig in: 3 ELJ 1997, 105 (120); Langenfeld in: ZRP 2005, 73 (75); Stern in: Liber Amicorum Thomas Oppermann 2001, 143 (162).

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Kommission, der bisher die Aufgabe der Außenvertretung der Europäischen Union in maßgeblicher Weise zukam. Aber auch mögliche Überschneidungen zwischen den dem Außenminister zugewiesenen Aufgaben mit denjenigen des Europäischen Rates sind zu erwarten. Schließlich sei auf die durch die zunehmende Parlamentarisierung der Gemeinschaftsrechtsordnung eingetretene erhebliche Schwächung vor allem der Europäischen Kommission hinzuweisen. Das Verhältnis der Organe untereinander unterliegt demnach wie das allgemeine Verhältnis der Europäischen Union zu ihren Mitgliedstaaten dauerhaften Veränderungen. Zwar zeichnen sich auch einzelne mitgliedstaatliche Verfassungen nicht vorrangig durch Übersichtlichkeit, Transparenz und einen kohärenten Gesamtzusammenhang aus. Doch müsste die Europäische Union – oder vielmehr die Mitgliedstaaten im Rahmen von Verhandlungen über Vertragsänderungen – aufgrund ihrer häufig wesentlich geringeren Anerkennung durch die einzelstaatlichen Bevölkerungen diesbezüglich auch größere Anstrengungen unternehmen. Trotz der eingeschränkten Wirkungsmöglichkeiten des gerade aus den Verträgen abzuleitenden „institutionellen Gleichgewichts“ kann die Verwendung dieses offenen Grundbegriffes der Gemeinschaftsrechtsordnung auch in diesem Zusammenhang wiederum einen wichtigen Beitrag zur Verhinderung von offenen Wertungswidersprüchen leisten. Erreicht werden kann dies, indem der Europäische Gerichtshof im Besonderen unter Berücksichtigung vorgesehener Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte damit einhergehende Überwachungsrechte der einzelnen Organe gerade im Interesse des einzelnen Unionsbürgers sowie ausgewogener institutioneller Rahmenbedingungen sichert. Darüber hinaus kann bei wirksamer Ausnutzung der – zwar nicht immer übersichtlich ausgestalteten – institutionell vorgesehenen Kommunikationsmöglichkeiten doch die so wichtige Verständigung über gemeinsame Werte und Vorstellungen stattfinden, die zur Herausbildung einer stärkeren gemeineuropäische Identität und damit einer europäischen Vergesellschaftung langfristig führen könnte.655 Um diese Möglichkeiten zur Einflussnahme zu bewahren, kann der Europäische Gerichtshof die Vorstellung des „institutionellen Gleichgewichte“ heranziehen. Zusammenfassend kann damit festgestellt werden, dass die Gemeinschaftsrechtsordnung mit dem „institutionellen Gleichgewicht“ über ein ihr zugrunde liegendes und mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz vergleichbares Prinzip verfügt, das die Selbstverpflichtung zur Beachtung der Rechtsstaatlichkeit wirksam zum Ausdruck bringt. Seine nähere Ausgestaltung sowie mögliche Anwendungsbereiche dieses übergeordneten Grundsatzes stehen im Weiteren in direkter Abhängigkeit zum ___________ 655

Siehe nur allgemein zum „kommunikativen Handeln (...) als ein Prinzip der Vergesellschaftung“ Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns – Band I, 452; Verhoeven, The EU in Search of a Democratic and Constitutional Theory, 215.

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jeweils erreichten Integrationsstadium, der sich in den vertraglich festgelegten Rahmenbedingungen widerspiegelt.656 Insbesondere mit zunehmenden Befugnissen der Europäischen Union, erleichterten Entscheidungsfindungsprozessen und den allgemein durch Vertragsänderungen eintretenden Veränderungen im Verhältnis der Mitgliedstaaten zur Gemeinschaftsebene zugunsten letzterer scheint demnach gleichzeitig eine weitergehende Verwirklichung des Gewaltenteilungsgrundsatzes auf der Gemeinschaftsebene selbst geboten. So könnte nicht nur langfristig die Eigenständigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung in Frage gestellt, sondern bestehen im Hinblick auf die mitgliedstaatlichen Rückbindungen der Gemeinschaftstätigkeit noch gewisse Defizite. Nicht alle mitgliedstaatlichen Verfassungen sehen derartige Mitwirkungsrechte vor oder sofern sie doch vorgesehen sind, werden sie nicht immer umfassend wahrgenommen. Für die damit erkennbar werdenden Schwierigkeiten bei der weiteren Verwirklichung des Gewaltenteilungsgrundsatzes bieten sich grundsätzlich zwei Lösungsmöglichkeiten an: Zum einen können die gegenseitigen Überwachungsmöglichkeiten auf der Gemeinschaftsebene erweitert werden, zum anderen kommt eine verstärkte mitgliedstaatliche Rückbindung der europäischen Entscheidungsfindung in Betracht. Von besonderem Interesse ist damit eine nähere Betrachtung dahingehend, inwieweit der Vertrag über eine Verfassung für Europa dieses grundlegende Verhältnis zwischen vertikaler und horizontaler Gewaltenteilung im Hinblick auf die sich damit abzeichnende Fortführung des Europäischen Integrationsprozesses gelöst hatte. Auch nach Art. I-11 der Verfassung war das zugrunde liegende Verhältnis zwischen Mitgliedstaaten und der Union zunächst von den Grundsätzen der begrenzten Einzelermächtigung, der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit geprägt. Weiterführend fanden sich aber erstmals ausdrückliche Bezugnahmen auf die den nationalen Parlamenten zukommende Rolle im Vertrag über eine Verfassung für Europa. Zum einen ist diesbezüglich auf die ausdrückliche Anerkennung der ihnen durch einzelstaatliches Verfassungsrecht bereits zugewiesenen Rolle hinsichtlich der Mitwirkung und der Überwachung der nationalen Ratsvertreter zu verweisen. Damit wird gleichzeitig deutlich, dass nach Art. I-46 II der Verfassung diese für ein gewaltenteilig organisiertes System so wichtigen Aufgaben weiterhin nicht allein von den anderen Gemeinschaftsorganen wahrgenommen werden sollten. Diesbezüglich ist darüber hinaus auf Art. IV-444 der Verfassung zu verweisen. Nach diesem vereinfachten Änderungsverfahren konnten in den Fällen, in denen der Rat einstimmig beschließt, nach einem entsprechenden Europäischen ___________ 656

Craig/de Burca, 175; Hummer in: Hummer (Hrsg.), 111 (156); Douglas-Scott, 50; Hofmann in: Hofmann/Marko/Merli/Wiederin (Hrsg.), 321 (325); Verhoeven, The EU in Search of a Democratic and Constitutional Theory, 210.

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Beschluss des Europäischen Rates Entscheidungen zukünftig mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden. Diese Veränderung sollte jedoch nur möglich sein, wenn nach Art. IV-444 III die nationalen Parlamente diese Initiative nicht innerhalb von sechs Monaten ablehnten. Diese Regelung stellte ungeachtet ihrer rein verfahrensrechtlichen Folgen in gewisser Weise eine Umkehrung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung dar und führte scheinbar zu einer Vertiefung des Integrationsprozesses. Auch von ihrer Zielsetzung sollte sie offensichtlich vorrangig die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit auf der Europäischen Ebene erhöhen. Gleichfalls war aber mit dieser Bestimmung erstmals eine unmittelbare Beteiligung der einzelstaatlichen Parlamente bei der Europäischen Entscheidungsfindung hinsichtlich ihrer näheren verfahrensrechtlichen Ausgestaltung vorgesehen. Mit der ihnen damit eingeräumten Möglichkeit zur Einflussnahme sollten sie demnach gegebenenfalls ihren Bedeutungsverlust gegenüber den ständig zunehmenden Entscheidungsbefugnissen der Exekutive im Europäischen Integrationsprozess verhindern können. So ist zu beachten, dass die legitimierende Wirkung einer durch Überwachung und Zustimmung erfolgenden und von der Verfassung vorgesehenen Rückbindung der mitgliedstaatlichen Vertreter an die nationalen Parlamente bei jeder Einführung von Mehrheitsentscheidungen weiter abnimmt.657 Damit einhergehend besteht die allgemeine Gefahr, dass ein sich auf dieser Weise langsam entwickelndes Ungleichgewicht zwischen Exekutive und Legislative langfristig in Widerspruch zu der Forderung nach einer funktionierenden Gewaltenteilung geraten könnte. Trotz ihrer gewissen Eingliederung in diese Entwicklung sollten die nationalen Parlamente aber auch im Rahmen dieses Verfahrens weiterhin nicht die Rolle von Gemeinschaftsorganen übernehmen. Damit ist von einer Aufrechterhaltung und einer darüber hinausgehenden zusätzlichen Bestätigung der Vorstellung eines europäischen Mehrebenensystems auch in der Verfassung auszugehen. Dies entspricht zwar der gleichfalls immer wieder betonten Offenheit des europäischen Integrationsprozesses. Ein umfassender Lösungsansatz für das Verhältnis der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union fand sich aber somit auch in dieser vertraglichen Weiterentwicklung nicht. ___________ 657 Geiger, EUV/EGV, Art. 189 EGV, Rn. 6; einschränkend Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 736 „Dieses Argument ist formal korrekt, berücksichtigt aber zu wenig die tatsächlichen Abläufe. Einstimmigkeit im Rat ist eine ausgehandelte Einstimmigkeit, ein ‚unechter‘ Konsens, der nur im begrenztem Umfang die authentischen Präferenzen der Bürger und Volksvertreter spiegelt.“; eine allgemeine Bewertung findet sich bei Duina/Oliver in: 11 ELJ 2005, 173 (190); für das Demokratieprinzip siehe nur die vorliegend gleichwohl übertragbaren Ausführungen in BVerfGE 89, 155 (184) „Im Zustimmungsgesetz zum Beitritt zu einer Staatengemeinschaft ruht die demokratische Legitimation sowohl der Existenz der Staatengemeinschaft selbst als auch ihrer Befugnisse zu Mehrheitsentscheidungen, die die Mitgliedstaaten binden.“

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Abschließend stellt sich demnach die Frage, ob mit der Regelung des Art. IV-444 nicht möglicherweise gleichzeitig eine allgemeine Richtungsentscheidung für die zukünftige gemeinsame Entwicklung getroffen wurde, die auch auf die Verwirklichung des Gewaltenteilungsgrundsatzes erhebliche Auswirkungen hätte haben können. Für das Weiterbestehen einer Entwicklungsmöglichkeit zu einem europäischen Bundesstaat scheint zunächst zu sprechen, dass gerade in einem Bundesstaat die Organe einer Ebene die Tätigkeiten der anderen regelmäßig überwachen und auch an der Gesetzgebung mitwirken. Diese Beteiligung erfolgt indes durch besondere, für gerade diesen gemeinsamen Aufgabenbereich gebildete Organe. So geschieht dies nach deutschem Recht durch den Bundesrat als Vertretung der Länderinteressen im Rahmen der Bundesgesetzgebung. Ein solches zur Interessenvertretung der mitgliedstaatlichen Organe in ihrer Gesamtheit handelnde Organ war jedoch auf der Gemeinschaftsebene gerade nicht vorgesehen. Vielmehr sollten sich die nationalen Interessenvertretungen unabhängig voneinander beteiligen können. Damit sollten die Verflechtungen der beiden Ebenen zu Lasten der Vorstellung eines autonomen Europäischen Herrschaftssystems noch weiter zunehmen. Somit kann festgestellt werden, dass in Art. IV-444 der Verfassung gleichzeitig eine im Hinblick auf die Entstehung eines Europäischen Bundesstaates gegenläufig wirkende Entscheidung über die weitere Entwicklung des Europäischen Integrationsprozesses getroffen worden ist. Wiederum wird deutlich, dass das Anliegen einer stärkeren demokratischen Legitimation der Europäischen Herrschaft gerade durch die zunehmende Beteiligung nationaler Parlamente und nicht durch eine hauptsächliche Stärkung des Europäischen Parlaments nur schwierig mit gewissen Integrationsmodellen des Europäischen Einigungsprozesses zu vereinbaren ist. Gleiches ist für die Vorstellung einer zunehmenden Verwirklichung des Gewaltenteilungsgrundsatzes festzustellen. Sofern vergleichbare wie in dem Vertrag über eine Verfassung enthaltene Bestimmungen in Kraft treten sollten, wird es zunächst von besonderem Interesse sein, ob bei der Ausnutzung dieser dann auch gemeinschaftsrechtlich ausdrücklich vorgesehenen Mitwirkungsrechte ähnliche Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten erkennbar sein werden wie schon bisher. So nutzen die mitgliedstaatlichen Organe ihre einzelstaatlich bereits vorgesehenen Beteiligungs- und Überwachungsrechte sehr verschieden. Sollte dies weiterhin der Fall sein, könnte sich diese ausbleibende Aufgabenerfüllung durch nationale Parlamente zusätzlich nachteilig für die Verwirklichung des Gewaltenteilungsgrundsatzes auswirken. Gerade aufgrund dieser möglichen Folgeentwicklungen kann demnach die Bedeutung des in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zugrunde gelegten „institutionellen Gleichgewichts“ wohl kaum überschätzt werden. Unabhängig vom Ausgang der Referenden in den Niederlanden und Frankreich ist darüber hinaus wohl davon auszugehen, dass die Rolle der nationalen Parla-

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mente im europäischen Integrationsprozess weiter zunehmen wird. Dass der Kreis der im Rahmen des Gewaltenteilungsgrundsatzes zu beachtenden Beteiligten sich damit erheblich erweitert, führt zu wichtigen Folgefragen für die dogmatische Begründung des „institutionellen Gleichgewichts“ und damit für die fortlaufende Anerkennung dieses Grundsatzes der Gemeinschaftsrechtsordnung. Ob und wie der Europäische Gerichtshof diese neue Ausrichtung der Gemeinschaftsrechtsordnung in seiner Rechtsprechung zum „institutionellen Gleichgewicht“ berücksichtigen wird, ist bisher nicht erkennbar. Seine bisherige Rechtsprechung, die von einer deutlichen Trennung der „horizontalen“ und „vertikalen“ Gewaltenteilung ausgegangen ist, wird sich jedoch unter diesen veränderten Rahmenbedingungen nur schwer aufrechterhalten lassen.658 Um wie bisher auch zukünftig rechtsstaatlichen Anforderungen angemessen zu entsprechen, muss demnach das „institutionelle Gleichgewicht“ und seine inhaltliche Bedeutung für die Gemeinschaftsrechtsordnung fortlaufend weiterentwickelt werden.

___________ 658

Für eine im Interesse der Sicherstellung des „institutionellen Gleichgewichts“ nur eingeschränkte Rolle nationaler Stellen siehe nur den 3. Leitsatz von EuG, Slg. (II-4599) Rs. T-298/02 „Anna Herrero Romeu/Kommission“ „Aus der allgemeinen Systematik des Vertrages geht eindeutig hervor, dass der Begriff des Mitgliedstaats im Sinne der institutionellen Bestimmungen nur die Regierungsbehörden der Mitgliedstaaten erfasst und nicht auf die Regierungen von Regionen oder autonomen Gemeinschaften erstreckt werden kann, welchen Umfang die ihnen zuerkannten Befugnisse auch haben mögen. Andernfalls würde das institutionelle Gleichgewicht beeinträchtigt, das in den Verträgen vorgesehen ist, die insbesondere die Bedingungen festlegen, unter denen die Mitgliedstaaten, d.h. die Staaten, die Parteien der Gründungs- und der Beitrittsverträge sind, bei der Tätigkeit der Gemeinschaftsorgane mitwirken.“

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Stichwortverzeichnis Abkommen von Cotonou 55 Abstimmungsverhalten 179, 182 Agrarpolitik 195, 215, 234 Alleanza Nazionale 44 Allgemeinwohl 102 Amsterdamer Vertrag 14, 48 Anhörung 167, 187, 193, 202, 215, 222, 230, 235, 243, 245, 248, 249, 264 Anti-Federalists 116 Anzahl der Herrschenden 102 Aristokratie 98, 100, 102 Aristoteles 70, 95, 100, 101–103 Art. 6 I EMRK 30, 57 Art. 6 I EUV 17, 37, 38, 41, 47, 48, 50, 208, 287 Art. 6 II EUV 40, 51, 58, 208, 277 Art. 7 EUV 41, 42, 44, 45, 46, 47, 48, 63 Art. 49 EUV 17, 48, 49, 167 Art. 177 II EGV 54, 56 Art. 181a EGV 56, 216 Art. 220 EGV 42, 150, 151, 200–204, 207, 210, 211, 218, 250, 253 Art. 226 EGV 34, 189, 191 Auslegung 36, 42, 57, 58, 61, 88, 117, 141, 200, 203, 207, 209–212, 223, 240, 242, 257, 258, 260, 261, 264, 267, 276, 277 Auslegungsprinzip 261, 264 Ausschuss der ständigen Vertreter 171 Außenbeziehungen 28, 31, 53, 55, 176, 196, 197 Außenhandelsbeziehungen 54 Austritt 47, 181 Autorität 78, 92, 102, 185 Begriffsfunktion 241 Begriffsprägung 221, 265 Beihilfen 189, 192 Beitritt 47–50, 58, 69, 183, 206, 209

Beitrittskandidatenländern 49 Beitrittsstaaten 30, 32, 50 Beitrittsvoraussetzung 48 Bindungswirkung 32, 38, 58, 278 Bundesstaat 16, 49, 53, 58, 156, 191, 272, 282 Bundesverfassungsgericht 26, 33, 139, 140, 143 Charisma 91, 102, 114 charismatische Herrschaft 91 Charta der Grundrechte 39, 40, 89 checks and balances 13, 120, 140, 147, 217, 220, 272, 275 Constitutional Convention 117 Dänemark 45, 183 Defizitverfahren 191 Delegation 224, 228, 229, 231, 235 Delegationsbestimmungen 195 Demokratie 53, 60, 62, 91, 93, 98, 102, 128–130, 133, 169 Demokratieprinzip 62, 214, 247, 255, 264, 270 Demokratisierung 156, 169, 235, 248 Der Geist der Gesetze 70, 71, 75, 80, 124 Despotie 98 Deutschland 24–26, 32, 33, 151, 157, 172, 182, 201, 255, 290 Dialog 172, 249, 262 Diktatur 73 Direktversammlung 83 Direktwahlen 157, 300 distinct interest 70, 75 Dogmatisierung 133, 143 Dreiteilung 98, 101–103, 136, 145 Drittstaaten 17, 23, 54, 56, 63, 291 Drittwirkung 209 Durchführungsbefugnisse 173, 194, 195, 231, 235

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Stichwortverzeichnis

EAG-Vertrag 238, 239 Effektivität 84, 201 Effektivitätsgebot 267 EGMR 57–61, 63, 164, 168, 182 Eigenständigkeit der Europäischen Rechtsordnung 59, 165, 170, 209 Eigentum 77, 87 Einflussmöglichkeiten 156, 160, 167, 215, 217, 226, 231–233, 250, 263, 266, 273, 283 Einfuhr- und Vorratsstelle 229–232, 277 EMRK 29, 51, 56–61, 63, 206, 278 Entscheidungsmöglichkeiten 266 Entscheidungsspielraum 142, 266 Entwicklungshilfe 17, 53 Erfolgswertgleichheit 156, 169 Ergebnislegitimation 284 Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 95 Ersatzgesetzgeber 214 Estland 31, 68 Europa-Ausschuss 183 Europäische Kommission 184–198, 222, 223, 229, 231–233, 235, 236– 239, 242, 247, 250–252, 254–260, 262, 264–266 Europäischer Bundesstaat 163 Europäischer Gerichtshof 141, 150, 180, 199, 202, 203, 206, 208–210, 212, 214, 221, 223–225, 228–231, 235, 238, 239, 241, 245, 246, 250– 255, 259–262, 265, 266, 273, 276, 278, 284 Europäisches Parlament 47, 60, 153– 155, 158–167, 176, 177, 183, 187, 193, 194, 215, 222, 235, 237–241, 245, 248, 255, 271, 273 EWG-Vertrag 52, 207, 209, 238, 239, 244, 256, 258 Exekutive 67, 68, 76, 83, 109–112, 114, 118, 120, 131, 136, 137, 143, 145, 160, 182, 215, 217, 271, 282 Federalist Papers 19, 116, 124, 131, 132, 146, 253, 274 Federalists 116, 122 Finalität 180 Flexibilität 232

Formvorschrift 222, 244, 245 FPÖ 43 Fragerecht 159 Freiheit 63, 71, 73, 74, 77–80, 87, 88– 90, 93, 96, 99, 106, 108, 109, 122– 124, 126, 127, 140, 144, 145, 275, 287, 291 Freiheitsbegriff 99 Freiheitssicherung 13, 22, 72, 89, 123, 139, 144, 276 Freiheitsverlust 126 Friedens- und Ordnungsfunktion 88 Frühwarnsystem 44 Fünfteilung 101, 103 Funktion 68, 81–83, 138, 139, 141, 144, 162–164, 190, 191, 193, 209, 220, 229, 282 Funktionsfähigkeit 140, 169 Funktionsträger 74, 75, 81, 84, 91, 104, 134, 148 Gemeinschaftsgerichte 204, 218, 282 Gemeinschaftsinteresse 151, 153, 184, 185, 191, 197, 215, 217, 272, 285 Gemeinschaftsinteressen 51, 124, 184 Gemeinschaftstreue 178, 262 Gemeinwohlausrichtungen 153, 183 Generalanwälte 40, 202 Gerichtsbarkeit 57, 113, 146, 212, 273 Gerichtsbesetzung 105, 108 Gerichtskammern 202 Gesellschaftsbildung 78, 87, 126 Gesellschaftsvertrag 124–131 Gesetzesausführung 104, 130 Gesetzesbegriff 97, 134, 135, 136 Gesetzesvorbehalt 52 gesetzgebende Körperschaft 60, 61 Gesetzgebung 108, 131, 133, 158, 163, 165, 166, 171, 177, 184, 215, 217, 231, 237, 242, 243, 246, 248, 250, 260, 264, 266, 271, 283, 290 Gewaltenteilung 67, 69, 71–75, 78, 80, 81, 85, 96, 97, 100, 113–116, 122, 124, 125, 133, 138–146, 148, 149, 152, 208, 218, 226, 250, 259, 267, 268, 270–272, 275, 281, 284 Gewaltentrennung 84, 109, 133, 139 Gewaltenverschränkungen 117, 137, 272

Stichwortverzeichnis Gleichgewicht der Gewalten 223, 224, 228, 279 Gleichheit 38, 79, 156 Gleichwertigkeit 242 Glorious Revolution 71 Griechenland 27, 172 Grundrechte 40, 51, 72, 96, 200, 211, 276–278 Grundwerte 38, 242, 274 Hallstein, Walter 49 Hamilton, Alexander 116, 119, 120, 121, 146, 291 Hauptrechtssetzungsorgan 177, 272 Haushaltsbefugnisse 158, 176, 177 Haushaltsentlastung 162 Herrschaftsberechtigung 102 Herrschaftsgewalt 23, 103, 284 Herrschaftslegitimation 16, 85, 86, 88, 95, 285, 287, 292 Herrschaftsrechtfertigung 90, 91, 114 Hippel, Ernst von 74 Hohe Behörde 151, 196, 223–225, 276, 279 Hoheitsgewalt 111, 163, 165, 169, 181, 213, 235, 249, 267, 277 Homogenität 16, 48, 57, 180 Identität 93, 129, 164, 178, 210, 269, 287, 289 Identitätsbildung 93, 94, 286, 288, 292 Imboden, Max 74, 134 Individualrechte 29, 57, 80, 89 Individualschutz 57 Inkompatibilitätsregelungen 109, 139, 170 input-Legitimität 288 institutionelle Gleichgewicht 13, 14, 17–22, 69, 149, 181, 214, 221, 225, 228, 230, 233–238, 240–243, 245, 246, 250, 252, 260, 261, 264–266, 268, 271, 273, 274, 278, 279, 283, 284, 291 institutionelles Ungleichgewicht 218 Integration 83, 87, 103, 115, 138, 147, 148, 150, 151, 158–162, 168, 169, 181, 183, 186, 187, 189, 197–199, 271, 276, 281, 288, 289 Integrationsbereitschaft 25

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Integrationsdichte 90 Integrationsfähigkeit 140, 180 Integrationsprozess 23–27, 31, 33, 62, 64, 93, 116, 125, 156, 174, 178, 181, 198, 218, 257, 280, 283, 286, 291 Interessenausrichtung 124, 151, 222, 234 Interessengegensätze 76, 149–152, 180, 234 Interessenlagen 18, 108, 153 Interorganvereinbarungen 263 Italien 44, 47, 48 Jay, John 116 Judikative 107, 109, 111–114, 119, 146, 153, 215, 218, 271, 274 Kernbereich 21, 25, 141 Klass u.a. ./. Germany 57 Kollektivfreiheit 127 Kommunikation 158, 162, 211, 262 Kommunikationsgemeinschaft 290 Kompromiss 95, 174, 179 Kompromissfindung 75, 175, 255 Konnexität 81 Konsensfindung 125, 180 Konstytucia 142 Konsultation 85, 189, 193, 232, 249, 262 Kontrollbefugnisse 249 Kontrollfunktionen 18 Kooperationsverhältnis 164 Kopenhagener Kriterien 50 Köster 13, 229–232 Kriegszustand 79 Leerformel 15, 143, 220, 267 Lega Nord 45 legale Herrschaft 91 Legislative 106–114, 118–121, 130, 131, 136, 140, 143, 145, 215, 271, 274 Legitimation 87–89, 95, 114, 136, 163–169, 181, 182, 211, 214, 217 Legitimationsbedarf 22 Legitimationsketten 182 Legitimationsvorstellungen 115 Lehre von den Funktionen 19, 138

312

Stichwortverzeichnis

Leistungsfähigkeit 84 Lettland 31 Litauen 31 Locke, John 67, 70, 75, 77, 79, 82, 84, 87, 95, 110 Long Parliament 120 Machtdualismus 137 Machthemmung 111 Machtmissbrauch 70, 74, 75, 77, 123, 146, 150, 151, 270, 275 Machtteilhabe 121, 274 Madison, James 116–120, 152 Matthews ./. United Kingdom 58–61 Mehrebenensystem 282 Meroni-Entscheidung 223, 225, 228, 229, 232, 264, 279 Methodik 144, 278 Ministerrat 171, 173, 175–178, 217, 222 Misstrauensantrag 159, 185 Mitbestimmung 88 Mitentscheidungsverfahren 166, 217, 235 Mitwirkung 25, 33, 34, 108, 166, 179, 181, 182, 215, 226, 234, 246 Mitwirkungsrechte 21, 39, 102, 140, 149, 158, 192, 194, 263, 266 Monarchie 102, 103, 135 Montesquieu 70–72, 74, 75, 76, 79, 80, 85, 95–100, 103–124, 128, 129, 131–134, 136 Naturzustand 77, 126, 127 Nelkenrevolution 26 Nichtigkeitsklage 204, 206, 223, 225, 228, 233, 236, 237, 239–241 Nichtstaatlichkeit 62 Normbefolgung 86 Oligarchie 101, 102, 121 Opposition 46, 160 Ordnungsidee 144, 220 Organisationsstruktur 141, 157, 228 Organkonflikte 222 Organtreue 249, 262 Organverhältnisse 131, 249, 265, 279, 280, 284 Österreich 42, 43

Osterweiterung 47, 90 output-Legitimität 284 Parlament 155, 157–164, 166, 169, 174, 176, 177, 181, 185, 193–195, 206, 210, 214–217, 234–250, 254, 255, 262, 264 Parlamentarisierung 83, 216, 266, 281 Philadelphia 116, 117 Planung 135 Planwidrigkeit 241, 242, 264 Platon 100, 101, 103 Plaumann-Formel 204 Pluralismus 38, 93, 121, 123, 147 Polen 30, 142 Politikgestaltung 231, 250, 263 politische Freiheit 72 politische Theorie 122 Polybios 101 Portugal 26, 27, 172, 194 Präambel 37, 57 Primärrecht 210, 231 Privatinteressen 128, 129, 132

167, 187, 221, 222,

Rahmenvertrag 36 Rationalität 91 Rechtserkenntnisquellen 40, 59 Rechtsfindung 112, 267 Rechtsfortbildung 207–211, 214, 241, 242, 260, 261 Rechtsgemeinschaft 53, 205, 210 Rechtsgrundlage 192, 200, 238, 239, 250–257 Rechtsgrundsatz 52, 277 Rechtsposition 77 Rechtsprechung 104–106, 112, 133, 135, 140, 141, 145, 146, 149, 201, 202, 205, 206, 208, 210, 213, 216, 219, 221–223, 263, 265 Rechtsprinzip 14, 57, 242 Rechtssetzung 135, 208, 226, 246 Rechtssicherheit 52, 112, 190, 205 Rechtsstaat 55, 66, 79, 91, 96, 144 Rechtsstaatlichkeit 30, 32, 35–37, 39, 48, 50, 51, 53, 55–58, 62–64, 66, 68, 87, 93, 95, 208, 267, 287 Rechtsverbindlichkeit 37, 40, 190 Rechtsvergleichung 51, 209

Stichwortverzeichnis Rechtsverweigerung 207 Rechtsverwirkung 245 Reflex 15, 21 Regelungsdichte 52 Regelungslücke 64, 241, 244 Regierung 119, 129, 130, 135, 140, 147, 177, 183, 191, 218 Regierungsformen 98, 99 regimen commixtum 103, 114 Repräsentativsystem 107 Republik 98, 116, 119 Richteramt 105 Roquette Frères 243–247 Rotationsprinzip 171 Rousseau 124–133, 146 rule of law 27, 35 Sachnähe 81, 255 Sanktionsmechanismus 41, 42, 46 Schweden 28 societas perfecta 92 Solange-Rechtsprechung 29 Solidarität 38, 93 Souveränität 16, 28, 42, 129, 150, 175, 271, 283 soziale Gewaltenteilung 76 Soziologie 86, 94, 135 Staatengleichheit 156, 174 Staatlichkeit 39, 69 Staatsformenlehre 103, 113, 114 Staatsfunktionen 113, 130, 147 Staatshaftungsanspruch 261 Staatslehre 75, 103, 122, 140, 272 Staatsorgane 62, 147 Staatsstrukturen 25 Stabilisierung 86, 93, 212, 272 Ständeordnung 97, 119, 121, 122, 145 Steuererhebung 99, 108 Strafgesetze 80 Streitbeitritt 236, 243 Strukturklauseln 34, 35 Strukturprinzip 62, 91, 148, 265 Struktursicherungsklausel 29, 34 Subsidiaritätsprinzip 137, 250, 281 The Wealth of Nations 89, 330 Timarchie 101 Timokratie 100 Titandioxid-Industrie 254

313

Tradition 91, 102, 114, 142, 287 traditionelle Herrschaft 91 Transparenz 183, 191, 199, 258 Tschechische Republik 30, 68 Tschernobyl 238 Tyrannis 101, 102, 118 Überwachung 76, 80, 82, 107, 111, 112, 118, 119, 120, 131, 140, 146– 148, 158–162, 164, 178, 181 Überwachungsbefugnisse 140 Umsetzungsakte 26 Unabhängigkeit 106, 107 119, 124, 130, 187, 193, 195, 197, 202, 203, 240 Unionsbürgerschaft 286 Unparteilichkeit 77, 197, 202 Untätigkeitsklage 189, 236, 237, 239 Unterbegriff 141 Unternehmen 192, 224, 228 Unternehmensverbände 224, 228, 279 Unterordnung 127, 131, 141, 253 Urteile 151, 201, 202, 210, 212, 218 Urteilsfindung 106, 202 Verfahrensbestimmungen 42, 44 Verfahrensbeteiligung 236, 245 Verfahrenslegitimation 288 Verfassung 214, 216, 218, 235, 269– 271, 278, 279, 282–284, 288 Verfassung von New Hampshire 118 Verfassungsgerichtsbarkeit 42, 62, 120, 211 Verfassungsprinzip 15, 21, 31–35, 148 Verfassungsrechtsprechung 111, 145 Verfassungstradition 35 Verhältnismäßigkeit 14, 52, 212 Verteilungsschlüssel 155 Vertrag von Nizza 17, 44, 47, 48, 202 Vertragsänderung 15, 38, 59, 206, 207, 208, 232, 267 Vertragsverletzungsverfahren 191, 204 Vertrauensschutz 51, 151, 212 Vetorecht 68, 108 Virginia Bill of Rights 72 Völkerrechtsfreundlichkeit 33 Vorhersehbarkeit 18, 191 Vorschlagsrecht 193

314

Stichwortverzeichnis

Wahlrecht 155, 156 Washington, George 73 Weber, Max 90, 92 Weimarer Zeit 74 Werteordnung 128, 211, 250, 269 Wertesystem 269 Wertungswiderspruch 242 Wettbewerbsrecht 191, 266 Willensbildung 103 Willkürherrschaft 75, 101 Wirtschaftsordnung 16, 89

Zivilgesellschaft 54, 94 Zuordnungsprinzip 81 Zusammenarbeit 158, 164, 173, 176, 182, 215, 226 Zuständigkeitsbereiche 16, 21, 38, 164 Zuständigkeitsdelegationen 21 Zuständigkeitsverteilung 212, 240, 248, 260, 263, 264 Zustimmung 42, 63, 85–88, 153, 158, 159, 165, 167, 176, 177, 194, 215 Zwangsmittel 180