Individualrechtsschutz gegen Normen im Gemeinschaftsrecht [1 ed.] 9783428517152, 9783428117154

Mit der Individualnichtigkeitsklage gemäß Art. 230 Abs. 4 EG steht im Gemeinschaftsrecht für natürliche und juristische

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Individualrechtsschutz gegen Normen im Gemeinschaftsrecht [1 ed.]
 9783428517152, 9783428117154

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E L L E N SCHULTE

Individualrechtsschutz gegen Normen im Gemeinschaftsrecht

Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel Herausgegeben von Jost D e l b r ü c k , R a i n e r und A n d r e a s

Hofmann

Zimmermann

Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht

151

Volkerrechtbcher Beirat des Instituts: Rudolf Bernhardt Heidelberg

Eibe H. Riedel Universität Mannheim

Christine Chinkin London School of Economics

Allan Rosas Court of Justice of the European Communities, Luxemburg

James Crawford University of Cambridge Lori F. Damrosch Columbia University, New York Vera Gowlland-Debbas Graduate Institute of International Studies, Geneva Fred L. Morrison University of Minnesota, Minneapolis

Bruno Simma International Court of Justice, The Hague Daniel Thürer Universität Zürich Christian Tomuschat Humboldt-Universität, Berlin Rüdiger Wolfrum Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg

Individualrechtsschutz gegen Normen im Gemeinschaftsrecht Von

Ellen Schulte

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel hat diese Arbeit im Jahre 2004 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1435-0491 ISBN 3-428-11715-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier

entsprechend ISO 9706 θ

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Oktober 2003 abgeschlossen und von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Dissertation angenommen. Tag der mündlichen Prüfung war der 8. Juli 2004. Rechtsprechung und Literatur aus der Zeit nach Oktober 2003 konnten noch vereinzelt berücksichtigt werden. Ich möchte mich bei meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Dr. Rainer Hofmann für die Betreuung der Promotion und die Erstellung des Erstgutachtens und bei Herrn Prof. Dr. Andreas Zimmermann für die Zweitbegutachtung bedanken. Ihnen und Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Jost Delbrück danke ich zudem für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel. Ich hatte das große Glück, mit dem Promotionsstipendium des Landes Schleswig-Holstein zur Förderung des wissenschaftlichen und des künstlerischen Nachwuchses bei der Anfertigung der Dissertation unterstützt zu werden. Dem Bundesministerium des Innern verdanke ich einen Druckkostenzuschuss für die Veröffentlichung der Arbeit. Besonderen Dank schulde ich Herrn Prof. Dr. Wolfram Cremer für seine außerordentliche Gesprächsbereitschaft und seine vielen Anregungen. Schließlich danke ich meinem Freund Dr. Sebastian Klausch für seine Hilfe und seine Geduld sowie meinen Eltern, die immer für mich da sind und mich auf jede erdenkliche Art unterstützen. Kronshagen, im Januar 2005

Ellen Schulte

Inhaltsverzeichnis

Α. Einleitung

17

Β. Normenkontrolle und Individualrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft

19

I. Bedeutung der Normenkontrolle unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten Π. Restriktive Grundhaltung zur Normenkontrolle durch Private

19 20

ΙΠ. Konzeption normativer Rechtsakte im EG-Vertrag

23

1. Verordnungen gemäß Art. 249 Abs. 2 EG

23

2. Richtlinien gemäß Art. 249 Abs. 3 EG

23

IV. Primärrechtlich vorgesehenes Rechtsschutzsystem gegen Normativakte und inhärente Schwächen 1. Rechtswegeröffnung auf zentraler Ebene

24 25

a) Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 Abs. 4 EG

25

b) Amtshaftungsklage gemäß Art. 288 Abs. 2 i. V. m. Art. 235 EG

26

c) Inzidentkontrolle gemäß Art. 241 EG

26

2. Dezentrale Rechtsschutzmöglichkeiten und Einbeziehung der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit gemäß Art. 234 EG

27

3. Unzulänglichkeiten der primärrechtlich vorgesehenen Rechtsschutzmöglichkeiten

28

a) Schwächen des Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art. 234 EG

28

b) Probleme der Amtshaftungsklage gemäß Art. 288 Abs. 2 i. V. m. Art. 235 EG

33

c) Wirkungsweise der Inzidentkontrolle gemäß Art. 241 EG

35

C. Entwicklung und Bewertung der Rechtsprechung von EuGH und EuG zum Individualrechtsschutz gegenüber normativen Rechtsakten

36

I. Anfechtbarkeit von Richtlinien durch natürliche und juristische Personen im Wege der Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 Abs. 4 EG

36

10

Inhaltsverzeichnis 1. Rechtsprechung von EuGH und EuG zur Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage gegen Richtlinien

37

a) Beschluss des EuGH vom 07. 12. 1988 in der Rechtssache 160/88 Fedesa und Beschluss des EuGH vom 07. 12. 1988 in der Rechtssache 138/88-Flourez

37

b) Urteil des EuGH vom 29. 06. 1993 in der Rechtssache C-298/89 Gibraltar

38

aa) Schlussantrag des Generalanwalts Lenz

39

bb) Urteil des Gerichtshofs

40

c) Beschluss des EuG vom 29. 10. 1993 in der Rechtssache T-463/93 GUNA

41

d) Beschluss des EuG vom 20. 10. 1994 in der Rechtssache T-99/94 Asocarne

42

e) Beschluss des EuGH vom 23. 11. 1995 in der Rechtssache C-10/95 Ρ Asocarne

44

f) Urteil des EuG vom 17. 06. 1998 in der Rechtssache T-135/96 UEΑΡΜΕ

46

g) Urteil des EuG vom 27. 06. 2000 in den verbundenen Rechtssachen T-172/98, T-175/98 bis T-177/98 - Salamander

47

h) Beschluss des EuG vom 14. Ol. 2002 in der Rechtssache T-84/01 ACHE

51

i) Beschluss des EuG vom 10. 09. 2002 in der Rechtssache T-223/01 Japan Tobacco

52

j) Beschluss des EuG vom 06. 05. 2003 in der Rechtssache T-321/02 Morin

55

2. Würdigung der Rechtsprechung zum Rechtsschutz gegen Richtlinien a) Richtlinien als anfechtbare Handlungen

56 57

aa) Gleichsetzung mit Entscheidungen, die an andere Personen gerichtet sind?

57

bb) Anfechtbarkeit von Scheinrichtlinien

59

cc) Normative Richtlinienbestimmungen

61

b) Die Voraussetzung des unmittelbaren Betroffenseins aa) Unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien (1) Gründe für die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien: effet utile und estoppel-Prinzip

62 63 64

Inhaltsverzeichnis (2) Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien (a) Verstoß gegen die Umsetzungsverpflichtung

65 66

(b) Inhaltliche Unbedingtheit

66

(c) Hinreichende Bestimmtheit

67

(3) Rechtsfolgen der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien

67

(a) Vertikale Verhältnisse

67

(b) Horizontale Verhältnisse

69

(aa) Rechtsprechung des EuGH

69

(bb) Stimmen zur unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien in horizontalen Verhältnissen

71

(cc) Neue Tendenz in der Rechtsprechung

73

(c) Dreiecksverhältnisse

75

bb) Bedeutung des unmittelbaren Betroffenseins in der Rechtsprechung des EuG für die Anfechtbarkeit von Richtlinien und Stellungnahme .

76

(1) Rückzug auf „formelle" Unmittelbarkeit in der Rechtssache Salamander

76

(2) Vorzugswürdigkeit der „materiellen" Unmittelbarkeit auch für Richtlinien

77

(a) Wortlaut und telos

77

(b) Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der formellen Interpretation des unmittelbaren Betroffenseins im Hinblick auf Scheinrichtlinien

79

c) Korrelat von privilegierter Klagebefugnis und Verpflichtung bei unmittelbarer Anwendbarkeit?

81

3. Zusammenfassung zur Anfechtbarkeit von Richtlinien Π. Anfechtbarkeit von Verordnungen durch natürliche und juristische Personen im Wege der Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 Abs. 4 EG

85

86

1. Scheinverordnungen als anfechtbare Rechtsakte

86

2. Nichtigkeitsklage gegen echte Verordnungen

88

a) Normativer Rechtscharakter

89

b) Beginn der Öffnung zur Anfechtbarkeit normativer Rechtsakte: Antidumpingrecht

94

c) Anerkennung der generellen Anfechtbarkeit von Normativakten

97

aa) Urteil des EuGH vom 18. Mai 1994 in der Rechtssache C-309/89 Codorniu

97

(1) Schlussanträge des Generalanwalts Lenz

97

(2) Urteil des Gerichtshofes

99

12

Inhaltsverzeichnis bb) Begründungsmodelle (1) Gemeinschaftsgerichte

99 99

(a) Das EuG und die These von den hybriden Rechtsakten

100

(b) Gerichtshof

105

(2) Literatur

107

(a) Argumentation Röhls

107

(b) Stellungnahme

109

(c) Vorschlag Lengauers

111

(d) Standpunkt Cremers

112

3. Zusammenfassung zur Anfechtbarkeit von Verordnungen ΙΠ. Das individuelle Betroffensein

112 114

1. Geschlossener Personenkreis als hinreichendes Kriterium?

115

2. Rechtspositionen im Verfahren

118

3. Normierte Pflicht zur Berücksichtigung der Situation des Klägers

120

4. Wirtschaftliche Stellung oder spezifische Rechte des Klägers

127

a) Wirtschaftliche Stellung

127

b) Spezifische Rechte

130

5. Zusammenfassung zur Interpretation des individuellen Betroffenseins in der Rechtsprechung 133 6. Stimmen aus der Literatur zum Erfordernis der Individualität

134

7. Eigener Ansatz

139

D. Problematische Fälle im gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutzsystem I. Rechtsschutz gegen Sekundärrechtsakte ohne Durchführungsmaßnahmen Π. Effektiver Rechtsschutz als rechtzeitiger Rechtsschutz

143 143 146

1. Vorläufiger Rechtsschutz auf Gemeinschaftsebene

146

2. Vorläufiger Rechtsschutz auf mitgliedstaatlicher Ebene

147

3. Vorwirkungen von Normen

149

ΙΠ. Sonderfall: Rechtsschutz für „staatliche Stellen" gegen unmittelbar anwendbare Richtlinien 151

Inhaltsverzeichnis E. Jüngste Entwicklungen zum Individualrechtsschutz gegen normative Rechtsakte zwischen zentraler und dezentraler Rechtswegeröffnung 153 I. Neue Diskussion der Gemeinschaftsgerichte zur Reform des Rechtsschutzes ...

153

1. Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs vom 21. 03. 2002 in der Rechtssache C-50/00 Ρ - UPA 154 a) Strukturelle Schwächen des Vorabentscheidungsverfahrens

154

b) Keine subsidiäre Klagebefugnis

155

c) Keine umfassende Dezentralisierung

156

d) Konsequenz: Neue Interpretation der Individualität

156

2. Urteil des EuG vom 03. 05. 2002 in der Rechtssache T-177 / 01 - Jégo-Quéré 159 a) Klageberechtigung nach der Plaumann-Formel

159

b) Rechtsschutzgewährung durch andere Verfahren

160

c) Änderung der Rechtsprechung zur individuellen Betroffenheit

160

3. Urteil des EuGH vom 25. 07. 2002 in der Rechtssache C-50/00 Ρ - UPA ...

161

4. Urteil des EuGH vom 01. 04. 2004 in der Rechtssache C-263/02 Ρ - JégoQuéré

162

Π. Würdigung 1. Zur Frage nach einer Auffangzuständigkeit der Gemeinschaftsgerichte

163 163

a) Der Aspekt anderweitiger Rechtsschutzmöglichkeiten vor nationalen Gerichten in früheren Verfahren und den aktuellen Urteilen 163 b) Zu den Argumenten der Ungleichbehandlung und Kompetenzüberschreitung

167

2. Grenzen der Dezentralisierung

168

3. Grundlage des Rechtsschutzauftrags an die Mitgliedstaaten

171

4. Zur Interpretation der individuellen Betroffenheit durch Generalanwalt Jacobs und das EuG

173

a) Interpretationsoffenheit des individuellen Betroffenseins

174

b) Neuinterpretation zur Vermeidung von Rechtsschutzlücken?

176

c) Zweckmäßigkeit des Rechtsschutzsystems

177

5. Verbleibendes Problem: Handlungen allgemeiner Geltung als anfechtbare Rechtsakte

182

14

Inhaltsverzeichnis ΠΙ. Konsequenzen der Dezentralisierung des Rechtsschutzes gegen Normativakte 185 1. Rechtswegeröffnung vor den nationalen Gerichten

185

a) Nationale Rechtsbehelfe und gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation

185

b) Schaffung neuer Rechtsbehelfe?

188

2. Auswirkungen auf das Vorabentscheidungsverfahren

189

3. Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch mitgliedstaatliche Gerichte ..

192

IV. Verbleibende Rechtsschutzlücken?

193

F. Ausblick: Möglichkeiten der Gestaltung des Rechtsschutzes gegenüber normativen Rechtsakten de lege ferenda 195 I. Forderungen nach einer Grundrechtsbeschwerde 1. Anwendungsbereich und Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Grundrechtsbeschwerde

195

196

a) Zuständigkeit des EuGH

196

b) Angreifbarer Akt

197

c) Beschwerdebefugnis

199

d) Subsidiarität der Grundrechtsbeschwerde

200

2. Gestaltung des Verfahrens

200

3. Systematische Stellung

201

4. Stellungnahme

201

a) Zu dem Anwendungsbereich und den Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Grundrechtsbeschwerde 202 aa) Zuständigkeit und Beschwerdebefugnis

202

bb) Angreifbarer Akt und Subsidiarität

202

b) Zur Gestaltung des Verfahrens

206

c) Zur systematischen Stellung

207

Π. Änderung und Erweiterung des Individualrechtsschutzes gegen Normativakte im Rahmen der Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 Abs. 4 EG 208 1. Ergebnisse des Verfassungskonvents im Hinblick auf die Zukunft der Nichtigkeitsklage 208

Inhaltsverzeichnis 2. Stellungnahme und eigener Ansatz

211

a) Genereller Verzicht auf das Kriterium der individuellen Betroffenheit im Sinne der Plaumann-Formel 211 aa) Praktische Nachteile des Kriteriums der individuellen Betroffenheit

211

bb) Zweifelhafte Funktion des Kriteriums der individuellen Betroffenheit

212

b) Einheitliches Rechtsschutzkonzept und funktionale Rechtswegzuweisung

213

aa) Mögliche Funktionen dezentralisierten Rechtsschutzes

215

(1) Dezentralisierung des Rechtsschutzes in anderen Rechtsschutzsystemen 215 (a) Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, §§ 13Nr.8a,23,90ff.BVerfGG 215 (b) Individualbeschwerde gemäß Art. 34 EMRK

218

(2) Aufgaben und Funktionsgrenzen der mitgliedstaatlichen Gerichte bei der Gewährung von Rechtsschutz gegenüber gemeinschaftsrechtlichen Normativakten 220 (a) Objektive Sinnlosigkeit der Inanspruchnahme der dezentralen Rechtsschutzebene 221 (b) Verweis auf den dezentralen Rechtsweg ist für den Betroffenen subjektiv unzumutbar

224

bb) Zusammenfassung: Konsequenzen für die Nichtigkeitsklage de lege ferenda

225

G. Schlussbetrachtung

228

Literaturverzeichnis

229

Sachwortregister

239

Α. Einleitung Rechtsschutz gegen Gemeinschaftsrechtsakte wird nach dem EG-Vertrag auf verschiedenen Ebenen gewährt. Zum einen existieren Rechtsbehelfe auf zentraler gemeinschaftlicher Ebene, zum anderen kann Rechtsschutz auf dezentraler mitgliedstaatlicher Ebene zu suchen sein. Für den Primärrechtsschutz gegen Normativakte der Gemeinschaft ist nach dem im EG-Vertrag vorgesehenen System die zentrale Ebene gesperrt und der Betroffene vor die nationalen Gerichte verwiesen. Der Wortlaut der Individualnichtigkeitsklage gemäß Art. 230 Abs. 4 EG ist dafür entscheidend: Jede natürliche oder juristische Person kann unter den gleichen Voraussetzungen gegen die an sie ergangenen Entscheidungen sowie gegen diejenigen Entscheidungen Klage erheben, die, obwohl sie als Verordnung oder als eine an eine andere Person gerichtete Entscheidung ergangen sind, sie unmittelbar und individuell betreffen.

Richtlinien und Rechtsakte, die nicht nur ihrer Form, sondern auch ihrem Gehalt nach Verordnungen sind, können damit nicht taugliche Klagegegenstände von Nichtigkeitsklagen Einzelner sein. Der Wortlaut zur Nichtigkeitsklage natürlicher und juristischer Personen ist seit Gründung der Europäischen (Wirtschafts-)Gemeinschaft zum 01. 01. 1958 nie geändert worden. Dem steht ein immenser Wandel der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Anfechtbarkeit von Normen gegenüber. Mit dem bedeutsamen Urteil in der Rechtssache Codorniu im Jahr 1994 hat der Gerichtshof eine Wende vollzogen und die Individualnichtigkeitsklage für normative Rechtsakte geöffnet 1. Gleichwohl scheitern Klagen sehr häufig an der Zulässigkeitsvoraussetzung des individuellen Betroffenseins, welche von der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit traditionell sehr restriktiv ausgelegt wird. Maß aller Dinge ist seit 1963 die PlaumannFormel, nach welcher der Kläger wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und daher in ähnlicher Weise individualisiert sein muss wie ein Adressat2. Erst in jüngster Zeit ist die Diskussion um den Rechtsschutz natürlicher und juristischer Personen in der Rechtsprechung erneut aufgeflammt. Den engagierten Schlussanträgen von Generalanwalt Jacobs folgend hat das EuG sich für eine Abkehr von der Plaumann-Formel und eine wesentlich weitere Auslegung der individuellen Betroffenheit ausgesprochen3. Der EuGH jedoch hat wenige Monate ι EuGH Rs. C-309/89 - Codorniu SA/Rat, Slg. 1994,1 - 1853, Rn. 19 ff. 2 EuGH, Rs. 25/62 - Firma Plaumann & Co/Kommission, Slg. 1963, 211, 238. Zu den neueren Entwicklungen siehe unter E. 2 Schulte

18

Α. Einleitung

später die Plaumann-Formel ausdrücklich bestätigt und dieser Entwicklung in der Rechtsprechung damit ein Ende bereitet4. Die Literatur hat sich von je her kritisch mit den Beschränkungen der Direktklagemöglichkeit Privater generell und im Hinblick auf die Angreifbarkeit von Normativakten im Besonderen auseinandergesetzt. Schon in den 60er Jahren befürwortete Riese ein Klagerecht Privater gegen Verordnungen5. Zeitgleich erhob auch von Simson die Forderung nach einer Ausdehnung der Klagebefugnisse Privater gegen Verordnungen und will für die Direktklagemöglichkeit ein weit gefasstes und flexibel zu handhabendes Rechtsschutzbedürfnis genügen lassen6. Die Forderungen nach einer großzügigeren Zulassung von Individualnichtigkeitsklagen gegen Normen sind bis heute nicht verstummt7. Aktuell hat sich der Verfassungskonvent mit der Frage beschäftigt, ob und inwieweit der Individualrechtsschutz gegen Normativakte reformbedürftig ist. Im Ergebnis wurden moderate Änderungen des Rechtsschutzsystems in den Verfassungsentwurf übernommen. Die vorliegende Arbeit soll die Entwicklung der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte zur Anfechtbarkeit von Richtlinien und Verordnungen und zu den Erfordernissen unmittelbarer und individueller Betroffenheit unter Berücksichtigung der in der Literatur vertretenen Auffassungen darstellen und bewerten. Zum Abschluss soll ein Ausblick auf die Möglichkeiten der Rechtsschutzgestaltung de lege ferenda gegeben werden.

3 GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequenos Agricultores / Rat, Slg. 2002,1 - 6677,1 - 6681 ff.; EuG, Rs. T-177/01 - Jégo-Quéré et Cie SA/Kommission, Slg. 2002, Π - 2 3 6 5 ff. 4

EuGH, Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequenos Agricultores/Rat, Slg. 2002,1 - 6677 ff. Riese, EuR 1966, 24 (35/36,42/43). Problematisch schien ihm aus Sicht der damaligen Zeit aber, ob dies ohne Gefährdung des Gemeinschaftsrechts möglich sei. Aus heutiger Sicht sind solche Bedenken überholt. 6 von Simson, DVB1. 1966, 653 (656) m. w. N. 5

7 Nachdrücklich und unter Bezugnahme auf die in Fn. 3 und 4 genannten Entscheidungen: Schohe!Arnold, EWS 2002, 320 ff.; Schohe, EWS 2002,424 ff.

Β. Normenkontrolle und Individualrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft I. Bedeutung der Normenkontrolle unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten Die Europäische Gemeinschaft erhob schon von Beginn an den Anspruch, eine Rechtsgemeinschaft zu sein1. Der Charakter einer Rechtsgemeinschaft manifestiert sich in besonderer Weise in der judikativen Sicherung des bestehenden Rechts2. Das Gemeinschaftsrecht stellt hierfür ein Klagesystem zur Verfügung, mit dem die Vereinbarkeit von Gemeinschaftsrechtsakten mit höherrangigem Recht und die Einhaltung des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten überprüft und durchgesetzt werden können. Für die Beurteilung des Grades an Rechtsstaatlichkeit einer Gemeinschaft sind die Existenz sowie die Effizienz der Normenkontrolle ein wichtiger Indikator3. Die Entwicklung rechtsstaatlicher Strukturen durch gerichtliche Legalitätssicherung nahm im 19. Jahrhundert ihren historischen Anfang in der Kontrolle von Verwaltungshandeln, während die Normenkontrolle in Europa im Wesentlichen erst im 20. Jahrhundert aufkam 4. Demgegenüber werden die Prinzipien der Souveränität des Parlaments und der Gewaltenteilung durch die Normenkontrolle eingeschränkt. Im heutigen Europa gewinnen gleichwohl die effektive und umfassende Verfassungsbindung und damit die Normenkontrolle zunehmend an Bedeutung, was auf ein gewachsenes Bewusstsein von der Wertigkeit des Rechts, von der Anthropozentrik des Staates und auf die gestiegene Beachtung des internationalen Menschenrechtsschutzes, insbesondere der EMRK, zurückzuführen ist5.

1 EuGH, Rs. 6/64 - Flaminio Costa/E.N.E.L., Slg. 1964, 1251, 1269; Nicolaysen, Rechtsgemeinschaft, Gemeinschaftsgerichtsbarkeit und Individuum, in: Individualrechtsschutz in der EG und der WTO, S. 17 (17 ff.). 2 Arnold, Rechtsstaat und Normenkontrolle in Europa, in: FS für Börner, S. 7 (8). 3 Arnold, Rechtsstaat und Normenkontrolle in Europa, in: FS für Börner, S. 7 (14). 4 Arnold, Rechtsstaat und Normenkontrolle in Europa, in: FS für Börner, S. 7 (12). 5 Arnold, Rechtsstaat und Normenkontrolle in Europa, in: FS für Börner, S. 7 (27) mit Hinweis auf die jungen Verfassungen Spaniens, Portugals und einiger Mittel- und Osteuropäischer Staaten, die alle in ihren Verfassungssystemen eine Normenkontrolle vorsehen. 2*

20

Β. Normenkontrolle und Individualrechtsschutz in der EG

II. Restriktive Grundhaltung zur Normenkontrolle durch Private Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage, welche Ausgestaltung die Normenkontrolle im Gemeinschaftsrecht erfahren hat und wer diese einfordern kann. Wie im Folgenden näher erläutert werden wird, ist die Möglichkeit, einen Normenkontrollantrag zu stellen, für natürliche oder juristische Personen grundsätzlich nicht vorgesehen. Das Recht, ein direktes Normenkontrollverfahren anzustrengen, wird nur einigen privilegiert Klageberechtigten zugestanden. Das Verfahren ist als Nichtigkeitsklage in Art. 230 EG niedergelegt. Die privilegiert Klagebefugten sind gemäß Art. 230 Abs. 2 EG die Mitgliedstaaten, der Rat, die Kommission, sowie mit Inkrafttreten des Vertrages von Nizza am 01. 02. 2003 jetzt auch das Parlament. Privilegiert klagebefugt sind sie deshalb, weil sie nicht die Verletzung eigener Rechte oder Interessen geltend machen müssen, sondern eine abstrakte Normenkontrolle erzwingen können6. Eine Sonderstellung nehmen der Rechnungshof und die EZB ein, die gemäß Art. 230 Abs. 3 EG Nichtigkeitsklage nur zur Wahrung ihrer Rechte erheben können. Die restriktive Haltung des EG-Vertrages wurde schon damals und wird heute noch vielfach als unbefriedigend empfunden und es wird daher gefordert, auch für Private eine Klagemöglichkeit gegen Normativakte einzuführen 7. Der de lege lata durch Art. 230 Abs. 4 EG für Einzelne vorgegebene Ausschluss der Direktklagemöglichkeit gegen Normen und die damit verbundene Verlagerung der Rechtsschutzzuständigkeit zu den nationalen Gerichten wird andererseits aber auch noch in der neueren Literatur positiv bewertet8. Der Forderung nach einer direkten Klagemöglichkeit gegen Normen für natürliche und juristische Personen sind eine Reihe von Bedenken entgegen gebracht worden9. So wurde etwa darauf hingewiesen, dass in vielen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ebenfalls keine Individualklagemöglichkeit gegen normative Rechtsakte vorgesehen ist 10 . Abgesehen davon, dass daraus nicht wie selbstverständlich der Schluss gezogen werden kann, diese Beschränkung der Klagemöglichkeiten sei auch auf Gemeinschaftsebene wünschenswert11, müssen zudem Un6

Vgl. Koenig/Haratsch, Europarecht, Rn. 382. 7 Vgl. nur Riese, EuR 1966, 24 (35/36, 42/43); Sedemund/Heinemnn, DB 1995, 1161 (1166), von Danwitz, NJW 1993, 1108 (1114 f.); Schohe IArnold, EWS 2002, 320 ff.; Schohe, EWS 2002,424 ff.; teilweise de lege ferenda, teilweise schon de lege lata. β Nowak, EuR 2000,724 ff.; Gundel, VerwArch 2001, 81 ff. Nachweise bei Wegmann, Die Nichtigkeitsklage Privater gegen Normativakte der Europäischen Gemeinschaft, S. 174 ff. 10 Kutscher, EuR 1981, 392 (396). Wölker weist darauf hin, dass in Dänemark und Irland ein Klagerecht gegen Gesetze vorgesehen ist, ohne dass ein individuelles Betroffensein verlangt wird, in fünf weiteren Staaten ist die Klagebefugnis des Einzelnen unterschiedlich stark beschränkt und die übrigen acht Mitgliedstaaten sehen ein solches Klagerecht gar nicht vor, DÖV 2003, 570 (573/574). 9

II. Restriktive Grundhaltung zur Normenkontrolle durch Private

21

terschiede zwischen den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Gemeinschaft Berücksichtigung finden. Während in den Mitgliedstaaten die Unangreifbarkeit von Normen der Sicherung der Souveränität des unmittelbar demokratisch legitimierten Parlaments dient, kommt dieser Gedanke auf Gemeinschaftsebene mit nur mittelbarer demokratischer Legitimierung von Rat und Kommission, sowie eingeschränkter Beteiligung des Parlaments am Rechtssetzungsverfahren 12 nicht zum Tragen 13. Zudem ist die Gemeinschaft, anders als die Mitgliedstaaten, überwiegend Rechtssetzungsgemeinschaft, da der Vollzug weitgehend auf nationaler Ebene stattfindet. Sie kann sich somit nicht uneingeschränkt am Rechtsschutzsystem der Mitgliedstaaten orientieren, die primär Individualrechtsschutz gegen Vollzugsakte gewähren, vielmehr muss sich das gemeinschaftliche Rechtsschutzsystem an dem Charakter der Gemeinschaft als Rechtssetzungsgemeinschaft orientieren 14. Neben den Unterschieden zwischen den Rechtsordnungen der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten trägt das Argument, viele Rechtssysteme der Mitgliedstaaten würden ebenfalls keine Individualklage gegen Normativakte zur Verfügung stellen, aus einem weiteren Grund nicht. Selbst wenn in den nationalen Rechtsschutzvorschriften ursprünglich keine Individualklage gegen Normen vorgesehen war, kann doch nicht behauptet werden, ein solcher Rechtsbehelf existiere heute nicht. Zu berücksichtigen ist der Einfluss der EMRK auf die nationalen Rechtsordnungen der Konventionsstaaten. Ungeachtet der verschiedenen Behandlung und Implementierung der EMRK durch die Konventionsstaaten, sei es im Verfassungsrang, Übergesetzesrang, Gesetzesrang oder als bloß völkerrechtliche Verpflichtung15, folgt aus dem Beitritt der Mitgliedstaaten zu dieser Konvention das Recht der Individualbeschwerde gemäß Art. 34 EMRK für die Personen, die der Hoheitsgewalt der Vertragsstaaten unterliegen. Die Bindung an die Konventionsrechte der EMRK erstreckt sich auf jegliche Art der Staatsgewalt, so dass selbst Normen taugliche Beschwerdegegenstände der Individualbeschwerde sein können16. Für die Zulässigkeit der Individualbeschwerde ist aber erforderlich, dass der Beschwerdeführer unmittelbar betroffen ist, indem das Gesetz selbst und nicht erst ein darauf beruhender Vollzugsakt die Beeinträchtigung herbeiführt. Ein unmittelbares Betroffensein ist anzunehmen, wenn das Gesetz den Behörden kein Ermessen bei der 11 Rengeling, Brauchen wir die Verfassungsbeschwerde auf Gemeinschaftsebene?, in: FS für Everling, S. 1187(1193). 12 Art. 252,252 EG. 13 von Danwitz, NJW 1993,1108 (1112). 14

Rengeling, Brauchen wir die Verfassungsbeschwerde auf Gemeinschaftsebene?, in: FS für Everling, S. 1187 (1193); von Danwitz, NJW 1993,1108 (1112). 15 Janis/Kay /Bradley, European Human Rights Law, S. 488 ff.; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 18 ff. 16 EGMR, ADT/Vereinigtes Königreich, Urteil vom 31. 07. 2000; Fahrenhorst, JURA 1987, 130 (133); Ehlers, JURA 2000, 372 (376); Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 59.

22

Β. Normenkontrolle und Individualrechtsschutz in der EG

Anwendung belässt oder ein direktes gesetzliches Verbot statuiert wird 17 . Zwar sind damit vorrangig Vollzugsakte anzugreifen und die zugrunde liegenden Normen nur inzident zu überprüfen. Sie bleiben aber gleichwohl der Kontrolle durch den EGMR unterworfen, welche durch Individualkläger initiiert werden kann, und können gegebenenfalls sogar direkt Beschwerdegegenstand sein. Vor diesem Hintergrund kann nicht behauptet werden, in einigen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen seien Normen keiner Kontrolle im Wege einer Individualklage unterworfen. Ein weiterer Einwand gegen die Zulässigkeit von Individualklagen gegen Normativakte speist sich aus der Befürchtung, die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft, die zur Verabschiedung von Rechtsvorschriften oft auf mühsame und langwierige Verhandlungen angewiesen ist, könnte beeinträchtigt werden 18. Derartige Bedenken mögen zwar in den siebziger Jahren nachvollziehbar gewesen sein, sind heutzutage jedoch als überholt anzusehen. Inzwischen ist die Europäische Gemeinschaft zu einer gefestigten Rechtsgemeinschaft gewachsen, die eine Vielzahl von Rechtsakten erlässt und durch die gerichtliche Überprüfung dieser Rechtsakte nicht in ihren Grundfesten erschüttert wird. Schließlich wird eine erhebliche Rechtsunsicherheit befürchtet, wenn gemeinschaftsweit Normativakte der EG durch natürliche und juristische Personen in Frage gestellt werden könnten19. Doch kann im Gegenteil gerade eine frühzeitige Kontrolle der Rechtssicherheit zuträglich sein, indem die Folgen der Ungültigerklärung einer Norm, und damit auch der integrationspolitische Schaden, begrenzt werden20. Daneben kann der Rechtssicherheit auch bei der Nichtigerklärung einer Norm durch flexible Regelungen im Urteil Rechnung getragen werden, etwa indem die Norm zumindest in Teilen aufrecht erhalten wird oder die Wirkung des Urteils zeitlich begrenzt wird 21 . Insbesondere weil der Charakter der Europäischen Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft vom EuGH stets betont worden ist und damit die Rechtsschutzgarantie für alle vom Gemeinschaftsrecht gewährten Rechte einhergeht, steht das „Ob" der Kontrolle auch normativer Sekundärrechtsakte außer Frage 22. 17 EGMR, ADT/Vereinigtes Königreich, Urteil vom 31. 07. 2000; Meyer-Ladewig, kommentar zur EMRK, Art. 34 Rn. 13.

Hand-

18

Schwarze, Rechtsschutz Privater gegenüber normativen Rechtsakten im Recht der EWG, in: FS für Schlochauer, S. 927 (933). 19 Schwarze, Rechtsschutz Privater gegenüber normativen Rechtsakten im Recht der EWG, in: FS für Schlochauer, S. 927 (932,933). 20 Rengeling, Brauchen wir die Verfassungsbeschwerde auf Gemeinschaftsebene?, in: FS für Everling, S. 1187(11934). 21 EuGH, Rs. C-388/92 - Parlament/Rat, Slg. 1994,1 - 2067, Rn. 20-22; Rs. C-228/92 - Roquette Frères SA/Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994,1 - 1445, Rn. 17 ff. 22 EuGH, Rs. 294/83 - Parti écologiste „Les Verts"/Parlament, Slg. 1986, 1339, Rn. 23 ff.; vgl. auch: Gundel, VerwArch 2001, 81 (91).

ΠΙ. Konzeption normativer Rechtsakte im EG-Vertrag

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Erörterungsbedürftig ist vielmehr, wie nach dem heutigen Stand der Rechtsprechung Individualrechtsschutz gegen Normativakte gewährleistet wird.

ΠΙ. Konzeption normativer Rechtsakte im EG-Vertrag Eine Aufzählung der förmlichen Rechtsakte, die von den Organen der Gemeinschaft erlassen werden können (sekundäres Gemeinschaftsrecht 23), findet sich in Art. 249 EG. Von den dort genannten Rechtsakten haben Verordnungen und Richtlinien normativen Charakter 24.

1. Verordnungen gemäß A r t 249 Abs. 2 EG Verordnungen haben gemäß Art. 249 Abs. 2 EG aUgemeine Geltung, sind in allen ihren Teilen verbindlich und gelten unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Kraft ihrer allgemeinen Geltung sind sie auf objektiv bestimmte Sachverhalte anwendbar und entfalten Rechtswirkungen für allgemein und abstrakt umrissene Personengruppen25. Unmittelbare Geltung bedeutet, dass Verordnungen sowohl die mitgliedstaatlichen Stellen wie auch die Bürger binden, ohne dass es irgendeines nationalen Umsetzungs- oder Anwendungsbefehls bedarf 26. Als abstrakt-generelle Regelungen sind Verordnungen den Gesetzen der Mitgliedstaaten vergleichbar 27.

2. Richtlinien gemäß A r t 249 Abs. 3 EG Richtlinien sind gemäß Art. 249 Abs. 3 EG an die Mitgliedstaaten gerichtet und verpflichten diese verbindlich hinsichtlich des zu erreichenden Ziels, lassen jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der für die Umsetzung geeigneten Form und der dazu notwendigen Mittel. Richtlinien sind im Allgemeinen nicht unmittelbar anwendbar, sondern entfalten Rechtswirkungen erst nach Erlass des Umsetzungsaktes und vermittelt durch diesen28. Sie sind damit als zweistufige Rechtsakte kon23

Streinz, Europarecht, Rn. 375; Koenig/Haratsch, Europarecht, Rn. 253. 24 Statt aller: für Verordnungen: Hetmeier, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art 249 Rn. 6; für Richtlinien: EuG, RsT-99/94 - Asociación Espanola de Empresas de la Came (Asocarne)/Rat, Slg. 1994, Π - 871, Rn. 18. 25 EuGH, Rs. 101/76 - Koninklijke Schölten Honig NV/Rat u. Kommission, Slg. 1977, 797, Rn. 8 /11 ; Rs. 64 / 80 - F. Giuffrida u. G. Campogrande / Rat, Slg. 1981, 693, Rn. 6. 26 Magiera, in: Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff, EUV/EGV, Art. 189 Rn. 9; Streinz, Europarecht, Rn. 380. 27 Koenig/Haratsch, Europarecht, Rn. 278. 28 Nicolaysen, Europarecht I, S. 166; Scherzberg, Jura 1993, 225 (225). Auf die Weiterentwicklung dieser ursprünglichen Richtlinienkonzeption durch die Rechtsprechung des

24

Β. Normenkontrolle und Individualrechtsschutz in der EG

zipiert, bei denen die Gemeinschaftsorgane eine Rahmenregelung und die Mitgliedstaaten die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen treffen 29. Die Umsetzung in das nationale Recht muss alle denkbaren Anwendungsfälle der Richtlinie erfassen, zwingenden Charakter haben und gewährleisten, dass die Inhalte vor den nationalen Gerichten durchgesetzt werden können30. Die Besonderheit der Richtlinien, dass sie innerhalb einer vorgegebenen Frist von den Mitgliedstaaten in das nationale Recht zu transponieren sind, ist zugleich ihre Stärke und ihre Schwäche. Einerseits schont diese Konzeption die Souveränität der Mitgliedstaaten, gestattet Rücksichtnahme auf nationale Eigenheiten und bewirkt eine zusätzliche Legitimation der gemeinschaftlichen Rechtsetzung durch die nationalen Parlamente; andererseits ist die Gemeinschaft beim Erlass von Richtlinien auf die Kooperation der nationalen Parlamente angewiesen, so dass das Gemeinschaftsrecht nicht einheitlich, nicht richtig oder nicht rechtzeitig in allen Mitgliedstaaten zur Anwendung kommt, wenn die verschiedenen nationalen Parlamente ihrer UmsetzungsVerpflichtung nicht nachkommen31.

IV. Primärrechtlich vorgesehenes Rechtsschutzsystem gegen Normativakte und inhärente Schwächen Zunächst ist darzustellen, welche Rechtsschutzmöglichkeiten im EG-Vertrag gegen normative Rechtsakte vorgesehen sind und ob bzw. inwieweit dieses Rechtsschutzsystem möglicherweise Schwächen enthält. Das Gemeinschaftsrecht weist eine dualistische Struktur auf hinsichtlich der Rechtswege, die natürliche und juristische Personen beschreiten können. In Betracht kommen zum einen Verfahren auf Gemeinschaftsebene (zentrale Ebene32). Zu diesen zählen die Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 Abs. 4 EG, die Amtshaftungsklage gemäß Art. 288 Abs. 2 i. V. m. Art. 235 EG sowie die Inzidentkontrolle gemäß Art. 241 EG. Zum anderen kann Rechtsschutz vor den Gerichten der Mitgliedstaaten gesucht werden (dezentrale Ebene). Ist dort ein Rechtsstreit anhängig, in dem es auf die Auslegung oder Gültigkeit von Gemeinschaftsrecht ankommt, so kann bzw. muss EuGH hin zu einer unmittelbaren Anwendbarkeit bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen soll an dieser Stelle noch nicht eingegangen werden. 29 Magiera, in: Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff, EUV/EGV, Art. 189 Rn. 11; Koenig/Haratsch, Europarecht, Rn. 279. 30

Lengauer, Nichtigkeitsklage vor dem Europäischen Gerichtshof: Parteistellung natürlicher und juristischer Personen, S. 88. 31 Emmert, Europarecht, S. 156/157. 32 Zu den Begrifflichkeiten der zentralen und dezentralen Ebene vgl. Nowak, EuR 2000, 724 (724 ff.).

IV. Rechtsschutzsystem gegen Normativakte und inhärente Schwächen

25

im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art. 234 EG der EuGH mit diesen Fragen befasst werden. 1. Rechtswegeröffnung auf zentraler Ebene Der EG-Vertrag eröffnet natürlichen und juristischen Personen vereinzelt die Möglichkeit, direkt vor den Gemeinschaftsgerichten Sekundärrechtsakte anzugreifen". a) Nichtigkeitsklage

gemäß Art. 230 Abs. 4 EG

Für den Rechtsschutz von besonderer Bedeutung ist die Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 EG. Anders als den privilegiert Klageberechtigten steht natürlichen und juristischen Personen die Anfechtung eines Rechtsaktes im Wege der Nichtigkeitsklage nur unter einschränkenden Voraussetzungen zur Verfügung. Gemäß Art. 230 Abs. 4 EG sind als anfechtbare Rechtsakte nur Entscheidungen, die an den Kläger oder eine andere Person ergangen sind, sowie Entscheidungen, die als Verordnung ergangen sind, genannt. Letztere werden auch als „Scheinverordnungen" bezeichnet34. Echte Verordnungen, also solche, die ihrer Rechtsnatur nach nicht Entscheidungen sind, sondern normativen Charakter haben, und Richtlinien unterliegen nach dem Wortlaut von Art. 230 Abs. 4 EG nicht der Anfechtung durch die Individualklage. Nach dieser ursprünglichen Konzeption der Nichtigkeitsklage, die, wie im weiteren Verlauf der Arbeit zu zeigen sein wird, in der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte einigen Wandlungen unterworfen war, ist die Anfechtung von normativen Rechtsakten nicht vorgesehen. Im Hinblick auf Scheinverordnungen (und Entscheidungen, die nicht an den Kläger, sondern eine dritte Person ergangen sind) muss der Beschwerdeführer weitere Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllen, nämlich sein unmittelbares und individuelles Betroffensein darlegen. Von diesen Merkmalen, deren Auslegung durch EuGH, EuG und Literatur noch Gegenstand eingehender Untersuchung sein wird, stellt häufig insbesondere die individuelle Betroffenheit eine kaum zu überwindende Barriere 35 für die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage dar. Der EuGH sieht in ständiger Rechtsprechung seit der Rechtssache Plaumann die individuelle Betroffenheit nur dann als gegeben an, wenn der Kläger wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und daher in ähnlicher Weise individualisiert ist wie ein Adressat36. 33

Untersucht werden ausschließlich Rechtsschutzmöglichkeiten gegen bereits existente Rechtsakte. Die Untätigkeitsklage gemäß Art. 232 EG bleibt unter diesem Blickwinkel von vornherein außer Betracht. 34 Vgl. zur Terminologie auch Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 Rn. 27. 3 5 Statt aller: Arnull, CML Rev. 2001,7 (30).

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Β. Normenkontrolle und Individualrechtsschutz in der EG

b) Amtshaftungsklage

gemäß Art. 288 Abs. 2 i. V m. Art. 235 £G

Im Gemeinschaftsrecht ist gemäß Art. 288 Abs. 2 i. V. m. 235 EG im Bereich der außervertraglichen Haftung eine Klage auf Schadensersatz vorgesehen, mittels derer Schäden geltend gemacht werden können, die durch die Organe oder Bediensteten der Gemeinschaft in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursacht wurden. Im Rahmen der Zulässigkeit einer Amtshaftungsklage ist nicht zwischen normativen und administrativen Rechtsakten zu unterscheiden, vielmehr ist diese Klageart für beide Typen von Rechtsakten gleichermaßen vorgesehen37. Die Amtshaftungsklage übernimmt damit eine Ausgleichsfunktion für die fehlende Individualklagemöglichkeit gegen normative Rechtsakte im Rahmen der Nichtigkeitsklage, indem der Einzelne zumindest seine Schäden liquidieren kann38.

c) Inzidentkontrolle

gemäß Art. 241 EG

Die Inzidentkontrolle ermöglicht es dem Einzelnen, in einem bei der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit bereits anhängigen Verfahren eine Kontrolle von Verordnungen im Hinblick auf die in Art. 230 Abs. 2 EG genannten Nichtigkeitsgründe zu erreichen. Es handelt sich damit um einen Rechtsbehelf auf zentraler Ebene, der aber keinen direkten Zugang zum EuGH oder EuG eröffnet, da Voraussetzung ist, dass ein anderes Verfahren bereits anhängig ist. Das Verfahren der Inzidentkontrolle übt eine Ausgleichsfunktion aus, indem Verordnungen, die als normative Rechtsakte für natürliche und juristische Personen grundsätzlich nicht mit der Nichtigkeitsklage angreifbar sind, gerügt werden können, wenn sie die Grundlage für eine andere belastende Maßnahme bilden, die Gegenstand eines Verfahrens vor dem Gerichtshof ist 39 . Insoweit ist Art. 241 EG Ausdruck eines allgemeinen Prinzips, das auch vor den nationalen Gerichten Anwendung findet 40. Über den Wortlaut hinaus hat der EuGH als zulässige Rügegegenstände alle Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane anerkannt, die, auch wenn sie nicht in der Form der Verordnung ergangen sind, gleichartige Wirkungen wie eine Verordnung entfalten und aus diesem Grund von keinem anderen Rechtssubjekt als den Orga36 EuGH, Rs. 25/62 - Firma Plaumann & Co/Kommission, Slg. 1963, 211, 238. Zu den Fallgruppen und neueren Entwicklungen vgl. unter C. ΙΠ. und E. 37

Streinz, Europarecht, Rn. 552. Koenig/Haratsch, Europarecht, Rn. 411. 39 Schwarze, Rechtsschutz Privater gegenüber normativen Rechtsakten im Recht der EWG, in: FS für Schlochauer, S. 927 (937, 938); EuGH, Rs. 92/78 - Simmenthai S.p.A./ Kommission, Slg. 1979, III, Rn. 39; Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 241 Rn. 3. 40 Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 241 Rn. 1; Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 241 Rn. 1. 38

IV. Rechtsschutzsystem gegen Normativakte und inhärente Schwächen

27

nen der EG und den Mitgliedstaaten im Rahmen einer Nichtigkeitsklage angegriffen werden können41. Richtlinien können grundsätzlich erst nach der Umsetzung in das nationale Recht der Mitgliedstaaten belastende Wirkungen für den Einzelnen entfalten 42. Gegen den belastenden mitgliedstaatlichen Akt, der auf der Richtlinie beruht, kann der Betroffene den Rechtsweg zu den nationalen Gerichten beschreiten. Soweit die Gültigkeit der gemeinschaftsrechtlichen Richtlinie als Grundlage der Ausführungshandlung zweifelhaft ist, wird dies im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 EG zu klären sein43. Die möglichen Nichtigkeitsgründe sind (wie bei Art. 241 EG) die in Art. 230 Abs. 2 EG genannten. Es wird damit für Richtlinien ebenfalls eine Kontrolle der Norm erreicht, nur im Rahmen eines anderen Verfahrens. Die zusätzliche Anwendung der Inzidentkontrolle könnte keine eigenständige Funktion erfüllen und ist daher nicht gebo-

2. Dezentrale Rechtsschutzmöglichkeiten und Einbeziehung der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit gemäß Art. 234 EG Ausgleichsfunktion für die fehlende direkte Klagemöglichkeit nach Art. 230 Abs. 4 EG übernimmt schließlich noch das Verfahren der Vorabentscheidung gemäß Art. 234 EG. Neben der individualschützenden Funktion verfolgt dieses Verfahren auch objektive Zwecke, indem es der Fortentwicklung der Rechtsprechung und der Wahrung der Rechtseinheit bei der Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten dient45. Um zu vermeiden, dass das Gemeinschaftsrecht von den nationalen Gerichten divergierend angewandt wird, besteht eine zentrale und ausschließliche Zuständigkeit des EuGH, über die Gültigkeit und bei Zweifeln über die Auslegung von Gemeinschaftsrecht zu befinden 46. Der EG-Vertrag als Primärrecht unterliegt dabei nur hinsichtlich seiner Auslegung der Jurisdiktionskompetenz des EuGH. Sekundärrechtsakte werden dagegen vom EuGH sowohl auf ihre Auslegung als auch auf ihre Gültigkeit hin überprüft. EuGH, Rs. 92/78 - Simmenthai S.p.A./Kommission, Slg. 1979, 777, Rn. 40; Busse, EuZW 2002, 715 (716); Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 241 Rn. 5. « Vgl. hierzu C. I. 2. b) aa). 43 Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 241 Rn. 9. 44 Koenig/Pechstein/Sander, EU-/ EG-Prozessrecht, Rn. 888; Allkemper, Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, S. 184/185. 45 Barnard/Sharpston, CML REV. 1997,1113 (1115/116); Voßkuhle, JZ 2001, 924 (925); Kube, JuS 2001, 858 (860, 861); Hess, RabelsZ 2002, 470 (472, 492), der darauf hinweist, dass die objektive Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens nicht zuletzt durch den Vertrag von Nizza an Bedeutung gewinnt. 46 EuGH, Rs. 314/85 - Foto-Frost/Hauptzollamt Lübeck-Ost, Slg. 1987, 4199, Rn. 20. Mit Inkrafttreten des Vertrages von Nizza kann gemäß Art. 225 Abs. 3 EG zukünftig auch das EuG für Vorabentscheidungsverfahren zuständig sein.

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Β. Normenkontrolle und Individualrechtsschutz in der EG

Berechtigt, ein Vorabentscheidungsverfahren einzuleiten, sind die nationalen Gerichte47, wenn sie im Rahmen eines bei ihnen anhängigen Rechtsstreits eine Vorlagefrage für entscheidungserheblich halten48. Zur Vorlage verpflichtet sind die letztinstanzlich entscheidenden Gerichte. Dazu zählen nach der konkreten Betrachtungsweise nicht nur diejenigen Gerichte, die generell die letzte Instanz des Rechtszuges bilden, sondern es genügt für die Verpflichtung, wenn im konkreten Fall kein Rechtsmittel mehr gegen die Entscheidung gegeben ist 49 . Zudem besteht zur Wahrung der Rechtseinheit für alle, damit auch für die nicht letztinstanzlichen Gerichte, eine zwingende Vorlagepflicht, wenn das Gericht von der Ungültigkeit des Gemeinschaftsrechtsakts überzeugt ist und diesen deshalb nicht anwenden will 50 .

3. Unzulänglichkeiten der primärrechtlich vorgesehenen Rechtsschutzmöglichkeiten In Bezug auf normative Rechtsakte schließt das gemeinschaftsrechtliche Rechtsschutzsystem eine direkte Anfechtungsmöglichkeit durch den Einzelnen mittels der Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 Abs. 4 EG grundsätzlich aus. Vielmehr soll effektiver gerichtlicher Rechtsschutz durch die mit der Anwendung befassten nationalen Gerichte unter Einbeziehung der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit über das Vorabentscheidungsverfahren gewährleistet werden. Im Folgenden soll überblicksartig aufgezeigt werden, welche Defizite die soeben in Grundzügen skizzierte primärrechtlich niedergelegte Rechtswegverteilung für den Individualrechtsschutz aufweist.

a) Schwächen des Vorabentscheidungsverfahrens

gemäß Art. 234 EG

Kritik begegnet das Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 234 EG nicht nur hinsichtlich seines generellen Charakters als indirektes Verfahren, sondern auch bezüglich der Ausgestaltung dieses Verfahrens im Einzelnen.

47

Zu den Anforderung an ein Gericht vgl. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, S. 84 ff.; Wägenbaur, EuZW 2000, 37 (37, 38); Lenz, AnwBl. 1995, 50 (51); Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 779 ff. 48 Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 234 Rn. 26; Streinz, Europarecht, Rn. 560. 49 Η. M. Vgl. Lenz, AnwBl. 1995, 50 (52); Streinz, Europarecht, Rn. 562; Hakenberg, DRiZ 2000, 345 (346). Im deutschen Recht bleibt die Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, §§ 13 Nr. 8 a, 23, 90 ff. BVerfGG als außerordentlicher Rechtsbehelf für die Bestimmung der letztinstanzlichen Gerichte außer Betracht. so EuGH, Rs. 314/85 - Foto-Frost/Hauptzollamt Lübeck-Ost, Slg. 1987, 4199, Rn. 20; Streinz, Europarecht, Rn. 576.

IV. Rechtsschutzsystem gegen Normativakte und inhärente Schwächen

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Als besonders schwerwiegender Nachteil wird die mangelnde Einflussmöglichkeit des Einzelnen auf die Einleitung des Vorabentscheidungsverfahrens herausgestellt. Der Kläger in dem Rechtsstreit vor einem nationalen Gericht kann eine Vorlage an den EuGH nur anregen. Ein eigenes Vorlagerecht steht ihm nicht zu. Folgt nun das Gericht der Anregung des Klägers nicht, so ist dieser gezwungen, den Rechtsstreit in die nächste Instanz zu tragen, wiederum in der Hoffnung, dort mit dem Wunsch nach einer Vorlage an den EuGH Gehör zu finden. Erst das letztinstanzliche Gericht ist zur Einleitung des Vorabentscheidungsverfahrens verpflichtet, so dass der Kläger eventuell den nationalen Instanzenzug ausschöpfen muss, bis es zur Vorlage kommt. Damit ist ein entsprechend hoher Zeit- und Kostenaufwand verbunden. Andererseits ist schon das erstinstanzliche Gericht zur Vorlage verpflichtet, wenn es Zweifel an der Gültigkeit eines sekundären Gemeinschaftsrechtsaktes hegt und diesen daher unangewendet lassen will 51 . Damit ist die Problematik des Zeitund Kostenaufwands unerheblich, die entstehen kann, wenn ein vorlageberechtigtes Gericht von der Vorlage absieht und der Instanzenzug vollständig beschritten werden muss, um zu einem vorlageverpflichteten Gericht zu gelangen. Aber auch in den Fällen, in denen schon das erstinstanzliche Gericht verpflichtet ist, eine Vorabentscheidung einzuholen, kann der Kläger das Gericht dazu nicht zwingen, sondern ist auf seine Überzeugungskraft und den entsprechenden Willen des Gerichts angewiesen52. Kommt das nationale Gericht dem Ersuchen zur Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens nicht nach, obwohl es nach den dargelegten gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben dazu verpflichtet ist, stellt sich die Frage nach Durchsetzungsbzw. Sanktionsmöglichkeiten für den Kläger. Ein zentraler Rechtsbehelf zum EuGH wegen Nichtvorlage durch ein nationales Gericht ist im EG-Vertrag nicht vorgesehen. Es bleiben nur nationale Rechtsbehelfe gegen die Nichtvorlage, soweit diese im Recht der Mitgliedstaaten vorgesehen sind. Unterbleibt eine Vorlage durch die Instanzgerichte, obwohl sie zur Einleitung des Vorabentscheidungsverfahren verpflichtet gewesen sind, kann der Kläger nach deutschem Recht Verfassungsbeschwerde erheben und eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG rügen. Das BVerfG hat in seinem Solange ll-lJrteil anerkannt, dass der EuGH gesetzlicher Richter i. S. v. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ist 53 . Eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG liegt indes nur dann vor, wenn die Vorlage an den EuGH willkürlich unterblieben ist. An das Vorliegen der Willkür wurden vom BVerfG in seiner früheren Rechtsprechung hohe Anforderungen gestellt. Demnach war die Missachtung der Vorlagepflicht nur dann gegeben, wenn erstens die Vorlage trotz Entscheidungserheblichkeit der gemeinschaftsrechtlichen Frage nicht in 51 EuGH, Rs. 314/85 - Foto-Frost/Hauptzollamt Lübeck-Ost, Slg. 1987, 4199, Rn. 20; Streinz, Europarecht, Rn. 576. 52 Allkemper, Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, S. 155. 53 BVerfGEIX 339 (366 ff.).

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Β. Normenkontrolle und Individualrechtsschutz in der EG

Erwägung gezogen wurde, obwohl das Gericht selbst Zweifel an derrichtigenBeantwortung der Frage hatte oder zweitens das Gericht bewusst von einer bereits bestehenden Rechtsprechung des EuGH abwich oder drittens das Gericht den ihm bei Fehlen einer einschlägigen Rechtsprechung des EuGH zukommenden Beurteilungsspielraum in unvertretbarer Weise überschritten hatte, wovon auszugehen sei, wenn mögliche Gegenauffassungen zu den entscheidungserheblichen Fragen des Gemeinschaftsrechts eindeutig vorzuziehen seien54. Die Sicherung der Vorlagepflicht über den Weg des gesetzlichen Richters i. S. d. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG bzw. die enge Interpretation der Willkür wurden in der Literatur als nicht weitreichend genug kritisiert 55. Die Anforderungen an ein willkürliches Handeln der Gerichte überließen diesen einen weiten Entscheidungsspielraum. Demgegenüber geht die Vorlagepflicht nach Art. 234 EG, wie sie der EuGH interpretiert, weiter als das Willkürverbot nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. Nach Ansicht des EuGH kommt eine Ausnahme von der grundsätzlich unbeschränkten Vorlagepflicht nur dann in Betracht, wenn der Europäische Gerichtshof in einem gleichgelagerten Fall bereits entschieden hat 56 , schon eine gesicherte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu der betreffenden Rechtsfrage besteht, gleichgültig, in welcher Verfahrensart sie sich herausgebildet hat, oder die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig ist, dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt57. Nach der C.I.L.F.I. Γ-Rechtsprechung darf das innerstaatliche Gericht jedoch nur dann davon ausgehen, dass ein solcher Fall vorliegt, wenn es überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof die gleiche Gewissheit besteht. Nur unter diesen engen Voraussetzungen darf das innerstaatliche Gericht davon absehen, eine Frage dem Gerichtshof vorzulegen, und sie statt dessen in eigener Verantwortung lösen58. Blieb nun eine Verfassungsbeschwerde, in der eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG gerügt wurde, mangels Willkürlichkeit des gerichtlichen Handelns ohne Erfolg, lag aber zugleich keine vom EuGH anerkannte Ausnahme von der Vorlagepflicht vor, wurde die aus dem Vorabentscheidungsverfahren erwachsende Kooperationspflicht der Mitgliedstaaten nicht hinreichend gesichert und es lag ein Verstoß gegen Art. 234,10 EG vor 59 . 54 BVerfG, NJW 1988, 1456 (1457); BVerfG, NJW 1991, 53; BVerfGE 75, 223 (245); Sensburg, NJW 2001, 1259 (1260). 55 Lenz, NJW 1994, 2063 (2064); Vedder, NJW 1987, 526 (530 f.); Wölker, EuGRZ 1988, 97 (100 ff.). 56 EuGH, Verb. Rs. 28-30/62 - Da Costa & Schaake Ν. V., Jacob Meijer Ν. V., HoechstHolland Ν. V./Niederländische Finanzverwaltung, Slg. 1963, 63, 80/81. 57 EuGH, Rs. 283/81 - Sri C.I.L.F.I.T u. Lanificio di Gavardo SpA /Ministero della sanità, Slg. 1982,3415, Rn. 16. 58 EuGH, Rs. 283/81 - Srl C.I.L.F.I.T u. Lanificio di Gavardo SpA/Ministero della sanità, Slg. 1982, 3415, Rn. 16. Zur aktuellen Kritik an der CI.L.F.I.T.-Rechtsprechung verbunden mit der Forderung nach einer substanziellen Änderung vgl.: Rasmussen, CML REV. 2000, 1071 (1107 ff.); Lipp, NJW 2001,2657 (2661 f.). 59 Allkemper, Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, S. 163 f.

IV. Rechtsschutzsystem gegen Normativakte und inhärente Schwächen

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In seiner jüngeren Rechtsprechung hat das BVerfG seine Kontrolle im Rahmen des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verstärkt. Es wiederholte zwar die Kriterien, welche die Willkür begründen, verschärfte aber dennoch die inhaltlichen Anforderungen an willkürfreies Handeln der Gerichte. Eine Verkennung der Vorlagepflicht wird nicht mehr davon abhängig gemacht, dass das vorlageverpflichtete Gericht tatsächlich Zweifel an derrichtigenBeantwortung der entscheidungserheblichen gemeinschaftsrechtlichen Frage hat, es genügt für die Willkürlichkeit und den Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG vielmehr, wenn das Gericht sich nicht ausreichend hinsichtlich des europäischen Rechts kundig gemacht hat und die entsprechenden Gründe für die Nichtvorlage in dem Urteil nicht niedergelegt hat. Die zur Vorlage verpflichteten Gerichten müssen daher in Zukunft sorgfältig eruieren, ob zu der konkret erheblichen gemeinschaftsrechtlichen Frage Rechtsprechung des EuGH existiert bzw. ob eine Fortentwicklung der Rechtsprechung in Betracht kommt. Desgleichen liegt Willkür vor, wenn das Gericht nicht erkennt, dass gemeinschaftliche Grundrechte tangiert sein könnten60. Das BVerfG, das die Kontrolle von Gemeinschaftsrechtsakten am Maßstab der deutschen Grundrechte grundsätzlich ablehnt61, hat im Gegenzug den Individualrechtsschutz gestärkt, indem es die Einhaltung der kooperativen Zusammenarbeit der nationalen Gerichte mit dem EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens durch die stärkere Kontrolle der Vorlagepflicht prozedural abgesichert hat 62 . Es bleibt abzuwarten, ob die Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG den Anforderungen des EuGH an die sich aus Art. 234 EG ergebenden Vorlagepflichten entspricht und die Einhaltung dieser Pflichten durch die deutschen Gerichte in Zukunft hinreichend sicherstellt. Nicht nur auf die Einleitung des Vorabentscheidungsverfahrens hat der Einzelne keinen Einfluss, auch im anhängigen Vorabentscheidungsverfahren sind seine Einwirkungsmöglichkeiten beschränkt. Zunächst ist die Formulierung der Vorlagefragen seiner Disposition entzogen, sie liegt ganz im Ermessen des vorlegenden nationalen Gerichts. Der Kläger kann somit nicht gezielt auf eine Kontrolle der von ihm für relevant erachteten Aspekte hinwirken. Des Weiteren ist die Beteiligung des Einzelnen im Vorabentscheidungsverfahren restriktiv ausgestaltet. Er hat nur die Möglichkeit, schriftliche und gegebenenfalls mündliche Stellungnahmen abzugeben63.

60 Nowak, Zentraler und dezentraler Individualrechtsschutz in der EG im Lichte des gemeinschaftsrechtlichen Rechtsgrundsatzes effektiven Rechtsschutzes, in: Individualrechtsschutz in der EG und der WTO, S. 47 (66); BVerfG, NJW 2001,1267 (1268). 61 BVerfGE 73, 339 (387); BVerfG, NJW 2000, 3124 ff. 62 Kube, JuS 2001, 858 (860, 861); Voßkuhle, JZ 2001, 924 (926); Füßer, DVB1. 2001, 1574 (1576). 63 Zu den Einschränkungen: Wägenbaur, EuZW 2000, 37 (38); Arnull, CML Rev. 1995, 7 (41/42); Sedemund/Heinemann, DB 1995, 1161 (1164); Allkemper, Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, S. 155.

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Β. Normenkontrolle und Individualrechtsschutz in der EG

Erschwert werden kann der Rechtsschutz gegen Maßnahmen des Gemeinschaftsrechts für den Einzelnen auch dann, wenn vorläufiger Rechtsschutz erforderlich wird. Zwar können die nationalen Gerichte unter bestimmten Voraussetzungen die Wirkung von Gemeinschaftsrechtsakten vorläufig aussetzen bzw. einstweilige Anordnungen treffen, doch beschränkt sich der solchermaßen erreichte vorläufige Rechtsschutz naturgemäß auf das Gebiet des betreffenden Mitgliedstaates. Erstreckt sich der zu schützende Rechtskreis des Klägers über mehrere Mitgliedstaaten, ist er gezwungen, in jedem dieser Mitgliedstaaten Klage zu erheben und vorläufigen Rechtsschutz zu beantragen mit dem Risiko, dass die jeweiligen nationalen Gerichte zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen64. Neben den durch die fehlenden Einflussmöglichkeiten hervorgerufenen Defiziten wird große Besorgnis darüber zum Ausdruck gebracht, dass in bestimmten Konstellationen die Möglichkeit, ein Vorabentscheidungsverfahren durchzuführen, gar nicht bestünde. Grundvoraussetzung für die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art. 234 EG ist, dass überhaupt ein Verfahren vor einem mitgliedstaatlichen Gericht anhängig ist. Daran fehlt es, wenn mangels Rechtswegeröffnung kein Gericht mit der Rechtssache befasst werden kann. Es wird darauf hingewiesen, dass in den Fällen, in denen die Gemeinschaftsorgane eine belastende Maßnahme erlassen, die keines nationalen Durchführungsaktes mehr bedarf (self-executing), der Rechtsweg zu den mitgliedstaatlichen Gerichten versperrt sei, denn es existiere kein tauglicher Streitgegenstand65. Zudem scheide bei Normativakten regelmäßig auch die Rechtsschutzmöglichkeit über den Weg der Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 EG aus. Ist diese Prämisse zutreffend, dann offenbart sich eine Rechtsschutzlücke. Sie könnte auch nicht dadurch geschlossen werden, dass der Einzelne darauf verwiesen wird, durch einen Verstoß gegen die gemeinschaftsrechtliche Vorschrift eine Sanktion zu provozieren, um auf diese Weise einen anfechtbaren Rechtsakt zu erhalten und eine inzidente Prüfung der zugrunde liegenden Norm zu erreichen. Nach ganz überwiegender Ansicht ist eine solche Vorgehensweise Betroffenen unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht zumutbar66. 64

GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequefios Agricultores/ Rat, Slg. 2002, Π - 6677, Π - 6681, Rn. 44. 65 Gröpl, EuGRZ 1995, 583 (588); von Danwitz, NJW 1993, 1108 (1112); Oppermann, Europarecht, Rn. 753; GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequefios Agricultores/Rat, Slg. 2002, Π - 668, Rn. 43. Wie bereits dargelegt besteht keine Rechtsprechungskompetenz der mitgliedstaatlichen Gerichte hinsichtlich der Gültigkeit gemeinschaftsrechtlicher Akte, hinsichtlich der Auslegung nur bei Vorliegen der im C.I.L.F.I.T.-Urteil festgelegten Voraussetzungen. 66 GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequefios Agricultores/ Rat, Slg. 2002, Π - 6677, Π - 6681, Rn. 43; Paehlke-Gärtner, VB1BW 2000, 13 (18); Rengeling, Brauchen wir die Verfassungsbeschwerde auf Gemeinschaftsebene?, in: FS für Everling, S. 1187 (1196); Gröpl, EuGRZ 1995, 583 (588); Sedemund/Heinemann, DB 1995, 1161

IV. Rechtsschutzsystem gegen Normativakte und inhärente Schwächen

33

Die Frage nach der effektiven Gestaltung des Individualrechtsschutzes gegen self-executing-Normen steht aufgrund der Urteile der Gemeinschaftsgerichte in den Rechtssachen Jégo-Quéré und UPA im Zentrum der aktuellen Diskussion67.

b) Probleme der Amtshaftungsklage gemäß Art. 288 Abs. 2 i. V. m. Art. 235 EG Die Amtshaftungsklage gemäß Art. 288 Abs. 2 i. V. m. Art. 235 EG kann keinen Ausgleich für eine fehlende direkte Klagemöglichkeit gegen normative Rechtsakte bieten. Dies ergibt sich schon aus ihrer Eigenschaft als Rechtsschutzinstrument auf Sekundärebene. Primärrechtsschutz ermöglicht es dem Einzelnen, seine Rechtsgüter bzw. Interessen gegen Eingriffe zu schützen, indem er die belastende Maßnahme selbst angreifen und abwehren kann. Auf diese Weise kann der Eintritt eines Schadens von vornherein verhindert werden. Ist dieser Weg verschlossen und wird der Betroffene auf Sekundärrechtsbehelfe verwiesen, kann er nur den entstandenen Schaden liquidieren, die belastende Maßnahme jedoch hat Bestand. Zudem können irreparable Schäden eintreten, etwa wenn der Betroffene zur Aufgabe seines Geschäfts gezwungen wird. Ein nachgeschalteter Sekundärrechtsbehelf stellt dann keinesfalls eine sinnvolle Rechtsschutzmöglichkeit dar 68. Ein Verweis auf Sekundärrechtsbehelfe entspricht nicht einem modernen, rechtstaatlichen Rechtsschutzsystem, in dem das Abwehren eines Eingriffs und die damit verbundene freiheitssichernde bzw. gleichheitssichernde Funktion von Rechtsschutz an erster Stelle steht. Es ist somit von einem Vorrang des Primärrechtsschutzes gegenüber dem Sekundärrechtsschutz auszugehen. Den Vorrang des Primärrechtsschutzes vor dem Sekundärrechtsschutz hat der EuGH auch für das Gemeinschaftsrecht anerkannt. Soweit ein Anspruch aus Art. 288 Abs. 2 i. V. m. Art. 235 EG geltend gemacht wird, prüfen die Gemeinschaftsgerichte neben den Voraussetzungen des Anspruchs auch, ob den Kläger ein Mitverschulden an der Entstehung des Schadens trifft. Der Geschädigte ist verpflichtet, sich in angemessener Form um Schadensbegrenzung zu bemühen69. Ein (1163); Dittert, EuR 2002, 708 (715 f., 718). Weniger Bedenken zeigt Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 68 f. 67 Siehe unter E. 68 Mit dieser Wertung eines qualitativen Unterschieds zwischen Primär- und Sekundärrechtsschutz: Rengeling, Brauchen wir die Verfassungsbeschwerde auf Gemeinschaftsebene?, in: FS für Everling, 1995, S. 1186 (1195). 69 EuGH, Verb. Rs. C-46/93 u. C-48/93 - Brasserie du pêcheur SA/Bundesrepublik Deutschland und The Queen/Secretary of State for Transport ex parte: Factortame Ltd u. a., Slg. 1996,1 - 1029, Rn. 84/85; Lageard, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 288 Rn. 34; Oppermann, Europarecht, Rn. 755. 3 Schulte

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Β. Normenkontrolle und Individualrechtsschutz in der EG

solches Mitverschulden liegt ζ. B. vor, wenn der Geschädigte nicht alle zur Schadensabwehr bzw. -begrenzung zur Verfügung stehenden Rechtsschutzmöglichkeiten (d. h. Primärrechtsbehelfe) ausgeschöpft hat 70 . Dies gilt für Haftungsansprüche gegen die Gemeinschaft ebenso wie für Haftungsansprüche gegen Mitgliedstaaten, die ihrer Pflicht zur Beachtung des Gemeinschaftsrechts nicht nachgekommen sind und dadurch Schäden bei dem Betroffenen verursacht haben. Es besteht mithin eine deutliche Gewichtung, dass Primärrechtsschutz gegenüber Sekundärrechtsschutz qualitativ höherwertig und damit vorzugswürdig ist. Zudem soll einefinanzielle Verpflichtung für die Gemeinschaft (resp. die Mitgliedstaaten) nur eingreifen, wenn der Schaden nicht abzuwenden war. Neben der generellen Vorzugswürdigkeit des Primärrechtsschutzes gegenüber dem Sekundärrechtsschutz bringt die Erhebung einer Amtshaftungsklage für den Geschädigten weitere, vor allem praktische Unwegsamkeiten mit sich. Die Hürden sind für Amtshaftungsklagen gerade in Bezug auf gemeinschaftsrechtswidrige Normativakte hoch und die Voraussetzungen nicht abschließend geklärt 71. Erforderlich für die Rechtswidrigkeit ist eine hinreichend qualifizierte Verletzung einer höherrangigen, dem Schutz des Einzelnen dienenden Rechtsnorm72. Für eine hinreichend qualifizierte Verletzung wird von der Rechtsprechung verlangt, dass das handelnde Organ die Grenzen seiner Befugnisse offenkundig und erheblich überschritten hat 73 . Die Haftungstatbestände für normatives und administratives Unrecht sind in der Rechtsprechung mittlerweile vereinheitlicht worden, indem für die notwendige Rechtswidrigkeit der verletzenden Handlung stets maßgeblich darauf abgestellt wird, inwieweit dem handelnden Gemeinschaftsorgan ein Ermessenspielraum zustand und dieser überschritten wurde 74. Trotz dieser Angleichung des Prüfungsmaßstabs wird der Nachweis einer Rechtsverletzung bei Normativakten in der Regel schwieriger zu bewerkstelligen sein als bei Einzelakten, da dem Normgeber häufig ein weiter Gestaltungsspielraum zusteht75. Insbesondere bei wirtschaftspolitisch schwierigen Entscheidungen wird dem Normgeber ein solcher Gestaltungsspielraum großzügig zugestanden76. Darüber hinaus muss der Kläger in der Lage sein, seinen Schaden zu beziffern und zu belegen. Schließlich steht er noch vor der Schwierigkeit, die Kausalität zwischen der belastenden Maßnahme und seinem Schaden nachzuweisen77. Dies 70 EuGH, Verb. Rs. C-46/93 u. C-48/93 - Brasserie du pêcheur SA/Bundesrepublik Deutschland und The Queen /Secretary of State for Transport ex parte: Factortame Ltd u. a., Slg. 1996,1- 1029, Rn. 84; Saenger, JuS 1997, 865 (871); Ehlers, JZ 1996, 776 (779). 71 Reinisch, EuZW 2000,42 (49); Schwarze, DVB1. 2002,1297 (1304). 72 EuGH, Rs. 5/71 - Aktien-Zuckerfabrik Schöppenstedt/Rat, Slg. 1971,975, 985. 73 EuGH, Verb. Rs. 83 u. 94/76, 4, 15 u. 40/77 - Bayerische HNL Vermehrungsbetriebe GmbH & Co. KG u. a./Rat und Kommission, Slg. 1978,1209,1225. 74 EuG, Rs. T-155/99 - Dieckmann & Hansen GmbH/Kommission, Slg. 2001, Π - 3143, Rn. 45,46. 75 Craig/ de Burca, EU Law, S. 549; Schwarze, DVB1. 2002,1297 (1305). 76 Lenz, NJW 1994, 2063 (2066).

IV. Rechtsschutzsystem gegen Normativakte und inhärente Schwächen

35

kann aufgrund der Komplexität und Wechselwirkungen mancher wirtschaftlicher Beziehungen eine äußerst hohe Hürde auf dem Weg zu einem Schadensersatzanspruch bedeuten.

c) Wirkungsweise

der Inzidentkontrolle

gemäß Art. 241 EG

Die Schwäche der Inzidentkontrolle, welche ebenso wie das Vorabentscheidungsverfahren eine Ausgleichsfunktion für die fehlende direkte Individualklage gegen Normativakte erfüllen soll, liegt in ihrer Abhängigkeit von einem bereits anhängigen Verfahren 78. Die Inzidentkontrolle ist damit an dessen teils enge Voraussetzungen gebunden, insbesondere muss stets ein mit einem anderen Verfahren anfechtbarer Rechtsakt vorliegen. Die Konstruktion der Inzidentkontrolle verstößt jedoch nicht gegen den Grundsatz der Prozessökonomie, da kein neues, zusätzliches Verfahren eingeleitet werden muss, sondern die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Norm im Ausgangsverfahren geklärt wird 79 . Die Kritik an der inter-partes-Wirkung der Inzidentkontrolle mit der Folge, dass die Verordnung weiterhin Bestand hat und rechtswidrige Folgen gegenüber anderen Betroffenen zeitigen kann80, erzeugt keine tiefgreifenden Bedenken. Das Organ, welches den gemeinschaftsrechtswidrigen Rechtsakt erlassen hat, wird in der Regel diese Norm aufheben oder ändern81. Auch steht es jedem, der von einer Durchführungsmaßnahme aufgrund der Verordnung betroffen ist, offen, diesen Durchführungsakt anzugreifen und inzident die Rechtswidrigkeit der Verordnung 82

zu rügen .

77 Low, Der Rechtsschutz der Konkurrenten gegenüber Subventionen aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht, S. 154. 78 Wegmann, Die Nichtigkeitsklage Privater gegen Normativakte der Europäschen Gemeinschaften, S. 163. 79 Allkemper, Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, S. 189. 80 Wegmann, Die Nichtigkeitsklage Privater gegen Normativakte der Europäischen Gemeinschaften, S. 163. 81 Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 241 Rn. 13; Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 896, die eine Rechtspflicht zur Aufhebung oder Anpassung des Gemeinschaftsrechts nach Wortlaut und Funktion der Inzidentkontrolle ablehnen. Ebenso: Schwarze, Rechtsschutz Privater gegenüber normativen Rechtsakten im Recht der EWG, in: FS für Schlochauer, S. 927 (938 f.); a. Α.: Daig, Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen im Recht der Europäischen Gemeinschaften, S. 187 ff., insbesondere S. 192 f. 82 Allkemper, Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, S. 191.

3*

C. Entwicklung und Bewertung der Rechtsprechung von EuGH und EuG zum Individualrechtsschutz gegenüber normativen Rechtsakten Vor dem Hintergrund der Schwächen des indirekten bzw. inzidenten Rechtsschutzes soll im nächsten Teil der Arbeit untersucht werden, welche Entwicklung die Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte zum direkten Rechtsschutz gegenüber Normativakten der Gemeinschaftsorgane und damit zur Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 Abs. 4 EG genommen hat.

I. Anfechtbarkeit von Richtlinien durch natürliche und juristische Personen im Wege der Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 Abs. 4 EG Richtlinien sind im Wortlaut von Art. 230 Abs. 4 EG als anfechtbare Rechtsakte nicht genannt, auch nicht für den Fall, dass sie ihrer wahren Rechtsnatur nach eine Entscheidung darstellen sollten. Zwar ist ebenso wie bei Verordnungen durchaus denkbar, dass sie ihrer wahren Rechtsnatur nach Entscheidungen enthalten, die nur in Form von Richtlinien ergangen sind. Die Aufnahme in den Katalog der nach Art. 230 Abs. 4 EG anfechtbaren Handlungen wurde aber wohl nicht für erforderlich gehalten, da Richtlinien entsprechend ihrer Konzeption nicht unmittelbar anwendbar sind, sondern nur vermittelt durch den erforderlichen mitgliedstaatlichen Umsetzungsakt Belastungen erzeugen können. Gegen diesen bzw. gegen weitere Durchführungsmaßnahmen können Verfahren vor den nationalen Gerichten geführt werden, in deren Rahmen der EuGH über das Vorabentscheidungsverfahren zur Prüfung der Rechtsmäßigkeit der Richtlinie angerufen werden kann. Die Individualnichtigkeitsklage gegen Richtlinien taucht in der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte sehr viel seltener auf als die Individualnichtigkeitsklage gegen Verordnungen und hat auch in der Literatur deutlich weniger Beachtung gefunden, so dass hinsichtlich ersterer noch beträchtliche Unsicherheiten bestehen1. Eine Individualnichtigkeitsklage gegen eine Richtlinie war bislang noch nie von Erfolg gekrönt, sämtliche Klage sind bereits in der Zulässigkeit gescheitert. Die Rechtsprechung zur Anfechtbarkeit von Richtlinien soll chronologisch dargestellt und interpretiert werden. 1

Selbst in der aktuellen Literatur wird nicht der neueste Stand der Rechtsprechung wiedergegeben, vgl. Herdegen, Europarecht, Rn. 217.

I. Anfechtbarkeit von Richtlinien

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1. Rechtsprechung von EuGH und EuG zur Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage gegen Richtlinien Obgleich Richtlinien nach dem Wortlaut des Art. 230 Abs. 4 EG nicht der Anfechtung durch natürliche oder juristische Personen unterliegen, sind Nichtigkeitsklagen gegen diese Rechtsakte erhoben worden.

a) Beschluss des EuGH vom 07. 12. 1988 in der Rechtssache 160/88 - Fedesa und Beschluss des EuGH vom 07. 12. 1988 in der Rechtssache 138/88 - Flourez In den Rechtssachen Fedesa und Flourez wandten sich die Kläger gegen die Richtlinie 86/ 146/EWG des Rates vom 7. März 1988 zum Verbot des Gebrauchs von bestimmten Stoffen mit hormonaler Wirkung im Tierbereich2. Durch die Richtlinie wurde der Grundsatz des absoluten Verbots der Verabreichung von Stoffen mit hormonaler Wirkung festgelegt. Der Rat, der jeweils die Einrede der Unzulässigkeit gemäß Art. 91 § 1 der Verfahrensordnung des EuGH3 erhob, berief sich darauf, dass Einzelne grundsätzlich keine Nichtigkeitsklage gegen Richtlinien anstrengen könnten und machte nur hilfsweise geltend, dass die Kläger nicht unmittelbar und individuell betroffen seien4. Da eine Berufung auf den Wortlaut von Art. 230 Abs. 4 EG 5 ausschied, plädierten die Klägerinnen in der Rechtssache Fedesa für eine darüber hinausgehende weite Auslegung und versuchten dies teleologisch mit dem „Grundsatz von Recht und Gerechtigkeit sowie der Herrschaft des Rechts" zu begründen. Sie führten an, aufgrund der Beeinträchtigung ihrer kaufmännischen Tätigkeit ein wesentliches Interesse an der Sachentscheidung zu haben. Daneben seien maßgebliche Faktoren für die Klagebefugnis die Schwere der geltend gemachten Verletzung, die Bedeutung der beeinträchtigten Rechte und Interessen und der Umfang des Schadens. Die Natur des angefochtenen Rechtsakts sei nur zweitrangig, außerdem läge in Bezug auf die Klägerinnen eine Entscheidung vor, da den Mitgliedstaaten keinerlei Spielraum bei der Umsetzung verbleibe und allein die Klägerinnen die genau bestimmte und dem Rat bekannte Gruppe von Herstellern und Vertreibern von Tierarzneimitteln darstelle6. Auf die Identifizierung der Betroffenen und den mangeln2 ABL L 70, S. 16. 3 Die Artikel der Verfahrensordnungen von EuGH und EuG werden in der aktuell geltenden Nummerierung wiedergegeben. 4 Nachweis bei EuGH, Rs. 160/ 88 - Fédération européenne de la santé animale u. a. / Rat, Slg. 1988, 6399, Rn. 6 und 7; Nachweis bei EuGH, Rs. T-138 / 88 - Joseph Flourez u. a. /Rat, Slg. 1988, 6393, Rn.6und7. 5 Es werden durchgehend die Normen in ihrer aktuellen Geltung zitiert, die Nummerierungen in den früheren Fassungen des EWG-Vertrages bzw. EG-Vertrages, die den gerichtlichen Entscheidungen tlw. zugrunde gelegen haben, werden entsprechend angepasst.

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C. Entwicklung und Bewertung der Rechtsprechung von EuGH und EuG

den Entscheidungsspielraum der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung stützten sich auch die Kläger in der Rechtssache Flourez, um ihr individuelles und unmittelbares Betroffensein zu begründen7. Der EuGH setzte sich jedoch nicht vertieft mit den Einzelheiten der Klagebefugnis und damit auseinander, ob und inwieweit materielle Kriterien dabei eine Rolle spielen können, insbesondere ging er nicht darauf ein, ob die Schwere der behaupteten Verletzung, die Bedeutung der beeinträchtigten Rechte oder der Schadensumfang die Klagebefugnis zu begründen vermögen. Er zeigte sich mithin nicht gewillt, diesen Kriterien die von den Klägerinnen beigemessene Bedeutung zuzuerkennen. Stattdessen nahm der EuGH jeweils an, dass die Klägerinnen offenkundig nicht individuell betroffen seien, nämlich nicht in besonderer Weise wie der Adressat individualisiert, sondern nur in ihrer objektiven Eigenschaft als Hersteller und Vertreiber von Tierarzneimitteln bzw. als Rindfleischerzeuger 8. Die Voraussetzungen der Plaumann-Formel waren demnach nicht erfüllt. Zur generellen Anfechtbarkeit von Richtlinien gemäß Art. 230 Abs. 4 EG hat sich der EuGH in dieser Rechtssache nicht explizit geäußert. Dass er auf das individuelle Betroffensein eingegangen ist, deutet jedoch darauf hin, dass zumindest Richtlinien, die ihrer wahren Rechtsnatur nach eine Entscheidung darstellen, so genannte Scheinrichtlinien9, von Einzelnen im Wege der Nichtigkeitsklage angegriffen werden können10. Andernfalls hätte der Hinweis auf den Wortlaut und damit die Unanfechtbarkeit von Richtlinien genügt. Ein Eingehen auf das individuelle Betroffensein wäre überflüssig gewesen.

b) Urteil des EuGH vom 29. 06. 1993 in der Rechtssache C-298/89 - Gibraltar In der Rechtssache Gibraltar wandte sich die Klägerin, die Regierung von Gibraltar, gegen Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 89/463/EWG des Rates vom 18. Juli 1989 über die Zulassung des interregionalen Linienflugverkehrs zur Beförderung von Personen, Post und Fracht zwischen den Mitgliedstaaten11. Durch die Richtlinie wurde der Anwendungsbereich des gemeinschaftlichen Verfahrens für die Zulassung des interregionalen Linienflugverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten er6 Nachweis bei EuGH\ Rs. 160/ 88 - Fédération européenne de la santé animale u. a. / Rat, Slg. 1988, 6399, Rn.8-10. 7 Nachweis bei EuGH, Rs. Τ-138/88-Joseph Flourez u. a./Rat, Slg. 1988, 6393, Rn. 8. 8 EuGH, Rs. 160/88 - Fédération européenne de la santé animale u. a./Rat, Slg. 1988, 6399, Rn. 13-14; EuGH, Rs. T-138/88 - Joseph Flourez u. a./Rat, Slg. 1988, 6393, Rn. 11, 12. 9 Zur Terminologie: Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 Rn. 38. 10 Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 Rn. 39, geht davon aus, dass die Frage offengelassen wurde.

u ABl. L 226, S. 14.

I. Anfechtbarkeit von Richtlinien

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weitert, welches zum Ausbau der Flugdienste, zur Weiterentwicklung des innergemeinschaftlichen Verkehrsnetzes und zur Vollendung des Binnenmarktes beitragen sollte. Zugleich wurde in Art. 2 Abs. 2 der Flughafen von Gibraltar von der Anwendung der Richtlinie ausgenommen bis zur Anwendung der zwischen dem Vereinigten Königreich und dem Königreich Spanien vereinbarten Regelung über eine Zusammenarbeit. Der Rat erhob abermals die Einrede der Unzulässigkeit gemäß Art. 91 § 1 Abs. 1 der Verfahrensordnung des EuGH und begründete dies (neben der seiner Ansicht nach schon mangels Rechtspersönlichkeit fehlenden Klagebefugnis) mit der Natur des angefochtenen Rechtsakts sowie der fehlenden unmittelbaren und individuellen Betroffenheit 12. Auch die Streithelfer - das Vereinigte Königreich, das Königreich Spanien und die Kommission - vertraten diese Ansicht. Es wurde hinsichtlich der Natur des Rechtsakts nicht allein auf die formelle Bezeichnung als Richtlinie abgestellt, sondern darauf, dass die angefochtene Maßnahme bei materieller Betrachtung keine Entscheidung darstelle13. Die Klägerin vertrat demgegenüber die Auffassung, dass es sich bei Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie der Rechtsnatur nach um eine Entscheidung handele, die sie zudem unmittelbar und individuell beträfe 14.

aa) Schlussantrag des Generalanwalts Lenz Unter Berufung auf die ständige Rechtsprechung des EuGH, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber nicht allein durch die Wahl einer bestimmten Rechtsform bei dem Erlass eines Gemeinschaftsrechtsakts den gemäß Art. 230 Abs. 4 EG gewährten Rechtsschutz beschränken kann, beantwortete Generalanwalt Lenz die Frage nach der Anfechtbarkeit von Richtlinien anhand der ratio legis dieser Norm 15 . Die Nichtaufnahme von Richtlinien in den Katalog der anfechtbaren Rechtsakte führte er darauf zurück, dass grundsätzlich ein Umsetzungsakt im Rahmen eines Umsetzungsermessens der Mitgliedstaaten erforderlich sei und der Einzelne aufgrund dessen von Richtlinien nicht unmittelbar betroffen sein könne. Werde den Mitgliedstaaten - wie im vorliegenden Fall - durch den Erlass detaillierter Richtlinienbestimmungen hingegen ein Umsetzungsermessen nicht eingeräumt, sei der Ausschluss der Nichtigkeitsklage mit dieser Erwägung nicht zu rechtfertigen. Generalanwalt Lenz hielt es daher für unerheblich, dass der angefochtene Rechtsakt in Form einer Richtlinie erging, vielmehr sei eine Behandlung wie bei einer an 12 Nachweis bei EuGH, Rs. C-298/89 - Regierung von Gibraltar/Rat, Slg. 1993, I 3605, Rn. 9. '3 Nachweis bei EuGH, a. a. O., Rn. 11. u Nachweis bei EuGH, a. a. O., Rn. 10. 15 GA Lenz, Schlussanträge in der Rs. C-298/89 - Regierung von Gibraltar/Rat, Slg. 1993,1-3605,1-3621, Rn. 86.

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C. Entwicklung und Bewertung der Rechtsprechung von EuGH und EuG

einen Mitgliedstaat gerichteten Entscheidung angebracht16. Unmittelbare Betroffenheit liege vor 17 . Weiter kommt dem materiellen Unterschied zwischen Entscheidung und normativem Rechtsakt mit allgemeiner Geltung nach Ansicht von Generalanwalt Lenz keine abschließende Funktion dergestalt zu, dass normative Rechtsakte generell von der Anfechtung im Wege der Nichtigkeitsklage ausgenommen seien. Das Merkmal der Entscheidung gehe vielmehr in dem des individuellen Betroffenseins auf. Daher sei diese Differenzierung letztlich unerheblich und entscheidend sei nur, ob die Maßnahme bei dem Kläger ein individuelles Betroffensein auslöse18. Nach Generalanwalt Lenz ist es somit ausreichend, das individuelle und unmittelbare Betroffensein zu prüfen. Ersteres konnte er im vorliegenden Fall nicht feststellen, so dass die Klage aus diesem Grund und nicht wegen der Form oder der wahren Rechtsnatur als Richtlinie unzulässig sei19.

bb) Urteil des Gerichtshofs Der Gerichtshof stellte in seinem Urteil einzig darauf ab, ob die angefochtene Maßnahme als Entscheidung i. S. v. Art. 249 EG oder als normativer Rechtsakt mit allgemeiner Geltung einzuordnen sei. Mit der Feststellung, dass die streitige Bestimmung der Richtlinie allgemein für alle Nutzer des Flughafens gelte und auch der Flughafen von Gibraltar nicht der einzige betroffene Flughafen sei, wurde der Entscheidungscharakter der Maßnahme abgelehnt. Damit teile Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie deren allgemeine Rechtsnatur als normativer Rechtsakt, die Nichtigkeitsklage wurde als unzulässig verworfen 20 . Die Anfechtbarkeit echter Normativakte wurde trotz des Schlussantrags des Generalanwalts, in dem von dieser Möglichkeit ausgegangen wurde, nicht erörtert. Ob letztlich ein Unterschied besteht zwischen dem Erfordernis des individuellen Betroffenseins und dem Vorliegen einer Entscheidung oder ob die konstituierenden Merkmale deckungsgleich sind, soll im Rahmen des Rechtsschutzes gegen Verordnungen umfassend erörtert werden 21.

16 GA Lenz, a. a. O., Rn. 94-96. 17 GA Lenz, a. a. Ο., Rn. 80. 18

GA Lenz, a. a. Ο., Rn. 97 - unter Hinweis auf seine Schlussanträge in der Rs. Codorniu, siehe hierzu unter C. II. 2. c) aa)(l). 19 GA Lenz, a. a. O., Rn. 135. 20 EuGH, Rs. Rs. C-298/89 - Regierung von Gibraltar/Rat, Slg. 1993,1 - 3605, Rn. 20, 23. 21 C.n.

I. Anfechtbarkeit von Richtlinien

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Klüpfel nimmt an, dass das Urteil die Frage nach der Anfechtbarkeit von Richtlinien offen gelassen habe22. Dem ist nicht zu folgen. Ausschlaggebend ist vielmehr, dass, wie bereits in dem Beschluss in der Rechtssache Fedesa angedeutet, nicht allein die Rechtsform der Richtlinie die Erhebung der Nichtigkeitsklage präkludiert. Auch wenn eine ausdrückliche Formulierung fehlt, ergibt sich aus der Prüfung des EuGH, dass gegen Scheinrichtlinien ebenso wie gegen die schon vom Wortlaut des Art. 230 Abs. 4 EG erfassten Scheinverordnungen die Möglichkeit der Anfechtung mittels Nichtigkeitsklage grundsätzlich eröffnet ist. Anderenfalls wäre die Rechtsform des Aktes allein entscheidungserheblich und die Prüfung der wahren Rechtsnatur des angefochtenen Aktes entbehrlich. Echte Richtlinien als Normativakte sind demgegenüber nach dieser Entscheidung nicht anfechtbar, da eine weitergehende Zulässigkeitsprüfung hinsichtlich des individuellen und unmittelbaren Betroffenseins nach Feststellung des normativen Rechtscharakters nicht mehr stattgefunden hat 23 . Wären echte Richtlinien anfechtbar, so hätte der EuGH eine Prüfung der unmittelbaren und individuellen Betroffenheit vornehmen müssen und die Klage erst dann als unzulässig abweisen können, wenn zumindest eines dieser Merkmale nicht gegeben wäre. Vorliegend aber begründete der normative Rechtscharakter schon für sich genommen den Ausschluss der Nichtigkeitsklage.

c) Beschluss des EuG vom 29. 10. 1993 in der Rechtssache T-463/93 - GUNA Die Klägerin in der Rechtssache GUNA wandte sich gegen die Richtlinie 92/73/EWG des Rates vom 22. September 1992 zur Angleichung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften über Arzneimittel und zur Festlegung zusätzlicher Rechts- und Verwaltungsvorschriften für homöopathische Arzneimittel 24. Der Rat vertrat erneut die Ansicht schon aufgrund des Wortlauts von Art. 230 Abs. 4 EG, der Richtlinien nicht als anfechtbare Handlungen nenne, sei die Nichtigkeitsklage unzulässig, zudem sei die Klägerin nicht unmittelbar und individuell betroffen 25. Das Vorbringen, die Anfechtbarkeit von Richtlinien sei generell ausgeschlossen, wies die Klägerin - ähnlich wie die Klägerinnen in der Rechtssache Fedesa - mit dem Argument zurück, dies sei mit dem Geist des Vertrages und der „Rechtspre22 Klüpfel, EuZW 1996, 393 (393). 23 So auch Cremer, EuZW 2001, 453 (453); ders., in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 Rn. 39; Arnull, CML Rev. 1995,7 (47). Klüpfel hingegen geht ohne Verweis auf eine konkrete Passage des Urteils davon aus, dass das individuelle Betroffensein vom EuGH geprüft und verneint wurde, EuZW 1996, 393 (393). Hier werden die Ausführungen des EuGH zur Lage der Klägerin dahingehend verstanden, dass damit ausschließlich die allgemeine Geltung der Richtlinie begründet werden sollte. 24 ABl. L 297, S. 8. 25 Nachweis bei EuG, Rs. T-463/93 - GUNA Sri/Rat, Slg. 1993, Π - 1205, Rn. 9,10.

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C. Entwicklung und Bewertung der Rechtsprechung von EuGH und EuG

chungstradition" des Gerichtshofs nicht vereinbar. Sie sei unmittelbar betroffen, da den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie keinerlei Ermessenspielraum zukomme, und individuell betroffen, da die Richtlinie zu einem Widerruf der ihr erteilten Genehmigung führe, homöopathische Arzneimittel herzustellen und einzuführen 26. Das EuG nahm nicht zu allen aufgeworfenen Fragen Stellung. Die Klägerin sei wegen des den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung zustehenden Ermessens nicht unmittelbar betroffen und im Übrigen auch nur in ihrer Eigenschaft als Herstellerin und Importeurin homöopathischer Arzneimittel, mithin nicht individuell. Obwohl das EuG ausdrücklich klarstellte, nicht über alle von den Parteien vorgebrachten Punkte im Zusammenhang mit der Individualnichtigkeitsklage gegen Richtlinien entscheiden zu wollen, ergibt sich wiederum daraus, dass das individuelle und unmittelbare Betroffensein geprüft wurde, dass eine Anfechtung zumindest von Scheinrichtlinien wohl nicht generell ausgeschlossen wird.

d) Beschluss des EuG vom 20. 10. 1994 in der Rechtssache T-99/94 - Asocarne In der Rechtssache Asocarne wandte sich die Klägerin gegen die Richtlinie 93/ 118/EG des Rates vom 22. Dezember 1993, welche die Finanzierung der Untersuchungen und Hygienekontrollen von frischem Fleisch und Geflügelfleisch zum Gegenstand hatte27. Der Rat erhob die Einrede der Unzulässigkeit gemäß Art. 114 § 1 der Verfahrensordnung des EuG und führte dazu aus, Richtlinien seien in dem Katalog der anfechtbaren Handlungen nicht enthalten. Es handele sich zudem im vorliegenden Fall auch nicht um eine Maßnahme, die ihrer wahren Rechtsnatur nach eine Entscheidung sei, und die Klägerin sei weder individuell noch unmittelbar betroffen 28 . Die Klägerin hingegen sah die Richtlinie als eine Entscheidung an, zumal sie inhaltlich deckungsgleich eine Entscheidung ersetzte. Da die Form des Rechtsakts keinen Einfluss auf die Rechtsschutzmöglichkeiten habe, sei das Gericht zur Überprüfung berufen 29. Das individuelle Betroffensein ergebe sich aus der Bestimmtheit der betroffenen Personen und des Schadensumfangs30. Die Klägerinnen wiesen auf das mittlerweile ergangene Urteil in der Rechtssache Codorniu hin, in wel26 Nachweis bei EuG, a. a. O., Rn. 11, 12. 27 ABl. L 340, S. 15. 28 Nachweis bei EuG, Rs. T-99/94 - Asociación Espanola de Empresas de la Came (Asocarne)/Rat, Slg. 1994, Π - 8 7 1 , Rn. 10-13. 29 Nachweis bei EuG, a. a. O., Rn. 14. 30 Nachweis bei EuG, a. a. O., Rn. 15.

I. Anfechtbarkeit von Richtlinien

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chem der EuGH festgestellt hatte, dass auch Maßnahmen, die ihrer wahren Rechtsnatur nach normative Akte darstellen, von Individualklägern angefochten werden können, wenn sie durch den entsprechenden Akt hinreichend individualisiert sind31. Das Gericht berief sich darauf, dass der Wortlaut des Art. 230 Abs. 4 EG keine Anfechtungsmöglichkeit einräume im Hinblick auf Richtlinien oder Entscheidungen, die als Richtlinie ergangen sind. Diese Rechtsschutzbegrenzung für Richtlinien rechtfertige sich durch die dezentralen Rechtsschutzmöglichkeiten vor den mitgliedstaatlichen Gerichten32. Nur hilfsweise („selbst wenn man - entgegen dem Wortlaut [ . . . ] des Vertrages - davon ausgeht, dass Richtlinien den Verordnungen gleichgesetzt werden könnten, um eine Klage gegen eine „als" Richtlinie ergangene Entscheidung zuzulassen [ . . . ]" 3 3 ) prüfte das EuG, ob es sich materiell-rechtlich um eine Entscheidung handelte. Im Ergebnis sei aber die angefochtene Richtlinie materiell-rechtlich keine Entscheidung34. Zudem wurde gleichfalls hilfsweise die individuelle Betroffenheit geprüft und verneint35. Auf ein unmittelbares Betroffensein ging das EuG dann nicht mehr ein 36 . Dieser Beschluss des EuG zur Zulässigkeit von Nichtigkeitsklagen gegen Richtlinien erweist sich gegenüber den Entscheidungen des EuGH als Rückschritt. In den Rechtssachen Fedesa, Flourez und Gibraltar wurde entscheidend auf die wahre Rechtsnatur der Maßnahme abgestellt mit der Differenzierung zwischen Entscheidungen und normativen Rechtsakten. Dem lag die Überlegung zugrunde, dass die bloße Form eines Gemeinschaftsrechtsaktes nicht über den primärrechtlich gewährleisteten Rechtsschutz entscheiden dürfe. Ansonsten könnten die Gemeinschaftsorgane durch die Wahl einer normativen Rechtsform über den Rechtsschutz und die gerichtliche Kontrolle disponieren. Nach diesem Beschluss des EuG hingegen ist die Anfechtbarkeit von Richtlinien wohl generell ausgeschlossen. Zum einen kann nicht davon ausgegangen werden, dass das EuG die Zulässigkeit von Nichtigkeitsklagen gegen Scheinrichtlinien befürwortet hat 37 . Zwar ist nicht explizit von den vorangegangenen Urteilen Abstand genommen worden. Bei Anerkennung dieser Klagemöglichkeit hätte das EuG jedoch klar darauf abgestellt und auch abstellen müssen, ob bei materieller Betrachtungsweise eine Entscheidung (und damit eine Scheinrichtlinie) vorliegt oder ob es sich um einen normativen Rechtsakt handelt. Diesen Gesichtspunkt hat das EuG 31 Nachweis bei EuG, a. a. O., Rn. 16. 32 EuG, Rs. T-99/94 - Asociación Espanola de Empresas de la Came (Asocarne)/Rat, Slg. 1994, Π - 8 7 1 , Rn. 17. 33 EuG, a. a. O., Rn. 18. 34 EuG, a. a. O., Rn. 18. 35 EuG, a. a. O., Rn. 17-21. 36 EuG, a. a. O., Rn. 22. 37 Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 230 Rn. 53 vermutet, dass das EuG der Anfechtbarkeit von Scheinrichtlinien aufgeschlossen gegenüberstand.

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aber nur zusätzlich, hilfsweise herangezogen (s. o. „selbst wenn [ . . . ]") und nicht als entscheidungserheblich gewertet. Gerade diesem Umstand trägt Lengauer nicht Rechnung, wenn sie davon ausgeht, dass Scheinrichtlinien auch nach diesem Beschluss anfechtbar sind38. Aber auch die Ansicht Cremers, nach der die Anfechtbarkeit von Scheinrichtlinien durch diesen Beschluss definitiv ausgeschlossen ist 39 , ist letztlich nicht zwingend. In der von ihm in Bezug genommenen Passage hat das EuG einleitend den Wortlaut von Art. 230 Abs. 4 EG wiedergegeben und auf die dezentralen Rechtsschutzmöglichkeiten hingewiesen. Es ist nicht gesagt, dass das EuG unumstößlich beim Wortlautbefund verharren würde, zumal die Gleichsetzung von Scheinverordnungen und Scheinrichtlinien zumindest hilfsweise erwogen wurde. Richtig ist aber, dass der Eindruck entsteht, dass das EuG der Anfechtbarkeit von Scheinrichtlinien generell eher abgeneigt ist. Die Anfechtbarkeit echter Richtlinien ist eindeutig ausgeschlossen worden. Wären normative Richtlinienbestimmungen anfechtbar, hätte das EuG die Voraussetzung des individuellen Betroffenseins für die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage als entscheidend angesehen und nicht als bloße Hilfserwägung geprüft.

e) Beschluss des EuGH vom 23. 11. 1995 in der Rechtssache C-10/95 Ρ -Asocarne Die Klägerin in der Rechtssache T-99 / 94 - Asocarne legte gegen den Beschluss des EuG Rechtsmittel zum EuGH ein. Die Rechtsmittelführerin ging zunächst auf das Argument des EuG ein, Rechtsschutz gegen Richtlinien sei ausreichend durch die dezentrale Rechtswegeröffnung vor den mitgliedstaatlichen Gerichten mit der Einbeziehung der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit über das Vorabentscheidungsverfahren gewährleistet. Die Effizienz dieser Rechtswegzuweisung bezweifelte die Rechtsmittelführerin mit dem Hinweis, dass das spanische Gerichtssystem strukturell bedingte Verzögerungen zur Folge habe und daher keinen ausreichenden Rechtsschutz zur Verfügung stelle40. Weiter wurde vorgebracht, die Richtlinie sei materiell eine Entscheidung, da sie eine solche ersetze und die Rechtsmittelführerin bzw. ihre Mitglieder als bestimmbarer, geschlossener Kreis individuell und auch unmittelbar betroffen seien, da die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie keinen Spielraum hätten41. 38 Lengauer, Nichtigkeitsklage vor dem Europäischen Gerichtshof: Parteistellung natürlicher und juristischer Personen, S. 94. 3 9 Cremer, EuZW 2001, 453 (453); ders., in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 Rn. 40. 40 Nachweis bei EuGH, Rs. C-10/95 Ρ - Asociación Espanda de Empresas de la Carne (Asocarne)/Rat, Slg. 1995,1-4149, Rn. 16. 4 * Nachweis bei EuGH, a. a. O., Rn. 17-19.

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Der Rat trug vor, dass die Rechtsmittelführerin selbst die Eröffnung eines nationalen Rechtswegs eingestanden habe. Zudem ändere die Tatsache, dass die Richtlinie eine Entscheidung ersetze, nichts an deren allgemeiner Geltung. Auch das individuelle und unmittelbare Betroffensein wurde bestritten42. Nachdem die Bedeutung des dezentralen Rechtsschutzes in dem Beschluss des EuG und den Ausführungen der Rechtsmittelführerin Beachtung gefunden hatte, bezog nun der EuGH Stellung. Schwächen der nationalen Rechtsschutzsysteme, wie die vorliegend gerügten Verzögerungen, sah er nicht als entscheidungserheblich an für die Frage nach der Zulässigkeit gemeinschaftsrechtlicher Klagen43. Des Weiteren wurde der Charakter der angegriffenen Maßnahme als normativ bestimmt, wobei es generell irrelevant sei, wenn die betroffenen Rechtssubjekte zahlenmäßig oder sogar ihrer Identität nach bestimmbar sind44. Sodann wurde das individuelle Betroffensein geprüft und verneint45. Auf das unmittelbare Betroffensein hingegen ging der EuGH nicht mehr ein 46 . Die Anfechtbarkeit von Scheinrichtlinien hat der EuGH zugelassen, ansonsten hätte es wiederum keiner Prüfung bedurft, ob die Richtlinie materiell als Entscheidung oder als Normativakt einzustufen sei, sondern der Hinweis auf die Rechtsform der Richtlinie zur Feststellung der Unzulässigkeit der Klage genügt47. Fraglich ist, wie der EuGH die Anfechtbarkeit echter Richtlinien beurteilt hat. Nach den Ausführungen in diesem Beschluss scheint die Nichtigkeitsklage Einzelner gegen normative Richtlinienbestimmungen grundsätzlich zulässig zu sein48. Auffallend ist vor allem, dass der EuGH seine Prüfung nicht nach der Feststellung des normativen Charakters der angefochtenen Richtlinie beendet hat. Daraus kann geschlossen werden, dass Normativakte nicht stets unangreifbar sind, sondern Klagen individuell und unmittelbar Betroffener für zulässig gehalten werden. Ferner hat der EuGH zwar die individuelle Betroffenheit erörtert, nach deren Verneinung aber die Prüfung des unmittelbaren Betroffenseins als nicht mehr erforderlich angesehen. Die Notwendigkeit der Prüfung des individuellen Betroffenseins wurde hingegen nicht in Frage gestellt. Es ist die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage solange erörtert worden, bis eine ihrer Voraussetzungen nicht erfüllt war. Und dies ist eben nicht allein mit der Einordnung der Maßnahme als Normativakt erreicht. Dafür, dass die Ausführungen zur individuellen Betroffenheit ausschließlich hilfswei« Nachweis bei EuGH, a. a. O., Rn. 21 -24. 43 EuGH, Rs. C-10/95 Ρ - Asociación Espanda de Empresas de la Came (Asocarne)/ Rat, Slg. 1995,1 - 4149, Rn. 26.

44 EUGH, a. a. O . , R n . 30, 32.

45 EuGH, a. a. O., 42,43. 46 EUGH, a. a. O . , R n . 4 5 .

47 Mit Hinweis auf die Prüfungsschritte auch Klüpfel, aber im Ergebnis nicht sicher ist.

EuZW 1996, 393 (394), die sich

48 Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 Rn. 41; ders., EuZW 2001, 453 (453).

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se einbezogen wurden, ist nichts ersichtlich. Es hätte dann gleichfalls das unmittelbare Betroffensein hilfsweise geprüft werden können.

f) Urteil des EuG vom 17. 06. 1998 in der Rechtssache ΤΊ35/96 - UEAPME In der Rechtssache UEAPME erstrebte die Klägerin, eine europäische Vereinigung zur Interessenwahrnehmung kleiner und mittlerer Unternehmen auf europäischer Ebene, die Nichtigerklärung der Richtlinie 9 6 / 3 4 / E G 4 9 des Rates vom 3. Juni 1996 zur Durchführung der Rahmenvereinbarung über Elternurlaub, welche die Union der Industrien der Europäischen Gemeinschaft (UNICE), die Europäische Zentrale der öffentlichen Wirtschaft (CEEP) und der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) geschlossen hatten. Der Rat, der die Einrede der Unzulässigkeit erhob, begründete dies mit der normativen Rechtsnatur der Maßnahme und hilfsweise mit dem mangelnden individuellen und unmittelbaren Betroffensein 50. Die Klägerin sah die Rechtsnatur des angefochtenen Akts nicht als Hindernis an und wies insbesondere auf die Entscheidung in der Rechtssache Codorniu hin, nach der auch Normativakte unter Umständen Einzelne individuell betreffen können. Diese Entscheidung habe zwar eine Verordnung zum Gegenstand gehabt, doch könne das Prinzip auf Richtlinien übertragen werden, da der Unterscheid zu Verordnungen nur in der Notwendigkeit der Umsetzung, nicht jedoch der allgemeinen Geltung liege51. Des Weiteren wies die Klägerin auf die generell großzügige Auslegung der Rechtsschutzvorschriften hin und hielt sich für individuell und unmittelbar betroffen 52. Schließlich bestritt die Klägerin die Effektivität anderer Verfahren zur Wahrung ihrer Rechte53. Das EuG stellte gleich zu Beginn seiner Ausführungen unter Verweis auf die Rechtssachen Gibraltar und Asocarne (Rechtsmittelbeschluss) heraus, dass der Wortlaut des Art. 230 Abs. 4 EG nicht generell der Zulässigkeit einer Klage gegen Richtlinien entgegenstehe. Die Wahl der Form eines Rechtsaktes habe keinen Einfluss auf den Rechtsschutz, so dass zumindest als Richtlinien ergangene Entscheidungen anfechtbar seien54. Nachdem der Rechtsakt als normativ eingestuft wurde, fuhr das EuG mit der Prüfung des unmittelbaren und individuellen Betroffenseins ABl. L 145, S. 4. so Nachweis bei EuG, Rs. T-135/96 - Union européenne de Γ artisanat et des petites et moyennes entreprises (UEAPME)/Rat, Slg. 1998, Π - 2335, Rn. 25, 26. 49

51 Nachweis bei EuG, a. a. O., Rn. 48. 52 Nachweis bei EuG, a. a. O., Rn. 49, 51, 53. 53 Nachweis bei EuG, a. a. O., Rn. 61. 54 EuG, Rs. T-135/96 - Union européenne de Γ artisanat et des petites et moyennes entreprises (UEAPME)/Rat, Slg. 1998, I I - 2335, Rn. 63.

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fort, da laut Aussage in den Rechtssachen Extramet, Codorniu und Federolio einige Wirtschaftsteilnehmer von Normativakten individuell betroffen sein können55. Das individuelle Betroffensein der Klägerin lehnte das EuG nach breiter Diskussion ab und stellte dann die Unzulässigkeit der Klage fest 56. Die Nichtigkeitsklage gegen Scheinrichtlinien wird durch dieses Urteil, anders als noch in der Rechtssache Asocarne, vom EuG zweifelsfrei als grundsätzlich statthafter Rechtsbehelf anerkannt. Aber darüber hinaus werden auch normative Richtlinienbestimmungen der Anfechtung durch nicht-privilegierte Kläger unterworfen 57. Zum einen zeigt sich das in der Formulierung „Sodann ist zu prüfen, ob die Klägerin trotz des normativen Charakters ( . . . ) unmittelbar und individuell betroffen sein kann."58. Demnach wurde nach Ablehnung des Entscheidungscharakters der angegriffenen Maßnahmen die Zulässigkeit nicht nur weitergeprüft, sondern dies wird sogar als zwingend erforderlich angesehen. Die Unzulässigkeit ist folglich allein mit der Normqualität nicht zu begründen. Zum anderen verwies das EuG auf bestehende Rechtsprechung zur Anfechtbarkeit von Normativakten. Dass die zitierten Rechtssachen zwar Normativakte, aber in Form von Verordnungen betrafen, hindert nicht die Übertragung auf Richtlinien. Das EuG schloss sich damit implizit der Argumentation der Klägerin an, wonach hinsichtlich der allgemeinen Geltung und der Möglichkeit eines individuellen Betroffenseins Einzelner kein Umstand zu verzeichnen ist, der eine differenzierende Behandlung zwischen Richtlinien und Verordnungen rechtfertigt.

g) Urteil des EuG vom 27. 06. 2000 in den verbundenen Rechtssachen T-172/98, T-175/98 bis T-177/98 - Salamander In der Rechtssache Salamander verfolgten die Klägerinnen die Nichtigerklärung der Richtlinie 98/43/EG des Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Werbung und Sponsoring zugunsten von Tabakerzeugnissen, durch welche Werbung und Sponsoring hinsichtlich dieser Produkte weitgehend verboten werden sollte59. Die Beklagten, Rat und Parlament, erhoben die Einrede der Unzulässigkeit gemäß Art. 114 § 1 VerfO EuG und begründeten ihren Antrag auf Abweisung der Klage als unzulässig mit der normativen Rechtsnatur des angefochtenen Aktes und der fehlenden individuellen und unmittelbaren Betroffenheit der Klägerinnen. Selbst wenn man Scheinrichtlinien hinsichtlich ihrer Anfechtbarkeit den Schein55

EuG, a. a. O., Rn. 68, 69 mit entsprechenden Nachweisen. 56 EuG, a. a. O., Rn. 112. 57 Ebenso Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 Rn. 41a. 58 EuG, Rs. T-135/96 - Union européenne de l'artisanat et des petites et moyennes entreprises (UEAPME)/Rat, Slg. 1998, Π - 2335, Rn. 68. Hervorhebung hinzugefügt. 59 ABl. L 213, S. 9.

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Verordnungen gleichstellen wolle, mangele es im vorliegenden Fall jedenfalls am Entscheidungscharakter60. Die Klägerinnen hingegen sahen die Rechtsform der Richtlinie als unerheblich an, nur das unmittelbare und individuelle Betroffensein entscheide über die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage61. Nach dieser Auffassung ist eine Differenzierung zwischen Scheinrichtlinien und normativen Richtlinienbestimmungen hinfällig. Die Klägerinnen betrachteten sich sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht als unmittelbar betroffen. Trotz des Umstands, dass Richtlinien entsprechend ihrer Konzeption als zweiaktige Rechtsakte der mittelbaren Rechtsetzung erst nach ihrer Umsetzung in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen Rechtswirkungen erzeugen können und auch im Falle ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit für den Einzelnen, anders als für den Staat, nur begünstigend, nicht jedoch belastend wirken 62, behaupteten die Klägerinnen schon zum Zeitpunkt des Erlasses bzw. der Klageerhebung Rechtswirkungen der Richtlinie unterworfen zu sein. Zum einen binde das Gebot, schon während des Laufs der Frist zur Umsetzung einer Richtlinie alles zu unterlassen, was die Ziele der Richtlinie konterkarieren könnte, auch alle Privatrechtssubjekte63. Zum anderen gehöre eine der Klägerinnen zu den Einrichtungen, die für die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien der mitgliedstaatlichen Sphäre zugerechnet werden, und denen gegenüber Richtlinien folglich unmittelbar belastend wirken können64. Neben dem Aspekt der rechtlichen Betroffenheit brachten die Klägerinnen des Weiteren vor, die bereits aktuellen praktischen Auswirkungen der Richtlinie begründeten ein unmittelbares Betroffensein, die Umsetzung in innerstaatliches Recht sei ein der Wirklichkeit nicht angemessener Anknüpfungspunkt für das unmittelbare Betroffensein, auch käme den Mitgliedstaaten vorliegend ohnehin kein eigenes Ermessen bei der Umsetzung zu. Schließlich wurde ein ungerechtfertigter Eingriff in das Markenrecht, das Eigentum und das Recht auf freie wirtschaftliche Betätigung gerügt65. Die Klägerinnen versuchten außerdem, die Zulässigkeit ihrer Klage unabhängig vom Wortlaut des EG-Vertrages damit zu begründen, dass anderenfalls der Grund60 Nachweis bei EuG, Verb. Rs. T-172/98, T-175/98 bis T-177/98 - Salamander AG u. a./Parlament und Rat, Slg. 2000, Π - 2487, Rn. 25. Die Beklagten formulieren wie das EuG in der Rs. Asocarne unter dem Vorbehalt: „Selbst wenn man - entgegen dem Wortlaut der genannten Vorschrift - davon ausgeht, dass die Richtlinien den Verordnungen gleichgesetzt werden könnten, ( . . . ) . Hierin zeigt sich wieder eine nur eingeschränkte Anerkennung bzw. in Bezug auf Richtlinien zweifelnde Haltung hinsichtlich des Grundsatzes, dass die Form des Rechtsaktes nicht bestimmend für den Rechtsschutz ist. 61

Nachweis bei EuG, a. a. O., Rn. 26. 62 Vgl. unter C. I. 2. b) aa) (3). 63 Nachweis bei EuG, Verb. Rs. T-172/98, T-175/98 bis T-177/98 - Salamander AG u. a. / Parlament und Rat, Slg. 2000, Π - 2487, Rn. 35. 64 Nachweis bei EuG, a. a. O., Rn. 36. 65 Nachweis bei EuG, a. a. O., Rn. 39-49.

I. Anfechtbarkeit von Richtlinien

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satz des effektiven Rechtsschutzes, wie er in Art. 6 und 13 EMRK niedergelegt ist, verletzt sei. Weder die nationalen Gerichtssysteme noch das Vorabentscheidungsverfahren könnten das Fehlen der direkten und zentralen Nichtigkeitsklage ausgleichen66. Das EuG griff, wie schon der Rat und das Parlament, die Formulierung aus der Rechtssache Asocarne auf („Selbst wenn ...."), wonach die Gleichsetzung von Scheinrichtlinien und Scheinverordnungen im Rahmen der Nichtigkeitsklage erwogen, aber nicht definitiv festgestellt wird. Das Gericht kam diesbezüglich zu dem Ergebnis, dass keine Scheinrichtlinie vorlag. Das EuG fuhr dann mit Hinweis Sofrimport, Extramet und Codorniu fort, auf die Rechtssachen Piraiki-Patraiki, dass selbst ein normativer Akt einzelne Wirtschaftsteilnehmer unmittelbar und individuell betreffen könne und ging sodann zur Prüfung des unmittelbaren Betroffenseins über 67. Es wurde die allgemeine Rechtsprechung zu diesem Merkmal wiederholt, wonach der Einzelne unmittelbar von einer Maßnahme betroffen ist, wenn diese sich auf seine Rechtsstellung unmittelbar auswirkt und ihren Adressaten bei der Durchführung keinen Ermessensspielraum lässt, sondern der Vollzug rein automatisch erfolgt und sich allein aus dem gemeinschaftsrechtlichen Akt ohne Anwendung weiterer Vorschriften ergibt 68. Das EuG prüfte dann, ob die angefochtene Richtlinie selbst die Rechtsstellung der Klägerinnen berührte, kam aber zu dem Ergebnis, dass die Richtlinie nicht eigenständig ohne die mitgliedstaatlichen Umsetzungsakte dazu geeignet war, da Richtlinien gegenüber Einzelnen nicht unmittelbar belastend wirken könnten69. Ausdrücklich wurde festgestellt, dass eine Verpflichtung zur Beachtung der Richtlinie schon vor ihrer Umsetzung für Privatrechtssubjekte nicht gelte, da die Grundlage dafür in Art. 10 Abs. 2 EG zu finden sei, der aber ausschließlich die Mitgliedstaaten binde70. Ferner wurde keine Zurechnung einer Klägerin zur staatlichen Sphäre vorgenommen, da sie keine Dienstleistung im öffentlichen Interesse erbringe 71. Eine Auswirkung auf die Rechtsstellung der Klägerinnen habe die Richtlinie selbst damit unter keinem Aspekt. Wirtschaftliche Auswirkungen hingegen seien rein faktischer Natur und für das unmittelbare Betroffensein damit unerheblich72. Subsidiär sei überdies ein Ermes« Nachweis bei EuG, a. a. O., Rn. 73. 67 EuG, Verb. Rs. T-172/98, T-175/98 bis T-177/98 - Salamander AG u. a./Parlament und Rat, Slg. 2000, Π - 2487, Rn. 2 7 - 3 1 mit entsprechenden Nachweisen. 68 EuG, a. a. O., Rn. 52; EuGH, Rs. C-386/96 Ρ - Société Louis Dreyfus & Cie./Kommission, Slg. 1998,1 - 2309, Rn. 43. 69 EuG, Verb. Rs. T-172/98, T-175/98 bis T-177/98 - Salamander AG u. a./Parlament und Rat, Slg. 2000, Π - 2487, Rn. 54, 65. 70 EuG, a. a. O., Rn. 57. 71 EuG, a. a. O., Rn. 60. 72 EUG, a. a. O., Rn. 62. 4 Schulte

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C. Entwicklung und Bewertung der Rechtsprechung von EuGH und EuG

sensspielraum der Mitgliedstaaten gegeben73. Das unmittelbare Betroffensein wurde verneint, auf das individuelle Betroffensein ging das EuG nicht mehr ein. Zu dem Gesichtspunkt, die Zulässigkeit der Klage müsse sich unabhängig vom Wortlaut der Rechtsschutzvorschriften aus dem Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes ergeben, äußerte das EuG sich ablehnend. Gestützt wurde dies auf den Grundsatz der Gleichheit aller Rechtsunterworfenen. Demnach könne der Zugang zu den Gemeinschaftsgerichten sich nicht nach den Gegebenheiten der jeweiligen nationalen Gerichtssysteme richten. Überdies enthalte Art. 10 EG eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, zur Effektivität des Rechtsschutzsystems beizutragen. Bestünden dennoch Lücken im Rechtsschutzsystem, so rechtfertige dies unter Kompetenzgesichtspunkten gleichwohl kein Abweichen der Gerichte vom Vertragstext. Schließlich wurden die Klägerinnen auf die Amtshaftungsklage verwiesen74. Hinsichtlich der Anfechtbarkeit von Scheinrichtlinien hat das EuG an die Entscheidung in der Rechtssache Asocarne angeknüpft. Die Anfechtbarkeit von Scheinrichtlinien wird der Anfechtbarkeit von Scheinverordnungen nicht endgültig gleichgesetzt, das EuG formulierte wiederholt unter Vorbehalt: „selbst wenn"75. Fraglich und in der Literatur umstritten ist, welche Stellung das EuG in dieser Rechtssache zur Anfechtbarkeit echter und damit normativer Richtlinienbestimmungen bezieht. Schwarze beruft sich auf die Aussage des Gerichts, dass die Nichtigkeitsklage für den Einzelnen keine Anfechtungsmöglichkeit gegen Normativakte vorsieht76. Zwar wies das Gericht an dieser Stelle nochmals einleitend auf den Wortlaut des EG-Vertrages hin, doch sprechen die weiteren Ausführungen des EuG gegen eine derart restriktive Interpretation. Das EuG bestätigte, dass selbst normative Akte mit der Nichtigkeitsklage angegriffen werden können. Es ist im Anschluss an die Feststellung der normativen Rechtsnatur zwingend weiter zu prüfen, ob die Voraussetzungen des unmittelbaren und individuellen Betroffenseins in der Person des Klägers erfüllt sind. Dies offenbart sich in den Formulierungen „Es ist daher zu prüfen, ob die streitige Richtlinie die Klägerinnen unmittelbar und individuell betrifft." 77 und „Das Gericht hat daher zu prüfen, ob sich die streitige Richtlinie aus sich heraus auf die Rechtsstellung der Klägerinnen auswirkt."78. Des Weiteren bezieht sich das Wort „daher" auf den direkt vorangegangenen Hinweis zur Anfechtbarkeit echter Verordnungen79. Dadurch werden auch normative Richtlinienbestimmungen in diese Rechtsprechung einbezogen80. 73 EuG, a. a. O., Rn. 70. 74 EuG, a. a. O., Rn. 74/75, 77. 75 EuG, a. a. O., Rn. 28. 76 Schwarze, in: ders., EU-Kommentar, Art. 230 Rn. 34 zu Rn. 27 des Urteils. 77 EuG, Verb. Rs. T-172/98, T-175/98 bis T-177/98 - Salamander AG u. a./Parlament und Rat, Slg. 2000, Π - 2487, Rn. 31. Hervorhebung hinzugefügt. 78 EuG, a. a. O., Rn. 53. Hervorhebung hinzugefügt. 79 Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 Rn. 41b. so So auch: Cremer, EuZW 2001,453 (454).

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Stark relativiert wird die grundsätzliche Anerkennung der Anfechtbarkeit echter Richtlinien durch die Ausführungen des Gerichts zur Frage des unmittelbaren Betroffenseins durch Richtlinien. Diese Problematik rückte erstmals in den Mittelpunkt der Zulässigkeitsprüfung einer Nichtigkeitsklage Einzelner gegen Richtlinien. Bei der sogenannten materiellen Beurteilung des unmittelbaren Betroffenseins wird nicht allein darauf abgestellt, ob noch Durchführungsmaßnahmen folgen, sondern ob den Mitgliedstaaten bei der Ausführung ein Ermessensspielraum belassen ist - dann nur mittelbare Betroffenheit - oder nicht81. Verlangt das EuG eine Rechtsbetroffenheit durch die Richtlinie selbst, vertritt es ein rein formelles Verständnis der Unmittelbarkeit und die Umsetzungsakte der Mitgliedstaaten müssen außer Betracht bleiben, auch wenn den Mitgliedstaaten hierfür kein Ermessen eingeräumt ist. Für die Anfechtbarkeit von Richtlinien durch den Einzelnen führt das zu folgender Situation: Grundsätzlich entfalten Richtlinien erst nach ihrer Umsetzung und vermittelt durch den nationalen Umsetzungsakt Rechtswirkungen. Eine rechtliche Verpflichtung durch Richtlinien selbst entspricht nicht ihrer Konstruktion im EGVertrag. Allenfalls über die Figur der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien können diese unabhängig von ihrem Umsetzungsakt Rechtswirkungen erzeugen. Aber auch hier ist eine Belastung des Einzelnen nach gefestigter Rechtsprechung abzulehnen und nur der hinsichtlich der Umsetzung säumige Mitgliedstaat in die Pflicht genommen82. In der Literatur wird daher zu Recht davon ausgegangen, dass bei dem vom EuG gewählten Bezugspunkt der rechtlichen Belastung eine gegen echte Richtlinienbestimmungen erhobene Nichtigkeitsklage stets mangels unmittelbarer Betroffenheit unzulässig ist und die Aufnahme von Richtlinien in den Kreis der tauglichen Klagegegenstände vor diesem Hintergrund folgenlos bleibt83. h) Beschluss des EuG vom 14. Ol. 2002 in der Rechtssache T-84/01 -ACHE Die Klägerin in der Rechtssache ACHE erstrebte die Nichtigerklärung der Richtlinie 2000/84/EG des Parlaments und des Rates vom 19. Ol. 2001 zur Regelung der Sommerzeit84. Das Parlament verneinte zunächst ein unmittelbares Betroffensein der Klägerin mit dem Argument, dass trotz fehlenden Beurteilungsspielraums der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung die Richtlinie der Klägerin weder Pflichten auferlege noch ei C. I. 2. b). 82 Vgl. dazu C. I. 2. b) aa) (3). 83 Nowak, Zentraler und dezentraler Individualrechtsschutz in der EG im Lichte des gemeinschaftsrechtlichen Rechtsgrundsatzes effektiven Rechtsschutzes, in: Individualrechtsschutz in der EG und der WTO, S. 47 (57 f.); Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 Rn. 41b; ders., EuZW 2001,453 (455). 84 ABl. L 31, S. 21. 4*

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C. Entwicklung und Bewertung der Rechtsprechung von EuGH und EuG

ihre Rechte beeinträchtige. Auch sei die Klägerin nicht individuell betroffen 85. Anders als das Parlament sah der Rat zusätzlich die Rechtsnatur der Richtlinie als erheblich an, da normative Akte grundsätzlich nicht durch Privatpersonen anfechtbar seien. Jedenfalls müssten aber unmittelbares und individuelles Betroffensein nachgewiesen werden. Individuelles Betroffensein und - unter Berufung auf das Urteil des EuG in der Rechtssache Salamander - unmittelbares Betroffensein lägen jedoch nicht vor 86 . Die Klägerin hingegen maß Rechtsform und Rechtsnatur der Richtlinie keine Bedeutung bei. Sie sei individuell betroffen und, da den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht kein Ermessen zukomme, auch unmittelbar betroffen 87. Das EuG betonte zunächst, dass allein das Fehlen von Richtlinien im Wortlaut des Art. 230 Abs. 4 EG die Unzulässigkeit der Nichtigkeitsklage nicht begründen könne, denn die Form eines Rechtsaktes dürfe nicht ausschlaggebend sein für die Rechtsschutzmöglichkeiten. Es fehle für die Zulässigkeit der Klage aber am individuellen Betroffensein 88. Das EuG hat in diesem Beschluss die Anfechtbarkeit von Scheinrichtlinien noch einmal bestätigt, sich zur Anfechtbarkeit von echten Richtlinien dagegen nicht geäußert. Bedauerlich ist es, dass das EuG zur unmittelbaren Betroffenheit nicht Stellung bezogen hat. Dazu hätte es reichlich Anlass gegeben, da das Urteil in der Rechtssache Salamander, auf das von den Parteien Bezug genommen wurde, für die Anfechtbarkeit von Richtlinien erhebliche Probleme aufwirft.

i) Beschluss des EuG vom 10. 09. 2002 in der Rechtssache T-223/01 - Japan Tobacco Die Klägerinnen der Rechtssache Japan Tobacco wandten sich gegen Art. 7 der Richtlinie 2001 / 3 7 / E G des Parlaments und des Rates vom 05. Juni 2001 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen89. Rat und Parlament erhoben die Einrede der Unzulässigkeit gemäß Art. 114 § 1 der Verfahrensordnung des EuG und stützen dies auf mangelnde individuelle und unmittelbare Betroffenheit der Klägerinnen. Richtlinien seien generell nicht dazu 85 Nachweis bei EuG, Rs. T-84/01 - Association contre l'heure d'été (ACHE)/Parlament und Rat, Slg. 2002, I I - 99, Rn. 12,13. Daneben wurde auch um die Rechtspersönlichkeit der Klägerin gestritten. 86 Nachweis bei EuG, a. a. O., Rn. 14-17. 87 Nachweis bei EuG, a. a. O., Rn. 20-22. 88 EuG, Rs. T-84/01 - Association contre l'heure d'été (ACHE)/Parlament und Rat, Slg. 2002, Π - 9 9 , Rn. 23-26. 89 ABl. L 194, S. 26.

I. Anfechtbarkeit von Richtlinien

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in der Lage, unmittelbares Betroffensein bei Individualklägern auszulösen. Nicht durch Richtlinien, sondern erst durch die nationalen Umsetzungsakte unterlägen einzelne Personen unmittelbar rechtlichen Belastungen, so dass die Rechtsstellung Einzelner durch Richtlinien nicht berührt werde. Daran ändere sich auch nichts, wenn eine Richtlinie den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung keinerlei Ermessen •

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einräume . Darüber hinaus hielt der Rat an der Auffassung fest, dass Richtlinien und grundsätzlich alle Normativakte von Individualklägern nicht angefochten werden könnf

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ten . Die Klägerinnen räumten den normativen Charakter der Richtlinie ein, sahen aber auch echte Richtlinien als taugliche Klagegegenstände der Individualnichtigkeitsklage an und beriefen sich dazu auf die Rechtssachen Gibraltar, UEAPME und Salamander 92. Für das Vorliegen unmittelbarer Betroffenheit sei es im Gegensatz zu der Behauptung von Rat und Parlament unerheblich, ob die angefochtene Richtlinie selbst oder erst die Umsetzungsakte dem Einzelnen Verpflichtungen auferlegten, solange die Richtlinie unmittelbare Ursache einer Wirkung gegenüber dem Kläger sei. Dieser Kausalzusammenhang werde nicht durch Durchführungsmaßnahmen der Mitgliedstaaten unterbrochen93. Selbst Ermessen der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie - was vorliegend nicht gegeben sei94 - hindere nicht ein unmittelbares Betroffensein, wenn an der Art und Weise der Ermessensausübung kein Zweifel bestehe95. Zu der Frage, ob Richtlinien durch natürliche und juristische Personen angefochten werden können, wiederholte das EuG, dass die Gemeinschaftsorgane durch die Wahl der Form einer Handlung nicht den vertraglich vorgesehenen Rechtsschutz ausschließen dürften und somit Entscheidungen - gleich in welcher Rechtsform sie erlassen wurden - stets anfechtbar seien96. Zudem wurde die Anfechtbarkeit echter Richtlinien bejaht97. 90 Nachweis bei EuG, Rs. T-223/01 - Japan Tobacco Inc. und JT International SA /Parlament und Rat, Slg. 2002, Π - 3259, Rn. 32, 33. Es wurde zudem vertreten, dass ein Ermessen der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung bestehe (Rn. 21). 91 Nachweis bei EuG, a. a. Ο., Rn. 16, 19-22. Der Ausschluss der Anfechtbarkeit von Richtlinien ergibt sich nach Ansicht des Rates aus dem Umsetzungserfordernis mit der Folge, dass erst die nationalen Bestimmungen dem Einzelnen Rechte verleihen und Pflichten auferlegen. 92 Nachweis bei EuG, a. a. O., Rn. 23, 24. Nur hilfsweise wurde argumentiert, dass die Richtlinie gegenüber den Klägerinnen zugleich eine De-facto-Entscheidung darstelle, da sie ihnen gegenüber eine spezifische Wirkung entfalte. 93 Nachweis bei EuG, a. a. O., Rn. 37,41,42. 94 Nachweis bei EuG, a. a. O., Rn. 38-40. 9 5 Nachweis bei EuG, a. a. O., Rn. 37. 9 * EuG, Rs. T-223/01 - Japan Tobacco Inc. und JT International SA/Parlament und Rat, Slg. 2002, Π - 3 2 5 9 , Rn. 28.

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C. Entwicklung und Bewertung der Rechtsprechung von EuGH und EuG

Hinsichtlich des unmittelbaren Betroffenseins führte das EuG die Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte zur so genannten materiellen Unmittelbarkeit98 an, wonach ein Gemeinschaftsrechtsakt auch dann unmittelbares Betroffensein erzeuge, wenn zwar noch Durchführungsmaßnahmen erforderlich sind, diese aber rein automatisch erfolgen, indem der durchführenden Stelle kein Ermessen belassen ist bzw. das Ergebnis der Ermessensausübung jedenfalls nicht zweifelhaft ist". Das EuG stellte zunächst fest, dass die Richtlinie vor ihrer Umsetzung durch die Mitgliedstaaten bzw. vor Ablauf der Umsetzungsfrist die Rechtsstellung der Klägerinnen nicht betreffen könne 100 . Es prüfte jedoch weiter, ob sich eine zukünftige Belastung der Klägerinnen schon gegenwärtig sicher allein aus der Richtlinie entnehmen lasse. Dies wurde schließlich verneint, da bei der Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht ein Ermessensspielraum für die Mitgliedstaaten bestehe und auch bei wortgetreuer Umsetzung der Richtlinie durch die Mitgliedstaaten ungewiss sei, ob die Marke der Klägerinnen verboten sei, und die Klägerinnen damit tatsächlich belastet würden. Die Anfechtbarkeit von Scheinrichtlinien wird durch den Beschluss des EuG gebilligt. Es hat nunmehr auch den Vorbehalt zur Gleichbehandlung von Scheinrichtlinien mit den in Art. 230 Abs. 4 EG explizit als taugliche Klagegegenstände genannten Scheinverordnungen aufgegeben, den es noch in der Rechtssache Salamander aufrechterhalten hatte. Darüber hinaus ist die Anfechtbarkeit echter Richtlinien nachdrücklich bestätigt worden. Die Position des EuG zum unmittelbaren Betroffensein Einzelner durch Richtlinien ist nicht zweifelsfrei zu bestimmen. In der Literatur wird davon ausgegangen, dass das EuG die allgemeine Rechtsprechung zur materiellen Unmittelbarkeit - anders als noch in der Rechtssache Salamander - nun auch auf Richtlinien angewendet hat 101 . Dieser Eindruck entsteht dadurch, dass das EuG die Prüfung nicht mit der Feststellung beendet hat, dass Richtlinien aus sich heraus die Rechtsstellung des Einzelnen prinzipiell nicht berühren können. Vielmehr ist das EuG auch der Frage nachgegangen, ob sich eine Beeinträchtigung bereits aktualisiert habe, wenn und weil die Mitgliedstaaten kein Umsetzungsermessen haben und die Richtlinie die Betroffenheit zwingend vorgebe. Dieses Vorgehen, das nicht den Charakter einer bloße Hilfserwägung hat, entspricht der Prüfung der materiellen Unmittelbarkeit wie sie insbesondere bei Entscheidungen längst Standard ist. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zur Rechtssache Salamander, in welcher das EuG sich auf ein formelles Verständnis der unmittelbaren Betroffenheit zurückgezogen 97 EuG, a. a. O., Rn. 29, 30. 98 Vgl. hierzu C. I. 2. b). 99 EuG, Rs. T-223/01 - Japan Tobacco Inc. und JT International SA/Parlament und Rat, Slg. 2002, Π - 3259, Rn. 45,46. 100 EUG, a. a. O., Rn. 47. ιοί Wölker, DÖV 2003, 570 (575).

I. Anfechtbarkeit von Richtlinien

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und dementsprechend verlangt hatte, dass die Rechtsstellung des Klägers durch den angefochtenen Akt selbst und nicht erst durch Vollzugsakte beeinträchtigt sein müsse. Es liegt insofern nahe, dass das EuG tatsächlich seine Rechtsprechung zum unmittelbaren Betroffensein durch Richtlinien in der Rechtssache Japan Tobacco dem materiellen Verständnis angepasst hat. Letzte Zweifel können aber nicht ausgeräumt werden, da das EuG zu Beginn seiner Prüfung ausgeführt hat, dass die Richtlinie vor Umsetzung bzw. vor Ablauf der Umsetzungsfrist die Rechtsstellung der Klägerinnen nicht ändere und ihnen gegenüber gegenwärtig nicht die geringsten Auswirkungen habe 102 . Dieser Aspekt scheint damit für die unmittelbare Betroffenheit durch Richtlinien noch Relevanz zu besitzen. Angesichts der jahrelangen Schwankungen in der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte zu der Frage, ob Scheinrichtlinien oder sogar echte Richtlinien taugliche Klagegegenstände der Individualnichtigkeitsklage sein können, ist es wohl zu früh, um von einer gefestigten Rechtsprechung zur Frage der unmittelbaren Betroffenheit durch Richtlinien auszugehen.

j) Beschluss des EuG vom 06. 05. 2003 in der Rechtssache T-321/02 -Μοήη Der Kläger in der Rechtssache Morin wandte sich gegen die Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation 2002/58/EG des Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 103 . Parlament und Rat erhoben abermals die Einrede der Unzulässigkeit gemäß Art. 114 der Verfahrensordnung des EuG. Zwar akzeptierten sie Scheinrichtlinien als anfechtbare Handlungen im Sinne des Art. 230 Abs. 4 EG, echte Richtlinien hingegen seien durch natürliche und juristische Personen nicht anfechtbar 104. Hilfsweise brachten sie vor, der Kläger sei nicht individuell und auch nicht unmittelbar betroffen, da Richtlinien selbst sich nicht unmittelbar belastend auf die Rechtsstellung Einzelner auswirken könnten105. Der Kläger sah Richtlinien als anfechtbare Rechtsakte an und begründete dies mit dem Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz. Ihm stehe keine Möglichkeit offen, vor den mitgliedstaatlichen Gerichten Rechtsschutz zu suchen 106 . Zudem sei er unmittelbar betroffen, und für seine individuelle Betroffen102 EUG, Rs. T-223 / Ol - Japan Tobacco Inc. und JT International SA /Parlament und Rat, Slg. 2002, Π - 3 2 5 9 , Rn. 47. 103 ABl. L 201, S. 37. 104 Nachweis bei EuG, Rs. T-321 /02 - Paul Vannieuwenhuyze-Morin/Parlament und Rat, noch nicht in amtlicher Sammlung, Rn. 15 105 Nachweis bei EuG, a. a. O., Rn. 16. 106 Nachweis bei EuG, a. a. O., Rn. 17.

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C. Entwicklung und Bewertung der Rechtsprechung von EuGH und EuG

heit genüge, dass seine Rechtsposition unzweifelhaft und gegenwärtig beeinträchtig* tigt sei Das EuG erklärte sowohl Nichtigkeitsklagen gegen Scheinrichtlinien als auch gegen echte Richtlinien für prinzipiell zulässig, solange die Merkmale des individuellen und unmittelbaren Betroffenseins ebenfalls erfüllt seien108. Das individuelle Betroffensein prüfte das EuG anhand der Definition der Plaumann-Formel, deren Voraussetzung es als nicht gegeben erachtete109. Wie schon in der Rechtssache Salamander befand das EuG, dass eine Erweiterung dieser Zulässigkeitsvoraussetzung auch mit dem Argument der fehlenden anderweitigen Rechtsschutzmöglichkeiten nicht zu begründen sei 110 . Ohne Eingehen auf das unmittelbare Betroffensein wurde die Nichtigkeitsklage damit als unzulässig verworfen. Nach den Rechtssachen UEAPME, Salamander, Japan Tobacco und Morin kann davon ausgegangen werden, dass sowohl die Anfechtbarkeit von Scheinrichtlinien als auch die Anfechtbarkeit echter Richtlinien inzwischen gefestigter Rechtsprechung entspricht. Weniger eindeutig lässt sich die Frage beantworten, wie das unmittelbare Betroffensein im Hinblick auf Richtlinien zu prüfen ist. Das EuG hat dazu in den Rechtssachen Salamander und Japan Tobacco unterschiedliche Standpunkte eingenommen, in der jüngsten Entscheidung zu einer Nichtigkeitsklage gegen eine Richtlinie, Morìn , hat das EuG das unmittelbare Betroffensein ausgeblendet. Von einer gefestigten Rechtsprechung zu diesem Punkt kann noch keine Rede sein.

2. Würdigung der Rechtsprechung zum Rechtsschutz gegen Richtlinien Es hat sich durch die vorhergehende Darstellung gezeigt, dass die Rechtsprechung zur Anfechtbarkeit von Richtlinien im Wege der Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 Abs. 4 EG großen Schwankungen unterworfen war. Ist in den Rechtssachen Flourez und Fedesa und GUNA diese Frage im Wesentlichen unbeantwortet geblieben und der Rechtssache Gibraltar die Anfechtbarkeit von Scheinrichtlinien und die Unanfechtbarkeit echter Richtlinien zu entnehmen, so wurde durch das EuG in der Rechtssache Asocarne selbst die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage gegen Scheinrichtlinien bezweifelt. Daraufhin entschied der EuGH als Rechtsmittelinstanz gleichwohl, dass sogar normative Richtlinienbestimmungen anfechtbar sind, und das EuG schloss sich dem in der Rechtssache UEAPME an. Während das EuG in der Rechtssache ACHE die Frage nach der Anfechtbarkeit echter Richüini107 Nachweis bei EuG, a. a. O., Rn. 18, 19. Unter Berufung auf das Urteil des EuG in der Rs. Jégo-Quéré. 108 EUG, Rs. T-321 /02 - Paul Vannieuwenhuyze-Morin/Parlament und Rat, noch nicht in amtlicher Sammlung, Rn. 21, 23, 24. 109 EUG, a. a. O., Rn. 28, 29. no EUG, a. a. O., Rn. 30.

I. Anfechtbarkeit von Richtlinien

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en noch einmal offen ließ, hat es in den Rechtssachen Salamander, Japan Tobacco und Morin die Anfechtbarkeit echter Richtlinienbestimmungen jeweils bestätigt. Sowohl Scheinrichtlinien als auch echte Richtlinien können nach mittlerweile gefestigter Rechtsprechung als taugliche Klagegegenstände angesehen werden 111. Problematischer ist die Beurteilung des unmittelbaren Betroffenseins in der Rechtsprechung des EuG. In zwei Beschlüssen jüngeren Datums in den Rechtssachen Salamander und Japan Tobacco hat das EuG unterschiedliche Anforderungen an das Vorliegen dieser Voraussetzung gestellt. Im Folgenden soll untersucht werden, ob und wie sich die Anfechtbarkeit von Richtlinien dogmatisch begründen lässt, und welche Auslegung des unmittelbaren Betroffenseins durch Richtlinien vorzugswürdig ist.

a) Richtlinien als anfechtbare Handlungen Zunächst ist zu klären, ob Richtlinien überhaupt für die Nichtigkeitsklage Privater gemäß Art. 230 Abs. 4 EG als anfechtbare Rechtsakte in Betracht kommen. Erst wenn dies der Fall ist, können die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen von Bedeutung sein.

aa) Gleichsetzung mit Entscheidungen, die an andere Personen gerichtet sind? Im Wortlaut von Art. 230 Abs. 4 EG sind Richtlinien als anfechtbare Handlungen nicht genannt. In der Literatur ist die Anfechtbarkeit von Richtlinien auch nach dem Wortlaut des Art. 230 Abs. 4 EG aber mit dem Argument bejaht worden, diese Rechtsakte seien letztlich als an andere Personen gerichtete Entscheidungen anzusehen, wobei die Mitgliedstaaten, an welche die jeweilige Richtlinie gerichtet ist, die „andere Person" i. S. d. Art. 230 Abs. 4 EG seien112. Weiter müssen die Kläger noch individuell und unmittelbar betroffen sein. Diesem Ansatz ist zunächst einmal zuzugeben, dass Richtlinien und Entscheidungen, die an Mitgliedstaaten gerichtet sind, sich insofern ähneln, als beide eine Verpflichtung enthalten, der die Mitgliedstaaten nachkommen müssen. Dem könnte zwar entgegengehalten werden, dass Richtlinien nur hinsichtlich des Ziels, Entscheidungen hingegen vollumfänglich verbindlich sind, doch wird dieser Unter111

Diese Erkenntnis hat sich gleichwohl noch nicht überall durchgesetzt. Selbst GA Geelhoed, Schlussanträge in der Rs. C-491/01 - The Queen /Secretary of State for Health, ex parte: British American Tobacco (Investments) Ltd u. Imperial Tobacco Ltd, Slg. 2002,1 11453, I - 11461, Rn. 49 geht davon aus, dass einzelne Personen keine Nichtigkeitsklage gegen Richtlinien erheben können. 112 vonBurchard, EuR 1991,140 (161).

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C. Entwicklung und Bewertung der Rechtsprechung von EuGH und EuG

schied nivelliert, soweit es um Richtlinien geht, die detaillierte Regelungen vorsehen und den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung keinen nennenswerten Spielraum belassen113. Von dieser konstruktiven Ähnlichkeit ausgehend ist zu fragen, ob eine entsprechende Interpretation des Wortlauts von Art. 230 Abs. 4 EG zulässig ist. Zunächst könnte problematisch sein, dass Richtlinien nicht an natürliche oder juristische Personen, sondern an die Mitgliedstaaten gerichtet sind. Entscheidungen, die an Mitgliedstaaten gerichtet sind, haben die Gemeinschaftsgerichte jedoch stets der dritten Variante des Art. 230 Abs. 4 EG zugeordnet, nämlich der Entscheidung, die an eine andere Person gerichtet ist 114 . Mitgliedstaaten können somit unter den Begriff der „anderen Person" subsumiert werden, dieses Merkmal steht der dargestellten Ansicht nicht entgegen. Bedenken könnten sich dennoch bei systematischer Betrachtung der Fallgruppen des Art. 230 Abs. 4 EG zueinander ergeben. Der Wortlaut des Art. 230 Abs. 4 EG enthält drei Varianten: die an den Kläger ergangenen Entscheidungen, die als Verordnung ergangenen Entscheidungen sowie Entscheidungen, die an eine andere Person gerichtet sind. Es wird deutlich differenziert zwischen der formellen und der materiellen Einordnung von Rechtsakten. Wenn in der zweiten Variante von Entscheidungen, die als Verordnung ergangen sind, die Rede ist, so kann an dieser Stelle allein eine materielle Betrachtungsweise gemeint sein, denn formell ist der Rechtsakt als Verordnung ergangen. Da die zweite Variante des Art. 230 Abs. 4 EG sich explizit der Situation annimmt, dass eine materielle Entscheidung in der Form eines anderen Rechtsaktes ergeht (Verordnung), ist davon auszugehen, dass in der ersten und dritten Variante des Art. 230 Abs. 4 EG die formelle Einordnung als Entscheidung bestimmend ist. Denn in diesen Varianten wird nur auf Entscheidungen Bezug genommen, ohne auf die Rechtsform einzugehen. Die dritte Variante fallt dabei nicht aus dem Rahmen, da es an der formellen Einordnung als Entscheidung nichts ändert, an wen diese gerichtet ist. Der Adressat spielt erst bei der Beurteilung der Klagebefugnis eine Rolle. Auch die Gemeinschaftsgerichte weisen in ihrer Rechtsprechung vielfach darauf hin, dass der Begriff der Entscheidung in Art. 230 Abs. 4 EG in dem technischen Sinn zu verstehen sei, den ihm Art. 249 Abs. 4 EG verleiht 115. Selbst wenn man aber annimmt, dass der Begriff der Entscheidung in Art. 230 Abs. 4 EG nicht übereinstimmt mit dem formellen Entscheidungsbegriff in Art. 249 Abs. 4 EG 1 1 6 , ist damit nicht gesagt, dass Richtlinien unter die Gruppe "3 von Burchard, EuR 1991,140 (160). i>4 EuGH, Rs. 25/62 - Firma Plaumann & Co./Kommission, Slg. 1963, 213, 238; Lenaerts/Arts, Procedural Law of the European Union, S. 163; Booß, in: Grabitz/Hilf, EUV/ EGV, Art. 230 Rn. 63. 115 EuGH, Rs. C-10/95 - Asociación Espanola de Empresas de la Carne (Asocarne)/Rat, Slg. 1995,1 - 4149, Rn. 28 m. w. N. Π6 Ausführlich dazu: Röhl, ZaöRV 2000, 331 ff.

I. Anfechtbarkeit von Richtlinien

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der anfechtbaren Rechtsakte der dritten Variante des Art. 230 Abs. 4 EG subsumiert werden können. Es ist nämlich darüber hinaus aus teleologischer und historischer Sicht festzustellen, dass durch Art. 230 Abs. 4 EG natürlichen und juristischen Personen keine Möglichkeit eingeräumt werden sollte, normative Rechtsakte direkt anzugreifen. Anfechtbar sind nur Entscheidungen, die sich dadurch von normativen Rechtsakten unterscheiden, dass sie im Gegensatz zu Letzteren gerade keine allgemeine Geltung besitzen117. Richtlinien sind als zweistufige Rechtsakte konzipiert und bedürfen der Umsetzung in das nationale Recht durch die zuständigen Organe der Mitgliedstaaten. Sie stellen eine Form der mittelbaren Gesetzgebung durch die Gemeinschaft dar. Zwar sind Richtlinien grundsätzlich nur für die Mitgliedstaaten als Adressaten verbindlich, gleichwohl sind Richtlinien als allgemein gültige Handlungen und damit als Normativakte zu qualifizieren 118. Die Qualität als Normativakt resultiert aus dem Bezugspunkt für die allgemeine Geltung: Ausschlaggebend ist nicht der persönliche, adressatenbezogene Geltungsbereich (Mitgliedstaaten), sondern der sachliche Geltungsbereich des Rechtsakts119. Der sachliche Geltungsbereich von Richtlinien, wenn auch erst nach der Umsetzung durch den nationalen Rechtsakt realisiert, ist in der Regel allgemein gehalten. Echte Richtlinien können daher nicht als Entscheidungen, die an eine andere Person gerichtet sind, aufgefasst und unter die dritte Variante des Art. 230 Abs. 4 EG subsumiert werden. Diese dritte Variante des Art. 230 Abs. 4 EG erfasst ausschließlich Rechtsakte, die keine allgemeine Geltung haben.

bb) Anfechtbarkeit von Scheinrichtlinien Als Verordnung ergangene Entscheidungen, sogenannte Scheinverordnungen, gehören seit je her dem Katalog der von nicht-privilegierten Klägern anfechtbaren Handlungen an 1 2 0 . Zunächst ist zu erläutern, welches Prinzip der Anfechtbarkeit von Scheinverordnungen zugrunde liegt, um dann auf dieser Grundlage entscheiden zu können, inwieweit dieses ebenfalls für als Richtlinien ergangene Entscheidungen Geltung beansprucht. Die Gemeinschaftsgerichte gehen in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die Form eines Rechtsaktes nicht ausschlaggebend sein darf für den primärrechtlich vorgesehenen Rechtsschutz121. Es ist mithin keine formelle, sondern eine mail? Hierzu Β II. 118

EuGH, Rs. C-10/95 - Asociación Espanola de Empresas de la Came (Asocarne)/Rat, Slg. 1995,1 - 4149, Rn. 29; EuG, Verb. Rs. T-172/98, T-175/98 bis 177/98 - Salamander AG u. a. / Parlament und Rat, Slg. 2000, Π - 2487, Rn. 29. 119 Geiger, EUV/EGV, Art. 230 Rn. 25. 120 Art. 173 Abs. 2 EWGVa. F., Art. 173 Abs. 4 EGVa. F.

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C. Entwicklung und Bewertung der Rechtsprechung von EuGH und EuG

terielle Betrachtung zur Feststellung der wahren Rechtsnatur des in Frage stehenden Rechtsakts geboten. Die Klagemöglichkeit des Art. 230 Abs. 4 EG bleibt gewährleistet, wenn der angefochtene Rechtsakt materiell eine Entscheidung ist, unabhängig davon, ob er auch formell als Entscheidung ergangen ist oder in Gestalt einer Verordnung erlassen wurde. Damit soll sichergestellt werden, dass nicht die Gemeinschaftsorgane durch die Wahl einer normativen Rechtsform über den Rechtsschutz und die gerichtliche Kontrolle ihrer Rechtsakte disponieren können. Es wäre ihnen bei bloß formeller Einordnung des Rechtsakts in die Kategorien des Art. 249 EG möglich, den Adressaten oder sonst unmittelbar und individuell Betroffenen einer Entscheidung des primärrechtlich vorgesehenen Rechtsbehelfs der Nichtigkeitsklage zu berauben, indem sie die Maßnahme missbräuchlich im Gewand einer Verordnung erlassen. Damit aber könnten sich die Gemeinschaftsorgane über den Vertrag hinweg- und an die Stelle des Verfassungsgebers der Gemeinschaft setzen. Diese Argumentation ist nun in Beziehung zu setzen zum Rechtsschutz gegen als Richtlinien ergangene Entscheidungen. Die Regelung des Art. 230 Abs. 4 EG erfasst die Nichtigkeitsklage gegen Scheinrichtlinien nicht, obgleich die eben dargestellte Begründung zur Anfechtbarkeit von Scheinverordnungen hier genauso Platz greift 122 . Bei Richtlinien böte sich den Gemeinschaftsorganen ebenso wie bei Verordnungen die Möglichkeit, durch die Wahl der normativen Rechtsform den Rechtsbehelf der Nichtigkeitsklage auszuschließen, wenn allein eine formale Einordnung des Rechtsakts, nicht aber seine wahre Rechtsnatur ausschlaggebend wäre. Es handelt sich mithin um eine offene Gesetzeslücke, da die Norm für eine bestimmte Fallgruppe, auf die sie anwendbar wäre, keine Regel enthält, obwohl die eigene Teleologie dieser Norm eine solche Regel fordert 123. Die Schließung der Lücke im Wege der Gesetzes- oder Einzelanalogie124, die durch die Übertragung der für einen Tatbestand einschlägigen Regel auf einen wertungsmäßig gleich gelagerten Tatbestand vollzogen wird, bietet sich nicht an. Bei der Einzelanalogie kommt es nicht zur Aufstellung eines allgemeinen Grundsatzes, der Geltung für eine unbestimmte Vielzahl möglicher Fallgestaltungen beansprucht, sondern es kommt nur zur Aufstellung einer Regel für einen begrenzten Tatbestand125. Die ratio legis, die Art. 230 Abs. 4 EG zugrunde liegt, besagt, dass, um Formenmissbrauch auszuschließen, die Form des Rechtsaktes nicht über den primärrechtlich gewährleisteten Rechtsschutz entscheiden kann, sondern allein die materiell zu bestimmende wahre Rechtsnatur. Diese ratio legis hat einen generellen Anwendungsbereich und stellt mithin einen allgemeinen Rechtsgrundsatz126 dar. Die explizite 121 EuG, Rs. T-298 /94 - Roquette Frères SA/Rat, Slg. 1996, Π - 1 5 3 1 , Rn. 35 m. w. Ν. 122 Schon: Daig, Zum Klagerecht von Privatpersonen nach Art. 173 Abs. 2 EWG-, 146 Abs. 2 EAG-Vertrag, in: FS für Riese, S. 187 (200 f.). 1 23 Vgl. Larenz/ Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 198. m Geiger, EUV/EGV, Art. 230 Rn. 25; Klüpfel, EuZW 1996, 393 (394). 1 25 Larenz/ Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 204/205. 1 26 Vgl. Larenz/ Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 207.

I. Anfechtbarkeit von Richtlinien

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Nennung von Scheinverordnungen unter den anfechtbaren Rechtsakten in Art. 230 Abs. 4 EG hat bloß beispielhaften Charakter 127. Es kann damit festgehalten werden, dass im Gemeinschaftsrecht ein allgemeiner Rechtsgrundsatz besteht, wonach materielle Entscheidungen anfechtbare Rechtsakte sind, unabhängig davon, in welcher Rechtsform sie erlassen wurden. Auch als Richtlinien ergangene Entscheidungen - Scheinrichtlinien - können bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen von natürlichen und juristischen Personen im Wege der Nichtigkeitsklage angegriffen werden. Bis zum Jahr 2000 in der Rechtssache Salamander hat das EuG noch Vorbehalte gegen die Anfechtbarkeit von Scheinrichtlinien geäußert, indem es formulierte: „Selbst wenn man - entgegen dem Wortlaut [ . . . ] des Vertrages - davon ausgeht, dass Richtlinien den Verordnungen gleichgesetzt werden könnten, um eine Klage gegen eine „als" Richtlinie ergangene Entscheidung zuzulassen [ . . . ] " 1 2 8 . Dieser unangebrachte Vorbehalt ist mittlerweile aufgegeben worden. Das EuG hat ihn in den Rechtssachen ACHE , Japan Tobacco und Morin aus den Jahren 2002/2003 nicht wiederholt, sondern vielmehr den allgemeinen Rechtsgrundssatz, dass materielle Entscheidungen ungeachtet ihrer Rechtsform anfechtbar sind, uneingeschränkt anerkannt. cc) Normative Richtlinienbestimmungen Grundsätzlich ist kein Raum für Klagen natürlicher oder juristischer Personen gegen normative Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane 129. Dennoch hat der EuGH in der Rechtssache Codorniu entschieden, dass normative Verordnungsbestimmungen von Einzelnen mit der Nichtigkeitsklage angegriffen werden können, wenn sie, was in dem Urteil für möglich gehalten wurde, individuell betroffen sind 130 . Auch normative Richtlinien werden unterdessen von der Rechtsprechung als taugliche Klagegegenstände der Individualnichtigkeitsklage gebilligt131. Die Frage nach der Anfechtbarkeit normativer Rechtsakte wird von Rechtsprechung und Literatur schwerpunktmäßig im Zusammenhang mit Verordnungen behandelt. Auch hier soll diese Diskussion daher im Rahmen der Erörterung zur Nichtigkeitsklage gegen Verordnungen geführt werden. Festgehalten werden kann an dieser Stelle schon, dass sich hinsichtlich der weiteren Zulässigkeitsvoraussetzung des individuellen Betroffenseins kein Unter127 Booß, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 230 Rn. 47; Cremer, EuZW 2001,453 (454). 128 EuG, Verb. Rs. T-172/98, T-175/98 bis T-177/98 - Salamander AG u. a./Parlament und Rat, Slg. 2000, I I - 2487, Rn. 18. 129 Geiger, EUV/EGV, Art. 230 Rn. 25. 130 EuGH Rs. C-309/89 - Codorniu SA/Rat, Slg. 1994,1 - 1853, Rn. 19 ff. 131 Koenig/Pechstein/Sander, aus.

EU-EG-Prozessrecht, Rn. 369 gehen von einer Analogie

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C. Entwicklung und Bewertung der Rechtsprechung von EuGH und EuG

schied zur Verordnung ergibt. Beide Rechtsakte haben grundsätzlich allgemeine Geltung, können aber nach der Rechtsprechung unter Umständen einige natürliche oder juristische Personen individuell betreffen. Ein für die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage relevanter Unterschied zwischen Verordnungen und Richtlinien ist indes im unmittelbaren Betroffensein zu sehen, denn anders als die unmittelbar geltenden Verordnungen entfalten Richtlinien grundsätzlich erst nach der Umsetzung in die jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen und vermittelt durch die nationalen Umsetzungsakte Rechtswirkung. Das Merkmal der unmittelbaren Betroffenheit wurde denn auch vom EuG in der Rechtssache Salamander mangels Rechtsbetroffenheit als nicht erfüllt angesehen und die Klage aus diesem Grund als unzulässig abgewiesen. Einen anderen Ansatz wählte das EuG in der Rechtssache Japan Tobacco. Wie die zukünftige Rechtsprechung zum unmittelbaren Betroffensein durch Richtlinien aussehen wird, ist noch ungewiss.

b) Die Voraussetzung des unmittelbaren Betroffenseins Die Voraussetzung des unmittelbaren Betroffenseins erfüllt die Funktion, Klagen gegen Gemeinschaftsrechtsakte auszuschließen, wenn die Betroffenheit nur potentiell im Raum steht, da der Einzelne erst durch einen Ausführungsakt rechtlich verpflichtet wird resp. ihm erst dadurch Rechte endgültig vorenthalten werden 132 . Ein unmittelbares Betroffensein des Klägers wird angenommen, wenn die streitige Maßnahme keines weiteren Durchführungsaktes bedarf, sondern den Kläger ipso iure beeinträchtigt, die bloße Möglichkeit der Beeinträchtigung bei Hinzutreten weiterer Umstände genügt indes nicht 133 . Sollten Umsetzungsakte erforderlich sein, ist der Kläger auf den Rechtsweg gegen diese Akte verwiesen. Die Definition der Unmittelbarkeit hat sich jedoch gewandelt. Die soeben umschriebene formelle Unmittelbarkeit ist der sogenannten materiellen Unmittelbarkeit chen 134 . Danach genügt es für das Unmittelbarkeitskriterium, dass die Beeinträchtigung des Klägers hinreichend wahrscheinlich ist. So wird das unmittelbare Betroffensein etwa bejaht bei Rechtsakten, die an die Mitgliedstaaten gerichtet sind und ihnen für die Umsetzung keinerlei Ermessensspielraum belassen135. Da die Mitgliedstaaten zur Umsetzung von Gemeinschaftsrechtsakten verpflichtet sind 132 Schwarze, Rechtsschutz Privater gegenüber normativen Rechtsakten im Recht der EWG, in: FS für Schlochauer, S. 927 (936); Cremer, Individualrechtsschutz gegen Rechtsakte der Gemeinschaft: Grundlagen und neuere Entwicklungen, in: Individualrechtsschutz in der EG und der WTO, S. 27 (39). 133 Allkemper, Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, S. 76/77. 134 Zur Terminologie: Allkemper, Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, S. 76/77. 155 EuGH, Rs. C-291/89 - Interhotel/Kommission, Slg. 1991, I - 2257, Rn. 13; Rs. C-386/96 Ρ - Société Louis Dreyfus & Cie. / Kommission, Slg. 1998,1 - 2309, Rn. 43; Rs. C-152/88 - Sofrimport SARL/Kommission, Slg. 1990,1 - 2477, Rn. 9.

gewi-

I. Anfechtbarkeit von

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und in den genannten Fällen die Gemeinschaftsrechtsakte selbst eine detaillierte Regelung treffen, die durch die Umsetzung keine inhaltliche Veränderung erfährt, wäre es unangebracht, allein auf den ausstehenden Umsetzungsakt abzustellen, denn die Belastung des Klägers steht bereits definitiv und im Einzelnen bestimmt fest. Die Beeinträchtigung ist gemeinschaftsrechtlich determiniert und der Einzelne wird durch den Gemeinschaftsrechtsakt nicht nur potentiell, sondern quasi automatisch betroffen 136. Sollte für die Durchführung Ermessen eingeräumt sein, wird das unmittelbare Betroffensein gleichwohl bejaht für die Konstellationen, in denen ein Mitgliedstaat von vornherein sein beabsichtigtes Handeln bei der Durchführung von Gemeinschaftsrechtakten eindeutig festgelegt hat und damit das Ergebnis der Ermessensausübung und die Beeinträchtigung des Klägers unzweifelhaft sind. Darunter sind insbesondere die Fälle zu fassen, in denen die Mitgliedstaaten einen Antrag auf Genehmigung ihres Vorhabens durch ein Gemeinschaftsorgan gestellt haben (ζ. B. im Bereich staatlicher Beihilfen) 137. Das Eintreten der Betroffenheit steht nicht ernsthaft in Frage, sondern es ist davon auszugehen, dass der Mitgliedstaat entsprechend seiner Ankündigung bzw. seinem Antrag handeln wird. Eine Betroffenheit im formellen Sinn durch Richtlinien scheint auf den ersten Blick ausgeschlossen, da Richtlinien ihrer Konzeption nach der Umsetzung in die nationalen Rechtsordnungen bedürfen. Erst der Umsetzungsakt erzeugt Rechtswirkungen für den Einzelnen. Ein unmittelbares Betroffensein im formellen Sinn durch Richtlinien könnte in Betracht kommen, wenn eine Richtlinie unmittelbar anwendbar ist und damit aus sich heraus, nicht erst vermittelt durch den nationalen Umsetzungsakt, belastende Rechtswirkungen erzeugt. Es werden kursorisch die Gründe, die den EuGH zu dieser Rechtsfortbildung bewegt haben, sowie die Voraussetzungen und Rechtsfolgen der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien aufgezeigt 138.

aa) Unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien Die Besonderheit der Richtlinien, dass sie innerhalb einer vorgegebenen Frist von den Mitgliedstaaten in das nationale Recht zu transponieren sind, ist zugleich ihre Stärke und ihre Schwäche. Einerseits schont diese Konzeption die Souveränität der Mitgliedstaaten, gestattet Rücksichtnahme auf nationale Eigenheiten und EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 397. 136 Koenig/Pechstein/Sander, 137 EuGH, Verb. Rs. 106 u. 107/63 - Firma Alfred Töpfer KG u. Firma Getreide-ImportGesellschaft/ Kommission, Slg. 1965, 547, 556; Rs. 62/70 - Werner A. Bock/Kommission, Slg. 1971, 897 Rn. 7; Rs. 11/82 - SA Piraiki-Patraiki u. a./Kommission, Slg. 1985, 207 Rn. 8, 9; EuG, Rs. T-380/94 - Association internationale des utilisateurs de fils de filaments artificiels et synthétiques et de soie naturelle (AIUFFASS) u. Apparel, Knitting & Textiles Alliance (AKT)/Kommission, Slg. 1996, Π - 2169, Rn. 46. 138 Die Darstellung muss auf einen Überblick beschränkt bleiben. Die Erfassung dieser komplexen Materie ist Gegenstand selbständiger, umfassender Arbeiten. Siehe hierzu etwa: Adamek, EG-Richtlinien im Umweltrecht.

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bewirkt eine zusätzliche Legitimation der gemeinschaftlichen Rechtsetzung durch die nationalen Parlamente. Andererseits ist die Gemeinschaft beim Erlass von Richtlinien auf die Kooperation der nationalen Parlamente angewiesen, so dass das Gemeinschaftsrecht nicht einheitlich, nicht richtig oder nicht rechtzeitig in allen Mitgliedstaaten zur Anwendung kommt, wenn die verschiedenen nationalen Parlamente ihrer Umsetzungsverpflichtung nicht nachkommen139. Zur Sanktionierung einer Verletzung der Umsetzungsverpflichtung durch die Mitgliedstaaten kommt das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226, 227 EG in Betracht. Dieses hat sich jedoch zur Durchsetzung der auf innerstaatliche Umsetzung gerichteten gemeinschaftsrechtlichen Rechtsakte als nur eingeschränkt wirksam erwiesen, da die Kommission und die Mitgliedstaaten als aktiv Beteiligte nicht zur Einleitung des Verfahrens verpflichtet sind, sondern ihnen diesbezüglich ein Entscheidungsspielraum zukommt. Zudem ist die Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens vom tatsächlichen Bekanntwerden im Einzelfall abhängig140. Vor diesem Hintergrund sah sich der EuGH bereits zu Beginn der 70er Jahre veranlasst, im Wege derrichterlichen Rechtsfortbildung die Rechtsfigur der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien als ein Instrument der Kontrolle zur Einhaltung des Gemeinschaftsrechts zu entwickeln141. Die ordnungsgemäße Umsetzung des Richtlinieninhalts in nationales Recht erübrigt sich aber auch im Falle der unmittelbaren Anwendbarkeit nicht, sondern ist nachzuholen. (1) Gründe für die unmittelbare Anwendbarkeit effet utile und estoppel-Prinzip

von Richtlinien:

Zwar erzeugen gemäß Art. 249 EG nur Verordnungen unmittelbar rechtliche Wirkungen, doch bedeutet das nach der Rechtsprechung des EuGH nicht, dass die anderen in dieser Bestimmung genannten Rechtsakte niemals ähnliche Wirkung entfalten können142. Zunächst spielt der Effektivitätsgrundsatz, effet utile, eine Rolle, wonach jede Regelung des Gemeinschaftsrechts eine eigenständige Bedeutung und praktische Wirksamkeit haben muss143. Könnte jeder Mitgliedstaat den Eintritt der von der Richtlinie intendierten Rechtswirkung durch Nichtumsetzung hinauszögern oder ganz vereiteln und könnten sich dann die Bürger nicht vor Gericht auf die Richtlinien berufen und die Gerichte die Richtlinien nicht als Bestandteil des Gemein139 Emmert, Europarecht, S. 156/157. 140 Scherzberg, Jura 1993, 225 (225). 141 Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 249 Rn. 72. 142 EuGH, Rs. 9/70 - Franz Grad/Finanzamt Traunstein, Slg. 1970, 825, Rn. 5; Rs. 148/78 - Strafverfahren gegen Tullio Ratti, Slg. 1979, 1629, Rn. 19; Rs. 8/81 - Ursula Becker/Finanzamt Münster-Innenstadt, Slg. 1982, 53, Rn. 21. 143 Roy la / Lackhoff,

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schaftsrechts berücksichtigen, dann wäre die einheitliche Durchsetzung und damit der effet utile des Gemeinschaftsrechts gefährdet 144. Zudem bezweckt die Anerkennung unmittelbarer Anwendbarkeit von Richtlinien die Sanktionierung der Mitgliedstaaten wegen der Nichtbefolgung gemeinschaftsrechtlicher Pflichten, nämlich der Pflicht zur ordnungsgemäßen Umsetzung von Richtlinien gemäß Art. 10 EG und Art. 249 Abs. 3 EG. Es soll den säumigen Mitgliedstaaten nicht möglich sein, aus der Nichtumsetzung einer Richtlinie Vorteile zu ziehen, indem sie ihren Bürgern, die sich auf begünstigende Richtlinienbestimmungen berufen wollen, entgegenhalten könnten, dass die Richtlinien wegen gemeinschaftswidriger, vom Staat selbst verschuldeter Nichtumsetzung keine Rechtswirkungen erzeugen145. Hier kommt der Rechtsgedanke des venire contra factum propium bzw. das estoppel-Prinzip zum Tragen 146. Neben diesen beiden wichtigsten Punkten wird außerdem darauf hingewiesen, dass die durch unterschiedliche Umsetzung von Richtlinien vereitelte Rechtsharmonisierung und der ebenfalls vereitelte effet utile zu Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der Gemeinschaft und damit zu einer Ungleichbehandlung der Unionsbürger führe 147 . Des Weiteren wird für die unmittelbare Anwendung von Richtlinien angeführt, dass diese Rechtsfigur der Sicherung von Rechten diene, die das Gemeinschaftsrecht dem Einzelnen zuerkennt, somit auch der Rechtsschutzgedanke für die Anerkennung der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien spreche148. (2) Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit

von Richtlinien

Die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien ist nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich, die kumulativ vorliegen müssen.

144 EUGH, RS. 41/71 - Yvonne van Duyn/Home Office, Slg. 1974, 1337, Rn. 12; Rs. 148/78 - Strafverfahren gegen Tullio Ratti, Slg. 1979, 1629, Rn. 21; Pieper, DVB1. 1990, 684 (685/686). 145 EuGH, Rs. 148/78 - Strafverfahren gegen Tullio Ratti, Slg. 1979, 1629, Rn. 22; Rs. 152/84 - M. H. Marshall/Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority (Teaching), Slg. 1986, 723, Rn. 47; Rs. 80/86 - Strafverfahren gegen Kolpinghuis Nijmegen BV, Slg. 1987, 3969, Rn. 8; Rs. C-91/92 - Paola Faccini Dori/Recreb Sri, Slg. 1994, I 3325, Rn. 23; Classen, EuZW 1993, 83 (84). 146 Jarass, NJW 1990, 2420 (2422); Gassner, JuS 1996, 303 (304); Scherzberg, Jura 1993, 225 (226). 147 Gassner, JuS 1996, 303 (304). 148 Everling, Zur direkten innerstaatlichen Wirkung der EG-Richtlinien: Ein Beispiel richterlicher Rechtsfortbildung auf der Basis gemeinsamer Rechtsgrundsätze, in: FS für Carstens, S. 95 (108); Scherzberg, Jura 1993, 225 (226); Götz, NJW 1992, 1849 (1855). 5 Schulte

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(a) Verstoß gegen die Umsetzungsverpflichtung Da das Institut der unmittelbaren Anwendbarkeit unter anderem dazu dient, die Nichtbefolgung des Umsetzungsbefehls zu sanktionieren, kann es nur eingreifen, soweit die Mitgliedstaaten ihrer Verpflichtung zur Umsetzung nicht oder nicht vollständig nachgekommen sind 149 . Ein solcher Verstoß kommt in Betracht, wenn ein Mitgliedstaat eine Richtlinie entweder innerhalb der ihm dafür vorgegebenen Frist überhaupt nicht oder nicht in vollem Umfang ordnungsgemäß umgesetzt hat 150 . So bildet eine bloße Verwaltungspraxis regelmäßig keine zureichende Umsetzung151, ebenso sind interne Schwierigkeiten, die sich bei der Umsetzung ergeben (einschließlich entgegenstehender verfassungsrechtlicher Vorschriften), unbeachtlich152. (b) Inhaltliche Unbedingtheit Eine Richtlinie ist mangels inhaltlicher Unbedingtheit nicht unmittelbar anwendbar, wenn ihre Umsetzung von einer gestaltenden Entscheidung eines Gemeinschaftsorgans oder der Mitgliedstaaten abhängt153. Die unmittelbare Wirkung kann demnach ausscheiden, wenn eine Richtlinie für die Umsetzung einen Beurteilungs- oder Ermessensspielraum gewährt. Allerdings steht die Einräumung eines Ermessens der unmittelbaren Anwendbarkeit nicht entgegen, wenn für den Mitgliedstaat das Ziel der Umsetzung hinreichend genau determiniert ist wie beispielsweise durch einen zu erreichenden Mindeststandard154. Das Problem der Unbedingtheit stellt sich zudem, wenn eine Richtlinie einen Grundsatz bestimmt, gleichzeitig aber Ausnahmen zulässt, deren Eingreifen im Ermessen eines EG-Organs oder der Mitgliedstaaten steht. Ist der Richtlinie zu entnehmen, dass die Ausnahme nur in Sonderfällen eingreifen soll, so ist der Grundsatz der Richtlinie unmittelbar 149 EUGH, Rs. 148/78 - Strafverfahren gegen Tullio Ratti, Slg. 1979, 1629, Rn. 43 f.; Rs. 80/86 - Strafverfahren gegen Kolpinghuis Nijmegen BV, Slg. 1987, 3969, Rn. 15; Scherzberg, Jura 1993, 225 (226). 150 EUGH, Rs. 152/84 - M. H. Marshall / Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority (Teaching), Slg. 1986, 723, Rn. 46. 151 EuGH, Rs. 116/86 - Kommission/Italienische Republik, Slg. 1988, 1323, Rn. 15; Jarass, NJW 1990, 2420 (2423); Royla/Lackhoff, DVB1. 1998,1116 (1118). 152 EUGH, RS. 100/77 - Kommission/Italienische Republik, Slg. 1978, 879, Rn. 21/22; Rs. 301/81 - Kommission/Königreich Belgien, Slg. 1983,467, Rn. 6. 153 EUGH, Rs. 41/74 - Yvonne van Duyn/Home Office, Slg. 1974, 1337, Rn. 13/14; Verb. Rs. 372 bis 374/85 - Strafsache gegen Oscar Traen u. a, Slg. 1987, 2141, Rn. 25; Rs. 31/87 - Gebroeders Beentjes ΒV/Niederländischer Staat, Slg. 1988, 4635, Rn. 43; Scherzberg, Jura 1993, 225 (226). 154 EuGH, Rs. 8/81 - Ursula Becker/Finanzamt Münster-Innenstadt, Slg. 1982, 53, Rn. 29; Verb. Rs. C-6 und 9/90 - Andrea Francovich u. a./Italienische Republik, Slg. 1991, I - 5357, Rn. 18 ff.; Royla/Lackhoff, DVB1. 1998, 1116 (1118); Scherzberg, Jura 1993, 225

(226).

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anwendbar, solange von der Ausnahmemöglichkeit kein Gebrauch gemacht wurde 1 5 5 . Des Weiteren wird für das Merkmal der inhaltlichen Unbedingtheit darauf abgestellt, ob ein Gebrauchmachen von der Ausnahmemöglichkeit der gerichtlichen Nachprüfung zugänglich ist 156 . (c) Hinreichende Bestimmtheit Hinreichend bestimmt ist eine Richtlinienbestimmung, wenn sie den Inhalt der zu treffenden Regelungen und den von ihr begünstigten Personenkreis unzweideutig umschreibt, so dass die Gerichte sie anwenden können157. Die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe steht der hinreichenden Bestimmtheit einer Richtlinie nicht entgegen, solange die unbestimmten Rechtsbegriffe noch auslegungsfähig sind 158 . Fraglich war früher, ob es Voraussetzung für die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien ist, dass durch sie dem Einzelnen Rechte eingeräumt werden. Der EuGH ist dieser Annahme im Urteil in der Rechtssache Großkrotzenburg entgegengetreten. Die Gewährung von Rechten ist nicht Voraussetzung der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien159. (3) Rechtsfolgen der unmittelbaren Anwendbarkeit

von Richtlinien

Zu klären bleibt, welche Rechtsfolgen die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien nach sich zieht. Entscheidend ist, in welchen Verhältnissen diese Rechtsfigur Wirkungen entfaltet und wer die jeweils berechtigten und verpflichteten Personen sind. (a) Vertikale Verhältnisse In vertikalen Rechtsbeziehungen zwischen Bürger und Staat ist unter den genannten Voraussetzungen die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien heute 155 EUGH, RS. 152/84 - M. H. Marshall / Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority (Teaching), Slg. 1986, 723, Rn. 53,54; Jarass, NJW 1990,2420 (2424). 156 EuGH, Rs. C-156/91 - Hansa Fleisch Ernst Mündt GmbH & Co. KG/Landrat des Kreises Schleswig-Flensburg, Slg. 1992,1 - 5567, Rn. 15; zu den denkbaren Fallgruppen s. Schmidt am Busch, DÖV 1999,581 (589). 157 EUGH, RS. 131/79-Santillo, Slg. 1980, 1585, Rn. 13; Rs. 5/83 -Rienks, Slg. 1983, 4233, Rn. 8; Rs. 71/85 - Niederlande/Ferderatie Nederlandse Vakbeweging, Slg. 1986, DVB1. 1998, 1116 3855, Rn. 14/18; Scherzberg, Jura 1993, 225 (226); Royla/Lackhoff,

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158 Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, S. 76 f.; EuGH, Rs. 43/75 - Gabrielle Defrenne/Société anonyme belge de navigation aérienne Sabena, Slg. 1976,455, Rn. 28/29 ff.; Adamek, EG-Richtlinien im Umweltrecht, S. 425 f. 159 Adamek, EG-Richtlinien im Umweltrecht, S. 746. 5*

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unumstritten. Dem von der Richtlinie begünstigten Bürger ist diejenige Rechtsstellung zu verschaffen, die er bei gemeinschaftsrechtskonformer Umsetzung aufgrund nationalen Rechts innehaben würde 160 . Verpflichteter der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien sind alle staatlichen Stellen. Auch wenn der Staat nicht als Hoheitsträger, sondern privatrechtlich handelt, kann er durch die unmittelbare Anwendbarkeit belastet werden. Es werden alle Einrichtungen als staatliche Stellen in diesem Sinn verstanden, die kraft staatlichen Rechtsakts oder unter staatlicher Aufsicht eine Dienstleistung im öffentlichen Interesse erbringen und dabei mit besonderen Rechten ausgestattet sind, die über das hinausgehen, was für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gilt 1 6 1 . Ratio dieser Bewertung ist, dass sich der Staat nicht durch die Wahl der Rechtsform den EG-rechtlichen Bindungen entziehen können soll 162 . Es wird dagegen abgelehnt, aus einer nicht umgesetzten Richtlinie Pflichten für den Bürger gegenüber dem Staat abzuleiten, was auf die allgemeinen Grundsätze der Rechtssicherheit und - insbesondere bei der Festlegung oder Verschärfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit - auf das Rückwirkungsverbots gestützt wird 163 . Die Verpflichtung Privater würde zwar auch der Effektivität des Gemeinschaftsrechts dienen, aber hinsichtlich der Sanktionierung, beruhend auf dem estoppel-Prinzip, den Falschen treffen 164. Zudem wäre den Mitgliedstaaten ein wesentlicher Anreiz für eine ordnungsgemäße Umsetzung genommen, wenn sie sich auf die zu ihren Gunsten wirkenden Bestimmungen einer Richtlinie berufen und auf diese Weise die Bürger ohne eigenes Zutun in die Pflicht nehmen könnten165. Für das unmittelbare Betroffensein im formellen Sinn hat das folgende Konsequenz: Eine Verpflichtung des Bürgers gegenüber dem Staat kommt nicht in Betracht. Damit kann in diesem Verhältnis keine Belastung für den Einzelnen entstehen, so dass es stets an der unmittelbaren Betroffenheit fehlt. Ein Rechtsschutzbedürfnis, gegen eine begünstigende Bestimmung vorzugehen, ist dagegen nicht denkbar.

160 EuGH, Rs. 8/81 - Ursula Becker/Finanzamt Münster-Innenstadt, Slg. 1982, 53, Rn. 25. 161 EuGH, Rs. C-188/89 - A. Foster u. a./British Gas plc, Slg. 1990,1 - 3313, Rn. 20. 162 EuGH, Rs. 152/84 - M. H. Marshall / Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority (Teaching), Slg. 1986, 723, Rn. 49; Jarass, NW 1991, 2665 (2666). 163 EuGH, Rs. 152/84 - M. H. Marshall/Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority (Teaching), Slg. 1986, 723, Rn. 48; Verb. Rs. 372 bis 374/85 - Strafsache gegen Oscar Traen u. a., Slg. 1987, 2141, Rn. 24; Rs. 14/86 - Pretore di Salò/X, Slg. 1987, 2545, Rn. 19; Rs. 80/86 - Strafverfahren gegen Kolpinghuis Nijmegen BV, Slg. 1987, 3969, Rn. 13. 164 Langenfeld, DÖV 1992,955 (959); Royla/Lackhoff, DVB1. 1998,1116 (1117). 165 Langenfeld, DÖV 1992, 955 (959); Scherzberg, Jura 1993, 225 (228).

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(b) Horizontale Verhältnisse Äußerst kontrovers diskutiert wird die Frage, ob Richtlinien horizontale Direktwirkung entfalten können, also in Rechtsbeziehungen zwischen Privaten. Dann könnten unmittelbar wirkende Richtlinien Ansprüche Privater untereinander zu Gunsten des einen und zu Lasten des anderen begründen. Ließe man dies zu, käme ein formell unmittelbares Betroffensein der Person in Betracht, der durch die unmittelbar anwendbare Richtlinie eine Belastung auferlegt würde. (aa) Rechtsprechung des EuGH Der EuGH lehnt die horizontale Direktwirkung von Richtlinien in ständiger Rechtsprechung ab, da die Gemeinschaft unmittelbare Rechtsfolgen zu Lasten der Bürger nur in Form von Verordnungen erlassen dürfe, Richtlinien hingegen könnten nicht selbst Verpflichtungen für die Bürger begründen166. Um dennoch dem in einer Richtlinie niedergelegten Gemeinschaftsrecht zu einer möglichst einheitlichen und effektiven Anwendung zu verhelfen, stellt der EuGH drei Vorgaben auf. Zunächst wird der unmittelbaren Anwendbarkeit in vertikalen Verhältnissen ein sehr weiter Anwendungsbereich zugestanden. Dies erreicht der EuGH, indem er den Begriff des Staates extensiv auslegt, so dass ζ. B. auch Einrichtungen als Hoheitsträger in diesem Sinn verstanden werden, die kraft staatlichen Rechtsakts oder unter staatlicher Aufsicht eine Dienstleistung im öffentlichen Interesse erbringen und dabei mit besonderen Rechten ausgestattet sind, die über das hinausgehen, was für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gilt 1 6 7 . Des Weiteren wird Richtlinien eine sogenannte mittelbare Direktwirkung zuerkannt, indem die nationalen Gerichte gemäß Art. 10 EG zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts verpflichtet werden. Danach sind die von den Mitgliedstaaten zur Umsetzung von Richtlinien erlassenen Rechtsvorschriften orientiert am Wortlaut und Zweck der Richtlinie auszulegen, solange sich diese Auslegung in dem Rahmen bewegt, der vom Wortlaut der nationalen Bestimmungen vorgegeben wird 168 . Ein Verstoß gegen den äußersten möglichen Wortsinn wird von der Verpflichtung zurrichtlinienkonformen Auslegung nicht gedeckt oder gar gefordert. Die mittelbare Direktwirkung durchrichtlinienkonforme Auslegung erweitert aber den Einfluss des Gemeinschaftsrechts und zwar auch in horizontalen Verhältnissen. Bedenken, ob der belastete Dritte in diesen Fällen entgegen rechtsstaatlichen Grundsätzen zur Vorhersehbarkeit von Rechtsfolgen benachteiligt wird, 166 EUGH, RS. 152/84 - M. H. Marshall/Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority (Teaching), Slg. 1986, 723, Rn. 48 u. 49; Rs. C-91/92 - Paola Faccini Dori/Recreb Srl, Slg. 1994,1 - 3325, Rn. 20, 24. 167 EUGH, Rs. C-188/89 - A. Foster u. a./British Gas plc, Slg. 1990,1 - 3313, Rn. 20. Darunter fallen z. B. staatliche Krankenhäuser und Energieversorgungsunternehmen. 168 Adamek, EG-Richtlinien im Umweltrecht, S. 413 f.

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greifen nicht durch, da die Belastung eben nicht unvorsehbar war, sondern sich innerhalb der vom Wortlaut vorgegebenen Grenzen befindet. Soweit die Durchsetzung von Richtlinienrecht sich nach den ersten beiden Vorgaben nicht verwirklichen lässt, etwa weil kein Dritter vorhanden ist, der nach der extensiven Rechtsprechung als Untergliederung eines Mitgliedstaats aufgefasst und durch unmittelbar anwendbare Richtlinienbestimmungen verpflichtet werden kann, oder die richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts an ihre Grenzen stößt, hat der EuGH ein weiteres Instrument zum Schutz der gemeinschaftsrechtlich begründeten Rechte des Einzelnen und zur Sanktionierung von Versäumnissen der Mitgliedstaaten entwickelt. Es können dann zwar die Rechte nicht mehr im Wege des Primärrechtsschutzes durchgesetzt werden, doch steht den Bürgern auf Sekundärebene ein Schadensersatzanspruch zu 1 6 9 . Die erforderlichen Haftungsvoraussetzungen hat der EuGH in Anlehnung an seine Rechtsprechung zur außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft entwickelt170. Demnach müssen drei Voraussetzungen kumulativ vorliegen. Zunächst muss die gemeinschaftsrechtliche Norm dem Einzelnen eine Rechtsposition einräumen, die im Fall von Richtlinien bereits durch die Richtlinienbestimmung hinreichend bestimmt sein muss171. Zweitens muss dem Mitgliedstaat ein hinreichend qualifizierter Verstoß zur Last gelegt werden können. Diese Einschränkung soll verhindern, dass die mitgliedstaatliche Rechtssetzungstätigkeit durch die Erhebung von Schadensersatzklagen gelähmt wird 172 . Ein hinreichend qualifizierter Verstoß liegt vor, wenn ein Mitgliedstaat entweder seiner Umsetzungsverpflichtung überhaupt nicht nachkommt oder die Grenzen, die seinem Ermessen bei der Umsetzung gesetzt sind, offenkundig und erheblich überschreitet 173. Ein besonderes Verschulden über den qualifizierten Verstoß hinaus ist nicht erforderlich, damit der Haftungsanspruch nicht durch dieses Kriterium sogleich wieder ausgehebelt werden kann 174 . Letztlich muss zwischen dem Verstoß gegen eine Norm des Gemeinschaftsrechts und dem eingetretenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang im Sinne einer weit gefassten Adäquanzkausalität bestehen, so dass eine Haftung entfällt, wenn der gleiche Schaden auch ohne den Verstoß eingetreten wäre 175 . 169 EuGH\ Verb. Rs. C-6/90 u. C-9/90 - Andrea Francovich u. a./Italienische Republik, Slg. 1991,1 - 5357, Rn. 31-37 (Begründung der Staatshaftung). 170 Ehlers, JZ 1996, 776 (778). 171 EuGH, Verb. Rs. C-6/90 u. C-9/90 - Andrea Francovich u. a./Italienische Republik, Slg. 1991,1 - 5357, Rn. 40; Koenig/Haratsch, Europarecht, Rn. 287. 172 Ehlers, JZ 1996, 776 (778); Reich, EuZW 1996, 709 (713). 173 EuGH, Verb. Rs. C-46/93 u. C-48/93 - Brasserie du pêcheur SA/Bundesrepublik Deutschland und The Queen/Secretary of State for Transport ex parte: Factortame Ltd u. a., Slg. 1996,1-1029, Rn. 55. 174 Herdegen, Europarecht, Rn. 235, 236; Saenger, JuS 1997, 865 (871).

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(bb) Stimmen zur unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien in horizontalen Verhältnissen Der Lösungsweg des EuGH wird zum Teil als problematisch und unzureichend beurteilt, und im Gegensatz dazu wird auch eine horizontale Direktwirkung von Richtlinien gefordert. Auch auf horizontaler Ebene gelte derselbe Effektivitätsgedanke wie bei der vertikalen Direktwirkung, so dass bei fehlender unmittelbarer Anwendbarkeit wiederum die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts gefährdet werde 176 . Richtlinien, die im nationalen Bereich durch privatrechtliche Normen umzusetzen sind, könnten generell keine unmittelbare Wirkung entfalten, da die Durchsetzung privatrechtlicher Normen durch Klagen zwischen Privatpersonen erfolgt. Insbesondere die Harmonisierung von Rechtsgebieten wie des Banken-, Versicherungs- und Gesellschaftsrechts wäre erschwert, da sich hier regelmäßig Private gegenüberstehen 177 . Darüber hinaus führe die extensive Auslegung des Begriffs „Staat" zu Diskriminierungen und Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten von staatsnahen Körperschaften gegenüber funktional und organisatorisch ähnlichen Einrichtungen, die aber nicht dem Staat zugerechnet werden, da nur Erstere durch Richtlinien verpflichtet werden können. Den Beschäftigten privater Unternehmen sind dann Vergünstigungen zu versagen, die Arbeitnehmern im Öffentlichen Dienst aufgrund der vertikalen Direktwirkung ohne weiteres zustehen178. Auch würde das Gemeinschaftsrecht in einem Mitgliedstaat mit hohem Staatsanteil weitergehend zur Anwendung kommen, als in einem Mitgliedstaat, der seine staatliche Tätigkeit zurückhaltender ausübt179.

Zur Vermeidung all dieser Nachteile und insbesondere zur Durchsetzung des effet utile wird eine unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien auch in horizontalen Rechtsverhältnissen gefordert. Der horizontalen Direktwirkung von Richtlinien wird indes mit gewichtigen Argumenten entgegengetreten.

175 EuGH, Verb. Rs. C-6/90 u. C-9/90 - Andrea Francovich u. a./Italienische Republik, Slg. 1991,1 - 5357, Rn. 40; Herdegen, Europarecht, Rn. 234; Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, S. 120. 176 GA Lenz, Schlussanträge in der Rs. C-91/92 - Paola Faccini Dori/Recreb Srl, Slg. 1994,1 - 3325,1 - 3328, Rn. 43 ff.; Emmen, EWS 1992, 56 (66). 177 Emmen, Europarecht, S. 159. 178 GA Van Gerven, Schlussanträge in der Rs. C-271 /91 - M. H. Marshall/Southampton and South West Hampshire Area Health Authority, Slg. 1993,1 - 4367,1 - 4381, Rn. 12; GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-316/93 - Nicole Vaneetveld/Le Foyer SA und Le Foyer SA/Fédération des mutualités socialistes et syndicales de la province de Liège (FMSS), Slg. 1994,1-763,1-765, Rn. 21. 179 Emmen, Europarecht, S. 161.

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Gegen die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien in horizontalen Rechtsbeziehungen spricht wie schon im umgekehrt vertikalen Verhältnis, wenn der Staat für sich begünstigend und zu Lasten des Bürgers Positionen aus einer nicht oder fehlerhaft umgesetzten Richtlinie herleiten will, dass sich diese nicht auf das zentrale Argument der Sanktion stützen lässt, da der Staat, nicht aber der Bürger wegen der Nichtumsetzung belastet werden soll 180 . Zudem würde die in Art. 249 EG bewusst vorgenommene Differenzierung zwischen Verordnung und Richtlinie vollends aufgegeben 181. Richtlinien sind konzeptionell an die Mitgliedstaaten gerichtet, die alleinige Adressaten von Richtlinien sind. Aus einem Vergleich des Wortlauts der Bestimmungen von Art. 249 Abs. 2 und Abs. 3 EG wird gefolgert, dass nur Verordnungen unmittelbar anwendbar sein können, Richtlinien im Gegensatz dazu nicht 182 . Auch der Aspekt des Rechtsschutzes wurde einer unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien in horizontalen Verhältnissen entgegengehalten mit dem Argument, Art. 230 Abs. 4 EG gewähre dem Bürger die Möglichkeit des gemeinschaftsunmittelbaren Rechtsschutzes nur gegen Verordnungen und Entscheidungen, so dass Richtlinien die Rechtsstellung des Bürgers nicht in einer Weise beeinträchtigen dürften, die seinen prozessrechtlichen Schutz gebieten würde 183 . Unter Berücksichtigung der neueren Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte zur Anfechtbarkeit von Richtlinien hat dieser Gesichtspunkt an Relevanz verloren. Richtlinien wurden als anfechtbare Rechtsakte grundsätzlich anerkannt. Ob ein unmittelbares Betroffensein i. S. v. Art. 230 Abs. 4 EG vorliegt,richtetsich für Streitigkeiten in horizontalen Rechtsverhältnissen jedenfalls für die formelle Unmittelbarkeit danach, ob in diesen Fällen eine unmittelbare Anwendbarkeit (bei Vorliegen der Voraussetzungen) zulässig ist. Es wäre demnach zirkulär, die unmittelbare Anwendbarkeit in horizontalen Verhältnissen mit der Begründung abzulehnen, der Belastung stünde kein direkter Rechtsschutz als Gegengewicht gegenüber. Von besonderer Bedeutung ist ferner der Vorbehalt des Gesetzes, der vom EuGH als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts anerkannt wird 184 . Danach darf in Rechte der Bürger nur in einem rechtsstaatlich geordneten Verfahren eingegriffen werden, d. h. im Fall von Richtlinien erst nach Durchlaufen beider Stufen des Rechtssetzungsverfahrens. Der Eingriff erfolgt durch die nationalen Umsetzungsakte185. Zudem ist zu beachten, dass grundsätzlich die Kompetenzen der na»80 Gassner, JuS 1996, 303 (305). 181

GA Mischo, Schlussanträge in der Rs. C-221 / 88 - Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl/Acciaierie e ferriere Busseni SpA in Konkurs, Slg. 1990, I - 495, I - 504, Rn. 56. 182 Pieper, DVB1. 1990, 684 (688); Pagenkopf, NVwZ 1993, 216 (222). 183 Gassner, JuS 1996, 303 (306). 184 EUGH, Verb. Rs. 46/87 u. 227/88 - Hoechst AG/Kommission, Slg. 1989, 2859, Rn. 19. 185 Ukrow, NJW 1994, 2469 (2469); Royla /Lackhoff, DVB1. 1998,1116 (1118).

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tionalen Gerichte auf die Interpretation des anwendbaren Rechts beschränkt sind, die Begründung von rechtlichen Verpflichtungen ist ihnen jedoch verwehrt 186. (cc) Neue Tendenz in der Rechtsprechung Fraglich ist, ob in der neueren Rechtsprechung eine Hinwendung zur unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien in horizontalen Rechtsverhältnissen zu erkennen ist. Die Ablehnung der unmittelbaren Anwendbarkeit in horizontalen Rechtsverhältnissen durch den EuGH galt als gefestigte Rechtsprechung, zumal der EuGH trotz der Schlussanträge von Generalanwälten in drei Fällen, in welchen die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien in horizontalen Rechtsverhältnissen befürwortet wurde 187 , seine Rechtsprechung nie geändert hat. Gleichwohl hat der EuGH in jüngeren Fällen, die ausschließlich Privatrechtsverhältnisse betrafen, die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien angenommen. Die Entscheidungen betrafen zwei Vorabentscheidungsverfahren, in denen jeweils die Frage nach der Anwendbarkeit der Informationsrichtlinie in Privatrechtsverhältnissen aufgeworfen war 1 8 8 . Bei genauerer Betrachtung weicht der EuGH aber selbst in diesen Urteilen nicht von dem Grundsatz ab, dass ein Privater durch die unmittelbare Anwendung einer Richtlinienbestimmung nicht rechtlich belastet werden, ihm kein Recht aberkannt werden darf. In den angesprochenen Rechtssachen konnte die unmittelbare Anwendung der Richtlinie in privatrechtlichen Streitigkeiten deshalb zugelassen werden, weil gerade keine Rechtsposition entzogen wurde 189 . Zum einen geht es um Wettbewerbsprozesse, in denen ein Privater versucht, den Konkurrenten zur Einhaltung desrichtlinienwidrigen nationalen Rechts zu zwingen. Diese Fallgestaltung lag der Rechtssache CIA Security zugrunde. Ein Unternehmen klagte vor einem nationalen Gericht gegen seinen Wettbewerber, der zwar richtliniengemäß, aber nach nationalem Recht rechtswidrig handelte. Der Kläger drängte auf ein Urteil, das seinen Konkurrenten verpflichten sollte, das richtlinienwidrige nationale Recht für diesen Bereich anzuwenden. Das nationale Gericht stellte daraufhin dem EuGH im Vorabentscheidungsverfahren die Frage, ob der beklagte Wettbewerber sich auf die Richtlinie berufen könne und er sich dement186 Classen, EuZW 1993, 83 (84). 187 GA Van Gerven, Schlussanträge in der Rs. C-271 /91 - M. H. Marshall/Southampton and South West Hampshire Area Health Authority, Slg. 1993,1 - 4367,1 - 4381, Rn. 12, 13; GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-316/93 - Nicole Vaneetveld/Le Foyer SA und Le Foyer SA/Fédération des mutualités socialistes et syndicales de la province de Liège (FMSS), Slg. 1994,1 - 763,1 - 765, Rn. 18 ff.; GA Lenz, Schlussanträge in der Rs. C-91 /92 - Paola Faccini Dori/Recreb Srl, Slg. 1994,1 - 3325,1 - 3328, Rn. 43 ff. 188 EuGH, Rs. C-194/94 - CIA Security International SA/Signalson und Securitel SPRL, Slg. 1996,1 - 2201; Rs. C-443/98 - Unilever Italia SpA/Central Food SpA, Slg. 2000,1 7535. 189 Vgl. zu den folgenden Ausführungen: Gundel, EuZW 2001,143 ff.

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sprechend nicht von dem klagenden Unternehmen auf dasrichtlinienwidrige nationale Recht verweisen lassen müsse. Die Antwort des EuGH fiel positiv aus 190 . Der Konkurrent kann sich in diesen Konstellationen auf die Richtlinie berufen, da dem Kläger hierdurch keine eigene Rechtsposition entzogen wird, sondern er nur auf die Durchsetzung objektiven nationalen Rechts dringt. Im vertikalen Verhältnis könnte der Konkurrent sich auf die ihn begünstigende Richtlinienbestimmung berufen. Gegen eine den effet utile des Gemeinschaftsrechts unterstützende unmittelbare Anwendung spricht im vorliegenden horizontalen Rechtsverhältnis auch nicht, dass einem Privaten keine rechtliche Belastung auferlegt werden darf, so dass die nationale Norm der unmittelbaren Anwendung der Richtlinie zu weichen hat. Zum anderen kann eine unmittelbare Anwendung von Richtlinien in Betracht kommen, wenn Private einen Vertrag entsprechend den nationalen Vorschriften, beispielsweise Produktstandards, geschlossen haben, welche aber richtlinienwidrig sind. Diese Konstellation lag der Entscheidung in der Rechtssache Unilever zugrunde. Dort berief sich die eine Vertragspartei bei Abweichung des gelieferten Produkts (Olivenöl) von den nationalen Vorschriften hinsichtlich der Etikettierung auf die weniger strenge Richtlinie, während die andere Vertragspartei unter Berufung auf die strengeren nationalen Vorschriften die Erfüllung ihrer vertraglichen Verpflichtungen (Abnahme und Bezahlung derrichtliniengemäßenWare) verweigerte. Die Richtlinie konnte in diesem Streit unmittelbar angewandt werden, weil dadurch der anderen Vertragspartei keine Rechte aberkannt wurden 191. Generell ist das dann der Fall, wenn die Einhaltung der nationalen Vorschriften nur um ihrer selbst willen vereinbart wurde, damit die Parteien nicht gegen nationales Recht verstoßen, aber keiner der beiden ein weitergehendes Interesse an ihrer Einhaltung hat. Sollte in diesen Fällen der Staat aufgrund der nationalen Pflichten den Abnehmer derrichtliniengemäßenWare in Anspruch nehmen wollen, so ist es diesem zumutbar, sich dagegen zur Wehr zu setzen, indem er seinerseits die unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie geltend macht. Eine rechtliche Belastung erwächst ihm somit nicht daraus, dass er verpflichtet, ist dierichtliniengemäße,aber nach nationalen Vorschriften rechtswidrige Ware anzunehmen. Kommt es einer Vertragspartei hingegen davon unabhängig auf die Qualität des Produktes an und deckt sich die Einhaltung der Qualität mit den Erfordernissen der nationalen Standards, dann statuiert die diesbezügliche vertragliche Vereinbarung ein Recht der Vertragspartei auf diese Qualität, das diesem nicht durch die unmittelbare Anwendung einer nicht umgesetzten Richtlinie entzogen werden darf. In beiden Fallgruppen der horizontalen Rechtsverhältnisse kann eine Richtlinie unmittelbar anwendbar sein, da bzw. wenn sie keiner der beteiligten Personen eine 190 EuGH, Rs. C-194/94 - CIA Security International SA/Signalson und Securitel SPRL, Slg. 1996,1-2201, Rn. 55. 191 EuGH, Rs. C-443/98 - Unilever Italia SpA/Central Food SpA, Slg. 2000,1 - 7535, Rn. 51,52.

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Rechtsposition entzieht. Die Berufung auf dasrichtlinienwidrige nationale Recht dient entweder der Durchsetzung des objektiven (nationalen) Rechts (CIA Security) oder als Flucht aus eigenen vertraglichen Pflichten (Unilever). Beides kann dem effet utile und der unmittelbaren Anwendbarkeit nicht entgegenstehen. Es bleibt daher festzuhalten, dass die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien in horizontalen Rechtsverhältnissen nicht generell ausgeschlossen ist, sondern nur dann, wenn dem Einzelnen hierdurch eine eigenständige Rechtsposition entzogen würde. Ein formell unmittelbares Betroffensein der rechtlichen Stellung, wie sie das EuG in der Rechtssache Salamander für die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage gefordert hat, kommt mithin in horizontalen Verhältnissen nicht in Betracht. (c) Dreiecksverhältnisse Nicht abschließend geklärt ist, ob Richtlinien unmittelbar anwendbar sein können, die Dreiecksverhältnisse regeln. Gemeint sind Situationen, in denen sich ein Privater dem Staat gegenüber auf eine Richtlinienbestimmung beruft, die bei ihrer Anwendung durch den Staat einen Dritten belasten würde. Vor allem im Umweltrecht sind diese Konstellationen von Bedeutung192. Zum einen wird argumentiert, es handele sich letztlich um einen schlichten Fall der vertikalen unmittelbaren Anwendbarkeit, da die Richtlinie gegenüber dem Staat in Anspruch genommen und nicht gegenüber einer Privatperson geltend gemacht wird 193 . Es würde in diesen Fällen nur der Systematik von Richtlinien als Rechtsakte, welche die Mitgliedstaaten verpflichten, Rechnung getragen und das estoppel-Prinzip angewandt194. Eine Argumentation, die sich allein auf den Staat als Anspruchsgegner als ausreichendes Kriterium stützt, ist jedoch zu formalistisch und lässt dabei außer Betracht, dass in den klassischen vertikalen Verhältnissen die Belastung eines Dritten gerade nicht im Räume steht. Zum Teil wird die unmittelbare Anwendbarkeit ausschließlich abgelehnt, wenn dem Dritten eine Handlungspflicht auferlegt wird, andere Nachteile (ζ. B. eine Duldungspflicht, wenn eine Genehmigung aufgehoben wird) werden zugelassen 195 . Diese Ansicht verkennt freilich, dass die Auferlegung einer Duldungspflicht genauso zum Entzug einer Rechtsposition führen kann wie eine Pflicht zum Handeln196. Die Belastung des Dritten kann für Handlungs- und Duldungspflichten gleichermaßen intensiv sein, eine Differenzierung anhand dieses Gesichtspunktes vermag daher nicht zu überzeugen. 192 Vgl. dazu ausführlich ζ. B. Adamek, EG-Richtlinien im Umweltrecht. 193 Langenfeld, DÖV 1992, 955 (961).

194 Epiney, DVB1. 1996,409 (413). 195 Timmermans, 17 YEL(1997), 1 (18/19). 196 Ebenso: Langenfeld, DÖV 1992, 955 (961), allerdings nicht mit Bezug auf Timmermans.

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C. Entwicklung und Bewertung der Rechtsprechung von EuGH und EuG

Daraus, dass in horizontalen Verhältnissen der Entzug von Rechtspositionen als Grenze für die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien gewertet wird, können auch Rückschlüsse für Dreiecksverhältnisse gezogen werden. Hier sollte nichts anderes gelten, ansonsten befände sich der Dritte in der paradoxen Situation, dass der Begünstigte einer Richtlinienbestimmung diese gegenüber dem Dritten in einem privaten Rechtsstreit nicht durchsetzen könnte, wohl aber indem er den Staat auf richtliniengemäßes Handeln verklagt 197. Das Verbot, eine Richtlinie unmittelbar anzuwenden, wenn sie in bestehende Rechtspositionen einer Privatperson eingreift, lässt sich wie bei den horizontalen Verhältnissen mit dem gemeinschaftsrechtlichen Vorbehalt des Gesetzes begründen. In die Rechte Einzelner darf nur in einem rechtsstaatlich geordneten Verfahren eingegriffen werden, welches die Einhaltung der im EG-Vertrag vorgesehenen formellen Verfahrensschritte voraussetzt198.

bb) Bedeutung des unmittelbaren Betroffenseins in der Rechtsprechung des EuG für die Anfechtbarkeit von Richtlinien und Stellungnahme Nach mittlerweile wohl gefestigter Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte sind sowohl Scheinrichtlinien als auch echte, normative Richtlinien grundsätzlich anfechtbare Rechtsakte i. R. d. Individualnichtigkeitsklage. Damit die von einem Einzelnen erhobene Nichtigkeitsklage gegen eine Richtlinie erfolgreich ist, bedarf es aber mehr als eines anfechtbaren Rechtsakts. Bei an den Kläger gerichteten Entscheidungen ist dessen Betroffensein unproblematisch, bei allen anderen Maßnahmen hingegen muss das unmittelbare und individuelle Betroffensein des Klägers festgestellt werden 199. Zum unmittelbaren Betroffensein durch Richtlinien hat das EuG in den Rechtssachen Salamander und Japan Tobacco unterschiedliche Auffassungen vertreten. (1) Rückzug auf „formelle " Unmittelbarkeit

in der Rechtssache Salamander

In der Prüfung der Zulässigkeit von Nichtigkeitsklagen wird die wahre Rechtsnatur der angefochtenen Maßnahme anhand materieller Kriterien bestimmt. Ebenso haben sich die Gemeinschaftsgerichte vielfach bei der Beurteilung, ob der Kläger unmittelbar betroffen ist, nicht ausschließlich daran orientiert, ob rein formal noch ein weiterer Durchführungsakt erfolgt. Das unmittelbare Betroffensein wurde auch dann bejaht, wenn der Kläger durch den Gemeinschaftsrechtsakt quasi auto197 Lackhoff/Nyssens, EL Rev. 1998, 397 (406). 198 Eingehend mit differenzierter Betrachtung: Adamek, EG-Richtlinien im Umweltrecht, S. 803; Lackhoff/Nyssens, EL Rev. 1998, 397 (404/405). 199 Krück, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann, Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 173 Rn. 43.

I. Anfechtbarkeit von Richtlinien

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matisch betroffen wird, etwa weil den nationalen Behörden bei der Umsetzung kein Ermessensspielraum bleibt 200 . Für Richtlinien wurde diese materielle Betrachtungsweise des unmittelbaren Betroffenseins in der Rechtssache Salamander nicht übernommen, indem darauf abgestellt wurde, dass der Kläger durch die Richtlinie als solche in seiner rechtlichen Stellung betroffen sein muss. Ob der nachfolgende nationale Umsetzungsakt ohne eigenen Regelungsgehalt ist, die nationalen Behörden keinen Ermessensspielraum haben und daher schon der zugrunde liegende Gemeinschaftsrechtsakt die Belastung herbeiführt, hielt das EuG nicht für entscheidend. Das EuG hat sich in seinem Urteil in der Rechtssache Salamander auf eine formelle Interpretation des unmittelbaren Betroffenseins zurückgezogen. Die Anforderungen, die an die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage gestellt werden, sind damit für Klagen gegen Richtlinien strenger als für Klagen gegen Entscheidungen, die an einen Mitgliedstaat gerichtet sind. Die vorangegangenen Ausführungen haben gezeigt, dass nach gefestigter Rechtsprechung, einschließlich neuerer Tendenzen, Richtlinien aus sich heraus die Rechtsstellung des Einzelnen nicht zu seinem Nachteil verändern können. Es bedarf hierzu stets der Vermittlung durch einen nationalen Umsetzungsakt. Nichtigkeitsklagen natürlicher oder juristischer Personen gegen Richtlinien werden nach diesem Ansatz ohne Ausnahme am fehlenden unmittelbaren Betroffensein scheitern, so dass die Anerkennung von Richtlinien als taugliche Klagegegenstände demnach keine praktischen Auswirkungen hat. Das EuG hat in dieser Rechtssache den Klägern mit der einen Hand etwas gegeben, was es ihnen mit der anderen Hand wieder genommen hat. (2) Vorzugswürdigkeit auch für Richtlinien

der „materiellen"

Unmittelbarkeit

Seinen Rückzug auf eine formelle Betrachtungsweise der Unmittelbarkeit in der Rechtssache Salamander hat das EuG nicht begründet. Ohne sich mit diesem Urteil auseinander zu setzen, ist das EuG in der Rechtssache Japan Tobacco zu einem materiellen Verständnis gewechselt. Nach hier vertretener Auffassung ist die materielle Auslegung des unmittelbaren Betroffenseins, wie sie für die Anfechtung von Entscheidungen ständiger Rechtsprechung entspricht, auch im Hinblick auf echte Richtlinien vorzugswürdig und darüber hinaus im Zusammenhang mit Scheinrichtlinien sogar zwingend geboten. (a) Wortlaut und telos Der Wortlaut des Art. 230 Abs. 4 EG gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass das unmittelbare Betroffensein für verschiedene Fallgruppen einer differenzierenden Betrachtung zugeführt werden soll. Es bezieht sich auf die zweite und dritte Variante unterschiedslos. Zwar mag man einwenden, dass Richtlinien in Art. 230 200 C. I. 2. b).

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C. Entwicklung und Bewertung der Rechtsprechung von EuGH und EuG

Abs. 4 EG eben gerade nicht erfasst sind, doch wenn diese als anfechtbare Rechtsakte anerkannt sind (für Scheinrichtlinien wird dies durch einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts obligatorisch angeordnet), dann müssen die übrigen Voraussetzungen des Art. 230 Abs. 4 EG auf sie angewandt werden. Es ist zudem auch bei teleologischer Betrachtung kein Grund erkennbar, warum für die Unmittelbarkeit differenziert werden sollte zwischen Richtlinien und Entscheidungen, die an eine andere Person ergangen sind. Bei einem Vergleich der beiden Sachverhalte ergibt sich Folgendes: Eine Situation, in der zwar noch eine nationale Durchführungsmaßnahme erforderlich ist, aber dem Mitgliedstaat keinerlei Spielraum bei der Umsetzung eingeräumt ist und der Einzelne quasi automatisch von dem Gemeinschaftsrechtsakt betroffen wird, ist sowohl für Richtlinien denkbar wie auch für an andere Personen (Mitgliedstaaten) gerichtete Entscheidungen. Ungeachtet der grundsätzlich vorgesehenen Struktur von Richtlinien, nur einen Rahmen für die nationalen Umsetzungsakte vorzugeben, werden von den Gemeinschaftsorganen durchaus detaillierte Richtlinienbestimmungen erlassen, die dem nationalen Gesetzgeber bei der Umsetzung in das innerstaatliche Recht keinen eigenständigen Gestaltungsspielraum belassen201. In diesen Fällen liegt eine Rechts- und Interessenlage vor, die vergleichbar ist mit derjenigen, in der Entscheidungen an Mitgliedstaaten ergehen und diesen bei der Umsetzung keinen Spielraum belassen. Die zu beantwortenden Rechtsfragen ergeben sich ausschließlich aus dem Gemeinschaftsrecht, so dass - vorausgesetzt der Kläger ist zusätzlich individuell betroffen - der direkte Weg zu den Gemeinschaftsgerichten eröffnet sein sollte. Ein Umweg über die mitgliedstaatliche Gerichtsbarkeit erfüllt keine eigenständige Funktion. Aus teleologischer Sicht ist auch für Richtlinien an einem materiellen Verständnis der Unmittelbarkeit festzuhalten. Der Bruch zwischen der materiellen und der formellen Bestimmung der Unmittelbarkeit tritt bei Scheinrichtlinien besonders deutlich zutage. Es handelt sich bei Scheinrichtlinien materiell-rechtlich um Entscheidungen. Warum die Voraussetzung des unmittelbaren Betroffenseins bei formellen Entscheidungen, die an einen Mitgliedstaat gerichtet und von diesem umzusetzen sind, weiter verstanden werden sollte, als bei „nur" materiellen Entscheidungen, die aber gleichfalls von einem Mitgliedstaat umzusetzen sind, leuchtet nicht ein. Ein auf den ersten Blick relevanter Unterschied könnte für echte Richtlinienbestimmungen angenommen werden. Diese unterscheiden sich im Hinblick auf die an eine andere Person gerichtete Entscheidung dadurch, dass sie allgemeine Geltung entfalten und damit gerade nicht materiell eine Entscheidung, sondern Normativakt sind. Bezogen auf das unmittelbare Betroffensein hat die Unterschei201

Man denke nur an die Richtlinien zur Regelung der Sommer- bzw. Winterzeit. Eine solche lag der Rechtssache T-84/01 - Association contre l'heure d'été (ACHE)/Parlament und Rat, Slg. 2002, Π - 99 zugrunde.

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dung zwischen Normativakt und Entscheidung hingegen keine Bedeutung, und die Normqualität einer Maßnahme ist demnach in diesem Zusammenhang nicht zu berücksichtigen. Das lässt sich der Rechtsprechung zur Anfechtbarkeit von Verordnungen entnehmen. Verordnungen gelten gemäß Art. 249 Abs. 2 EG unmittelbar und es wird dementsprechend grundsätzlich nicht am Vorliegen des unmittelbaren Betroffenseins gezweifelt, es sei denn, eine Verordnung sieht im Einzelfall noch ermessensabhängige Durchführungsmaßnahmen vor. Ob es sich um eine Scheinverordnung oder eine normative Verordnungsbestimmung handelt, ist für diese Frage vollkommen bedeutungslos. Der formale Ansatz des EuG in der Rechtssache Salamander, wonach eine Richtlinie aus sich heraus auf die Rechtsstellung des Klägers einwirken muss, kann teleologisch nicht überzeugen. Das unmittelbare Betroffensein ist daher ebenso anhand einer materiellen Betrachtungsweise zu bestimmen, wie dies bei der Anfechtung von Entscheidungen geschieht, die an einen Mitgliedstaat als dritte Person ergangen sind. Es handelt sich sowohl aus Sicht der Betroffenen wie auch aus Sicht der rechtsschutzgewährenden Gerichte um eine absolut identische Interessenlage. Eine Richtlinie, die detaillierte Regelungen trifft und den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung keinen Spielraum zugesteht, betrifft den Kläger demzufolge unmittelbar. Das unmittelbare Betroffensein kann allerdings nicht mit der Begründung abgelehnt werden, den Mitgliedstaaten werde in irgendeinem Teil der Richtlinie ein Ermessensspielraum eingeräumt202. Erheblich kann ein Ermessen der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung nur sein, wenn es sich auf die Belastung bezieht. Nur dann wird der Inhalt der Belastung nicht schon abschließend durch die Richtlinie festgelegt. Eine erhebliche Ausweitung des Anwendungsbereichs der Nichtigkeitsklage auf Richtlinien ist nicht zu erwarten. Entsprechen Richtlinien der primärrechtlich vorgesehenen Struktur, dann enthalten sie für die Mitgliedstaaten Spielräume bei der Umsetzung und ein unmittelbares Betroffensein scheidet aus. (b) Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der formellen Interpretation des unmittelbaren Betroffenseins im Hinblick auf Scheinrichtlinien Zum einen waren weder dem Wortlaut des Art. 230 Abs. 4 EG noch einer zweckorientierten Auslegung des Unmittelbarkeitskriteriums Argumente für eine formale Interpretation des unmittelbaren Betroffenseins bezogen auf Richtlinien zu entnehmen. Zum anderen ist zu fragen, ob nicht nur ein Grund für diese Auslegung fehlt, sondern ob sie vielleicht sogar gemeinschaftsrechtswidrig ist. Aufgrund allgemeinen Rechtsgrundsatzes des Gemeinschaftsrechts sind Entscheidungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform, also Entscheidungen im materiellen Sinn, anfechtbar. Eine materielle Beurteilung ist außerdem hinsichtlich des unmittelbaren Betroffenseins sinnvoll. Dennoch sind die Möglichkeiten, formelle 202 So auch: Cremer, EuZW 2001,453 (457).

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C. Entwicklung und Bewertung der Rechtsprechung von EuGH und EuG

Gegebenheiten zugunsten des materiellen Gehalts zurücktreten zu lassen, nicht unbegrenzt. Die Rechtsform einer Handlung kann nicht in jeder Hinsicht unbeachtlich sein. Die für den Erlass von Rechtsvorschriften zu beachtenden Zuständigkeits-, Verfahrens- und Formvorschriften sind u. a. von der Form des Rechtsaktes abhängig. Um die Frage nach der formellen Rechtmäßigkeit eines Rechtsaktes mit Bestimmtheit beantworten zu können, bedarf es einer entsprechenden Klarheit der Kompetenzverteilung, der Vorschriften zur Wahrung von Mitwirkungsrechten und der Formvorschriften. Desgleichen bestimmt sich der Zeitpunkt des Inkrafttretens von Vorschriften, sowie bei Richtlinien die Umsetzungsfrist, rein formell und ist keiner materiellen Betrachtungsweise zugänglich. Hintergrund ist das rechtsstaatlich begründete Prinzip der Rechtssicherheit. Vom Standpunkt des Rechtsunterworfenen aus ist nicht nur die hinreichende Bestimmtheit der ihn verpflichtenden inhaltlichen Regelung von größter Bedeutung, sondern auch wann diese Rechtswirkungen entfaltet. Es kann von dem Rechtsunterworfenen nicht ein bestimmtes Verhalten abverlangt werden, ohne unmissverständlich den Zeitpunkt festzulegen, ab dem eine entsprechende Rechtspflicht besteht. Aus Gründen der Rechtssicherheit können Richtlinien erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist Rechtswirkungen entfalten 203. Die rechtliche Belastung tritt vermittelt durch den nationalen Umsetzungsakt ein, nicht durch die Richtlinie selbst. Da somit die Richtlinie aus sich heraus nicht eine rechtliche Belastung des Einzelnen bewirken kann, kommt ein unmittelbares Betroffensein im Sinne des Art. 230 Abs. 4 EG nach der Rechtsprechung des EuG in der Rechtssache Salamander nicht in Betracht. Das gilt aber nicht nur für echte Richtlinien. Zwar stellen Scheinrichtlinien ihrer wahren Rechtsnatur nach Entscheidungen dar, doch muss der Zeitpunkt, ab dem Rechtswirkungen eintreten, zweifelsfrei erkennbar sein und gehört damit zu den Umständen, die rein formell zu bestimmen und einer materiellen Betrachtungsweise nicht zugänglich sind. Scheinrichtlinien können ebenso wie echte Richtlinien auf die Rechtsstellung des Einzelnen nicht aus sich heraus belastend wirken, so dass ein unmittelbares Betroffensein i. S. d. Salamander-Rechtsprechung ausscheidet und eine Nichtigkeitsklage stets unzulässig wäre. Es entsteht hier wiederum eine Lage, in der die Gemeinschaftsorgane durch die Wahl der Rechtsform, durch falsche Bezeichnung der Maßnahme über den Rechtsschutz des Einzelnen disponieren können. Dieses Ergebnis verstößt gegen den allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts, dass materielle Entscheidungen im Wege der Nichtigkeitsklage von den Betroffenen anfechtbar sind, unabhängig von der Rechtsform, in der die Entscheidung ergangen ist. Der allgemeine Rechtsgrundsatz darf

203 Das gilt auch für die unmittelbare Anwendbarkeit in vertikalen Rechtsverhältnissen zugunsten des Bürgers, siehe C. I. 2. b) aa) (2).

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nicht dadurch ausgehebelt werden, dass auf der einen Seite zwar Scheinrichtlinien als anfechtbare Rechtsakte anerkannt werden, auf der anderen Seite aber eine weitere Zulässigkeitsvoraussetzung, das unmittelbare Betroffensein, derart restriktiv ausgelegt wird, dass von vornherein keine Erfolgsaussichten bestehen. Die gegenüber der sonst üblichen Auslegung der unmittelbaren Betroffenheit restriktive Forderung des EuG aus der Rechtssache Salamander, die Richtlinie müsse aus sich heraus die rechtliche Stellung des Klägers betreffen, findet im Wortlaut des Art. 230 Abs. 4 EG keine Stütze, ist teleologisch nicht zu begründen und verstößt vor allem im Hinblick auf Scheinrichtlinien gegen einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts und ist demzufolge gemeinschaftsrechtswidrig. Dessen ungeachtet wird auch in der Literatur vertreten, dass Nichtigkeitsklagen gegen Richtlinien nur zulässig seien, wenn die Richtlinie selbst unmittelbar belastend gegenüber Privaten wirke 204 . Mit dem materiellen Verständnis des unmittelbaren Betroffenseins in Bezug auf Richtlinien, wie es in der Rechtssache Japan Tobacco vertreten worden ist, hat das EuG denrichtigenWeg eingeschlagen. Es steht zu hoffen, dass diese Interpretation zur ständigen Rechtsprechung wird.

c) Korrelat

von privilegierter Klagebefugnis und Verpflichtung bei unmittelbarer Anwendbarkeit?

Gegenstand der Arbeit ist der Rechtsschutz des Einzelnen, der in Art. 230 Abs. 4 EG genannten natürlichen und juristischen Personen. Die Trennung zwischen die204 Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, § 7 Rn. 50, der einen Anwendungsbereich bei Richtlinien im Umweltrecht mit teils begünstigender, teils belastender Wirkung sieht. Auch Allkemper diskutiert, unter welchen Voraussetzungen gegen Richtlinien erhobene Nichtigkeitsklagen in analoger Anwendung des Art. 173 Abs. 4 EGVa. F. für zulässig befunden werden sollten, vgl. Allkemper, Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, S. 98 ff. Aufgrund der Entwicklung der Rechtsprechung zur Wirkung von Richtlinien sieht er darin, dass Richtlinien grundsätzlich nicht als anfechtbare Rechtsakte genannt sind, eine planwidrige Regelungslücke. Für die erforderliche Gleichheit der Interessenlage müsse der Kläger unmittelbar und individuell betroffen sein. Ein unmittelbares Betroffensein bejaht Allkemper, ebenso wie das EuG in der Rechtssache Salamander, jedoch nur, wenn die Richtlinie aus sich heraus den Kläger belastet. Dies sei in vertikalen und in horizontalen Verhältnissen nicht in Betracht zu ziehen, sondern könne ausschließlich in drittbelastenden Fällen vorkommen. Nur für diese letzte Fallgruppe befürwortet Allkemper eine analoge Anwendung. Dieses Ergebnis verwundert vor allem deshalb, weil Allkemper zuvor für die Anfechtbarkeit von Entscheidungen, wiederum ebenso wie die Gemeinschaftsgerichte, nicht eine formelle Interpretation der unmittelbaren Betroffenheit vertritt, wonach kein weiterer (Durchführungs-)Akt erforderlich sein dürfte, um die Betroffenheit herbeizuführen. Vielmehr hat er sich der materiellen Auslegung angeschlossen und es genügen lassen, wenn ein Eingriff in die Rechts- oder Interessensphäre des Klägers sicher oder hochwahrscheinlich ist (a. a. O., S. 76 ff.). Dafür, dass er das unmittelbare Betroffensein bei Richtlinien anders als bei Entscheidungen beurteilt, gibt Allkemper keine Erklärung. 6 Schulte

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sen nicht-privilegiert Klagebefugten und den privilegiert Klagebefugten gemäß Art. 230 Abs. 2 EG ist in Bezug auf Richtlinien für eine Personengruppe in Frage gestellt worden. Es geht hierbei um diejenigen Stellen, gegenüber denen nach der Rechtsprechung des EuGH eine unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinienbestimmungen mit belastender Wirkung möglich ist. Gemeint sind nicht die Mitgliedstaaten, die ohnehin privilegiert klagebefugt sind nach Art. 230 Abs. 2 EG, sondern die Einrichtungen, die für die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien der extensiven Auslegung des Staatsbegriffs unterfallen, da sie kraft staatlichen Rechtsakts oder unter staatlicher Aufsicht eine Dienstleistung im öffentlichen Interesse erbringen und dabei mit besonderen Rechten ausgestattet sind, die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten205 . In der Literatur wird vertreten, dass diese Stellen als privilegiert klageberechtigt anzusehen seien. Wenn sie i. R. d. Art. 249 EG wie Mitgliedstaaten behandelt werden und damit Richtlinien ihnen gegenüber mit belastender Wirkung unmittelbar anwendbar sind, dann sollten sie nach Ansicht Arnulls im Anwendungsbereich des Art. 230 EG ebenfalls als Mitgliedstaaten behandelt werden und nach Art. 230 Abs. 2 EG Nichtigkeitsklage gegen Richtlinien erheben dürfen. Die Termini Entscheidung und Verordnung würden schließlich auch in beiden Artikel kongruent verstanden206. Eine derartige Auslegung ist aber weder geboten noch mit dem Rechtsschutzsystem zu vereinbaren. Eine am Wortlaut von Art. 230 EG und Art. 249 EG orientierte Interpretation ist in diesem Zusammenhang nur begrenzt verwendbar, da die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien ohnehin eine Rechtsfortbildung ist, die über den Wortlaut des Art. 249 Abs. 3 EG hinaus die Beachtlichkeit von Richtlinien anordnet. Dass dann auch der Begriff der Mitgliedstaaten als Verpflichtete eine erweiterte Auslegung erfährt, führt nicht zu einer generellen Ausdehnung dieses Begriffs. Bei teleologischer Betrachtung könnte man argumentieren, den verpflichteten Stellen werden durch die unmittelbare Anwendung von Richtlinien Belastungen auferlegt, so dass entsprechend auf ihrer Seite auch ein Rechtsschutzbedürfnis besteht, sich gegen die Belastung zur Wehr zu setzen. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass eine Anfechtung schon im Rahmen des Art. 230 Abs. 4 EG grundsätzlich möglich ist. Die Rechtsfolge der unmittelbaren Anwendbarkeit wirkt sich auf das unmittelbare Betroffensein aus. Es bedarf nicht einmal des Rückgriffs auf die materielle Unmittelbarkeit, da selbst bei formeller Betrachtung zwar die Umsetzung 205 Vgl. EuGH, Rs. C-188/89 - A. Foster u. a./British Gas plc, Slg. 1990, I - 3313, Rn. 20. Diskutiert werden soll nicht allgemein die Frage, ob autonome Regionen oder andere territoriale Untergliederungen privilegiert klagebefugt sein sollten. In Zusammenhang mit der Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist nur von Bedeutung, ob und inwieweit die unmittelbare Anwendung von Richtlinien die Klagebefugnis beeinflussen kann. 206 Arnull, CML Rev. 1995, 7 (47).

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der Richtlinie in das nationale Recht durch die unmittelbare Anwendbarkeit nicht entbehrlich wird, eine Verpflichtung der „staatlichen" Stellen jedoch schon nach erfolglosem Ablauf der Umsetzungsfrist eintritt. Ein unmittelbares Betroffensein durch die Richtlinie an sich ist bei dieser Gruppe von Klägern mithin in jedem Fall gegeben, und kann sie nicht daran hindern, Rechtsschutz im Wege der Nichtigkeitsklage zu suchen. Die Voraussetzung des individuellen Betroffenseins weist für diesen Bereich keine Besonderheiten auf. Es sind dieselben Kriterien anzulegen wie bei den sonstigen Klagen von Personen, die durch Gemeinschaftsrechtsakte betroffen sind. Aus der Berücksichtigung des Grundsatzes des effektiven Rechtsschutzes ergibt sich mithin keine Notwendigkeit zu einer erweiternden Auslegung des Art. 230 Abs. 2 EG. Schließlich sind das institutionelle Gleichgewicht, wie es durch die Verträge vorgesehen ist, und damit die über den Individualrechtsschutz hinausgehenden Funktionen der Nichtigkeitsklage zu berücksichtigen207. Zum einen hat die Nichtigkeitsklage im Hinblick auf die privilegiert Klageberechtigten eine dem Organstreit ähnliche Funktion, indem die Verletzung von Kompetenzen und sonstigen organschaftlichen Positionen gerügt werden kann 208 . Die Mitgliedstaaten können beispielsweise als Nichtigkeitsgrund die Verletzung des Vertrages bezogen auf das Subsidiaritätsprinzip gemäß Art. 5 Abs. 2 EG anführen, wenn sie der Überzeugung sind, es bestünde keine Kompetenz der Europäischen Gemeinschaft auf dem Gebiet, auf welchem eine Maßnahme erlassen wurde. Diese Funktion zur Wahrung von Kompetenzen und organschaftlichen Rechten bezieht sich aber auf die Mitgliedstaaten als solche, d. h. nicht auf territoriale Untergliederungen. Selbst wenn die „staatlichen Stellen", wie in der BRD ζ. B. die Bundesländer, in ihrem Kompetenzbereich betroffen sind, handelt es sich dabei ausschließlich um eine Frage des nationalen Rechts. Auf Ebene der Gemeinschaft sind allein die Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit von Interesse. Sie treten nach außen hin auf und sind die Herren der Verträge. Gemeinschaftsrechtliche Verpflichtungen werden den Mitgliedstaaten auferlegt, unabhängig von innerstaatlichen Zuordnungen und Kompetenzgefügen. Die Aufgabe, mitgliedstaatliche Rechtspositionen gegenüber der Gemeinschaft zu verteidigen, obliegt daher auch allein den Mitglied207 Auch der EuGH hat der allgemeinen Systematik der Verträge entnommen, dass der Begriff des Mitgliedstaats i. S. d. institutionellen Bestimmungen nur die Regierungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften erfasst und nicht zusätzlich die Regierungen von Regionen oder sonstigen territorialen Untergliederungen, als er es ablehnte, die Region Wallonie als „Mitgliedstaat" und damit privilegiert klagebefugt i. S. d. Art. 230 Abs. 2 EG anzusehen: EuGH, Rs. C-95/97 - Wallonische Region/Kommission, Slg. 1997,1 - 1787 Rn. 6. Auf das institutionelle Gleichgewicht, das bei einer entsprechende Erweiterung des Begriffs der Mitgliedstaaten und damit der privilegiert Klagebefugten beeinträchtigt wäre, hat der EuGH abgestellt in der Rs. C-180/97 - Regione Toscana /Kommission, Slg. 1997, 1-5245, Rn. 6. 208 Herdegen, Europarecht, Rn. 209. 6*

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Staaten. Den Untergliederungen bleibt nur die Möglichkeit, auf eine Klageerhebung durch den jeweiligen Mitgliedstaat hinzuwirken oder selbst Klage gemäß Art. 230 Abs. 4 EG zu erheben, soweit die erforderlichen Voraussetzungen hierfür gegeben sind. Organschaftliche Rechte, die privilegiert Klageberechtigte durch den Rechtsbehelf der Nichtigkeitsklage verteidigen können, sind nicht betroffen. Unter diesem Gesichtspunkt können die hier behandelten Stellen nicht Klage gemäß Art. 230 Abs. Abs. 2 EG erheben. Wenn dies schon für Untergliederungen gilt, die über Autonomie oder eigene Staatlichkeit verfügen, so können keinesfalls alle Einrichtungen, die im Hinblick auf die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien unter den Begriff des Staats fallen, privilegiert klageberechtigt sein. Zum anderen haben die privilegiert Klageberechtigten die Aufgabe, auf die Einhaltung und Wahrung des Gemeinschaftsrechts hinzuwirken, sie üben eine Kontrollfunktion aus. Gerade aus diesem Grund kommt es für Klagen nach Art. 230 Abs. 2 EG nicht auf ein etwaiges Rechtsschutzbedürfnis der Kläger an 2 0 9 . Die Aufgabe der Mitgliedstaaten, die Einhaltung der gemeinschaftsrechtlichen Pflichten durch andere zu kontrollieren, kommt ferner beim Vertragsverletzungsverfahren zum Tragen. Nicht nur die Kommission, sondern nach Art. 227 EG auch die Mitgliedstaaten können Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht durch einen anderen Mitgliedstaat rügen. Des Weiteren steht den Mitgliedstaaten i. R. d. Nichtigkeitsklage die Möglichkeit offen, rechtsverbindliche Maßnahmen der Gemeinschaftsorgane als rechtswidrig zu rügen. Diese Rolle ergibt sich für die Mitgliedstaaten aus ihrer Stellung als Herren der Verträge. Den einzelnen Stellen, die bezüglich der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien als staatlich aufgefasst werden, kommt keine derartige Aufgabe oder Befugnis zu. Sie stehen zu der Europäischen Gemeinschaft nicht in einem Verhältnis geprägt durch Rechte und Pflichten, welches der mitgliedstaatlichen Situation entspricht. Die betreffenden Stellen werden nur einem Teil der Verpflichtungen des Mitgliedstaats unterworfen, der in ihren Bereich fällt. Weder die gesamte Breite mitgliedstaatlicher Verpflichtungen gegenüber dem Gemeinschaftsrecht trifft sie noch stehen ihnen gegen die Gemeinschaft Rechtspositionen in diesem Umfang zu. Da somit eine gesteigerte Verantwortung für die Gemeinschaft nicht festzustellen ist, kann aus diesem Grund wiederum keine Klagberechtigung gemäß Art. 230 Abs. 2 EG hergeleitet werden. Aus den genannten Gründen ist es abzulehnen, die Verpflichtung von Stellen, die der extensiven Auslegung des Staatsbegriffs im Rahmen der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien unterfallen, zur Begründung einer privilegierten Klageberechtigung für die Erhebung von Nichtigkeitsklagen heranzuziehen.

209 Herdegen, Europarecht, Rn. 208.

I. Anfechtbarkeit von Richtlinien

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3. Zusammenfassung zur Anfechtbarkeit von Richtlinien In den Wortlaut des Art. 230 Abs. 4 EG sind Richtlinien nicht explizit als anfechtbare Rechtsakte aufgenommen worden und können auch nicht unter die Variante der Entscheidungen subsumiert werden, die an andere Personen gerichtet sind. Die Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte zur Anfechtbarkeit von Richtlinien war lange Zeit geprägt von großen Schwankungen. Die Eigenschaft als taugliche Klagegegenstände ergibt sich für Scheinrichtlinien zwingend aus dem Gemeinschaftsrecht. Es existiert ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, dass materiell-rechtliche Entscheidungen anfechtbar sein müssen, gleichgültig in welcher Rechtsform sie erlassen wurden. Davon sind auch Scheinrichtlinien erfasst. Es soll durch diesen Rechtsgrundsatz vermieden werden, dass die Gemeinschaftsorgane über die primärrechtlich vorgesehenen Rechtsschutzmöglichkeiten disponieren und die Nichtigkeitsklage für den Einzelnen verschließen können, indem sie beim Erlass einer Entscheidung schlicht eine andere (normative) Rechtsform wählen. Für echte Richtlinien ist die Einordnung als tauglicher Klagegegenstand nicht zweifelsfrei. Die Rechtsprechung hat sie mittlerweile - ebenso wie echte Verordnungen - als taugliche Klagegegenstände anerkannt. Problematisch ist die Voraussetzung des unmittelbaren Betroffenseins. In der Rechtssache Salamander äußerte das EuG ein formelles Verständnis der Unmittelbarkeit und forderte, die Richtlinie müsse aus sich heraus die Rechtsstellung beeinträchtigen. Nach ständiger Rechtsprechung ist dies indes nicht möglich und die Anerkennung von Richtlinien als anfechtbare Rechtsakte würde zu Makulatur. Die Nichtigkeitsklage würde demnach ausnahmslos am Erfordernis des unmittelbaren Betroffenseins scheitern. Im Hinblick auf Scheinrichtlinien ist dieses Ergebnis gemeinschaftsrechtswidrig. Scheinrichtlinien können ebenso wie echte Richtlinien erst nach der Umsetzung in das nationale Recht belastende Rechtswirkungen entfalten, da sich das Inkrafttreten von Rechtsakten rein formal bestimmt und aus Gründen der Rechtssicherheit einer materiellen Betrachtungsweise nicht zugänglich ist. Nichtigkeitsklagen gegen Scheinrichtlinien scheitern daher ausnahmslos am Erfordernis des unmittelbaren Betroffenseins im formellen Sinn. Eine Anfechtungsmöglichkeit ist nie gegeben und die Rechtsprechung verstößt folglich gegen den allgemeinen Rechtsgrundsatz, dass materiell-rechtliche Entscheidungen unabhängig von ihrer Rechtsform anfechtbar sein müssen. In der Rechtssache Japan Tobacco hat das EuG jüngst wohl die sogenahnte materielle Unmittelbarkeit auch auf die Nichtigkeitsklage gegen Richtlinien übertragen. Demnach schließt ein nachfolgender Umsetzungsakt die Unmittelbarkeit nicht aus, wenn der zugrunde liegende Akt hinreichend detailliert ist und für die Umsetzung kein relevantes Ermessen einräumt. Diese Rechtsprechung ist gegenüber der Position aus dem Urteil in der Rechtssache Salamander eindeutig vorzuziehen, so dass zu hoffen bleibt, dass sich das materielle Verständnis der Unmittelbarkeit auch für die Anfechtbarkeit von Richtlinien durchsetzt210.

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C. Entwicklung und Bewertung der Rechtsprechung von EuGH und EuG

Eine „Sonderbehandlung" kann auch nicht denjenigen Stellen angedeihen, die i. R. d. unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien der extensiven Auslegung des Begriffs „Staat" unterfallen. Sie können zwar von Richtlinien in ihrer rechtlichen Stellung (formell) unmittelbar betroffen sein, doch lässt sich eine privilegierte Klagebefugnis aus ihrer Staatsnähe nicht herleiten.

Π. Anfechtbarkeit von Verordnungen durch natürliche und juristische Personen im Wege der Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 Abs. 4 EG Nachdem die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 Abs. 4 EG gegen Richtlinien erörtert wurde, steht die Anfechtbarkeit von Verordnungen, welche die andere Gruppe normativer Rechtsakte im Gemeinschaftsrecht bilden, im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen. Für die Nichtigkeitsklage gegen Verordnungen ergibt sich eine andere Ausgangsposition als für Richtlinien. Zum einen zählen zumindest Scheinverordnungen von jeher zu den im Wortlaut der Norm zur Nichtigkeitsklage erfassten anfechtbaren Handlungen. Zum anderen war stets anerkannt, dass ein unmittelbares Betroffensein durch Verordnungsbestimmungen möglich ist.

1. Scheinverordnungen als anfechtbare Rechtsakte Nach Art. 230 Abs. 4 EG können natürliche und juristische Personen Entscheidungen anfechten, die als Verordnung ergangen sind. Damit werden Verordnungen nicht generell als taugliche Klagegegenstände der Nichtigkeitsklage eingeordnet, sondern nur bei Vorliegen bestimmter Umstände. Die Klagegegenstände der zweiten Variante des Art. 230 Abs. 4 EG stellen sich bei formeller Betrachtung als Verordnungen dar, ihrem materiellen Gehalt nach hingegen als Entscheidungen, sogenannte Scheinverordnungen. Der Begriff der Verordnung in Art. 230 Abs. 4 EG und in Art. 249 Abs. 2 EG ist identisch. Dies ergibt sich daraus, dass Art. 230 Abs. 4 zweite Variante EG den Begriff der Verordnung gerade in Bezug zur Rechtsform der angegriffenen Maßnahme setzt und abgrenzt von einer materiellen Betrachtungsweise. Da eine anfechtbare Scheinverordnung materiell eine Entscheidung darstellen muss, ist zu klären, welche Voraussetzungen hierfür erfüllt sein müssen. Das Verhältnis von Art. 230 Abs. 4 EG zu Art. 249 Abs. 4 EG hinsichtlich des Begriffs der Entscheidung ist dabei weniger eindeutig zu bestimmen, als dies für den Terminus der Verordnung in Art. 230 Abs. 4 EG und Art. 249 Abs. 2 EG möglich war. 210 Für ein materielles Verständnis der Unmittelbarkeit: Koenig/Pechstein/Sander, EG-Prozessrecht, Rn. 373.

EU-/

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Die Gemeinschaftsgerichte betonen in ihren Urteilen und Beschlüssen häufig und auch noch in jüngerer Zeit, dass der Begriff der Entscheidung in Art. 230 Abs. 4 EG deckungsgleich zu verstehen sei mit dem Begriff der Entscheidung in Art. 249 Abs. 4 EG 2 1 1 . Dieses Verständnis birgt jedoch einige Schwierigkeiten und ist von der Rechtsprechung auch nicht durchgehalten worden. Mit dem Begriff der Entscheidung in Art. 230 Abs. 4 EG kann nicht durchgängig die Rechtsform gemeint sein. Das folgt schon aus der zweiten Variante, in welcher der Terminus Entscheidung gerade nicht die Rechtsform der beanstandeten Maßnahme bezeichnet, sondern davon losgelöst die wahre Rechtsnatur. Der ersten und dritten Variante könnte hingegen eine Entscheidung i. S. v. Art. 249 Abs. 4 EG zugrunde liegen. Dass in der ersten Variante der Kläger Adressat der Entscheidung ist, bei der dritten Variante dagegen eine andere Person, spielt zwar für die Anforderungen an die Klagebefugnis eine Rolle, nicht jedoch für die Beurteilung der Rechtsform. Es müssen aber auch die erste und dritte Variante des Art. 230 Abs. 4 EG nicht auf Entscheidungen in dem technischen Sinn Bezug nehmen, den Art. 249 Abs. 4 EG festschreibt 212. Aufgrund der rechtsschutzeröffnenden Funktion des Entscheidungsbegriffs ist dieser in der Rechtsprechung nicht restriktiv ausgelegt worden. Es werden auch Maßnahmen als zulässige Klagegegenstände und damit als Entscheidungen anerkannt, welche die Anforderungen an förmliche Entscheidungen i. S. d. Art. 249 Abs. 4 EG nicht erfüllen 213. Ausschlaggebend ist nicht die Form der Handlung, sondern dass sie verbindliche Rechtswirkungen erzeugt 214. Maßgeblich bleibt dabei aber der materielle Charakter als Entscheidung, wie insbesondere die zweite Variante von Art. 230 Abs. 4 EG verdeutlicht. Eine Verordnung zeichnet sich durch ihren normativen Charakter aus. Die Prüfung, ob eine Entscheidung vorliegt, wird anhand einer negativen Abgrenzung vorgenommen. In allen drei Varianten des Art. 230 Abs. 4 EG ist eine anfechtbare Entscheidung ein Rechtsakt, der bei materieller Betrachtung gerade keinen normativen Charakter aufweist. Diese Konstruktion, dass der angefochtene Rechtsakt formell eine Verordnung darstellt, materiell aber eine Entscheidung - ein Akt ohne normativen Rechtscharakter - gefordert ist, erklärt sich aus dem mit der Vorschrift verfolgten Zweck. 211 Ζ. B.: EuGH, Verb. Rs. 16 u. 17/62 - Confédération nationale des producteurs de fruits et légumes u. a./Rat, Slg. 1962, 961, 978; Rs. C-10/95 - Asociación Espanola de Empresas de la Came (Asocarne)/Rat, Slg. 1995,1 - 4149, Rn. 28; EuG, Rs. T-166/99 Luis Fernando Andres de Dios u. a. / Rat, Slg. 2001, Π - 1857, Rn. 35. 212 Vgl. hierzu ausführlich: Röhl, ZaöRV 2000, 331 ff. 213 Schmidt-Aßmann, JZ 1994, 832 (836); Krück, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann, EU-/EG-Vertrag, Art. 173 Rn. 42; Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht Band Π, S. 934. 214 EuGH, Rs. 53/85 - AKZO Chemie BV u. AKZO Chemie UK Ltd/Kommission, Slg. 1986,1965, Rn. 17-20; EuG, Rs. T-84/97 - Bureau européen des unions de consommateurs (BEUC)/Kommission, Slg. 1998, I I - 795, LS 1; EuG, Rs. T-3/93 - Société anonyme à participation ouvrière Compagnie nationale Air France/Kommission, Slg. 1994, Π - 121, Rn. 43 ff. u. 57 ff.

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Entscheidungen sollen für die individuell und unmittelbar Betroffenen anfechtbar sein. Gegen normative Rechtsakte andererseits steht die Nichtigkeitsklage als abstrakte Normenkontrolle grundsätzlich nur den privilegierten Klägern offen. Zugleich soll sichergestellt werden, dass das gemeinschaftsrechtlich vorgesehene Individualrechtsschutzsystem nicht umgangen oder ausgehöhlt werden kann. Diese Gefahr bestünde, wenn für die Entscheidung, ob ein tauglicher Klagegegenstand vorliegt, allein die Form des Rechtsaktes ausschlaggebend wäre. Die Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage wäre dann in das Belieben der Gemeinschaftsorgane gestellt, welche die Anfechtbarkeit ihrer Maßnahmen durch natürliche und juristische Personen schlicht dadurch ausschließen könnten, dass sie den Akt ungeachtet seines materiellen Gehalts in eine normative Rechtsform kleiden. Durch Art. 230 Abs. 4, zweite Variante wird sichergestellt, dass die Rechtsnatur einer Maßnahme für deren Anfechtbarkeit ausschlaggebend ist, nicht aber die Form 215 .

2. Nichtigkeitsklage gegen echte Verordnungen Nichtigkeitsklagen gegen echte Verordnungen mit normativem Charakter können nach dem Konzept des Gemeinschaftsvertrages ausschließlich die in Art. 230 Abs. 2 EG genannten privilegierten Kläger erheben. Natürliche und juristische Personen sind hingegen grundsätzlich gehalten, den an sie gerichteten konkretisierenden Einzelakt abzuwarten und diesen anzugreifen. Da in der Regel der Vollzug des Gemeinschaftsrechts indirekt, d. h. durch die nationalen Behörden der Mitgliedstaaten, nicht durch die Gemeinschaftsorgane erfolgt 216, wendet sich der Kläger gegen einen nationalen Rechtsakt auf dem innerstaatlichen Rechtsweg. Zur Klärung von Fragen bezüglich der Auslegung oder Rechtmäßigkeit des gemeinschaftsrechtlichen Normativakts, der die Rechtsgrundlage für den nationalen Durchführungsakt bildet, steht das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG zur Verfügung. Diese Rechtswegverteilung soll zum einen sicherstellen, dass dem Einzelnen ausreichender Rechtsschutz zur Verfügung steht, zum anderen wird die direkte Anfechtung normativer Gemeinschaftsrechtsakte ausgeschlossen.

215 EuGH, Verb. Rs. 789 u. 790/79 - Calpak S.p.A. u. Società Emiliana Lavorazione Frutta S.p.A./Kommission, Slg.1980,1949, Rn. 7; Rs. 307/81 - Alusuisse Italia S.p.A./Rat und Kommission, Slg. 1982, 3463, Rn. 7; EuG, Rs. T-476/93 - Fédération régionale des syndicats d'exploitants agricoles (FRSEA) u. Fédération nationale des syndicats d'exploitants agricoles (FNSEA)/Rat, Slg. 1993, Π - 1187, Rn. 19; Rs. T-298/94 - Roquette Frères SA/ Rat, Slg. 1996, Π - 1531, Rn. 35; Rs. T-109/97 - Molkerei Großbraunshain GmbH u. Bene Nahrungsmittel GmbH/Kommission, Slg. 1998, Π - 3533, Rn. 47; Rs. T-100/94 - Kapniki A. Michailidis AE u. a. / Kommission, Slg. 1998, I I - 3115, Rn. 51. 2Herdegen, Europarecht, Rn. 2 .

II. Anfechtbarkeit von Verordnungen

a) Normativer

Rechtscharakter

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Da die Rechtsform einer Maßnahme die Anfechtbarkeit der Maßnahme nicht determiniert, ist entscheidungserheblich, ob die angegriffene Verordnung bei materieller Betrachtung normativen Charakter aufweist. Bei Klärung der Frage, ob nach materiellen Kriterien die Rechtsnatur der Maßnahme als Entscheidung einzustufen ist, wird nicht ausschließlich der Rechtsakt in seiner Gesamtheit betrachtet. Vielmehr dienen auch einzelne Regelungen innerhalb einer Verordnung oder Richtlinie als Bezugspunkt. Soweit sie eine inhaltlich selbständige, abtrennbare Regelung treffen, werden sie unabhängig von der Rechtsnatur der gesamten Maßnahme, in der sie enthalten sind, auf ihren Rechtscharakter hin untersucht218. Diese Differenzierung ist für den Einzelnen rechtsschutzfreundlich, da seine Nichtigkeitsklage nicht schon daran scheitert, dass die Klage gegen einen normativen Rechtsakt gerichtet ist, solange die angefochtene Vorschrift als Entscheidung anzusehen ist. Die ratio des Art. 230 Abs. 4 EG, dass die Gemeinschaftsorgane nicht durch die Wahl der Rechtsform über den Rechtsschutz des Einzelnen disponieren dürfen, stellt die Rechtsanwendung vor das schwierige Problem der Abgrenzung von Entscheidungen und Normen anhand materieller Kriterien. Nach dem Wortlaut von Art. 230 Abs. 4 EG unanfechtbare normative Rechtsakte grenzen die Gemeinschaftsgerichte in Anlehnung an Art. 249 Abs. 2 EG durch das Merkmal der allgemeinen Geltung gegenüber anfechtbaren Entscheidungen ab. Ausschlaggebend für die allgemeine Geltung ist, ob der Rechtsakt auf objektiv bestimmte Sachverhalte anwendbar ist und Rechtswirkungen für allgemein und abstrakt umrissene Personengruppen zeitigt 219 . Zu berücksichtigen sind dabei die Rechtswirkungen, welche die angefochtene Maßnahme erzeugen soll oder tatsächlich erzeugt 220. 217 Die nachfolgenden Ausführungen gelten sinngemäß auch für Richtlinien. Darüber hinaus haben die Gemeinschaftsgerichte entschieden, dass auch an die Mitgliedstaaten gerichtete Entscheidungen (ζ. B. wenn es um den Erlass von Schutzmaßnahmen geht) für die betroffenen Unternehmen Handlungen mit normativem Charakter sein können, EuG, T-60/96 Merck & Co. Inc. u. a./Kommission, Slg. 1997, Π - 849, Rn. 39 m. w. N. 218 EuGH, Rs. 16 u. 17/62 - Confédération nationale des producteurs de fruits et légumes u. a./Rat, Slg. 1962, 961, 979/980; Rs. 100/74-FirmaCAM, SA/Kommission, Slg. 1975, 1393, Rn. 19; von Winterfeld, NJW 1988, 1409 (1411); Oppermann, Europarecht, Rn. 752; Lenaerts/Arts, Procedural Law of the European Union, S. 161; von Danwitz, NJW 1993, 1108(1109). 219 EuGH, Rs. 16 u. 17/62 - Confédération nationale des producteurs de fruits et légumes u. a./Rat, Slg. 1962, 961, 979; Rs. 101/76 - Koninklijke Schölten Honig NV/Rat u. Kommission, Slg. 1977, 797, Rn. 8/11 ff.; Verb. Rs. 789 u. 790/79 - Calpak S.p.A. u. Società Emiliana Lavorazione Frutta S.p.A./Kommission, Slg.1980, 1949, Rn. 9; Rs. 307/81 - Alusuisse Italia S.p.A./Rat und Kommission, Slg. 1982, 3463, Rn. 9; Rs. C-10/95 - Asociación Espanda de Empresas de la Carne (Asocarne)/Rat, Slg. 1995,1 - 4149, Rn. 28; Rs. C-270/95 Ρ - Cristina Kik/Rat und Kommission, Slg. 1996,1 - 1987, Rn. 13; EuG, Rs. T-480/93 u. T-483/93 - Antillean Rice Mills NV u. a. /Kommission, Slg. 1995, Π - 2305, Rn. 65.

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Die Gemeinschaftsgerichte stellen in ständiger Rechtsprechung fest, dass die Bestimmtheit oder Bestimmbarkeit der von einer Maßnahme betroffenen Personen dem normativen Rechtscharakter nicht entgegenstehe, ebenso wenig wie unterschiedliche Auswirkungen der Maßnahme auf die betroffenen Personen221. Die Bestimmtheit des betroffenen Personenkreises hat in einigen früheren Urteilen eine Rolle gespielt222. Die Nichtigkeitsklage gegen einen in Form einer Verordnung ergangen Rechtsakt, welcher einen geschlossenen, unveränderlichen Kreis von Rechtssubjekten erfasst, hat die Rechtsprechung nur in Sonderfällen für zulässig befunden. Es wurden aber zusätzliche Faktoren als notwendig angesehen, etwa das Vorliegen von individuellen Anträgen auf Einfuhrlizenzen, aufgrund derer die angefochtenen Verordnungen erlassen worden waren 223 . Diese Erwägungen werden auch bezogen auf die Voraussetzung des individuellen Betroffenseins angestellt, so dass es zu Überschneidungen kommt. Selbst wenn ein geschlossener, unveränderlicher Kreis betroffener Rechtssubjekte vorliegt, wird darauf abgestellt, ob der Anwendung des Rechtsaktes eine objektive rechtliche oder tatsächliche Situation zugrunde liegt, die in dem Rechtsakt im Zusammenhang mit seiner Zielsetzung umschrieben ist 224 . Entscheidend für 220 EUGH, Rs. 307/81 - Alusuisse Italia S.p.A./Rat und Kommission, Slg. 1982, 3463, Rn. 8; Rs. 26/86 - Deutz und Geldermann, Sektkellerei Breisach (Baden) GmbH/Rat, Slg. 1987, 941, Rn. 7; Rs. C-87/95 - Cassa Nazionale di Previdenza ed Assistenza a favore degli Avvocati e Procuratori (CNPAAP)/Rat, 1996, I - 2003, Rn. 35; EuG, Rs. T-298/94 - Roquette Frères SA/Rat, Slg. 1996, Π - 1531, Rn. 36. 221 EUGH, RS. 6/68 - Zuckerfabrik Watenstedt GmbH/Rat, Slg. 1968, 611, 621; Verb. Rs. 789 u. 790/79 - Calpak S.p.A. u. Società Emiliana Lavorazione Frutta S.p.A./Kommission, Slg. 1980, 1949, Rn. 9; Rs. 45/81 - Alexander Moksel Import-Export GmbH & Co Handels KG/Kommission, Slg. 1982, 1129, Rn. 17; Rs. 242/81 - SA Roquette Frères/Rat, Slg. 1982, 3213, Rn. 7; Rs. 307/81 - Alusuisse Italia S.p.A./Rat und Kommission, Slg. 1982, 3463, Rn. 11; Rs. 64/80 - F. Guiffrida u. G. Campogrande/Rat, Slg. 1981,693, Rn. 7; Verb. Rs. 97,193,99 u. 215 / 86 - Asteris AE u. a. sowie Griechische Republik / Kommission, Slg. 1988, 2181, Rn. 13; EuG, Rs. T-480/93 u. T-483/93 - Antillean Rice Mills NV u. a./Kommission, Slg. 1995, Π - 2305, Rn. 65. 222 EuGH, RS. 16 U. 17 /62 - Confédération nationale des producteurs de fruits et légumes u. a./Rat, Slg. 1962, 961, 979; Verb. Rs. 4 1 - 4 4 / 7 0 - NV International Fruit Company u. a./Kommissio, Slg. 1971, 411, Rn. 16/22; Rs. 113/77 - NTN Toyo Bearing Company Ltd. u. a./Rat, Slg. 1979, 1185, Rn. 11; Rs. 138/79 - SA Roquette Frères/Rat, Slg. 1980, 3333, Rn. 15 u. 16; Rs. 139/79 - Maizena GmbH/Rat, Slg. 1980, 3393, Rn. 15 u. 16; GA Reischl, Schlussanträge in der Rs. 138/79 - SA Roquette Frères/Rat, Slg. 1980, 3333, 3368; EuGH, Rs. C-354 / 87 - Weddel & Co. ΒV / Kommission, Slg. 1990,1 - 3847, Rn. 21 - 23. 223 Das EuG lehnte die Zulässigkeit von Klagen gegen Verordnungen mit einem geschlossenen Betroffenenkreis ab, wenn solche zusätzlichen Umstände nicht gegeben waren: EuG, Rs. T-482/93 - Martin Weber u. Maria Weber u. Martin Weber GdbR/ Kommission, Slg. 1996, Π - 609, Rn. 66; Rs. T-100/94 - Kapniki A. Michailidis AE u. a./Kommission, Slg. 1998, Π - 3 1 1 5 , Rn. 62. 224 EUG, Rs. T-298/94 - Roquette Frères SA/Rat, Slg. 1996, I I - 1531, Rn. 42; Rs. T-482/93 - Martin Weber u. Maria Weber u. Martin Weber GdbR/Kommission, Slg. 1996, Π - 609, Rn. 64 u. 65; EuGH, Rs. 63 / 69 - La Compagnie française commerciale et financière, SA /Kommission, Slg. 1970, 205, Rn. 11 /12; Rs. 103 bis 109/78 - Société des Usines de

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die allgemeine Geltung ist somit, ob sich der geschlossene Kreis betroffener Personen aus der Natur des durch den Rechtsakt errichteten Systems selbst ergibt und den Kläger nur aus demselben Grund betrifft wie alle anderen, die sich in der gleichen Situation befinden 225. In der Rechtsprechung ist damit der objektive Tatbestand einer Regelung maßgeblich, der erfasste Personenkreis spielt keine Rolle, solange er abstrakt umschrieben ist. In der Literatur wird gleichwohl angenommen, dass die Abgrenzung zwischen Entscheidungen und Verordnungen in der Rechtsprechung danach erfolge, ob der Kreis der Betroffenen schon bei Erlass der Maßnahme feststeht 226. Grundsätzlich ist richtig, dass normative Rechtsakte auf einen objektiven Sachverhalt und einen abstrakt gefassten Personenkreis Anwendung finden, um allgemeine Geltung zu entfalten. Ob das Verständnis der allgemeinen Geltung, das die Rechtsprechung zum Ausdruck bringt, aber in jedem Fall eine eindeutige Abgrenzung zwischen Entscheidungen und Normen ermöglicht, ist fraglich. Die Gefahr besteht darin, dass nicht anstelle der Form dem materiellen Charakter entscheidende Bedeutung zukommt, sondern dass wiederum eher formale Aspekte eine Rolle spielen: Es ist regelmäßig möglich, Vorschriften abstrahiert zu formulieren, auch wenn ein Einzelfall einer Regelung unterworfen wird 227 . Die Abgrenzung von Entscheidungen gegenüber Normen erfolgt in der Rechtsprechung nicht allein danach, ob die Gemeinschaftsorgane bei dem Erlass des Rechtsaktes abstrakte Formulierungen gewählt haben. Zur Feststellung, ob eine Vorschrift allgemeine Geltung hat, werden weitere Gesichtspunkte herangezogen. Genannt werden der Sinn und Zweck des Rechtsaktes, der Regelungszusammenhang, in den der Rechtsakt sich einfügt, sowie die Natur des Rechtsaktes selbst228. Auffallend ist die Berücksichtigung subjektiver Elemente. So ist für die Gemeinschaftsgerichte die Zielsetzung und Zweckbestimmung des Rechtsaktes229 von BeBeauport u. a./Rat, 1979,17, Rn. 13 ff.; Rs. C-131 /92 - Thierry Arnau u. a./Rat, Slg. 1993, 1-2573, Rn. 8,13. 225 EUG, RS. T-482/93 - Martin Weber u. Maria Weber u. Martin Weber GdbR/Kommission, Slg. 1996, I I - 609, Rn. 65; Rs. T-298/94 - Roquette Frères SA/Rat, Slg. 1996, Π 1531, Rn. 43. 226 Oppermarut, Europarecht, Rn. 752; Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht Band Π, S. 939. 227 Craig/de Bùrva, EU Law, S. 494; Daig, Nichügkeits- und Untätigkeitsklagen im Recht der Europäischen Gemeinschaften, S. 87; kritisch zur Brauchbarkeit von Gattungsbegriffen in diesem Zusammenhang auch: Bleckmann, Zur Klagebefugnis für die Individualklage vor dem Europäischen Gerichtshof, in: FS für Menger, S. 871 (884). 228 EUGH, RS. 45/81 - Alexander Moksel Import-Export GmbH & Co Handels KG/ Kommission, Slg. 1982,1129, Rn. 19. 229 EUG, Rs. T-109/97 - Molkerei Großbraunshain GmbH u. Bene Nahrungsmittel GmbH/Kommission, Slg. 1998, Π - 3533, Rn. 52; Rs. T-298/94 - Roquette Frères SA/Rat, Slg. 1996, Π - 1531, Rn. 38 u. 42.

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deutung, und es wird gefragt, ob mit dem Erlass der Vorschriften speziell auf die Kläger „abgezielt" wurde 230 . Inwieweit diese subjektiven Aspekte einer objektiven Kontrolle zugänglich sind, ist jedoch fraglich. Der Sinn und Zweck eines Rechtsaktes kann ebenso wie der zu regelnde Sachverhalt und der Kreis der Personen, die der Regelung unterworfen werden, abstrakt formuliert werden. Dem restriktiven Verständnis des Entscheidungsbegriffs gegenüber ist in der Literatur die Forderung erhoben worden, Rechtsakte, die den Allgemeinverfügungen im deutschen Verwaltungsrecht entsprechen, als anfechtbare Entscheidungen einzustufen 231. Allkemper geht davon aus, dass nur Entscheidungen einzelne Personen individuell und unmittelbar betreffen könnten und daher anhand dieser Merkmale der Entscheidungscharakter zu bestimmen sei 232 . Das individuelle Betroffensein und entsprechend den Entscheidungscharakter fasst er aber derart weit, dass keine Abgrenzung zwischen Normen und Entscheidungen mehr möglich ist. Ihm genügt eine rein faktische Beeinträchtigung der Rechts- oder Interessensphäre des Einzelnen 233 . Es ist aber nicht richtig, dass nur Entscheidungen in die Rechts- oder Interessenpositionen Einzelner eingreifen können, Normen dagegen nicht. Hierin kann keinesfalls ein Differenzierungskriterium zwischen Entscheidungen und Normen gesehen werden. Greift eine Norm in den Rechts- bzw. Interessenkreis von Personen ein, wirkt sie unmittelbar belastend, ohne jedoch allein aus diesem Grund ihre allgemeine Geltung zu verlieren. Ebenso ist nicht jede Person, die einer Regelung unterworfen ist, Adressat einer „Entscheidung". Aufgrund der Schwierigkeiten, die allgemeine Geltung einer Maßnahme anhand der Kriterien des objektiven Sachverhalts und abstrakt gefassten Personenkreises zu bestimmen, ist fraglich, ob sich Sachverhalt und Adressatenkreis einer Entscheidung nicht doch eindeutig bestimmen lassen. Der Sachverhalt erweist sich hierzu als nicht geeignet. Der vielgebrauchte Begriff des Einzelfalls ist zu ungenau, da der Regelungsgegenstand schwer zu fassen ist. Demgegenüber könnte das Kriterium der Bestimmtheit bzw. Bestimmbarkeit des Adressatenkreises zur Feststellung des Entscheidungscharakters zweckdienlich sein. Die bloße Bestimmbarkeit der durch einen normativen Rechtsakt betroffenen 230 EUG, RS. T-100/94 - Kapniki A. Michailidis AE u. a./Kommission, Slg. 1998, Π 3115, Rn. 59. 231 Ζ. B. von Winterfeld, NJW 1988,1409 (1411); von Danwitz, NJW 1993,1108 (1114 f.); Allkemper, Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, S. 66 ff. 232 Allkemper, Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, S. 60. 233 So Allkemper, Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, S. 66, 74, 75. Für das individuelle Betroffensein verlangt er zwar formal, dass der Betroffene sich aus dem Kreis der übrigen Marktteilnehmer herauskristallisieren lässt, befindet aber jede besondere Eigenschaft oder Handlung als ausreichend hierfür, etwa auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Berufsgruppe, vgl. S. 68, 74 f.

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Personen zu einem gegebenen Zeitpunkt kann - insoweit ist der Rechtsprechung uneingeschränkt zuzustimmen - keinesfalls die Abgrenzung von Entscheidungen gegenüber Normen leisten234. Die Personen, die zu einem gegebenen Zeitpunkt, in dem die Maßnahme erlassen wird, von ihr betroffen sind, sind ohne Ausnahme zumindest theoretisch bestimmbar, auch wenn erhebliche, praktisch überaus schwierige Ausforschungsmaßnahmen dazu erforderlich wären. Es könnte hingegen die Bestimmtheit der betroffenen Personen ein taugliches Differenzierungsmerkmal bieten, wenn man dafür verlangt, dass der Kreis der Betroffenen in dem Zeitpunkt, in welchem eine Maßnahme erlassen wird, unveränderlich feststehen muss235. Es dürfen dann in Zukunft keine weiteren Personen hinzutreten, die von der Maßnahme betroffen sind. Ausschlaggebend ist, dass es rechtlich nicht möglich ist, dass weitere Betroffene hinzukommen. Allein darauf, dass dies unwahrscheinlich ist, kann es nicht ankommen, da ansonsten die Abgrenzung zwischen Norm und Entscheidung wieder aufgeweicht würde. Der individualisierbare Adressatenkreis ist im Rahmen von Art. 249 Abs. 4 EG wesentlich. Die Kenntnis des Gemeinschaftsorgans von der Zahl oder gar Identität der Betroffenen ist unerheblich, auch steht es dem Entscheidungscharakter nicht entgegen, wenn eine größere Zahl von Personen betroffen ist. Die Bestimmtheit des betroffenen Personenkreises muss aber alle Personen erfassen. Nicht ausreichend ist es, wenn eine Handlung neben ihrer zukünftigen Wirkung für eine unbestimmte Vielzahl von Personen auch Rückwirkung entfaltet. Als Beispiel könnte an eine Maßnahme gedacht werden, die eine staatliche Beihilfenregelung für gemeinschaftsrechtswidrig erklärt und sowohl die Rückzahlung bereits gewählter Beihilfen anordnet als auch die zukünftige Auszahlung von Beihilfen verbietet. Die von der Rückwirkung betroffenen Personen bilden einen geschlossenen und nicht erweiterbaren Kreis. Die erforderliche eindeutige Qualifizierung wäre aber nicht mehr möglich, wenn die Maßnahme, soweit sie einen geschlossenen Personenkreis betrifft, eine Entscheidung, für alle anderen hingegen eine Norm wäre 236 . Mit dem Kriterium des geschlossenen, unveränderbaren Kreises betroffener Personen ist ein Abgrenzungskriterium gefunden, dass ex ante zu eindeutigen Ergebnissen führt. Die allgemeine Geltung von Normen besteht darin, dass sie auf eine unbestimmte Zahl zukünftiger Situationen Anwendung finden bzw. zumindest finden könnten. Neben der Klarheit und Rechtssicherheit bei der Abgrenzung zwischen Entscheidungen und Normen ist es auch rechtsschutzfreundlicher, wenn auf die Bestimmtheit des Personenkreises abgestellt wird. Soweit der Kläger nachweisen kann, dass ein geschlossener, unveränderlicher Personenkreis der Regelung durch 234

Α. A. Allkemper, Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, S. 74 f. Mit ausführlicher Argumentation: Daig, Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen im Recht der Europäischen Gemeinschaften, S. 85 ff. Ebenso: Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht Band Π, S. 935 ff. 2 36 Röhl, ZaöRV 2000, 331 (350). 235

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die streitige Maßnahme unterworfen wird, läge nach diesem Kriterium ein zulässiger Klagegegenstand vor. Gegenüber dem Merkmal des geschlossenen Personenkreises wird sich der Beweis, dass dem angefochtenen Rechtsakt kein objektiver Sachverhalt bzw. kein abstrakt gefasster Personenkreis zugrunde liegt, für den Kläger in der Regel ungleich schwieriger gestalten. Nach der neuen Klassifizierung von Rechtsakten in Art. 32 des Verfassungsentwurfes werden als rechtsverbindliche Akte das Europäische Gesetz, das Europäische Rahmengesetz, die Europäische Verordnung und der Europäische Beschluss genannt. Das Europäische Gesetz unterscheidet sich von der Europäischen Verordnung dadurch, dass Ersteres ein Gesetzgebungsakt ist, Letztere dagegen keinen Gesetzescharakter aufweist. Als anfechtbare Rechtsakte im Rahmen der Individualnichtigkeitsklage sind in Art. HI-270 Abs. 4 des Verfassungsentwurfes Handlungen vorgesehen, die an den Kläger ergangen sind oder ihn unmittelbar und individuell betreffen sowie Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die den Kläger unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen. Auf das Erfordernis, dass materiell eine Entscheidung vorliegen muss, wird verzichtet. Die Beurteilung, ob ein tauglicher Klagegegenstand vorliegt, wird damit vereinfacht.

b) Beginn der Öffnung zur Anfechtbarkeit Antidumpingrecht

normativer Rechtsakte:

Die ursprüngliche, auf den Wortlaut des Art. 230 Abs. 4 EG bzw. inhaltsgleicher Vorschriften früherer Fassungen des Gemeinschaftsvertrages gestützte ablehnende Haltung der Rechtsprechung gegenüber der Anfechtbarkeit normativer Bestimmungen erfuhr zunächst für den Bereich des Antidumpingrechts Einschränkungen. Durch die Regelungen des Antidumpingrechts soll der Markt der EG geschützt werden vor schädigenden Einfuhren von Waren aus dem Ausland237. Dumping einer Ware liegt vor, wenn der Preis bei der Ausfuhr in die EG niedriger ist als der vergleichbare Preis der zum Verbrauch im Ausland bestimmten gleichartigen Ware im normalen Handelsverkehr 238. Neben dem Dumping muss zusätzlich eine Schädigung des betroffenen Wirtschaftszweiges vorliegen oder drohen bzw. die Errichtung eines Wirtschaftszweiges der Gemeinschaft erheblich verzögert werden 239. Ist die Kommission nach der Durchführung eines Untersuchungsverfahrens zu der Überzeugung gelangt, dass das Dumping einer Ware sowie die Schädigung eines Wirtschaftszweiges vorliegen, kann die Kommission entweder Erklärungen der ausführenden Unternehmen annehmen, in denen diese sich verpflichten, den Preis ihrer Ware derart anzugleichen, dass kein Dumping mehr vorliegt 240, oder die 237 238 239 240

Schwarze, EuR 1986, 217 (218). Art. 1 Abs. 2 VO 384/96/EG des Rates vom 22. 12. 1995, ABl. L (1996) 56, S. 1 ff. Art. 3 VO 384/96/EG. Art. 8 VO 384/96/EG.

. Anfechtbarkeit von Verordnungen

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Kommission kann vorläufige Schutzzölle verhängen241. Endgültige Antidumpingzölle erlässt der Rat auf Vorschlag der Kommission242. Die Besonderheit im Antidumpingrecht besteht darin, dass sowohl für die vorläufigen Zölle der Kommission als auch für die endgültigen Zölle des Rates ausschließlich die Rechtsform der Verordnung vorgesehen ist. Soweit diese Verordnungen als Rechtsakte mit normativem Charakter einzuordnen sind, bestünde für die von ihnen betroffenen Wirtschaftsteilnehmer keine direkte Anfechtungsmöglichkeit, eine Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 Abs. 4 EG wäre aufgrund des untauglichen Klagegegenstands als unzulässig abzuweisen. Diese Situation hätte im Antidumpingrecht für einen Teil der Betroffenen zu Rechtsschutzlücken führen können. Den Importeuren der gedumpten Ware steht der Rechtsweg zu den nationalen Gerichten offen. Wird der Antidumpingzoll von den zuständigen mitgliedstaatlichen Behörden erhoben, kann der betroffene Importeur dagegen Klage erheben. In dem Verfahren vor dem nationalen Gericht besteht wiederum die Möglichkeit der Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens. Den Herstellern und den Exporteuren der Ware hingegen steht neben der direkten Klage auf Gemeinschaftsebene kein anderer Rechtsweg offen, da die Erhebung des Antidumpingzolls bei der Einfuhr der Ware in die Gemeinschaft gegenüber dem Importeur erhoben wird. Gegenüber dem Hersteller oder Exporteur ergeht kein anfechtbarer nationaler Rechtsakt. Damit ist für diese Gruppe von Betroffenen die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 Abs. 4 EG gegen die Zollverordnungen nach Art. 7 bzw. 9 VO 384/96/EG von herausragender Bedeutung. In frühen Entscheidungen hat der EuGH die angefochtene Verordnung als tauglichen Klagegegenstand angesehen, indem er sie als Sammelentscheidung einordnete 243 . Von dieser Vorgehensweise wurde jedoch wieder Abstand genommen. Der EuGH hat Nichtigkeitsklagen als zulässig erachtet, dies aber nicht mit der Figur der Sammelentscheidung in Form einer Verordnung begründet. Vielmehr wurde der normative Rechtscharakter der Antidumpingverordnung bestätigt und hinzugefügt, es sei dadurch nicht ausgeschlossen, dass bestimmte Wirtschaftsteilnehmer unmittelbar und individuell betroffen seien244. Das unmittelbare und individuelle Betroffensein war hinreichend für die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage, dem Rechtscharakter der Verordnung kam für diese Frage keine eigenständige Bedeutung mehr zu.

241 Art. 7 VO 384/96/EG. 2« Art. 9 VO 384/96/EG. 243 ζ. B. EuGH, Rs. 113/77 - NTN Toyo Bearing Company Ltd. u. a./Rat, Slg. 1979, 1185, Rn. 11. 244 EuGH, Verb. Rs. 239 u. 275/82 - Allied Corporation u. a./Kommission, Slg. 1984, 1005, Rn. 12; Rs. 53/83 - Allied Corporation u. a./Rat, Slg. 1985, 1621, Rn. 4; Rs. C-358/89 - Extramet Industrie SA/Rat, Slg. 1991,1 - 2501, Rn. 13/14.

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C. Entwicklung und Bewertung der Rechtsprechung von EuGH und EuG

Die Klagebefugnis knüpft in diesen und weiteren Entscheidungen an unterschiedliche Kriterien an und wurde bejaht bei Beschwerdeführern, die in der Verordnung namentlich genannt sind oder von den vorhergehenden Untersuchungen betroffen waren, welche die Einleitung des Verfahrens initiiert hatten oder deren Wiederverkaufspreis für die Ware zur Ermittlung des Ausfuhrpreises zugrunde gelegt wurde 245 . Es muss sich aus diesen Gesichtspunkten eine besondere Situation ergeben, die den Kläger aus dem Kreis aller übrigen Wirtschaftsteilnehmer heraushebt 246 . Exporteure und Hersteller des Produkts sowie die mit ihnen verbundenen, sogenannten abhängigen Importeure können zumeist ein individuelles Betroffensein im Sinne der genannten Kriterien darlegen, so dass die von ihnen erhobenen Klagen überwiegend für zulässig befunden werden 247. Für unabhängige Importeure, die nicht mit Exporteuren oder Herstellern verbunden sind, gestaltet sich der Nachweis, individuell betroffen zu sein, hingegen erheblich schwieriger. Der EuGH sieht sie allein aufgrund ihrer objektiven Eigenschaft als Importeure des fraglichen Produkts als betroffen an, was für die Zulässigkeit von Nichtigkeitsklagen nicht ausreichend sei 248 . Im Urteil Extramet wurde ausnahmsweise die Nichtigkeitsklage eines unabhängigen Importeurs für zulässig befunden, weil besondere Umstände vorlagen, die das individuelle Betroffensein der Klägerin nach Ansicht des EuGH begründeten. Die Klägerin war der größte Importeur und zugleich Endverbraucher des Erzeugnisses, das den Gegenstand der Antidumpingmaßnahme bildete. Darüber hinaus hing die wirtschaftliche Tätigkeit der Klägerin sehr weitgehend von diesen Einfuhren ab und wurde durch die streitige Verordnung ernsthaft beeinträchtigt, da nur wenige Produzenten das fragliche Erzeugnis herstellten und die Klägerin Schwierigkeiten hatte, sich bei dem einzigen Hersteller der Gemeinschaft zu versorgen, der gleichzeitig ihr Hauptkonkurrent für das Verarbeitungserzeugnis war 249 . Auch wenn die im Urteil Extramet aufgestellten Kriterien nicht abschließend sind, so wird doch für die Klagen unabhängiger Importeure nach wie vor ein strenger Maßstab zur Bestimmung der individuellen Betroffenheit angelegt250.

245 EUGH, C-133/87 u. C-150/87 - Nashua Corporation u. a./Kommission u. Rat, Slg. 1990,1 - 719, Rn. 14, 15; Rs. C-156/87 - Gestetner Holdings plc/Rat u. Kommission, Slg. 1990,1 - 781, Rn. 17,18; Rs. T-597/97 - Euromin SA/Rat, Slg. 2000, Π - 2419, Rn. 45. 246 Berrisch, Verfahrensrechtlicher und gerichtlicher Rechtsschutz im EG-Antidumpingrecht aus der Sicht der Praxis, in: Individualrechtsschutz in der EG und der WTO, S. 177 (189); EuG, Rs. T-598/97 - British Shoe Corporation Footwear Supplies Ltd u. a./Rat, Slg. 2002, Π - 1155, Rn. 61. 247 Berrisch, Verfahrensrechtlicher und gerichtlicher Rechtsschutz im EG-Antidumpingrecht aus der Sicht der Praxis, in: Individualrechtsschutz in der EG und der WTO, S. 177

(188).

248 Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 522 m. w. N. 249 EuGH, Rs. C-358/89 - Extramet Industrie SA/Rat, Slg. 1991,1 - 2501, Rn. 17. 250 EUG, RS. T-598/97 - British Shoe Corporation Footwear Supplies Ltd u. a./Rat, Slg. 2002, Π - 1 1 5 5 , Rn. 49 ff.

II. Anfechtbarkeit von Verordnungen

c) Anerkennung der generellen Anfechtbarkeit

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von Normativakten

Wegen der Besonderheiten des Antidumpingrechts konnte zunächst angenommen werden, es handle sich um eine spezifische Rechtsprechung für diesen Bereich 251 . In der Folgezeit blieb die Öffnung der Nichtigkeitsklage für die Angreifbarkeit normativer Rechtsakte aber nicht auf dieses Rechtsgebiet beschränkt.

aa) Urteil des EuGH vom 18. Mai 1994 in der Rechtssache C-309/89 - Codorniu Das Urteil in der Rechtssache Codorniu brachte den Durchbruch für die Anfechtbarkeit normativer Verordnungsbestimmungen in allen Rechtsgebieten. In dieser Rechtssache wandte sich die Klägerin, eine mit der Herstellung und dem Vertrieb von Qualitätsschaumweinen befasste spanische Gesellschaft, gegen die Verordnung 2054/89/EWG vom 19. 06. 1989 252 , die eine Regelung enthielt, nach welcher der Begriff „crémant" für Qualitätsschaumweine vorbehalten war, die in Frankreich oder Luxemburg hergestellt wurden. Die Klägerin war Inhaberin eines spanischen Markenzeichens, das seit 1924 den Begriff „Gran Cremant" beinhaltete. (1) Schlussanträge des Generalanwalts Lenz Generalanwalt Lenz stellte die Frage der Rechtsnatur der angegriffenen Maßnahme an den Anfang seiner Prüfung zur Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage. Da die Verordnungsbestimmung für objektive Sachverhalte gelte und Rechtswirkungen für allgemein und abstrakt umschriebene Personengruppen zeitigte, weise sie unproblematisch normativen Charakter auf 253 . Anschließend erörterte er die möglichen Konsequenzen für die Zulässigkeit der Klage. Kritisch stand Generalanwalt Lenz der Möglichkeit gegenüber, die Klage allein aufgrund des normativen Charakters der Vorschrift als unzulässig abzuweisen. Die generelle Unzulässigkeit einer Klage gegen Normativakte könne die Situation des Klägers nicht hinreichend berücksichtigen und versage den Rechtsschutz letztlich nur deshalb, weil andere Personen von der Regelung erfasst sind, die sich nicht in einer adressatenähnlichen Stellung befinden. Seiner Ansicht nach ist damit ein falscher Bezugspunkt gewählt. Seine Ablehnung begründete er damit, dass die adressatenähnliche Situation des Klägers für die Klagebefugnis ausschlaggebend sein müsse. Dies ergebe sich aus der Funktion der Nichtigkeitsklage, die eben in ihrem 251 So: Greaves , EL Rev. 1986,119 (131). 252 ABl. L 202, S. 12. 253 GA Lenz, Schlussanträge in der Rs. C-309/89 - Codorniu SA/Rat, Slg. 1994, I 1853,1-1856, Rn. 19, 20. 7 Schulte

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C. Entwicklung und Bewertung der Rechtsprechung von EuGH und EuG

Anwendungsbereich auch individuellen Rechtsschutz gewährleisten solle. Dieses Prinzip erkannte Generalanwalt Lenz darin wieder, dass für Klagen gegen Entscheidungen allein die Situation des Klägers von Bedeutung ist, nicht jedoch die Wirkungen, welche die Entscheidung auf andere Personen hat. Zudem müsse die geforderte materielle Betrachtungsweise der Voraussetzung der Entscheidung sich an der Sicht des Klägers orientieren und sei damit unabhängig von der Rechtsform gegeben, wenn die Maßnahme ihn wie einen Adressaten beträfe 254. Bei der Erörterung weiterer Schlüsse für die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage gegen Normativakte setzte Generalanwalt Lenz die Orientierung an der spezifischen Situation des Klägers als Prämisse voraus. Als weiterer Weg, zur Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage zu kommen, wurde kurz angesprochen, ob eine Maßnahme einigen Personen gegenüber eine normative Verordnung, anderen gegenüber eine Entscheidung darstellen könne. Diese Möglichkeit wurde von Generalanwalt Lenz gleichfalls abgelehnt, allerdings ohne Angabe einer nennenswerten Begründung255. Schließlich favorisierte Generalanwalt Lenz den gänzlichen Verzicht auf das Kriterium der Entscheidung. Die Voraussetzungen der individuellen und unmittelbaren Betroffenheit seien ausreichend, um die Zulässigkeit der Klage annehmen zu können. Er verwies diesbezüglich auf die Rechtsprechung des EuGH im Antidumpingrecht, nach welcher der normative Rechtscharakter einer Maßnahme nicht ausschließt, dass bestimmte Wirtschaftsteilnehmer unmittelbar und individuell betroffen sind und dass diese dann Nichtigkeitsklage erheben können. Ob eine Verordnung als einzige Rechtsform für Maßnahmen vorgesehen ist wie im Antidumpingrecht oder die Wahl einer normativen Rechtsform zwar nicht zwingend vorgeschrieben, aber doch nach Inhalt und Zweck der zu treffenden Regelung angezeigt ist, stelle für die Frage nach der Anfechtbarkeit der Maßnahme keinen relevanten Unterschied dar, so dass die Rechtsprechung zum Antidumpingrecht übertragbar sei 256 . Unterstützt in seiner These, dass es entscheidend auf die besondere Situation des Klägers ankäme, sah sich Generalanwalt Lenz dadurch, dass nach seiner Ansicht der Gerichtshof die Voraussetzungen der Entscheidung und des individuellen Betroffenseins anhand derselben Kriterien prüft 257 . Die für das individuelle Betroffensein geforderte herausgehobene Stellung prüfte und bejahte Generalanwalt Lenz anhand derselben Merkmale, die der EuGH in der Rechtssache Extramet als maßgeblich erachtet hatte, nämlich der besonderen Stellung der Klägerin auf dem Markt und der schwerwiegenden Auswirkungen der Maßnahme auf das Unternehmen der Klägerin 258. 254 255 256 257 258

GA Lenz, GA Lenz, GA Lenz, GA Lenz, GA Lenz,

a. a. O., Rn. 25 bis 27. a. a. O., Rn. 33. a. a. O., Rn. 35 f. a. a. O., Rn. 34. a. a. O., Rn. 53-64.

II. Anfechtbarkeit von Verordnungen

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(2) Urteil des Gerichtshofes Der Gerichtshof beschäftigte sich in seinem Urteil zunächst mit der Frage, ob die streitige Verordnung normativen Charakter besaß. Er bejahte dies, da die Verordnung aufgrund einer objektiven rechtlichen bzw. tatsächlichen Situation anzuwenden sei und daher allgemeine Geltung habe. Die Bestimmbarkeit der Personen, welche der Regelung durch einen Rechtsakt unterworfen sind, vermöge an dem normativen Rechtscharakter nichts zu ändern 259. Sodann wurde wie schon in der Rechtsprechung zur Anfechtbarkeit von Verordnungen im Antidumpingrecht fortgefahren, dass es gleichwohl nicht ausgeschlossen sei, dass der normative Rechtsakt einige Wirtschaftsteilnehmer individuell betreffe 260. Für die Klägerin wurde dies angenommen, da sie an der Nutzung ihres seit 1924 eingetragenen Markenzeichens gehindert sei 261 . Die Bedeutung dieser Rechtssache liegt darin, dass sowohl der Generalanwalt als auch der Gerichtshof sich für die Zulässigkeit der Individualnichtigkeitsklage von der negativen Voraussetzung gelöst haben, dass die angegriffene Maßnahme keinen normativen Rechtscharakter haben darf. Dem normativen Charakter wurde keine entscheidende Bedeutung beigemessen, sondern der EuGH und Generalanwalt Lenz haben sich im Wesentlichen an der Situation des Klägers orientiert. Damit ist eine bemerkenswerte Abkehr von dem Verständnis des Art. 230 Abs. 4 EG verbunden, das im Gemeinschaftsrecht über Jahrzehnte vorherrschend war. Mittlerweile entspricht es gefestigter Rechtsprechung, dass eine Nichtigkeitsklage nach Art. 230 Abs. 4 EG nicht allein deshalb als unzulässig abgewiesen werden kann, weil sie sich gegen einen Akt wendet, der nicht nur formal eine Verordnung darstellt, sondern auch materiell von normativer Rechtsnatur ist.

bb) Begründungsmodelle Die Anfechtbarkeit von normativen Rechtsakten stellt eine fundamentale Abkehr von der früheren Rechtsprechung zu Art. 230 Abs. 4 EG dar und verlangt daher nach einer Begründung. (1) Gemeinschaftsgerichte Zunächst sollen die Ausführungen der Gemeinschaftsgerichte zur Anfechtbarkeit normativer Rechtsakte untersucht werden.

259 EUGH, RS. C-309/89 - Codorniu SA/Rat, Slg. 1994,1 - 1853, Rn. 18. 260 EUGH, a. a. O., R n . 19.

261 EuGH, a. a. O., Rn. 21/22. 7*

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C. Entwicklung und Bewertung der Rechtsprechung von EuGH und EuG

(a) Das EuG und die These von den hybriden Rechtsakten Generalanwalt Warner stellte schon 1979 im Rahmen einer Nichtigkeitsklage gegen eine Antidumpingverordnung die These auf, dass Rechtsakte hybride Gebilde darstellen könnten. Eine Verordnung könne hinsichtlich bestimmter Personen ein normativer Rechtsakt sein, nämlich auch bei materieller Betrachtung eine Verordnung, anderen Personen gegenüber könne sich dieselbe Maßnahme als Entscheidung darstellen262. Auch das EuG erwärmte sich für die These von den hybriden Rechtsakten, indem es ausführte, dass eine Handlung mit allgemeiner Geltung bestimmte Personen individuell betreffen könne und in einem solchen Fall gleichzeitig eine generelle Norm und in Bezug auf die individuell Betroffenen eine Entscheidung sein könne263. In der Literatur ist diese Figur ebenfalls übernommen worden 264. Mit dieser Annahme soll die Anfechtbarkeit von Verordnungen durch nicht-privilegierte Kläger begründet werden, ohne das Erfordernis der Entscheidung vollkommen aufzugeben. Relevant ist nach dieser Ansicht allein das Verhältnis des Klagegegenstandes zum Kläger. Die These von den hybriden Rechtsakten ermöglicht es damit den individuell Betroffenen, Rechtsakte anzufechten, die nach der älteren Rechtsprechung als Normativakte einzustufen und folglich unanfechtbar waren. Fraglich ist jedoch, ob mit der These von den hybriden Rechtsakten hinreichend die grundsätzliche Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage gegen Normativakte begründet werden kann oder ob sie vielmehr abzulehnen ist. Betrachtet man den Wortlaut von Art. 230 Abs. 4 EG, ist diesem nichts zu entnehmen, was die Annahme hybrider Rechtsakte als anfechtbare Handlungen unterstützt. Die einzig in Betracht kommende zweite Variante dieser Norm (Entscheidungen, die als Verordnung ergangen sind) verlangt, dass der in der Rechtsform der Verordnung ergangene Rechtsakt seinem materiell-rechtlichen Charakter nach als Entscheidung einzuordnen sein muss. Dass die angefochtene Handlung auch in materieller Hinsicht eine Verordnung, mithin ein Rechtsakt allgemeiner Geltung sein dürfe, ist in Art. 230 Abs. 4 EG nicht zugelassen. Deutlicher noch als in der deutschen Fassung des EG-Vertrages tritt dies in der französischen und der italienischen Fassung zu Tage. Dort werden die anfechtbaren Rechtsakte der zweiten Variante wie folgt beschrieben: sous V apparence d'un règlement bzw. le decisioni , che pur apparendo come un regolamento. Man kann wohl kaum ernsthaft vertreten, dass ein Rechtsakt, der die Form einer Verordnung hat und darüber hinaus in materieller Hinsicht allgemeine Geltung besitzt, lediglich sous l'apparence d'un 262 GA Warner, Schlussanträge in der Rs. 113/77 - NTN Toyo Bearing Company Ltd. u. a./Rat, Slg. 1979, 1185, 1246. Zustimmend GA Verloren van Themaat, Schlussanträge in den Verb. Rs. 239 u. 275 / 82 - Allied Corporation u. a. / Kommission, Slg. 1984, 1005,1041. 263 EUG, Verb. Rs. T-481/93 u. T-484/93 - Vereniging van Exporteurs in Levende Varkens u. a. / Kommission, Slg. 1995, I I - 2941, Rn. 50; Rs. T-47/95 - Terre Rouge Consultant SA u. a./Kommission, Slg. 1997, Π - 481, Rn. 43; Rs. T-122/96 - Federazione nazionale del commercio oleario (Federolio) / Kommission, Slg. 1997, Π - 1559, Rn. 58. 264 Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 361.

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règlement ergangen ist. Er ist eine Verordnung. Schon der Wortlaut von Art. 230 Abs. 4 EG streitet demnach eindeutig gegen die These von den hybriden Rechtsakten. Aus dem Wortlaut von Art. 230 Abs. 4, EG lässt sich auch der telos der Norm ableiten, mit dem die Hybridthese ebenfalls nicht zu vereinbaren ist. Die Voraussetzung der Entscheidung in Art. 230 Abs. 4, zweite Variante EG wird ausgehöhlt. Art. 230 Abs. 4 EG verlangt in allen drei Varianten, dass eine Entscheidung Klagegegenstand ist und stellt für den Fall, dass sie nicht an den Kläger ergangen ist, zusätzliche Anforderungen an seine Betroffenheit. Klagegegenstand und Klagebefugnis sind als kumulative Voraussetzungen konzipiert 265. Die Hybridtheorie macht jedoch den Charakter eines Rechtsaktes als Entscheidung ausschließlich von dem individuellen Betroffensein des Klägers abhängig. Ein Prüfungspunkt des tauglichen Klagegegenstands, der einen eigenständigen, über die Bedeutung des individuellen Betroffenseins hinausgehenden Gehalt aufweist, ist damit nicht mehr zu erkennen. Die Hybridtheorie ist bemüht, den Wortlaut des Art. 230 Abs. 4 EG einzuhalten, der Sinn der Vorschrift hingegen geht verloren. Art. 230 Abs. 4 EG schließt nämlich die Anfechtbarkeit von normativen Rechtsakten aus, auch wenn diese einzelne Personen individuell betreffen. Sollte es sich bei dem individuellen Betroffensein und dem Entscheidungscharakter nicht um kumulative, sondern inhaltsgleiche Voraussetzungen handeln, stellt sich die Frage, warum Art. 230 Abs. 4 EG nicht dahingehend formuliert ist, dass natürliche und juristische Personen Rechtsakte anfechten können, die sie unmittelbar und individuell betreffen. Letztlich bedeutet das individuelle Betroffensein bestimmter Personen lediglich, dass der normative Rechtsakt sich auf verschiedene Rechtssubjekte unterschiedlich auswirkt. Die Rechtsprechung hat aber zu Recht entschieden, dass dieser Umstand für die Rechtsnatur einer Handlung keinerlei Bedeutung hat 266 . Warum sollte eine Maßnahme mit allgemeiner Geltung, die auf eine unbestimmte, zukünftig beliebig erweiterbare Zahl von Personen Anwendung findet, „zugleich" als Entscheidung einzustufen sein, nur weil beispielsweise einer Personen ein spezifisches Recht aberkannt wird? Besonders schwerwiegende Folgen können allenfalls Fragen nach der Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme aufwerfen. Eine weitere Schwäche dieser Konstruktion könnte darin liegen, dass die Doppelqualifikation der Rechtsnatur einer Maßnahme bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme nicht beibehalten werden kann. Wenn eine Klage gegen eine Verordnung unter Anwendung der Hybridtheorie für zulässig erklärt wird, folgt die 265 Schwarze, DVB1. 2002,1297 (1300). 266 EUGH, RS. 6/68 - Zuckerfabrik Watenstedt GmbH/Rat, Slg. 1968, 611, 621; Verb. Rs. 789 u. 790/79 - Calpak S.p.A. u. Società Emiliana Lavorazione Frutta S.p.A./Kommission, Slg. 1980, 1949, Rn. 9; Rs. 242/81 - SA Roquette Frères/Rat, Slg. 1982, 3213, Rn. 7; Rs. 307/81 - Alusuisse Italia S.p.A./Rat und Kommission, Slg. 1982, 3463, Rn. 11; Rs. 64/80 - F. Guiffrida u. G. Campogrande/Rat, Slg. 1981, 693, Rn. 7; Verb. Rs. 97, 193, 99 u. 215/86 - Asteris AE u. a. sowie Griechische Republik/Kommission, Slg. 1988, 2181, Rn. 13.

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Priifung der Begründetheit und damit die Rechtmäßigkeitskontrolle gemäß Art. 230 Abs. 2 EG. Der EG-Vertrag sieht keine hybriden Rechtsakte vor, wenn in Art. 249 EG die verschiedenen Sekundärrechtsakte aufgezählt und definiert werden. Aus diesem Grund stößt man auf geradezu unüberwindliche Hürden, wenn die formellen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen eines hybriden Rechtsaktes bestimmt werden sollten. Die formelle Rechtmäßigkeit eines Rechtsaktes hängt von der Einhaltung der Zuständigkeits-, Verfahrens- und Formvorschriften ab. In der Literatur ist angenommen worden, dass die These vom Hybridcharakter für die Prüfung der formellen Rechtmäßigkeit keinen tauglichen Anknüpfungspunkt biete, denn die formellen Anforderungen an einen Rechtsakt differierten je nach Einordnung des Rechtsaktes als Entscheidung, Richtlinie oder Verordnung und setzten häufig eine eindeutige Qualifizierung voraus. Exemplarisch werden die unterschiedlichen Anforderungen an die Bekanntgabe und Veröffentlichung und daraus folgend die Wirksamkeit eines Rechtsaktes genannt, vgl. Art. 254 EG 2 6 7 . Damit ist jedenfalls die Ansicht widerlegt, die bei hybriden Rechtsakten den „Wirkungsteil", der Einzelne individuell betrifft, als Entscheidung im Sinne des Art. 249 Abs. 4 EG klassifiziert 268. Zwar kommt es im Rahmen des Art. 230 Abs. 4 EG grundsätzlich nicht auf die Form des angefochtenen Rechtsaktes an, sondern auf seinen materiellen Rechtscharakter, so dass als anfechtbare Entscheidungen auch nicht nur solche Handlungen verstanden werden, die rechtsförmlich im Sinne des Art. 249 Abs. 4 EG sind 269 . Gleichwohl sind die in Art. 230 Abs. 2 EG genannten Nichtigkeitsgründe zu beachten. Eine Doppelqualifizierung von Maßnahmen, wie sie die These vom Hybridcharakter vornimmt, ist jedenfalls dann nicht zulässig, wenn gerade daraus die Nichtigkeit eines Rechtsaktes folgt. Zunächst kommt gemäß Art. 230 Abs. 2 EG der Nichtigkeitsgrund der Unzuständigkeit in Betracht. Ein Rechtsakt ist wegen sachlicher Unzuständigkeit nichtig, wenn die Gemeinschaftsorgane sich einer unzuläs-

267 Cremer, in : Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 Rn. 36; Lengauer, Nichtigkeitsklage vor dem Europäischen Gerichtshof: Parteistellung natürlicher und juristischer Personen, S. 171 f. Fehler in der Bekanntgabe bzw. Veröffentlichung eines Rechtsaktes stellen aber keinen Nichtigkeitsgrund i. S. d. Art. 230 Abs. 2 EG dar, sondern hindern lediglich, dass die Klagefrist zu laufen beginnt, EuGH, Rs. 48/69 - Imperial Chemical Industries Ltd./Kommission, Slg. 1972, 619, Rn. 39/43. 268 So: Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 361. 269 Schmidt-Aßmann, JZ 1994, 832 (836); Krück, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann, EU- /EG-Vertrag, Art. 173 Rn. 42; Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht Band Π, S. 934; EuGH, Rs. 53/85 - AKZO Chemie BVu. AKZO Chemie UK Ltd/Kommission, Slg. 1986, 1965, Rn. 17-20; EuG, Rs. T-84/97 - Bureau européen des unions de consommateurs (BEUC)/Kommission, Slg. 1998, I I - 795, LS 1; EuG, Rs. T-3/93 - Société anonyme à participation ouvrière Compagnie nationale Air France/Kommission, Slg. 1994, Π - 121, Rn. 43 ff. u. 57 ff.

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sigen Handlungsform bedienen270. Die Annahme, ein Rechtsakt sei zugleich eine Norm und in Bezug auf bestimmte Personen eine Entscheidung, ist damit nicht möglich, wenn die Rechtsgrundlage, auf welche der streitige Rechtsakt gestützt wird, dem handelnden Gemeinschaftsorgan ausschließlich den Erlass einer Verordnung oder Richtlinie erlaubt. An diesem Punkt zeigt sich, dass die Doppelqualifizierung nicht konsequent durchgehalten werden kann. Das individuelle Betroffensein kann eben nicht mit dem Entscheidungscharakter gleichgesetzt werden. Lässt die Rechtsgrundlage einer sekundärrechtlichen Maßnahme dem Gemeinschaftsorgan die Wahl zwischen dem Erlass einer Entscheidung und einer Norm, soll eine Maßnahme, die sowohl allgemeine Geltung besitzt als auch bestimmte Personen individuell betrifft (etwa nach der CWörmw-Rechtsprechung wegen Verletzung eines spezifischen Rechts), doppelten Rechtscharakter haben. Ist nach der Rechtsgrundlage nur der Erlass einer Norm zulässig, vermag dieselbe individuelle Betroffenheit bestimmter Personen die zusätzliche Eigenschaft der Norm als Entscheidung nicht zu begründen. Als weiterer Grund für die Nichtigkeit von hybriden Rechtsakten ist die Verletzung wesentlicher Formvorschriften zu berücksichtigen, zu denen auch Verfahrensvorschriften zählen. Wesentlich ist die Verletzung solcher Vorschriften, wenn dies Einfluss auf den Inhalt des Rechtsaktes gehabt haben könnte oder wenn die Vorschrift dem Schutz des Betroffenen dient 271 . Bei Entscheidungen gehört zu den wesentlichen Verfahrensvorschriften der Grundsatz des rechtlichen Gehörs. Nach der Rechtsprechung ist es erforderlich, dass jeder potentiell Beschwerte zu den maßgeblichen Punkten vorher angehört wird, und zwar auch dann, wenn eine entsprechende explizite Verfahrensvorschrift fehlt 272 . Eine Anhörung vor Erlass eines Normativaktes ist dagegen grundsätzlich nicht erforderlich, es sei denn, dies ist ausdrücklich in einer Verfahrensvorschrift normiert. Es wird davon ausgegangen, dass die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts eine Beteiligung der betroffenen Personen nicht voraussetzen, sondern die Interessen dieser Personen durch die für den Erlass derartiger Rechtsakte zuständigen politischen Instanzen wahrgenommen werden 273.

270 EuGH, Verb. Rs. 228 und 229/82 - Ford of Europe Incorporated und Ford-Werke Aktiengesellschaft/Kommission, Slg. 1984, 1129, Rn. 16-22; Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 533. 271 Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, § 7 Rn. 96, 98; Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 535, 536. 272 EUG, Verb. Rs. T-186/97, T-187/97, T-190/97 bis T-192/97, T-210/97, T-211/97, T-216/97 bis T-218/97, T-279/97, T-280/97, T-293/97 u. T-147/99 - Kaufring AG u. a./Kommission, Slg. 2001, Π - 1337, Rn. 151,153. 273 EUG, Rs. T-122/96 - Federazione nazionale del commercio oleario (Federolio)/Kommission, Slg. 1997, Π - 1559, Rn. 75; Rs. T-109/97 - Molkerei Großsbraunshain GmbH u. Bene Nahrungsmittel GmbH/Kommission, Slg. 1998, Π - 3533, Rn. 60; Rs. T-215/00 SCEA La Conqueste/Kommission, Slg. 2001, Π - 181, Rn. 42.

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Die Gemeinschaftsorgane dürfen dem Einzelnen durch die Wahl einer bestimmten Rechtsform ebenso wenig Verfahrensrechte entziehen, wie dies im Hinblick auf anfechtbare Rechtsakte i. S. d. Art. 230 Abs. 4 EG zulässig ist. Soll ein Rechtsakt hybrider Natur sein, stehen die erlassenden Gemeinschaftsorgane vor der paradoxen Situation, unterschiedliche Verfahrensvorschriften einhalten zu müssen. Mehr noch, sie sind ex ante häufig nicht in der Lage festzustellen, ob der geplante Rechtsakt bestimmte Personen individuell betrifft. Ist der Rechtsakt aber nach der Hybridthese diesen Personen gegenüber eine Entscheidung, müssen die Verfahrensrechte gewahrt werden. Allenfalls könnte darüber nachgedacht werden, ob die Unmöglichkeit als Grenze des Grundsatzes rechtlichen Gehörs 274 hier eine Ausnahme von dem Erfordernis der Anhörung rechtfertigt. Letztlich zeigt sich aber nur wieder, dass die Doppelqualifikation von Rechtsakten systemfremd ist und zu weiteren „Kunstgriffen" und Verrenkungen nötigt. Als Ausblick auf die zukünftige Rechtslage soll kurz festgehalten werden, dass im Verfassungsentwurf die These von den hybriden Rechtsakten keinesfalls Platz hat. Anfechtbar sind nach Art. IH-270 des Verfassungsentwurfs alle Handlungen, die an den Kläger ergangen sind oder ihn unmittelbar und individuell betreffen sowie Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die ihn unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen. Ein Betroffener kann daher unter den engen Voraussetzungen des unmittelbaren und insbesondere individuellen Betroffenseins auch gegen Gesetzgebungsakte Nichtigkeitsklage erheben. Auf die Voraussetzung, dass der anfechtbare Akt eine Entscheidung sein müsse, wird im Verfassungsentwurf verzichtet. Die Rechtsakte der Union werden in Art. 32 des Verfassungsentwurfs neu bestimmt. Dabei werden auch unterschiedliche Organzuständigkeiten für die verschiedenen Maßnahmetypen festgelegt. Ζ. B. sind gemäß Art. 33 des Verfassungsentwurfs für den Erlass von Gesetzgebungsakten nur das Europäische Parlament und der Ministerrat zuständig275. Man wird daher schlechterdings nicht behaupten können, dass eine vom Europäischen Parlament und dem Ministerrat als Gesetzgebungsakt erlassene Maßnahme, die eine bestimmte Person individuell betrifft, zugleich ein Europäischer Beschluss ist (dieser entspricht der Entscheidung der geltenden Fassung des EG-Vertrages). Art. ΠΙ-270 verlangt dies auch nicht. Der Arbeitskreis geht davon aus, dass durch den Verzicht auf das Kriterium der Entscheidung nur eine Anpassung an die Rechtsprechung des Gerichtshofs bewirkt wird, der Anwendungsbereich des Art. 230 Abs. 4 EG aber nicht verändert wird 276 . Letztlich belegt aber die „rein redaktionelle" Änderung, dass die Gemeinschafts-

274 Gassner, DVB1. 1995, 16 (19); Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht Band Π, S. 1284 f. 275 Art. 33 Abs. 1 des Verfassungsentwurf sieht für den Regelfall eine kumulative Organzuständigkeit von Europäischem Parlament und Ministerrat vor, Abs. 2 erlaubt für bestimmte Fälle eine alternative Zuständigkeit unter Beteiligung des jeweils anderen Organs. 27 Arbeitskreis zur Arbeitsweise des Gerichtshofs, CONV 636/03, Rn. 23.

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gerichte die Voraussetzung des Art. 230 Abs. 4 EG zum Rechtscharakter des Klagegegenstandes schlicht nicht ernst genommen haben. Die These von den hybriden Rechtsakten kann nicht überzeugen und bietet keine hinreichende Erklärung für die Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage natürlicher und juristischer Personen gegen Normen. Eine Maßnahme kann nicht zugleich Norm und Entscheidung sein 277 . Sie behält ihren Normcharakter, auch wenn sie bestimmten Personen gegenüber besondere Wirkungen entfaltet. Der besondere Bezug zum Kläger ist nicht die einzige Voraussetzung des Art. 230 Abs. 4 EG. Die Problematik um die These von den hybriden Rechtsakten hat sich auch nicht dadurch erledigt, dass - wie in der Literatur behauptet worden ist - diese These in der Rechtsprechung nicht mehr vertreten wird 278 . Dem kann nicht zugestimmt werden, da das EuG auch in neueren Urteilen wiederholt die Hybridthese bemüht hat, indem ausgeführt wurde, ein Rechtsakt könne gleichzeitig eine generelle Norm und in Bezug auf bestimmte Beteiligte eine Entscheidung sein 279 . Doch hat sich das EuG in jüngerer Zeit zudem in einigen Urteilen der Formulierung des EuGH angeschlossen und ausgeführt, dass eine Vorschrift, die nach ihrer Rechtsnatur und ihrer Tragweite allgemeinen Charakter hat, einige Personen i. S. d. Plaumann-Formel individuell betreffen könne 280 . Dieser vom EuGH entwickelte Ansatz soll im Folgenden auf seinen Gehalt hin erörtert werden. (b) Gerichtshof Die These von den hybriden Rechtsakten lehnte der EuGH ab, als er feststellte, dass ein und dieselbe Maßnahme nicht zugleich ein Rechtsakt von allgemeiner Geltung und eine Einzelfallmaßnahme sein könne281. In der Rechtsprechung zur Anfechtbarkeit der Antidumpingzölle und in dem wegweisenden Urteil in der Rechtssache Codorniu hat er lediglich ausgeführt, dass der normative Rechtscharakter einer Maßnahme nicht ausschließe, dass einzelne Wirtschaftsteilnehmer individuell betroffen sein könnten. In späteren Entscheidun277 So deutlich noch EuGH, Rs. 45/81 - Alexander Moksel Import-Export GmbH & Co. Handels KG/Kommission, Slg. 1982, 1129, Rn. 18; Ehlers, DVB1. 1991, 605 (607); Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 Rn. 36. 278 Nettesheim, JZ 2002,928 (930). 279 EUG, Rs. T-166/99 - Luis Fernando Andres de Dios/Rat, Slg. 2001, I I - 1857, Rn. 45; Verb. Rs. T-198/95, T-171 /96, T-230/97, T-174/98 u. T-225/99 - Comafrica u. Dole Fresh Fruit Europe Ltd & Co. / Kommission, Slg. 2001, I I - 1975, Rn. 101. 280 EUG, Rs. T-298/94 - Roquette Frères SA/Rat, Slg. 1996, Π - 1531, Rn. 37; Rs. T-109/97 - Molkerei Großsbraunshain GmbH u. Bene Nahrungsmittel GmbH/Kommission, Slg. 1998, I I - 3533, Rn. 56/57; Rs. T-321/02 - Paul Vannieuwenhuyze-Morin/Parlament und Rat, noch nicht in amtlicher Sammlung, Rn. 24. 281 EuGH, Rs. 45/81 - Alexander Moksel Import-Export GmbH & Co. Handels KG/ Kommission, Slg. 1982,1129, Rn. 18.

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gen hat er die Zulässigkeit der Klage häufig allein vom individuellen und unmittelbaren Betroffensein des Klägers abhängig gemacht. Eine Erklärung oder gar dogmatische Begründung bietet der EuGH in diesen Entscheidungen nicht. Vielmehr scheint das Kriterium der Entscheidung keine Relevanz mehr zu haben für die Anfechtbarkeit einer Maßnahme nach Art. 230 Abs. 4 EG. In seiner jüngsten Rechtsprechung bemühte sich der EuGH jedoch, die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage wieder an das Merkmal der Entscheidung zu koppeln. Er führte aus, dass eine Verordnung als Handlung allgemeiner Geltung ausschließlich von den Organen der Gemeinschaft, der europäischen Zentralbank und den Mitgliedstaaten angefochten werden könne, es sei denn, eine Handlung allgemeiner Geltung betreffe bestimmte natürliche und juristische Personen individuell und hätte damit ihnen gegenüber Entscheidungscharakter282. Fraglich ist, ob sich der EuGH mit dieser Aussage der Hybridtheorie angeschlossen hat. Es könnte deshalb zweifelhaft erscheinen, weil er sich nicht der bekannten Formulierung der These von den hybriden Rechtsakten bedient hat, dass eine Handlung gleichzeitig eine generelle Norm und in Bezug auf bestimmte Personen eine Entscheidung sein könne. Aber auch mit dem „Entscheidungscharakter" beurteilt er die Rechtsnatur. Es werden allgemeine Geltung und Entscheidungscharakter auf ein und dieselbe Rechtsvorschrift bezogen. Daher liegt es nahe, dass der Gerichtshof sich der These angeschlossen hat, es gebe hybride Rechtsakte 283 . Letztlich ist ausschlaggebend, dass der EuGH die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage losgelöst von der negativen Voraussetzung des normativen Rechtsaktes einzig und allein von der Situation des Klägers abhängig macht, nämlich vom individuellen und unmittelbaren Betroffensein. Es bleibt das Problem, dass Art. 230 Abs. 4 EG mit Klagegegenstand und Klagebefugnis kumulative Voraussetzungen aufstellt. Es wird eben nicht nur festgelegt, dass der Kläger unmittelbar und individuell betroffen sein muss, sondern darüber hinaus schränkt Art. 230 Abs. 4 EG den Kreis der anfechtbaren Rechtsakte ein. Indem der EuGH diese Konstruktion übergeht, widerspricht er der in demselben Urteil erhobenen Forderung, dass auch bei rechtsschutzfreundlicher Auslegung kein Merkmal des Art. 230 Abs. 4 EG wegfallen könne, ohne dass die Gemeinschaftsgerichte die ihnen durch den Vertrag verliehenen Befugnisse überschreiten würden 284. Zwar tätigte der EuGH diese Aussage in Zusammenhang mit dem Erfordernis der individuellen Betroffenheit, doch kann für die Voraussetzung der Entscheidung, die allen drei Varianten des Art. 230 Abs. 4 EG zugrunde liegt, nichts anderes gelten. 282 EUGH, Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequenos Agricultores/Rat, Slg. 2002, I - 6677, Rn. 35, 36. 283 Hartley, The Foundations of European Community Law, S. 371. 284 EUGH, RS. C-50/00 Ρ - Union de Pequenos Agricultores/Rat, Slg. 2002, I - 6677, Rn. 44.

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Um der vom EuGH postulierten Notwendigkeit zu genügen, dass keine Voraussetzung des Art. 230 Abs. 4 EG übergangen werden darf, bliebe bei dieser Rechtsprechung nur die Interpretationsmöglichkeit, dass bei Vorliegen der Voraussetzung des individuellen Betroffenseins stets die Voraussetzung der Entscheidung als anfechtbarer Rechtsakt zugleich erfüllt ist. Dies ist jedoch nach der Rechtsprechung nicht der Fall, die ausführt, dass die allgemeine Geltung eines normativen Rechtsaktes es nicht ausschließt, dass bestimmte Personen individuell betroffen sind 285 . Dem ist zuzustimmen, da eine Maßnahme allgemeiner Geltung aufgrund ihres abstrakt gefassten und unter Umständen weiten Anwendungsbereichs durchaus unterschiedliche, auch unterschiedlich intensive Auswirkungen zeitigen kann. Daraus folgt, dass einige Personen aufgrund bestimmter persönlicher Eigenschaften oder anderer besonderer Umstände aus dem Kreis der übrigen Betroffenen herausgehoben sein und sich in einer adressatenähnlichen Stellung befinden können, die sie im Sinne der Plaumann-Formel individualisieren. Andere Personen können durch den normativen Rechtsakt demgegenüber ausschließlich in ihrer Eigenschaft als Wirtschaftsteilnehmer betroffen sein, ohne entsprechend der Plaumann-Formel individualisiert zu sein. Somit hat der EuGH ebenfalls keine dogmatisch überzeugende Begründung für die Anfechtbarkeit normativer Rechtsakte entwickelt. (2) Literatur Es genügt nicht, lediglich zu attestieren, die Gemeinschaftsgerichte ließen seit der Rechtssache Codorniu Normen als taugliche Klagegegenstände der Individualnichtigkeitsklage zu, ohne dies kritisch zu würdigen. Zum Teil ist die Literatur der These von den hybriden Rechtsakten beigetreten286, vereinzelt sind aber auch unabhängig davon Überlegungen zur Rechtfertigung dieser Rechtsfortbildung angestellt worden. (a) Argumentation Röhls Röhl vertritt die Ansicht, die Rechtsnatur des angefochtenen Aktes spiele keine Rolle. Neben der individuellen und unmittelbaren Betroffenheit des Klägers sei lediglich erforderlich, dass eine Maßnahme eines EG-Organs vorliegt, die verbindliche Rechtswirkungen erzeugt und außerhalb eines Vertragsverhältnisses ergangen ist 287 . Er weist nach, dass der Begriff der Entscheidung, der allen drei Varianten des Art. 230 Abs. 4 EG zugrunde liegt, nicht deckungsgleich ist mit dem Begriff der Entscheidung aus Art. 249 Abs. 4 EG. Ausschlaggebend sei das Merkmal der 285 EUGH, Rs. C-309/89 - Codorniu SA/Rat, Slg. 1994,1 - 1853, Rn. 19; Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequefios Agricultores/Rat, Slg. 2002,1 - 6677, Rn. 36. 286 Etwa: Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 361 ff. 287 Röhl, ZaöRV 2000, 331 (340).

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verbindlichen Rechtswirkung unabhängig davon, welche Rechtsform der angegriffene Akt habe. Verbindliche Rechtswirkung - wie von Art. 249 Abs. 4 EG für förmliche Entscheidungen gefordert - sei bei vorbereitenden Maßnahmen oder Verfahrensmaßnahmen der Kommission im Grundsatz nicht gegeben, so dass sie nicht anfechtbar seien. Eine gerichtliche Überprüfung derartiger Maßnahmen des laufenden Verfahrens sei auch aus Gründen der Gewaltenteilung nicht erwünscht288. Dennoch werde bei Verfahrensmaßnahmen, die eine endgültige Beschwer bewirken, ζ. B. durch die Beeinträchtigung von Verfahrensrechten, eine verbindliche Rechtswirkung und damit deren Anfechtbarkeit anerkannt289. Gleiches gelte für Maßnahmen mit vorläufiger Regelungswirkung290. Zudem seien auch mündliche Äußerungen anfechtbar, wenn die Rechtslage abschließend festgestellt wird 291 , obwohl förmliche Entscheidungen nach Art. 249 Abs. 4 EG schriftlich ergehen müssen292. Der Unterschied zwischen dem Begriff der Entscheidung in Art. 249 Abs. 4 EG und Art. 230 Abs. 4 EG manifestiert sich daher nach Röhls Ansicht daran, dass zu den anfechtbaren Entscheidungen nach letzterer Norm auch vorbereitende Maßnahmen, mündliche Äußerungen und Verfahrensmaßnahmen gezählt werden 293 . Die weite Auslegung des Merkmals der Entscheidung, zu welcher die Gemeinschaftsrechtsprechung im Rahmen der Nichtigkeitsklage neigt, erkläre sich aus der rechtsschutzeröffnenden Funktion dieser Voraussetzung. Nur gegen Entscheidungen ist nach dem Wortlaut des Art. 230 Abs. 4 EG der direkte Weg zu den Gemeinschaftsgerichten zugelassen, so dass diese Voraussetzung aus Rechtsschutzgründen stets weit und nicht im strikt rechtsförmlichen Sinn des Art. 249 Abs. 4 EG interpretiert worden sei 294 . Röhl entnimmt aus der rechtsschutzeröffnenden Funktion der Entscheidung und der weiten Auslegung dieses Merkmals durch die Rechtspre-

288 EUG, RS. T-64/89 - Automec Sri/Kommission, Slg. 1990, I I - 367, Rn. 46. 289 Aus der Rechtsprechung werden genannt: EuGH, Rs. 53/85 - AKZO Chemie Β V u. AKZO Chemie UK Ltd/Kommission, Slg. 1986, 1965, Rn. 17-20; EuG, Rs. T-84/97 Bureau européen des unions de consommateurs (ΒEUC) / Kommission, Slg. 1998, Π - 795, LS 1. 290

Hierzu wird auf folgende Rechtsprechung verwiesen: EuGH, Verb. Rs. 8 - 1 1 / 66 - Aktiengesellschaft Cimenteries C.B.R. Cementbedrijven N.V. u. a. /Kommission, Slg. 1967, 99, 122; EuG, Rs. T-19/91 - Société d'hygiène dermatologique de Vichy / Kommission, Slg. 1992, Π - 415, Rn. 15/16; Rs. T-120/96 - Lüly Industries Ltd/Kommission, Slg. 1998, Π 2571, Rn. 54, 55; Rs. T-241/97 - Stork Amsterdam BV/Kommission, Slg. 2000, Π - 309, Rn. 49 u. 63/64. 291 Es wird angegeben: EuGH, Verb. Rs. 316/82 u. 40/83 - Nelly Köhler/Rechnungshof, Slg. 1984, 641, Rn. 9; EuG, Rs. T-3/93 - Société anonyme à participation ouvrière Compagnie nationale Air France /Kommission, Slg. 1994,11-121, Rn. 43 ff. u. 57 ff. 292 Schmidt, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann, EU-/EG-Vertrag, Art. 191 Rn. 18. 293 Röhl, ZaöRV 2000, 331 (344, 354). 294 Röhl, ZaöRV 2000, 331 (363).

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chung, dass das Prozessrecht der Europäischen Gemeinschaft nicht auf einem rechtsformorientierten Ansatz - wie etwa das deutsche Prozessrecht - beruht. Das Prozessrecht des EGV ähnele vielmehr demfranzösischen System, in welchem ebenfalls das Merkmal der „décision" rechtsschutzeröffnende Wirkung hat und in welchem aus eben diesem Grund stets verschiedene Akte, sogar normative Rechtsakte der Verwaltung, unter diesen Begriff gefasst werden 295. Es habe mithin der Begriff der Entscheidung, obwohl er gleichlautend in Art. 249 Abs. 4 EG und Art. 230 Abs. 4 EG gebraucht wird, im Rahmen des Art. 230 Abs. 4 EG keine rechtsförmliche Bedeutung, sondern sei unabhängig von Art. 249 Abs. 4 EG ein rein prozessual zu verstehender Terminus. Daher könnten Rechtsfolgen, die aus der Qualifikation einer Vorschrift als Entscheidung i. S. d. Art. 249 Abs. 4 EG folgen, bei der Feststellung, ob eine anfechtbare Entscheidung nach Art. 230 Abs. 4 EG vorliegt, keine Rolle spielen296. Da eine rechtsformbezogene Auslegung im Rahmen des Art. 230 Abs. 4 EG mit Blick auf die Anfechtbarkeit von Verfahrensmaßnahmen und vorbereitenden Maßnahmen ohnehin nicht aufrechterhalten werden könne, will Röhl auch die auf dem Rechtsschutzauftrag des Art. 220 EG basierenderichterliche Rechtsfortbildung zur Anfechtbarkeit normativer Rechtsakte gerechtfertigt wissen297. (b) Stellungnahme Der Auffassung, dass der Entscheidungsbegriff in Art. 230 Abs. 4 EG aufgrund seiner rechtsschutzeröffnenden Funktion nicht streng rechtsförmlich gebunden sei, ist sicherlich zu folgen. Eine ausschließlich materielle Bewertung liegt nur dem Wortlaut von Art. 230 Abs. 4 zweite Variante EG zugrunde, demnach Entscheidungen mit der Nichtigkeitsklage angegriffen werden können, die als Verordnung ergangen sind. Mit Verordnung wird die Rechtsform der Maßnahme bezeichnet, mit Entscheidung ihr materieller Gehalt. Damit ist aber nicht gesagt, dass der Entscheidungsbegriff in den anderen beiden Varianten eine rechtsförmliche Bedeutung hätte und keiner materiellen Betrachtung zugänglich wäre. Zwar haben die Gemeinschaftsgerichte wiederholt festgestellt, dass der Begriff der Entscheidung in Art. 230 Abs. 4 EG nur technisch wie in Art 249 Abs. 4 EG verstanden werden könne298. Dennoch hatte sich der EuGH schon frühzeitig und in dem Bestreben, die Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen nicht restriktiv zu handhaben, von der formellen Betrachtung des Entscheidungsbegriffs gelöst und festgestellt, dass in erster Linie Gegenstand und Inhalt des Aktes von Bedeutung seien299. 295 Röhl ZaöRV 2000, 331 (338, 343, 362). 296 Röhl, ZaöRV 2000, 331 (363). 297 Röhl, ZaöRV 2000, 331 (354, 355). 298 Z.B.: EuGH, Verb. Rs. 16 u. 17/62 - Confédération nationale des producteurs de fruits et légumes u. a./Rat, Slg. 1962, 961, 978; Rs. C-10/95 - Asociación Espanola de Empresas de la Came (Asocarne)/Rat, Slg. 1995, I - 4149, Rn. 28; EuG, Rs. T-166/99 Luis Fernando Andres de Dios u. a./Rat, Slg. 2001, Π - 1857, Rn. 35.

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Es ist aber durchaus zweifelhaft, ob daraus geschlossen werden kann, dass der Qualität des Rechtsaktes für Art. 230 Abs. 4 EG überhaupt keine Bedeutung mehr zukommt. Der auf materiellen, nicht rechtsförmlichen Aspekten beruhende Ansatz der Rechtsprechung zur Bestimmung, ob der angefochtene Akt eine Entscheidung darstellt, befindet sich im Einklang mit dem Wortlaut des Art. 230 Abs. 4 EG. Dieser verweist für den Entscheidungsbegriff nicht auf Art. 249 Abs. 4 EG. Da der Terminus der Verordnung sich auf die in Art. 249 Abs. 2 EG geregelte Rechtsform bezieht, mag es naheliegend erscheinen, für die Entscheidung ebenfalls von einer Identität auszugehen, zwingend ist dieser Schluss aber nicht. Auch der materielle Entscheidungsbegriff lässt sich mit dem Wortlaut von Art. 230 Abs. 4 EG vereinbaren, so dass diese erweiternde Auslegung auf den Rechtsschutzauftrag aus Art. 220 EG gestützt werden kann. Demgegenüber gelingt es Röhl nicht, die in Art. 230 Abs. 4 EG zweite Variante getroffene Differenzierung zu erklären, nach welcher eben nicht jegliche Verordnungen anfechtbar sind, sondern nur diejenigen, die trotz ihrer Rechtsform materiell Entscheidungen sind. Neben dem Wortlautbefund ist der teleologische Gehalt des Art. 230 Abs. 4 EG zu berücksichtigen, dessen zweite Variante deutlich zum Ausdruck bringt, dass die Anfechtung von Rechtsakten, die nicht nur formell, sondern auch materiell normativen Rechtscharakter haben, durch nicht-privilegierte Kläger von den Verfassern des Gemeinschaftsvertrages nicht intendiert war. Wird der Entscheidungsbegriff weit und nicht rechtsförmlich ausgelegt, kann gleichwohl zwischen Einzelakten und normativen Rechtsakten differenziert werden. Als Abgrenzungskriterium ist weiterhin die allgemeine Geltung normativer Rechtsakte heranzuziehen. Dem entspricht es, dass in den Fällen, die Röhl anführt um nachzuweisen, dass nicht nur formelle Entscheidungen anfechtbar sind, jeweils Rechtsakte Gegenstand der Klage waren, die nicht allgemeine Geltung aufwiesen, sondern Einzelfallregelungen zum Gegenstand hatten. Der Ansatz Röhls aber gibt die Differenzierung zwischen Einzelakten und Normen auf. Damit kann Röhl insoweit zugestimmt werden, dass ein anfechtbarer Akt zwingend verbindliche Rechtswirkung aufweisen muss und dass der Rechtsform des Art. 249 Abs. 4 EG für die Zulässigkeit einer Individualnichtigkeitsklage keine entscheidende Bedeutung zukommt. Der Rechts Charakter der Entscheidung bleibt dagegen gleichwohl beachtlich und lag auch den Urteilen zugrunde, in denen verbindliche Verfahrensmaßnahmen und vorbereitende Handlungen für anfechtbar erklärt wurden. Während das von der Rechtsform des Art. 249 Abs. 4 EG gelöste Verständnis des Entscheidungsbegriffs mit Wortlaut und telos von Art. 230 Abs. 4 EG zu vereinbaren ist und eine Differenzierung zwischen Einzelakten und Normen weiterhin möglich bleibt, ist dies bei Röhls Ansatz nicht der Fall, so dass er die 299 EuGH, Verb. Rs. 16 u. 17 / 62 - Confédération nationale des producteurs de fruits et légumes u. a./Rat, Slg. 1962, 961 (978).

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Anfechtbarkeit von normativen Rechtsakten nicht überzeugend zu begründen vermag. (c) Vorschlag Lengauers Lengauer bewertet die fehlende Anfechtungsmöglichkeit in Bezug auf Verordnungen und Richtlinien als Lücke, die aufgrund eines grundlegenden Wandels der Lebensverhältnisse zur Wahrung des Gleichheitssatzes im Wege der Rechtsfortbildung durch den EuGH zu schließen sei 300 . Die Voraussetzungen für einerichterliche Rechtsfortbildung lägen vor, da die Verfasser des EG-Vertrages weder mit der Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen und ihrer legislativen Aktivität noch mit der Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien noch mit der Einbettung von Grundrechten in die Gemeinschaftsrechtsordnung gerechnet hätten. Die Schließung der Lücke soll unter Heranziehung allgemeiner Rechtsgrundsätze der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen geschlossen werden, welche großzügigere Bedingungen für Nichtigkeitsklagen Einzelner gegen normative Akte bereithielten301. Um Popularklagen auszuschließen, müsse der Kläger hinreichend persönlich betroffen sein und zu einem bestimmten und begrenzten Kreis von Personen gehören 302. Man mag der Meinung sein, dass eine Lücke im Hinblick auf die fehlende Klagemöglichkeit gegen Normen besteht. Dass diese aber planwidrig sei, ist eine sehr gewagte These, da der Individualrechtsschutz gegen Normen schon seit den 60er Jahren thematisiert wird 303 und die Mitgliedstaaten als Herren der Verträge den Wortlaut der Individualnichtigkeitsklage gleichwohl nie geändert haben. Auch wenn Lengauers Beispiele zum Wandel der Lebensverhältnisse zutreffend sind, ist damit noch nicht gesagt, dass die Verfasser des EG-Vertrages deshalb eine direkte, zentrale Klagemöglichkeit eingeführt hätten. Die Beibehaltung der Dezentralisierung des Rechtsschutzes ist ebenso denkbar. Sich im Wege derrichterlichen Rechtsfortbildung über den Wortlaut des Art. 230 Abs. 4 EG hinwegzusetzen, ist nicht ohne weiteres zulässig.

300 Lengauer, Nichtigkeitsklage vor dem Europäischen Gerichtshof: Parteistellung natürlicher und juristischer Personen, S. 173. 301 Lengauer, Nichtigkeitsklage vor dem Europäischen Gerichtshof: Parteistellung natürlicher und juristischer Personen, S. 173 f.

302 Lengauer, Nichtigkeitsklage vor dem Europäischen Gerichtshof: Parteistellung natürlicher und juristischer Personen, S. 174. 303 Vgl. unter A.

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(d) Standpunkt Cremers Nach Cremer ist die generelle Anfechtbarkeit von Normativakten nicht mit dem Wortlaut des Art. 230 Abs. 4 EG zu vereinbaren und konnte von den Gemeinschaftsgerichten dementsprechend nicht überzeugend begründet werden. Nach den Vorgaben des Gemeinschaftsvertrags wird gegen Normen Rechtsschutz grundsätzlich dezentral vor den mitgliedstaatlichen Gerichten i. V. m. dem Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 234 EG gewährleistet. Einzig der Grundsatz effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, der als Verfahrensgrundrecht ebenso im Rang von Primärrecht steht wie Art. 230 Abs. 4 EG, könne die Anfechtbarkeit von Normen rechtfertigen, wenn in einem konkreten Fall ohne das Direktklagerecht des Art. 230 Abs. 4 EG schwere und irreparable Schäden drohen. Die Einheit der Gemeinschaftsverfassung erfordere eine widerspruchsfreie Auflösung der Konfliktlage zwischen den beiden Primärrechtspositionen, so dass das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz ausnahmsweise Art. 230 Abs. 4 EG partiell überlagere 304. Diese Begründung - die vor dem Urteil des EuGH in der Rechtssache UPA entwickelt wurde - zu diskutieren ist indes erst dann sinnvoll, wenn die Anforderungen an das individuelle Betroffensein als Teil der Klagebefugnis dargestellt worden sind und der Rechtsschutz gegen Normen zwischen zentraler und dezentraler Ebene nach der neuesten Rechtsprechung in den Rechtssachen Jégo-Quéré und UPA 305 erörtert worden ist, damit festgestellt werden kann, ob überhaupt Lücken in der Ausgestaltung des Rechtsschutzes bestehen.

3. Zusammenfassung zur Anfechtbarkeit von Verordnungen Für die Anfechtbarkeit von Verordnungen im Wege der Nichtigkeitsklage galten von Anfang an andere Voraussetzungen als für die Anfechtbarkeit von Richtlinien: zum einen, weil zumindest Scheinverordnungen stets zu den zulässigen Klagegegenständen gehörten, und zum anderen, weil die unmittelbare Betroffenheit durch Verordnungen regelmäßig unproblematisch ist. Sie ergibt sich aus der im Wortlaut von Art. 249 Abs. 2 EG angeordneten unmittelbaren Geltung von Verordnungen und der entsprechenden Funktion von Verordnungen als direktes Rechtssetzungsinstrument der Gemeinschaftsorgane. Das unmittelbare Betroffensein kann allenfalls erörterungsbedürftig sein, wenn eine Verordnung Durchfuhrungsmaßnahmen vorsieht. Die Anfechtbarkeit von Scheinverordnungen ist darauf zurückzuführen, dass im Gemeinschaftsrecht der Einzelne sich direkt gegen jedwede Entscheidung, die ihn 304 Cremer, EuZW 2001, 453 (457); Cremer, EGV/EUV, Art. 230 Rn. 36. Schon 1964 im Ansatz: Daig, Zum Klagerecht von Privatpersonen nach Art. 173 Abs. 2 EWG-, 146 Abs. 2 EAG-Vertrag, in: FS für Riese, S. 187 (196). 305 V g l . unter E .

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unmittelbar und individuell betrifft, zur Wehr setzen können soll unabhängig von der Rechtsform, in der sie ergangen ist. Wesentlich komplexer stellt sich die Frage nach der Anfechtbarkeit echter, normativer Verordnungsbestimmungen dar. Während der EuGH zunächst von der Unanfechtbarkeit derartiger Rechtsakte ausging, hat später ein grundlegender Wandel in der Rechtsprechung stattgefunden. Der EuGH hat mit seinem Urteil in der Rechtssache Codorniu die Tür zur Anfechtbarkeit normativer Rechtsakte geöffnet, indem er feststellte, dass auch Normativakte einzelne Personen individuell betreffen können. Er stellt seitdem für die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage maßgeblich auf diesen Umstand ab. Auf die Anregungen einiger Generalanwälte hin hat das EuG dagegen die These aufgestellt, ein Rechtsakt könne gleichzeitig eine generelle Norm und in Bezug auf bestimmte Personen, die individuell betroffen sind, eine Entscheidung sein. Diese Hybridtheorie vertritt das EuG auch noch in neueren Entscheidungen. Eine tragfähige Begründung für die Anfechtbarkeit von Normen durch nicht-privilegierte Kläger haben beide Gerichte nicht beibringen können. Es wird jeweils nur noch als ausschlaggebend erachtet, ob die angegriffene Maßnahme den Kläger individuell betrifft, der Rechtscharakter als Entscheidung oder Normativakt ist nicht mehr entscheidungserheblich. Dabei wird außer Acht gelassen, dass Art. 230 Abs. 4 EG mit dem Klagegegenstand und der Klagebefugnis kumulative Voraussetzung für die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage aufstellt. Ferner kann der von Röhl vertretene Ansatz keine überzeugende Begründung für die Anfechtbarkeit von Normativakten bieten. Er weist darauf hin, dass der Entscheidungsbegriff der Nichtigkeitsklage im Hinblick auf Verfahrensmaßnahmen und vorbereitende Akte nicht formal i. S. v. Art. 249 Abs. 4 EG ausgelegt werde, obwohl die Rechtsprechung bis heute eine inhaltliche Übereinstimmung der Entscheidungsbegriffe in Art. 230 Abs. 4 und Art. 249 Abs. 4 EG postuliert 306. Wenn eine rechtsformbezogene Auslegung aber ohnehin nicht haltbar sei, dann könnten auch Normativakte im Wege der Rechtsfortbildung als zulässige Klagegegenstände anerkannt werden. Dabei wird verkannt, dass die genannten Abweichungen vom formellen Entscheidungsbegriff dennoch keine Maßnahmen mit allgemeiner Geltung betrafen. Diese Differenzierung, die Art. 230 Abs. 4 EG in seiner zweiten Variante deutlich vorsieht, wird durch die Einbeziehung von Verfahrensmaßnahmen und vorbereitenden Akten nicht durchbrochen. Röhl hingegen gibt die Differenzierung zwischen Normen und Entscheidungen ohne hinreichenden Grund auf.

306 EUG, RS. T-166/99 - Luis Fernando Andres de Dios u. a./Rat, Slg. 2001, I I - 1857, Rn. 35. 8 Schulte

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ΙΠ. Das individuelle Betroffensein Das individuelle Betroffensein hat sich in der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte als die höchste Hürde auf dem Weg zur Zulässigkeit einer Individualnichtigkeitsklage erwiesen 307. Schon 1963 äußerte sich der EuGH grundlegend dazu, wann ein Kläger als von einer Maßnahme individuell betroffen anzusehen ist. Nach der sogenannten Plaumann-Formel, an welcher die Rechtsprechung bis heute festhält, kann derjenige, der nicht Adressat einer Entscheidung ist, nur dann geltend machen, von ihr individuell betroffen zu sein, wenn die Entscheidung ihn wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie einen Adressaten308. Ungeachtet der in der Literatur geübten Kritik 309 an dieser restriktiven Auslegung der individuellen Betroffenheit haben die Gemeinschaftsgerichte seither an dieser Formulierung festgehalten. Eine geradezu revolutionäre Veränderung schien sich anzubahnen, als Generalanwalt Jacobs in der Rechtssache UPA in seinen Schlussanträgen am 21. 03. 2002 mit ausführlicher Argumentation dafür plädierte, das Merkmal der individuellen Betroffenheit weiter als bisher auszulegen und damit insbesondere gegen unmittelbar belastende Normen den direkten Zugang zur Gemeinschaftsgerichtsbarkeit im Wege der Nichtigkeitsklage zu öffnen 310. Das EuG schloss sich in seinem Urteil vom 03. 05. 2002 in der Rechtssache Jégo-Quéré im Wesentlichen der Meinung des Generalanwalts an und gab damit zum ersten Mal die Rechtsprechung i. S. d. Plaumann-Formel auf 311 . Diese Entwicklung wurde jedoch vom EuGH aufgehalten, der in seinem Urteil zur genannten Rechtssache UPA am 25. 07. 2002 dem Vorschlag des Generalanwalts und dem Vorstoß des EuG eine Absage erteilte und die traditionelle Plaumann-Formel als Maßstab für das individuelle Betroffensein bestätigte312. Bei der Prüfung, ob bestimmte persönliche Eigenschaften oder besondere, den Kläger aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebende Umstände vorliegen, hat die Rechtsprechung immer noch keine klare Linie gefunden, vielmehr bleibt es bei stark einzelfallgeprägten Entscheidungen und somit bei nicht unerheblichen Unsicherheiten im Umgang mit der Voraussetzung des individuellen Betroffen307 Mit dieser Einschätzung z. B.: Arnull, CML Rev. 2001, 7 (30); Lengauer, Nichtigkeitsklage vor dem Europäischen Gerichtshof: Parteistellung natürlicher und juristischer Personen, S. 107. 308 EUGH, RS. 25/62 - Firma Plaumann & Co/Kommission, Slg. 1963,211,238. 309 Hierzu C. ΙΠ. 6. 310 GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequenos Agricultores/ Rat, Slg. 2002, Π - 6677, Π - 6681, Rn. 60, 103. 311 EuG, Rs. T-177/01 - Jégo Quéré et Cie SA/Kommission, Slg. 2002, Π - 2365, Rn. 51. 312 EuGH, Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequenos Agricultores/Rat, Slg. 2002, I - 6677, Rn. 34 ff.

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seins. Dennoch haben sich auch Fallgruppen gebildet, die regelmäßig angeführt und auf ihr Vorliegen in der jeweiligen Rechtssache hin geprüft werden.

1. Geschlossener Personenkreis als hinreichendes Kriterium? Schon im Rahmen der Erörterung des normativen Rechtscharakters einer Maßnahme tauchte das Merkmal des geschlossenen Kreises von Betroffenen auf. Dort wurde festgestellt, dass dieses Kriterium von der Rechtsprechung nicht als ausschlaggebend für die Abgrenzung von Entscheidungen gegenüber Rechtsakten mit allgemeiner Geltung angesehen wird. Bis in die letzte Zeit hinein wird die Existenz eines geschlossenen Personenkreises auch im Rahmen des individuellen Betroffenseins diskutiert und von den Klägern als relevantes Merkmal zur Begründung ihrer Klagebefugnis angeführt 313. Für das individuelle Betroffensein erachtete der EuGH es in frühen Urteilen als ausreichend, wenn die Betroffenen schon im Zeitpunkt des Erlasses einer Entscheidung der Zahl und der Person nach feststellbar waren, so dass das erlassende Organ wissen konnte, wen die Maßnahme berühren würde 314. Nicht erheblich war dagegen, ob das Organ tatsächlich diese Kenntnis besaß315. Seit geraumer Zeit formulieren die Gemeinschaftsgerichte in ständiger Rechtsprechung wie folgt: Die Möglichkeit, dass die Personen, auf die eine Maßnahme Anwendung findet, der Zahl oder sogar der Identität nach mehr oder weniger genau bestimmbar sind, bedeutet nicht, dass diese Personen als von der Maßnahme individuell betroffen anzusehen sind, sofern feststeht, dass die Anwendung aufgrund eines durch den betreffenden Rechtsakt bestimmten objektiven Tatbestandes rechtlicher oder tatsächlicher Art erfolgt 316. Die Möglichkeit, dass in der Zukunft weitere Personen zu den Betroffenen hinzukommen können, schließt ein individuelles Betroffensein aus, selbst wenn dies äußerst unwahrscheinlich sein sollte317. Es ist zunächst nachvollziehbar, dass es nicht genügen kann, wenn die zu einem bestimmten Zeitpunkt von einer Maßnahme Betroffenen feststehen. Wird eine Maßnahme erlassen, stehen die gegenwärtig 313 EuGH, Verb. Rs. 106 u. 107/63 - Firma Alfred Toepfer KG/Kommission, Slg. 1965, 547,556; Rs. 62/70-Werner A. Bock/Kommission, Slg. 1971, 897, Rn. 10. 314 Mit dieser Einschätzung auch: GA Alber, Schlussanträge vom 15. 05. 2003 in der Rs. C-298/00 Ρ - Italienische Republik/Kommission, Rn. 80, noch nicht in amtlicher Sammlung. 315 Nachweise bei: EuGH, Rs. C-352/99 Ρ - Eridania SpA, vormals Eridania Zuccherifici Nazionali SpA, u. a./Rat, Slg. 2001,1 - 5037, Rn. 33; EuG, Rs. T-49/00 - Industria pugliese olive in salamoia erbe aromatiche Snc (Iposea)/Kommission, Slg. 2001, Π - 163, Rn. 16. 316 Nachweis bei GA Alber, Schlussanträge vom 15. 05. 2003 in der Rs. C-298/00 Ρ Italienische Republik/Kommission, Rn. 9 ff., noch nicht in amtlicher Sammlung. 3Π GA Alber, Schlussanträge vom 15. 05. 2003 in der Rs. C-298/00 Ρ - Italienische Republik/Kommission, Rn. 76, noch nicht in amtlicher Sammlung. 8*

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betroffenen Personen stets fest, selbst wenn die Anzahl der Betroffenen überaus groß und schwer zu ermitteln sein kann. Nähme man dies als hinreichend für ein individuelles Betroffensein an, wären alle Personen klagebefugt, auf welche die Maßnahme zum Zeitpunkt ihres Erlasses anwendbar ist. Die Gemeinschaftsgerichte haben zu der Frage, ob innerhalb der Masse aller gegenwärtig und zukünftig Betroffenen ein geschlossener Kreis besonders Betroffener individualisiert sein kann 318 , ausgeführt, dass dieses Kriterium zur Begründung der individuellen Betroffenheit nur herangezogen werden kann, wenn das Organ, das den angefochtenen Rechtsakt erlassen hat, verpflichtet war, bei Erlass des Rechtsaktes der besonderen Lage dieser Marktteilnehmer Rechnung zu tragen 319. Damit wird auf eine andere Fallgruppe verwiesen, die ihrerseits eine Individualisierung begründen kann. Schließlich ist auch die Frage, ob es für ein individuelles Betroffensein hinreichend ist, wenn die in einem bestimmten Zeitpunkt betroffenen Personen nicht nur bestimmbar sind, sondern sie unveränderlich feststehen, weil der Kreis der Betroffenen sich nachträglich nicht erweitern kann, von den Gemeinschaftsgerichten abschlägig beantwortet worden. Besonders deutlich wird dies in der Rechtssache Arnaud . Die angefochtene Verordnung traf eine Übergangsregelung, die sich nur auf Wirtschaftsteilnehmer bezog, die während der zwei Jahre vor Inkrafttreten der Verordnung eine bestimmte Tätigkeit ausgeübt hatten. Der Kreis der Betroffnen war daher geschlossen und konnte sich in Zukunft nicht erweitern 320. Gleichwohl entschied der EuGH, dass die Bestimmung aufgrund eines objektiv bestimmten Tatbestands anwendbar sei und Rechtsfolgen für eine generell und abstrakt umschriebene Personengruppe zeitige, so dass die Kläger nur in ihrer objektiven Eigenschaft als Wirtschaftsteilnehmer, nicht aber individuell betroffen seien321. In weiteren Entscheidungen haben die Gemeinschaftsgerichte an dieser Auffassung festgehalten 322. 318 Nachweis bei GA Alber, Schlussanträge vom 15. 05. 2003 in der Rs. C-298/00 Ρ Italienische Republik/Kommission, Rn. 73, 74, 85, noch nicht in amtlicher Sammlung. 319 EuGH, Rs. C-352/99 Ρ - Eridania SpA, vormals Eridania Zuccherifici Nazionali SpA, u. a./Rat, Slg. 2001,1 - 5037, Rn. 59; Rs. C-209/94 Ρ - Buralux SA u. a./Rat, Slg. 1996,1 - 615, Rn. 24; Rs. C-409/96 Ρ - Sveriges Betodlares Centralförening u. Sven Âke Henrikson/Kommission, Slg. 1997, I - 7531, Rn. 37; Rs. C-96/01 Ρ - The Galileo Company und Galileo International LLC/Rat, Slg. 2002,1 - 4025, Rn. 38; EuG , Rs. T-49/00 Industria pugliese olive in salamoia erbe aromatiche Snc (Iposea)/Kommission, Slg. 2001, Π - 1 6 3 , Rn. 31. 320 EUGH, Rs. 25/86 - Deutz und Geldermann, Sektkellerei Breisach (Baden) GmbH/ Rat, Slg. 1987, 941, 944,950 ff.; Rs. C-96/01 Ρ - The Galileo Company und Galileo International LLC/Rat, Slg. 2002,1 - 4025, Rn. 18, 38; Rs. C-300/00 P(R) - Federation de Confradias de Pescadores de Guipùzcoa/Rat, Slg. 2000,1 - 8797, Rn. 22, 46; EuG, Rs. T-49/00 - Industria pugliese olive in salamoia erbe aromatiche Snc (Iposea) / Kommission, Slg. 2001, Π - 1 6 3 , Rn. 16,31. 321 Eben diesen Ansatz wählte auch GA Alber in seinen Schlussanträgen in der Rs. C-298 / 00 Ρ - Italienische Republik / Kommission.

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Jüngst sprach sich Generalanwalt A Iber dafür aus, das individuelle Betroffensein anzunehmen, wenn der Kreis der Betroffenen geschlossen ist, und vertrat dabei eine sehr großzügige Interpretation der „Geschlossenheit". Es ging in der Sache aber nicht um die Anfechtung einer Verordnung oder Richtlinie, sondern um eine Entscheidung der Kommission, durch die nationale Beihilfen für rechtswidrig erklärt wurden und Italien verpflichtet wurde, die Beihilfen einzustellen und geleistete Beihilfen zurückzufordern 323. Auch wenn der angefochtene Akt die Rechtsform einer Entscheidung hatte, die an einen Mitgliedstaat gerichtet war, geht die Rechtsprechung davon aus, dass sich Entscheidungen der Kommission, mit denen sektorielle Beihilfen verboten werden, für Unternehmen, die lediglich aufgrund ihrer Zugehörigkeit zumfraglichen Sektor betroffen sind, als generelle Rechtsnormen darstellen. Generalanwalt Alber argumentierte, dass zwar zukünftig eine unbegrenzte Zahl von Personen aufgrund der angefochtenen Entscheidung keine Beihilfen mehr erhalten könne, gleichwohl bilde zumindest die Gruppe der Beihilfeempfänger einen unveränderbaren, geschlossenen Kreis, die eine Beihilfe erhalten hatten und diese nun erstatten müssten, was für ihr individuelles Betroffensein genüge 324 . Der EuGH folgte Generalanwalt Alber insoweit, als er die Klagebefugnis des Unternehmens bejahte, begründete dies aber nicht mit dem geschlossenen Kreis betroffener Personen, sondern vielmehr damit, dass die Entscheidung der Kommission für das Unternehmen nicht den Charakter einer Maßnahme allgemeiner Geltung habe, weil es durch die Rückforderung der Beihilfe nicht nur als potentiell Begünstigter der Beihilfenregelung, sondern als tatsächlich Begünstigter individuell betroffen sei. Gewicht wurde auch dem Umstand beigemessen, dass die Zahl der Beihilfenempfänger in der Begründung der angefochtenen Entscheidung genannt war und daher der Kommission das Vorhandensein der tatsächlich Begünstigten nicht verborgen bleiben konnte325. Letztlich werden erneut Fragen des Rechtsnormcharakters und des individuellen Betroffenseins vermengt. Angesichts der zahlreichen Entscheidungen, in denen die Geschlossenheit des Kreises der von einer Maßnahme Betroffenen nicht als hinreichend für die Vermittlung individuellen Betroffenseins erachtet wurde und des Umstands, dass das EuG nicht diesen Gesichtspunkt, sondern den Verlust einer tatsächlichen Begünstigung in den Vordergrund stellte, liegt es nahe, dass es sich um eine bereichsspezifische Rechtsprechung handelt, die keine Verallgemeinerung für das individuelle Betroffensein durch Normen zulässt. 322 EUGH, Rs. C-300/00 P(R) - Federation de Confradias de Pescadores de Guipuzcoa / Rat, Slg. 2000,1 - 8797, Rn. 46; ebenso: EuG, Rs. T-339/00 R - Bactria IndustriehygieneService GmbH/Kommission, Slg. 2001, Π - 1721, Rn. 83; Rs. T-166/99 - Luis Fernando Andres de Dios u. a. / Rat, Slg. 2001, Π - 1857, Rn. 54; Rs. T-489/93 - Unifruit Hellas EPE / Kommission, Slg. 1994, I I - 1201, Rn. 24, 25. 323 Nachweis bei EuGH, C-131 / 92-Thierry Arnaud u. a./Rat, Slg. 1993,1-2573, Rn. 4,8. 324 EUGH, C-131 /92 - Thierry Arnaud u. a. /Rat, Slg. 1993,1 - 2573, Rn. 16,17. 325 EUG, Rs. T-298/94 - Roquette Frères SA/Rat, Slg. 1996, Π - 1531, Rn. 41; Rs. T-100/94 - Kapniki A. Michailidis AE u. a. / Kommission, Slg. 1998, Π - 3115, Rn. 60.

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Damit ist entgegen anders lautender Stimmen in der Literatur 326 die Geschlossenheit des Kreises von Betroffenen jedenfalls bei der Anfechtung normativer Rechtsakte grundsätzlich nicht hinreichend, um ein individuelles Betroffensein zu begründen327. 2. Rechtspositionen im Verfahren Die Verfahrensstellung ist als Kriterium für das individuelle Betroffensein von besonderer Bedeutung für Individualkläger. Soweit dem Kläger Antrags-, Beteiligungs- oder Informationsrechte im Verfahren zustanden, kann er unter Umständen die Zulässigkeit seiner Klage gegen die später ergangene Maßnahme darauf stützen. Die Rechtsprechung hat zum Teil schon die rein tatsächliche Beteiligung am Verfahren ausreichen lassen328.Wichtig ist aber die Einschränkung, dass die Teilnahme des Klägers von dem erlassenden Organ gewollt sein muss. Der Kläger kann seine individuelle Betroffenheit nicht dadurch erzwingen, dass er sich im Verfahren aufdrängt, etwa indem er ungebeten mit Stellungnahmen und sonstigen Eingaben vorstellig wird 329 . In neuerer Zeit zeigte sich die Rechtsprechung weniger großzügig mit der Individualisierung des Klägers durch Verfahrensbeteiligung, jedenfalls soweit es nicht um die Hauptbetroffenen einer Maßnahme, sondern um Drittbetroffene geht. Sogar die Beteiligung aufgrund normierter Verfahrensgarantien wurde schon als ein die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage tragender Grund abgelehnt330. Die Rückschritte der Rechtsprechung bei der Zuerkennung von Klagerechten aufgrund von Verfahrensbeteiligung wird in der Literatur bedauert. Zum einen deshalb, weil die Teilnahme am Verfahren ein weitgehend sicheres und daher zuverlässiges Kriterium zur Bestimmung der individuellen Betroffenheit biete, das nun aufgegeben werde 331 . Zum anderen wird auf die individualschützende Funktion von Verfah326 Schwarze, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 230 Rn. 37; Koenig /Harnisch, Europarecht, Rn. 386. 327 Lenaerts/ Arts, Procedural Law of the European Union, S. 168, 169; Borehardt, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 230 Rn. 41. 328 Schwarze, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 230 Rn. 38; von Dietze, Verfahrensbeteiligung und Klagebefugnis im EG-Recht, S. 85 f.; EuGH, Rs. 169/84 - Compagnie française de l'azote (Cofaz) SA u. a./Kommission, Slg. 1986, 391, Rn. 24; Rs. 264/82 - Timex Corporation/Rat u. Kommission, Slg. 1985, 849, Rn. 15. 329 EuG, Rs. T-585/93 - Stichting Greenpeace Council (Greenpeace International) u. a./Kommission, Slg. 1995, Π - 2205, Rn. 56; Verb. Rs. T-481 /93 u. T-484/93 - Vereniging van Exporteurs in Levende Varkens u. a. / Kommission, Slg. 1995, Π - 2941, Rn. 59; Rs. T-398/94 - Kahn Scheepvaart BV/Kommission, Slg. 1996, Π - 477, Rn. 42. 330 EUG, Rs. T-86/96 - Arbeitsgemeinschaft Deutscher Luftfahrt-Unternehmen und Hapag-Lloyd Fluggesellschaft mbH/Kommission, Slg. 1999, Π - 179, Rn. 49 ff. zu Art. 88 Abs. 2 EG.

Π . Das individuelle Betroffensein

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rensgarantien hingewiesen, die insbesondere dort von großer Bedeutung seien, wo Gestaltungsspielräume der Verwaltung bestehen, die nur begrenzt gerichtlich überprüfbar sind. Aus diesem Grund könne der Schutz von Rechten und Interessen im Wesentlichen im und durch das Verwaltungsverfahren geboten werden 332. Der Rechtsprechung ist zumindest zuzugeben, dass nicht jede Beteiligung am Verfahren genügen kann, um ein Klagerecht zu begründen. Anderenfalls hätte es jeder selbst in der Hand, durch Übermittlung von Stellungnahmen oder anderen Eingaben an das zuständige Organ für seine individuelle Betroffenheit Sorge zu tragen, so dass letztlich der Popularklage Tür und Tor geöffnet wäre 333 . Für die Fallgruppe der individuellen Betroffenheit aufgrund von Verfahrenspositionen ist zu differenzieren zwischen Nichtigkeitsklagen gegen Entscheidungen und Nichtigkeitsklagen gegen Normativakte. Die eingeräumten Verfahrensgarantien und damit die Voraussetzungen für das individuelle Betroffensein können variieren, je nachdem ob der Kläger sich gegen eine Norm oder eine Entscheidung wendet. Unterschiede ergeben sich beispielsweise bei dem Erfordernis der Anhörung von Betroffenen. Die Rechtsprechung hat anerkannt, dass die Beachtung von Verfahrensrechten in allen Verfahren, die zu einer belastenden Maßnahme für den Betroffenen führen können, einen elementaren Grundsatz des Gemeinschaftsrechts darstellt, der auch dann gewahrt werden muss, wenn eine explizite Regelung für das betreffende Verfahren nicht existiert 334. Bei dem Erlass von Entscheidungen bedeutet dies, dass die Verfahrensrechte nur gewahrt sind, wenn jeder potentiell Beschwerte zumindest zu den Punkten Stellung beziehen kann, auf welche die Kommission ihre beschwerende Entscheidung stützt, ohne dass das Anhörungserfordernis ausdrücklich normiert sein muss . 331 Nehl, Wechselwirkungen zwischen verwaltungsverfahrensrechtlichem und gerichtlichem Individualrechtsschutz in der EG, in: Individualrechtsschutz in der EG und der WTO, S. 135, (148 f.). 332 Nowak/Nehl, EuZW 1999, 350 (351); Nehl, Wechselwirkungen zwischen verwaltungsverfahrensrechtlichem und gerichtlichem Individualrechtsschutz in der EG, in: Individualrechtsschutz in der EG und der WTO, S. 135, (140 ff., 143). 333 Vgl. Arnull, CML REV. 2001, 7 (44). 334 EUG, Verb. Rs. T-186/97, T-187/97, T-190/97 bis T-192/97, T-210/97, T-211/97, T-216/97 bis T-218/97, T-279/97, T-280/97, T-293/97 u. T-147/99 - Kaufring AG u. a./Kommission, Slg. 2001, Π - 1337, Rn. 151; GA Alber, Schlussanträge in der Rs. C-74/00 Ρ u. C- 75/00 Ρ - Falck SpA u. Acciaierie di Bolzano SpA/Kommission, Slg. 2002,1 - 7869, Rn. 93 m. w. Ν.; Gassner, DVB1. 1995, 16 (18 ff.); Hegels, EG-Eigenverwaltungsrecht und Gemeinschaftsverwaltungsrecht, S. 79 f. 335 EUGH, Rs. C-135/92 - Fiskano AB/Kommission, Slg. 1994, I - 2885, Rn. 39; Rs. C-32/95 Ρ - Kommission/Lisrestal - Organizaçâo Gestäo des Restaurantes Colectivos Ld. a u. a., Slg. 1996, I - 5373, Rn. 21; EuG, Verb. Rs. T-186/97, T-187/97, T-190/97 bis T-192/97, T-210/97, T-211/97, T-216/97 bis T-218/97, T-279/97, T-280/97, T-293/97 u. T-147/99 - Kaufring AG u. a./Kommission, Slg. 2001, I I - 1337, Rn. 153. Zur Differenzierung zwischen Hauptbetroffenen und Drittbetroffenen bei der Klagebefugnis aufgrund von Verfahrensgarantien, vgl. Nehl, Wechselwirkungen zwischen verwaltungsverfahrensrecht-

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Beim Erlass von Rechtsnormen als Maßnahmen von allgemeiner Geltung ist die vorherige Anhörung potentiell Betroffener grundsätzlich nicht erforderlich. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts eine Beteiligung der betroffenen Personen nicht voraussetzen, sondern die Interessen dieser Personen durch die für den Erlass derartiger Rechtsakte zuständigen politischen Instanzen wahrgenommen werden 336. Das EuG hält es bei einem Fehlen von ausdrücklichen Verfahrensgarantien für mit dem Geist und Wortlaut des Art. 230 Abs. 4 EG nicht vereinbar, wenn ein Einzelner schon aufgrund seiner Beteiligung an der Vorbereitung einer gesetzgeberischen Handlung später gegen dieselbe klagen dürfte 337. Das Gemeinschaftsrecht sieht - wie das deutsche Recht auch - grundsätzlich keine Verfahrensbeteiligung für den Erlass von Rechtsnormen vor, sondern vertraut den rechtsstaatlichen Schutz einem System der Repräsentation an. Der Grund dafür ist in der allgemeinen Geltung von Normativakten zu sehen, die der Beteiligung von potentiell Betroffenen entgegensteht. Die Rechtsprechung trägt diesem Umstand Rechnung und verweist zudem darauf, dass eine Nichtigkeitsklage natürlicher und juristischer Personen gegen einen Normativakt nur in Ausnahmefallen zulässig sei und durch die Fallgruppe der Individualisierung durch Verfahrensbeteiligung generell keine Erweiterung erfahren solle. Allein das Bestehen explizit garantierter Verfahrensrechte würde die Annahme individueller Betroffenheit rechtfertigen 338. Damit hat die Rechtsprechung deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die Fallgruppe der individuellen Betroffenheit durch Verfahrensbeteiligung nicht auf die hier interessierende Frage nach der Anfechtbarkeit von Normen zugeschnitten ist und daher in diesem Zusammenhang keine Relevanz besitzt. 3. Normierte Pflicht zur Berücksichtigung der Situation des Klägers Als weitere Möglichkeit der Individualisierung im Sinne der Plaumann-Formel hat die Rechtsprechung es gewertet, wenn das Gemeinschaftsrecht den Organen die Pflicht auferlegt hat, die besondere Situation des Klägers beim Erlass einer lichem und gerichtlichem Individualrechtsschutz in der EG, in: Individualrechtsschutz in der EG und der WTO, S. 135, (148 ff.). 336 EuG, Rs. T-122/96 - Federazione nazionale del commercio oleario (Federolio)/Kommission, Slg. 1997, Π - 1559, Rn. 75; Rs. T-109/97 - Molkerei Großsbraunshain GmbH u. Bene Nahrungsmittel GmbH/Kommission, Slg. 1998, I I - 3533, Rn. 60; Rs. T-215/00 SCEA La Conqueste/Kommission, Slg. 2001, Π - 181, Rn. 42. 337 EUG, Rs. T-215/00 - SCEA La Conqueste/Kommission, Slg. 2001, Π - 181, Rn. 42; Rs. T-109/97 - Molkerei Großbraunshain GmbH u. Bene Nahrungsmittel GmbH/Kommission, Slg. 1998, I I - 3533, Rn. 68. 338 EuG, Rs. T-109/97 - Molkerei Großbraunshain GmbH u. Bene Nahrungsmittel GmbH/Kommission, Slg. 1998, Π - 3533, Rn. 67 u. 68; Rs. T-339/00 - Bactria Industriehygiene-Service Verwaltungs GmbH/Kommission, Slg. 2002, I I - 2287, Rn. 51.

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Maßnahme zu berücksichtigen. Entwickelt wurde diese Fallgruppe in den EntSofrimport und Antillean Rice scheidungen in den Rechtssachen Piraiki-Patraiki, Mills. griffen die Kläger eine Entscheidung der In der Rechtssache Piraiki-Patraiki Kommission an, die es der Französischen Republik gestattete, die Einfuhr von Baumwollgarnen aus Griechenland einer Quotenregelung zu unterwerfen. Der Gerichtshof bejahte das individuelle Betroffensein mit der Begründung, dass einige der Kläger vor Erlass der Maßnahme Verträge über die Lieferung von Baumwollgarnen geschlossen hatten, deren Erfüllung durch die Quotenregelung der Entscheidung ganz oder teilweise unmöglich wurde 339 . Die Kommission sei aber aufgrund der Rechtsgrundlage für ihre Entscheidung - Art. 130 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Griechenland und die Anpassung der Verträge 340 - verpflichtet gewesen zu ermitteln, welche negativen Auswirkungen ihre Entscheidung auf die für sie der Identität nach feststellbaren Unternehmen haben würde, die Verträge abgeschlossen hatten, deren Erfüllung durch die Maßnahme unmöglich wurde 341. Diese Verpflichtung entnahm der EuGH den Voraussetzungen des Art. 130 Abs. 3 der Beitrittsakte, nach denen nur unbedingt erforderliche Maßnahmen und vorrangig diejenigen zulässig waren, die das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes am wenigsten stören. Diesen Ansatz verfolgte der EuGH in der Rechtssache Sofrimport weiter. Die als Importeurin von Frischobst tätige Klägerin erstrebte die Nichtigerklärung von Verordnungen, welche die Erteilung von Einfuhrlizenzen für Tafeläpfel mit Ursprung in Chile aussetzten. Der EuGH sah die Klägerin als individuell betroffen an, da ihre Erzeugnisse sich bei Erlass der streitigen Verordnungen bereits auf dem Weg in die Gemeinschaft befunden hätten und sie daher zu einer geschlossenen Personengruppe gehöre, die sich nach Inkrafttreten der Verordnungen nicht mehr erweitern könne. Die Kommission sei aufgrund einer anderen Verordnung, welche die Voraussetzungen für die Anwendung von Schutzmaßnahmen festlegte, verpflichtet gewesen, der besonderen Lage der Erzeugnisse Rechnung zu tragen, die sich beim Erlass der Maßnahme schon auf dem Weg in die Gemeinschaft befanden 342 . Im Gegensatz zur Entscheidung in der Rechtsache Piraiki-Patraiki, in der die Pflicht zur Berücksichtigung der Situation der Kläger sehr vage, als Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit formuliert war und erst durch Auslegung ermittelt wurde, bestand in der Rechtssache Sofrimport eine ausdrückliche Verpflichtung.

339 EUGH, Rs. 11 /82 - SA Piraiki-Patraiki u. a. / Kommission, Slg. 1985, 207, Rn. 19. 340 ABl. 1979 L 291, S. 17. 341 EuGH, Rs. 11 / 82 - SA Piraiki-Patraiki u. a. / Kommission, Slg. 1985, 207, Rn. 28, 31. 342 EUGH, Rs. C-152/88 - Sofrimport SARL/Kommission, Slg. 1990,1 - 2477, Rn. 11. Die in Bezug genommene Vorschrift ist Art. 3 Abs. 3 VO 2707/72/EWG, ABl. L 291, S. 3.

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C. Entwicklung und Bewertung der Rechtsprechung von EuGH und EuG

Ebenso bejahte das EuG in der Rechtssache Antillean Rice Mills die individuelle Betroffenheit, da eine spezifische Bestimmung die Verpflichtung der Kommission enthielt, die Folgen der beabsichtigten Handlung auf die Lage bestimmter Personen zu berücksichtigen, und darüber hinaus die Klägerinnen, die der Kommission bekannt oder feststellbar waren, nachgewiesen hatten, dass bei Erlass der Maßnahme ihre Produkte sich bereits auf dem Weg in die Gemeinschaft befanden 343 . Die Gemeinschaftsgerichte haben diesen Ansatz bei der Auslegung der Voraussetzung des individuellen Betroffenseins auch später wieder aufgegriffen 344. Die Literatur hat diese Rechtsprechung positiv aufgenommen und darin ein Potential gesehen, das individuelle Betroffensein rechtsschutzfreundlicher zu interpretieren und damit die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 Abs. 4 EG erheblich zu öffnen, insbesondere wenn großzügig gehandhabt würde, wann eine Norm die Berücksichtigung spezifischer Interessen vorschreibt 345. Ohne eine umfassende Übereinstimmung zu postulieren, werden Bezüge hergestellt zur Schutznormtheorie des deutschen Rechts. Als Unterschied wird aber hervorgehoben, dass anders als im deutschen Recht keine Rechtsbetroffenheit erforderlich ist 346 . Zudem hat die Gemeinschaftsrechtsprechung bislang nicht auf Grundrechte rekurriert, um einer Norm die entsprechende Schutzwirkung zuzusprechen. Für das deutsche Recht hingegen ist anerkannt, dass Grundrechte subjektive Rechte des Einzelnen darstellen und ihnen damit Schutzwirkung zukommt347. Als Erklärung für diese Fallgruppe der Klagebefugnis wäre auch denkbar, dass, soweit ein besonderer, zur Individualisierung hinreichender Umstand darin gesehen wird, dass ein Kläger vor Erlass der streitigen Maßnahme Verträge geschlossen hat, deren Erfüllung ihm unter Geltung der Maßnahme zumindest teilweise unmöglich wird, sedes materiae die allgemeinen rechtsstaatlichen Prinzipien des Vertrauensschutzes und des Rückwirkungsverbotes sind. In der Rechtssache PiraikiPatraiki nahm der Gerichtshof zweimal hierauf Bezug, indem er das Vertrauen und den guten Glauben der Unternehmen hervorhob 348. Als Folge könnte dann eine 343 EuG, Verb. Rs. T-480/93 u. T-483/93 - Antillean Rice Mills NV u. a. / Kommission, Slg. 1995, I I - 2305, Rn. 67, 75 f. Die verpflichtende Bestimmung war Art. 109 des ÜLGBeschlusses des Rates vom 25. 07. 1991 (ABl. L 263, S. 1), welcher dem in der Rs. PiraikiPatraiki relevanten Art. 130 Abs. 3 der Beitrittsakte im Wesentlichen entsprach. 344 ζ. B.: EuG, Verb. Rs. T-32/98 u. T-41/98 - Nederlandse Antillen/Kommission, Slg. 2000, Π - 201, Rn. 51 ff. 345 Waelbroeck/Fosselard, CML REV. 1996, 811 (823, 828 f.); Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 Rn. 56. 346 Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 Rn. 56 mit dem Hinweis auf die Formulierung „protective norm" („Schutznorm") bei Waelbroeck/Fosselard, CML REV. 1996, 811 (824); Koenig/ Ρ echtsein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 407. 347 Schenke, Verwaltungsprozeßrecht, Rn. 384, 498; Bull, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 232. 348 EUGH, Rs. 11 / 82 - SA Piraiki-Patraiki u. a. / Kommission, Slg. 1985, 207, Rn. 28, 34.

ΙΠ. Das individuelle Betroffensein

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signifikante Lockerung bei den Anforderungen an das Vorliegen individueller Betroffenheit eintreten, da der Grundsatz des Vertrauensschutzes stets berührt ist, wenn eine Maßnahme Rechtsfolgen an in der Vergangenheit liegende Tatsachen knüpft 349 . Die Rechtsprechung ist dem jedoch entgegengetreten. Maßgeblich für das Merkmal der individuellen Betroffenheit sei, dass das Organ, das den angefochtenen Akt erlassen hat, aufgrund besonderer Bestimmungen verpflichtet war, den Auswirkungen des Aktes auf die Situation dieser Marktbeteiligten Rechnung zu tragen. Die Tatsache allein, dass der Kläger Verträge geschlossen hat, deren Erfüllung unmöglich wird, und der damit in Verbindung stehende allgemeine Grundsatz des Vertrauensschutzes sei nicht genügend350. Die Rechtsprechung lehnte einen heraushebenden Umstand und damit eine Individualisierung dadurch, dass bereits geschlossene Verträge existierten, deren Erfüllung durch die angegriffene Maßnahme beeinträchtigt wurde, mit dem Argument ab, dass das Tätigen von Investitionen und Abschließen von Verträgen zur normalen Geschäftstätigkeit gehöre und von den betroffenen Personen im eigenen Interesse vorgenommen werde 351 . Vertrauensschutz besitzt in der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte nur dann Relevanz für die Zulässigkeit einer Klage, wenn eine Verpflichtung der Gemeinschaftsorgane zur Berücksichtigung bestimmter Situationen in einer speziellen Norm niedergelegt ist. Es sind aber noch weiter gehend restriktive Töne zur Klagebefugnis nach dieser Fallgruppe von den Gemeinschaftsgerichten angeschlagen worden. Obwohl in der Literatur formuliert wird, dass bei Bestehen einer gemeinschaftsrechtlichen Norm, welche die Gemeinschaftsorgane verpflichtet, beim Erlass von Maßnahmen die Lage bestimmter Personen zu berücksichtigen, jene Personen individuell betroffen seien 352 , ist diese Voraussetzung für sich genommen nicht hinreichend. Die Rechtsprechung hat diesen Standpunkt in jüngeren Entscheidungen unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Gegenstand der Entscheidungen waren mehrere Nichtigkeitsklagen, die Verordnungen zur Regelung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Gemeinschaft und überseeischen Ländern und Gebieten (den Niederländischen Antillen) zum Gegenstand hatten. 349 Eine Rückwirkung ist gleichwohl nicht generell ausgeschlossen in Fällen, in denen eine neue Regelung anwendbar ist auf die künftigen Folgen eines unter alter Regelung entstandenen Sachverhalts, vgl. EuGH, Rs. C-60/98 -Butterfly Music Srl/Carosello Edizioni Musicali e Discografiche Srl (CEMED), Slg. 1999,1 - 3939, Rn. 25. 350 EUGH, RS. C-209/94 Ρ - Buralux SA u. a./Rat, Slg. 1996,1 - 615, Rn. 30 ff.; EuG, Rs. T-49/00 - Industria pugliese olive in salamoia erbe aromatiche Snc (Iposea)/Kommission, Slg. 2001, I I - 163, Rn. 27, 29 f.; Rs. T-489/93 - Unifruit Hellas EPE/Kommission, Slg. 1994, Π - 1201, Rn. 24 ff.; Rs. T-43/98 - Emesa Sugar (Free Zone) NV/Rat, Slg. 2001, Π - 3 5 1 9 , Rn. 53.

351 EuG, Rs. T-43/98 - Emesa Sugar (Free Zone) NV/Rat, Slg. 2001, Π - 3519, Rn. 54. 352 Nettesheim, JZ 2002, 928 (930); Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 Rn. 55.

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C. Entwicklung und Bewertung der Rechtsprechung von EuGH und EuG

Noch in einem Urteil aus dem Jahr 2000 hatte das EuG festgestellt, dass die Klägerin, die Niederländischen Antillen, schon deshalb individuell betroffen sei, weil eine gemeinschaftsrechtliche Norm existiere, die der Klägerin einen speziellen Schutz vermittele. Das sei ein Umstand, der die Klägerin im Sinne der Plaumann-Formel aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebe353. Die Verpflichtung zur Berücksichtigung von Interessen bestimmter Personen wurde mithin als ausreichende Voraussetzung eingestuft. Dieses Urteil wurde in der Literatur als Fortsetzung der oben dargestellten Rechtsprechung empfunden 354. In einer weiteren Rechtssache hingegen führte Generalanwalt Léger in seinen Schlussanträgen aus, dass in dem Urteil eine wesentliche und nicht gerechtfertigte Abkehr von den Grundsätzen der früheren Rechtsprechung zu dieser Fallgruppe der individuellen Betroffenheit zu sehen sei. Die Verpflichtung von Gemeinschaftsorganen zur Berücksichtigung der Auswirkungen ihrer Maßnahme sei für sich genommen nicht ausreichend, sondern lediglich ein Hinweis, der es den Klägern ermögliche, ihr individuelles Klageinteresse darzulegen. Es bedürfe aber weiterhin des Nachweises, dass die Klägerin aufgrund bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, sie aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt ist. In diesem Sinn seien auch die Urteile in den Rechtssachen Piraiki-Patraiki und Antillean Rice Mills zu verstehen355. Der EuGH ist in seinem Urteil dem Schlussantrag von Generalanwalt Léger gefolgt. Der Gerichtshof führte zunächst aus, dass der Umstand, dass ein Gemeinschaftsorgan aufgrund einer spezifischen Bestimmung verpflichtet ist, die Konsequenzen einer beabsichtigten Maßnahme für bestimmte Betroffene zu berücksichtigen, geeignet sein könne, diese Personen zu individualisieren. Der EuGH fuhr jedoch einschränkend unter Berufung auf das Urteil in der Rechtssache Piraiki-Patraiki fort, dass das Bestehen einer solchen Verpflichtung die Klägerin mitnichten von dem Erfordernis befreie, den Nachweis dafür zu erbringen, dass sie aufgrund eines tatsächlichen Umstandes betroffen ist, der sie aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebt356. So hat denn auch die Kommission Rechtsmittel gegen das zuvor genannte Urteil des EuG in der Rechtssache Nederlandse Antillen eingelegt, in welchem das EuG die Verpflichtung zur Berücksichtigung der Situation bestimmter Personen als ausreichend zur Begründung des individuellen Betroffenseins dieser Personen erachtete. Wie zu erwarten war, hat der EuGH seine restriktive Linie bestätigt357. 353 EUG, Verb. Rs. T-32/98 u. T-41/98 - Nederlandse Antillen/Kommission, Slg. 2000, Π - 201, Rn. 52-57. Die gemeinschaftsrechtliche Norm, welche die Verpflichtung zur Berücksichtigung der Auswirkungen auf die Klägerin enthielt und die Rechtsgrundlage für die streitige Verordnung bildete, war wie schon in den Rs. Piraiki-Patraiki und Antillean Rice Mills Art. 109 Abs. 2 des ÜLG-Beschlusses. 354 Arnull, CML REV. 2001, 7 (36). 355 GA Léger, Schlussanträge in den Rs. C-301191 - Königreich der Niederlande/Rat u. C-452/98 - Nederlandse Antillen/Rat, Slg. 2001,1 - 8853,1 - 8858, Rn. 97 ff. 356 EUGH, Rs. C-452/98 - Nederlandse Antillen/Rat, Slg. 2001,1 - 8973, Rn. 66 ff., 72.

ΙΠ. Das individuelle Betroffensein

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Mittlerweile hat sich auch das EuG dieser Interpretation angeschlossen. In den zwei Rechtssachen Rica Foods war ein weiteres Mal eine aufgrund von Art. 109 des ÜLG-Beschlusses ergangene Verordnung Klagegegenstand. Das EuG entnahm dieser Vorschrift zwar eine Verpflichtung zur Berücksichtigung bestimmter Interessen, verwies aber darauf, dass die Klägerinnen zusätzlich darlegen müssen, aufgrund einer tatsächlichen Situation betroffen zu sein, die sie aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebt358. Die Betonung der restriktiven Elemente in der jüngeren Rechtsprechung ist in der Literatur bislang kaum beachtet worden 359. Es wird überwiegend noch davon ausgegangen, dass es zur Individualisierung genügt, dass eine Norm existiert, welche die Gemeinschaftsorgane zur Berücksichtigung spezifischer Klägerinteressen verpflichtet 360. Der nach der Rechtsprechung zusätzlich zu einer solchen Norm erforderliche Umstand, der die jeweiligen Kläger aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushob und damit hinreichend individualisierte, wurde darin gesehen, dass sich entweder Erzeugnisse auf dem Weg in die Gemeinschaft befanden und unter Geltung der streitigen Verordnungen nicht eingeführt werden durften resp. dass Verträge, welche die Kläger vor Erlass der Maßnahmen geschlossen hatten, nun aus rechtlichen Gründen nicht mehr erfüllt werden konnten. Zwei Fälle weichen hiervon ab. In den Rechtssachen CCE de la Société générale des grandes sources und CCE de Vittel kam das EuG durch teleologische Auslegung der Verordnung 4064/89/ E W G 3 6 1 zu dem Ergebnis, dass die Lage der Kläger in bestimmten Fällen von der Kommission berücksichtigt werden könne, und wertete dies zusammen mit dem in der Verordnung den Klägern ausdrücklich eingeräumten Anhörungsrecht als hinreichend, um die Kläger, eine geschlossene und klar umrissene Gruppe, zu individualisieren362.

357 EUGHRs. C-142/00 Ρ - Kommission/Nederlandse Antillen, noch nicht in amtlicher Sammlung, Rn. 71 ff., insbesondere Rn. 75, 76. 358 EUG, RS. T-47/00 - Rica Foods (Free Zone) NV/Kommission, Slg. 2002, Π - 113, Rn. 42 ff.; Verb. Rs. T-94/00, T-110/00 u. T-159/00 - Rica Foods (Free Zone) NV u. a./Kommission, Slg. 2002, I I - 4677, Rn. 53 ff.; Verb. Rs. T-332/00 u. T-350/00 - Rica Foods (Free Zone) NV u. Free Trade Foods NV/Kommission, Slg. 2002, Π - 4755, Rn. 49 ff. In den letztgenannten, verbundenen Rs. bejahte das EuG eine Individualisierung unter Bezugnahme auf die Urteile in den Rs. Piraiki-Patraiki und Antillean Rice Mills deshalb, weil die Klägerinnen vor Erlass der Maßnahme Verträge geschlossen hatten, deren Erfüllung unter Geltung der angefochtenen Bestimmung zumindest teilweise unmöglich wurde. 359 Eine Ausnahme bilden Koenig/ Ρechtsein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 407. 360 Nettesheim, JZ 2002, 928 (930); Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 Rn. 55. 361 ABl. L 395, S. 1. 362 EUG, RS. T-96/92 - Comité central d'entreprise de la Société générale des grandes sources u. a./Kommission, Slg. 1995, I I - 1213, Rn. 28 ff.; Rs. T-12/93 - Comité central d'entrprise de la société anonyme Vittel u. a. /Kommission, Slg. 1995, I I - 1247, Rn. 38 ff.

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C. Entwicklung und Bewertung der Rechtsprechung von EuGH und EuG

Es müssen demnach zwei Voraussetzungen kumulativ vorliegen. Der Kläger muss zum Kreis der Personen gehören, deren Interessen zu berücksichtigen sind, und bei Nichtberücksichtigung müssen ihm bestimmte Nachteile drohen 363. Diese Nachteile würden für sich genommen nicht ausreichen, um ein individuelles Betroffensein zu begründen. So wurde entschieden, dass allein die Tatsache, dass der Kläger Verträge geschlossen hat, deren Erfüllung unmöglich wird, nicht genügt 364 , ebenso wenig allein die Tatsache, dass eine gemeinschaftsrechtliche Norm die Verpflichtung zur Berücksichtigung bestimmter Interessen enthält. Insgesamt hat sich die in Literatur geäußerte Hoffnung, dass diese Fallgruppe des individuellen Betroffenseins eine erhebliche Öffnung der Klagebefugnis herbeiführen werde 365 , zerschlagen. Abschließend ist zu bemerken, dass bei Betrachtung der Normen, denen die Rechtsprechung eine Verpflichtung der Gemeinschaftsorgane zur Berücksichtigung von Interessen bestimmter Gruppen entnommen hat, auffällt, dass die Normen nicht sonderlich präzise hinsichtlich dieser Verpflichtung sind. Vielmehr müssen die Gemeinschaftsgerichte die Pflicht erst durch Auslegung ermitteln. Einzige Ausnahme ist die der Rechtssache Sofrimport zugrunde liegende Verordnung 2707/72/EWG 3 6 6 , deren Art. 3 Abs. 3 explizit vorsieht, dass die aufgrund der Verordnung ergriffenen Maßnahmen der besonderen Lage der Erzeugnisse Rechnung tragen, die sich auf dem Weg in die Gemeinschaft befinden. Die anderen Normen dieser Fallgruppe sind recht allgemein gehalten, so etwa in den Rechtssachen Piraiki-Patraiki, Antillean Rice Mills, Nederlandse Antillen und Rica Foods. Dort waren lediglich Elemente des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes formuliert, nämlich dass die Maßnahmen zur Erreichung der genannten Ziele unbedingt erforderlich sein müssen und vorrangig diejenigen Maßnahmen zu wählen sind, die das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes am wenigsten stören. Dass somit die Verpflichtung zur Berücksichtigung der Klägerinteressen erst im Wege der Auslegung ermittelt werden muss und der Norm nicht ohne weiteres angesehen werden kann, trägt nicht dazu bei, diese Fallgruppe des individuellen Betroffenseins vorhersehbarer zu machen.

363 Koenig/Pechtsein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 407. 364 EUGH, RS. C-209/94 Ρ - Buralux SA u. a./Rat, Slg. 1996,1 - 615, Rn. 30 ff.; EuG, Rs. T-49/00 - Industria pugliese olive in salamoia erbe aromatiche Snc (Iposea) / Kommission, Slg. 2001, Π - 163, Rn. 27, 29 f.; Rs. T-489/93 - Unifruit Hellas EPE/Kommission, Slg. 1994, Π - 1201, Rn. 24 ff.; Rs. T-43/98 - Emesa Sugar (Free Zone) NV/Rat, Slg. 2001, Π - 3 5 1 9 , Rn. 53. 365 Waelbroeck/Fosselard, CML REV. 1996, 811 (823 f., 828 f.), die ihre Ansicht maßgeblich auf das Urteil in den verbundenen Rs. T-480/93u. T-483/93 - Antillean Rice Mills stützen, dem sie entnehmen, dass der „protective norm" vorrangige Bedeutung für die Beurteilung der Klagebefugnis zukomme gegenüber der spezifischen Situation der Kläger. 366 ABl. L 291, S. 3.

ΙΠ. Das individuelle Betroffensein

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4. Wirtschaftliche Stellung oder spezifische Rechte des Klägers Neben dem Kriterium der Berücksichtigung von Interessen bestimmter Personen bzw. Personengruppen hat die Rechtsprechung die individuelle Betroffenheit in Zusammenhang mit einem weiteren materiell-rechtlichen Aspekt gebracht, nämlich mit der Beeinträchtigung besonderer Rechte des Klägers oder seiner Marktposition. In den Urteilen in den Rechtssachen Extramet und Codorniu hatte der EuGH seine Rechtsprechung zum individuellen Betroffensein erstmals in dieser Hinsicht geöffnet. a) Wirtschaftliche

Stellung

In dem zeitlich früheren Urteil in der Rechtssache Extramet, welchem eine Nichtigkeitsklage gegen eine Antidumpingverordnung des Rates zugrunde lag, zog der EuGH ein Bündel von Umständen zur Begründung des individuellen Betroffenseins heran. Als erheblich wurde in der Zusammenschau eingestuft, dass die Klägerin größte Importeurin und zugleich Endverbraucherin des Erzeugnisses war, welches die streitige Verordnung mit einem Antidumpingzoll belegte. Auch war die Klägerin durch die Verordnung in ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit stark beeinträchtigt, da sie auf die Einfuhren angewiesen war und eine Beschaffung des Erzeugnisses innerhalb der Gemeinschaft ausschließlich bei ihrem Hauptkonkurrenten für das Endprodukt möglich, aber mit großen Schwierigkeiten verbunden wäre 3 6 7 . An einer Übertragbarkeit dieser Rechtsprechung auf andere Fälle bestehen deshalb Zweifel, weil der Sachverhalt im Antidumpingrecht angesiedelt war und die Rechtsprechung sich dort schon lange großzügiger im Hinblick auf die Anfechtbarkeit von Verordnungen zeigte 368 . Zudem basierte die Entscheidung zum individuellen Betroffensein auf diversen, speziell auf diesen Einzelfall bezogenen Tatsachen. So haben sich Kläger in der Folgezeit vielfach auf dieses Urteil berufen, ohne jedoch damit durchzudringen 369. Die einzelnen Elemente, die zur Begründung des individuellen Betroffenseins herangezogen wurden, sind isoliert nicht hinlänglich, sondern nur in Verbindung mit den anderen Gesichtspunkten. Vor allem hätte nur die Tatsache, dass die Klägerin größte Importeurin war, die Annahme individueller Betroffenheit nicht getragen. An anderer Stelle haben die Gemeinschaftsgerichte erklärt, dass sogar die Position als einziger Betroffener nicht ge367 EUGH, RS. C-358/89 - Extramet Industrie SA/Rat, Slg. 1991,1 - 2501, Rn. 17. 368 C. II. 2. b). 369 Vgl. ζ. B. EuG, Rs. T-100/94 - Kapniki A. Michailidis AE u. a. /Kommission, Slg. 1998, I I - 3115, Rn. 68; Rs. T-109/97 - Molkerei Großsbraunshain GmbH u. Bene Nahrungsmittel GmbH/Kommission, Slg. 1998, Π - 3533, Rn. 69; Rs. T-598/97 - British Shoe Corporation Footwear Supplies Ltd u. a./Rat, Slg. 2002, I I - 1155, Rn. 50 ff.

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C. Entwicklung und Bewertung der Rechtsprechung von EuGH und EuG

nügt 370 , so dass Gleiches dann gelten muss, wenn der Kläger der (wirtschaftlich) Größte unter den Betroffenen ist. Fraglich ist, wann eine Betroffenheit in der wirtschaftlichen Betätigung auch ein individuelles Betroffensein begründet. In der Rechtsprechung finden sich hierzu unterschiedliche Aussagen. Einerseits werden die besondere Wettbewerbsposition des Klägers resp. eine erhebliche oder spürbare Beeinträchtigung der Marktstellung des Klägers als Bezugspunkt gewählt und Kläger in diesen Situationen als von allen anderen unterschieden und daher individuell betroffen angesehen371. Zu Recht ist in der Literatur darauf hingewiesen worden, dass es der Spürbarkeit der Beeinträchtigung an Trennschärfe fehlt. Aufgrund seiner Unbestimmtheit ist dieses Abgrenzungskriterium, welches die Intensität der Beeinträchtigung in den Mittelpunkt rückt, der Rechtssicherheit nicht zuträglich. Darüber hinaus werden gerade Oligopolisten den Nachweis der spürbaren Beeinträchtigung ihrer Markstellung erbringen können, da bei einer Marktbeherrschung durch wenige Unternehmen Veränderungen auf dem Markt für einen Wettbewerber schnell erhebliche Auswirkungen haben können. Dagegen kann bei Monopolisten schon nicht von Wettbewerb gesprochen werden und auch ihre Marktstellung wird sich mangels Konkurrenten nicht verändern 372 . Dass Oligopolisten aber aufgrund ihrer Stellung aus dem Kreis aller übrigen Personen herausgehoben sein sollen, Monopolisten dagegen nicht, leuchtet nicht ein. Andererseits hat die Rechtsprechung gerade in jüngerer Zeit eine restriktive Haltung zu dem Argument der wirtschaftlichen Betroffenheit eingenommen. So hat die Berufung auf schwerwiegende Beeinträchtigungen der wirtschaftlichen Tätigkeit, auch eine stärkere Betroffenheit als die der Konkurrenten, den Klägern regelmäßig nicht geholfen, Nachweis über ihr individuelles Betroffensein zu erbringen. Vielmehr haben die Gemeinschaftsgerichte lapidar darauf hingewiesen, dass es unerheblich sei, wenn eine angefochtene Maßnahme unterschiedliche Auswirkungen für die betroffenen Wirtschaftsteilnehmer zeitigt 373 . In einem Verfahren zum vor370 EUG, RS. T-13/99 - Pfizer Animal Health SA/Rat, Slg. 2002, Π - 3305, Rn. 89. Anders noch in der Entscheidung über vorläufigen Rechtsschutz: EuG, Rs. T-13/99 R - Pfizer Animal Health SA/NV/Rat, Slg. 1999, Π - 1961, Rn. 125; auch Rs. T-70/99 R - Alpharma Inc. /Rat, Slg. 1999, I I - 2027, Rn. 118. 371 EuG, Rs. T-3 / 93 - Société anonyme à participation ouvrière Compagnie nationale Air France/Kommission, Slg. 1994, I I - 121, Rn. 82; Rs. T-435/93 - Association of Sorbitol Producers within the EC (ASPEC) u. a. / Kommission, Slg. 1995, I I - 1281, Rn. 69 f.; Rs. T-442/93 - Association des amidonneries de céréales de la CCE (AAC) u. a. / Kommission, Slg. 1995, Π - 1329, Rn. 53 unter zusätzlicher Berücksichtigung der Beteiligung der Klägerin am Verwaltungsverfahren; Rs. T-266/94 - Foreningen af Jernskibs- og Maskinbyggerier i Danmark, Skibsvaerftsforeningen u. a. / Kommission, Slg. 1996, Π - 1399, Rn. 47. 372 Cremer, EWS 1999,48 (54). 373 EUG, RS. 138/98 - Armement coopératif artisanal vendéen (ACAV) u. a./Rat, Slg. 2000, Π - 341, Rn. 66; Verb. Rs. T-112/00 u. T-122/00 - Iberotam SA u. a./Kommission, Slg. 2001, Π - 97, Rn. 70; Rs. T-166/99 - Luis Fernando Andres de Dios u. a./Rat, Slg.

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läufigen Rechtsschutz hat das EuG das Argument der wirtschaftlichen Betroffenheit für gänzlich irrelevant gehalten, obwohl die Antragstellerinnen sogar behaupteten, in den Ruin getrieben zu werden 374. Dennoch wurde dieser Weg nicht endgültig versperrt. Zwar hat das EuG Zweifel angemeldet, ob die Auswirkungen einer Maßnahme für das individuelle Betroffensein tatsächlich in Betracht zu ziehen seien375, aber dann doch in mehreren Entscheidungen lediglich festgestellt, dass nicht ausreichende Anhaltspunkte dafür vorgetragen wurden, dass die Wirtschaftstätigkeit in großem Umfang betroffen ist bzw. Kläger einen außergewöhnlichen Schaden erleiden 376. Durch diese Vorgehensweise hat das EuG den Folgen einer Maßnahme auf die wirtschaftliche Betätigung des Klägers nicht jegliche Bedeutung für das individuelle Betroffensein abgesprochen, sondern es bleibt offen, ob das EuG bei hinreichendem Vortrag der Kläger zu diesem Punkt eine Individualisierung i. S. d. Plaumann-Formel bejaht hätte. Aus den genannten Entscheidungen ergibt sich, dass die Bedeutung einer schwerwiegenden wirtschaftlichen Beeinträchtigung für das individuelle Betroffensein in der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte als ungeklärt gelten muss377. Zwar bedeutet die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Folgen einer Handlung eine Erweiterung der direkten Klagemöglichkeit aufgrund materieller Kriterien, doch ist in diesem Zusammenhang problematisch, dass die Intensität der Betroffenheit kein klares Kriterium an die Hand gibt. Es können erhebliche Ausforschungsmaßnahmen erforderlich sein, um das Ausmaß der Beeinträchtigung festzustellen und darüber hinaus bleibt die Beurteilung, wann eine besondere Intensität vorliegt, letztlich bis zu einem gewissen Grad willkürlich 378. Die Größe des Klägers auf dem Markt ist unter dem Gesichtspunkt des Rechtsschutzes irrelevant und sollte für die Frage nach dem individuellen Betroffensein nicht berücksichtigt werden. Aus dem gleichem Grund sollte die Höhe des Schadens nicht als absoluter Wert verstanden werden, sondern in Beziehung gesetzt werden zu den konkreten - möglicherweise vernichtenden - Folgen für die betroffene Person.

2001, Π - 1857, Rn. 40; Verb. Rs. T-54/00 u. T-73/00 - Federation de Cofradias de Pescadores de Guipuzcoa u. a./Rat, Slg. 2001, Π - 2691, Rn. 64. 374 EUG, RS. T-155/02 R - W G International Handelsgesellschaft mbH u. a./Kommission, Slg. 2002, Π - 3239, Rn. 29-31. 375 EUG, Verb. Rs. T-54/00 u. T-73/00 - Federation de Cofradias de Pescadores de Guipuzcoa u. a. /Rat, Slg. 2001, Π - 2691, Rn. 65. 376 EUG, Verb. Rs. T-112/00 u. T-122/00 - Iberotam SA u. a. / Kommission, Slg. 2001, Π - 97, Rn. 71; Verb. Rs. T-54/00 u. T-73/00 - Federation de Cofradias de Pescadores de Guipuzcoa u. a./Rat, Slg. 2001, Π - 2691, Rn. 65; Rs. T-43/98 - Emesa Sugar (Free Zone) NV/Rat, Slg. 2001, Π - 3519, Rn. 50; Rs. T-598/97 - British Shoe Corporation Footwear Supplies Ltd u. a./Rat, Slg. 2002, Π - 1155, Rn. 52, 53. 377 Braun/Kettner, DÖV 2003, 58 (60). 378 Cremer, EWS 1999, 48 (54). 9 Schulte

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b) Spezifische Rechte In der Rechtssache Codorniu sah der Gerichtshof besondere, die Klägerin aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebende Umstände darin, dass die Codorniu SA Inhaberin des seit 1924 in Spanien eingetragenen Markenzeichens „Gran Cremant de Codorniu" war, dessen Verwendung ihr durch die streitige Verordnung untersagt wurde 379 . Der Bezugspunkt in Codorniu ist ein anderer als in Extramet. Für letzteres Urteil war die Intensität der Belastung ausschlaggebend, während das individuelle Betroffensein in Codorniu an die Art des beeinträchtigten Rechts anknüpft 380 In der Literatur wird dieses Urteil im Hinblick auf die Entscheidungsgründe zur individuellen Betroffenheit kontrovers diskutiert. Kritisch wird bemerkt, die Tatsache, dass die Klägerin Inhaberin eines seit 1924 eingetragenen Markenzeichens war, sei zufälliger Natur und könne daher nicht ausschlaggebend sein für die Zulässigkeit der Klage; viel eher werde der Eindruck erweckt, der EuGH habe ergebnisorientiert gearbeitet und die Klage aus Billigkeitsgründen zugelassen381. Daneben wird aber auch versucht, die Aussage in Codorniu zu abstrahieren und ihr damit einen allgemein gültigen und in Bezug auf das Merkmal der individuellen Betroffenheit gegenüber der herkömmlichen Interpretation weiteren Anwendungsbereich zu geben. Vor allem mit Grundrechten wird die Klagebefügnis in Verbindung gebracht 382. Nowak setzt das Urteil in der Rechtssache Codorniu in Beziehung zu dem in der Rechtssache SMW Winzersekt. In diesem einige Monate später ergangenen Urteil in einem Vorabentscheidungsverfahren ordnete der EuGH die Nutzung eines Markenzeichens ausdrücklich dem Schutzbereich des Gemeinschaftsgrundrechts auf freie Berufsausübung zu 3 8 3 . Nowak schließt daraus, dass in der Rechtssache Codorniu, in welcher es wie in der Rechtssache SMW Winzersekt um die Nutzung eines eingetragenen Markenzeichens ging, letztlich ebenfalls das Grundrecht auf freie Berufsausübung herangezogen wurde und dass die Rechtsprechung in der Beeinträchtigung einer grundrechtlich geschützten Position einen die Klägerin individualisierenden Umstand gesehen hat 384 . Diese Annahme hat in der nachfolgenden Judikatur keine Bestätigung gefunden. Es gab mehrere Urteile, in denen eine Beeinträchtigung des Gemeinschaftsgrundrechts der Berufsfreiheit im Räume stand, die Gemeinschaftsgerichte diesen Um379 EUGH RS. C-309/89 - Codorniu SA/Rat, Slg. 1994,1 - 1853, Rn. 21, 22. 380 Booß, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 230 Rn. 61. 381 Allkemper, EWS 1994, 362 (362); Gundel, VerwArch 2001, 81 (88/89). 382 Neuwahl, E.L.Rev. 1996, 17 (28); König, JuS 2003, 257 (258, 259), die in der Rechtssache Codorniu den Schutzbereich des Grundrechts auf Eigentum berührt sieht. 383 EuGH, Rs. 306/93 - SMW Winzersekt GmbH/Land Rheinland-Pfalz, Slg. 1994,1 5555, Rn. 20 ff., insbesondere Rn. 24. 384 Nowak, Konkurrentenschutz in der EG, S. 471,472. Ihm folgend: Cremer, in: Calliess/ Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 Rn. 54.

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stand aber nicht als hinreichend für eine Individualisierung des Klägers i. S. d. Art. 230 Abs. 4 EG werteten und auch ansonsten im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung nicht auf Grundrechte rekurrierten 385. Kürzlich erteilte das EuG der grundrechtsbezogenen Interpretation des individuellen Betroffenseins in aller Deutlichkeit eine Absage, indem es in der Rechtssache WG International ausführte, dass ein möglicher Eingriff in Gemeinschaftsgrundrechte für sich genommen keine Klagebefugnis begründe, solange nicht dargelegt wird, inwieweit der Eingriff geeignet ist, die Kläger zu individualisieren386. Auf eine Beeinträchtigung von Gemeinschaftsgrundrechten kann die Klagebefugnis somit nicht gestützt werden. Fraglich ist dann, was das charakteristische Merkmal eines spezifischen Rechts im Sinne der Codormw-Rechtsprechung sein soll, wenn Grundrechte ausscheiden. Die Gemeinschaftsgerichte haben in späteren Urteilen klargestellt, dass grundsätzlich maßgeblich ist, ob dem Kläger die Verwendung eines ausschließlichen Rechts untersagt wird 387 . Neue Impulse für die Fallgruppe der besonderen Rechtspositionen könnten in der jüngeren Rechtsprechung zu sehen sein. Nachdem soweit ersichtlich die Rechtsprechung lange Zeit in nicht einem einzigen Fall der Argumentation von Klägern gefolgt war, in Anlehnung an das Urteil in der Rechtssache Codorniu ein individuelles Betroffensein zu bejahen, hat das EuG in der Rechtssache Pfizer 388 diese Rechtsprechung herangezogen und ein individuelles Betroffensein der Klägerin durch die streitige Verordnung unter dem Gesichtspunkt der Beeinträchtigung besonderer Rechte angenommen. In der Rechtssache Pfizer ging es sachlich um die Neuregelung der Zulassung von Zusatzstoffen in Tierfuttermitteln. Anders als in der bisherigen Regelung wurde die Zulassung von bestimmten Zusatzstoffen wie Antibiotika durch die Neuregelung an einen oder mehrere Verantwortliche für das Inverkehrbringen gebunden, die als Einzige derartige Zusatzstoffe in den Verkehr bringen dürfen. Es sollte dadurch ausgeschlossen werden, dass mangelhafte Nachahmungsprodukte in der Gemeinschaft in Umlauf gebracht werden. In einem Übergangszeitraum zwischen

385 Vgl. ζ. B. EuG, Rs. T-482/93 - Martin Weber und Maria Weber und Martin Weber GdbR/Kommission, Slg. 1996, Π - 609; Rs. T-47/95 - Terre rouges Consultant SA u. a./Kommission, Slg. 1997, I I - 481; Rs. T-100/94 - Kapniki A. Michailidis AE u. a./Kommission, Slg. 1998, Π - 3115; Rs. T-109/97 - Molkerei Großsbraunshain GmbH u. Bene Nahrungsmittel GmbH/Kommission, Slg. 1998, I I - 3533. 386 EUG, Rs. T-155/02 R - W G International Handelsgesellschaft mbH u. a./Kommission, Slg. 2002, Π - 3239, Rn. 32, 33. 387 EUG ,RS. T-113/99 - The Galileo Company und Galileo International LLC/Rat, Slg. 2000, Π - 4141, Rn. 54; EuGH, C-96/01 Ρ - The Galileo Company und Galileo International LLC/Rat, Slg. 2002,1 - 4025, Rn. 51. 388 Das am gleichen Tag ergangene Urteil in der Rs. T-70/99 - Alpharma Inc./Rat, Slg. 2002, I I - 3495 ist mit der Rechtssache Pfizer im Wesentlichen identisch. Vergleiche jetzt auch: EuG, Urteil vom 21. 10. 2003 in der Rs. T-392/02 - Solvay Pharmaceuticals BV/Rat, Rn. 78-81, noch nicht in amtlicher Sammlung. 9*

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alter und neuer Regelung waren diese Zusatzstoffe vorläufig zugelassen, unterlagen aber einer erneuten Beurteilung und Zulassung. Die Klägerin war weltweit einzige Herstellerin eines bestimmten Antibiotikums. Dieser Umstand veranlasste das Gericht - wie schon aus früherer Rechtsprechung ersichtlich - für sich genommen nicht, die Klägerin als individualisiert anzusehen, da die namentliche oder zahlenmäßige Bestimmtheit der von einer Maßnahme Betroffenen hierfür nicht hinreichend ist, solange die Anwendung aufgrund einer objektiven rechtlichen oder tatsächlichen Situation erfolgt, die in dem Rechtsakt umschrieben ist 389 . Einen ausreichenden Nachweis des individuellen Betroffenseins erblickte das EuG aber darin, dass Pfizer sich auf ein im Entstehen befindliches Recht berufen könne, welches ihr bereits eine geschützte Rechtsposition vermittele. Diese Rechtsposition der Klägerin ergebe sich daraus, dass nur diejenigen Personen bzw. ihre Rechtsnachfolger einen neuen Antrag auf Zulassung stellen konnten, die Urheber des wissenschaftlichen Dossiers waren, auf dessen Grundlage die frühere Zulassung des in Frage stehenden Zusatzstoffes erteilt worden war, was auf Pfizer als einzige Herstellerin zutraf. Auch wenn die Klägerin noch nicht die Stellung eines ersten Verantwortlichen für den fraglichen Zusatzstoff besäße, sollte es nach der Rechtsprechung genügen, dass das Verfahren hierzu bereits in Gang gesetzt worden war und somit ein im Entstehen befindliches Recht vorliege. Obwohl die Eigenschaft als Verantwortlicher für das erste Inverkehrbringen eines Zusatzstoffes nicht als ausschließliches Recht zur Vermarktung zu verstehen sei, wurde die Rechtsposition der Klägerin dennoch für mit dem spezifischen Recht der Klägerin in der Rechtssache Codorniu vergleichbar befunden. Besonderes Gewicht wurde dabei dem Umstand beigemessen, dass die wissenschaftlichen Daten des für die Erstzulassung eingereichten Dossiers vor der Verwendung zugunsten anderer Antragsteller geschützt werden, um so den zur Forschung getätigten und notwendigen Investitionen Rechnung zu tragen 390. Aus diesen Umständen entnahm das EuG das individuelle Betroffensein der Klägerin. Zusätzlich wurde die Individualisierung der Klägerin auch an ihrer verfahrensrechtlichen Stellung festgemacht. Zwar war ihr im Verfahren, das zum Erlass der streitigen, den Zusatzstoff verbietenden Verordnung geführt hatte, keine Verfahrensgarantie eingeräumt, doch durch den neuen Antrag auf Zulassung erwarb die Klägerin Verfahrensgarantien in dem darauf folgenden Verfahren der erneuten Beurteilung und Zulassung. Dieses zuletzt genannte Verfahren stand dabei nicht beziehungslos neben dem Verfahren zum Erlass der streitigen Verordnung, vielmehr beendete der Erlass der Verordnung das Verfahren auf erneute Zulassung, in welchem der Klägerin Verfahrensgarantien zugestanden hatten. Dadurch sei die Klägerin individualisiert391. 389 EUG, RS. T-13/99 - Pfizer Animal Health SA/Rat, Slg. 2002, Π - 3305, Rn. 89. 390 EUG, a. a. O., Rn. 90-100. 391 EuG, a. a. O., Rn. 101-104.

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In diesem Urteil hat das EuG die Anforderungen an ein spezifisches Recht im Sinne der Codorniu-Rechtsprechung gelockert. In früheren Entscheidungen, in denen geprüft wurde, ob die Kläger sich auf ein spezifisches Recht zum Nachweis ihrer Individualisierung berufen konnten, beharrte die Rechtsprechung darauf, dass ein wohlerworbenes Recht, eine gefestigte Rechtsposition vorliegen musste, welche bei Erlass der Maßnahme bereits entstanden war 3 9 2 , und es wurde gefordert, dass es sich um ein ausschließliches Recht handeln musste393. Beides war in der Rechtssache Pfizer nicht gegeben und doch nahm das EuG eine Vergleichbarkeit der Rechtsposition mit derjenigen aus der Rechtssache Codorniu an. Insofern wurde das Erfordernis der individuellen Betroffenheit einer weiteren Auslegung als bisher zugänglich gemacht. Es bleibt abzuwarten, ob die Gemeinschaftsgerichte den Begründungsansatz aus der Rechtssache Codorniu weiterentwickeln und wie großzügig sie diese Fallgruppe des individuellen Betroffenseins zukünftig handhaben werden.

5. Zusammenfassung zur Interpretation des individuellen Betroffenseins in der Rechtsprechung Die Gemeinschaftsgerichte haben kein in sich schlüssiges Konzept entwickelt für die Zulässigkeitsvoraussetzung des individuellen Betroffenseins im Rahmen der Nichtigkeitsklage394. Die Problematik der immer noch aktuellen PlaumannFormel, nach welcher ein Kläger nur dann als individuell betroffen anzusehen ist, wenn er von der angefochtenen Maßnahme wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt ist und daher in ähnlicher Weise individualisiert wird wie ein Adressat395, besteht darin, dass sie stark von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls abhängig ist und sich nicht an einem schutzwürdigen Recht oder Interesse orientiert. Im Umgang mit der Voraussetzung des individuellen Betroffenseins herrscht erhebliche Unsicherheit und das Ergebnis der Rechtsprechung ist häufig nicht vorhersehbar. So kommt es dazu, dass viele Klagen für unzulässig befunden werden, aber dennoch zahlreich der Versuch der Anfechtung unternommen wird 396 . Zwar lassen sich der Rechtsprechung Fallgruppen zum indivi392 EUG, RS. T-482 / 93 - Martin Weber und Maria Weber und Martin Weber GdbR / Kommission, Slg. 1996, Π - 609, Rn. 67-70; Rs. T-100/94 - Kapniki A. Michailidis AE u. a./Kommission, Slg. 1998, Π - 3115, Rn. 64 ff. 393 EUG ,RS. T-113/99 - The Galileo Company und Galileo International LLC/Rat, Slg. 2000, I I - 4141, Rn. 54; EuGH, C-96/01 Ρ - The Galileo Company und Galileo International LLC /Rat, Slg. 2002,1 - 4025, Rn. 51. 394 Neuesheim, JZ 2002, 928 (930). 395 EUGH, RS. 25/62-FirmaPlaumann & Co/Kommission, Slg. 1963, 211, 238. 396 Nowak, Zentraler und dezentraler Individualrechtsschutz in der EG im Lichte des gemeinschaftsrechtlichen Rechtsgrundsatzes effektiven Rechtsschutzes, in: Individualrechtsschutz in der EG und der WTO, S. 47 (56).

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duellen Betroffensein entnehmen, jedoch befinden sich auch diese im Fluss und sind zum Teil wenig berechenbar. Man denke etwa an die Fallgruppe der normierten Verpflichtung zur Berücksichtigung spezifischer Interessen, in welcher zuletzt wieder restriktive Tone angeschlagen wurden und in welcher die besagte Verpflichtung erst im Wege der Auslegung der betreffenden Norm ermittelt werden muss. Trotz der Unsicherheiten im Umgang mit dem Kriterium des individuellen Betroffenseins ist die Hinwendung der Rechtsprechung zur Berücksichtigung materieller Positionen unter Rechtsschutzgesichtspunkten in der Literatur begrüßt worden 397 . Ob sich für die bestehenden Fallgruppen neue Impulse vor dem Hintergrund der Urteile von EuG und EuGH in den Rechtssachen Jégo-Quéré und UPA ergeben, lässt sich noch nicht absehen.

6. Stimmen aus der Literatur zum Erfordernis der Individualität Nicht nur die Rechtsprechung hat sich mit der Klagevoraussetzung des individuellen Betroffenseins in vielen Urteilen intensiv auseinandergesetzt, sondern auch die Literatur hat sich mit diesem Erfordernis stets beschäftigt und konstruktive Kritik geübt. In den 60er und 70er Jahren und zum Teil noch später wurden recht restriktive Ansichten zum Erfordernis des individuellen Betroffenseins vertreten. Ausgehend von der damals noch geltenden Prämisse, dass Nichtigkeitsklagen Einzelner ausschließlich gegen Entscheidungen denkbar sind, wurde auch allein darauf Bezug genommen. In diesem Zusammenhang wurde ζ. B. ausgeführt, dass bei an Mitgliedstaaten gerichteten Entscheidungen ein Einzelner allein individuell betroffen sei, wenn der Umsetzungsakt des Mitgliedstaats ebenfalls ein Einzelakt ist, da nur dann insgesamt der Charakter als Entscheidung und die Versagung direkten Rechtsschutzes gegenüber Normativakten konsequent gewahrt bleibe 398 . Problematisch ist an dieser Betrachtungsweise, dass die Rechtsakte der Gemeinschaft und das auf sie bezogene gemeinschaftsrechtliche Rechtsschutzsystem selbstständig neben den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen stehen399. Allerdings haben auch die Gemein397 Cremen in: Calliess/Ruffert, EGV/EUV, Art. 230 Rn. 59,60 m. w. N. 398 Nicolay sen, EuR 1970, 165 (169 f.); Danner, Die Klagemöglichkeit privater Personen gegen Maßnahmen der Kommission, die an Mitgliedstaaten gerichtet sind, nach Art. 173 Abs. 2 EWG-Vertrag, S. 113 ff. 399 Cremer, Forschungssubventionen im Lichte des EGV, S. 254; nach Koch, Die Klagebefugnis Privater gegenüber Europäischen Entscheidungen gemäß Art. 173 Abs. 2 EWG-Vertrag, S. 286 f. lässt sich dieses Ergebnis jedenfalls nicht im Rahmen der Klagebefugnis erreichen.

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schaftsgerichte entschieden, dass an die Mitgliedstaaten gerichtete Entscheidungen (ζ. B. wenn es um den Erlass von Schutzmaßnahmen geht) für die betroffenen Unternehmen Handlungen mit normativem Charakter sind 400 . Letztlich ist hier die Frage nach dem Rechtscharakter aufgeworfen, die losgelöst vom individuellen Betroffensein beantwortet werden sollte. Vielfach wurden quantitative Kriterien herangezogen und es als unabdingbar für die Klagebefugnis erachtet, dass der Kreis der Betroffenen bestimmt bzw. eingegrenzt ist. Ule stellt sich auf den Standpunkt, dass ein individuelles Betroffensein nur dann gegeben sei, wenn - auch bei Entscheidungen, die an andere Personen oder als Verordnungen ergangen sind - der Kläger zumindest durch einige Regelungen des Rechtsaktes ausschließlich betroffen ist 401 . Jedoch zeigt schon die mögliche Klagebefugnis von Nichtadressaten, dass die Begrenzung des individuellen Betroffenseins auf den einzig Betroffenen nicht intendiert war 402 . Die von Ule vorgenommene Einschränkung findet im Wortlaut des Art. 230 Abs. 4 EG keinerlei Stütze403. Ein wenig weiter, aber immer noch restriktiv wird das individuelle Betroffensein verstanden, wenn maßgeblich sein soll, dass die Betroffenen schon bei Erlass der Maßnahme zahlenmäßig feststehen 404 bzw. keine ernsthafte Möglichkeit besteht, dass der Kreis der Betroffenen sich während der Geltungsdauer einer Maßnahme erweitert 405. Letztere Ansicht überzeugt schon deshalb nicht, weil sie zu unbestimmt ist und von Zufälligkeiten abhängt. Unter Umständen sind erhebliche Ausforschungsmaßnahmen erforderlich, um festzustellen, ob die Möglichkeit, dass der Kreis der Betroffenen sich erweitert, ernsthaft ist oder nicht. Hauptsächlich wurde in diesem Zusammenhang argumentiert, dass die Aufnahme einer bestimmten wirtschaftlichen Tätigkeit zuvor äußerst hohe Investitionen erfordere und daher ein Hinzutreten weiterer Betroffener sehr unwahrscheinlich sei 406 . Hohe Investitionen in bestimmten Industriezweigen sind aber durchaus nichts Ungewöhnliches und 400 EUG, T-60/96 - Merck & Co. Inc. u. a./Kommission, Slg. 1997, I I - 849, Rn. 39 m. w. N. 401 Ule, Empfiehlt es sich, die Bestimmungen des europäischen Gemeinschaftsrechts über den Rechtsschutz zu ändern und zu ergänzen ?, in : 46. Deutscher Juristentag, Bd. 1, Teil 4, S. 1 (17). 402 Zilles, Die Anfechtungslegitimation von Dritten im europäischen Fusionskontrollrecht, S. 94/95, allerdings ohne Bezug auf Ule. 403 Cremer, Forschungssubventionen im Lichte des EGV, S. 239. 404 Fuß, JuS 1967,552 (557). 405

GA Roemer, Schlussanträge in den verb. Rs. 10 und 18/68 - Società „Eridania" Zuccherifici Nazionali u. a. / Kommission, Slg. 1969, 459, 485, 493; Schlussanträge in der Rs. 6/68 - Zuckerfabrik Watenstedt GmbH/Rat, Slg. 1968, 611, 622, 629; Daig, Nichtigkeitsund Untätigkeitsklagen im Recht der Europäischen Gemeinschaften, S. 109 ff., 111. 4 06 Nachweis bei EuGH, Rs. 25/86 - Deutz und Geldermann, Sektkellerei Breisach (Baden) GmbH/Rat, Slg. 1987, 941, 944.

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bedeuten nicht, dass sich der Kreis der Betroffenen nicht erweitern kann. Dies hängt von den Profitaussichten ab. Stehen die Betroffenen schon bei Erlass der Maßnahme unveränderlich fest, ist nach hier vertretener Ansicht vom Vorliegen einer Entscheidung auszugehen, nicht von einer Norm. Die Betroffenen sind dann die Adressaten, an die der Rechtsakt eigentlich gerichtet ist. Daraus ergibt sich in der Tat ihre individuelle Betroffenheit. Wird aber eine Entscheidung an einen Mitgliedstaat gerichtet, in welcher dem Mitgliedstaat eine bestimmte Begünstigung erlaubt oder Belastung untersagt wird, ist über die mögliche Klagebefugnis von Konkurrenten der Wirtschaftsteilnehmer, denen die Begünstigung gewährt oder die Belastung erspart bleibt, noch nichts gesagt. Ähnlich fordert Koch in Ahnlehnung an das französische Rechtssystem, dass der Kreis der individuell Betroffenen nicht uferlos sein, sondern eine bestimmte Größe nicht überschreiten dürfe, da sich andernfalls Situationen ergeben könnten, die in die Nähe zur Popularklage zu rücken seien407. Dem ist zum einen entgegenzuhalten, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen der Klagebefügnis bei jedem der Kläger - vollkommen unabhängig von der Anzahl - gerade nicht von einer Popularklage gesprochen werden kann, da eigene und nicht fremde Beeinträchtigungen gerügt werden 408. Zum anderen sieht sich das Differenzierungskriterium, dass eine gewisse Größe des Kreises Betroffener nicht überschritten werden dürfe, dem Vorwurf der Willkürlichkeit und Rechtsunsicherheit ausgesetzt409. Diese Ansätze zur Interpretation des individuellen Betroffenseins haben gemein, dass sie sich nicht allein an der Situation des Klägers orientieren, sondern diese in Beziehung setzen zu derjenigen anderer Personen. Ebenso hat die Rechtsprechung an dem Grundsatz festgehalten, dass das individuelle Betroffensein eine Abgrenzung gegenüber anderen Personen erfordert, nämlich dass der Kläger wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und daher in ähnlicher Weise individualisiert wird wie ein Adressat410. Eine gänzlich andere Linie greift dagegen von Dietze auf, der sich mit der Klagebefugnis verfahrensbeteiligter Dritter beschäftigt hat. Diese Personen sieht er in der Rolle eines Anwalts des öffentlichen Interesses und will daraus ein Klagerecht ableiten, das nicht alternativ zur Rechtsschutzgarantie stehen soll, sondern ergänzend daneben. Eine subjektive Rechtsverletzung soll dabei nicht erforderlich sein. Um Popularklagen vorzubeugen, müsse der Kläger aber einen individuellen Nachteil erlitten haben411. Unmittelbar seien die Kläger betroffen, deren Beeinträchti407

Koch, Die Klagebefugnis Privater gegenüber Europäischen Entscheidungen gemäß Art. 173 Abs. 2 EWG-Vertrag, S. 291 ff. 408 Cremer, Forschungssubventionen im Lichte des EGV, S. 250. 409 Low, Der Rechtsschutz des Konkurrenten gegenüber Subventionen aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht, S. 149/150. 4 "> EuGH, Rs. 25/62 - Firma Plaumann & Co/Kommission, Slg. 1963,211,238. 411 von Dietze, Verfahrensbeteiligung und Klagebefugnis im EG-Recht, S. 199 ff.

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gung ihrer wirtschaftlichen Interessen Anknüpfungspunkt für die streitgegenständliche Regelungsmaterie ist, individuell bei Beteiligung am Verfahren oder wenn sie unverschuldet nicht am Verfahren beteiligt gewesen sind, etwa bei Einstellung des Verfahrens in einem Stadium, für das noch keine Beteiligungsrechte bestehen412. Man mag zugeben, dass der EuGH den Einzelnen schon früher instrumentalisiert hat, um dem Gemeinschaftsrecht zur Durchsetzung zu verhelfen. Paradebeispiel dafür ist die Rechtsprechung zur unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien. Indem der Einzelne sich unter bestimmten Voraussetzungen vor den mitgliedstaatlichen Gerichten auch auf noch nicht umgesetztes Richtlinienrecht berufen kann, werden zweierlei Schutzrichtungen verfolgt: die Wahrung der Interessen des Einzelnen und der effet utile des Gemeinschaftsrechts. Gleichwohl orientiert sich die Einräumung von Individualklagerechten grundsätzlich am Rechtsschutzgedanken. Die Rolle des „Anwalts des öffentlichen Interesses" kommt den in Art. 230 Abs. 2 EG genannten privilegiert Klagebefügten zu. Zudem bietet von Dietze nur für einen Teilbereich der Klagebefugnis eine Erklärung und sein Ansatz stößt - wie er selbst einräumt - bei der Frage der Anfechtbarkeit von Normativakten an Grenzen 413. Zunehmend wurden jedoch Stimmen laut, die den Rechtsschutz möglicher Betroffener in den Mittelpunkt der Diskussion um dierichtigeAuslegung der individuellen Betroffenheit rückten. Angesichts der Tatsache, dass die Nichtigkeitsklage die einzige Möglichkeit für Privatpersonen bietet, einen unliebsamen Gemeinschaftsrechtsakt direkt anzugreifen, ist dieser Rechtsbehelf von außerordentlicher Bedeutung. Wird der direkte Weg zu den Gemeinschaftsgerichten versperrt, bleibt gegebenenfalls nur der Umweg über die Anfechtung von Durchführungsmaßnahmen vor den mitgliedstaatlichen Gerichten mit der Möglichkeit der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens und dessen bereits geschilderten Nachteilen, vor allem dem mangelnden Einfluss des Einzelnen sowohl auf die Einleitung des Verfahrens als auch auf die Formulierung der Vorlagefragen. Vor diesem Hintergrund ist man bemüht, den Rechtsschutz des Einzelnen effizient zu gestalten und der Direktklagemöglichkeit einen weiteren Anwendungsbereich zu geben, als dies die Rechtsprechung tat. Ansatzpunkt hierfür war die auslegungsfähige Voraussetzung des individuellen Betroffenseins. Auf der einen Seite ist Cremer bestrebt, sowohl dem Anspruch des Einzelnen auf effektiven Rechtsschutz möglichst weitreichend Rechnung zu tragen, zugleich aber dem Merkmal der Individualität einen eigenständigen Gehalt zu geben, um die pri412 von Dietze, Verfahrensbeteiligung und Klagebefugnis im EG-Recht, S. 208, 211. 413

von Dietze, Verfahrensbeteiligung und Klagebefugnis im EG-Recht, S. 217 f. Beim Erlass von Normativakten sind nur ausnahmsweise und nur explizit normierte Verfahrensgarantien zu beachten: EuG, Rs. T-122/96 - Federazione nazionale del commercio oleario (Federolio)/Kommission, Slg. 1997, Π - 1559, Rn. 75; Rs. T-109/97 - Molkerei Großsbraunshain GmbH u. Bene Nahrungsmittel GmbH /Kommission, Slg. 1998, Π - 3533, Rn. 60; Rs. T-215/00 - SCEA La Conqueste/Kommission, Slg. 2001, I I - 181, Rn. 42.

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märrechtliche Differenzierung zwischen Individualität und Betroffenheit nicht zu verwischen. Damit eine Person als individualisiert angesehen werden kann, hält es Cremer für erforderlich, dass sie in einer besonderen sachlichen Nähe zum Regelungsinhalt der angefochtenen Maßnahme steht. Er hat zur Bestimmung der sachlichen Nähe das Kriterium der Erstbeschwer entwickelt414. Erstbeschwert und damit klagebefugt sollen zum einen diejenigen Personen sein, denen eine Belastung auferlegt bzw. eine Begünstigung versagt wird, zum anderen seien die Wirtschaftsteilnehmer erstbeschwert, die als direkte Konkurrenten auf demselben relevanten Markt tätig sind wie die von einer Maßnahme Begünstigten bzw. einer Belastung Verschonten415. Zentrales Anliegen ist es, aus der kaum einzugrenzenden Gruppe der in irgendeiner Weise Betroffenen - neben den genannten Personen ζ. B. auch Zulieferer und Arbeitnehmer des Konkurrenten eines Begünstigten - durch das Kriterium der Erstbeschwer diejenigen herauszufiltern, die direkt und zwingend, nicht hingegen nur quasi reflexhaft von einer Maßnahme betroffen sind. Auf der anderen Seite wurde zunehmend die These aufgestellt, dass das individuelle Betroffensein nicht weiter in dem engen Sinn verstanden werden dürfe, der eine Abgrenzung des Klägers von allen übrigen Personen voraussetzt. Vielmehr sollte es einzig und allein auf die Situation des Klägers ankommen. Wegmann, der die Anfechtbarkeit echter Verordnungen im Rahmen der Individualnichtigkeitsklage für zulässig hält, will beim individuellen Betroffensein auf eine besondere Schwere abstellen416. Wie schon der Ansatz Kochs ist auch Wegmanns Vorschlag mit der Rechtssicherheit nicht zu vereinbaren und wegen seiner mangelnden Praktikabilität abzulehnen. Vielfach ist die individuelle Betroffenheit von Klägern dann in Zusammenhang gebracht worden mit einer Beeinträchtigung seiner Gemeinschaftsgrundrechte 417. Insbesondere Low setzt sich für eine grundrechtsbezogene Interpretation der Klagebefugnis ein. Er argumentiert mit der Funktion der Nichtigkeitsklage, welche neben der Wahrung des Gemeinschaftsrechts auch in der Gewährung effektiven Rechtsschutzes zu sehen sei. Er verweist auf die Bedeutung der Art. 6 und 13 EMRK und will dem Kläger dann die Klagebefugnis zuerkennen, wenn er schlüssig eine Grundrechtsverletzung geltend machen kann 418 . 414

Cremer, Forschungssubventionen im Lichte des EGV, S. 244 ff. Cremer, Forschungssubventionen im Lichte des EGV, S. 245, 246. Ausgangspunkt ist die Anfechtbarkeit von an Mitgliedstaaten gerichteten Entscheidungen. Cremer differenziert zwischen vier möglichen Konstellationen: Entscheidungen, die einem Mitgliedstaat eine Begünstigung erlauben bzw. verbieten, und Entscheidungen, die einem Mitgliedstaat eine Belastung erlauben bzw. verbieten. 416 Wegmann, Die Nichtigkeitsklage Privater gegen Normativakte der Europäischen Gemeinschaft, S. 243. 415

417 Klagebefugnis jedenfalls bei Beeinträchtigung von Grundrechten, Lengauer, Nichtigkeitsklage vor dem Europäischen Gerichtshof: Parteistellung natürlicher und juristischer Personen, S. 174; Sedemund/Heinemann, DB 1995, 1161 (1166), Bleckmann, Zur Klagebefugnis für die Individualklage vor dem Europäischen Gerichtshof, in: FS Menger, S. 871 (885).

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Es ist nicht sicher, ob Low der Ansicht ist, ein grundrechtsbezogener Ansatz gehe über das hinaus, was im Rahmen des Wortlauts zulässigerweise als individuelles Betroffensein verstanden werden könne. Zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes hält er eine über den Wortlaut hinausgehende Auslegung jedenfalls für zulässig, andererseits spricht er dem Merkmal der Individualität aber ohnehin eine klare inhaltliche Konturierung ab 419 . Cremer greift jedoch gerade diesen Punkt kritisch auf und bemängelt, dass durch die grundrechtsbezogene Interpretation Löws der primärrechtlich vorgegebene Unterschied zwischen „individuell" und ,3etroffensein" und deren Eigenständigkeit aufgegeben werde. Auch eine Interpretation in Anlehnung an § 42 Abs. 2 VwGO wurde des Öfteren angeregt420. Eine Übertragung der Regelungen aus nationalen Prozessordnungen ist freilich nicht ohne weiteres zulässig. Gegenüber der restriktiven Plaumann-Formel würde eine dem deutschen Recht nachempfundene Klagebefugnis aber immerhin zum Teil eine rechtsschutzfreundlichere Interpretation bedeuten. Allerdings würde sie auch eine Einschränkung mit sich bringen, soweit nur mögliche Rechts-, nicht aber Interessenverletzungen genügen.

7. Eigener Ansatz So wie die Unmittelbarkeit das Betroffenensein näher beschreibt, so muss ebenfalls der Individualität gegenüber der Betroffenheit ein eigenständiger Gehalt beigemessen werden. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass die Prämisse der Rechtsprechung, eine bestimmte persönliche Eigenschaft oder ein besonderer, den Kläger aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstand sei dazu erforderlich, zwingend ist. Eine derartige Interpretation wirft nämlich die Problematik auf, dass stets irgendwelche Besonderheiten aufzufinden sein werden und dann differenziert werden muss, welche dieser Besonderheiten für die Klagebefugnis von Bedeutung sind und welche nicht. Die wenig vorhersehbare Rechtsprechung zur PlaumannFormel hat die Folgen einer solchen Vorgehensweise offenbart. Ausgehend von dem Begriff „individuell" sind vielfältige Auslegungen möglich. Er wird gleichgesetzt mit „persönlich", „der eigenen Persönlichkeit angemessen" oder „dem Einzelnen gehörend", und der über den Wortstamm verwandte Begriff des „individualisieren" wird definiert als „etwas oder jemanden durch Hervor41 » Low, Der Rechtsschutz des Konkurrenten gegenüber Subventionen aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht, S. 153 ff. 419

Low, Der Rechtsschutz des Konkurrenten gegenüber Subventionen aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht, S. 153,154. «ο von Danwitz, NJW 1993, 1108 (1115); Allkemper, Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, S. 93 ff.

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hebung von etwas Besonderem vom Allgemeinen abheben"421. Letzteres könnte es nahe legen, dass ein individuell betroffener Kläger tatsächlich aus dem Kreis aller übrigen Personen herausgehoben sein muss. Daneben ist aber auch der Ursprung dieser Wortgruppe zu betrachten und die heutige, im Zusammenhang mit Fragen des Rechtsschutzes übliche Bedeutung. Der Ursprung der hier besprochenen Begriffe ist der lateinische Ausdruck „individuus", welcher unteilbar bedeutet. Bei modernem rechtsstaatlichen Verständnis kann das als unteilbar, untrennbar von einem Menschen verstanden werden, was die Rechtsordnung ihm als seinen Rechts- bzw. Interessenkreis geschützt vor nicht gerechtfertigten Einriffen zubilligt. Auch die schon angesprochenen Bedeutungen „persönlich" und „dem Einzelnen gehörend" stützen diese Auffassung. Im juristischen Sprachgebrauch wird der Wortstamm „individuell" häufig benutzt, ohne dass die Bedeutung der Plaumann-Formel eine Rolle spielt. Ganz allgemein wird von Individualrechtsschutz gesprochen, wenn es um den Rechtsschutz des Einzelnen geht, sei es im Zusammenhang mit der Nichtigkeitsklage, anderen Klagearten oder gar anderen Rechtssystemen422. In der EMRK wird die Klagemöglichkeit von natürlichen Personen, nichtstaatlichen Organisationen und Personengruppen Individualbeschwerde genannt423. Eine irgendwie herausgehobene Stellung des Klägers wird nicht verlangt, sondern die Verletzung ihm zustehender Konventionsgrundrechte. Wenn von Individualrechtsschutz die Rede ist, dann ist der Bezugspunkt das Individuum als dem Staat bzw. der Gemeinschaft eigenständig gegenüberstehende Persönlichkeit mit einem eigenen Rechts- bzw. Interessenkreis. Wichtiger als die Auseinandersetzung mit dem möglichen semantischen Gehalt des Begriffs „individuell" ist aber der teleologische Gehalt im Rahmen des Art. 230 Abs. 4 EG. Die Funktion, Entscheidungen von Normativakten abzugrenzen, kommt der individuellen Betroffenheit nicht zu. Auch Handlungen mit allgemeiner Geltung können besondere Auswirkungen auf bestimmte Personen haben, ohne dadurch ihre allgemeine Geltung zu verlieren. Es handelt sich dann eher um Fragen der Verhältnismäßigkeit. Ein hybrider Rechtscharakter von Handlungen mit allgemeiner Geltung, die einzelne Personen individuell betreffen, ist abzulehnen424. Sinnvoller erscheint es, von dem Kriterium der individuellen Betroffenheit nur eine Abgrenzung dahin gehend zu erwarten, dass der Kläger nicht ausschließlich als Teil der Allgemeinheit betroffen ist. 421

Langenscheidts Fremdwörterbuch, Eintragung „individuell" und ähnliche Wörter. Vgl. nur die Beiträge im Europäischen Konvent von Farnleitner/Rack vom 14. November 2002, CONV 402/02 und von Meyer vom 29.November 2002, CONV 439/02; Nowak/Cremer (Hrsg.), Individualrechtsschutz in der EG und der WTO sowie die Beiträge in diesem Band. 42 3 Art. 34 EMRK. 422

424

C. II. 2. c) bb) (1) (a).

ΙΠ. Das individuelle Betroffensein

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Ein Ausschluss der Popularklage lässt sich auch erreichen, wenn man das individuelle Betroffensein nicht in dem strengen Sinn versteht, dass der Einzelne aus dem Kreis der übrigen Wirtschaftsteilnehmer herausgehoben sein muss. Nicht nur als Teil der Allgemeinheit ist jemand betroffen, der von einer Maßnahme in seinem Rechts- oder Interessenkreis berührt wird. Eine semantische Differenzierung zwischen der Individualität und dem Betroffensein ist durch diese weite Interpretation nicht ausgeschlossen. Betroffen ist jeder, der grundsätzlich der angefochtenen Maßnahme unterworfen ist, damit jede Personen, die - sei es unmittelbar oder mittelbar über Umsetzungsakte der Mitgliedstaaten - der von der Gemeinschaft ausgeübten Gewalt unterliegt, für die also Gemeinschaftsrechtsakte rechtlich bindend sind. Betroffenheit bezieht sich dann auf die Allgemeinheit der Rechtsunterworfenen. Erforderlich ist aufgrund des natürlichen Wortsinns aber, dass die Maßnahme belastender Natur ist. Die Individualität ergibt sich demgegenüber aus dem Bezug zu der Rechts- und Interessensphäre des Einzelnen. Während der Einzelne als Teil der Allgemeinheit von einer Maßnahme selbst dann betroffen ist, wenn er ζ. B. die von der Maßnahme einschränkend geregelte Tätigkeit aktuell gar nicht ausübt, potentiell hingegen etwa bei zukünftiger Aufnahme dieser Tätigkeit die gemeinschaftsrechtliche Vorschrift zu beachten hat, ist individuell nur betroffen, wer durch den Gemeinschaftsrechtsakt aktuell in seinem Rechts- bzw. Interessenkreis betroffen ist. Ebenso wie bei der Differenzierung Cremers zwischen Erstbetroffenen und anderweitig Betroffenen geht es auch bei der hier vertretenen Ansicht letztlich darum, Betroffenen ein Klagerecht zuzugestehen, wenn sie in ihren rechtlich geschützten Positionen beeinträchtigt sind. Es muss aber entschieden werden, welche Rechts- bzw. Interessenpositionen das Gemeinschaftsrecht gerichtlichem Rechtsschutz unterstellen will 4 2 5 . In der ersten Variante des Art. 230 Abs. 4 EG ist kein individuelles Betroffensein des Klägers zu prüfen, weil sich die Beeinträchtigung seiner Rechts- und Interessensphäre bei belastenden Maßnahmen schon aus seiner Adressatenstellung ergibt. Für die zweite und dritte Variante des Art. 230 Abs. 4 EG muss dies aber erst durch das individuelle Betroffensein festgestellt werden. Die hier vertretene Auffassung hat zudem den Vorteil, dass das individuelle Betroffensein in der zweiten und dritten Variante übereinstimmend ausgelegt werden kann. Ginge es bei der individuellen Betroffenheit um den Entscheidungscharakter einer Maßnahme, würde dies für die zweite Variante einen Sinn ergeben, fraglich bleibt dann aber, warum die dritte Variante des Art. 230 Abs. 4 EG sowohl verlangt, dass eine Entscheidung vorliegt, als auch, dass der Kläger individuell betroffen ist. Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass auch ein systematischer Vergleich mit der mittlerweile außer Kraft getretenen Vorschrift des Art. 33 Abs. 2 EGKS dem gefundenen Ergebnis zur individuellen Betroffenheit nicht entgegensteht426. 425

Diese Entscheidung muss im Rahmen dieser Arbeit unbeantwortet bleiben.

142

C. Entwicklung und Bewertung der Rechtsprechung von EuGH und EuG

Art. 33 EGKS war insofern weiter als Art. 230 Abs. 4 EG, als er kein individuelles Betroffensein verlangte und generelle Rechtsakte der Anfechtung unterwarf. Selbst wenn man unterstellen wollte, dass die Autoren der Verträge bewusst unterschiedliche Regelungen der Individualanfechtung gewählt haben 427 , und damit eine restriktive Interpretation des individuellen Betroffenseins im Rahmen von Art. 230 Abs. 4 EG gerechtfertigt werden soll, ist vor dem Hintergrund der Entwicklung der Gemeinschaft seit den 60er Jahren ein solches Argument kaum überzeugend428. Ausschlaggebend muss vielmehr sein, ob der Wortlaut des Art. 230 Abs. 4 EG gewahrt wird. In dessen Rahmen sind Rechtsfortbildungen zugunsten schützenswerter Interessen zulässig.

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Eine eingehende Auseinandersetzung zu dieser Problematik findet sich bei Cremer, Forschungssubventionen im Lichte des EGV, S. 255 ff. 427 Hartley, The Foundations of European Community Law, S. 380 ff. 428 GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequefios Agricultores/ Rat, Slg. 2002, I I - 6677,1-6681, Rn. 76-78.

D. Problematische Fälle im gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutzsystem Die Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte zum Individualrechtsschutz gegen normative Rechtsakte, insbesondere zur Nichtigkeitsklage, ist neben bedeutenden Entwicklungsschritten auch geprägt von Erklärungsnöten und offenen Fragen. Mittlerweile ist anerkannt, dass Normativakte - seien es Richtlinien, seien es Verordnungen - grundsätzlich von nicht-privilegierten Klägern mit der Nichtigkeitsklage angefochten werden können. Eine dogmatisch überzeugende Begründung wird dafür aber nicht geboten. Das individuelle Betroffensein ist die höchste Hürde auf dem Weg zur Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage gegen Normen und zugleich das mit den größten Unsicherheiten behaftete Merkmal. Bei Richtlinien kommt hinzu, dass die Rechtsprechung des EuG zwischen formeller und materieller Unmittelbarkeit des Betroffenseins schwankt, obwohl Letzterer eindeutig der Vorzug zu geben ist. Aus diesen Schwächen folgt indes nicht zwangsläufig, dass Lücken im gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutzsystem existieren und damit der Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes verletzt ist. In welchen Situationen das gemeinschaftsrechtliche Rechtsschutzsystem im Hinblick auf normative Rechtsakte defizitär sein könnte, ist Gegenstand nachfolgender Ausführungen.

I. Rechtsschutz gegen Sekundärrechtsakte ohne Durchführungsmaßnahmen Besondere Aufmerksamkeit ist der unter Rechtsschutzgesichtspunkten problematischen Konstellation zuteil geworden, in welcher eine belastende Maßnahme des Gemeinschaftsrechts ergeht, die keines weiteren Umsetzungs- oder Durchführungsaktes mehr bedarf 1. Soweit Gemeinschaftsrechtsakte zur konkreten Anwendung noch eines Vollzugsakts bedürfen, sind zum Teil Gemeinschaftsorgane zur Durchführung berufen (sogenannter gemeinschaftseigener Vollzug)2, der Regelfall hingegen ist der mit1 Ζ. B. Schmidt-Aßmann, JZ 1994, 832 (836); von Danwitz, NJW 1993, 1108 (1114); Gröpl, EuGRZ 1995, 583 (589); Sedemumd/Heinemann, DB 1995, 1161 (1161, 1162); Rengeling, Brauchen wir die Verfassungsbeschwerde auf Gemeinschaftsebene?, in: FS für Everling, S. 1187(1195). 2 Ehlers, DVB1. 1991, 605 (619). Differenziert wird dabei zwischen dem gemeinschaftsinternen Vollzug, der insbesondere Personalangelegenheiten, den Haushaltsvollzug und die

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D. Problematische Fälle im gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutzsystem

gliedstaatliche Vollzug, entweder indem direkt unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht vollzogen wird (unmittelbarer mitgliedstaatlicher Vollzug) oder indem das Gemeinschaftsrecht zunächst in innerstaatliches Recht transponiert und dann vollzogen wird (mittelbarer mitgliedstaatlicher Vollzug)3. Sind noch solche Vollzugsakte erforderlich, scheitert eine Nichtigkeitsklage gegen die zugrundeliegenden Maßnahme des Gemeinschaftsrechts in der Regel an dem Erfordernis der unmittelbaren Betroffenheit, da der zugrunde liegende Rechtsakt den Kläger nicht ipso facto betrifft, sondern vermittelt durch den Vollzugsakt. Eine Nichtigkeitsklage kommt allein dann in Betracht, wenn die Unmittelbarkeit nach materiellen Kriterien bejaht werden kann, weil für die Umsetzung keinerlei Ermessensspielraum besteht oder der durchführende Mitgliedstaat von vornherein sein beabsichtigtes Handeln bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechtsaktes eindeutig festgelegt hat4. Ist somit der Weg über die Nichtigkeitsklage versperrt, bleibt dem Betroffenen nur die Möglichkeit, Rechtsschutz gegen die Durchführungsmaßnahme zu suchen. Bei gemeinschaftseigenem Vollzug kann die Durchführungsmaßnahme Klagegegenstand gemäß Art. 230 Abs. 4 EG sein. Die Voraussetzung des unmittelbaren Betroffenseins stellt dann keine Hürde mehr dar. Obliegt, wie üblich, der Vollzug den Mitgliedstaaten, wird der Betroffene auf den nationalen Rechtsweg gegen die mitgliedstaatliche Durchführungsmaßnahme verwiesen. Bestehen Zweifel an der Rechtsmäßigkeit oder Auslegung des zugrunde liegenden Gemeinschaftsrechtsaktes, steht zur Klärung dieser Fragen das Vorabentscheidungsverfahren zur Verfügung. Grundlegend anders stellt sich die Situation für den Betroffenen dar, wenn ein Gemeinschaftsrechtsakt nicht durch weitere Durchfuhrungsmaßnahmen vollzogen wird. Die Anfechtung eines Vollzugsaktes mit der Möglichkeit der Einleitung des Vorabentscheidungsverfahrens zur Kontrolle der zugrunde liegenden Gemeinschaftsrechtsmaßnahme scheidet aus. Sind zudem die strengen Zulässigkeitsvoraussetzungen der Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 Abs. 4 EG, namentlich das Kriterium der individuellen Betroffenheit, nicht erfüllt, könnte dem Betroffenen der Verlust zumindest des primären Rechtsschutzes drohen. Sekundärrechtsschutz innere Organisation betrifft, und dem gemeinschaftsexternen Vollzug im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten und zu Individuen. 3 Ehlers, DVB1. 1991,605 (610). 4 EuGH, Rs. C-291/89 - Interhotel/Kommission, Slg. 1991, I - 2257, Rn. 13; Rs. C-386/96 Ρ - Société Louis Dreyfus & Cie. / Kommission, Slg. 1998,1 - 2309, Rn. 43; Rs. C-152/88 - Sofrimport SARL/Kommission, Slg. 1990, I - 2477, Rn. 9; Verb. Rs. 106 u. 107/63 - Firma Alfred Töpfer KG u. Firma Getreide-Import-Gesellschaft/Kommission, Slg. 1965, 547, 556; Rs. 62/70 - Werner A. Bock/Kommission, Slg. 1971, 897, Rn. 7; Rs. 11 / 82 - SA Piraiki-Patraiki u. a./Kommission, Slg. 1985, 207, Rn. 8, 9; EuG, Rs. T-380/94 - Association internationale des utilisateurs de fils de filaments artificiels et synthétiques et de soie naturelle (AIUFFASS) u. Apparel, Knitting & Textiles Alliance (AKT) / Kommission, Slg. 1996, Π - 2 1 6 9 , Rn. 46.

I. Rechtsschutz gegen Sekundärrechtsakte ohne Durchführungsmaßnahmen

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über die Schadensersatzklage ist dagegen grundsätzlich erreichbar, wobei nicht aus den Augen verloren werden darf, dass einerseits Primärrechtsschutz zur Freiheitssicherung vorzugswürdig ist und andererseits einem Schadensersatzanspruch gegen Normativakte hohe Hürden entgegengestellt sind5. Die Problematik der Rechtsschutzgewährung gegen self-executing Normen hatte sich in der Rechtssache Deutz und Geldermann offenbart. In der Rechtssache Deutz und Geldermann klagte ein Schaumweinhersteller gegen eine Verordnung des Rates, welche unter anderem die Regelung traf, dass Schaumweine, welche die Ursprungsangabe „Champagne" nicht führen dürfen, auch nicht unter Bezugnahme auf das als „méthode champenoise" bezeichnete Herstellungsverfahren in den Verkehr gebracht werden dürfen 6. Die Verordnung entfaltete Rechtswirkungen, ohne dass es eines ausführenden Einzelaktes bedurfte, gegen den die Betroffene sich hätte zur Wehr setzen können. Da diese Rechtssache zeitlich vor der Entscheidung in der Rechtssache Codorniu lag, kam es für die Zulässigkeit entscheidend darauf an, dass ein tauglicher Klagegegenstand vorlag, mithin ob die Verordnung bei materieller Betrachtung eine Entscheidung darstellte. Die Klägerin trug für den Entscheidungscharakter vor, dass der Kreis der Betroffenen bestimmbar und eine Erweiterung praktisch ausgeschlossen sei, da die Einrichtung von Produktionsstätten für das benannte Herstellungsverfahren sehr kostenintensiv sei7. Der EuGH folgte dem nicht und wies die Klage als unzulässig ab8. Um einen anfechtbaren Akt zu erhalten, müsste ein Betroffener in dieser Situation bewusst gegen den Gemeinschaftsrechtsakt verstoßen. Ist er dann - sei es in Form von sofort vollziehbaren Verfügungen, sei es in Form von Ordnungsgeld oder gar strafrechtlichen Sanktionen - Repressalien ausgesetzt, kann er den Rechtsweg gegen diese Maßnahmen beschreiten. Aus rechtsstaatlichen Gründen kann es aber keinesfalls akzeptiert werden, von dem Betroffenen ein solches Vorgehen zu verlangen. Denn um Rechtsschutz in Anspruch nehmen zu können, wäre der Einzelne gezwungen, sich über die Norm hinwegzusetzen und das Risiko einzugehen, dass sich sein Handeln nach der gerichtlichen Kontrolle als rechtswidrig erweist und er die Konsequenzen tragen muss9. 5 Vgl. Β. IV. 3. b). 6 Art. 6 Abs. 5 UAbs. 2 VO 3309/85, AB1.EG 1985, Nr. L 320, S. 9 ff. 7 Nachweis bei EuGH, Rs. 25 / 86 - Deutz und Geldermann, Sektkellerei Breisach (Baden) GmbH/Rat, Slg. 1987, 941, 944. » EuGH, Rs. 25/86 - Deutz und Geldermann, Sektkellerei Breisach (Baden) GmbH/Rat, Slg. 1987,941, 950 ff. Der EuGH hatte ausgeführt, dass die Klägerin lediglich in ihrer objektiven Eigenschaft als Schaumweinherstellerin betroffen sei und sich demnach nicht in besonderer Weise aus dem Kreis der übrigen Wirtschaftsteilnehmer heraushebe, Rechtsnormcharakter und individuelles Betroffensein werden vermengt. Eine Individualisierung durch die Beeinträchtigung eines spezifischen Rechts, wie es später in der Rechtssache Codorniu maßgeblich war, wurde nicht erörtert. 9 GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequefios Agricultores/ Rat, Slg. 2002, Π - 6677, Π - 6681, Rn. 43; Paehlke-Gärtner, VB1BW 2000, 13 (18); Rengeling, Brauchen wir die Verfassungsbeschwerde auf Gemeinschaftsebene?, in: FS für Everling,

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1 4 6 D . Problematische Fälle im gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutzsystem

Will man diesen Weg daher nicht gehen, ist fraglich, ob der Anwendungsbereich der Nichtigkeitsklage zur Vermeidung von Rechtsschutzlücken de lege lata auf solche Fälle erstreckt werden kann oder ob es primär den Mitgliedstaaten obliegt, für die Rechtsschutzgewährung in diesen Situationen Sorge zu tragen, indem sie unabhängig vom Vorliegen eines anfechtbaren nationalen Durchführungsaktes einen Rechtsweg eröffnen.

I I . Effektiver Rechtsschutz als rechtzeitiger Rechtsschutz Die Rechtzeitigkeit des Rechtsschutzes ist ein zentraler Aspekt des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz. Kommen Rechtsbehelfe zu spät, können sie unter Umständen jegliche Schutzwirkung verlieren, dem Grundsatz justice delayed is justice denied entsprechend. 1. Vorläufiger Rechtsschutz auf Gemeinschaftsebene Rechtzeitiger Rechtsschutz steht vornehmlich im Zusammenhang mit vorläufigem Rechtsschutz. Ohne vollumfänglich den Bereich des vorläufigen Rechtsschutzes behandeln zu wollen, soll kurz auf die Verbindung zwischen der Nichtigkeitsklage als Hauptsacheverfahren und dem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auf Gemeinschaftsebene eingegangen werden. Gemäß Art. 242 S. 1 EG haben Klagen bei dem Gerichtshof und i. V. m. Art. 224 Abs. 6 EG ebenso Klagen bei dem EuG keine aufschiebende Wirkung. Ist aber dennoch einstweiliger Rechtsschutz geboten, kann er nach Maßgabe der Art. 242 S. 2, 243 EG gewährt werden. Ein zulässiger Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz nach Art. 242, 243 EG setzt voraus, dass die Hauptsache rechtshängig ist 10 . Die Zulässigkeit der Klage in der Hauptsache wird im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes grundsätzlich nicht geprüft, es sei denn die Klage in der Hauptsache ist offensichtlich unzulässig, dann scheidet vorläufiger Rechtsschutz aus11. Einstweiliger Rechtsschutz ist geboten und damit ein entsprechender Antrag begründet, wenn die Anordnung dringlich ist, d. h. ein schwerer und nicht wieder gutzumachender Schaden droht 12, eine Abwägung ergibt, dass das Interesse des S. 1187 (1196); Gröpl, EuGRZ 1995, 583 (588); Sedemund/Heinemann, DB 1995, 1161 (1163); Dittert, EuR 2002, 708 (715 f., 718). 10 Art. 83 § 1 der Verfahrensordnung des EuGH, Art. 104 § 1 der Verfahrensordnung des EuG. u Wägenbaur, EuZW 1996, 327 (328); Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 242-243, Rn. 7. 12 EuGH, Rs. C-180/96 R - Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland/ Kommission, Slg. 1996,1 - 3903, Rn. 44; EuG, Rs. T-213/97 R - Komitee der Baumwollund verwandten Textilindustrien der Europäischen Union (Eurocoton) u. a./Rat, Slg. 1997, Π -1609, Rn. 43.

II. Effektiver Rechtsschutz als rechtzeitiger Rechtsschutz

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Antragstellers an der Anordnung gegenüber dem Interesse der Gemeinschaft sowie etwaiger Dritter am Vollzug überwiegt und schließlich die erlassenen Maßnahmen vorläufiger Natur sind, so dass sie dem Urteil in der Hauptsache nicht vorgreifen, sondern die volle Wirksamkeit der künftigen endgültigen Entscheidung sichern13. Während früher zusätzlich hohe Anforderungen an die Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestellt wurden, genügt es heute, dass die Klage nicht offensichtlich unbegründet ist. Schwierige Fragen sollen dabei der Hauptsache vorbehalten bleiben14. Wird auf Gemeinschaftsebene vorläufiger Rechtsschutz gesucht, scheitert dieses Begehren in Bezug auf normative Rechtsakte in aller Regel daran, dass eine Nichtigkeitsklage zwar anhängig sein mag, aber wegen fehlender individueller Betroffenheit offensichtlich unzulässig ist. Speziell für den Rechtsschutz gegen Richtlinien bestehen zusätzlich Unsicherheiten im Hinblick auf das (formell oder materiell verstandene) unmittelbare Betroffensein. Die Problematik, ob grundsätzlich vorläufiger Rechtsschutz gegenüber Normativakten auf Gemeinschaftsebene erreicht werden kann - unabhängig von der Ausgestaltung im Einzelnen - erweist sich somit lediglich als Annex zur Diskussion um den Rechtsschutz in der Hauptsache.

2. Vorläufiger Rechtsschutz auf mitgliedstaatlicher Ebene Beschreitet der Betroffene den dezentralen Rechtsweg, etwa indem er vor den mitgliedstaatlichen Gerichten den auf einer Gemeinschaftsnorm beruhenden Vollzugsakt anficht, kommt ebenfalls vorläufiger Rechtsschutz in Betracht. Ist der Richter des mitgliedstaatlichen Gerichts der Auffassung, der zugrunde liegende Gemeinschaftsrechtsakt sei wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht ungültig und will ihn daher unangewendet lassen, ist er verpflichtet, ein Vorabentscheidungsverfahren einzuleiten. Während der Dauer des Vorabentscheidungsverfahrens behält der in Frage stehende Gemeinschaftsrechtsakt grundsätzlich seine volle Wirksamkeit. Über die Verwerfung des sekundären Gemeinschaftsrechtsaktes entscheidet der EuGH, die nationalen Gerichte sind hierzu nicht befugt 15. Dieses Verwerfungsmonopol erfahrt aber eine vorübergehende Einschränkung im Hinblick auf die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Halten die nationalen Gerichte einen Gemeinschaftsrechtsakt wegen Verstoßes gegen höherrangiges 13 EuGH, Rs. C-313/90 R - Comité international de la rayonne et des fibres synthétiques u. a./Kommission, Slg. 1991,1 - 2557, Rn. 24; Rs. C-43/98 Ρ (R) - Camar Sri/Kommission und Rat, Slg. 1998,1 - 1815, Rn. 45; EuG, Rs. T-6/97 R - Comafrica SpA und Dole Fresh Fruit Europe Ltd & Co./Kommission, Slg. 1997, Π - 291, Rn. 51; Rs. T-610/97 R - Hanne Norup Carlsen u. a./Rat, Slg. 1998, Π - 485, Rn. 55. η Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 242-243, Rn. 15; Wägenbaur, EuZW 1996, 327 (332, 333). 15 Herdegen, Europarecht, Rn. 221.

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D. Problematische Fälle im gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutzsystem

Recht für unwirksam und wollen ihn daher nicht anwenden, dürfen sie unter engen Voraussetzungen zur Durchsetzung des höherrangigen Gemeinschaftsrechts und im Interesse effektiven Rechtsschutzes den Vollzug des Gemeinschaftsrechtsaktes aussetzen bzw. eine einstweilige Anordnung treffen 16. Anderenfalls bestünde für den Betroffenen die Gefahr, dass - obwohl sich der Rechtsakt gegebenenfalls als rechtswidrig erweist - bis zum Abschluss des Vorabentscheidungsverfahrens vollendete Tatsachen geschaffen worden sind und Rechtsschutz zu spät kommt. Voraussetzung für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist, dass das Gericht erhebliche Zweifel an der Gültigkeit des zugrunde liegenden Gemeinschaftsrechtsakts hat, die Aussetzung dringlich ist, da ein schwerer und nicht wieder gutzumachender Schaden droht, sowie die hinreichende Berücksichtigung des Gemeinschaftsinteresses. Schließlich ist das nationale Gericht in einem solchen Fall zur Vorlage verpflichtet 17. Das Verwerfungsmonopol des Gerichtshofs wird dadurch zumindest zeitweilig zugunsten des Individualrechtsschutzes suspendiert, der dadurch generell als hinreichend berücksichtigt gelten kann. Dennoch kann die Zuständigkeit mitgliedstaatlicher Gerichte, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, die Betroffenen vor erhebliche Schwierigkeiten stellen. Generalanwalt Jacobs hat in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache UPA das Problem angesprochen: Beschränkt sich die Tätigkeit des Einzelnen, die durch den Gemeinschaftsrechtsakt beeinträchtigt oder gar unmöglich gemacht wird, nicht auf das Gebiet eines einzigen Mitgliedstaats, so ist der Kläger gezwungen, in mehreren Mitgliedstaaten Verfahren anzustrengen, da eine einstweilige Anordnung bzw. Aussetzung durch ein innerstaatliches Gericht auf das Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats beschränkt ist. Als Konsequenz droht die Beeinträchtigung der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts, da von den nationalen Gerichten divergierende Entscheidungen ergehen können18. Dem Kläger wird eventuell in einem Mitgliedstaat vorläufiger Rechtsschutz zugebilligt und der Vollzug der Maßnahme ausgesetzt bzw. eine einstweilige Anordnungen getroffen, in einem anderen Mitgliedstaat hingegen wird womöglich kein vorläufiger Rechtsschutz gewährt und die Maßnahme behält ihre volle Wirksamkeit. Für den Kläger ist diese Situation nicht nur misslich, sondern kann in ihren Auswirkungen sogar bedeuten, dass er 16 EuGH, Verb. Rs. C-143/88 u. C-92/89 - Zuckerfabrik Süderdithmarschen AG /Hauptzollamt Itzehoe u. Zuckerfabrik Soest GmbH/Hauptzollamt Paderborn, Slg. 1991,1-415, Rn. 16 ff.; Rs. C-465/93 - Atlanta Fruchthandelsgesellschaft mbH u. a. ©/Bundesamt für Ernährung und Forstwirtschaft, Slg. 1995,1 - 3761, Rn. 33 ff. Zu den möglichen Alternativen der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes und der gleichzeitigen Sicherung des Verwerfungsmonopols des Gerichtshofs sowie deren Nachteilen siehe Krumbacher, Vorläufiger Rechtsschutz vor nationalen Gerichten in Fällen mit Gemeinschaftsrechtsbezug, S. 156 ff. 17 EuGH, Verb. Rs. C-143/88 u. C-92/89 - Zuckerfabrik Süderdithmarschen AG/Hauptzollamt Itzehoe u. Zuckerfabrik Soest GmbH/Hauptzollamt Paderborn, Slg. 1991, 1 - 4 1 5 , Rn. 23 ff.; Rs. C-465/93 - Atlanta Fruchthandelsgesellschaft mbH u. a. (I)/Bundesamt für Ernährung und Forstwirtschaft, Slg. 1995,1 - 3761, Rn. 35 ff. 18 GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequenos Agricultores/ Rat, Slg. 2002, I I - 6677, I I - 6681, Rn. 44.

II. Effektiver Rechtsschutz als rechtzeitiger Rechtsschutz

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rechtsschutzlos gestellt wird. Er kann auf eine einheitliche Rechtslage in allen Mitgliedstaaten angewiesen sein, wenn er aus tatsächlichen oder wirtschaftlichen Gründen nicht in der Lage ist, bei der Produktion oder dem Vertrieb seiner Ware unterschiedliche Maßstäbe einzuhalten.

3. Vorwirkungen von Normen Nicht nur soweit die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes an die Anhängigkeit eines Hauptsacheverfahrens gebunden ist, sondern auch darüber hinaus ist für die Rechtzeitigkeit des Rechtsschutzes ausschlaggebend, dass frühzeitig ein Hauptsacheverfahren angestrengt werden kann. Von besonderer Relevanz in diesem Zusammenhang sind Vorwirkungen von Normen. Diese können entstehen, wenn nach der Verabschiedung bzw. Veröffentlichung einer Norm Übergangsfristen entstehen bis zum dem Zeitpunkt, ab dem die Norm Rechtswirkungen entfaltet. Sowohl für Verordnungen als auch für Richtlinien sind derartige Situationen denkbar. Zum einen sind solche Übergangszeiträume für Richtlinien charakteristisch, weil diese Rechtsakte stets eine Umsetzungsfrist enthalten. Dadurch wird den Mitgliedstaaten eine angemessene Zeit gewährt, um ihrer Verpflichtung nachzukommen und die Richtlinie in die jeweiligen nationalen Rechtsordnungen zu transponieren. Zum anderen kann eine Beeinträchtigung durch eine Verordnung drohen, wenn ein Übergangszeitraum entsteht, in welchem noch die alte Rechtslage gelten soll, und somit die Verordnung erst ab dem Ende des Übergangszeitraums Rechtswirkungen entfaltet 19. In diesen Fällen wird eine rechtliche Beeinträchtigung erst nach Ablauf des Übergangszeitraums auferlegt. Gleichwohl kann es für Betroffene unzumutbar sein, den Fristablauf abzuwarten. Wenn die zukünftige Änderung der Rechtslage nicht nur potentiell im Raum steht, sondern mit Gewissheit eintreten wird, können von der Regelung faktische Vorwirkungen ausgehen. Die zukünftig Betroffenen müssen sich unter Umständen schon vor offizieller Änderung der Rechtslage auf die kommende Situation einstellen. Das kann gerade im Hinblick auf wirtschaftliche Betätigungen weitreichende Konsequenzen haben. Ein Unternehmen benötigt regelmäßig eine gewisse Zeit, wenn etwa das Herstellungsverfahren eines Produkts, die Zusatzstoffe für ein Produkt, der Vertrieb eines Produkts o. ä. verändert werden sollen. Eine Umstellung von heute auf morgen ist nicht zu realisieren. Die Einräumung von Übergangsfristen zwischen alter und neuer Rechtslage dient häufig gerade dem Zweck, solchen Umständen angemessen Rechnung zu tragen. 19 In der Rs. Deutz & Geldermann, die schon in Zusammenhang mit der Problematik des Rechtsschutzes gegen Sekundärrechtsakte ohne Durchführungsmaßnahmen angesprochen wurde, lag eine solche Situation vor. Die Verordnung sah eine Übergangszeit von 8 Jahren vor, bis die benannte Bezeichnung verboten sein sollte.

1 5 0 D . Problematische Fälle im gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutzsystem

Eine Frist, innerhalb derer sich zukünftig Betroffene auf die neue Rechtslage einstellen können und müssen, darf aber nicht dazu fuhren, dass die Betroffenen ausnahmslos erst dann gegen den Rechtsakt bzw. Durchführungsmaßnahmen klagen können, wenn die neue Rechtslage gilt und damit die rechtliche Belastung eingetreten ist. Sie müssen sich schon zuvor an die neue Regelung angepasst haben. Sollte der Gemeinschaftsrechtsakt später als rechtswidrig beurteilt werden, müssten die bereits getroffenen Dispositionen rückgängig gemacht werden. Verursacht dies Schäden, besteht im Grundsatz die Möglichkeit der Liquidierung im Wege der Amtshaftungsklage gemäß Art. 288 Abs. 2 i. V. m. Art. 235 EG. Auf die überaus hohen Anforderungen, die gestellt werden bei einer Amtshaftungsanklage gegen Normativakte, wurde bereits hingewiesen20. Letztlich können aber auch irreversible Schäden entstehen21, wenn etwa der Betroffene in die Insolvenz getrieben wird und in dem Zeitpunkt, in welchem Klagerhebung möglich wäre, nicht mehr existiert. Die besondere Schutzbedürftigkeit bei Drohen irreversibler Schäden ist den Gemeinschaftsgerichten keineswegs gleichgültig oder gar unbekannt. Genau auf diesem Gedanken beruhen nämlich die Entscheidungen in den Rechtssachen Zuckerfabrik Süderdithmarschen und Atlanta. Innerstaatliche Gerichte dürfen nur dann den Vollzug eines Gemeinschaftsrechtsaktes vorläufig aussetzen bzw. einstweilige Anordnungen treffen, wenn unter anderem schwere und nicht wieder gutzumachende Schäden drohen22. Für die hier erörterte Rechtsschutzproblematik ist der Ansatz leider noch nicht fruchtbar gemacht worden. Da effektiver Rechtsschutz unter anderem rechtzeitigen Rechtsschutz voraussetzt, muss es den Einzelnen möglich, frühzeitig ein Verfahren anzustrengen, wenn die rechtliche Belastung zu einem späteren Zeitpunkt mit Sicherheit eintritt. Dieser rechtzeitige Rechtsschutz muss unabhängig davon bestehen, ob die Norm unmittelbar wirkt oder Durchführungsmaßnahmen auf Grundlage der Norm erforderlich sind. Sollten repressive Rechtsbehelfe ausnahmsweise dem Anspruch an die Effektivität nicht genügen, muss vorbeugender Rechtsschutz gewährleistet sein. Die Problematik vorbeugenden Rechtsschutzes gegen Normen ist hiervon nicht berührt, da nur Fälle in den Blick genommen sind, in denen die Norm bereits verabschiedet bzw. veröffentlicht ist und damit der Willensbildungsprozess des erlassenden Organs abgeschlossen ist.

20 Vgl. unter Β. IV. 3. b). 21 Cremer, EuZW 2001,453 (457). 22 Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 106.

ΙΠ. Rechtsschutz für „staatliche Stellen" gegen Richtlinien

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Π Ι . Sonderfall: Rechtsschutz für „staatliche Stellen" gegen unmittelbar anwendbare Richtlinien Bislang ohne Beachtung ist die Frage nach den Rechtsschutzmöglichkeiten in einer weiteren Konstellation geblieben. Es geht um Rechtsschutz gegenüber Richtlinien für diejenigen Stellen, denen gegenüber Richtlinien auch bei Belastungen unmittelbare Wirkung entfalten. Der Gerichtshof hat eine unmittelbare Anwendbarkeit zu Lasten Privater für unzulässig erklärt, will aber zur Sicherung des effet utile des Gemeinschaftsrechts der unmittelbaren Anwendbarkeit in vertikalen Verhältnissen einen möglichst weiten Anwendungsbereich belassen. Zu diesem Zweck legt der EuGH den Begriff des Staates sehr weit aus, so dass darunter auch Einrichtungen subsumiert werden, die kraft staatlichen Rechtsakts oder unter staatlicher Aufsicht eine Dienstleistung im öffentlichen Interesse erbringen und dabei mit besonderen Rechten ausgestattet sind, die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten23. Nur Arnull hat sich mit der Klageberechtigung der Stellen beschäftigt, die der EuGH als staatszugehörig ansieht und belastenden Richtlinienbestimmungen unmittelbar unterwirft. Er kommt allerdings zu dem Ergebnis, dass diese Einrichtungen als privilegiert Klageberechtigte behandelt werden sollten und damit Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 Abs. 2 EG anstrengen könnten, ohne eine Rechts- bzw. Interessenbeeinträchtigung und insbesondere ohne individuelles Betroffensein nachweisen zu müssen. Es ist bereits aufgezeigt worden, dass der Ansatz von Arnull nicht tragfähig ist 24 . Die privilegiert Klageberechtigten können mit der Nichtigkeitsklage zum einen ihre organschaftlichen Rechte verteidigen, zum anderen wirken sie auf die Einhaltung und Wahrung des Gemeinschaftsrechts hin. Soweit die Mitgliedstaaten als privilegiert Klageberechtigte derartige Aufgaben und Befugnisse wahrnehmen, korrespondiert dies mit ihrer besonderen Pflichtenstellung und gesamtstaatlichen Verantwortlichkeit der Gemeinschaft gegenüber, mit ihrer Eigenschaft als Herren der Verträge. Eine vergleichbare Funktion kommt den einzelnen Stellen, die bezüglich der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien als staatlich aufgefasst werden, nicht zu, so dass eine privilegierte Klageberechtigung gemäß Art. 230 Abs. 2 EG nicht zuerkannt werden kann. Verbleibt es demnach bei der Möglichkeit, eine Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 Abs. 4 EG anzustrengen, müssen die Voraussetzungen der unmittelbaren und individuellen Betroffenheit erfüllt sein. Erstere bereitet sogar bei formellem Verständnis ausnahmsweise keinerlei Schwierigkeiten. Richtlinien berühren die Rechtsstellung „staatlicher" Stellen aus sich heraus und können ihnen Verpflichtungen auferlegen, ohne dass ein mitgliedstaatlicher Umsetzungsakt hierfür erforderlich ist. Das Erfordernis des individuellen Betroffenseins hingegen bleibt eine Hürde in gewohnter Höhe. Es dürfte den Betroffenen, für die Richtlinien unmittel23 EUGH, Rs. C - l 88 / 89 - A. Foster u. a. / British Gas plc, Slg. 1990,1-3313, Rn. 20. 24 c. I. 2. c).

1 5 2 D . Problematische Fälle im gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutzsystem

bar belastende Wirkungen zeitigen, allenfalls in Ausnahmefallen gelingen, einen Umstand nachzuweisen, der sie aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebt. Ein Rechtsakt der Mitgliedstaaten, mit dem die Richtlinie in das jeweilige nationale Recht transponiert wird und gegen den der Betroffene sich zur Wehr setzen könnte, steht zwar noch aus, da sich durch die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien deren Umsetzung nicht erledigt. Es soll mit dieser Rechtsfigur und bei Vorliegen ihrer Voraussetzungen nur sichergestellt werden, dass die Mitgliedstaaten sich nicht ihrer gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung entziehen, indem sie eine Richtlinie gar nicht, verspätet oder nicht hinlänglich umsetzen. Dennoch kann dem Umsetzungsakt unter dem Aspekt der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes keine signifikante Bedeutung zugemessen werden. Denn die Belastung, welche den Betroffenen der hier erörterten Fallgruppe auferlegt wird, fließt bereits aus der Richtlinie selbst. Das bedeutet bei fehlender oder verspäteter Umsetzung, dass die Belastung bereits vor dem Umsetzungsakt entsteht, bei inhaltlich unzureichender Umsetzung bewirkt die Richtlinie eine darüber hinausgehende Belastung. Rechtsbehelfe, die gegen die Umsetzungsakte gerichtet sind, kommen zu spät bzw. erfassen nicht die eigentliche Belastung und sind daher nicht in der Lage, den Betroffenen effektiven Rechtsschutz gegenüber Richtlinien zu gewähren. Die Situation, in der „staatliche Stellen" unmittelbar durch Richtlinien belastet werden, ähnelt der Situation, in der ein Einzelner durch eine self-executing Verordnung belastet wird. Ein Unterschied besteht darin, dass bei Ersterer zwar zu einem späteren Zeitpunkt noch ein Umsetzungsakt ergeht, dieser aber für den Rechtsschutz keinen geeigneten Anknüpfungspunkt bietet. Es werden anschließend die neueste Rechtsprechung zum Rechtsschutz gegen Normen und die daraus folgenden Konsequenzen für die Rechtswegverteilung zwischen zentraler und dezentraler Ebene dargestellt, um dann beurteilen zu können, ob die problematischen Konstellationen gemäß dem Grundsatz effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes gelöst werden können.

E. Jüngste Entwicklungen zum Individualrechtsschutz gegen normative Rechtsakte zwischen zentraler und dezentraler Rechtswegeröffnung Der Rechtsschutz gegenüber Normen ist nach den Vorgaben des Primärrechts grundsätzlich dem Rechtsweg auf dezentraler Ebene vor den mitgliedstaatlichen Gerichten zugewiesen. Die notwendige Einbindung der Gerichtsbarkeit der Europäischen Gemeinschaft, welche die einheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen hat und ein Verwerfungsmonopol für Gemeinschaftsrechtsakte unterhalb des Ranges von Primärrecht besitzt, erfolgt über das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG. Nachfolgend sollen die jüngste Rechtsprechung im Hinblick auf eine mögliche Erweiterung des direkten Klagerechts dargestellt und die daraus folgenden Konsequenzen für das Rechtsschutzsystem gegen Normen beleuchtet werden.

I . Neue Diskussion der Gemeinschaftsgerichte zur Reform des Rechtsschutzes Die restriktive Haltung der Gemeinschaftsgerichte zur Zulässigkeit von Nichtigkeitsklagen gemäß Art. 230 Abs. 4 EG vor allem gegenüber Normen ist jüngst wieder kontrovers von den Gemeinschaftsgerichten diskutiert worden. Zentrum der Auseinandersetzung war das Kriterium der individuellen Betroffenheit, das die Gemeinschaftsgerichte seit 1963 konstant anhand der Plaumann-Formel bestimmen, nach welcher derjenige, der nicht Adressat einer Entscheidung ist, nur dann geltend machen, von ihr individuell betroffen zu sein, wenn die Entscheidung ihn wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie einen Adressaten1. Zwar haben sich im Laufe der Zeit verschiedene Fallgruppen herausgebildet2, die auch Erweiterungen der Klagebefugnis mit sich brachten, doch ist die Plaumann-Formel nie aufgegeben worden. Erst jetzt zeigte sich teilweise die Bereitschaft zu diesem Schritt.

ι EuGH, Rs. 25/62 - Firma Plaumann & Co/Kommission, Slg. 1963, 211, 238. 2 CHI. 2.-4.

154

E. Jüngste Entwicklungen zum Individualrechtsschutz

1. Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs vom 21. 03. 2002 in der Rechtssache C-50/00 Ρ - UPA Den Schlussanträgen des Generalanwalts in der Rechtssache UPA lag ein Sachverhalt zugrunde, der die Anfechtung einer Verordnung zur Marktorganisation für Olivenöl betraf 3. Unter anderem schaffte die streitige Verordnung einige bislang bestehende Beihilfentatbestände ab. Die Klägerin (UPA) war mit einer Nichtigkeitsklage gegen die Verordnung vor dem EuG gescheitert, welches die Klage mangels individuellen Betroffenseins als offensichtlich unzulässig abwies4. Ein anderes Ergebnis konnte nach Ansicht des Gerichts auch nicht dadurch begründet werden, dass die Klägerin auf das Fehlen innerstaatlicher Rechtsbehelfe hinwies, mit der Folge, dass es nicht zu einer Überprüfung der Gültigkeit der streitigen Verordnung im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art. 234 EG kommen könne. Die Klägerin sah aus diesem Grund ihren Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gefährdet. Im März 2002 plädierte Generalanwalt Jacobs in seinen Schlussanträgen zum Rechtsmittelverfahren für eine Abkehr von der restriktiven Interpretation der Zulässigkeitsvoraussetzung des individuellen Betroffenseins.

a) Strukturelle

Schwächen des Vorabentscheidungsverfahrens

Jacobs setzte sich zunächst mit der Frage auseinander, ob durch das Vorabentscheidungsverfahren vollständiger, effektiver gerichtlicher Rechtsschutz gegenüber allgemeinen Gemeinschaftsrechtsakten gewährleistet ist. Er verneinte dies, da Verfahren vor den nationalen Gerichten bei Gültigkeitsfragen nicht geeignet seien, effektiven Individualrechtsschutz zu gewähren. Zum einen verwies er in diesem Zusammenhang auf die Kompetenzverteilung zwischen nationaler Gerichtsbarkeit und Gemeinschaftsgerichtsbarkeit, nach der nationalen Gerichten keine Befugnis zukommt, Gemeinschaftsrechtsakte für ungültig zu erklären, so dass sie bei Gültigkeitsfragen keine rechtsschutzrelevante Funktion ausüben könnten5. Zum anderen stützte er sich bei seiner Argumentation auf die dem Vorabentscheidungsverfahren inhärenten Mängel6. Zu diesen wird gezählt, dass der Einzelne weder selbst eine Vorlage bewirken kann noch Einfluss auf die Formulierung der Vorlagefragen hat. Wird die Gültigkeit einer allgemeinen Gemeinschaftshandlung in einem Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten gerügt, könnte mithin 3 Verordnung 1638/98/EG des Rates vom 20.07. 1998, ABl. L 210, S. 32. 4 EuG, Rs. T-173/98 - Union de Pequefios Agricultores/Rat, Slg. 1999, I I - 3357, Rn. 46 ff. 5 GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequefios Agricultores/ Rat, Slg. 2002, Π - 6677,1 - 6681, Rn. 41. 6 GA Jacobs, a. a. O., Rn. 42.

I. Neue Diskussion zur Reform des Rechtsschutzes

155

äußerstenfalls eine an sich erforderliche Vorlage bei rechtsfehlerhafter Bewertung der nationalen Gerichte gänzlich unterbleiben. Des Weiteren stellt Jacobs die langen Verfahrensdauern und die Kosten heraus, die aus dem Beschreiten des innerstaatlichen Instanzenzugs entstehen können, da erst das im konkreten Fall letztinstanzliche Gericht zur Vorlage gemäß Art. 234 Abs. 3 EG verpflichtet ist7. Als besonders problematisch weitete er den Umstand, dass bei Fehlen nationaler Durchführungsmaßnahmen eine Klage vor den nationalen Gerichten mangels tauglichen Klagegegenstands nicht in Betracht komme und ein inzidentes Vorabentscheidungsverfahren somit ebenfalls nicht8. Schließlich wies Generalanwalt Jacobs auf die Probleme hin, die bei der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes auf dezentraler Ebene entstehen könnten9. Ein nationales Gericht kann vorläufigen Rechtsschutz nur bezogen auf das Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats gewähren, so dass ein Kläger, dessen Tätigkeit sich über die Gebiete mehrerer Mitgliedstaaten erstreckt, gezwungen ist, in jedem dieser Mitgliedstaaten Verfahren einzuleiten. Aus den genannten Argumenten schloss Generalanwalt Jacobs, dass das Vorabentscheidungsverfahren - soweit ausschließlich die Gültigkeit eines Gemeinschaftsrechtsakts in Frage steht - effektiven gerichtlichen Rechtsschutz nicht zu gewähren vermag. b) Keine subsidiäre Klagebefiignis Als Lösung zur Beseitigung von (vermeintlichen) Rechtsschutzdefiziten gegenüber Verordnungen schlug die Klägerin eine Auffangzuständigkeit des EuG vor. Sie argumentierte, dass das gemeinschaftsrechtliche Grundrecht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz es gebiete, im Einzelfall zu prüfen, ob der Kläger effektiven gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen könne. Daher sei in jedem Einzelfall zu kontrollieren, ob dem Kläger nach nationalem Recht ein Verfahren zur Verfügung steht, in dessen Rahmen ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof hinsichtlich der in Frage stehenden Rechtmäßigkeit des Gemeinschaftsrechtsaktes erfolgen kann. Fehle es an einem Rechtsbehelf auf nationaler Ebene, müsse die Nichtigkeitsklage des Einzelnen für zulässig erklärt werden, da nur so das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gewahrt bleibe10. Jacobs schloss sich dieser Position nicht an, da das Vorliegen der Voraussetzungen zur Klagebefugnis nach dem Wortlaut von Art. 230 Abs. 4 EG ohne Bezug auf das etwaige Fehlen nationaler Rechtsbehelfe zu bestimmen sei. Zudem müssten 7 GA Jacobs, a. a. O., Rn. 44. 8 GA Jacobs, a. a. O., Rn. 43. 9 GA Jacobs, a. a. O., Rn. 44. m Nachweis bei GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequenos Agricultores/Rat, Slg. 2002, Π - 6677, Π - 6681, Rn. 23.

156

E. Jüngste Entwicklungen zum Individualrechtsschutz

anderenfalls die Gemeinschaftsgerichte die nationalen Verfahrensvorschriften auslegen, wofür sie weder zuständig noch das geeignete Forum seien. Letztlich würde die von der Klägerin geforderte Vorgehensweise zu gesteigerter Rechtsunsicherheit und zu nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlungen der Rechtsunterworfenen je nach Ausgestaltung des innerstaatlichen Rechtsschutzes führen. Die Folge wäre, dass in einem Mitgliedstaat mangels Rechtswegeröffnung auf nationaler Ebene eine Verordnung im Wege des Art. 230 Abs. 4 EG direkt angegriffen werden könnte, ein Betroffener aus einem anderen Mitgliedstaat in vergleichbarer Lage jedoch gegen dieselbe Verordnung auf bestehende nationale Rechtsbehelfe und das Vorabentscheidungsverfahren verwiesen würde 11.

c) Keine umfassende Dezentralisierung Ebenfalls ablehnend stand der Generalanwalt der von Rat und Kommission vertretenen Auffassung gegenüber, wonach die Mitgliedstaaten zur Sicherung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz verpflichtet seien, das nationale (Verfahrens-)Recht so auszugestalten, dass dem Einzelnen stets ein Rechtsbehelf zur Verfügung steht, in dessen Rahmen dann die Rechtswidrigkeit der Gemeinschaftshandlung gerügt und ein Vorabentscheidungsverfahren zur Überprüfung der Gültigkeit eingeleitet werden kann12. Generalanwalt Jacobs begründete seine Ablehnung dieser Lösungsmöglichkeit damit, dass die Kläger weiterhin auf das Vorabentscheidungsverfahren mit seinen inhärenten Mängeln verwiesen würden. Daneben hob er hervor, dass die Kontrolle, ob das mitgliedstaatliche Recht den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben entspricht, in tatsächlicher Hinsicht große Schwierigkeiten bereiten würde. Auch sei dieser Weg mit erheblichen Eingriffen in die nationale Verfahrensautonomie verbunden 13 .

d) Konsequenz: Neue Interpretation

der Individualität

Um den genannten Unwägbarkeiten ein Ende zu bereiten, sprach sich Generalanwalt Jacobs für eine erweiterte Klagebefugnis Betroffener im Rahmen des Art. 230 Abs. 4 EG aus. Das Erfordernis der individuellen Betroffenheit sollte seiner Ansicht nach nicht mehr in dem Sinn verstanden werden, dass der Betroffene sich aus dem Kreis aller übrigen Personen herausheben müsse, vielmehr sei hinrei11 GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequefios Agricultores/ Rat, Slg. 2002, Π - 6677, Π - 6681, Rn. 50 ff. 12 Nachweis bei GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequefios Agricultores /Rat, Slg. 2002, Π - 6677, Π - 6681, Rn. 29. 13 GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequefios Agricultores/ Rat, Slg. 2002, I I - 6677, II - 6681, Rn. 54 ff.

I. Neue Diskussion zur Reform des Rechtsschutzes

157

chend, dass die angefochtene Gemeinschaftshandlung aufgrund der persönlichen Umstände des Einzelnen erhebliche nachteilige Auswirkungen auf seine Interessen hat oder wahrscheinlich haben wird 14 . Nach Ablehnung der anderen Alternativen sei die Erweiterung der Direktklagemöglichkeit der einzige Weg zur Sicherung des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz und würde diesem zudem zu optimaler Geltung verhelfen. Als zusätzlichen Vorteil nannte er den Gewinn an Rechtssicherheit bei der bislang oft schwer einzuschätzenden Frage nach der Klagebefugnis und den Gewinn an Rechtssicherheit durch eine frühzeitige Klärung der Rechtmäßigkeit von Normen aufgrund der zweimonatigen Klagefrist gemäß Art. 230 Abs. 5 EG 1 5 . Die Nichtigkeitsklage sei auch deshalb das geeignetere Verfahren, da über Art. 242 EG und Art. 243 EG vorläufiger Rechtsschutz für das gesamte Gemeinschaftsgebiet einheitlich zu erreichen ist. Auch werde das Gemeinschaftsorgan, das den streitigen Rechtsakt erlassen hat, als Partei beteiligt16. Schließlich könnte die Arbeit des Gerichts sich wieder auf die wichtigen materiellen Fragen konzentrieren, anstatt überwiegend die Zulässigkeit einer Klage zu erörtern 17. Des Weiteren verglich er die ansonsten herrschende Großzügigkeit des Gerichthofs in Bezug auf die anfechtbaren Rechtsakte, die Klageberechtigten und den Prüfungsumfang mit der restriktiven Haltung der Gemeinschaftsgerichte zur Klagebefugnis von Individualklägern und forderte - auch vor dem Hintergrund der Ausweitung der Befugnisse der Gemeinschaftsorgane - eine Anpassung und Erweiterung des Individualrechtsschutzes18. Generalanwalt Jacobs ging noch den Einwänden nach, die gegen eine Ausdehnung der Klageberechtigung über ein weit gefasstes individuelles Betroffensein ins Feld geführt werden, wertete aber keines der Argumente als überzeugend. Er stimmte zu, dass sich jedwede Auslegung der Klageberechtigung in dem vom Wortlaut des Art. 230 Abs. 4 EG vorgegebenen Rahmen halten müsse. Angesichts der Interpretationsfähigkeit des Begriffs der individuellen Betroffenheit, sah Jacobs keine Gefahr einer Überschreitung der Wortlautgrenze19. Rückschlüsse aus einem Vergleich zum Wortlaut des Art. 33 EGKS, der eine Klageberechtigung in größerem Umfang zuließ als Art. 230 Abs. 4 EG, seien aufgrund der Entwicklung und Behauptung des Gemeinschaftsrechts nicht mehr zulässig. Aus eben diesem Grund müsse auch die Gesetzgebung nicht mehr vor der gerichtlichen Kontrolle ihrer Rechtsakte geschützt werden20. 14 GA Jacobs, 15 GA Jacobs, 16 GA Jacobs, 17 GA Jacobs,

a. a. O., Rn. 60. a. a. Ο., Rn. 64,48. a. a. O., Rn. 46. a. a. O., Rn. 66.

ι» GA Jacobs, a. a. O., Rn. 67-72. 19 GA Jacobs, a. a. O., Rn. 75. 20 GA Jacobs, a. a. O., Rn. 76 ff.

158

E. Jüngste Entwicklungen zum Individualrechtsschutz

Zu einer Arbeitsüberlastung der Gemeinschaftsgerichte käme es durch die erweiterte Klageberechtigung nicht, da die Zulässigkeitsvoraussetzungen der unmittelbaren Betroffenheit und der zweimonatigen Klagefrist wirksam Filterfunktion übernehmen könnten und der höheren Zahl an Direktklagen eine sinkende Zahl an Vorabentscheidungsverfahren gegenüberstünden21. Zudem könnten sowohl Regelungen zur Verfahrensbeschleunigung getroffen werden als auch das EuG personell verstärkt werden22. Bei einer Vielzahl von Klagen gegen dieselbe Handlung könnten Musterrechtssachen ausgewählt oder die Rechtssachen zur gemeinsamen Entscheidung verbunden werden, offensichtlich unbegründete Klagen könnten gemäß Art. 111 der Verfahrensordnung des EuG durch Beschluss zurückgewiesen werden 23 . Die Beibehaltung einer gefestigten Rechtsprechung aus Gründen der Rechtssicherheit würdigte Generalanwalt Jacobs generell als erstrebenswert, für die Frage nach der Ausdehnung der Klagebefugnis sah er aber überwiegende Gründe für eine Änderung der Rechtsprechung. Die Rechtsprechung zur Klagebefugnis sei ohnehin teilweise geändert worden und insgesamt komplex und schwer vorhersehbar 24 . Auch ein Vergleich zu den mitgliedstaatlichen Rechtsschutzsystemen ergebe, dass diese die Klagebefugnis (häufig sogar gegenüber Gesetzen25) großzügiger behandeln26. Die gerichtliche Kontrolle von Rechtsakten mit allgemeiner Geltung müsse schließlich nicht dem Gerichtshof als Verfassungsgericht vorbehalten bleiben, da schon jetzt das EuG im Rahmen von Nichtigkeits- und Schadensersatzklagen über die Gültigkeit solcher Rechtsakte entscheide und insgesamt für alle Klagen von Einzelpersonen zuständig sei. Die besondere Stellung des Gerichtshofs als Verfassungsgericht werde dadurch gewahrt, dass er als Rechtsmittelinstanz die abschließende Entscheidungsbefugnis über die Gültigkeit von Handlungen der Gemeinschaft innehat27.

21 GA Jacobs, a. a. O., Rn. 65, 79. 22 GA Jacobs, a. a. O., Rn. 81. 23 GA Jacobs, a. a. O., Rn. 80. 24 GA Jacobs, a. a. O., Rn. 83 ff. 25 GA Jacobs macht zudem darauf aufmerksam, dass mitgliedstaatliche Gesetze sich anders als die allgemeinen Rechtsakte der Gemeinschaft durch Normhierarchie und stärkere demokratische Legitimation grundlegend von den Einzelmaßnahmen (Verwaltungsakten) unterscheiden. 26 GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequefios Agricultores/ Rat, Slg. 2002, Π - 6677, Π - 6681, Rn. 85 ff. 27 GA Jacobs, a. a. O., Rn. 91.

I. Neue Diskussion zur Reform des Rechtsschutzes

159

2. Urteil des EuG vom 03. 05. 2002 in der Rechtssache T-177/01 -Jégo-Quéré Das Urteil des EuG in der Rechtssache Jégo-Quéré folgte wenige Wochen nach den Schlussanträgen des Generalanwalts Jacobs und betraf wiederum die Anfechtung einer Verordnung. Die Klägerin wehrte sich gegen die in dieser Verordnung getroffene Regelung einer bestimmten Mindestgröße für die Maschen von Netzen zum Fischfang 28.

a) Klageberechtigung

nach der Plaumann-Formel

Das EuG prüfte zunächst die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage nach den von der Rechtsprechung üblicherweise angewandten Kriterien. Nach Ansicht des Gerichts lag eine Handlung mit allgemeiner Geltung vor, da die Verordnung sich abstrakt an unbestimmte Personengruppen richteund objektiv bestimmte Sachverhalte regele 29. Entsprechend der durch das Urteil in der Rechtssache Codorniu begründeten Rechtsprechung wurde geprüft, ob die Klägerin gleichwohl unmittelbar und individuell betroffen und die Klage daher zulässig ist. Während das unmittelbare Betroffensein bejaht wurde, weil die angefochtene Verordnung ein Verbot statuiere und keiner Durchführungsmaßnahme bedürfe 30, konnte das EuG nach der herkömmlichen Rechtsprechung ein individuelles Betroffensein nicht annehmen. Die objektive Eigenschaft als (Wittlings-)Fischer individualisiere die Klägerin nicht und auch keine der zum individuellen Betroffensein entwickelten Fallgruppen wurde als erfüllt angesehen. Weder sei die Kommission aufgrund einer spezifischen Vorschrift 31 verpflichtet gewesen, die Auswirkungen der beabsichtigten Verordnung auf die Klägerin zu berücksichtigen, noch existiere eine gemeinschaftsrechtliche Bestimmung, die der Klägerin Verfahrensgarantien eingeräumt hätte noch ließe sich ein individuelles Betroffensein der Klägerin aus spezifischen Rechten oder ihrer wirtschaftlichen Stellung herleiten32. Nach den herkömmlichen Kriterien wäre daher die Klage als unzulässig abzuweisen.

28 Art. 3 Buchstabe d und Art. 5 der Verordnung 1162/01/EG der Kommission vom 14. 06. 2001, ABl. L 159, S. 4. 29 EuG, Rs. T-177/01 - Jégo Quéré et Cie SA/Kommission, Slg. 2002, I I - 2365, Rn. 23, 24. 30 EuG, a. a. O., Rn. 26.

31 Im Räume stand Art. 33 EG, der nach Ansicht des EuG nur die Grundsätze und Ziele der gemeinsamen Agrarpolitik festlegt, nicht aber die geltend gemachte Verpflichtung für die Gemeinschaftsorgane enthält. 32 EuG, Rs. T-177/01 - Jégo Quéré et Cie SA/Kommission, Slg. 2002, Π - 2365, Rn. 27 ff.

160

E. Jüngste Entwicklungen zum Individualrechtsschutz

b) Rechtsschutzgewährung

durch andere Verfahren

Da sich einerseits die Klägerin darauf berief, bei Unzulässigkeit der Nichtigkeitsklage rechtsschutzlos gestellt zu sein, weil mangels anfechtbarer Durchführungsmaßnahme auch der Rechtsweg zu den nationalen Gerichten nicht eröffnet sei 33 , und andererseits das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf im Gemeinschaftsrecht anerkannt ist, prüfte das EuG, ob effektiver Rechtsschutz gegen Rechtsakte mit allgemeiner Geltung, die den Einzelnen unmittelbar beeinträchtigen, gewährleistet ist. Das Vorabentscheidungsverfahren sei dazu nicht in der Lage, wenn es an Durchführungsmaßnahmen fehlt, die Klagegegenstand vor den nationalen Gerichten sein können. Ein Verstoß gegen den Gemeinschaftsrechtsakt, um gegen darauf folgende Sanktionsmaßnahmen klagen und die Rechtswidrigkeit des zugrunde liegenden Gemeinschaftsrechtsaktes inzident rügen zu können, sei dem Betroffenen nicht zumutbar34. Eine Schadensersatzklage gemäß Art. 288 Abs. 2 i. V. m. Art. 235 EG könne diese Funktion ebenfalls nicht erfüllen, da der Rechtsakt weiterhin Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung bleibt und die Rechtmäßigkeitskontrolle nicht umfassend, sondern bei der Anfechtung von Rechtsakten allgemeiner Geltung auf das Vorliegen eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen Rechtsnormen beschränkt ist, deren Zweck es ist, dem Einzelnen Rechte zu verleihen35. Das Gericht sah daher den Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz als verletzt an 36 .

c) Änderung der Rechtsprechung zur individuellen

Betroffenheit

Das EuG betonte, dass dieses Ergebnis nicht dazu führen könne, dass das vertragliche Rechtsschutzsystem durch den Gemeinschaftsrichter geändert wird. Für die Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage müssten daher weiterhin die Voraussetzungen des Art. 230 Abs. 4 EG erfüllt sein. Jedoch schloss es sich der These von Generalanwalt Jacobs an, dass das individuelle Betroffensein einer anderen Auslegung als derjenigen aus der Plaumann-Formel zugänglich sei. Es gab die Plaumann-Formel zugunsten der Gewährleistung wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes auf. Vielmehr genüge es, wenn die streitige Vorschrift die Rechtsposition des Klägers unzweifelhaft und 33 Nachweis bei EuG, Rs. T-177/01 - Jégo Quéré et Cie SA/Kommission, Slg. 2002, II 2365, Rn. 21. 34 EuG, Rs. T-177/01 - Jégo Quéré et Cie SA/Kommission, Slg. 2002, Π - 2365, Rn. 45. 35 EuG, a. a. O., Rn. 46. 36 Gestützt wird dieses Recht auf Art. 6 und 13 EMRK sowie Art. 47 der Charta der Grundrechte.

I. Neue Diskussion zur Reform des Rechtsschutzes

161

gegenwärtig beeinträchtigt, indem sie seine Rechte einschränkt oder ihm Pflichten auferlegt 37. Auffallend ist, dass das EuG dem Generalanwalt zwar im Grundsatz zustimmte, aber das individuelle Betroffensein letztlich doch enger, wenn auch klarer fasst, da es nicht erhebliche nachteilige Auswirkungen auf Interessen und die wahrscheinliche zukünftige Beeinträchtigung genügen ließ, sondern eine gegenwärtige Rechtsverletzung verlangte. 3. Urteil des EuGH vom 25. 07. 2002 in der Rechtssache C-50/00 Ρ - UPA Gut zwei Monate später urteilte der Gerichtshof im Rechtsmittelverfahren der UPA. Der EuGH entschied wegen der möglichen Änderung der Rechtsprechung zur Voraussetzung des individuellen Betroffenseins in Vollsitzung38. Trotz der ausführlichen und detaillierten Schlussanträge von Generalanwalt Jacobs und der daran anschließenden Rechtsprechungsänderung des EuG folgte der EuGH nicht der dort vorgenommenen Richtungsänderung zur Klagebefugnis Privater durch eine neue Interpretation des individuellen Betroffenseins. Übereinstimmung mit dem Generalanwalt und dem EuG herrschte allein in der Ablehnung einer subsidiären Klagebefugnis für den Fall, dass in einer konkreten Situation kein nationaler Rechtsbehelf zur Verfügung steht und dementsprechend ein Vorabentscheidungsverfahren nicht in Betracht kommt. Diese Vorgehensweise verwarf der EuGH, da die Gemeinschaftsgerichte sonst in jedem Einzelfall die nationalen Verfahrensordnungen auslegen müssten, wofür es ihnen an der Kompetenz fehle 39. Zu den Vorschlägen von Generalanwalt Jacobs und dem EuG führte der EuGH aus, dass eine Handlung allgemeiner Geltung grundsätzlich nicht von natürlichen oder juristischen Personen im Wege der Nichtigkeitsklage angegriffen werden könne. Nur wenn der Einzelne im Sinne der Plaumann-Formel in ähnlicher Weise individualisiert sei wie ein Adressat, gelte etwas anderes40. Zwar sei die Voraussetzung des individuellen Betroffenseins unter Berücksichtigung des sich aus den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und Art. 6 und 13 EMRK ergebenden Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz auszulegen, doch könne nicht eine Auslegung gewählt werden, die im Ergebnis dem Wegfall der vertraglich vorgesehenen Voraussetzung gleichkomme41. 37 EuG, Rs. T-177/01 - Jégo Quéré et Cie SA/Kommission, Slg. 2002, I I - 2365, Rn. 51. 38 Art. 95 § 1 der Verfahrensordnung des EuGH. 39 EuGH, Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequenos Agricultores/Rat, Slg. 2002, I - 6677, Rn. 43. 40 EUGH,

a. a. O . , R n . 3 4 ff.

41 EuGH, a. a. O., Rn. 44. 11 Schulte

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E. Jüngste Entwicklungen zum Individualrechtsschutz

Zweimal betonte der EuGH die Verantwortung und Zuständigkeit der Mitgliedstaaten bei der Frage nach der Gewährung effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes. Zum einen wertet der EuGH das vertraglich vorgesehene Rechtsschutzsystem mit Nichtigkeitsklage, Inzidentkontrolle und Vorabentscheidungsverfahren als vollständig. Die Mitgliedstaaten müssten für die Vollständigkeit des Rechtsschutzsystems Sorge tragen, indem dem Einzelnen im innerstaatlichen Recht stets Rechtsbehelfe zur Verfügung gestellt werden und die Verfahrensvorschriften im Sinne einer umfassenden Rechtsschutzgewährung interpretiert werden42. Zum anderen käme zur Änderung des Rechtsschutzsystems nur eine Vertragsreform durch die Mitgliedstaaten über Art. 48 EU in Betracht43.

4. Urteil des EuGH vom Ol. 04. 2004 in der Rechtssache C-263/02 Ρ - Jégo-Quéré Die Kommission legte gegen das Urteil des EuG in der Rechtssache Jégo-Quéré Rechtsmittel zum EuGH ein. In seinen Schlussanträgen im Rechtsmittelverfahren passte Generalanwalt Jacobs - wenngleich nicht ohne deutliche Kritik - seine Schlussanträge dem Urteil des EuGH in der Rechtssache UPA an 44 . Der EuGH bestätigte erwartungsgemäß seine restriktive Linie und stufte unter Wiederholung seiner Argumente aus der Rechtssache UPA die Interpretation des EuG zum individuellen Betroffensein als rechtsfehlerhaft ein 45 . Zudem ging der EuGH ausdrücklich auf die unter Rechtsschutzgesichtspunkten als besonders bedenklich eingestufte Konstellation ein, in der eine self-executing Verordnung den Einzelnen unmittelbar betrifft. Auch in diesen Fällen stehe Rechtsschutz nicht notwendig erst dann zur Verfügung, wenn der Betroffene gegen sie verstoßen hat. Es sei nämlich nicht auszuschließen, dass ein nationales Rechtssystem einem von einer Verordnung unmittelbar Betroffenen die Möglichkeit einräumt, bei den nationalen Behörden eine sich auf die Verordnung beziehende Maßnahme zu beantragen, welche dann vor den nationalen Gerichten angreifbar sei mit der Folge, dass die Verordnung in diesem Verfahren mittelbar zur Überprüfung gestellt werden kann46.

42 EUGH, a. a. O., Rn. 4 0 - 4 2 .

43 EuGH, a. a. O., Rn. 45. 44 GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-263/02 Ρ - Kommission/Jégo Quéré et Cie SA, Rn. 45 ff., noch nicht in amtlicher Sammlung. 45 EuGH, Rs. C-263/02 Ρ - Kommission/Jégo Quéré et Cie SA, Rn. 29 ff., noch nicht in amtlicher Sammlung. 46 EuGH, Rs. C-263/02 Ρ - Kommission/Jégo Quéré et Cie SA, Rn. 35, noch nicht in amtlicher Sammlung.

Π. Würdigung

163

Π . Würdigung Im Schwerpunkt betraf die Auseinandersetzung um die Auslegung des individuellen Betroffenseins und den direkten Zugang zu den Gemeinschaftsgerichten die Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Normativakte. Sind diese Rechtsakte Klagegegenstand, bekommt die Voraussetzung des individuellen Betroffenseins besondere Bedeutung und stellt eine schwer zu überwindende Hürde für die Zulässigkeit dar. Auch die unter Rechtsschutzaspekten als problematisch bewertete Konstellation, in der weder eine Direktklage noch mangels Durchführungsmaßnahmen der Weg zu den nationalen Gerichten eröffnet ist, betrifft den Rechtsschutz gegen (sogenannte self-executing) Verordnungen. Mit dem EuG hatte erstmals seit 1963 ein Gemeinschaftsgericht die Abkehr von der Plaumann-Formel vollzogen und sich für eine grundlegende Änderung der Rechtsprechung zur Zulässigkeit von Nichtigkeitsklagen ausgesprochen, die gemäß Art. 230 Abs. 4 EG von natürlichen und juristischen Personen erhoben werden. Aufgrund des wenige Wochen später ergangenen und inhaltlich entgegengesetzt positionierten Urteils des Gerichtshofs ist mit einer Neuorientierung zur Klagebefugnis nicht-privilegierter Kläger nicht zu rechnen. Gleichwohl ist damit nicht gesagt, dass die Haltung des EuGH gegenüber dem von Generalanwalt Jacobs und dem EuG eingeschlagenen Weg vorzugswürdig ist.

1. Zur Frage nach einer Auffangzuständigkeit der Gemeinschaftsgerichte Zunächst stellte sich dem Generalanwalt und den Gemeinschaftsgerichten die Frage, ob der Auffassung der Klägerinnen in beiden Rechtssachen zu folgen ist, welche für eine Auffangzuständigkeit der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit plädierten, sollte es den Betroffenen nicht möglich sein, anderweitig vor den nationalen Gerichten Rechtsschutz zu suchen. Der Anspruch auf Gewährung effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes sei in diesen Fällen nur zu wahren, indem die Klagebefugnis zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage bejaht wird 47 . a) Der Aspekt anderweitiger Rechtsschutzmöglichkeiten vor nationalen Gerichten in früheren Verfahren und den aktuellen Urteilen Schon in früheren Verfahren tauchte die Frage auf, ob die Klagebefugnis zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 Abs. 4 EG jedenfalls dann anzu47 Nachweis bei GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequenos Agricultores/Rat, Slg. 2002, Π - 6677, I I - 6681, Rn. 23; Nachweis bei EuG, Rs. T-177/01 - Jégo Quéré et Cie SA/Kommission, Slg. 2002, Π - 2365, Rn. 21. Schon früher: Sack, EuR 185,319(326).

11*

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E. Jüngste Entwicklungen zum Individualrechtsschutz

nehmen sei, wenn anderweitige Rechtsbehelfe vor den nationalen Gerichten nicht verfügbar sind, damit der Kläger nicht gänzlich rechtsschutzlos gestellt wird. Schon vor geraumer Zeit stellte der EuGH unmissverständlich klar, dass es für die Zulässigkeit einer Individualnichtigkeitsklage ohne Bedeutung sei, wenn es bei den Verfahren vor den nationalen Gerichten zu strukturell bedingten, dauernden Verzögerungen kommt und bestehende Rechtsbehelfe als nicht wirksam gerügt werden. Ausschlaggebend seien allein die Voraussetzungen des Art. 230 Abs. 4 EG 4 8 . Eine klare Aussage, welche Bedeutung es hat, wenn vor den innerstaatlichen Gerichten Rechtsschutz überhaupt nicht zu erreichen ist, fehlte zunächst. Das EuG führte etwa im Anschluss an die Prüfung der individuellen und unmittelbaren Betroffenheit eher vorsichtig aus, dass außerdem X 9 nicht nachgewiesen worden sei, dass keine Möglichkeit bestand, die Gemeinschaftsrechtsmaßnahme vor nationalen Gerichten anzufechten und in diesem Rahmen auf ein Vorabentscheidungsverfahren hinzuwirken50. In einem anderen Fall wurde explizit die Frage aufgeworfen, ob die Abweisung der Nichtigkeitsklage mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar wäre. Die Entscheidung darüber hielt das EuG aber für entbehrlich, da nicht nachgewiesen worden sei, dass Rechtsschutz vor den nationalen Gerichten nicht zu erreichen war 51 . Auch der EuGH hatte teilweise offen gelassen, welche Folgen es für die Klagebefugnis nach Art. 230 Abs. 4 EG hätte, wenn Rechtsschutz durch die nationalen Gerichte nicht zur Verfügung steht, und stellte nur fest, dass im vorliegenden Fall Verfahren vor den nationalen Gerichten eingeleitet wurden52. Aus diesen Urteilen ging nicht zweifelsfrei hervor, welche Rolle es für eine nach Art. 230 Abs. 4 EG erhobene Nichtigkeitsklage spielt, wenn der Kläger bei Abweisung der Klage keinen anderweitigen, innerstaatlichen Rechtsbehelf geltend machen kann und dementsprechend rechtsschutzlos gestellt wäre. Hierin mag der Grund dafür zu sehen sein, dass Individualkläger weiterhin hofften, mit diesem 48 EuGH, Rs. C-10/95 Ρ - Asociación Espanola de Empreses de la Came (Asocarne)/ Rat, Slg. 1995,1 -4149, Rn. 26; Rs. C-87/95 Ρ - Cassa Nazionale di Previdenza ed Assistenza a favore degli Avvocati e Procuratori (CNPAAP)/Rat, Slg. 1996,1 - 2003, Rn. 28; Verb. Rs. C-300/99 Ρ u. C-388/99 Ρ - Area Cova SA u. a./Rat, Slg. 2001,1 - 983, Rn. 55; Rs. C-301/99 Ρ - Area Cova SA u. a./Rat, Slg. 2001,1 - 105, Rn. 47. 49 Hervorhebung hinzugefügt. so EuG, Rs. T-47/95 - Terres rouges Consultant SA u. a. / Kommission, Slg. 1997, I I 481, Rn. 59.

51 EuG, Rs. T-109/97 - Molkerei Großsbraunshain GmbH und Bene Nahrungsmittel GmbH/Kommission, Slg. 1998, Π - 3533, Rn. 78. 52 EuGH, Rs. C-321/95 Ρ - Stichting Greenpeace Council (Greenpeace International) u. a./Kommission, Slg. 1998, I - 1651, Rn. 32, 33. Die UPA hatten sich auf dieses Urteil berufen, um ihre Klagebefugnis auf Gemeinschaftsebene mit dem Fehlen nationaler Rechtsbehelfe zu begründen. GA Jacobs vertrat demgegenüber die Auffassung, dass das Urteil in der Rs. Greenpeace diese Frage nicht abschließend klärte; vgl. Schlussanträge in der Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequefios Agricultores/Rat, Slg. 2002, Π - 6677, Π - 6681, Rn. 33-35.

Π. Würdigung

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Argument Gehör zufinden, und auf diese Weise ihre Klagebefugnis zu begründen versuchten. Auch in der Literatur ist angenommen worden, dass es in der Rechtsprechung zur Zulässigkeit von Nichtigkeitsklagen von Bedeutung ist, ob anderweitige Rechtsbehelfe vorhanden sind oder nicht53. Bei der Unsicherheit haben es die Gemeinschaftsgerichte indes nicht bewenden lassen. Deutlicher wurde das EuG in der Rechtssache Kapniki, als es formulierte, dass ungeachtet der festgestellten Unzulässigkeil 54 die Möglichkeit bestanden hätte, den Gemeinschaftsrechtsakt vor einem nationalen Gericht anzugreifen, welches die Frage nach der Gültigkeit der Maßnahme dem EuGH hätte vorlegen können55. Der Wortlaut der Entscheidung legt es nahe, dass das EuG die Möglichkeit, vor nationalen Gerichten Rechtsschutz suchen zu können, für die Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage als irrelevant ansieht. An der Auffassung des EuG, dass das Fehlen nationaler Rechtsbehelfe keinen Einfluss auf die Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage hat, konnten nach den Urteilen in den Rechtssachen UPA und Salamander keine Zweifel mehr bestehen. Aus dem Grundsatz der Gleichheit aller Rechtsunterworfenen folgt nach Ansicht des EuG zwingend, dass die Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage nicht in Abhängigkeit von den jeweiligen Ausgestaltungen der mitgliedstaatlichen Rechtsschutzsysteme unterschiedlich beurteilt werden darf. Auch ergebe sich aus Art. 10 EG eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, zur Vollständigkeit des durch den EG-Vertrag errichteten Rechtsschutzsystems beizutragen56. Schließlich könne die Berufung auf mangelnde Effektivität des Vorabentscheidungsverfahren eine Abweichung vom vertraglich vorgesehenen Rechtsschutzsystem nicht rechtfertigen 57. Darüber hinaus erachtete das EuG - anders als später in dem Urteil zur Rechtssache JégoQuéré 58 - den Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz schon deshalb nicht als verletzt, weil als Rechtsbehelf die Amtshaftungsklage gemäß Art. 288 Abs. 2 i. V. m. 235 EG zur Verfügung steht59. Der EuGH ist dieser Auffassung beigetreten. In der Rechtssache Federación de Cofradias de Pescadores de Guipuzcoa erklärte er ausdrücklich, dass das Fehlen 53 Neuwahl, EL Rev. 1996,17 (25 ff., 30 f.). 54

Hervorhebung hinzugefügt. 55 EuG, Rs. T-100/94 - Kapniki A. Michailidis AE u. a./Kommission, Slg. 1998, I I 3117, Rn. 72. 56 EuG, Rs. T-173/98 - Union de Pequenos Agricultores/Rat, Slg. 1999, Π - 3357, Rn. 62; Verb. Rs. T-172/98, T-175/98 bis T-177/98 - Salamander AG u. a./Parlament und Rat, Slg. 2000, Π - 2487, Rn. 74. 57 EuG, Rs. T-173/98 - Union de Pequenos Agricultores/Rat, Slg. 1999, Π - 3357, Rn. 64; Verb. Rs. T-172/98, T-175/98 bis T-177/98 - Salamander AG u. a./Parlament und Rat, Slg. 2000, I I - 2487, Rn. 75. 58 EuG, Rs. T-177/01 - Jégo-Quéré et Cie SA/Kommission, Slg. 2002, Π - 2365, Rn. 46, 47. 59 EuG, Verb. Rs. T-172/98, T-175/98 bis T-177/98 - Salamander AG u. a./Parlament und Rat, Slg. 2000, II - 2487, Rn. 77.

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E. Jüngste Entwicklungen zum Individualrechtsschutz

anderweitiger Rechtsschutzmöglichkeiten keine Änderung des EG-vertraglich vorgesehenen Rechtsschutzsystems rechtfertigen könne60. Schon vor den aktuellen Verfahren in den Rechtssachen UPA und Jégo-Quéré war die Position der Gemeinschaftsgerichte offenkundig. Während der EuGH dies im Anschluss an die Ausführungen des Generalanwalts Jacobs noch einmal explizit bestätigte, wurden die Ausführungen des EuG unterschiedlich aufgenommen. Feddersen interpretiert das Urteil des EuG als Kehrtwende dahin gehend, dass individuelles Betroffensein und damit die Aktivlegitimation im Sinne des Art. 230 Abs. 4 EG anzunehmen sei, wenn anderenfalls kein wirksamer mitgliedstaatlicher Rechtsschutz erreichbar ist 61 . Kment zeigt sich in seiner Bewertung unsicher, ob das EuG die neue Definition des individuellen Betroffenseins generell für alle Nichtigkeitsklagen zugrunde legen wollte oder nur in den Fällen, in denen kein anderweitiger, indirekter Rechtsschutz über die nationalen Gerichte und das Vorabentscheidungsverfahren in Betracht kommt62. Letzüich bot das Urteil des EuG für diese Unsicherheiten jedoch keinen Anlass. Zwar widmete es in seinen Ausführungen der Frage besondere Aufmerksamkeit, ob dem Einzelnen wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz gegen Vorschriften allgemeiner Geltung zuteil wird, die seine Rechtspositionen unmittelbar beeinträchtigen, und verneinte dies63. Doch stellte das EuG ausdrücklich fest, dass ein solcher Umstand kein Abweichen vom Rechtsschutzsystem des EG-Vertrags rechtfertige und die Voraussetzungen des Art. 230 Abs. 4 EG auf jedem Fall erfüllt sein müssten 64 . Es hat den Befund zum mangelnden gerichtlichen Rechtsschutz zum Anlass genommen, das individuelle Betroffensein neu zu bestimmen. Inhalt des individuellen Betroffenseins ist aber nicht das Fehlen indirekter Rechtsbehelfe, sondern allein die unzweifelhafte und gegenwärtige Beeinträchtigung einer eigenen Rechtsposition65. Die Neuinterpretation des individuellen Betroffenseins beansprucht eindeutig generelle Geltung, ohne sich auf die Fälle zu beschränken, in denen nationale Rechtsbehelfe nicht ergriffen werden können. Die von Feddersen vertretene Deutung des Urteils des EuG sowie die von Kment attestierte Undeutlichkeit des Urteils verkennen dies. Damit haben die Gemeinschaftsgerichte in den neuen Urteilen die bereits zuvor gefundene Wertung bestätigt, dass die Klagebefugnis unabhängig davon zu bestimmen sei, ob im Einzelfall Rechtsschutz vor den nationalen Gerichten zur Verfügung steht. 60 EuGH, Rs. C-300/00 Ρ (R) - Federation de Cofradias de Pescadores de Guipùzcoa u.a/Rat, Slg. 2000,1 - 8797, Rn. 37. 61 Feddersen, EuZW 2002,532 (533). 62 Kment, BayVBl. 2002, 666 (666). 63 EuG, Rs. T-177/01 - Jégo Quéré et Cie SA/Kommission, Slg. 2002, Π - 2365, Rn. 41 ff. 64 EuG, a. a. O., Rn. 48. 65 EuG, a. a. O., Rn. 51.

Π. Würdigung

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b) Zu den Argumenten der Ungleichbehandlung und Kompetenzüberschreitung Zur Begründung dieses Ergebnisses wurde zum einen darauf abgestellt, dass die Gemeinschaftsgerichtsbarkeit die ihr zugewiesene Kompetenz überschreite, wenn sie in jedem Einzelfall die nationalen Verfahrensvorschriften prüft 66. Zum anderen wurde eingewandt, dass eine Ungleichbehandlung in der Rechtsschutzgewährung drohe, wenn Personen in Mitgliedstaaten mit umfassend ausgestalteten Rechtsschutzsystemen auf den nationalen Rechtsweg und das Vorabentscheidungsverfahren verwiesen würden, Personen in anderen Mitgliedstaaten hingegen, in denen kein Rechtsbehelf zur Verfügung steht, eine direkte Anfechtung nach Art. 230 Abs. 4 EG gewährt würde 67. Das Argument, die Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 Abs. 4 EG dürfe nicht davon abhängen, wie umfassend jeweils die mitgliedstaatlichen Rechtsschutzsysteme ausgestaltet sind, da es ansonsten zu einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung der Betroffenen komme, knüpft an den als Gemeinschaftsgrundrecht anerkannten Gleichheitssatz an. Demnach dürfen im Wesentlichen gleiche Sachverhalte nicht unterschiedlich, unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden 68. Ob tatsächlich eine Ungleichbehandlung droht, hängt davon ab, welcher Bezugspunkt ausschlaggebend für die Beurteilung ist. Der Generalanwalt nimmt eine Gleichbehandlung nur dann an, wenn jeder Betroffene unter tatsächlich identischen Voraussetzungen - unabhängig von innerstaatlichen Rechtsschutzmöglichkeiten - Nichtigkeitsklage erheben kann. Fraglich ist, ob eine Gleichbehandlung der Rechtsunterworfenen auch darin gesehen werden kann, dass niemand rechtsschutzlos gestellt werden soll und damit jeder, dem kein Rechtsbehelf vor den nationalen Gerichten zur Verfügung steht, Nichtigkeitsklage erheben darf. In dieser Hinsicht würden alle Rechtsunterworfenen gleich behandelt. Maßgeblich muss aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht aber sein, dass das Gemeinschaftsrecht alle Betroffenen tatsächlich gleich behandelt. Wäre für die Klagebefugnis im Gemeinschaftsrecht zu berücksichtigen, ob im konkreten Fall der Rechtsweg zu den innerstaatlichen Gerichten eröffnet ist, wäre nicht gewährleistet, dass Personen, die von einer Gemeinschaftsrechtsmaßnahme in gleicher Art und Weise beeinträchtigt sind, gleichermaßen Rechtsschutz vor den Gemeinschaftsgerichten suchen können. Generalanwalt Jacobs hat daher denrichtigenBezug hergestellt und ist zutreffend zu dem 66 GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequenos Agricultores/ Rat, Slg. 2002, Π - 6677, Π - 6681, Rn. 52; EuGH, Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequenos Agricultores/Rat, Slg. 2002,1 - 6677, Rn. 43. 67

GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequenos Agricultores/ Rat, Slg. 2002, I I - 6677, Π - 6681, Rn. 53. 68 Koenig / Haratsch, Europarecht, Rn. 91; Nicolay sen, Europarecht I, S. 62; EuGH, Rs. C-80/94 - G. H. E. J. Wielockx/Inspecteur der directe belastingen, Slg. 1995, I - 2493, Rn. 17; Rs. C-107/94 - P. h. Asscher/Staatssecretaris van Financiën, Slg. 1996,1 - 3089, Rn. 40.

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E. Jüngste Entwicklungen zum Individualrechtsschutz

Ergebnis gelangt, dass die Einbeziehung nationaler Klagemöglichkeiten für die Frage nach der gemeinschaftsrechtlichen Klagebefugnis den Grundsatz der Gleichbehandlung der Rechtsunterworfenen verletzen würde und daher abzulehnen ist. Daneben überzeugt zudem das Argument, dass es nicht in die Kompetenz der Gemeinschaftsgerichte fallt, in jedem Einzelfall konkret zu prüfen, ob dem Betroffenen nach nationalem Verfahrensrecht ein Rechtsbehelf zur Verfügung steht. Diese Aufgabe obliegt allein den mitgliedstaatlichen Gerichten. Ein derartiger Eingriff in die Souveränität der Mitgliedstaaten lässt sich aus dem Gemeinschaftsrecht nicht rechtfertigen. Soweit der EuGH die Verpflichtung der Mitgliedstaaten betont, zur Vollständigkeit des Rechtsschutzsystems beizutragen, ist allenfalls eine Kontrolle denkbar, ob die Mitgliedstaaten dieser Pflicht Folge leisten, indem sie generell Klagearten zur Verfügung stellen, mit denen der Betroffene gerichtlichen Rechtsschutz suchen kann, wenn der Rechtsweg zu den Gemeinschaftsgerichten nicht eröffnet ist. Um nicht in die Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte einzugreifen, bleibt aber auch dann nur eine abstrakte Kontrolle hinsichtlich des Bestehens von Rechtsbehelfen zulässig. Nicht gerechtfertigt wäre eine detaillierte Prüfung der einzelnen Klagevoraussetzungen in jedem Einzelfall. Festgehalten werden kann daher, dass die Gerichte zu Recht entschieden haben, dass es für die Zulässigkeit einer nach Art. 230 Abs. 4 EG erhobenen Nichtigkeitsklage keine Rolle spielt, ob im konkreten Einzelfall Rechtsbehelfe auf nationaler Ebene vorhanden sind69.

2. Grenzen der Dezentralisierung Die Gemeinschaftsgerichte haben überzeugend argumentiert, dass die Klagebefugnis im Rahmen der Nichtigkeitsklage sich nicht daraus ergeben kann und darf, dass im Einzelfall nach nationalem Verfahrensrecht Rechtsschutz nicht zu erreichen ist. Nicht beantwortet wurde hingegen die Frage, ob die Gemeinschaftsgerichte zuständig und verpflichtet sind, Rechtsschutz zu gewähren, sollten die nationalen Gerichte nicht nur im Einzelfall, sondern konstitutionell dazu nicht in der Lage sein. In der Literatur wird für diese Konstellation eine Zuständigkeit der Gemeinschaftsgerichte angenommen. Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass die primäre Verantwortung zur Gewährung von Rechtsschutz gegenüber Rechtsakten der EU bei den Gemeinschaftsgerichten liege70. Dazu ist zu klären, in welchen Fällen der Rechtsschutzauftrag nicht dezentral den Mitgliedstaaten aufgegeben werden kann, sondern zentral der Gemeinschafts69 A. A. Homer, JA 2003, 666 (671); König, JuS 2003, 257 (260) zumindest bei Grundrechtsverletzungen; ebenso wohl Nettesheim, JZ 2002, 928 (934). 70 Gundel, VerwArch 2001, 81 (95); Calliess, NJW 2002, 3577 (3582).

Π. Würdigung

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gerichtsbarkeit zugewiesen werden muss. In erster Linie ist dezentraler Rechtsschutz dort denkbar, wo streitige Verordnungen oder Richtlinien dezentral auf mitgliedstaatlicher Ebene vollzogen werden. Obliegt hingegen der Vollzug einer gemeinschaftsrechtlichen Norm ausnahmsweise den Gemeinschaftsorganen, so fehlt für eine Zuweisung des Rechtsschutzauftrags an die mitgliedstaatlichen Gerichte jeglicher Anknüpfungspunkt 71. Dezentraler Rechtsschutz kommt somit in Betracht, wenn nationale Durchführungsmaßnahmen erforderlich sind. Es wird dann in der Regel für die Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage nicht nur am individuellen, sondern schon am unmittelbaren Betroffensein fehlen. Diese Konstellation ist typisch für den Rechtsschutz gegen Normativakte, da diese häufig eines Vollzugsaktes bedürfen, der für den Einzelfall eine Konkretisierung bewirkt und durch den die rechtliche Belastung eintritt. Das Rechtsschutzsystem des EG-Vertrages schließt eine Direktklage gegen die gemeinschaftsrechtliche Norm aus und verweist den Betroffenen auf den Rechtsweg vor die mitgliedstaatlichen Gerichte, die zur Klärung der Rechtmäßigkeit oder Auslegung des dem nationalen Vollzugsakt zugrunde liegenden Rechtsakts das Vorabentscheidungsverfahren einleiten können. Der Bezug zum mitgliedstaatlichen Recht wird durch die nationale Durchführungsmaßnahme hergestellt, so dass der Rechtsschutz dezentralisiert werden kann. Daneben besteht ein Bezug zum nationalen Recht in der Regel selbst dann, wenn eine gemeinschaftsrechtliche Norm unmittelbar rechtlich belastend für den Einzelnen wirkt, ohne dass es hierfür eines Vollzugsaktes der mitgliedstaatlichen Behörden bedarf. Solche sogenannten self-executing Normen mit belastender Wirkung können entweder ein unmittelbar wirksames Verbot statuieren oder unmittelbar eine bisher bestehende Begünstigung entziehen. Da nach gefestigter Rechtsprechung unmittelbare rechtliche Belastungen des Einzelnen aus Richtlinien nicht erwachsen können72, sind die self-executing Normen durchgängig Verordnungen. Auch wenn keine Umsetzung erforderlich ist, gibt es doch Berührungspunkte mit dem nationalen Recht. Wird ein unmittelbar wirkendes Verbot aufgestellt, so ist eine effektive Durchsetzung nur dann gewährleistet, wenn eine Zuwiderhandlung gegen das Verbot sanktionsbewehrt ist. Könnte ein Verbot nicht notfalls zwangsweise durchgesetzt werden, wäre es ein „zahnloser Tiger". Die Ahndung von Verstößen wird - wie generell der Vollzug von Gemeinschaftsrecht - regelmäßig den Mitgliedstaaten übertragen sein. Rechtsschutz könnte auf dem Wege gesucht werden, dass der Betroffene eine gerichtliche Feststellung des Inhalts bean71 Götz, DVB1. 2002, 1350 (1351); Cremer, Der gemeinschaftsrechtliche Grundsatz effektiven Rechtsschutzes vor mitgliedstaatlichen Gerichten, in: Grundrechtsschutz für Unternehmen im europäischen Binnenmarkt, im Erscheinen. Da Richtlinien stets der Umsetzung in die nationalen Rechtsordnungen bedürfen, ist immer ein Bezug zum mitgliedstaatlichen Recht und zum dezentralen Rechtsschutz gegeben. 72 Vgl. hierzu die Ausführungen unter C. I. 2. b) aa) (3).

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E. Jüngste Entwicklungen zum Individualrechtsschutz

tragt, dass die belastende Regelung für ihn keine Geltung beansprucht. Werden unmittelbar Begünstigungen entzogen, z. B. ein Beihilfentatbestand abgeschafft, besteht eine Beziehung zum nationalen Recht dann, wenn die Gewährung der Begünstigung nach alter Rechtslage durch nationale Stellen erfolgte. Dezentraler Rechtsschutz wäre in diesen Fällen zu erreichen, indem der Betroffene beantragt, dass ihm weiterhin die Begünstigung entsprechend der alten Rechtslage gewährt wird. Gegen den ablehnenden Bescheid der nationalen Behörden könnte er dann den Rechtsweg beschreiten73. In all diesen Konstellationen bestehen Anknüpfungspunkte zum nationalen Recht bzw. ist die Einbeziehung der mitgliedstaatlichen Gerichte denkbar. Inwieweit die Verweisung auf den dezentralen Rechtsweg im Einzelnen sinnvoll ist, ist eine andere Frage. Davon wird man jedenfalls dann ausgehen können, wenn bei unmittelbar wirkenden Normen Aufklärungsbedarf dahin gehend besteht, ob im Einzelfall der Tatbestand der Norm erfüllt und diese überhaupt auf den Kläger anwendbar ist. Grenzen der Dezentralisierung sind dort erreicht, wo die Ausführung gemeinschaftsrechtlicher Normen ausschließlich den EG-Organen zugewiesen ist, sei es die Sanktionierung von Verstößen gegen unmittelbar wirksame Belastungen, sei es bei der Aufhebung von Begünstigungen, dass diese nach alter Rechtslage von den Gemeinschaftsorganen gewährt wurden. Eine Klagemöglichkeit direkt gegen Normativakte folgt aber auch dann nicht zwingend aus dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz, wenn nur eine zentrale Rechtswegeröffnung in Betracht kommt. Rechtsschutz gegen Verbotsnormen ließe sich vergleichbar den soeben dargestellten Grundsätzen der Rechtsschutzgewährung vor nationalen Gerichten erreichen, indem der Betroffene bei dem mit der Sanktionierung von Verstößen betrauten EG-Organ eine Entscheidung des Inhalts begehrt, dass er bzw. die von ihm ausgeübte Tätigkeit von dem Verbot nicht erfasst ist. Der negative Bescheid wäre als Entscheidung mit der Nichtigkeitsklage angreifbar. Der zugrunde liegende normative Rechtsakt kann im Wege der Inzidentkontrolle gemäß Art. 241 EG einer Rechtmäßigkeitsprüfung unterzogen werden74. Gegen die Abschaffung von Begünstigungen könnte sich der Betroffene wiederum zur Wehr setzen, indem er eine Begünstigung entsprechend der alten Rechtslage beantragt und gegen den ablehnenden Bescheid des zuständigen Gemeinschaftsorgans, der als Entscheidung im Sinne des Art. 230 Abs. 4 EG zu qualifizieren wäre, Nichtigkeitsklage erhebt.

73 Cremer, Der gemeinschaftsrechtliche Grundsatz effektiven Rechtsschutzes vor mitgliedstaatlichen Gerichten, in: Grundrechtsschutz für Unternehmen im europäischen Binnenmarkt, im Erscheinen. 74 Cremer, Der gemeinschaftsrechtliche Grundsatz effektiven Rechtsschutzes vor mitgliedstaatlichen Gerichten, in: Grundrechtsschutz für Unternehmen im europäischen Binnenmarkt, im Erscheinen.

Π. Würdigung

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Der Aspekt, dass der Dezentralisierung des Rechtsschutzes Grenzen gesetzt sind, ist von den Gemeinschaftsgerichten bislang nicht erörtert worden.

3. Grundlage des Rechtsschutzauftrags an die Mitgliedstaaten Dass dem Einzelnen ein Anspruch auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz nach dem Gemeinschaftsrecht zusteht, hat der Gerichtshof schon seit längerem bekräftigt 75. Wenn nun die Aufgabe, Rechtsbehelfe zur Verfügung zu stellen, mit denen der Einzelne sich zumindest inzident gegen Normen der EG wenden kann, nach der Rechtsprechung des EuGH wegen der Grenzen des Art. 230 Abs. 4 EG nicht der Gemeinschaft, sondern den Mitgliedstaaten zuzuweisen ist, muss die Frage beantwortet werden, woraus sich ihre Verpflichtung ergibt. Der EuGH ist auf die Grundlage der mitgliedstaatlichen Verpflichtung nicht eingegangen, sondern begnügte sich mit der Feststellung, dass es „Sache der Mitgliedstaaten" sei, entweder ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren bereitzustellen, mit dem der Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gewährleistet wird, oder aber das vertraglich vorgegebene Rechtsschutzsystem nach Art. 48 EU zu reformieren 76. Aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht lässt sich diese Pflicht aus dem Grundrecht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz in Verbindung mit Art. 10 EG herleiten. Letzterer statuiert eine Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit77 und bewirkt im vorliegenden Bereich eine Übertragung der Aufgabe an die Mitgliedstaaten. Aus Art. 10 EG wurden schon in anderen Konstellationen Pflichten entnommen, die den Mitgliedstaaten in Zusammenhang mit der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes bzw. der gerichtlichen Durchsetzung von Gemeinschaftsrecht auferlegt wurden. So hat der Gerichtshof beispielsweise in der Rechtssache Factortame 78 und in den Rechtssachen Zuckerfabrik Süderdithmarschen und Atlanta 79 die wesentlichen Grundlagen für den vorläufigen Rechtsschutz vor nationalen Gerichten in Fällen mit Bezug zum Gemeinschaftsrecht entwickelt. 75 EuGH, Rs. 222/84 - Marguerite Johnston /Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary, Slg. 1986, 1651, Rn. 18; Rs. 222/86 - Union nationale des entraîneurs et cadres techniques professionnels du football (Unectef)/Georges Heylens u. a., Slg. 1987, 4097, Rn. 14. Dazu: Schilling, EuGRZ 2000, 3 (17 ff.). 76 EuGH, Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequefios Agricultores/Rat, Slg. 2002, I - 6677, Rn. 41 resp. 45. 77 Kahl, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 10 Rn. 1. 78 EuGH, Rs. C-213/89 - The Queen/Secretary of State for Transport ex parte: Factortame Ltd u. a., Slg. 1990,1 - 2433, Rn. 18 ff. 79 EuGH, Verb. Rs. C-143/88 u. C-92/89 - Zuckerfabrik Süderdithmarschen AG/Hauptzollamt Itzehoe u. Zuckerfabrik Soest GmbH/Hauptzollamt Paderborn, Slg. 1991,1 - 415, Rn. 20 ff.; Rs. C-465/93 - Atlanta Fruchthandelsgesellschaft mbH u. a. ©/Bundesamt für Ernährung und Forstwirtschaft, Slg. 1995,1 - 3761, Rn. 31 ff.

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E. Jüngste Entwicklungen zum Individualrechtsschutz

Für die Mitgliedstaaten hat die Pflicht, an der Sicherstellung effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes gegenüber Gemeinschaftsrechtsakten mitzuwirken, noch einen weiteren Anknüpfungspunkt außerhalb des Gemeinschaftsrechts. Zu berücksichtigen sind für die Mitgliedstaaten über die gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen hinaus auch die Vorgaben, die aus dem Recht der EMRK folgen. Die Bindung der Mitgliedstaaten an die EMRK endet nicht dort, wo das Gemeinschaftsrecht beginnt. Der EGMR hat eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Zusicherung der Rechte aus der EMRK nicht nur für die Fälle angenommen, in denen nationale Behörden Gemeinschaftsrecht vollziehen, sondern weiterhin für die Fälle bejaht, in denen die Konventions Verletzung unmittelbar gemeinschaftsrechtlich begründet ist. Der EGMR hat diesen Standpunkt im Jahr 1999 in der Rechtssache Matthews entwickelt. Zugrunde lag folgender Sachverhalt: Eine auf Gibraltar ansässige Britin begehrte Eintragung in das Wählerverzeichnis für die Wahlen zum Europäischen Parlament. Ihrem Begehren wurde nicht entsprochen, da Gibraltar in einem Anhang zum Akt von 1976 von den Wahlen zum Europäischen Parlament ausgenommen war. Der EGMR sah hierin eine Verletzung von Art. 3 des Zusatzprotokolls zur Konvention (Recht auf freie Wahlen) durch Großbritannien. Die Übertragung von Hoheitsbefugnissen auf internationale Organisationen sei nach der Konvention zulässig, aber nur soweit die Rechte der EMRK weiterhin im Sinne von Art. 1 EMRK „zugesichert" seien . Der EGMR geht also von einer fortbestehenden Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten aus, die es ihnen verbietet, sich ihrer Verpflichtungen aus der Konvention dadurch zu entziehen, dass sie ihre Hoheitsrechte und damit ihre Zuständigkeit für einen bestimmten Bereich abgeben. Die grundsätzliche Aussage des EGMR in der Rechtssache Matthews ist auf die vorliegende Frage nach der Gewährleistung effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes gegenüber gemeinschaftsrechtlichen Normen übertragbar. Die Europäische Menschrechtskonvention sieht Verfahrensrechte in Art. 6 und Art. 13 EMRK vor. Insbesondere ist darin auch das Recht auf Zugang zu einem Gericht enthalten81. Die Mitgliedstaaten haben Hoheitsgewalt auf die EG und ihre Organe übertragen, die dadurch in die Rechte und Interessen der Bürger der Mitgliedstaaten eingreifen können. Geht man von der Prämisse aus, dass vor den Gemeinschaftsgerichten grundsätzlich oder zumindest im Regelfall - mangels Eröffnung der Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 Abs. 4 EG - kein Rechtsbehelf gegen Normen zur Verfügung steht, verbleibt diese Verantwortung bei den Mitgliedstaaten. Zwar wies der EGMR darauf hin, dass es sich in der Rechtssache Matthews bei dem zugrunde liegenden Akt von 1976 nicht um einen „normalen" Rechtsakt der «ο EGMR, Matthews/Vereinigtes Königreich, NJW 1999, 3107 (3108). ei EGMR, Waite u. Kennedy/Deutschland, NJW 1999, 1173 (1173); Gomien/Harris/ Zwaak, Law and practice of the European Convention on Human Rights and the European Social Charta, S. 159 ff. Auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit wird der Garantie des Art. 6 EMRK unterstellt, vgl. EGMR, König/Deutschland, EuGRZ 1978, 406 ff. Dazu Schwarze, EuGRZ 1993, 377 (377 ff.); Schwarze, NVwZ 2000, 241 (242).

Π. Würdigung

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Gemeinschaft handelte, sondern um einen innerhalb der Rechtsordnung der Gemeinschaft geschlossenen Vertrag, und dass es auf Gemeinschaftsebene keinen Rechtsschutz dagegen gab82. In der schon früh als bedeutend eingestuften Rechtssache Senator Lines hingegen war ein Akt der Gemeinschaft streitgegenständlich. Die Reederei Senator Lines hatte in der Weigerung von EuG und EuGH, die Vollstreckung eines Bußgeldbescheids der Kommission vorläufig auszusetzen, eine Verletzung der Art. 6 und Art. 13 EMRK gesehen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör, auf Achtung der Verteidigungsrechte und die Garantie der Unschuldsvermutung seien nicht hinreichend beachtet worden83. Aus dem Zustellungsbeschluss des EGMR wurde gefolgert, dass eine Entscheidung zur Sache erfolgen werde, wodurch die Tendenz des EGMR zur Gewährung von Grundrechtsschutz unmittelbar gegenüber Gemeinschaftsrechtsakten verstärkt würde 84. Im März 2004 erklärte dann die Große Kammer die Beschwerde für unzulässig. Grund dafür war jedoch nicht, dass es sich bei dem Beschwerdegegenstand um einen Akt der Gemeinschaftsorgane handelte - diese Frage ließ der EGMR ausdrücklich offen - , sondern der Umstand, dass der Bußgeldbescheid mittlerweile aufgehoben war und es damit an einer Beschwer (Opfereigenschaft) der Senator Lines GmbH fehlte 85. Auch wenn eine abschließende Klärung nicht erreicht wurde, mag man es als Indiz werten, dass der EGMR die Individualbeschwerde nicht a priori mit der Begründung zurückwies, ein Gemeinschaftsrechtsakt könne nicht tauglicher Beschwerdegegenstand sein. Für die Mitgliedstaaten begründet sich die Pflicht zur Rechtsschutzgewährung damit zweifach: Aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht ist Grundlage der Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz in Verbindung mit Art. 10 EG. Darüber hinaus besteht auch bei der Übertragung von Hoheitsrechten eine Verbindlichkeit der Mitgliedstaaten zur Sicherung der Rechte aus Art. 6 und Art. 13 EMRK fort.

4. Zur Interpretation der individuellen Betroffenheit durch Generalanwalt Jacobs und das EuG Die Auslegung des individuellen Betroffenseins war Schwerpunkt der kontrovers geführten Diskussion um den Rechtsschutz gegenüber Handlungen mit allgemeiner Geltung. Generalanwalt Jacobs hat in seinen Schlussanträgen die Argumente für eine Änderung der Rechtsprechung zum individuellen Betroffensein ein-

82 EGMR, Matthews/Vereinigtes Königreich, NJW 1999, 3107 (3108). 83 Nachweis bei Hilf/Hörmann, NJW 2003, 1 (3). 84 Hilf/Hörmann, NJW 2003, 1 (4) mit Hinweis darauf, dass offen ist, ob der EGMR eine eigene umfassende Abwägung vornehmen wird oder lediglich prüft, ob konkret oder generell ausreichender Grundrechtsschutz der Konventionsrechte durch die Gemeinschaftsgerichtsbarkeit gewährleistet ist. 85 EGMR, Senator Lines GmbH/Belgien u. a., EuGRZ 2004,279 (284).

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E. Jüngste Entwicklungen zum Individualrechtsschutz

gehend dargestellt. Das EuG hat sich seinen Ausführungen im Wesentlichen angeschlossen. Auf einige dieser Punkte soll im Folgenden eingegangen werden. a) Interpretationsoffenheit

des individuellen

Betroffenseins

Auf die erweiternde Auslegung des individuellen Betroffenseins, für die der Generalanwalt und das EuG sich aussprachen, erwiderte der EuGH, dass diese Voraussetzung nicht einer Interpretation anheim gegeben werden dürfe, die faktisch zum Wegfall der fraglichen Voraussetzung führe 86. Der Aussage des EuGH ist im Grundsatz sicher zuzustimmen. Fraglich ist aber, ob die von Generalanwalt Jacobs oder vom EuG favorisierte Auslegung zur Konsequenz hätte, dass das individuelle Betroffensein als Zulässigkeitsvoraussetzung keine Funktion mehr erfüllen würde. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Nichtigkeitsklage im Lichte des Grundsatzes eines effektiven Rechtsschutzes auszulegen sind - auch der EuGH erkennt dies explizit an 87 - , ist die enge Interpretation im Sinne der Plaumann-Formel keineswegs zwingend. Gleichbedeutend mit dem Verlust der Voraussetzung des individuellen Betroffenseins wäre selbstverständlich eine Interpretation, welche die Nichtigkeitsklage in eine Popularklage umwandeln würde. Eine das Klagerecht beschränkende Funktion könnte das individuelle Betroffensein dann nicht mehr erfüllen. Der natürliche Wortsinn verlangt, dass ein Bezug zur Person des Klägers besteht. Zudem ist in systematischer und teleologischer Hinsicht zu beachten, dass das Gemeinschaftsrecht es durch Art. 230 Abs. 2 EG allein den privilegiert Klageberechtigten gestattet, auf eine abstrakte, objektive Kontrolle der Rechtmäßigkeit von sekundärem Gemeinschaftsrecht hinzuwirken, ohne einen Eingriff in die eigene Rechts- bzw. Interessensphäre darlegen zu müssen. Diese in Art. 230 EG vorgenommene Differenzierung darf nicht aufgegeben werden. Der EuGH ging aber nicht darauf ein, dass weder die Auslegung des Generalanwalts Jacobs noch die des EuG den Wegfall der Voraussetzung des individuellen Betroffenseins bedeuten88. Es wird jeweils ein Bezug zu dem Einzelnen als Individuum und nicht nur als Teil der Allgemeinheit verlangt: erhebliche nachteilige Auswirkungen auf seine Interessen89 bzw. Beeinträchtigung ihrer Rechtsposition (i. e. Rechtsposition der klagenden natürlichen oder juristischen Person)90. Die Einführung einer mit dem Vertrag unvereinbaren Popularklage stand demnach nicht zu befürchten. 86 EuGH, Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequefios Agricultores/Rat, Slg. 2002, I - 6677, Rn. 44. 87 EuGH, a. a. O., Rn. 44. 88 Braun/Kettner, DÖV 2003, 58 (64); Ditteri, EuR 2002, 708 (715). 89 GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequefios Agricultores/ Rat, Slg. 2002, Π - 6677, Π - 6681, Rn. 60. 90 EuG, Rs. T-177/01 - Jégo Quéré et Cie SA /Kommission, Slg. 2002,11-2365, Rn. 51.

Π. Würdigung

175

Auch wenn die von Generalanwalt Jacobs und dem EuG vorgeschlagenen neuen Ansätze, das individuelle Betroffensein zu definieren, nicht die Öffnung der Nichtigkeitsklage hin zu einer Popularklage bedeuten, wird gleichwohl vertreten, der enge systematische bzw. materielle Zusammenhang zwischen einer Entscheidung als Klagegegenstand und der Klagebefugnis stünde solchen Auslegungen entgegen91. Diesem Verständnis zufolge erschöpft sich das Erfordernis der Entscheidung nicht allein im Klagegegenstand, sondern ist auch maßgeblich bei der individuellen Betroffenheit zu berücksichtigen. Jene sei nur gegeben, wenn der Kläger wie bei einer an ihn gerichteten Entscheidung - die Stellung eines Adressaten hat bzw. sich in einer vergleichbaren Lage befindet. Diese Ansicht findet in der Plaumann-Formel ihren Ausdruck. Da auch Akte mit allgemeiner Geltung, also normativem Charakter, anfechtbar sein sollen, wenn sie bestimmte Personen individuell betreffen und damit ihnen gegenüber eine Entscheidung seien, übernimmt diese Ansicht die These von den hybriden Rechtsakte, welche jedoch abzulehnen ist 92 . Es ist nicht einsichtig, warum das individuelle Betroffensein nicht selbständig zu beurteilen sein soll. Zunächst handelt es sich dem Wortlaut von Art. 230 Abs. 4 EG nach bei der Entscheidung und der individuellen Betroffenheit um kumulative Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage. Wird die Individualität - wie hier vertreten 93 - dahin gehend verstanden, dass der eigene Rechts- bzw. Interessenkreis des Klägers betroffen sein muss, erhält diese Voraussetzung eine eigenständige Funktion. Dass bei an den Kläger gerichteten Entscheidungen ein individuelles Betroffensein nicht zusätzlich gefordert wird, erklärt sich daraus, dass bei belastender Wirkung der Kläger zwangsläufig aufgrund seiner Adressatenstellung im eigenen Rechts-/Interessenkreis betroffen ist 94 . Daneben kann eine solche Beeinträchtigung aber auch von einem Rechtsakt ausgehen, zu dem der Kläger nicht in einer adressatenähnlichen Beziehung im Sinne der Plaumann-Formel steht. Angesichts der Interpretationszugänglichkeit des Begriffs „individuell"95 ergibt sich keine Notwendigkeit, ihn gerade als Kehrseite zu den abstrakt-generellen Handlungen allgemeiner Geltung zu sehen. Letztere sind anhand der Zulässigkeitsvoraussetzung der Entscheidung, die allen drei Varianten des Art. 230 Abs. 4 EG zugrunde liegt, von der Anfechtung auszuschließen. Des individuellen Betroffen91 Köngeter, NJW 2002, 2216 (2217). Ähnlich: Schwarze, DVB1. 2002, 1297 (1303). Schon früher in diesem Sinne: Allkemper, Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, S. 60, der sich aber dennoch nicht gehindert sieht, dass individuelle Betroffensein extensiv auszulegen und jeden faktisch-tatsächlichen Eingriff in schützenswerte Rechte und Interessen genügen lassen will, S. 66, 93 ff. 92 Vgl. C. II. 2. c) bb) (1) (a). 93 Vgl. dazu die Ausführungen unter C. III. 7. 94 Auf dieser Prämisse basiert auch die Adressatentheorie, der im deutschen Verwaltungsprozessrecht bei der Bestimmung der Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO Bedeutung zukommt, siehe statt aller: Kopp/Schenke, VwGO, § 42 Rn. 69. 95 Hierzu auch C. m . 7.

176

E. Jüngste Entwicklungen zum Individualrechtsschutz

seins bedarf es hierzu nicht, so dass der zum Teil behauptete materielle Zusammenhang nicht besteht. Da es mithin allein um eine erweiternde Interpretation des Merkmals der Individualität ging, nicht um eine Änderung des Rechtsschutzsystems unter Verzicht auf die Voraussetzung der individuellen Betroffenheit im Rahmen der Nichtigkeitsklage, wäre es angezeigt gewesen, hätte der EuGH sich mit der Argumentation von EuG und Generalanwalt Jacobs auseinander gesetzt. Nicht überzeugen kann die Schlussfolgerung des EuGH, dass allein die Plaumann-Formel den Gehalt des individuellen Betroffenseins erfasse 96.

b) Neuinterpretation

zur Vermeidung

von Rechtsschutzlücken?

Zwingend wäre die Annahme der weiten Interpretation des individuellen Betroffenseins, wenn die von Generalanwalt Jacobs und dem EuG aufgestellte These zutreffend wäre, dass die enge Auslegung der Individualität im Sinne der Plaumann-Formel mit dem Verweis auf das Vorabentscheidungsverfahren zu Rechtsschutzlücken führt. Der Generalanwalt und das EuG bezogen sich auf Fälle, in denen nach herkömmlicher Rechtsprechung eine Nichtigkeitsklage mangels individuellen Betroffenseins ausscheidet und der streitige Rechtsakt keiner Durchführungsmaßnahmen der nationalen Behörden bedarf, die vor den mitgliedstaatlichen Gerichten angefochten werden können, mit der Folge, dass auch kein Vorlageverfahren zustande kommen kann. Es würde ein déni de justice drohen, da es dem Kläger nicht zugemutet werden kann, gegen den Rechtsakt zu verstoßen und ein Verfahren zu riskieren, um diesen Rechtsakt und inzident die zugrunde liegende Norm auf ihre Gültigkeit hin überprüfen zu lassen97. Jedoch hat der EuGH aufgezeigt, dass die Mitgliedstaaten nach dem Gemeinschaftsrecht eine Pflicht trifft, an der Vollständigkeit des Rechtsschutzsystems mitzuwirken. Sie müssen somit auch in diesen Fällen einen Rechtsweg für den Betroffenen eröffnen, in dessen Rahmen auf das Vorabentscheidungsverfahren zurückgegriffen werden kann. Es besteht mithin ein anderer Weg, drohende Rechtsschutzlücken zu schließen, als über eine Neuinterpretation des individuellen Betroffenseins. Die Schließung von Rechtsschutzlücken ist demnach kein zwingender Grund für eine erweiternde Auslegung des individuellen Betroffenseins.

96 EuGH, Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequefios Agricultores/Rat, Slg. 2002, I - 6677, Rn. 36. 97 GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequefios Agricultores/ Rat, Slg. 2002, Π - 6677, Π - 6681, Rn. 43; EuG, Rs. T-177/01 - Jégo Quéré et Cie SA/ Kommission, Slg. 2002, Π - 2365, Rn. 45. Aus der Literatur: Paehlke-Gärtner, VB1BW 2000, 13 (18); Rengeling, Brauchen wir die Verfassungsbeschwerde auf Gemeinschaftsebene?, in: FS für Everling, S. 1187 (1196); Gröpl, EuGRZ 1995, 583 (588); Sedemund/Heinemann, DB 1995,1161 (1163); Dittert, EuR 2002, 708 (715 f., 718).

Π. Würdigung

177

Auch Jacobs hat anerkannt, dass - wie dies Rat und Kommission angeregt hatten - drohende Rechtsschutzlücken auf dezentraler Ebene durch Einschaltung der mitgliedstaatlichen Gerichte geschlossen werden können, wenn in den nationalen Verfahrensordnungen Rechtsbehelfe bereitgestellt werden. Gleichwohl sei dieses Vorgehen wegen der Schwächen des Vorabentscheidungsverfahrens im Hinblick auf die Überprüfung der Gültigkeit von Gemeinschaftshandlungen mit dem Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes unvereinbar 98.

c) Zweckmäßigkeit

des Rechtsschutzsystems

Andere, zentrale Argumente des Generalanwalts betrafen eben diese Frage nach einer möglichst zweckmäßigen, effektiven Ausgestaltung des Individualrechtsschutzes zwischen Vorabentscheidungsverfahren und Nichtigkeitsklage, wenn es um Fragen der Gültigkeit von Gemeinschaftsrechtsakten geht. Sie beziehen sich nicht darauf, ob überhaupt Rechtsschutz erreichbar ist, sondern betreffen allein das „Wie" der Gewährleistung. Jacobs legte überzeugend dar, dass die Nichtigkeitsklage hierzu das geeignetere Verfahren darstellt. Er kritisierte am Vorabentscheidungsverfahren den mangelnden Einfluss des Einzelnen auf Einleitung des Verfahrens und Formulierung der Vorlagefragen und hob die demgegenüber vorteilhaftere Verfahrensgestaltung der Nichtigkeitsklage, insbesondere im Hinblick auf die Beteiligten99, hervor. Zudem bemängelte er am Vorabentscheidungsverfahren die lange Verfahrensdauer, die Kostenintensität und die Gefahr, dass die nationalen Gerichte rechtsfehlerhaft eine Vorlage unterlassen. Hinzu komme die Problematik, vorläufigen Rechtsschutz einheitlich für das gesamte Gebiet der Gemeinschaft zu erreichen 100. Während diese Kritikpunkte im Grundsatz ihre Berechtigung haben, können sie doch im Hinblick auf die Aspekte der langen Verfahrensdauer und der rechtswidrig unterbliebenen Vorlage relativiert werden. Lange Verfahrensdauern - die daraus resultieren, dass erst das im konkreten Fall letztinstanzliche Gericht zur Vorlage verpflichtet ist - müssen nicht zwangsläufig auftreten. Immerhin sind auch unterinstanzliche Gerichte zur Vorlage zumindest berechtigt, so dass es sehr schnell zur Einleitung des Vorabentscheidungsverfahrens kommen kann. Darüber hinaus sind bei Fragen bezüglich der Gültigkeit von sekundärem Gemeinschaftsrecht 101 schon erstinstanzlich zuständige Gerichte zur Einleitung des Vorabentscheidungsverfah98

GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequenos Agricultores/ Rat, Slg. 2002, Π - 6677, Π - 6681, Rn. 49, 56. 99 Insbesondere werden die Beteiligung des Organs, das den Rechtsakt erlassen hat, sowie die Möglichkeit des Streitbeitritts Dritter genannt, GA Jacobs, a. a. Ο., Rn. 42,46 f. ιοο GA Jacobs, a. a. Ο., Rn. 44,42. ιοί Gerade im Bezug auf Gültigkeitsfragen hält GA Jacobs die Nichtigkeitsklage für das geeignete Verfahren, da die mitgliedstaatlichen Gerichte in diesem Bereich ohnehin keine Kompetenz besäßen, GA Jacobs, a. a. Ο., Rn. 41. 12 Schulte

178

E. Jüngste Entwicklungen zum Individualrechtsschutz

rens verpflichtet, wenn sie den Gemeinschaftsrechtsakt für ungültig halten und daher unangewendet lassen möchten102. Lange Verfahrensdauern, die dadurch zustande kommen, dass bis zum Erreichen eines vorlageverpflichteten Gerichts der Instanzenzug beschritten werden muss, sind daher für diese Konstellationen im Rechtsschutzsystem nicht angelegt. Daneben besteht sicherlich die Gefahr, dass die nationalen Gerichte rechtsfehlerhaft kein Vorabentscheidungsverfahren einleiten, weil sie gemeinschaftsrechtliche Probleme nicht erkennen oder falsch bewerten. Dennoch können und werden in jedem Rechtssystem Fehlentscheidungen der Jurisdiktion auftreten bis hin zu den letztinstanzlich zuständigen Gerichten. Diese jedem Rechtssystem immanente Fehlerquelle muss hingenommen werden, will man nicht den Instanzenzug bis ins Unendliche ausdehnen. Gleichwohl behält der Einwand, dass der Weg über das Vorabentscheidungsverfahren grundsätzlich zeit- und kostenintensiv ist, seine Bedeutung. Ferner wies Generalanwalt Jacobs darauf hin, dass über die Nichtigkeitsklage früher als über das Vorabentscheidungsverfahren Rechtssicherheit eintritt 103. Rechtssicherheit wird dadurch gefördert, dass innerhalb von zwei Monaten (Art. 230 Abs. 5 EG) die Gültigkeit einer Norm der gerichtlichen Überprüfung zugeführt werden kann. Bei Vorabentscheidungsverfahren dagegen gibt es keine Frist, die gerichtliche Kontrolle des Rechtsaktes kann noch nach sehr viel längerer Zeit erfolgen. Rechtssicherheit wird durch die Bestandskraft von Rechtsakten bewirkt. Entscheidungen können von ihrem Adressaten und einem beschränkten Kreis weiterer Betroffener (üblicherweise Konkurrenten des Adressaten) angefochten werden. Ist die Erhebung einer Nichtigkeitsklage gegen die Entscheidung zulässig, dann ist nach der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache TWD dieser Rechtsbehelf zu ergreifen. Es ist dem Betroffenen verwehrt, sich nach Ablauf der zweimonatigen Frist des Art. 230 Abs. 5 EG mittelbar über das Vorabentscheidungsverfahren gegen die Entscheidung zur Wehr zu setzen und so die Bestandskraft der Entscheidung zu umgehen104. Die Bestandskraft soll nach Ablauf der Frist gemäß Art. 230 Abs. 5 EG allerdings nur dann eintreten, wenn es dem Betroffenen zumutbar war, Nichtigkeitsklage zu erheben, nämlich in den Fällen, in denen die Anfechtungsmöglichkeit offenkundig oder unstreitig ist 105 .

102 EUGH, Rs. 314/85 - Foto-Frost/Hauptzollamt Lübeck-Ost, Slg. 1987, 4199, Rn. 20; Streinz, Europarecht, Rn. 576; Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 177 EGVertrag, S. 117 ff. 103 GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequefios Agricultores/ Rat, Slg. 2002, I I - 6677, Π - 6681, Rn. 37; 48. 104 EuGH, Rs. C-188/92 - TWD Textilwerke Deggendorf GmbH/Bundesminister für Wirtschaft, Slg. 1994,1 - 833, Rn. 16 ff. 105 EuGH, Rs. C-188/92 - TWD Textilwerke Deggendorf GmbH/Bundesminister für Wirtschaft, Slg. 1994,1 - 833, Rn. 23, 24; Kamann/Selmayr, NVwZ 1999,1041 (1043 ff.).

Π. Würdigung

179

Bislang war die TWD-Rechtsprechung auf Normativakte schon deshalb nicht anwendbar, weil Nichtigkeitsklagen von Individualklägern gegen Handlungen allgemeiner Geltung nur in Ausnahmefällen zulässig sind. Und selbst dann scheidet eine Präklusion der Ungültigkeitsrüge im Verfahren vor den nationalen Gerichten und im Vorabentscheidungsverfahren aus, da die Klagebefugnis nach Art. 230 Abs. 4 EG bezogen auf Normativakte gerade nicht offenkundig, sondern höchst problematisch ist 106 . Der Einzelne darf aber nicht dazu gezwungen werden, stets Nichtigkeitsklage erheben zu müssen, um eventuelle Nachteile zu vermeiden, falls im Einzelfall doch ausnahmsweise die Nichtigkeitsklage zulässig wäre. Dadurch würde ihm in unbilliger Weise das Prozess- und Kostenrisiko aufgebürdet 107. Zudem ist es den mitgliedstaatlichen Gerichten nur zuzumuten, über die Frage der Präklusion zu entscheiden, wenn die Klagebefugnis nach EG-Recht eindeutig zu beurteilen ist, nicht aber in schwierigen, komplexen Fällen 108 . Die neuen Ansätze zur individuellen Betroffenheit von Generalanwalt Jacobs und EuG wirken sich unterschiedlich auf das Verhältnis von Nichtigkeitsklage und Vorabentscheidungsverfahren i. S. d. 7WD-Rechtsprechung aus. Die Interpretation des Generalanwalts (erhebliche nachteilige Auswirkungen auf die Interessen des Klägers) ist derart unbestimmt, dass die Klagebefugnis nach Art. 230 Abs. 4 EG nicht offenkundig ist und eine Präklusion des Vorabentscheidungsverfahrens von vornherein nicht in Betracht kommt 109 . Nach der neuen Interpretation des individuellen Betroffenseins durch das EuG (Beeinträchtigung der Rechtsposition des Klägers) ist die Klagebefugnis hingegen ähnlich eindeutig zu beurteilen wie bei Entscheidungen, so dass die 7WD-Rechtsprechung auf diese Fälle übertragbar und im nationalen Verfahren eine Berufung des Betroffenen auf die Ungültigkeit einer Norm und eine entsprechende Vorlagefrage des Gerichts nach Ablauf der zweimonatigen Frist aus Art. 230 Abs. 5 EG unzulässig wäre. Vielfach wird die Frage nach der Ungültigkeit einer Norm frühzeitig geklärt werden, weil ein Betroffener Nichtigkeitsklage erhebt, so dass Rechtssicherheit eintritt. Werden Normen jedoch nicht innerhalb der zweimonatigen Frist gemäß Art. 230 Abs. 5 EG angefochten, kann es eine mit der Bestandskraft von Entscheidungen gleichzusetzende Rechtssicherheit nicht geben. Wahrend Entscheidungen einen Adressaten und generell einen eingeschränkten Regelungsbereich haben, zeichnen sich Normativakte durch ihre allgemeine Geltung aus. Insbesondere bei längerer Geltungsdauer können nach Erlass neue Betroffene hin106 Nowak, EuR 2000, 724 (731). 107 Gröpl, EuGRZ 1995, 583 (588). ,08 Lengauer, Nichtigkeitsklage vor dem Europäischen Gerichtshof: Parteistellung natürlicher und juristischer Personen, S. 169. 109 Welche Bedeutung GA Jacobs der 7WD-Rechtsprechung für die Anfechtbarkeit von Normen nach seiner Interpretation des individuellen Betroffenseins beimisst, wird nicht ganz deutlich. Er geht aber wohl davon aus, dass eine Präklusion des Vorabentscheidungsverfahrens nicht in Betracht kommt, Schlussanträge in der Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequenos Agricultores/Rat, Slg. 2002, Π - 6677, Π - 6681, Rn. 65.

12*

180

E. Jüngste Entwicklungen zum Individualrechtsschutz

zutreten. Diesen Personen kann eine Berufung auf die Ungültigkeit der Norm und die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens durch ein mitgliedstaatliches Gericht nicht verwehrt werden, weil es ihnen mangels Betroffenheit zum Zeitpunkt des Erlasses gar nicht möglich war, innerhalb der zweimonatigen Frist Nichtigkeitsklage zu erheben. Wenn eine Norm nicht innerhalb der zwei Monate angefochten wird, kann demnach später noch über ihre Gültigkeit zu entscheiden sein. Daneben ist eine Bestandskraft von Normen aus einem weiteren Grund auszuschließen. In Art. 241 EG ist der allgemeine Grundsatz niedergelegt, dass Normen ungeachtet des Ablaufs der Frist aus Art. 230 Abs. 5 EG überprüft werden können, wenn ihre Gültigkeit für das anhängige Verfahren von Bedeutung ist, etwa weil sie die Rechtsgrundlage für die streitige Maßnahme bilden 110 . Umstritten ist, ob ähnlich wie bei der Präklusion des Vorabentscheidungsverfahrens nach der rWD-Rechtsprechung auch die Einrede der Ungültigkeit gemäß Art. 241 EG unzulässig ist, wenn offenkundig eine Klagemöglichkeit nach Art. 230 EG bestanden hatte111. Verneint man dies und hält eine Inzidentrüge auch in diesen Fällen für zulässig, scheidet eine Bestandskraft von Normen aus diesem Grund aus. Selbst wenn man aber eine Präklusionswirkung annimmt, gilt das soeben zum Vorabentscheidungsverfahren Ausgeführte entsprechend, eine Bestandskraft von Normen tritt nicht. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der EG-Vertrag nicht von der Möglichkeit einer Bestandskraft von Normen ausgeht, die derjenigen von Entscheidungen vergleichbar wäre, aber es dennoch der Rechtssicherheit zuträglich ist, wenn Nichtigkeitsklage erhoben werden könnte und damit rechtswidrige Normen frühzeitig aufgehoben werden. Noch in einer weiteren Hinsicht begründete Jacobs überzeugend, dass ein Abrücken von der Plaumann-Formel positive Effekte für das gemeinschaftliche Rechtsschutzsystem mit sich bringen würde: Die Komplexität der Plaumann-Formel in der Rechtsprechung hat zu einer äußerst undurchsichtigen Rechtslage geführt. Hier wäre mehr Klarheit angezeigt112. Gleichwohl ist zu bedenken, dass auch die von Jacobs vorgeschlagene Interpretation der individuellen Betroffenheit nicht frei von Unsicherheiten ist, wenn darauf abgestellt wird, ob die Maßnahme erhebliche nachteilige Auswirkungen auf die Interessen des Klägers hat oder haben wird 113 . Insbesondere der unbestimmte Begriff der Erheblichkeit öffnet wieder Tür und Tor HO EUGH, Rs. 92/78 - Simmenthai S.p.A./ Kommission, Slg. 1979, 777, Rn. 39; Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 241 Rn. 1. m Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 241 Rn. 4; Busse, EuZW 2002, 715 (719 f.). Für die natürliche und juristische Personen stellt sich diese Frage nicht, so lange die Rechtsprechung zur Anfechtbarkeit von Normativakten derart komplex und schwer vorhersehbar ist. u 2 GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequefios Agricultores/ Rat, Slg. 2002, Π - 6677,1 - 6681, Rn. 66, 80, 83,102. 113 GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequefios Agricultores/ Rat, Slg. 2002, I I - 6677,1 - 6681, Rn. 60, 103.

Π. Würdigung

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für eine schwer vorhersehbare Einzelfallrechtsprechung. Die Auslegung des EuG gegenwärtige Beeinträchtigung einer Rechtsposition des Klägers 114 - hat dagegen den Vorteil größerer Bestimmtheit für sich. Generalanwalt Jacobs legte überzeugend dar, dass der zweckmäßigeren Ausgestaltung des Rechtsschutzsystems durch einen größeren Anwendungsbereich der Nichtigkeitsklage auch eine mögliche Überlastung der Gemeinschaftsgerichte nicht entgegensteht. Ist nach neuer Interpretation des individuellen Betroffenseins eine Nichtigkeitsklage gegen eine Norm zulässig, hätte sich nach herkömmlicher Rechtsprechung die Gemeinschaftsgerichtsbarkeit in aller Regel ebenfalls in einem Verfahren mit der Frage nach der Gültigkeit der Norm befassen müssen. Kommen die nationalen Gerichte ihrer Vorlageverpflichtung nach, müssen sie bei Zweifeln an der Gültigkeit ein Vorabentscheidungsverfahren einleiten. Eine Filterfunktion können sie nur ausüben, wenn das Vorbringen des Klägers zur Rechtswidrigkeit der Norm abwegig ist, so dass keinerlei Zweifel an der Gültigkeit aufkommen. Aber auch wenn das EuG bei großzügigerer Interpretation des individuellen Betroffenseins solche Verfahren zu verhandeln hätte, wäre die dadurch entstehende Arbeitslast überschaubar, denn es könnte die Klagen wegen offensichtlicher Unzulässigkeit oder Unbegründetheit gemäß Art. 111 der Verfahrensordnung des EuG ohne Fortsetzung des Verfahrens durch Beschluss abweisen. Drohender Arbeitsbelastung können die Gemeinschaftsgerichte auch begegnen, indem verschiedene Klagen mit gleichem Klagegegenstand verbunden oder Musterrechtssachen ausgewählt werden 115. Nicht zuletzt bewirkt eine unproblematische Definition des individuellen Betroffenseins eine partielle Entlastung und der Schwerpunkt der richterlichen Prüfung verlagert sich wieder auf Fragen des materiellen Rechts116. Uneingeschränkt zuzustimmen ist Jacobs in seinen Ausführungen, dass der Gerichtshof seine Rolle als Verfassungsgericht auch dann hinreichend ausfüllt, wenn Normen von Einzelnen vor dem EuG mit der Nichtigkeitsklage angefochten werden, solange er weiterhin als Rechtsmittelinstanz fungiert und somit die Letztentscheidungsbefugnis innehat117. Zudem entscheidet das EuG bereits jetzt über die Gültigkeit von Handlungen allgemeiner Geltung, entweder wenn eine Nichtigkeitsklage nach Art. 230 Abs. 4 EG ausnahmsweise zulässig ist oder im Rahmen von Amtshaftungsklagen gemäß Art. 288 Abs. 2 i. V. m. Art. 235 EG. Nicht ganz überzeugen kann hingegen der Begründungsansatz, dass durch die Erweiterung der individuellen Betroffenheit Unterschiede in der Rechtsprechung ausgeräumt würden, die dadurch entstanden seien, dass sich der EuGH hinsichtlich der Klagebefugnis des Parlaments sowie hinsichtlich des Klagegegenstands eher großzügig gezeigt habe, gegenüber der Klageberechtigung von Individualklägern EuG, Rs. T-177/01 - Jégo Quéré et Cie SA/Kommission, Slg. 2002, Π - 2365, Rn. 51. GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequenos Agricultores/ Rat, Slg. 2002, Π - 6677,1 - 6681, Rn. 80. 116 GA Jacobs, a. a. O., Rn. 66. 117 GA Jacobs, a. a. O., Rn. 92. 1,5

182

E. Jüngste Entwicklungen zum Individualrechtsschutz

hingegen stets eine restriktive Haltung eingenommen habe 118 . Wurde damals der Wortlaut überschritten, kann daraus für weitere Situationen keine Rechtfertigung hergeleitet werden. Auch wenn nach der hier vertretenen Auffassung eine erweiterte Interpretation der individuellen Betroffenheit die Wortlautgrenze nicht überschreiten würde, hilft doch der Verweis auf sonstige Großzügigkeit nicht weiter, sondern es bedarf eigenständiger Gründe, die Jacobs allerdings auch angeführt hat. Alles in allem hat Generalanwalt Jacobs überwiegend sehr gute Argumente für eine Ausdehnung der Individualität und damit des Individualrechtsschutzes vorgetragen, wenn es um Fragen der Gültigkeit von Gemeinschaftsrechtsakten geht. Gleichwohl bringt seine Interpretation des individuellen Betroffenseins ein nicht zu unterschätzendes Potential an Rechtsunsicherheit mit sich. Fraglich ist, ob damit der Öffnung der Nichtigkeitsklage gegenüber Normen nichts mehr im Wege steht, oder ob nicht doch eine andere Voraussetzung des Art. 230 Abs. 4 EG hierfür ein Hindernis bereitet.

5. Verbleibendes Problem: Handlungen allgemeiner Geltung als anfechtbare Rechtsakte Während heftig darum gestritten wurde, welchen Inhalt die in Art. 230 Abs. 4 EG festgelegte Voraussetzung des individuellen Betroffenseins hat und welche Auslegung dieses Merkmals noch zulässig ist, ohne den Wortlaut des Vertrages zu missachten, fand - in Rechtsprechung und Literatur 119 - eine andere vertraglich vorgesehene Beschränkung der Direktklagemöglichkeit kaum Beachtung, nämlich die Regelung tauglicher Klagegegenstände. Schon seit geraumer Zeit wird eine Nichtigkeitsklage, die gegen eine Handlung mit allgemeiner Geltung erhoben wird, nicht bereits aus diesem Grund als unzulässig abgewiesen, sondern weiterhin geprüft, ob der Kläger unmittelbar und vor allem individuell betroffen ist. Die von Art. 230 Abs. 4 EG statuierte Grenze, dass Normativakte nicht direkt von natürlichen und juristischen Personen angefochten werden können, wird stillschweigend übergangen. Anfechtbar sind nach der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte vielmehr alle Rechtsakte, die verbindliche Rechtswirkungen erzeugen120. "8 GA Jacobs, a. a. O., Rn. 67 ff. 119 Ausnahmen bilden insoweit Schwarze, DVB1. 2002, 1297(1302, 1303); Köngeter, NJW 2002, 2216 (2217), die beide der Ansicht sind, die Klagebefugnis ergebe sich aus dem engen Zusammenhang zwischen dem individuellen Betroffensein und dem Anfechtungsgegenstand; Feddersen, EuZW 2002,532 (534) ohne Stellungnahme zu diesem Problem. 120 EuGH, Rs. 60/81 - International Business Machines Corporation/Kommission, Slg. 1981, 2639, Rn. 9; Rs. C-309/89 - Codorniu SA/Rat, Slg. 1994,1 - 1853, Rn. 19 ff. Auch der Arbeitskreis des Europäischen Konvents zur Arbeitsweise des Gerichtshofs hat sich mit diesem Umstand befasst und erwogen - neben der Diskussion um eine inhaltliche Änderung des Rechtsschutzsystems für Individualkläger - eine rein redaktionelle Änderung des Art. 230

Π. Würdigung

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Generalanwalt Jacobs und das EuG schenkten dem Klagegegenstand wohl deshalb keine Aufmerksamkeit, weil die Anfechtbarkeit echter Normativakte inzwischen gefestigter Rechtsprechung entspricht und vor allem schon eine Ausdehnung des Rechtsschutzes für Individualkläger bedeutet, welche der Generalanwalt und das EuG durch die neue Deutung des individuellen Betroffenseins noch weiter vorantreiben wollten. Der EuGH begründete die Eignung von Verordnungen als zulässige Klagegegenstände mit dem inhaltlichen Zusammenhang zu der Voraussetzung der individuellen Betroffenheit. Betrifft eine Handlung allgemeiner Geltung eine natürliche oder juristische Person individuell, habe sie dieser Person gegenüber Entscheidungscharakter und bilde daher einen tauglichen Klagegegenstand121. Wieder wurde ein materieller Zusammenhang zwischen dem Begriff der Entscheidung und dem der Individualität behauptet und für die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage als maßgeblich erachtet. Es wurde bereits dargelegt, dass die Verbindung der unterschiedlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen für das individuelle Betroffensein keineswegs notwendig ist, sondern es durchaus anders interpretierbar ist als im Sinne der Plaumann-Formel. Es könnte aber sein, dass jedenfalls bei Vorliegen der Voraussetzungen der Plaumann-Formel der angefochtene Akt stets seiner Rechtsnatur nach eine Entscheidung ist und auf diese Weise zulässige von unzulässigen Klagegegenständen abgrenzbar wären. Doch selbst die Gemeinschaftsgerichte behaupten nicht, dass durch die inhaltlichen Anforderungen der Plaumann-Formel Normen gänzlich von der Anfechtung durch natürliche und juristische Personen ausgenommen würden. Denn auch eine Handlung allgemeiner Geltung kann nach Ansicht der Gemeinschaftsgerichte eine natürliche oder juristische Person individuell betreffen und eine gegen diese Handlung erhobene Nichtigkeitsklage dementsprechend zulässig sein 122 . Während das EuG nach wie vor davon ausgeht, dass eine solche Handlung hybriden Rechtscharakter habe, also sowohl Norm als auch (bezogen auf den Kläger) eine Entscheidung sein könne 123 , verwendet der EuGH den Begriff des Entscheidungsc/iarakters 124. Wie bereits dargelegt wurde 125 , ist die Annahme, Rechtsakte könnten Abs. 4 EG vorzunehmen, indem nur noch der Terminus „Rechtsakt" die tauglichen Klagegegenstände kennzeichnet und der Wortlaut damit an die Rechtsprechung angepasst würde, ohne den Anwendungsbereich ansonsten zu verändern, CONV 636/03, Rn. 23. 121 EuGH, Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequefios Agricultores/Rat, Slg. 2002, I - 6677, Rn. 36. 122 EUGH RS. C-309/89 - Codorniu SA/Rat, Slg. 1994,1 - 1853, Rn. 19 ff. 123 EuG, Verb. Rs. T-481/93 u. T-484/93 - Vereniging van Exporteurs in Levende Varkens u. a. / Kommission, Slg. 1995, Π - 2941, Rn. 50; Rs. T-47/95 - Terre Rouge Consultant SA u. a./Kommission, Slg. 1997, Π - 481, Rn. 43; Rs. T-122/96 - Federazione nazionale del commercio oleario (Federolio)/Kommission, Slg. 1997, Π - 1559, Rn. 58; Rs. T-166/99 - Luis Fernando Andres de Dios/Rat, Slg. 2001, Π - 1857, Rn. 45; Verb. Rs. T-198/95, T-171 /96, T-230/97, T-174/98 u. T-225/99 - Comafrica u. Dole Fresh Fruit Europe Ltd & Co./Kommission, Slg. 2001, I I - 1975, Rn. 101.

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E. Jüngste Entwicklungen zum Individualrechtsschutz

gleichzeitig Norm und Entscheidung sein, nicht zutreffend. Es ändert nichts am Rechtssatzcharakter einer Norm, wenn sie unterschiedliche Auswirkungen auf die verschiedenen ihr unterworfenen Personen hat und unter Umständen einige von ihnen „individuell" betrifft. Auch der EuGH begründet die Erweiterung der zulässigen Klagegegenstände letztlich damit, dass bei Vorliegen des individuellen Betroffenseins im Sinne der Plaumann-Formel der Betroffene sich in einer vergleichbaren Lage befinde wie der Adressat einer Entscheidung. Aufgrund dieser vergleichbaren Interessenlage wird die Nichtigkeitsklage gegen Normativakte zugelassen126. Eine aus Sicht des Klägers vergleichbare Interessenlage mit der Situation, in der er Adressat einer Entscheidung ist, genügt jedoch nicht, um den normativen Charakter des streitigen Rechtsakts für unerheblich zu erklären und für die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage allein auf das individuelle Betroffensein abzustellen. Das kumulative Verhältnis der Voraussetzungen des Art. 230 Abs. 4 EG würde aufgegeben. Es fehlt für eine Analogie an der Regelungslücke, der Wortlaut des Art. 230 Abs. 4 EG schließt die Anfechtung normativer Rechtsakte generell aus, ohne die konkreten Auswirkungen auf den Kläger zu berücksichtigen. Individuelles Betroffensein und die Rechtsnatur der Entscheidung entsprechen sich somit nicht durchgängig. Selbst wenn die engen Voraussetzungen der Plaumann-Formel vorliegen, kann der angefochtene Rechtsakt allgemeine Geltung besitzen. Eine hinreichende dogmatische Grundlage für die Anfechtbarkeit von Normativakten, welche den Kläger individuell betreffen, ist nicht ersichtlich. Es bleibt somit auch bei der engen Definition der Individualität im Sinne der Plaumann-Formel das Problem, dass nach der Rechtsprechung Normativakte Gegenstand einer Nichtigkeitsklage bilden können. Dieses Problem ist auch nach der erneuten Auseinandersetzung der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit mit dem Individualrechtsschutz gegenüber Normen nicht gelöst. Die vom Wortlaut des Art. 230 Abs. 4 EG gesetzten Grenzen werden überschritten. Selbst wenn man das individuelle Betroffensein einer erweiterten Auslegung zuführt und eine Zentralisierung des Rechtsschutzes gegenüber normativen Rechtsakten im Hinblick auf Fragen der Gültigkeit als zweckmäßig erachtet, muss der Rechtsschutz gegen echte Normativakte nach dem System des EG-Vertrages konsequent und ausnahmslos dezentralisiert werden.

124 EuGH\ Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequenos Agricultores/Rat, Slg. 2002, I - 6677, Rn. 36. Hervorhebung hinzugefügt. 125 Dazu unter C. Π. 2. c) bb) (1) (a). 126 Ebenfalls hinsichtlich des Klagegegenstands ausschließlich aus Sicht des Klägers argumentierend: Braun/Kettner, DÖV 2003, 58 (59).

ΙΠ. Dezentralisierung des Rechtsschutzes gegen Normativakte

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ΙΠ. Konsequenzen der Dezentralisierung des Rechtsschutzes gegen Normativakte Der Rechtsschutz gegenüber Normen ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgrund seines restriktiven Verständnisses der individuellen Betroffenheit im Regelfall dezentralisiert. Hier wird demgegenüber vertreten, dass nicht die Voraussetzung des individuellen Betroffenseins der Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage entgegensteht, sondern vielmehr die Beschränkung der tauglichen Klagegegenstände in Art. 230 Abs. 4 EG. Wenn somit nach der Rechtsprechung des EuGH wie auch der hier vertretenen Auffassung de lege lata die Rechtsschutzgewährung gegenüber Normativakten den mitgliedstaatlichen Gerichten zufällt, ist zu klären, welche Konsequenzen sich daraus ergeben127.

1. Rechtswegeröffnung vor den nationalen Gerichten Die Gerichte der Mitgliedstaaten sind aufgrund von Art. 10 EG sowie ihrer Verantwortung aus der EMRK verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass natürliche und juristische Personen Rechtsschutz gegen EG-Normen erhalten können. Zweifellos bleibt es dabei, dass die nationalen Gerichte nicht selbst über Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit von EG-Rechtsakten entscheiden dürfen, vielmehr das Verwerfungsmonopol der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit zusteht. Die Mitgliedstaaten haben daher die Aufgabe, Zugang zu einem Gericht zu gewähren, so dass in diesem Verfahren das Vorabentscheidungsverfahren eingeleitet werden kann, in dem dann über die Gültigkeit der sekundärrechtlichen Norm entschieden wird. Primäre Funktion der mitgliedstaatlichen Gerichte bei der Frage nach gerichtlichem Rechtsschutz gegen Normativakte ist die Eröffnung eines Rechtswegs. Im Folgenden soll darauf eingegangen werden, welche grundsätzlichen Auswirkungen die Pflicht zur Rechtswegeröffhung auf das nationale Prozessrecht hat.

a) Nationale Rechtsbehelfe und gemeinschaftsrechtskonforme

Interpretation

Um ihrer Verpflichtung nachzukommen, dem Einzelnen Zugang zu einem Gericht zu verschaffen, so dass die Frage nach der Gültigkeit einer gemeinschaftsrechtlichen Norm dem EuGH zur Überprüfung vorgelegt werden kann, müssen die nationalen Gerichte zunächst ihre Verfahrensordnungen möglichst so auslegen, dass für alle Fälle mit Bezug zum Gemeinschaftsrecht ein Rechtsweg eröffnet ist 128 . 127 Zu der Bedeutung der Dezentralisierung des Rechtsschutzes gegen Sekundärrechtsakte für das deutsche Verwaltungsprozessrecht eingehend: Cremer, Die Verwaltung 2004,165 ff. 128 Ditteri, EuR 2002,708 (717, 718); Nettesheim, JZ 2002,928 (933).

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E. Jüngste Entwicklungen zum Individualrechtsschutz

Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung deutschen Prozessrechts und Anpassung an gemeinschaftsrechtliche Vorgaben sind schon aus anderen Fallgestaltungen bekannt. Zu denken ist beispielweise an den Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf die Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO 1 2 9 , aber auch an die Modifikationen, die das Gemeinschaftsrecht für die Ausgestaltung des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO und § 123 VwGO mit sich gebracht hat 130 . Für die im Kontext des Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz als besonders problematisch gewerteten Fälle der EG-Normen, die unmittelbar wirken und keines (anfechtbaren) nationalen Vollzugsaktes bedürfen 131, die weniger beachteten Fälle der Vorwirkungen von Normen, die erst zu einem späteren Zeitpunkt Rechtswirkungen entfalten, und für den Sonderfall der Belastung „staatlicher Stellen" unmittelbar durch Richtlinien kommt im deutschen Verwaltungsprozessrecht die Feststellungsklage gemäß § 43 VwGO als statthafte Klageart in Betracht. In der Literatur ist dies in Bezug auf self-executing Verordnungen diskutiert worden. Nicht ganz einheitlich - und jeweils ohne Begründung - fällt die Beurteilung aus, ob die Feststellungsklage132 oder die vorbeugende Feststellungsklage133 der statthafte Rechtsbehelf ist. Beide Verfahren sind gerichtet auf die Klärung des Bestehens oder Nichtbestehens eines hinreichend konkretisierten Rechtsverhältnisses. Problematisch ist aber, welches Verfahren statthaft ist, wenn eine Entscheidung über zukünftige Rechtsverhältnisse zu treffen ist 134 . Nach einer Ansicht können im Rahmen der allgemeinen Feststellungsklage neben gegenwärtigen auch zukünftige Rechtsverhältnisse erfasst sein. Eine vorbeugende Feststellungsklage beziehe sich dagegen nicht auf zukünftige Rechtsverhältnisse, sondern habe gegenwärtige Rechtsverhältnisse zum Gegenstand und sei gerichtet auf die Abwehr eines drohenden belastenden Handelns der Verwaltung 135. 129 Ruthig, BayVBl. 1997, 289 ff.; Ruffert, DVB1. 1998, 69 ff., insb. 74 f.; Schwarze, NVwZ 2000, 241 (250 f.); Kopp/Schenke, VwGO, § 42 Rn. 152 ff. 130

Vgl. hierzu etwa: Krumbacher, Vorläufiger Rechtsschutz vor nationalen Gerichten in Fällen mit Gemeinschaftsrechtsbezug, S. 178 ff.; Schwarze, NVwZ 2000,241 (248 f.). 131 Die von GA Jacobs und dem EuG geäußerten Bedenken sind auch von der Literatur vorgebracht worden: von Danwitz, NJW 1993, 1108 (1112); Gröpl, EuGRZ 1995, 583 (588); Sedemund/Heinemann, DB 1995,1161 (1162). 132 Ditteri, EuR 2002, 708 (718); Köngeter, NJW 2002, 2216 (2217); Nettesheim, JZ 2002, 928 (933). 1 33 Schon vor dem Urteil in der Rechtssache UPA: Paehlke-Gärtner, VB1BW 2000, 13 (18); Gundel, VerwArch 2001, 81 (100); jetzt auch: Calliess, NJW 2002, 3577 (3581). 1 34 So können etwa Verordnungen gegenwärtig auf Rechtsverhältnisse einwirken, wenn sie zum Zeitpunkt der Klageerhebung Rechtswirkung entfalten. Ebenso können sie aber erst in der Zukunft Rechtsverhältnisse gestalten, wenn Übergangszeiten vorgesehen sind, bis der Inhalt verbindlich wird. 135 Z. B. Schenke, Verwaltungsprozeßrecht, Rn. 406 ff.; Selb, Die verwaltungsgerichtliche Feststellungsklage, S. 94 ff., S. 113 ff. mit ausführlicher Darstellung des Diskussionsstandes.

ΙΠ. Dezentralisierung des Rechtsschutzes gegen Normativakte

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Der Aspekt der Abwehr drohenden Verwaltungshandelns steht auch im Mittelpunkt der Ausführungen der Rechtsprechung zur vorbeugenden Feststellungsklage 1 3 6 . Die Differenzierung zwischen allgemeiner und vorbeugender Feststellungsklage nach dieser Ansicht relativiert sich jedoch im Hinblick auf den Rechtschutz gegen rechtswidrige Normen. Zum einen soll für das konkrete Rechtsverhältnis der vorbeugenden FeststeUungsklage wie bei der allgemeinen Feststellungsklage bereits genügen, dass der in Frage stehende Sachverhalt den Tatbestand der Norm erfüllt 137 . Zum anderen muss der Einzelne, der eine Norm für rechtswidrig hält und ihr deshalb nicht Folge leisten will, stets damit rechnen, dass ein solches Verhalten sanktioniert wird. Eine Norm wird in aller Regel für den Fall der Nichtbefolgung Repressalien vorsehen, anderenfalls wäre sie ein „zahnloser Tiger . Andere Autoren konzedieren, dass vorbeugender Rechtsschutz generell dazu dient, sich schon gegenwärtig des Eintritts einer künftigen Belastung zu erwehren, schließen dann aber daraus, dass gerade zukünftige Rechtsverhältnisse den Gegenstand der vorbeugenden Feststellungsklage bilden 138 . Der maßgebliche Unterschied zwischen Feststellungsklage und vorbeugender FeststeUungsklage liegt in den Anforderungen an das Rechtsschutzbedürfnis. Grundsätzlich erfordert vorbeugender Rechtsschutz und damit auch die vorbeugende Feststellungsklage ein besonderes Rechtsschutzbedürfnis, da der Verwaltungsrechtsschutz vorrangig auf repressiven Rechtsschutz ausgerichtet ist und auch die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG voraussetzt, dass der Bürger in seinen Rechten verletzt wurde 139 . Die Anforderungen an das qualifizierte Rechtsschutzbedürfnis für den vorbeugenden Rechtsschutz sind nur erfüllt, wenn es für den Kläger unzumutbar ist, das Eintreten der Belastung abzuwarten und dagegen repressiven Rechtsschutz einzufordern 140. Letztlich spielt die Differenzierung zwischen allgemeiner und vorbeugender Feststellungsklage ohnehin eine untergeordnete Rolle für die Frage nach effektivem Rechtsschutz gegen (unmittelbar wirkende) Normativakte der Gemeinschaft. Denn ist kein Rechtsweg zu den Gemeinschaftsgerichten eröffnet, müssen die Mitgliedstaaten Rechtsbehelfe zur Verfügung stellen, mittels derer der Betroffene zumindest inzident die Rechtmäßigkeit der Norm des Gemeinschaftsrecht rügen und 136 VGHMannheim, NVwZ-RR 1994, 362 f.; VGH Kassel, NVwZ 1988,445 ff.; BVerwG, NVwZ 1984,168 f.; NVwZ 1986, 1011 f. 137 Selb, Die verwaltungsgerichtliche Feststellungsklage, S. 114 ff. Dort wird ausgeführt, dass im Regelfall, in dem zwar die Norm rechtmäßig ist, die Verwaltung aber irrtümlich davon ausgeht, dass der in Frage stehende Sachverhalt den Tatbestand der Norm erfüllt, zur Konkretisierung des streitigen Rechtsverhältnisses hinzukommen müsse, dass der rechtswidrige belastende Akt aktuell droht und dies aus dem Verhalten der Behörde erkennbar ist. 1 38 Etwa Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 18 Rn. 33, 38; Lorenz, Verwaltungsprozeßrecht, § 24 Rn. 1, 18. 139 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 19 Rn. 25 ff. 140 Lässig, NVwZ 1988,410 (411).

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E. Jüngste Entwicklungen zum Individualrechtsschutz

die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens anregen kann. Die nationalen Gerichte müssen zu diesem Zweck die bestehenden Klagearten und ihre Voraussetzungen - hier insbesondere das Rechtsschutzbedürfnis - gemeinschaftsrechtskonform auslegen141. b) Schaffung neuer Rechtsbehelfe? In Deutschland können drohende Lücken im Rechtsschutzsystem142 zwischen Nichtigkeitsklage und Vorabentscheidungsverfahren gelöst werden, da die (vorbeugende) Feststellungsklage als Rechtsbehelf zur Verfügung steht. Fraglich ist aber, welche Bedeutung es hat, wenn in anderen Mitgliedstaaten kein Rechtsbehelf existiert, der einen Rechtsweg eröffnet, etwa für den Fall, dass keine anfechtbare nationale Durchführungsmaßnahme erfolgt. Da in der Regel die Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 Abs. 4 EG gegen Normativakte unzulässig ist, müsste dann Rechtsschutz dezentral und gegebenenfalls unter Einschaltung des Vorabentscheidungsverfahrens gewährt werden. In seiner früheren Rechtsprechung hat der EuGH den Standpunkt vertreten, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, zur Wahrung des Gemeinschaftsrechts vor den nationalen Gerichten neue Rechtsbehelfe einzuführen. Vielmehr müssten sie nur das bestehende Verfahrensrecht diskriminierungsfrei auch zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts anwenden143. Heute muss etwas anderes gelten. Es besteht ein Anspruch der Unionsbürger auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gegenüber Handlungen der Gemeinschaftsorgane 144. Wenn die Gemeinschaftsgerichte nach den Vorgaben des EG-Vertrages Rechtsschutz nicht oder nur in Zusammenarbeit mit den mitgliedstaatlichen Gerichten gewähren können, bleibt eine entsprechende Verantwortung bei den Mitgliedstaaten145. Daraus ergibt sich zum einen die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die vorhandenen Rechtsbehelfe gemeinschaftsrechtskonform auszulegen. Soweit dann immer noch Rechtsschutzlücken gegeben sind, trifft die Mitgliedstaaten zum anderen die Verpflichtung, diese durch Schaffung neuer Rechtsbehelfe zu schließen. Ohne explizit eine Pflicht zur Schaffung neuer Rechtsbehelfe zu nennen, sprach der EuGH lediglich davon, dass es „Sache der Mitgliedstaaten" sei, ein dem Anspruch auf effektiven gericht141 Nettesheim, JZ 2002, 928 (933); Ditteri, EuR 2002, 708 (718). 1 42 Bei self-executing Verordnungen, Vorwirkungen von Normen und wenn „staatliche Stellen" durch Richtlinien unmittelbar belastetet werden. 143 EuGH, Rs. 158/80 - Rewe-Handelsgesellschaft Nord mbH und Rewe-Markt Steffen/ Hauptzollamt Kiel, Slg. 1981, 1805, Rn. 44. Kritisch zu dieser Rechtsprechung: Sack, EuR 1985,319(320). 144 EuGH, Rs. 222/84 - Marguerite Johnston /Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary, Slg. 1986, 1651, Rn. 18; Rs. 222/86 - Union nationale des entraîneurs et cadres techniques professionnels du football (Unectef)/Georges Hey lens u. a., Slg. 1987, 4097, Rn. 14. 145 Ε. Π. 3.

ΙΠ. Dezentralisierung des Rechtsschutzes gegen Normativakte

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liehen Rechtsschutz genügendes System vorzusehen146. In der Sache ist damit aber nichts anderes gemeint147. Zu der Verpflichtung, dem Einzelnen Rechtsbehelfe zur Verfügung zu stellen, zählt auch, dass diese zur Rechtsschutzgewährung hinreichend effektiv sind. Von besonderer Bedeutung ist die Rechtzeitigkeit des Rechtsschutzes. Damit sind Mitgliedstaaten gehalten, vorbeugenden Rechtsschutz vorzusehen, sollte repressiver Rechtsschutz in Ausnahmesituationen nicht effektiv sein, weil bis zum Eingreifen repressiven Rechtsschutzes schon irreparable Schäden eingetreten sind 148 . Zu denken ist ζ. B. an Fälle, in denen sich der Betroffene bereits vor Eintreten der Rechtswirkungen auf die zukünftige Lage einstellen und irreversible Dispositionen treffen muss. Sollte in einigen Mitgliedstaaten kein vorbeugender Rechtsschutz existieren, ist Abhilfe zu schaffen.

2. Auswirkungen auf das Vorabentscheidungsverfahren Bei konsequenter Dezentralisierung des Individualrechtsschutzes gegen Normen des Gemeinschaftsrechts kann eine Befassung der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit mit der Frage nach der Gültigkeit der streitigen Vorschrift allein über das Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 234 EG erfolgen. Fraglich ist, welche Schlüsse aus diesem Umstand für das Vorabentscheidungsverfahren zu ziehen sind. Während es für die Fallgestaltungen, in denen ein Einzelner unmittelbar durch eine Verordnung belastet wird, ohne dass es einer nationalen Durchführungsmaßnahme bedarf, und in denen „staatliche Stellen" unmittelbar durch Richtlinien belastet werden, wesentlich darauf ankam, dass überhaupt ein Rechtsbehelf Zugang zu den mitgliedstaatlichen Gerichten eröffnet, ist für die effektive Rechtsschutzgewährung gegen Vorwirkungen von Normen vornehmlich der Zeitpunkt von Bedeutung, ab dem ein Vorabentscheidungsverfahren eingeleitet werden kann. Für den Fall, dass eine Verordnung Vorwirkungen entfaltet, etwa indem sie eine Übergangsfrist vorsieht, bis die in ihr vorgesehenen Rechtspflichten auferlegt werden, der künftig Betroffene sich aber bereits gegenwärtig auf die zukünftige Rechtslage einstellen muss und ein Verfahren vor einem nationalen Gericht anhängig ist, hat der EuGH bereits im Jahr 1994 in der Rechtssache SMW Winzersekt ein Vorabentscheidungsverfahren für zulässig befunden 149. 146 EuGH, Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequenos Agricultores/Rat, Slg. 2002, I - 6677, Rn. 41. 147 Zu einer derartigen Pflicht der Mitgliedstaaten schon, früher: Gundel, VerwArch 2001, 81 (105); Schilling, EuGRZ 2000, 3 (18); jetzt auch Cremer, Der gemeinschaftsrechtliche Grundsatz effektiven Rechtsschutzes vor mitgliedstaatlichen Gerichten, in: Grundrechtsschutz für Unternehmen im europäischen Binnenmarkt, im Erscheinen. 148 Cremer, Der gemeinschaftsrechtliche Grundsatz effektiven Rechtsschutzes vor mitgliedstaatlichen Gerichten, in: Grundrechtsschutz für Unternehmen im europäischen Binnenmarkt, im Erscheinen.

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E. Jüngste Entwicklungen zum Individualrechtsschutz

In einer aktuellen Rechtssache musste er sich nun zur Zulässigkeit eines Vorabentscheidungsverfahrens äußern, mit dem die Gültigkeit einer Richtlinie zur Überprüfung gestellt wurde, deren Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen war und die auch noch nicht in nationales Recht umgesetzt war. In der Rechtssache British American Tobacco hielten die französische Regierung und die Kommission es für unzulässig, zu diesem Zeitpunkt ein Vorabentscheidungsverfahren einzuleiten, da nur ein entsprechender Umsetzungsakt unmittelbar die Rechtsstellung Einzelner berühre, eine Richtlinie selbst könne allenfalls tatsächliche Nachteile hervorrufen, die nicht auf Gemeinschaftsrecht beruhten. Könnte ein Einzelner im Verfahren vor den nationalen Gerichten die Gültigkeit einer Richtlinie rügen, die noch nicht umgesetzt ist, würde dies zu einer Umgehung des Art. 230 Abs. 4 EG führen, der eine Nichtigkeitsklage gegen Richtlinien wegen der fehlenden Beeinträchtigung der Rechtsstellung Einzelner nicht zuließe150. Diesem Standpunkt haben sich Generalanwalt Geelhoed und der Gerichtshof zu Recht nicht angeschlossen. Die zulässige Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens setzt nur voraus, dass eine Frage nach der Auslegung oder Gültigkeit von Gemeinschaftsrecht gestellt wird, deren Beantwortung das mitgliedstaatliche Gericht, bei dem der Ausgangsrechtsstreit anhängig ist, zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält. Es besteht mithin eine Einschätzungsprärogative der nationalen Gerichte hinsichtlich der Nützlichkeit eines Vorabentscheidungsersuchens, zu dessen Beantwortung der EuGH dann auch gehalten ist. Einschränkend verlangt der EuGH lediglich, dass Vorlagefragen nicht offensichtlich unerheblich, also bloß hypothetischer Natur sein dürfen und dass ein Zusammenhang zwischen Vorlagefrage und dem Ausgangsrechtsstreit bestehen muss151. In der Rechtssache British American Tobacco lagen die notwendigen Voraussetzungen vor. Die Erforderlichkeit des Vorabentscheidungsverfahrens für den Ausgangsrechtsstreit konnte angenommen werden 152. Insoweit ist es unerheblich, ob der zur Überprüfung gestellte Gemeinschaftsrechtsakt unmittelbar anwendbar ist 153 . Auch wenn eine Richtlinie noch nicht um149 EUGH, Rs. C-306/93 - SMW Winzersekt GmbH/Land Rheinland-Pfalz, Slg. 1994,1 -5555, Rn. 12ff.,insb. Rn. 17. 150 Nachweis bei GA Geelhoed, Schlussanträge in der Rs. C-491 /Ol - The Queen/Secretary of State for Health, ex parte: British American Tobacco (Investments) Ltd u. Imperial Tobacco Ltd, Slg. 2002,1 - 11453,1 - 11461, Rn. 37. 151 EuGH, Rs. C-491/Ol - The Queen/Secretary of State for Health, ex parte: British American Tobacco (Investments) Ltd u. Imperial Tobacco Ltd, Slg. 2002,1 - 11453, Rn. 35. Kritisch wird hierzu angemerkt, dass der EuGH die Erforderlichkeit des Vorabentscheidungsverfahrens zwar nicht streng überprüft, aber doch ein gewisses Annahmeermessen bei der Zulässigkeitsprüfung von Vorabentscheidungsverfahren für sich in Anspruch nimmt, Barnard /Sharpston, CML REV. 1997,1113 (1119 ff.); Hess, RabelsZ 2002,470 (482 f.). 152 EuGH, Rs. C-491/Ol - The Queen/Secretary of State for Health, ex parte: British American Tobacco (Investments) Ltd u. Imperial Tobacco Ltd, Slg. 2002, I - 11453, Rn. 36-38.

ΙΠ. Dezentralisierung des Rechtsschutzes gegen Normativakte

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gesetzt ist und demnach keine belastenden rechtlichen Wirkungen für den Einzelnen entfaltet 154, ändert das nichts an ihrem Charakter als Maßnahme des Gemeinschaftsrechts. Ausgeschlossen wäre ein Verfahren nur, wenn es einen bloßen Entwurf eines Gemeinschaftsrechtsaktes zum Gegenstand hat 155 . Der Grund dafür ist, dass eine gerichtliche Überprüfung von Rechtsakten, welche die Gemeinschaftsorgane noch nicht verabschiedet haben, einen Übergriff in ihre Entscheidungszuständigkeit bedeuten würde 156 . Damit wurde auch das Argument abgelehnt, ein Vorabentscheidungsverfahren zur Klärung der Gültigkeit von Richtlinien, die noch keine Rechtswirkung zu Lasten des Einzelnen zeitigen, müsse unzulässig sein, um eine Umgehung der Regelung des Art. 230 Abs. 4 EG zu vermeiden. Schon die Prämisse, die Nichtigkeitsklage eines Einzelnen gegen Richtlinien scheitere nach der Rechtsprechung des EuG stets am Erfordernis der unmittelbaren Betroffenheit, ist nach dem Urteil in der Rechtssache Japan Tobacco, welches bereits drei Monate vor dem Urteil in der Rechtssache British American Tobacco erging, zweifelhaft. Selbst wenn man aber die Richtigkeit dieser Prämisse unterstellt, ergeben sich daraus keine Konsequenzen für das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG 1 5 7 . Es handelt sich um zwei - gerade im Hinblick auf die Beteiligung des betroffenen Bürgers - grundverschiedene Verfahren. Für eine Einschränkung im genannten Sinn lässt sich weder im Wortlaut des Art. 234 EG eine Stütze finden noch gibt es dafür einen nachvollziehbaren Grund. Zur Vollständigkeit des Rechtsschutzsystems des EG-Vertrages gehört es, dass gerade für die Fälle, in denen sich ein Betroffener nicht direkt im Wege der Nichtigkeitsklage gegen einen (Normativ-)Akt wehren kann, die Möglichkeit bestehen muss, inzident nach Art. 241 EG oder über das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG die belastende Maßnahme der Überprüfung durch den Gemeinschaftsrichter zuzuführen 158. Andernfalls droht ein „rechtliches !53 EuGH, Rs. C-491/01 - The Queen/Secretary of State for Health, ex parte: British American Tobacco (Investments) Ltd u. Imperial Tobacco Ltd, Slg. 2002,1 - 11453, Rn. 32. 154 Dazu unter C. I. 2. b) aa) (3). 155 GA Geelhoed, Schlussanträge in der Rs. C-491/01 - The Queen/Secretary of State for Health, ex parte: British American Tobacco (Investments) Ltd u. Imperial Tobacco Ltd, Slg. 2002, I - 11453, I - 11461, Rn. 42; Cremer, Der gemeinschaftsrechtliche Grundsatz effektiven Rechtsschutzes vor mitgliedstaatlichen Gerichten, in: Grundrechtsschutz für Unternehmen im europäischen Binnenmarkt, im Erscheinen. 156 Unter anderem aus diesem Grund lehnt Allkemper die Einführung einer vorbeugenden Nichtigkeitsklage ab: Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, S. 83 ff. 157 Cremer, Der gemeinschaftsrechtliche Grundsatz effektiven Rechtsschutzes vor mitgliedstaatlichen Gerichten, in: Grundrechtsschutz für Unternehmen im europäischen Binnenmarkt, im Erscheinen. 158 EuGH, Rs. C-491/01 - The Queen/Secretary of State for Health, ex parte: British American Tobacco (Investments) Ltd u. Imperial Tobacco Ltd, Slg. 2002,1 - 11453, Rn. 39; GA Geelhoed, Schlussanträge in der Rs. C-491 /Ol - The Queen/Secretary of State for Health, ex parte: British American Tobacco (Investments) Ltd u. Imperial Tobacco Ltd, Slg. 2002,1 - 11453,1 - 11461, Rn. 51.

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E. Jüngste Entwicklungen zum Individualrechtsschutz

Vakuum"159. Das Vorabentscheidungsverfahren hat insoweit für den Individualrechtsschutz Ergänzungsfunktion, von einer Umgehung der Regelung des Art. 230 Abs. 4 EG kann keine Rede sein. Die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens zu einem frühen Zeitpunkt kann sogar zwingend erforderlich sein: Besteht nach Verabschiedung eines Gemeinschaftsrechtsaktes ein Übergangszeitraum bis dieser rechtliche Belastungen erzeugt und muss sich der Betroffene bereits gegenwärtig auf die zukünftige Rechtslage einstellen, ist der Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz nur dann hinreichend beachtet, wenn ad hoc Rechtsschutz zur Verfügung gestellt wird 160 . Die nationalen Gerichte sind aber nur dann berechtigt, einen Gemeinschaftsrechtsakt vorläufig auszusetzen, wenn sie zugleich ein Vorabentscheidungsverfahren einleiten. 3. Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch mitgliedstaatliche Gerichte Der Zeitpunkt der Rechtsschutzgewährung ist des Weiteren für den vorläufigen Rechtsschutz von Bedeutung. Bekanntlich hat der Gerichtshof gebilligt, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte vorläufigen Rechtsschutz gewähren dürfen, wenn sie erheblichen Zweifel an der Gültigkeit eines Gemeinschaftsrechtsakts haben, eine entsprechende Vorlagefrage an den EuGHrichtenund wenn eine solche Entscheidung zur Vermeidung schwerer und nicht wiedergutzumachender Schäden dringlich ist und schließlich das Gemeinschaftsinteresse angemessen berücksichtigt wird 161 . Aus dem Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz kann zudem eine Verpflichtung der mitgliedstaatlichen Gerichte folgen, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren. Kann der Einzelne Nichtigkeitsklage gegen eine Handlung der Gemeinschaftsorgane erheben, sieht der EG-Vertrag in Art. 242 S. 2 EG die Möglichkeit vor, den angefochtenen Akt auszusetzen. Gegen Normativakte ist für den Betroffenen hingegen nur der dezentrale Rechtsweg zu den mitgliedstaatlichen Gerichten eröffnet, so dass zwangsläufig auf dieser Ebene, also von den mitgliedstaatlichen 159

GA Geelhoed, a. a. Ο., Rn. 51. Daneben argumentiert er mit der Rechtssicherheit und der Schadensbegrenzung bzw. Schadensvorbeugung, GA Geelhoed, a. a. O., Rn. 52 f. bzw. 54 ff. 160 Cremer, Der gemeinschaftsrechtliche Grundsatz effektiven Rechtsschutzes vor mitgliedstaatlichen Gerichten, in: Grundrechtsschutz für Unternehmen im europäischen Binnenmarkt, im Erscheinen. 161 EuGH, Verb. Rs. C-143/88 u. C-92/89 - Zuckerfabrik Süderdithmarschen AG/ Hauptzollamt Itzehoe u. Zuckerfabrik Soest GmbH/Hauptzollamt Paderborn, Slg. 1991,1 415, Rn. 20 ff., 33. Das nationale Gericht kann sowohl die Vollziehung aussetzen als auch einstweilige Anordnungen treffen. Zu Letzterem: EuGH, Rs. C-465/93 - Atlanta Fruchthandelsgesellschaft mbH u. a. (I)/Bundesamt für Ernährung und Forstwirtschaft, Slg. 1995,1 3761, Rn. 31 ff., 51.

IV. Verbleibende Rechtsschutzlücken?

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Gerichten, vorläufiger Rechtsschutz gewährt werden muss, wenn dafür ein Rechtsschutzbedürfnis besteht. Dieses Rechtsschutzbedürfhis liegt vor, wenn bei einem weiteren Zuwarten schwere und irreversible Schäden drohen. Cremer hat zutreffend darauf hingewiesen, dass in diesem Zusammenhang die vom EuGH aufgestellten Voraussetzungen für die Befugnis nationaler Gerichte, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, im Hinblick auf die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes interpretiert werden müssen. Zum einen dürfen an die Erheblichkeit der Zweifel, die das nationale Gericht an der Gültigkeit des Gemeinschaftsrechtsaktes hegt, keine zu hohen Anforderungen gestellt werden, wenn Schäden der genannten Art drohen und das Gemeinschaftsinteresse nicht wesentlich beeinträchtigt wird 162 . Zum anderen ist die angemessene Berücksichtigung des Gemeinschaftsinteresses, für die der EuGH fordert, dass die Gemeinschaftsrechtsmaßnahme dadurch, dass sie vorläufig unangewendet bleibt, nicht jede praktische Wirksamkeit verlieren darf, mit dem Anspruch des Einzelnen auf effektiven Rechtsschutz abzuwägen. Kann schweren und insbesondere irreparablen Schäden nur durch die vorläufige Aussetzung von Gemeinschaftsrecht begegnet werden, so hat diese zumindest bei erheblichen Zweifeln des mitgliedstaatlichen Gerichts an der Gültigkeit der Maßnahme zu erfolgen, auch wenn dadurch ausnahmsweise dem Gemeinschaftsrechtsakt jede praktische Wirksamkeit genommen wird, etwa weil er nur für einen begrenzten Zeitraum gilt und im Zeitpunkt der Entscheidung des EuGH (im Vorabentscheidungsverfahren) keine Rechtswirkungen mehr zeitlgt

IV. Verbleibende Rechtsschutzlücken? Der Rechtsschutz des Einzelnen gegen Normen ist nach Ansicht der Rechtsprechung im Grundsatz, nach hier vertretener Auffassung ausnahmslos dezentralisiert. Cremer gelangt ebenfalls zu der Ansicht, dass Art. 230 Abs. 4 EG eine Direktklage gegen Normen nicht erlaubt. Eine Ausnahme will er nur insoweit zulassen, als im konkreten Fall ohne das Direktklagerecht schwere und irreparable Schäden drohen. Dann müsse Art. 230 Abs. 4 EG zugunsten des ebenfalls im Rang von Primärrecht stehenden Grundrechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz zurücktreten. Dies gebiete die Einheit der Gemeinschaftsverfassung 164.

162 Cremer, Der gemeinschaftsrechtliche Grundsatz effektiven Rechtsschutzes vor mitgliedstaatlichen Gerichten, in: Grundrechtsschutz für Unternehmen im europäischen Binnenmarkt, im Erscheinen. 163 Cremer, Der gemeinschaftsrechtliche Grundsatz effektiven Rechtsschutzes vor mitgliedstaatlichen Gerichten, in: Grundrechtsschutz für Unternehmen im europäischen Binnenmarkt, im Erscheinen. 164 Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 Rn. 36., vgl. hierzu schon unter C. II. 2. c) bb) (2) (d).

13 Schulte

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E. Jüngste Entwicklungen zum Individualrechtsschutz

Um den gemeinschaftsrechtlichen Anspruch des Einzelnen auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz sicherzustellen, müssen die Mitgliedstaaten zunächst die bestehenden nationalen Rechtsbehelfe gemeinschaftsrechtskonform interpretieren, darüber hinaus sind sie verpflichtet, in ihren Rechtsordnungen neue Rechtsbehelfe zu schaffen, damit der Einzelne nicht rechtsschutzlos gestellt wird. Auch die Rechtzeitigkeit des Rechtsschutzes muss gewährleistet sein. Rechtsschutzlücken scheiden damit grundsätzlich aus. Die als problematisch dargestellten Rechtsschutzkonstellationen - self-executing Normen, Vorwirkungen von Normen, Rechtsschutz „staatlicher Stellen" gegen unmittelbar belastende Richtlinien165 - können zufrieden stellend gelöst werden. Auf Cremers Auffassung zur Begründung der Anfechtbarkeit von Normen kommt es demnach nicht an. An einen Fall könnte in diesem Zusammenhang dennoch gedacht werden, in dem zwar Rechtsbehelfe gegeben sind, aber gleichwohl Zweifel an der Effektivität des Rechtsschutzes bestehen. Gemeint sind die Fälle, in denen der Kläger vor den mitgliedstaatlichen Gerichten vorläufigen Rechtsschutz begehrt, seine durch die streitige Norm beeinträchtigte Tätigkeit sich aber über die Gebiete mehrerer Mitgliedstaaten erstreckt 166. Jedes mitgliedstaatliche Gericht kann Rechtsschutz nur für das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaates gewähren. Ist der Kläger auf eine einheitliche Entscheidung über den vorläufigen Rechtsschutz angewiesen, kann hieraus noch keine Rechtsschutzlücke entnommen werden. Dass eventuell einige mitgliedstaatliche Gerichte die Voraussetzungen des vorläufigen Rechtsschutzes verkennen, kann zwar eine Fehlentscheidung darstellen 167, Fehlentscheidungen der Justiz sind jedoch jedem Rechtsschutzsystem immanent, sie könnten in gleicher Weise auch den Gemeinschaftsgerichten unterlaufen. Eine Verletzung des Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz könnte aber darin gesehen werden, dass der Betroffene, um sich gegen ein und dieselbe Maßnahme zu wehren, diverse Klagen vor den Gerichten jeden Mitgliedstaats anstrengen muss. De lege lata wird man wohl sagen müssen, dass keine schweren und irreparablen Schäden bei Versagung des Direktklagerechts drohen, die eine Überlagerung des Art. 230 Abs. 4 EG rechtfertigen würden. Es wird „lediglich" ein nicht unerheblicher Aufwand von dem Kläger verlangt, der Rechtsschutz sucht. De lege ferenda bietet es sich an, dem Kläger ein solches Vorgehen nicht zuzumuten.

165 Vgl. D. 166 Vgl. hierzu D. II. 2. 167 Aus dem Gemeinschaftsgrundrecht auf effektiven Rechtsschutz kann eine Verpflichtung zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes folgen, wenn anderenfalls irreparable Schäden drohen, vgl. Ε. ΙΠ. 3.

F. Ausblick: Möglichkeiten der Gestaltung des Rechtsschutzes gegenüber normativen Rechtsakten de lege ferenda Die Diskussion um mögliche Verbesserungen des Individualrechtsschutzes gegen Rechtsnormen der Gemeinschaft wendet sich auch einer Änderung des Rechtsschutzes de lege ferenda zu. Die Schaffung einer Grundrechtsbeschwerde und eine Erweiterung der Nichtigkeitsklage stehen dabei im Zentrum.

I. Forderungen nach einer Grundrechtsbeschwerde Die Schaffung einer Grundrechtsbeschwerde ist schon vor einigen Jahren gefordert worden1. Im Hinblick auf die Proklamierung der Grundrechtscharta durch die Regierungskonferenz von Nizza im Dezember 2000 ist ihr dann vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt worden2. Zwar ist die Grundrechtscharta noch nicht im engeren Sinne rechtsverbindlich, doch hat das EuG in seinem Urteil in der Rechtssache max.mobil erklärt, dass es die Grundrechtscharta als deklaratorische Auslegungshilfe bei der Ermitdung allgemeiner Rechts- und Verfassungsgrundsätze heranziehen wird 3. Die materiell-rechtliche Grundrechtsgewährleistung steht in einem engen Zusammenhang mit der verfahrensmäßigen Durchsetzbarkeit4. An diesem Punkt setzt die Diskussion um die Schaffung einer Grundrechtsbeschwerde an. Ferner wurde auf dem Europäischen Konvent über die Einführung einer Grundrechtsbeschwerde beraten. Sowohl der Arbeitskreis zur Arbeitsweise des Gerichtshofs als auch das Präsidium haben entsprechende Vorschläge nicht aufgegriffen, und im Verfassungsentwurf ist eine Grundrechtsbeschwerde nicht vorgesehen5. 1

Tindemanns-Bericht, Beilage 1/76 zum Bulletin der EG, S. 29; Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10. 02. 1994, BR-Drucks. 182/94; Allkemper, Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, S. 195 ff.; Rengeling, Brauchen wir die Verfassungsbeschwerde auf Gemeinschaftsebene?, in: FS für Everling, S. 1187, (1200 ff.). 2 Tappen, DRiZ 2000, 204 (207); Tettinger, NJW 2001, 1010 (1015); Calliess, EuZW 2001, 261 (268); Schwarze, DVB1. 2002, 1297 (1312 ff.); Pernice, DVB1. 2000, 847 (858); Philippi, ZeuS 2000,97 (126). 3 EuG, Rs. T-54/99 - max.mobil Telekommunikation Service GmbH/Kommission, Slg. 2002, Π - 313, Rn. 48. Mit dieser Einschätzung des Urteils: Schwarze, DVB1. 2002, 1297 (1312). 4 Tettingen NJW 2001, 1010 (1015); Pernice, DVB1. 2000, 847 (858); Calliess, EuZW 2001, 261 (268); Schwarze, DVB1. 2002, 1297 (1312). 13*

196

F. Ausblick: Gestaltung des Rechtsschutzes de lege ferenda

1. Anwendungsbereich und Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Grundrechtsbeschwerde Vorschläge zur konkreten Ausgestaltung einer Grundrechtsbeschwerde auf Gemeinschaftsebene sind seltener formuliert worden und finden sich etwa bei Allkemper 6, Reich 7 und Schwarze 8. Im Wesentlichen werden die Grundzüge der Grundrechtsbeschwerde in Anlehnung an die deutsche Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG und die Individualbeschwerde der Europäischen Menschenrechtskonvention gemäß Art. 34 EMRK entwickelt.

a) Zuständigkeit

des EuGH

Sollte eine Grundrechtsbeschwerde geschaffen werden, wird zunächst gefordert, die Zuständigkeit für dieses Verfahren dem EuGH zu übertragen9. Der Grund dafür liegt in der Differenzierung zwischen verwaltungsrechtlichen und verfassungsrechtlichen Streitigkeiten und damit korrespondierend zwischen Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Zuständigkeit des EuG wird der Verwaltungsgerichtsbarkeit zugerechnet, insbesondere die von Individualklägern gemäß Art. 230 Abs. 4 EG erhobene Nichtigkeitsklage wird hierzu gezählt10. Zur Klärung genuin verfassungsrechtlicher Fragen soll der Gerichtshof als „Gemeinschafts Verfassungsgericht" berufen sein11. Er hat in dieser Funktion über die Wahrung und Auslegung der Gemeinschaftsverträge als Verfassung der Gemeinschaft zu entscheiden. Dies geschieht in verfahrensrechtlicher Hinsicht durch das Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 226, 227 EG und das Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 234 EG, die Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 Abs. 2, 3 EG und die Untätigkeitsklage gemäß Art. 232 EG 1 2 . Wird die Grundrechtscharta als Teil des Primärrechts kodifiziert, partizipiert sie an dessen verfassungsrechtlicher Natur. Aber auch schon bevor die Grundrechts5

Schlussbericht des Arbeitskreises zur Arbeitsweise des Gerichtshofs, CONV 636/03; Präsidium, Artikel über den Gerichtshof und das Gericht, CONV 734/03. 6 Allkemper, Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, S. 195 ff. 7 Reich, ZRP 2000, 375 ff. » Schwarze, DVB1. 2002,1297 (1314). 9 Etwa Pernice, DVB1. 2000, 847 (858); Calliess, EuZW 2001, 261 (268); wohl auch Tappen, DRiZ 2000,204 (207); Schwarze, DVB1. 2002,1297 (1314). 10 Reich, ZRP 2000, 375 (377). u Weber, NJW 2000, 537 (544). ι2 Wägenbaur, Zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: FS für Baur, S. 667, (669/670); Schwarze, Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz, S. 11 (15, 19 f.); Reich, ZRP 2000, 375 (377).

I. Forderungen nach einer Grundrechtsbeschwerde

197

charta proklamiert wurde, hat der EuGH unter Bezugnahme auf die gemeinsamen Verfassungstraditionen und die E M R K einen gemeinschaftlichen Grundrechtsstandard entwickelt. Diese Grundrechte stehen im Rang von Primärrecht, da sie gemäß Art. 6 Abs. 2 E U allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts sind 13 . Verfahren zur Wahrung der Grundrechte haben mithin verfassungsrechtlichen Charakter, so dass der EuGH bei der Entscheidung über Grundrechtsbeschwerden als Verfassungsgericht tätig wäre.

b) Angreifbarer

Akt

Hinsichtlich des Aktes, der Gegenstand einer Grundrechtsbeschwerde sein kann, werden unterschiedliche Akzente gesetzt und verschiedene Fallkonstellationen gesehen, in denen die Grundrechtsbeschwerde relevant werden könnte. Zum einem wird bei der Diskussion um eine mögliche Grundrechtsbeschwerde besonderes Gewicht auf die für diese Arbeit relevante Frage nach dem Rechtsschutz gegen gemeinschaftliche Normativakte gelegt 14 . Da es dem Einzelnen grundsätzlich verwehrt ist, Nichtigkeitsklage gegen Handlungen allgemeiner Geltung zu erheben, könnte statt dessen die Grundrechtsbeschwerde Platz greifen. Zum anderen wird auf die Situationen verwiesen, in denen nationale Gerichte von der Einleitung des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 E G absehen, obwohl eigentlich eine Vorlagepflicht bestand 15 . Gegen Normen ist grundsätzlich 13

Koenig/Haratsch, Europarecht, Rn. 90. Insbesondere: Rengeling, Brauchen wir die Verfassungsbeschwerde auf Gemeinschaftsebene? , in: FS für Everling, S. 1187, (1200 ff.). 15 Calliess, EuZW 2001, 261 (267/268); Reich, ZRP 2000, 375 (378). In dieser Situation findet sich letztlich auch ein weiterer, von Allkemper geschilderter Anwendungsfall für die Grundrechtsbeschwerde wieder, Allkemper, Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EGVertrag, S. 210 f. In diesem handelt eine nationale Stelle gestützt auf einen rechtswidrigen Akt der Gemeinschaft, der seinerseits nicht mit Rechtsmitteln des Gemeinschaftsrechts angreifbar ist. Nach Allkemper soll dem Betroffenen hier die Grundrechtsbeschwerde zur Seite stehen, doch ergibt sich daraus keine eigenständige Fallgruppe. Denn Allkemper übersieht, dass der Betroffene sich in der Praxis gegen die Handlung der nationalen Stelle vor dem zuständigen mitgliedstaatlichen Gericht wehren und die Rechtswidrigkeit der zugrunde liegenden Gemeinschaftsrechtsmaßnahme inzident rügen kann. Bei Zweifeln an der Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme ist bekanntlich eine Vorabentscheidung einzuholen. Unterbleibt dies, befindet man sich wieder in der hier beschriebenen Fallgruppe der Grundrechtsbeschwerde wegen Nichtvorlage. Zudem steht diese Fallgruppe inhaltlich der seit einiger Zeit erhobenen Forderung nah, den Rechtsschutz des Einzelnen im Vorabentscheidungsverfahren durch Rechtsmittel zum EuGH gegen die Ablehnung des Vorlageantrags bzw. durch eine Nichtvorlagebeschwerde an den EuGH zu verbessern. Ein Unterschied besteht nur im Hinblick auf die Beschwerdebefugnis. Mit einer Grundrechtsbeschwerde könnte allein die Verletzung von Gemeinschaftsgrundrechten durch die unterlassene Vorlage gerügt werden. Bei der Nichtvorlagebeschwerde bzw. bei dem Rechtsmittel zum EuGH gegen die Ablehnung des Vorlageantrags könnte die Beeinträchtigung jeglicher geschützter Rechts- oder Interessenposition die Beschwerdebefugnis 14

198

F. Ausblick: Gestaltung des Rechtsschutzes de lege ferenda

der dezentrale Rechtsweg zu beschreiten, so dass auch die Situation der unterbliebenen Vorlage häufig den Individualrechtsschutz gegen Normativakte betrifft. Für die Zulässigkeit einer Grundrechtsbeschwerde gegen unterbliebene Vorlagen nach Art. 234 EG wird teilweise weiter differenziert zwischen Fragen zur Auslegung von Gemeinschaftsrecht und Fragen hinsichtlich der Gültigkeit von Sekundärrechtsakten. Schwarze lehnt eine Grundrechtsbeschwerde ab, mit der die Nichtvorlage eines letztinstanzlichen Gerichts zu einer Auslegungsfrage gerügt werden könnte. Auf diese Weise soll eine Hierarchisierung der nationalen und europäischen Gerichtsstruktur und eine daraus folgende Verschlechterung des Kooperationsverhältnisses zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit vermieden werden. Eine Hierarchisierung der Gerichtsbarkeiten würde seiner Ansicht nach daraus folgen, dass der EuGH aufgrund der Grundrechtsbeschwerde die Rechtsauffassung des nationalen Gerichts hinsichtlich der Auslegungsfrage prüfen müsste16. Betrifft die Grundrechtsbeschwerde dagegen eine unterbliebene Vorlage zur Gültigkeit eines Sekundärrechtsakts, sei gegen ihre Zulässigkeit nichts einzuwenden, da dem EuGH ohnehin ein Verwerfungsmonopol zukomme und die nationalen Gerichte keine Entscheidungsbefugnis besäßen. Die Grundrechtsbeschwerde wende sich in diesen Fällen letztlich nicht gegen die Entscheidung des nationalen Gerichts, sondern vielmehr gegen den Gemeinschaftsrechtsakt, dessen Gültigkeit bestritten wird 17 . Die Frage, ob der Rechtsbehelf der Grundrechtsbeschwerde gegen unterbliebene Vorlagen mitgliedstaatlicher Gerichte zur Verfügung stehen sollte, betrifft als Beschwerdegegenstand im Wesentlichen Gemeinschaftsrecht, hat aber andererseits auch Berührungspunkte zu einem Unterlassen nationaler Stellen. Inwieweit überhaupt neben Rechtsakten der Gemeinschaft auch Handlungen der Mitgliedstaaten als Beschwerdegegenstand einer Grundrechtsbeschwerde akzeptabel sind, ist nicht unproblematisch. Während teilweise eine Grundrechtsbeschwerde gegen mitgliedstaatliche Akte kategorisch abgelehnt wird - selbst wenn diese in Vollzug von Gemeinschaftsrecht handeln - 1 8 , wird indes auch vertreten, mitgliedstaatliches Handeln insoweit zum Gegenstand einer Grundrechtsbeschwerde zu machen, als der Inhalt dieses Handelns bereits durch das Gemeinschaftsrecht determiniert, also zwingend vorgegeben ist 19 . In dieser Hinsicht noch weiter gehend will Weber den möglichen Anwendungsbereich einer Grundrechtsbeschwerde allein auf die Fälle beziehen, in de-

vermitteln. Vgl. hierzu ausführlich: Allkemper, Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EGVertrag, S. 208 ff. Schwarze, DVB1. 2002 1297 (1314). π Schwarze, DVB1. 2002 1297 (1314). 18 Reich, ZRP 2000, 375 (377). 19 Pernice, DVB1. 2000, 847 (858); Tappeti, DRiZ 2000, 204 (207).

I. Forderungen nach einer Grundrechtsbeschwerde

199

nen nationale Behörden grundrechtskonformes Gemeinschaftsrecht fehlerhaft anwenden20. c) Beschwerdebefugnis Die Klageberechtigung zur Erhebung einer Grundrechtsbeschwerde wird unter Berücksichtigung der speziellen Funktion dieses Verfahrens zur Verteidigung und zum Schutz der Grundrechte bestimmt. Allkemper orientiert sich an § 90 Abs. 1 BVerfGG und fordert, dass der Kläger geltend machen muss, in einem seiner durch das Gemeinschaftsrecht gewährleisteten Grundrechte verletzt zu sein. Die Behauptung der Grundrechtsverletzung dürfe auf der einen Seite weder vollkommen abwegig sein, noch seien auf der anderen Seite überzogene Anforderungen zu stellen, damit die materielle Prüfung der Grundrechtsverletzung, die im Rahmen der Begründetheit stattfinden solle, nicht vorweggenommen werde 21. Diese Umschreibung entspricht der Beschwerdebefugnis im deutschen Verfassungsprozessrecht, nach welcher erforderlich ist, dass die geltend gemachte Grundrechtsverletzung möglich erscheinen muss22. Obwohl er ausdrücklich auf § 90 Abs. 1 Β VerfGG verweist, geht Allkemper auf die Konkretisierung durch die Rechtsprechung des BVerfG, dass der Beschwerdeführer einer Verfassungsbeschwerde selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sein muss, nicht ein. Reich hingegen äußert sich zur Beschwerdebefugnis unter Berücksichtigung der Klageberechtigung nach Art. 230 Abs. 4 EG, wenn er ein unmittelbares, aber kein individuelles Betroffensein für erforderlich hält. Er verweist auf die Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit zum unmittelbaren Betroffensein 23. Dass der Kläger selbst bzw. in eigenen Grundrechten betroffen sein muss, spricht Reich nicht ausdrücklich an. Es ist aber wohl in das Betroffensein hineinzulesen, da nur dies dem Wesen der Grundrechtsbeschwerde mit ihrer individualschützenden Funktion entspricht24. Wie Allkemper nimmt auch Schwarze explizit Bezug auf die deutsche Verfassungsbeschwerde. Er verlangt, dass der Kläger selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sein müsse25. Aus der Anlehnung an das deutsche Verfassungsprozessrecht folgt wohl, dass die Rechtsprechung des BVerfG zu den Einzelheiten der Beschwerdebefugnis übertragbar sein soll. 20 Weber, NJW 2000,537 (544). 21 Allkemper, Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, S. 202. 22 Statt aller: Schiaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 208. 23 Reich, ZRP 2000, 375 (378) unter Einbeziehung unmittelbar anwendbarer Richtlinien . 24 Reich führt aus, dass Popularklagen am Erfordernis der „unmittelbaren" Betroffenheit scheitern sollen, Reich, ZRP 2000, 375 (378). 25 Schwarze, DVB1. 2002,1297 (1314).

200

F. Ausblick: Gestaltung des Rechtsschutzes de lege ferenda

d) Subsidiarität

der Grundrechtsbeschwerde

Schließlich wird einstimmig zum Teil in Anlehnung an § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG 26, zum Teil unter Berufung auf Art. 35 EMRK 2 7 gefordert, dass die Grundrechtsbeschwerde nur dann Platz greifen soll, wenn ein anderer Weg zur Gemeinschaftsgerichtsbarkeit nicht existiert bzw. anderweitige Rechtsschutzmöglichkeiten vorher ausgeschöpft worden sind28. Zum einen sei eine Grundrechtsbeschwerde bei Eingreifen anderer Verfahren vor den Gemeinschaftsgerichten nicht erforderlich, da in jedem dieser Verfahren die Grundrechtskonformität der streitigen Rechtsakte geprüft wird. Zum anderen würde die Möglichkeit, in diesen Fällen Grundrechtsbeschwerde zu erheben, zu einer unnötigen Verdopplung von Rechtswegen führen 29. Zunächst wird dadurch das Verhältnis von Grundrechtsbeschwerde und Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 Abs. 4 EG erfasst. Der Betroffene ist gehalten, Rechtsschutz im Wege der Nichtigkeitsklage zu suchen, sofern diese zulässig ist, also der Kläger unmittelbar und individuell betroffen ist und ein tauglicher Klagegegenstand vorliegt. Auch wenn die Nichtigkeitsklage zum EuG Vorrang besitzt, entscheidet doch abschließend der EuGH über mögliche Grundrechtsverletzungen, da er gemäß Art. 225 Abs. 1 S. 3 EG, Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs Rechtsmittelinstanz im Verfahren der Nichtigkeitsklage ist. Die Subsidiarität der Grundrechtsbeschwerde verlangt nach überwiegender Ansicht ferner, dass auch ein bestehender innerstaatlicher Rechtsweg (dies wird insbesondere bei Normativakten häufig der Fall sein) ausgeschöpft wird 30 . In dem nationalen Verfahren kann eine Vorabentscheidung eingeholt werden, so dass auf diesem Weg der EuGH über mögliche Grundrechtsverletzungen entscheidet.

2. Gestaltung des Verfahrens Um einer übermäßigen Arbeitsbelastung des Gerichtshofs durch eine hohe Anzahl zum Teil auch offensichtlich unzulässiger oder unbegründeter Grundrechtsbeschwerden entgegenzuwirken, wird die Einführung eines Annahmeverfahrens für die Grundrechtsbeschwerde befürwortet 31. Über die Annahme soll der EuGH durch Beschluss entscheiden, wobei eine Entscheidung in Vollsitzung nicht als er26 Allkemper, Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, S. 203. 27 Reich, ZRP 2000, 375 (378). 28 Ebenso: Tappen, DRiZ 2000, 204 (207); Weber, DVB1. 2002, 1297 (1314). 29 Schwarze, DVB1. 2002, 1297 (1314). 30 Reich, ZRP 2000, 375 (378). 31 Schwarze, DVB1. 2002, 1297 (1314).

NJW 2000, 537 (544); Schwarze,

I. Forderungen nach einer Grundrechtsbeschwerde

201

forderlich angesehen wird, sondern es soll ein verkleinertes richterlich besetztes Gremium genügen32. Zudem soll dem EuGH die Möglichkeit an die Hand gegeben werden, die Streitigkeit an das EuG zu verweisen, wenn die Voraussetzungen der Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 Abs. 4 EG vorliegen33.

3. Systematische Stellung Hinsichtlich der systematischen Stellung einer zukünftigen Grundrechtsbeschwerde schlägt Reich vor, Art. 230 EG um einen sechsten Absatz mit folgendem Wortlaut zu ergänzen: „Behauptet eine natürliche oder juristische Person einen Verstoß eines Gemeinschaftsrechtsakts gegen Art. 6 EU oder gegen sonstige in den Verträgen zu Gunsten dieser Person gewährte Rechte durch Handlungen eines Organs der Gemeinschaft, so kann sie gegen diesen Akt Beschwerde beim EuGH (Europäische Grundrechtsbeschwerde) einlegen, sofern sie hiervon unmittelbar betroffen ist und andere Verfahren zur Abhilfe nicht oder nicht mehr zur Verfügung stehen34." Allkemper regt dagegen an, einen eigenständigen Artikel für die Grundrechtsbeschwerde einzuführen. Aufgrund der verfassungsrechtlichen Natur der Grundrechtsbeschwerde, wählt er als Standort einen Platz zwischen den verfassungsrechtlich geprägten Normen der Art. 226 bis 229 EG und der eher verwaltungsrechtlichen Individualnichtigkeitsklage nach Art. 230 Abs. 4 EG 3 5 .

4. Stellungnahme Im Folgenden sollen die Vorschläge zur Ausgestaltung einer möglichen Grundrechtsbeschwerde bewertet werden.

32

Allkempen Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, S. 204/205. 33 Reich, ZRP 2000, 375 (378). 34 Reich, ZRP 2000, 375 (378). Reich hat diesen Ansatz vor der Proklamierung der Grundrechtscharta entwickelt, so dass er auf sie nicht Bezug nehmen konnte. 35 Allkemper, Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, S. 201. Den Ausführungen Allkempers lag noch der EG-Vertrag in der Maastrichter Fassung zugrunde, so dass er von einem neuen Art. 172 a EGV spricht. Auch er konnte noch nicht auf die Grundrechtscharta Bezug nehmen.

202

F. Ausblick: Gestaltung des Rechtsschutzes de lege ferenda

a) Zu dem Anwendungsbereich und den Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Grundrechtsbeschwerde aa) Zuständigkeit und Beschwerdebefugnis Wenn gefordert wird, die ausschließliche Zuständigkeit für Grundrechtsbeschwerden dem EuGH zu übertragen, dessen Rolle als Verfassungsgericht damit weiter gestärkt wird, ist dem beizupflichten. Zudem bietet es sich an, die Beschwerdebefugnis in Anlehnung an die Regelungen der Individualbeschwerde gemäß Art. 35 EMRK bzw. die ähnlichen Voraussetzungen der Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG zu bestimmen. Selbstverständlich folgt aus dem individualschützenden Charakter der Grundrechte keine actio popularis, sondern es ist eine (mögliche) Betroffenheit in eigenen Grundrechten notwendig. Die Merkmale der gegenwärtigen und unmittelbaren Betroffenheit haben sich ebenfalls bewährt.

bb) Angreifbarer Akt und Subsidiarität Komplizierter gestaltet es sich, die zulässigen Beschwerdegegenstände und damit den Anwendungsbereich der Grundrechtsbeschwerde festzulegen. Insbesondere kann dies nicht geschehen, ohne das Verhältnis einer zukünftigen Grundrechtsbeschwerde zu den bereits bestehenden Rechtsbehelfen zu bestimmen. Hierzu wird das Kriterium der Subsidiarität herangezogen. Als Erstes und für diese Arbeit von besonderem Gewicht wird die Fallgruppe der Grundrechtsbeschwerde gegen Normativakte der Gemeinschaft genannt. Aufgrund der Subsidiarität der Grundrechtsbeschwerde stellt sich dem Betroffenen die Frage, ob er gegen den ihn beschwerenden Normativakt anderweitig Rechtsschutz erlangen könnte. Zum einen kommt die Nichtigkeitsklage in Betracht, wenn er nach der Plaumann-Formel der Rechtsprechung individuell und darüber hinaus unmittelbar betroffen ist. Schwarze hat zutreffend darauf hingewiesen, dass es bei Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage der Grundrechtsbeschwerde nicht bedarf, da mögliche Grundrechtsverletzungen auch im Rahmen der Nichtigkeitsklage geprüft werden und dem EuGH als Rechtsmittelinstanz die abschließende Entscheidungskompetenz zukommt36. Wegen der komplexen Rechtsprechung zum Merkmal der individuellen Betroffenheit ist es jedoch äußerst schwer vorhersehbar, ob das EuG die Klage für zulässig befinden wird 37 . 36 Schwarze, DVB1. 2002,1297 (1314). 37 Insofern könnte eine Verweisungsmöglichkeit an das EuG vorgesehen werden, für den Fall, dass die Nichtigkeitsklage zulässig ist, vgl. dazu die Stellungnahme zur Gestaltung des Verfahrens der Grundrechtsbeschwerde. Bei zukünftiger Geltung des Art. ΠΙ-270 Abs. 4 des

I. Forderungen nach einer Grundrechtsbeschwerde

203

Zum anderen ist das Verhältnis der Grundrechtsbeschwerde zum Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 234 EG beim Rechtsschutz gegen Normativakte problematisch. Nach der aktuellen Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache UPA ist es zur Vermeidung von Rechtsschutzlücken erforderlich, dass die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen stets einen Rechtsbehelf zur Verfügung stellen, mit dem der Einzelne sich gegen Belastungen wehren kann, wenn eine Nichtigkeitsklage nicht zulässig ist 38 . Bleibt es bei dieser Verpflichtung, ist für den Betroffenen in jedem Fall ein Rechtsweg eröffnet und die Grundrechtsbeschwerde subsidiär. Der Beschwerdeführer ist gehalten, diesen Rechtsweg zu erschöpfen. Die mitgliedstaatlichen Gerichte müssen, wenn sie Zweifel an der Gültigkeit der dem Rechtsstreit zugrunde liegenden Norm haben und diese daher unangewendet lassen wollen, ein Vorabentscheidungsverfahren einleiten. Eine Grundrechtsbeschwerde ist dann entbehrlich, da der EuGH im Verfahren der Vorabentscheidung über die Grundrechtskonformität der Norm entscheidet39. Das Verhältnis von Vorabentscheidungsverfahren und Grundrechtsbeschwerde könnte bei Einführung letzterer aber auch anders aussehen. Existiert eine Grundrechtsbeschwerde, so besteht die nach aktueller Rechtslage von der Rechtsprechung attestierte Notwendigkeit nicht, dass die nationalen Rechtsordnungen stets Rechtsbehelfe zum Schutz des Einzelnen zur Verfügung stellen, um Rechtsschutzlücken zu schließen. Denn ist die Nichtigkeitsklage unzulässig, könnte der Betroffene Grundrechtsbeschwerde erheben. Eine Rechtsschutzlücke droht nicht, so dass die Mitgliedstaaten nicht durch die Bereitstellung von Rechtsbehelfen einspringen müssten. Dann ist jedoch problematisch, dass die Grundrechtsbeschwerde nicht für alle Bürger unter den gleichen Bedingungen zur Verfügung steht. Ohne die gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung für die Mitgliedstaaten, in jedem Fall eine Klagemöglichkeit bereitzuhalten, können die Klagemöglichkeiten in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich ausfallen mit der Folge, dass manche Bürger nach dem Subsidiaritätsgrundsatz erst den innerstaatlichen Rechtsweg ausschöpfen müssen, andere hingegen in Ermangelung eines solchen Rechtsweges gleich Grundrechtsbeschwerde erheben können. Man könnte daran denken, dass dies bei der Individualbeschwerde der EMRK desgleichen der Fall ist. Dennoch besteht ein grundlegender Unterschied, da bei der Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK Rechtsschutz gegen nationale Rechtsakte der Konventionsstaaten gewährt wird und daher selbstverständlich das innerstaatliche Rechtsschutzsystem vorrangig in Anspruch zu nehmen ist. Für Rechtsschutz gegenüber Gemeinschaftsrechtsakten Verfassungsentwurfs wird zumindest die Anfechtbarkeit von Rechtsakten mit Verordnungscharakter vorhersehbarer, da es hierfür eines individuellen Betroffenseins nicht bedarf. 38 Vgl. unter: Ε. ΙΠ. 1. Besonders relevant ist der Fall, dass eine Norm des Gemeinschaftsrechts dem Einzelnen unmittelbar Belastungen auferlegt bzw. Vergünstigungen entzieht, ohne dass hierzu ein anfechtbarer Durchführungsakt ergeht. 39 Unterbleibt dagegen eine Vorlage, ist die Fallgruppe der Grundrechtsbeschwerde wegen Nichtvorlage eines entsprechend verpflichteten mitgliedstaatlichen Gerichts einschlägig, die noch gesondert behandelt wird.

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F. Ausblick: Gestaltung des Rechtsschutzes de lege ferenda

ist schon im Rahmen der Ausführungen zur Nichtigkeitsklage begründet worden, dass eine unterschiedliche Behandlung der Bürger bei der Zulässigkeit - je nach Verfügbarkeit innerstaatlicher Klagemöglichkeiten - gegen den grundrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz verstößt40. Nicht zuletzt verbietet sich dies auch aufgrund der integrativen Funktion der Grundrechtsbeschwerde 41. Es muss damit eine einheitliche Regelung des Verhältnisses von Grundrechtsbeschwerde und Vorabentscheidungsverfahren gefunden werden. Diese ist zu erreichen, wenn die Mitgliedstaaten weiterhin verpflichtet bleiben, Rechtsbehelfe zur Verfügung zu stellen, sollte die Nichtigkeitsklage nicht eingreifen. Die Grundrechtsbeschwerde direkt gegen Normen gäbe es dann allerdings nicht, sie wäre stets subsidiär42. Die zweite Fallgruppe knüpft an die Subsidiarität der Grundrechtsbeschwerde gegenüber innerstaatlichen Rechtsbehelfen an. Demnach soll die Grundrechtsbeschwerde statthaft sein, wenn mitgliedstaatliche Gerichte es unterlassen haben, ein Vorabentscheidungsverfahren einzuleiten, obwohl sie dazu nach den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts verpflichtet waren. Hätte eine Vorlage die Frage nach der Gültigkeit eines Gemeinschaftsrechtsaktes zum Gegenstand gehabt, richtet sich die Grundrechtsbeschwerde zwar formal gegen die unterbliebene Vorlage, bei materieller Betrachtung aber vielmehr gegen den vermeintlich grundrechtswidrigen Gemeinschaftsrechtsakt. Der Betroffene hat lediglich den ihm zur Verfügung stehenden Rechtsweg ausgeschöpft, indem er sich zunächst an die nationalen Gerichte wandte und dort die Grundrechtswidrigkeit der gemeinschaftsrechtlichen Maßnahme rügte. Betrifft die unterbliebene Vorlage dagegen eine Auslegungsfrage, äußert Schwarze Bedenken gegen die Statthaftigkeit einer Grundrechtsbeschwerde, da der EuGH, wenn er die Beschwerde zur Entscheidung annimmt, damit das Urteil des nationalen Gerichts in der Hinsicht rügt, dass es die Vorlage der Auslegungsfrage für entbehrlich gehalten hat. Schwarze hält dadurch das Kooperationsverhältnis der Gerichte für gefährdet 43. Meiner Ansicht nach wiegen diese Bedenken jedoch weniger schwer. Das liegt daran, dass nach der C.I.L.F.I.T.-Rechtsprechung der Entscheidungsspielraum der nationalen Gerichte, über welche Auslegungsfragen sie selbst urteilen können und welche sie vorlegen müssen, äußerst gering ist 44 . Auch in Bezug auf Auslegungsfragen ist daher eine Grundrechtsbeschwerde denkbar. 40 Vgl. Ε. Π. 1. b). 41 Rengeling, Brauchen wir die Verfassungsbeschwerde auf Gemeinschaftsebene?, in: FS für Everling, S. 1187 (1205); Zuleeg, EuGRZ 2000,511 (514); Däubler-Gmelin, EuZW 2000, 1; Pernice, DVB1. 2000, 847 (859); Calliess, EuZW 2001,261 (268). 42 Allenfalls könnte darüber nachgedacht werden, ob Ausnahmen vom Grundsatz der Subsidiarität in Anlehnung an entsprechende Fallgruppen bei der Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG bzw. bei der Individualbeschwerde gemäß Art. 34 EMRK zugelassen werden sollen. 43 Schwarze, DVB1. 2002, 1297 (1314). 44 Hess, RabelsZ 2002, 470 (493 ff.).

I. Forderungen nach einer Grundrechtsbeschwerde

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Drittens geht es um die Frage, ob nationales Handeln reversibel sein soll, das gemeinschaftsrechtlich determiniert ist. Vorstellbar wäre etwa ein nationaler Rechtsakt, der eine Richtlinie detailgetreu in das mitgliedstaatliche Recht übernimmt, oder ein behördlicher Akt, der eine Verordnung vollzieht, ohne dass der Behörde dabei ein Spielraum verbleibt. Zu dieser Konstellation wird man sagen müssen, dass eine vergleichbare Behandlung wie bei der Grundrechtsbeschwerde gegen einen Gemeinschaftsrechtsakt angezeigt ist. Letztlich ergibt sich die materiell-rechtliche Regelung, die als grundrechtswidrig angegriffen wird, wieder aus dem Gemeinschaftsrecht. Wegen des Subsidiaritätsgrundsatzes muss sich der Betroffene soweit wie möglich vor den nationalen Gerichten zur Wehr setzen und dabei die Grundrechtswidrigkeit des zugrunde liegenden Gemeinschaftsrechtsaktes rügen. Unterlässt es dann das nationale Gericht, eine Vorabentscheidung einzuholen, obwohl es dazu verpflichtet wäre, greift wieder die Fallgruppe der Grundrechtsbeschwerde wegen Nichtvorlage ein. Schließlich ist zu klären, ob eine Grundrechtsbeschwerde statthaft sein soll, wenn nationale Behörden grundrechtskonformes Gemeinschaftsrecht in grundrechtswidriger Art und Weise anwenden. Voraussetzung ist zunächst, dass die Mitgliedstaaten bei dem Vollzug und der Umsetzung von Gemeinschaftsrecht überhaupt an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden sind. Nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH ist das der Fall 45 . Dies ist auch erforderlich, um Grundrechtsschutz zu gewährleisten, da der Anwendungsbereich der nationalen Grundrechte in dieser Situation nicht eröffnet ist 46 . Im nächsten Schritt ist zu überlegen, wie ein Betroffener Rechtsschutz erlangen kann. Ein direkter Rechtsbehelf zu den Gemeinschaftsgerichten existiert nicht. Fraglich ist dann, ob der Betroffene vor den mitgliedstaatlichen Gerichten die Verletzung von Gemeinschaftsgrundrechten geltend machen kann. Eine Klage gegen das behördliche Handeln muss zur Verfügung stehen47. Ob er sich in diesem Rahmen erfolgreich auf seine Gemeinschaftsgrundrechte berufen kann, ist davon abhängig, was Prüfungsmaßstab einer solchen Klage ist. Während im deutschen Recht bei der abstrakten Normenkontrolle gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG i. V. m. §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG Prüfungsmaßstab für die streitgegenständliche Norm allein höherrangiges nationales Recht ist, nicht hingegen Gemeinschaftsrecht 48, gilt für die (verwaltungsrechtlichen) Klagen der Bürger etwas anderes. Bei der Prüfung, ob der Klage stattzugeben ist, muss das ange45 EuGH, Rs. 5 / 88 - Hubert Wachauf /Bundesamt für Ernährung und Forstwirtschaft, Slg. 1989, 2609, Rn. 19; Rs. C-2/92 - The Queen/Ministry of Agriculture, Fisheries and Food, ex parte: Dennis Clifford Bostock, Slg. 1994,1 - 955, Rn. 16; Rs. C-15/95 - EARL de Kerlast/Union régionale de coopératives agricoles (Unicopa) u. Coopérative du Trieux, Slg. 1997,1-1961, Rn. 36. «6 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 Rn. 58. 47

Sollte das in einigen Mitgliedstaaten nicht der Fall sein, so besteht hier Nachbesserungsbedarf, der aber nicht der Gemeinschaft angelastet werden kann. 48 Zu den Konsequenzen für das Vorabentscheidungsverfahren: Cremer, BayVBl. 1999, 266 ff.

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F. Ausblick: Gestaltung des Rechtsschutzes de lege ferenda

rufene mitgliedstaatliche Gericht unter anderem die individualschützenden Normen des Gemeinschaftsrechts beachten, also auch die Gemeinschaftsgrundrechte. Bei einem entsprechenden Verstoß ist der Akt der nationalen Behörde rechtswidrig und das nationale Gericht gewährt Rechtsschutz. Dabei müssen die nationalen Gerichte die Gemeinschaftsgrundrechte in dem ihnen vorliegenden Fall richtig auslegen, um beurteilen zu können, ob das Handeln der nationalen Behörde grundrechtsgemäß oder grundrechtswidrig ist. Entsprechend den Anforderungen an die C.I.L.F.I.T.-Rechtsprechung sind unter Umständen Auslegungsfragen vorzulegen. Unterbleibt dies, ist wiederum die Fallgruppe der Grundrechtsbeschwerde wegen Nichtvorlage (in Bezug auf eine Auslegungsfrage) eröffnet. In dieser Konstellation zeigt sich, dass die Grundrechtsbeschwerde wegen unterbliebener Vorlage einer Auslegungsfrage durchaus bedeutsam sein kann. Dies mag als Gegengewicht zu den von Schwarze geäußerten Bedenken gegen die Statthaftigkeit der Grundrechtsbeschwerde für diesen Bereich angesehen werden. Aufgrund des Subsidiaritätsgrundsatzes konzentriert sich der mögliche Anwendungsbereich einer Grundrechtsbeschwerde auf den Fall der Nichtvorlage eines mitgliedstaatlichen Gerichts, das zur Einleitung des Vorabentscheidungsverfahrens verpflichtet war. Dies gilt jedenfalls dann, wenn - als Folge des -Urteils des EuGH - die Mitgliedstaaten weiterhin verpflichtet bleiben, stets einen Rechtsweg für den Einzelnen zu eröffnen, sollte der direkte Weg zu den Gemeinschaftsgerichten versperrt sein. Diesen Rechtsweg muss der Betroffene erst ausschöpfen, bevor er Grundrechtsbeschwerde erheben kann. Ob man im Vorabentscheidungsverfahren die Letztentscheidungsbefugnis hinsichtlich der Befassung der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit den nationalen Gerichten überlassen will oder lieber dem Einzelnen ein Verfahren an die Hand geben möchte, mit dem er sich selbst an den EuGH wenden kann, ist eine stark umstrittene Frage im Gemeinschaftsrecht 49. Ob ein Verfahren mit diesem beschränkten Anwendungsbereich wirklich den Namen Grundrechtsbeschwerde verdient, ist zweifelhaft.

b) Zur Gestaltung des Verfahrens Der Einführung eines Annahmeverfahrens kann uneingeschränkt zugestimmt werden. Es ist einsichtig, einer Rut von Verfahren dadurch Herr zu werden, dass offensichtlich erfolglose Beschwerden, deren vollständige Bearbeitung unnütz Ressourcen verschwenden würde, frühzeitig herausgefiltert werden. Darüber hinaus hat sich schon durch die Erfahrungen in anderen verfassungsgerichtlichen Verfahren wie der Verfassungsbeschwerde des deutschen Grundgesetzes und der Individualbeschwerde der EMRK die Brauchbarkeit von Annahmeverfahren erwiesen. Dem Spannungsverhältnis zwischen effektivem Grundrechtsschutz und drohender Arbeitsüberlastung des Gerichtshofs wird so Rechnung getragen. 49

Allkemper, Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, S. 208 ff. m. w. N.

I. Forderungen nach einer Grundrechtsbeschwerde

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Des Weiteren ist die Möglichkeit, eine Beschwerde an das EuG zu verweisen, wenn die Voraussetzungen des Art. 230 Abs. 4 EG vorliegen, grundsätzlich zu befürworten. Problematisch könnte in diesen Fällen jedoch sein, dass in aller Regel die zweimonatige Frist des Art. 230 Abs. 5 EG abgelaufen sein dürfte, bis der EuGH eine Entscheidung über die Verweisung gefällt hat. Insofern wäre zu überlegen, ob die Einlegung einer Grundrechtsbeschwerde den Fristablauf für die Nichtigkeitsklage hemmt50 und damit zur Fristwahrung im Rahmen der Nichtigkeitsklage genügt oder ob der Betroffene - auch um die Frist der Grundrechtsbeschwerde nicht zu versäumen - gezwungen sein soll, gleichzeitig beide Verfahren anzustrengen. Letzteres erscheint wenig prozessökonomisch, da sich dann anfänglich zwei Gerichte mit einer Klage befassen müssten, bis die Zuständigkeit geklärt ist. Solange die Zulässigkeit einer Individualnichtigkeitsklage aufgrund der komplizierten Rechtsprechung zum Erfordernis des individuellen Betroffenseins geradezu unvorhersehbar ist, darf von dem Einzelnen nicht verlangt werden, sich für einen von beiden Rechtsbehelfen zu entscheiden und dabei das Risiko zu tragen, dass der andere, eigentlich statthafte Rechtsbehelf zwischenzeitlich verfristet. Letztlich zeigt sich hieran erneut, dass das Nebeneinander von Grundrechtsbeschwerde und der Nichtigkeitsklage in ihrer jetzigen Ausprägung erhebliche Komplikationen mit sich bringt. c) Zur systematischen Stellung Die Einführung einer Grundrechtsbeschwerde würde die Funktion des Gerichtshofs als Verfassungsgericht stärken51 und vor allem den Individualrechtsschutz in dem elementaren Bereich der Grundrechte ausbauen. Wegen der daraus erwachsenden besonderen verfassungsrechtlichen Bedeutung ist es aus rechtspolitischer Sicht nicht wünschenswert, die Grundrechtsbeschwerde als Appendix einer bereits bestehenden Verfahrensart in einem zusätzlichen Absatz anzufügen. Gerade da es ein Hauptziel der Europäischen Grundrechtscharta ist, die Akzeptanz für die europäische Integration und die gemeinsame europäische Identität zu fördern 52, sollte die Grundrechtsbeschwerde nicht in einem „nachgeschobenen" Absatz zur Nichtigkeitsklage untergebracht werden. Vielmehr bedarf es einer der Bedeutung und Funktion der Grundrechtsbeschwerde angemessenen, nach außen erkennbar hervorgehobenen Position. Der Vorschlag Reichs zur systematischen Stellung ist daher abzulehnen. 50 Mit dem Gedanken der Fristhemmung bzw. des Verzichts auf die Frist gemäß Art. 230 Abs. 5 EG Nettesheim, JZ 2002, 928 (934) für den Fall, dass dem Betroffenen der Zugang zu den nationalen Gerichten versperrt ist und seiner Ansicht nach dann eine Auffangzuständigkeit der europäischen Gerichtsbarkeit eingreifen muss. 51 Weber, NJW 2000, 537 (544). 52 Zuleeg, EuGRZ 2000,511 (514); Däubler-Gmelin, EuZW 2000,1; Rengeling, Brauchen wir die Verfassungsbeschwerde auf Gemeinschaftsebene?, in: FS für Everling, S. 1187 (1205); Pernice, DVB1. 2000, 847 (859); Calliess, EuZW 2001,261 (268).

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F. Ausblick: Gestaltung des Rechtsschutzes de lege ferenda

Zwar wird die Grundrechtsbeschwerde hier im Zusammenhang mit der Grundrechtscharta erörtert und konnte Reich, der seinen Aufsatz vor Proklamierung der Grundrechtscharta verfasste, noch nicht auf diese Bezug nehmen, doch waren auch schon zuvor die Gemeinschaftsgrundrechte und ihr gerichtlicher Rechtsschutz von besonderer verfassungsrechtlicher Bedeutung. Das zur systematischen Stellung einer Grundrechtsbeschwerde Gesagte galt somit schon damals. Gegen die von Allkemper propagierte Position ist nichts einzuwenden, es wäre aber ebenso eine andere Stellung innerhalb des Rechtsschutzsystems denkbar, etwa an prominenter erster Stelle.

Π . Änderung und Erweiterung des Individualrechtsschutzes gegen Normativakte im Rahmen der Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 Abs. 4 E G Neben der Einführung einer Grundrechtsbeschwerde, der im Zusammenhang mit der Grundrechtscharta vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt wurde, ist auch daran zu denken, ob und wie der Rechtsschutz Einzelner durch de lege ferenda weiter gefasste Klagemöglichkeiten im Rahmen der Nichtigkeitsklage aufgewertet werden könnte. Durch die jüngste Auseinandersetzung der Gemeinschaftsgerichte um die Interpretation des individuellen Betroffenseins hat dieser Ansatz neue Impulse erhalten.

1. Ergebnisse des Verfassungskonvents im Hinblick auf die Zukunft der Nichtigkeitsklage Nicht nur die Gemeinschaftsgerichte haben sich vor kurzem mit einer möglichen Verbesserung des Individualrechtsschutzes, insbesondere gegen Normativakte der Gemeinschaft, durch einen weiter gefassten Anwendungsbereich der Nichtigkeitsklage beschäftigt. Auch der Verfassungskonvent hat sich zu dieser Thematik beraten und erwogen, ob der Wortlaut von Art. 230 Abs. 4 EG eine Änderung erfahren sollte. Einigkeit bestand im Arbeitskreis zur Arbeitsweise des Gerichtshofs, dass zumindest eine redaktionelle Änderung des Art. 230 Abs. 4 EG dahin gehend angezeigt sei, die Worte „obwohl sie als Verordnung oder als eine an eine andere Person gerichtete Entscheidung ergangen ist" zu streichen und das Wort „Entscheidung" durch „Rechtsakt" zu ersetzen53. Der Arbeitskreis ging davon aus, dass hierdurch nur eine Anpassung an die Rechtsprechung des Gerichtshofs bewirkt wird, der Anwendungsbereich des Art. 230 Abs. 4 EG aber nicht verändert wird. Letztlich be53

Arbeitskreis zur Arbeitsweise des Gerichtshofs, CONV 636/03, Rn. 23.

II. Erweiterung des Individualrechtsschutzes im Rahmen der Nichtigkeitsklage

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legt aber die „rein redaktionelle" Änderung, dass der Gerichtshof die Voraussetzung des Art. 230 Abs. 4 EG zum Rechtscharakter des Klagegegenstandes schlicht nicht ernst genommen hat. Weniger einmütig zeigte sich der Arbeitskreis im Hinblick auf eine Änderung des Art. 230 Abs. 4 EG, die eine Erweiterung des Anwendungsbereichs zur Folge hätte. Während eine Gruppe der Mitglieder des Arbeitskreises das derzeit geltende Rechtsschutzsystem befürwortete, das sich auf dezentralen Rechtsschutz vor den mitgliedstaatlichen Gerichten konzentriert 54, bewertete die andere Gruppe die Zulässigkeitsbedingungen des Art. 230 Abs. 4 EG (unmittelbare und individuelle Betroffenheit) als zu eng und plädierte für eine Erweiterung der Nichtigkeitsklage in Bezug auf Rechtsakte mit allgemeiner Geltung. Es wurde Folgendes vorgeschlagen: a) die beiden Bedingungen voneinander zu trennen, die dann also nicht mehr kumulativ zu verstehen wären; b) „sie unmittelbar und individuell betreffen" zu ersetzen durch „sie unmittelbar betreffen und ihre Rechtsstellung beeinträchtigen"; c) den derzeitigen Wortlaut mit dem Zusatz „oder gegen einen Rechtsakt von allgemeiner Geltung, der sie unmittelbar betrifft und keine Durchführungsbestimmungen enthält" beizubehalten; d) den derzeitigen Wortlaut für Gesetzgebungsakte (künftig Gesetze und Rahmengesetze) beizubehalten und die Befassung des Gerichtshofs für Rechtsakte ohne Gesetzgebungscharakter zu erlauben; gegen letztere könnte Klage erhoben werden, wenn eine Einzelperson unmittelbar oder individuell betroffen ist; e) gleicher Vorschlag wie der vorhergehende, wobei aber Einzelpersonen ein Klagerecht gegen Gesetzgebungsakte der Union eingeräumt wird, die keine Durchführungsbestimmungen enthalten55. Nach Beratung über die angeführten Vorschlägen, haben sich die Mitglieder des Arbeitskreises zur Arbeitsweise des Gerichtshofs mehrheitlich dafür entschieden, in ihrem Schlussbericht folgende Neufassung des Art. 230 Abs. 4 EG zu empfehlen: „Jede natürliche oder juristische Person kann unter den gleichen Voraussetzungen gegen die an sie ergangenen Rechtsakte oder Rechtsakte, die sie unmittelbar und individuell betreffen, sowie gegen Rechtsakte (allgemeiner Geltung/ohne Gesetzgebungscharakter), die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsbestimmungen enthalten, Klage erheben 5 6 ."

54

Arbeitskreis zur Arbeitsweise des Gerichtshofs, CONV 636/03, Rn. 18. Arbeitskreis zur Arbeitsweise des Gerichtshofs, CONV 636/03, Rn. 19. 56 Arbeitskreis zur Arbeitsweise des Gerichtshofs, CONV 636/03, Rn. 20.

55

14 Schulte

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F. Ausblick: Gestaltung des Rechtsschutzes de lege ferenda

Das Präsidium hat sich an den Vorschlag der Arbeitsgruppe angelehnt und folgenden Entwurf zu Art. 230 Abs. 4 EG unterbreitet: îrJede natürliche oder juristische Person kann unter den gleichen Voraussetzungen gegen die an sie ergangenen oder sie unmittelbar und individuell betreffenden Rechtsakte sowie gegen Durchführungsrechtsakte, die sie unmittelbar betreffen, ohne Durchfuhrungsmaßnahmen zu umfassen, Klage erheben 57. "

Im Verfassungsentwurf Nichtigkeitsklage enthalten:

ist folgender Art. ΙΠ-270 Abs. 4 als Neufassung der

, Jede natürliche oder juristische Person kann unter den gleichen Voraussetzungen gegen die an sie ergangenen oder sie unmittelbar und individuell betreffenden Handlungen sowie gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, Klage erheben 58. "

Sowohl im Arbeitskreis zur Arbeitsweise des Gerichtshofs als auch im Präsidium galt die Aufmerksamkeit dem effektiven Individualrechtsschutz gegenüber Rechtsakten mit allgemeiner Geltung. Vor dem Hintergrund der eindringlichen Schlussanträge von Generalanwalt Jacobs in der Rechtssache UPA wurden die Fälle als besonders problematisch gewertet, in denen eine Einzelperson unmittelbar von einem Rechtsakt allgemeiner Geltung betroffen ist, der keine Durchführungsmaßnahmen vorsieht. Der Einzelne sei gezwungen, gegen die Norm zu verstoßen und so ein gegen ihn gerichtetes gerichtliches Verfahren zu provozieren, in welchem er schließlich die Rechtmäßigkeit der Norm bestreiten könne59. Eine Erweiterung des Individualrechtsschutzes wurde dann auch nur beschränkt auf diese Fallkonstellation der formellen Unmittelbarkeit empfohlen. Damit wurde nicht generell für alle Rechtsakte allgemeiner Geltung eine Erleichterung im Hinblick auf die Klagebefugnis geschaffen. Für Gesetzgebungsakte, die gemäß der zweiten Variante des Art. ΙΠ-270 Abs. 4 des Verfassungsentwurfs anfechtbar sind, bleibt es bei der restriktiven Voraussetzung des individuellen Betroffenseins 60. Insoweit hat sich die Formulierung geändert, für die Rechtspraxis bedeutet dies aber keine Neuerung, da die Gemeinschaftsgerichte schon seit geraumer Zeit alle rechtsverbindlichen Handlungen als taugliche Klagegegenstände der Individualnichtigkeitsklage anerkannt haben61. Die dritte Variante des Art. ΠΙ-270 Abs. 4 des Verfassungsentwurfs hingegen schafft eine neuartige Klagebefugnis natürlicher und juristischer Personen. Welche Rechtsakte letztlich als „Rechtsakte mit Verordnungscharakter" im Sinne dieser Vorschrift zu verstehen sind, wird sich noch zeigen müssen62. 57 Präsidium, Artikel über den Gerichtshof und das Gericht, CONV 734/03, S. 18. 58

Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa, CONV 850/03. 59 Präsidium, Artikel über den Gerichtshof und das Gericht, CONV 734/03, S. 20. 60

Auch in der Literatur ist angeregt worden, im Rahmen des Individualrechtsschutzes die Differenzierung zwischen Gesetzen und Durchführungsrechtsakten aufzugreifen, Schwarze, DVB1. 2002, 1297 (1310). Zur Kritik siehe unter C. II. 2. c) bb) und Ε. II. 5.

II. Erweiterung des Individualrechtsschutzes im Rahmen der Nichtigkeitsklage

211

2. Stellungnahme und eigener Ansatz a) Genereller Verzicht auf das Kriterium der individuellen im Sinne der Plaumann-Formel

Betroffenheit

Die abschließenden Empfehlungen des Arbeitskreises zur Arbeitsweise des Gerichtshofs - sowie die genannten Vorschläge einzelner Mitglieder unter a), c), d) und e) - , des Präsidiums und schließlich auch der Verfassungsentwurf behalten das Kriterium der individuellen Betroffenheit bei der Neufassung der Nichtigkeitsklage bei, wenngleich dieses doch nicht mehr stets Voraussetzung für die Zulässigkeit sein soll. Das Festhalten an dieser äußerst diffizilen und der Rechtssicherheit abträglichen Voraussetzung ist bedauerlich. Vielmehr wäre es angezeigt gewesen, dass der Verfassungskonvent die Nichtigkeitsklage gänzlich neu gestaltet hätte, anstatt nur in Bezug auf eine einzelne Konstellation nachzubessern, nämlich der Anfechtbarkeit von Rechtsakten mit Verordnungscharakter, die den Kläger unmittelbar betreffen. Die Schwächen des derzeitigen Rechtsschutzsystems in Bezug auf normative Rechtsakte bleiben nach dem Verfassungsentwurf im Hinblick auf Gesetze bestehen. Die Ausführungen des EuGH, es sei Sache der Mitgliedstaaten, das gemeinschaftsrechtliche Rechtsschutzsystem gegebenenfalls gemäß Art. 48 EU zu reformieren 63, bot rechtspolitisch durchaus Anlass zu einer umfassenden Änderung64.

aa) Praktische Nachteile des Kriteriums der individuellen Betroffenheit Ein wesentlicher Nachteil des individuellen Betroffenseins in der Auslegung durch die Plaumann-Formel liegt in der Schwierigkeit, diese Voraussetzung auf den Einzelfall anzuwenden. In aller Regel bestehen erhebliche Unsicherheiten, wenn es darum geht, das Ergebnis der Gemeinschaftsgerichte zur individuellen Betroffenheit vorherzubestimmen. Für die Betroffenen ist das jedoch von erheblicher Bedeutung, um das Prozess(kosten)risiko einschätzen zu können. Da die Erfolgsaussichten von Indivi62 Dazu jüngst Cremer, EuGRZ 2004, 577 (579 ff.), der hierunter Europäische Verordnungen und sämtliche Europäischen Beschlüsse fassen will. Im Hinblick auf Europäische Beschlüsse, die keine allgemeine Geltung haben, ist die Subsumtion unter die dritte Variante von Art. ΙΠ-270 Abs. 4 des Verfassungsentwurf jedoch zweifelhaft. Für Europäische Verordnungen ist die allgemeine Geltung gemäß Art. 1-32 Abs. 1 UAbs. 4 des Verfassungsentwurfs konstitutives Merkmal. Dann liegt es nahe, dies auch für andere Rechtsakte, die als „Rechtsakte mit Verordnungscharakter" verstanden werden sollen, zu fordern. « EuGH, Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequefios Agricultores/Rat, Slg. 2002, I - 6677, Rn. 45. 64 So auch Braun/Kettner, DÖV 2003, 58 (66).

14*

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F. Ausblick: Gestaltung des Rechtsschutzes de lege ferenda

dualnichtigkeitsklagen schwer zu kalkulieren sind, werden sehr häufig Klagen erhoben, die als unzulässig zurückgewiesen werden. Vielfach wird der Klageweg beschritten nach dem Motto „Versuchen kann man es mal" oder „Vor Gericht und auf hoher See ist man allein in Gottes Hand"65. Auf diese Weise kommt es zu einer (unnötig) hohen Anzahl von Verfahren. Daneben führt die Komplexität dieser Zulässigkeitsvoraussetzung dazu, dass erhebliche Ressourcen der Rechtsprechung schon dafür aufgewandt werden müssen, über die Zulässigkeit von Klagen zu befinden, statt sich auf Fragen des materiellen Rechts konzentrieren zu können66.

bb) Zweifelhafte Funktion des Kriteriums der individuellen Betroffenheit Über die Probleme hinaus, die das individuelle Betroffensein in der praktischen Anwendung mit sich bringt, spricht gegen diese Zulässigkeitsvoraussetzung vor allem, dass ihr im gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutzsystem keine sinnvolle Funktion zukommt. Nach der hier vertretenen Auffassung kann die Plaumann-Formel zum einen nicht die Aufgabe übernehmen, den tauglichen Klagegegenstand zu bestimmen, weil individuelles Betroffensein und Entscheidungscharakter nicht identisch sind und die These von den hybriden Rechtsakten abzulehnen ist 67 . Zum anderen ist es sehr fraglich, warum Personen, die im Sinne der PlaumannFormel individuell betroffen sind, erfolgreich Nichtigkeitsklage erheben können, andere Personen hingegen nicht. Dass für geschützte Rechts- bzw. Interessenpositionen gerichtlicher Rechtsschutz zur Verfügung stehen muss, ergibt sich zwingend aus rechtsstaatlichen Grundsätzen. Das Erfordernis der Plaumann-Formel, dass der Kläger wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und daher in ähnlicher Weise individualisiert sein muss wie ein Adressat68, entscheidet darüber, ob ein Betroffener zentral vor den Gemeinschaftsgerichten Rechtsschutz suchen kann oder ob er auf die dezentrale Ebene vor die mitgliedstaatlichen Gerichte und gegebenenfalls das Vorabentscheidungsverfahren verwiesen wird. Gerade für die Entscheidung über den Rechtsweg aber bringt die Plaumann-Formel keinen Erkenntnisgewinn. 65 Cremer, Individualrechtsschutz gegen Rechtsakte der Gemeinschaft: Grundlagen und neuere Entwicklungen, in: Individualrechtsschutz in der EG und der WTO, S. 27 (45, Fn. 102). 66 GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequenos Agricultores/ Rat, Slg. 2002, Π - 6677, Π - 6681, Rn. 66. 67 Zur Unvertretbarkeit der Annahme hybrider Rechtsakte, von deren Existenz das EuG bis heute ausgeht und welcher sich auch der EuGH angenähert hat, vgl.: C. Π. 2. c) bb) (1). 68 EuGH, Rs. 25 /62 - Firma Plaumann & Co/Kommission, Slg. 1963,211, 238.

II. Erweiterung des Individualrechtsschutzes im Rahmen der Nichtigkeitsklage

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Das unmittelbare Betroffensein kann für den einzuschlagenden Rechtsweg von Bedeutung sein, da bei bloß mittelbarer Betroffenheit weitere, konkretisierende Durchführungsakte vorliegen, die den Einzelfall speziell regeln. Es ist daher durchaus sinnvoll, diese auf den konkreten Einzelfall zugeschnittenen Rechtsakte vorrangig zu prüfen, um alle Aspekte des Falls zu berücksichtigen. Der zugrunde liegende Rechtsakt ist bei Zweifeln an seiner Gültigkeit inzident zu prüfen. Die Frage hingegen, ob der Kläger durch bestimmte persönliche Eigenschaften oder besondere, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebende Umstände adressatengleich individualisiert ist, also der Vergleich der Situation des Klägers mit der Situation anderer Personen, hat für die Rechtswegzuweisung keine nachvollziehbare Relevanz. Denn warum sollte jemand, der diese Eigenschaften oder Umstände aufweist und etwa in seinen rechtlich geschützten Interessen beeinträchtigt ist, einen anderen (in der Regel besseren) gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen können, als jemand, der diese Anforderungen nicht erfüllt, aber ζ. B. in seinen gemeinschaftsrechtlichen Grundrechten und damit in Rechten höchsten Ranges verletzt ist? Neben der unmittelbaren Betroffenheit ist zweifellos eine Beschränkung der Klagebefugnis erforderlich, welche die Möglichkeit ausschließt, Popularklagen zu erheben, und die Klagebefugnis von Drittbetroffenen (insbesondere Konkurrenten) sachgemäß begrenzt. Dazu bedarf es aber nicht der Plaumann-Formel, sondern einer Entscheidung darüber, welche Rechte und Interessen die gemeinschaftliche Rechtsordnung zu schützen bereit ist. Auf die Zulässigkeitsvoraussetzung der individuellen Betroffenheit im Rahmen der Individualnichtigkeitsklage, die im Verfassungskonvent in den Vorschlägen einiger Mitglieder des Arbeitskreises zur Arbeitsweise des Gerichtshofs, des konsentierten Vorschlags des Arbeitskreises, der Empfehlung des Präsidiums und schließlich des Verfassungsentwurfs beibehalten wurde, sollte aufgrund der Schwierigkeiten in der praktischen Anwendung sowie ihrer höchst zweifelhaften Funktion vollständig verzichtet werden. Augenscheinlich war man auf dem Verfassungskonvent der Ansicht, dass eine Änderung und Erweiterung der Direktklagemöglichkeit für natürliche und juristische Personen geboten ist. Dann sollte aber nicht isoliert die Schließung einer einzelnen Lücke betrieben werden, sondern das Konzept der Nichtigkeitsklage im Ganzen überdacht werden.

b) Einheitliches Rechtsschutzkonzept und funktionale

Rechtswegzuweisung

Aus der dargestellten Kritik ergibt sich zugleich der Leitgedanke für ein neues Konzept des Individualrechtsschutzes gegen Normativakte im Spannungsfeld zwischen zentraler und dezentraler Rechtswegeröffnung. Dieses Konzept ist in drei Stufen zu entwickeln.

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F. Ausblick: Gestaltung des Rechtsschutzes de lege ferenda

Erstens muss entschieden werden, gegenüber welchen Rechtsakten für Einzelne Rechtsschutz eröffnet werden soll. Nach hier vertretener Auffassung sollte unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten Rechtsschutz gegen alle Arten von belastenden Maßnahmen gewährt werden, einschließlich Gesetzgebungsakten. Zweitens ist festzulegen, welche Rechte bzw. auch Interessen des Einzelnen das Gemeinschaftsrecht grundsätzlich dem gerichtlichen Rechtsschutz unterstellen will. Für diese Frage ist schon nach der bisherigen Rechtslage und Rechtsprechung das individuelle Betroffensein in der Ausprägung der Plaumann-Formel ohne Belang. Denn auch Klägern, die nicht individuell betroffen sind, ist nicht jeglicher gerichtlicher Rechtsschutz versagt, sondern nur das Direktklagerecht. So genügen selbst Grundrechte nicht, um ein individuelles Betroffensein zu begründen, selbstverständlich besteht aber ein Anspruch auf gerichtlichen Rechtsschutz. Das Gemeinschaftsrecht hat sich ähnlich wie das französische Rechtssystem dafür entschieden, ein „intérêt pour agir" für die Klagebefugnis grundsätzlich genügen zu lassen69. Drittens ist im Anschluss daran darüber nachzudenken, auf welchen Rechtsweg (zentral oder dezentral) der Kläger zum Schutz dieser Positionen zu verweisen ist. Der EG-Vertrag hält in Art. 230 Abs. 4 zu dieser Abgrenzung die Kriterien der Rechtsaktqualität (Entscheidung) und des unmittelbaren und individuellen Betroffenseins bereit, von denen in der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte das individuelle Betroffensein die mit Abstand bedeutendste Voraussetzung ist. Wer sie nicht erfüllen kann, muss sich an die nationalen Gerichte wenden und darauf hoffen, dass er das Gericht von der Notwendigkeit eines Vorabentscheidungsverfahrens überzeugen kann. Es wurde bereits festgestellt, dass mit dem individuellen Betroffensein im Sinne der Plaumann-Formel diese Entscheidung über den Rechtsweg nicht sinnvoll getroffen werden kann. Vielmehr sollte Richtschnur für die Rechtswegzuweisung entweder an die mitgliedstaatlichen Gerichte oder die Gemeinschaftsgerichtsbarkeit sein, wie effektiver Rechtsschutz und eine funktionale Aufgabenverteilung zwischen den verschiedenen Ebenen zu erreichen sind. Das bedeutet, dass der Betroffene zunächst überhaupt Zugang zu einem Gericht erhalten muss, um seine Rechte und Interessen vorbringen und verteidigen zu können. Des Weiteren sollte das angerufene Gericht in der Lage sein, irgendeine für den Rechtsschutz relevante Funktion auszuüben. Auf diesen zweiten Schritt soll nachfolgend eingegangen werden.

69 Vgl. Schwarze, NVwZ 2000, 241 (248/249). Dieses ist weiter als das vom deutschen Recht für die Klagebefugnis verlangte subjektiv-öffentliche Recht.

II. Erweiterung des Individualrechtsschutzes im Rahmen der Nichtigkeitsklage

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aa) Mögliche Funktionen dezentralisierten Rechtsschutzes Für die Gestaltung des Rechtsschutzes de lege ferenda soll die Frage beantwortet werden, welche Funktionen die de lege lata geltende Dezentralisierung des Rechtsschutzes erfüllen kann und für welche Konstellationen sie überdacht werden sollte. (1) Dezentralisierung

des Rechtsschutzes in anderen Rechtsschutzsystemen

Nicht nur das Gemeinschaftsrecht, sondern auch andere Rechtsordnungen kennen verschiedene Ebenen von Rechtswegen und ordnen an, dass eine dieser Ebenen prinzipiell vorrangig eingreift. Im Folgenden sollen beispielhaft die Verfassungsbeschwerde im deutschen Rechtssystem und die Individualbeschwerde der EMRK im Hinblick auf diesen Aspekt dargestellt werden und dann der Frage nachgegangen werden, inwieweit diese Regelungen nach Sinn und Zweck auf den gemeinschaftlichen Rechtsschutz - insbesondere gegen Normativakte - übertragbar sind. Beide Rechtsordnungen sehen für die Beschwerdebefugnis kein Äquivalent zur individuellen Betroffenheit vor. Popularklagen werden dadurch ausgeschlossen, dass der Beschwerdeführer in eigenen Grundrechten/Konventionsrechten betroffen sein muss. (a) Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, §§ 13 Nr. 8 a, 23,90 ff. BVerfGG Wenn von „Dezentralisierung" des Rechtsschutzes im Zusammenhang mit der Verfassungsbeschwerde im deutschen Recht gesprochen wird 70 , liegt der erste Unterschied zum Rechtsschutzsystem der Gemeinschaft schon darin, dass hier nicht zwei verschiedene Rechtsordnungen ineinander greifen, sondern das Verhältnis verschiedener Ebenen innerhalb einer Rechtsordnung erfasst wird. Der Betroffene hat vorrangig dezentral bei den Fachgerichten Rechtsschutz zu suchen, erst wenn dies nicht möglich bzw. nicht tunlich ist oder erfolglos war, kommt die Verfassungsbeschwerde in Betracht. Sind die Fachgerichte in einem bei ihnen anhängigen Verfahren von der Verfassungswidrigkeit einer Norm überzeugt und ist dies entscheidungserheblich für das Verfahren, so ist das Verfahren auszusetzen und im konkreten Normkontrollverfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG die Entscheidung des BVerfG einzuholen. Auf diese Weise bleibt das Verwerfungsmonopol des BVerfG im Hinblick auf nachkonstitutionelle Gesetze gewahrt71. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde, die den Vorrang fachgerichtlichen Rechtsschutzes zum Ausdruck bringen und sichern, sind die 70 Diese Terminologie findet sich auch bei Gerontas, DÖV 1982,440 (445). 71

Schiaich/Korioth,

Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 126 ff.

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F. Ausblick: Gestaltung des Rechtsschutzes de lege ferenda

Rechtswegerschöpfung, die unmittelbare Betroffenheit und die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde. Inhalt und Funktion dieser Kriterien sollen in der hier gebotenen Kürze dargestellt werden. Das Gebot, zunächst den Rechtsweg zu erschöpfen, bevor man eine Grundrechtsverletzung vor dem BVerfG geltend machen kann, setzt zunächst voraus, dass überhaupt ein Rechtsweg gegeben ist. Nach überwiegender Ansicht ist das für Normativakte (außerhalb von § 47 VwGO) nicht der Fall 72 , so dass diese in § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG normierte Voraussetzung im Wesentlichen auf Verfassungsbeschwerden gegen Verwaltungshandeln und Urteile anwendbar ist. Dagegen ist das Erfordernis der unmittelbaren Betroffenheit des Beschwerdeführers für die Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden gegen Normen von besonderer Bedeutung. Es wurde früher formal verstanden und verneint, wenn ein Gesetz zu seiner Durchführung rechtsnotwendig oder auch nur nach der tatsächlichen Verwaltungspraxis einen vom Willen der vollziehenden Gewalt beeinflussten Vollzugsakt voraussetzt73. Heute entfallt die Befugnis, eine Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen ein formelles Gesetz zu erheben, nicht immer schon dann, wenn ein ausführender Akt ergehen kann oder muss. Dies ist lediglich ein Indiz. Der Begriff der unmittelbaren Grundrechtsbetroffenheit ist nach der Rechtsprechung des BVerfG ein Begriff des Verfassungsprozessrechts, der im Lichte der Funktion dieser Verfahrensordnung auszulegen sei74. Im Ergebnis aber wird das Unmittelbarkeitskriterium und damit die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde gegen Normen restriktiv gehandhabt. Ein Betroffener kann auch bei unmittelbar belastend wirkenden Normen auf den Rechtsweg und eine Inzidentkontrolle der Norm verwiesen werden 75. Der Grundsatz der Subsidiarität wurde vom BVerfG in sinngemäßer Anwendung des § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG 76 entwickelt und verlangt, dass der Beschwerdeführer über das Gebot der Rechtswegerschöpfung im engeren Sinne hinaus die ihm zur Verfügung stehenden und zumutbaren Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung ohne Anrufung des Bundesverfassungsgerichts zu erreichen 77. Da gegen Gesetze kein Rechtsweg existiert, ist diese Voraussetzung ebenso wie das unmittelbare Betroffensein gerade für Rechts72 Etwa: van den Hövel, Zulässigkeits- und Zulassungsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze, S. 152 ff.; Schiaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 244, 247; Gusy, Die Verassungsbeschwerde, Rn. 138; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 12 Π, Rn. 46; andere Ansicht: Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht, S. 306; Chung, Bedeutung des § 90 BVerfGG für die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen Gesetze, S. 264 ff.; Gerontas, DÖV 1982,440 (443 ff.). 73 BVerfGE 1, 97 (102 f.); 70, 35 (50 f.); 79, 174 (187 f.). 74 BVerfGE 70, 35 (51).

75 Schiaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 232. 76 Die in der Literatur äußerst kontrovers geführte Diskussion um die dogmatische Einordnung der Subsidiarität kann in diesem Rahmen nicht dargestellt werden. 77 BVerfGE 68, 376 (379 f.); 77, 381 (401).

II. Erweiterung des Individualrechtsschutzes im Rahmen der Nichtigkeitsklage

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satzverfassungsbeschwerden von besonderer Bedeutung. Wiederum muss der Beschwerdeführer sich auf eine inzidente Normenkontrolle verweisen lassen. Der Vorrang des fachgerichtlichen Rechtsschutzes erfüllt zwei Funktionen: Die Fachgerichte sind zur Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts berufen und dabei verpflichtet, die Grundrechte zu beachten und Rechtsschutz gegen Verfassungsverletzungen zu gewähren78. Auf diese Weise kann eine Beschwer beseitigt werden, ohne dass das BVerfG dazu bemüht werden müsste. Dadurch wird eine Entlastung des BVerfG bewirkt 79. Des Weiteren verfügen die Fachgerichte gegenüber dem BVerfG, das sich allein auf verfassungsrechtliche Fragen konzentriert, über eine größere Sachnähe zur konkreten Regelungsmaterie des einfachen Rechts. Hieraus erwächst die zweite Funktion des Vorrangs fachgerichtlichen Rechtsschutzes. Die Fachgerichte sollen den Sachverhalt möglichst in mehreren Instanzen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht aufbereiten sowie dem BVerfG die Anschauung der Gerichte, insbesondere der obersten Bundesgerichte vermitteln80. Dem BVerfG wird dadurch die Entscheidung erleichtert und es wird darüber hinaus zu einer qualitativen Verbesserung des Grundrechtsschutzes beigetragen81. Ausnahmen vom Vorrang des fachgerichtlichen Rechtsschutzes sind in § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG normiert: allgemeine Bedeutung der Verfassungsbeschwerde bzw. das Drohen schwerer und unabwendbarer Nachteile für den Beschwerdeführer. Zudem geben die Funktionen des Vorrangs fachgerichtlichen Rechtsschutzes Aufschluss darüber, wann Ausnahmen von diesem Prinzip zu machen sind und damit der direkte Zugang zum BVerfG eröffnet ist. So kann es sein, dass Sinn und Zweck des Vorrangs fachgerichtlichen Rechtsschutzes in bestimmten Situationen nicht erfüllt werden können. Das ist in erster Linie der Fall, wenn eine Aufbereitung des Sachverhalts in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nicht erforderlich ist, sondern es für den streitigen Fall ausschließlich darauf ankommt, ob die Norm verfassungswidrig ist oder nicht82. 78 BVerfGE 68, 376 (380); 69,122 (125); 74, 69 (74); 77, 381 (401). 79 Benda/ Klein, Verfassungsprozeßrecht, § 19, Rn. 539, 567; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 12 II, Rn. 36; Schiaich/Konoth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 237, 245; van den Hövel, Zulässigkeits- und Zulassungsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze, S. 81 f.; Chung, Bedeutung des § 90 BVerfGG für die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen Gesetze, S. 154. so BVerfGE 68, 376 (380); 69, 122 (125); 72, 39 (43); Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 12 Π, Rn. 46. 81 van den Hövel, Zulässigkeits- und Zulassungsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze, S. 80 f.; Chung, Bedeutung des § 90 BVerfGG für die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen Gesetze, S. 154; Benda/ Klein, Verfassungsprozeßrecht, § 19, Rn. 540, 568. 82 BVerfGE 68, 319 (326 f.); 75, 108 (145); Chung, Bedeutung des § 90 BVerfGG für die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen Gesetze, S. 261 f.; van den Hövel, Zulässigkeits- und Zulassungsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze, S. 136;

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F. Ausblick: Gestaltung des Rechtsschutzes de lege ferenda

Daneben kann sich die Einschränkung des Vorrangs fachgerichtlichen Rechtsschutzes in Anlehnung an § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG aus dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit ergeben. Ist es dem Beschwerdeführer nicht zumutbar, zunächst auf den Rechtsweg zu den Fachgerichten verwiesen zu werden, kann das BVerfG direkt angerufen werden. Unzumutbar ist es dem Beschwerdeführer etwa, den Rechtsweg beschreiten zu müssen, wenn dadurch irreparable Schäden entstehen, er bereits aktuell irreversible Dispositionen treffen muss83 oder wenn das Rechtsmittel im Hinblick auf eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung keine Aussicht auf Erfolg hat 84 . Darüber hinaus muss er nicht durch Verstoß gegen eine Straf- oder Ordnungswidrigkeitsvorschrift eine Sanktion provozieren, um sich gegen diese Norm vor den Fachgerichten zu wehren85. Die Verfassungsbeschwerde geht mithin vom Vorrang fachgerichtlichen Rechtsschutzes aus, von dem Ausnahmen unter teleologischen Gesichtspunkten nur zugestanden werden, wenn sein Zweck nicht erreichbar ist oder überwiegende Interessen eines Beschwerdeführers entgegenstehen. (b) Individualbeschwerde gemäß Art. 34 EMRK Mit der Individualbeschwerde gemäß Art. 34 EMRK kann der Einzelne den EGMR direkt anrufen und rügen, dass ein Konventionsstaat seine durch die EMRK gewährleisteten Konventionsrechte verletzt hat. Nicht nur Einzelmaßnahmen, sondern auch normative Rechtsakte der Konventionsstaaten werden vom EGMR auf ihre Vereinbarkeit mit der EMRK hin geprüft 86. In den Zulässigkeitsvoraussetzungen gleicht die Individualbeschwerde der Verfassungsbeschwerde. Unter anderem gilt für sie ebenso wie für die Verfassungsbeschwerde der Grundsatz, dass Rechtsschutz vorrangig dezentral, in diesem Fall vor den nationalen Gerichten der Konventionsstaaten zu suchen ist. Für die Individualbeschwerde gegen Normen ist das Kriterium der unmittelbaren Betroffenheit als Teil der Opfereigenschaft - auch Beschwerdebefugnis genannt - von Bedeutung. In der Regel ist der Vollzugsakt abzuwarten und vor den nationalen Gerichten anzufechten. Wieder soll der Normativakt erst auf den EinBenda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 570 f. Vgl. auch BVerfGE 72, 39 (48) - abweichende Meinung des Richters Dr. Katzenstein. Insgesamt ist die Rechtsprechung des BVerfG zu diesem Punkt sehr restriktiv. 83 BVerfGE 43, 291 (386); 77, 84 (100 f.); 88, 366 (376); Pieroth, in : Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 49,49; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 12 II, Rn. 36. 84 BVerfGE 27, 253 (269); 47, 1 (18); 61, 319 (341); Schiaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 239. 85 BVerfGE 46, 246 (256); 81, 70 (82); Pieroth, in : Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 45; van den Hövel, Zulässigkeits- und Zulassungsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze, S. 134. 86 EGMR, ADT/Vereinigtes Königreich, Urteil vom 31. 07. 2000; Fahrenhorst, JURA 1987, 130 (133); Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 59.

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zelfall angewendet und der konkrete Inhalt der Belastung erkennbar sein, der dann Gegenstand gerichtlicher Kontrolle ist. Das Erfordernis der unmittelbaren Betroffenheit steht der Zulässigkeit einer Individualbeschwerde jedoch nicht entgegen, wenn das Gesetz den Behörden bei der Anwendung kein Ermessen lässt oder es sich bei dem Beschwerdegegenstand um ein direktes gesetzliches Verbot handelt87. Daneben verlangt Art. 35 Abs. 1 EMRK für die Zulässigkeit der Individualbeschwerde, dass der Beschwerdeführer zunächst alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft. Damit wird auf die allgemeine völkerrechtliche local remedies rule Bezug genommen. Erschöpft ist der Rechtsweg nur dann, wenn das höchste zuständige Gericht erfolglos angerufen wurde. Für Beschwerden, die gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtet sind, ist auch die vorherige Einlegung der Verfassungsbeschwerde unter dem Gesichtspunkt der Rechtswegerschöpfung erforderlich 88. Aufgabe der local remedies rule ist zum einen wie bei der Verfassungsbeschwerde die Entlastung des Gerichts und auch die qualitative Aufbereitung des Sachverhalts durch die insoweit sachnäheren staatlichen Instanzen. Darüber hinaus kommt dem Erfordernis, zuerst alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe auszuschöpfen, aber eine weitere entscheidende Funktion zu, die sich aus dem völkerrechtlichen Charakter der EMRK erklärt. Der Konventionsstaat, gegen den sich die Individualbeschwerderichtenwürde, soll zunächst selbst die Möglichkeit haben, die behauptete Konventionsverletzung zu beheben89. Ausnahmen von dem Erfordernis, vor Erhebung der Individualbeschwerde den dezentralen, innerstaatlichen Rechtsweg auszuschöpfen, hat auch der EGMR in seiner Rechtsprechung entwickelt. Ebenso wie im deutschen Verfassungsprozessrecht wird es dem Beschwerdeführer nicht zugemutet, einen zwar formal zulässigen, aber in der Sache vollkommen aussichtslosen Rechtsbehelf einzulegen90. Hierunter werden etwa Situationen gefasst, in denen in Parallelfällen bereits eine ablehnende Entscheidung ergangen ist bzw. in denen eine gefestigte entgegenstehende Rechtsprechung existiert91. 87 EGMR, ADT/Vereinigtes Königreich, Urteil vom 31. 07. 2000; Murswiek, JuS 1986, 8 (9); Meyer-Ladewig, Handkommentar zur EMRK, Art. 34 Rn. 13. 88 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 78; Meyer-Ladewig, Handkommentar zur EMRK, Art. 35 Rn. 12; Fahrenhorst, JURA 1987, 130 (133); Wittinger, NJW 2001, 1238 (1239); Ehlers, JURA 2000, 372 (381). 89 Gomien/Harris /Zwaak, Law and practice of the European Convention on Human Rights and the European Social Charta, S. 55; Meyer-Ladewig, Handkommentar zur EMRK, Art. 35 Rn. 5; Matscher, EuGRZ 1982,489 (496). 90 Ovey/White, The European Convention on Human Rights, S. 410; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 74. 91 Murswiek, JuS 1986, 8 (10); Matscher, EuGRZ 1982, 489 (497); Wittinger, NJW 2001, 1238 (1239); Ehlers, JURA 2000, 372 (381); EGMR, Goretzki/Deutschland, (Partielle) Unzulässigkeitsentscheidung vom 06.04. 2000.

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F. Ausblick: Gestaltung des Rechtsschutzes de lege ferenda

(2) Aufgaben und Funktionsgrenzen der mitgliedstaatlichen bei der Gewährung von Rechtsschutz gegenüber gemeinschaftsrechtlichen Normativakten

Gerichte

Im Gemeinschaftsrecht ist der Rechtsschutz gegen Entscheidungen zentralisiert, Betroffene können sich direkt an die Gemeinschaftsgerichte wenden. Gegen Normativakte indes ist nach dem EG-Vertrag direkter Rechtsschutz nicht vorgesehen. Grundsätzlich muss der Betroffene den auf dem Normativakt beruhenden Vollzugsakt abwarten und kann Rechtsschutz erst gegen die dann eingetretene Konkretisierung der Belastung suchen. Im Regelfall wird das Gemeinschaftsrecht von den Mitgliedstaaten vollzogen, so dass der Rechtsschutz dezentral vor den nationalen Gerichten gewährt wird. Die Gemeinschaftsgerichtsbarkeit ist über das Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 234 EG einbezogen und entscheidet über Fragen der Auslegung und Gültigkeit von Normativakten. Aber auch, wenn ausnahmsweise kein Vollzugsakt notwendig ist, lässt der EGVertrag vom Grundsatz der Dezentralisierung keine Ausnahme zu. Wenn nun die mitgliedstaatlichen Gerichte eingebunden werden in das System gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutzes gegen normative Rechtsakte, stellt sich auch hier die Frage, welche Funktion die nationalen Gerichte dabei erfüllen können. Zwar werden die mitgliedstaatlichen Gerichte als „funktionale Gemeinschaftsgerichte" tätig, wenn sie in Fällen mit Bezug zum Gemeinschaftsrecht entscheiden, doch erscheint es fraglich, ob sie in jedem Fall, in dem sie nach dem geltenden Rechtsschutzsystem der Gemeinschaft zuständig sind, auch tatsächlich eine sinnvolle Funktion erfüllen können. Die Individualbeschwerde der EMRK und die Verfassungsbeschwerde des deutschen Verfassungsprozessrechts kennen ebenfalls verschiedene Ebenen, auf denen dem Betroffenen Rechtsschutz gewährt werden kann. Die Zuständigkeitsverteilung zwischen diesen Ebenen wird jeweils im Wesentlichen nach denselben Grundsätzen bestimmt. Der EGMR und das BVerfG als übergeordnete, zentrale Gerichte entscheiden auch ohne Rechtswegerschöpfung, wenn die nationalen Gerichte bzw. Fachgerichte keine hinreichende Funktion mehr erfüllen können, sei es, den Sachverhalt in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht aufzubereiten und dadurch das übergeordnete Gericht zu entlasten, sei es, dass die vorrangige Anrufung dezentraler Instanzen für den Betroffenen unzumutbar wäre. Dabei darf nicht aus den Augen verloren werden, dass - anders als im Gemeinschaftsrecht - die Betroffenen nach Durchlaufen der dezentralen Stationen ein Recht haben, sich an das BVerfG bzw. den EGMR als zentrale Instanzen zu wenden. Dennoch sind die Überlegungen, in welchen Fällen Ausnahmen vom Grundsatz der Dezentralisierung des Rechtsschutzes sinnvoll sind, auch für das Rechtsschutzsystem der Gemeinschaft interessant, das ebenfalls auf dem Ineinandergreifen verschiedener Rechtswege basiert. Insbesondere für den Rechtsschutz gegen Normativakte, den der EG-Vertrag nach hier vertretener Auffassung bislang ausnahmslos dezentralisiert, ist dieser Ansatz vielversprechend.

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(a) Objektive Sinnlosigkeit der Inanspruchnahme der dezentralen Rechtsschutzebene Es sollte für Betroffene die Möglichkeit bestehen, sich im Wege der Nichtigkeitsklage direkt gegen Normativakte zu wenden, wenn der Verweis auf den dezentralen Rechtsweg zu den mitgliedstaatlichen Gerichten sich lediglich als Umweg erweist, der nur zu einer zeitlichen Verzögerung und zu einer Kostensteigerung führt, ohne dass diesen Nachteilen äquivalente Vorteile gegenüber stehen. Dieser Gedanke ist auch dem EG-Vertrag und der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte nicht fremd. Der EG-Vertrag erfordert für die Zulässigkeit einer Direktklage neben dem individuellen auch ein unmittelbares Betroffensein. Die Rechtsprechung hat letzteres Merkmal dahin gehend konkretisiert, dass neben dem Fehlen von Durchführungsrechtsakten (sogenannte formelle Unmittelbarkeit) auch Unmittelbarkeit im materiellen Sinn genügt. Diese liegt vor, wenn zwar Durchführungsmaßnahmen noch erfolgen müssen, für die Umsetzung aber keinerlei Ermessenspielraum eingeräumt wird bzw. wenn der Mitgliedstaat von vornherein sein beabsichtigtes Handeln bei der Durchführung von Gemeinschaftsrechtsakten eindeutig determiniert hat und damit das Ergebnis der Ermessensausübung feststeht 92. Die Belastung des Klägers ergibt sich dann schon abschließend aus dem Gemeinschaftsrecht. Das Abwarten des Vollzugsaktes und die Inanspruchnahme der mitgliedstaatlichen Gerichte gegen diesen Akt wäre unzweckmäßig. Der gleiche Gedanke kann zugrunde gelegt werden, wenn Normen unmittelbar Belastungen auferlegen, ohne dass es eines Durchführungsaktes bedarf oder aber den ausführenden nationalen Stellen bei der Durchführung kein Ermessen zukommt. Es sollte daher auch für Normativakte nicht dabei bleiben, den Rechtsweg ungeachtet der Zweckmäßigkeit konsequent zu dezentralisieren. Selbst wenn ein anfechtbarer nationaler Durchführungsakt vorliegt, kann das mitgliedstaatliche Gericht nur dessen Rechtmäßigkeit prüfen. Kommt es aber allein auf die Rechtmäßigkeit der als Rechtsgrundlage zugrunde liegenden Gemeinschaftsnorm an, hat das mitgliedstaatliche Gericht - wie bei self-executing Normen - keinerlei Jurisdiktionskompetenz in dieser Frage, sondern muss bei entsprechenden Zweifeln ein Vorabentscheidungsverfahren einleiten. Für die Fälle, dass zwar ein anfechtbarer nationaler Durchführungsakt ergeht, aber allein Fragen zur Gültigkeit des zugrunde liegenden Rechtsaktes streitgegenständlich sind, ist die Inanspruchnahme der nationalen Gerichte unzweckmäßig93.

92 EuGH, Rs. C-291/89 - Interhotel/Kommission, Slg. 1991, I - 2257, Rn. 13; Rs. C-386/96 Ρ - Société Louis Dreyfus & Cie. / Kommission, Slg. 1998,1 - 2309, Rn. 43; Rs. C-152/88 - Sofrimport SARL/Kommission, Slg. 1990,1 - 2477, Rn. 9. 93 Gundel, VerwArch 2001, 81 (103) sieht dieses Problem, geht aber dennoch davon aus, dass die nationalen Gerichte zumindest an der Aufbereitung des Sachverhaltes mitwirken können. Das ist aber nur der Fall, wenn zumindest auch Fragen der Auslegung oder Anwendung aufgeworfen sind.

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Fraglich ist, ob daraus im Wege des Erst-recht-Schlusses die Zentralisierung des Rechtsschutzes gegen Normen folgen muss, die nicht nur im materiellen, sondern sogar im formellen Sinn unmittelbar belastend wirken. Rechtsschutz gegen diese self-executing Normen ist in der Literatur 94 und der aktuellen Rechtsprechung95 besondere Aufmerksamkeit unter dem Aspekt effektiver Rechtsschutzgewährung zuteil geworden. Berücksichtigt man die aus Art. 10 EG und der EMRK folgende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, Rechtsbehelfe zur Verfügung zu stellen, wenn auf Gemeinschaftsebene Rechtsschutz nicht zu erreichen ist, können Rechtsschutzlücken im Grundsatz nicht bestehen. Weitgehend außer Betracht geblieben ist aber die Frage nach einer funktionalen Rechtswegverteilung96. Das Beschreiten des dezentralen Rechtswegs kann auch bei Fehlen von Durchführungsmaßnahmen nicht ausnahmslos als ungeeignet abgelehnt werden. Es ist nicht selten, dass eine Norm unmittelbar eine Belastung auferlegt, aber im Einzelfall problematisch ist, ob der Kläger oder der für ihn relevante Sachverhalt tatsächlich unter den Tatbestand der Norm fallen. Immer dann, wenn die Anwendung der Norm, ob sie nun unmittelbar wirkt oder nicht, im Einzelfall klärungsbedürftig ist, können die mitgliedstaatlichen Gerichte an der Aufarbeitung dieser Frage mitwirken. Illustrieren lässt sich diese Situation beispielhaft anhand eines Falles aus dem deutschen Verfassungsprozessrecht, dessen ratio auf das Gemeinschaftsrecht und sein Ineinandergreifen zentraler und dezentraler Rechtswege übertragbar ist. Es handelt sich um einen Nichtannahmebeschluss des BVerfG, mit dem eine Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des Grundsatzes der Subsidiarität als unzulässig verworfen wurde 97. Die Verfassungsbeschwerde richtete sich gegen eine Vorschrift des BörsG 98, durch welche die Inhaber des Nutzungs- und Verwertungsrechts an bestimmten Handelssystemen verpflichtet wurden, anderen die Einführung des Systems zu „angemessenen Bedingungen" zu gestatten. Die Verpflichtung und damit Belastung aus dem Gesetz traf den Beschwerdeführer zwar, ohne dass

94 Ζ. B. Gröpl, EuGRZ 1995, 583 (588); von Danwitz, NJW 1993, 1108 (1112); Oppermann, Europarecht, Rn. 753; Sedemund/Heinemann, DB 1995, 1161 (1163). 95

Zu den Rechtssachen Jego-Quéré und UPA siehe unter E. I. GA Jacobs hat zutreffend darauf hingewiesen, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte bei reinen Fragen nach der Gültigkeit von Gemeinschaftshandlungen keine geeignete Funktion im Rechtsschutzsystem übernehmen können, Schlussanträge in der Rs. C-50/00 Ρ - Union de Pequenos Agricultores/Rat, Slg. 2002, Π - 6677,1 - 6681, Rn. 41, 49. Er hat jedoch in seinem Bemühen, den direkten Rechtsschutz des Einzelnen zu erweitern, nicht erörtert, dass das unmittelbare Betroffensein nicht identisch ist mit der Differenzierung zwischen Auslegungs- und Gültigkeitsfragen. 97 BVerfG, 1. Senat 1. Kammer, Kammerbeschluss vom 29. März 1999, Az.: 1 BvR 295/99, nicht in amtlicher Sammlung. 96

98 § 7 a Abs. 2 BörsG a. F. eingeführt durch Art. 1 Nr. 7 des Gesetzes zur weiteren Fortentwicklung des Finanzplatzes Deutschland (Drittes Finanzmarktförderungsgesetz) vom 24. März 1998 (BGBl. I S. 529).

II. Erweiterung des Individualrechtsschutzes im Rahmen der Nichtigkeitsklage

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ein Vollzugsakt erging, dennoch hielt das BVerfG die Aufbereitung durch die allgemein zuständigen Gerichte für unabdingbar, da die Interpretation der „angemessenen Bedingungen" der Klärung bedurfte. Es war somit nicht über rein verfassungsrechtliche Fragen zu entscheiden. Das Kriterium der unmittelbaren Betroffenheit kann demnach allenfalls ein Indiz dafür sein, dass die Inanspruchnahme dezentralen Rechtsschutzes unzweckmäßig ist, abschließend kann es aber nicht Auskunft geben über eine funktionale Rechtswegverteilung. In Verfahren, die ausschließlich die Gültigkeit einer Norm betreffen, Fragen der Auslegung und Anwendung hingegen nicht aufwerfen, ist die Anrufung der nationalen Gerichte ein zeit- und kostenintensiver Umweg, ohne dass die mitgliedstaatlichen Gerichte dabei eine für das Rechtsschutzsystem zweckdienliche Aufgabe wahrnehmen. Sie haben keinen eigenen Entscheidungsspielraum, sondern sind vielmehr bei Zweifeln an der Gültigkeit der Norm verpflichtet, diese Frage den Gemeinschaftsgerichten im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens vorzulegen, die dann mit dem Verfahren belastet werden. Nur in Ausnahmefällen könnte das Einschalten der nationalen Gerichte dennoch nützlich sein, nämlich wenn das Gericht jegliche von dem Kläger vorgebrachten Zweifel an der Gültigkeit der Norm als offensichtlich haltlos verwerfen kann. Dann üben die nationalen Gerichte eine Filterfunktion aus und die Gemeinschaftsgerichte müssen überhaupt nicht mit der Sache befasst werden. Es tritt ein Entlastungseffekt ein. In aller Regel werden sich aber nicht alle vorgebrachten Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer Norm ohne weiteres zurückweisen lassen, so dass die Gemeinschaftsgerichte ohnehin entscheiden müssen und durch die vorherige Anrufung der nationalen Gerichte kein Entlastungseffekt eintritt. Die wenigen Fälle, die offensichtlich aussichtslose Klagen betreffen, bringen aber keine übergroße zusätzliche Arbeitslast mit sich. Sie können gemäß Art. 111 der Verfahrensordnung des EuG durch Beschluss abgewiesen werden. Aus rechtspolitischer Sicht spricht für die hier vorgeschlagene funktionelle Rechtswegverteilung zudem, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte nicht mit nutzlosen Verfahren belastet werden, in denen sie bloße Durchgangsstationen bilden, ohne für die Sache förderlich zu sein. Nicht nur für Betroffene bedeuten solche Verfahren einen überflüssigen Zeit- und Kostenaufwand, auch für die mitgliedstaatlichen Gerichte wirken diese Verfahren als Belastung für ihre Ressourcen. Die aus Art. 10 EG abgeleitete Pflicht der Mitgliedstaaten, Rechtsschutzmöglichkeiten immer dann bereitzustellen, wenn die Gemeinschaftsgerichte aufgrund der ihnen durch den EG-Vertrag gesteckten Grenzen dazu nicht im Stande sind, hat durch das Urteil des EuGH in der Rechtssache UPA weitreichende Konsequenzen für die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen". Die gegenseitige Rücksichtnahme 99 Vgl. dazu E. III.

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F. Ausblick: Gestaltung des Rechtsschutzes de lege ferenda

gebietet es, die Mitgliedstaaten nicht mit Verpflichtungen zu belasten, die letztlich im Rechtsschutzsystem der Gemeinschaft nutzlos sind. (b) Verweis auf den dezentralen Rechtsweg ist für den Betroffenen subjektiv unzumutbar Neben der Frage, ob die Inanspruchnahme dezentralen Rechtsschutzes objektiv einen Zweck zu erfüllen vermag, könnten in Anlehnung an die Verfassungsbeschwerde im deutschen Verfassungsprozessrecht und die Individualbeschwerde der EMRK Ausnahmen von der Dezentralisierung des Rechtsschutzes unter dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit zugelassen werden. Eine für das Gemeinschaftsrecht spezifische Situation, in welcher es für Betroffene unzumutbar sein kann, die mitgliedstaatlichen Gerichte anzurufen, um Rechtsschutz gegenüber Normen zu erhalten, besteht in Zusammenhang mit vorläufigem Rechtsschutz. Ist unter den vom Gerichtshof anerkannten engen Voraussetzung vorläufiger Rechtsschutz durch die mitgliedstaatlichen Gerichte geboten, kann gleichwohl die Effektivität desselben fraglich sein. Das liegt daran, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte die Kompetenz, vorläufigen Rechtsschutz gegenüber sekundärem Gemeinschaftsrecht zu gewähren, nur für das Hoheitsgebiet ihres Mitgliedstaates haben. Erstreckt sich die Tätigkeit eines Einzelnen über die Gebiete mehrerer Mitgliedstaaten, muss er in jedem dieser Mitgliedstaaten Klage erheben und vorläufigen Rechtsschutz beantragen. Ein schwerer und nicht wieder gutzumachender Schaden könnte dem Betroffenen drohen, wenn vorläufiger Rechtsschutz nicht einheitlich zu erreichen ist, er aber gerade darauf angewiesen ist, etwa weil die Herstellung oder der Vertrieb seines Produktes nicht nach unterschiedlichen Maßstäben ausgerichtet werden können. Die Einheitlichkeit ist dadurch gefährdet, dass die verschiedenen mitgliedstaatlichen Gerichte zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen können, so dass teilweise vorläufiger Rechtsschutz gewährt wird, teilweise aber nicht. Aber auch wenn ein nationales Gericht die Voraussetzungen für den vorläufigen Rechtsschutzes verkennt und damit das Gemeinschaftsgrundrecht auf effektiven Rechtsschutz verletzt, weil irreparable Schäden drohen 100, kann daraus nicht geschlossen werden, dass es für den Betroffenen unzumutbar sei, den dezentralen Rechtsweg zu beschreiten. Fehler in der Rechtsfindung sind jedem Rechtsschutzsystem immanent und können ebenso selbst den Gemeinschaftsgerichten unterlaufen. Nach dem Konzept des gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutzes muss grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass alle nationalen Gerichte bei Vorliegen der erforderlichen Voraussetzungen einheitlich vorläufigen Rechtsschutz gewähren. Die Unzumutbarkeit ergibt sich aber aus einem anderen Gesichtspunkt. Es ist rechtsstaatlich bedenklich, wenn ein Betroffener bis zu 25 verschiedene Klagen 100 Zu der Verpflichtung der mitgliedstaatlichen Gerichte, in diesen Fällen vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren vgl. Ε. ΠΙ. 3.

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erheben muss, um sich gegen ein und dieselbe Maßnahme zu wehren und vorläufigen Rechtsschutz zugesprochen zu bekommen. Dies ist aber die Konsequenz aus dem Aufbau der Gemeinschaft. Die Verantwortung, effektiven Rechtsschutz in diesen Situationen zu gewährleisten, liegt daher bei ihr. Zumindest de lege ferenda sollte anerkannt werden, dass es einem Betroffenen, der schlüssig darlegen kann, auf einheitlichen vorläufigen Rechtsschutz im gesamten Gemeinschaftsgebiet angewiesen zu sein, nicht zumutbar ist, auf die dezentrale Ebene vor eine Vielzahl mitgliedstaatlicher Gerichte verwiesen zu werden. Es sollte ein Direktklagerecht zugestanden werden. Bei der Verfassungsbeschwerde und der Individualbeschwerde kommt als weitere Ausnahme von der Dezentralisierung die Unzumutbarkeit in Betracht, den Rechtsweg entgegen einer gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung auszuschöpfen. Ein solches Vorgehen ist ersichtlich nicht geeignet, das Rechtsschutzbegehren durchzusetzen. Eine Vergleichbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Die gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung in Bezug auf Gemeinschaftsrecht kann nur beim EuGH bestehen. Dieses Argument kann daher nicht herangezogen werden mit dem Ziel, die dezentrale Ebene zu übergehen und sich direkt an die Gemeinschaftsgerichte zu wenden. Allenfalls könnte darüber nachgedacht werden, ob dem Betroffenen ein direktes Klagerecht zugestanden werden sollte, wenn er glaubhaft vorträgt, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte in gefestigter Rechtsprechung pflichtwidrig kein Vorabentscheidungsverfahren zu einer bestimmten Frage einleiten und dies daher auch in seinem Fall nicht tun werden. Selbst wenn man in dieser Konstellation grundsätzlich ein Direktklagerecht für angezeigt hält, wird der Fall wohl praktisch nicht relevant werden. Schon aufgrund der kurzen Klagefrist der Nichtigkeitsklage kann sich vor deren Ablauf keine gefestigte Rechtsprechung der nationalen Gerichte herausgebildet haben, mit der pflichtwidrig die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens zur Überprüfung dieser Norm abgelehnt wird. Problematisch ist auch eine Argumentation, die darauf abstellt, dass die nationalen Gerichte es unterlassen hätten, ähnliche oder inhaltlich sogar identische Fragen im Hinblick auf frühere Normen vorzulegen. Ob dies auch für später erlassene und aktuell streitbefangene Normen zwangsläufig in gleicher Weise gilt, kann nicht ohne weiteres unterstellt werden.

bb) Zusammenfassung: Konsequenzen für die Nichtigkeitsklage de lege ferenda Bei der Neugestaltung der Individualnichtigkeitsklage sollte Leitgedanke sein, eine funktionale und damit zweckmäßige Aufgabenverteilung zwischen den Gemeinschaftsgerichten und den mitgliedstaatlichen Gerichten zu erreichen. Auf die15 Schulte

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se Weise wird gleichzeitig die Effektivität des Individualrechtsschutzes berücksichtigt und gefordert, indem ein Gericht angerufen werden kann, das eine für den Rechtsschutz sinnvolle Funktion wahrnimmt. Eine am Grundsatz der funktionalen Rechtswegzuweisung ausgerichtete Neugestaltung der Individualnichtigkeitsklage hat zunächst Auswirkungen auf die zulässigen Klagegegenstände. Während nach dem Wortlaut des EG-Vertrags die zulässigen Klagegegenstände auf Entscheidungen beschränkt und Normativakte ausgenommen sind, misst die Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte dieser Voraussetzung keine Bedeutung mehr bei, sondern verlagert den Schwerpunkt der Zulässigkeitsprüfung auf das Kriterium der individuellen Betroffenheit. Hier wird die Prämisse zugrunde gelegt, dass der Einzelne einen Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gegenüber jedwedem belastenden Akt der Gemeinschaft haben muss und dass zudem Schadensersatzansprüche aufgrund ihrer Natur, Verletzungen auf Primärebene nicht begegnen zu können, sondern nur auf Sekundärebene finanziellen Ausgleich zu bieten, die gebotene Effektivität nicht gewährleisten. Die Frage nach einer interessengerechten Rechtswegverteilung zwischen den mitgliedstaatlichen Gerichten und der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit stellt sich vor diesem Hintergrund für Entscheidungen und Normen in gleicher Weise. Eine Neufassung der Nichtigkeitsklage sollte daher als zulässige Klagegegenstände nicht nur Entscheidungen nennen, sondern alle belastenden Handlungen der Gemeinschaftsorgane in den Katalog der anfechtbaren Maßnahmen aufnehmen 101. Es könnte dann auf die Abgrenzung in materieller Hinsicht zwischen Entscheidungen und Normen verzichtet werden, welche sich nach der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte schwierig gestaltet. Auf das Kriterium der individuellen Betroffenheit im Sinne der Plaumann-Formel und der hierzu ergangenen Rechtsprechung sollte verzichtet werden. Entscheidend ist allein, welche Rechts- bzw. Interessenpositionen des Einzelnen im Gemeinschaftsrecht gerichtlichem Rechtsschutz unterstellt werden. Das Verhältnis zwischen zentralem und dezentralem Rechtsschutz sollte funktional bestimmt werden. Die mitgliedstaatlichen Gerichte sind zur Aufbereitung des Sachverhalts und Entlastung der Gemeinschaftsgerichte vorrangig anzurufen, solange sie eine rechtsschutzrelevante Funktion auszuüben in der Lage sind. Grenzen sind dort erreicht, wo ausschließlich Fragen der Gültigkeit eines Rechtsaktes zu beantworten sind. Zusätzlich zu den Fällen, in denen die Dezentralisierung des Rechtsschutzes unzweckmäßig ist, weil die mitgliedstaatlichen Gerichte als bloße Durchgangsstation keinerlei Funktion im gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutzsystem erfüllen können, kann eine Durchbrechung der Dezentralisierung des Rechtsschutzes in Betracht kommen, wenn ein solches Vorgehen für den Einzelnen unzumutbar wäre. 101

So auch Art. ΠΙ-270 Abs. 4 des Verfassungsentwurfs.

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Sowohl die Fälle, in denen die Inanspruchnahme dezentralen Rechtsschutzes objektiv sinnlos wäre, als auch die Situationen, in denen es für den Betroffenen unzumutbar wäre, dezentral Rechtsschutz zu suchen, betreffen seltene Ausnahmen. Es bleibt bei dem Grundsatz der Dezentralisierung des Rechtsschutzes gegen Normen, der nur in wenigen Konstellationen zugunsten anderer Interessen durchbrochen wird.

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G. Schlussbetrachtung Die Anfechtbarkeit von Normen durch natürliche und juristische Personen ist im EG-Vertrag nicht vorgesehen. Der Rechtsschutz gegen Normen ist dezentralisiert. Verordnungen sind nur taugliche Klagegegenstände, wenn sie ihrem wahren Rechtscharakter nach Entscheidungen sind (Scheinverordnungen). Richtlinien tauchen im Wortlaut von Art. 230 Abs. 4 EG gar nicht auf. Gleichwohl ergibt sich die Anfechtbarkeit von Scheinrichtlinien aus dem allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts, dass Entscheidungen stets anfechtbar sind und die Gemeinschaftsorgane durch die Wahl einer normativen Rechtsform nicht über den Rechtsschutz des Einzelnen disponieren dürfen. Seit der Rechtssache Codorniu ist auch die Anfechtbarkeit echter Normen in der Rechtsprechung anerkannt. Eine dogmatisch überzeugende Begründung dafür haben die Gemeinschaftsgerichte indes nicht geboten. Auch die Literatur hat dies nicht vermocht. Das Kriterium der individuellen Betroffenheit, das in der jüngsten Rechtsprechung Gegenstand heftiger Kontroversen war, wird aber restriktiv ausgelegt, so dass Rechtsschutz gegen Normen im Regelfall vor den mitgliedstaatlichen Gerichten zu suchen ist. Nach hier vertretener Auffassung ist der Rechtsschutz gegen Normen de lege lata ausnahmslos dezentralisiert. Rechtsschutzlücken bestehen nicht, da die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, dem Einzelnen stets Rechtsbehelfe zur Verfügung zu stellen und auch rechtzeitig Rechtsschutz zu gewähren. De lege ferenda sollte es beim Grundsatz der Dezentralisierung des Rechtsschutzes gegen Normen bleiben, aber der Gesichtspunkt der Funktionalität bei der Rechtswegverteilung berücksichtigt werden. Das überaus unpraktikable Kriterium der individuellen Betroffenheit sollte ganz aufgegeben werden. Maßgeblich ist, welche Rechte bzw. Interessen das Gemeinschaftsrecht unter gerichtlichen Rechtsschutz stellen will. Ausnahmen von der Dezentralisierung des Rechtsschutzes gegen Normen sollten dann zulässig sein, wenn die Inanspruchnahme dezentralen Rechtsschutzes objektiv sinnlos oder dem Betroffenen subjektiv unzumutbar ist. Der Einführung einer Grundrechtsbeschwerde, deren Anwendungsbereich auf die Nichtvorlage eines entsprechend verpflichteten nationalen Gerichts beschränkt wäre, bedarf es nicht.

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Sachwortregister Amtshaftungsklage 26, 33,150,165 Antidumping 94,101,127 Auffangzuständigkeit 163

individuelle Betroffenheit 114 f., 156 f., 160, 161,173 f., 211 f. Inzidentkontrolle 26,35, 170, 216

Beschluss 181,200,223 Bestandskraft 178 f.

Kompetenzüberschreitung 167 Konkurrenten 73 f., 128,136, 138,178,213

dezentraler Rechtsschutz 27,169,211,218 Durchführungsmaßnahmen 24, 32, 62, 76, 143 f., 163,176, 209 f.

local remedies rule 219

effet utile 64,71,151 EGMR 22,172 f., 218 f. EMRK 19, 21,49,161, 172 f., 196, 218 f. Entscheidung 25, 57 f., 59, 86 f., 89 f., 100 f., 117,134,170,175, 183 f., 208 estoppel-Prinzip 64,68 Europäische Verordnung 94,104, 210 f. Europäischer Beschluss 94, 104, 210/211 Europäisches Gesetz 94,104 Europäisches Rahmengesetz 94 Feststellungsklage 186 f. funktionale Rechtswegzuweisung 213 gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung 186 geschlossener Personenkreis 90 f.,115 gesetzlicher Richter 29 Gewaltenteilung 19,108 Grundrechte 31,111,122,130 f., 138,196 f., 215 f. Grundrechtsbeschwerde 195 f. Grundrechtscharta 195 hybride Rechtsakte 100 f., 105 f., 140, 175, 183, 212 Individualbeschwerde 21, 173, 196, 203, 218 f.

normativer Rechtscharakter 89 Normenkontrolle 19, 20 f. Plaumann-Formel 17, 114 f., 153, 163, 174, 183, 211 f. Primärrecht 27,112,196 f. Primärrechtsschutz 17, 33 f.,144, 226 privilegierte Klagbefugnis 20, 81 f., 88,137, 151, 174 qualifizierter Verstoß 34, 70,160 Rechtssachen - EuG/EuGH - ACHE 51, 56 - Alpharma 128,131 - Antillean Rice Mills 122 - Asocarne 42,44,50, 56 - British-American Tobacco 190 - Codorniu 17, 61,97, 113,130 f. - Deutz & Geldermann 145 - Fedesa 37, 56 - Flourez 37,56 - Gibraltar 38, 56 - GUNA 41,56 - Japan Tobacco 52, 56,61,77,191 - Jego-Quéré 114,159,162 - Morin 55, 57, 61 - Nederlandse Antillen 124 - Pfizer 131 - Piraiki-Patraiki 121 f.

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Sachwortregister

- Plaumann 17, 114 f., 153, 163, 174, 183, 211 f. - Salamander 47, 56, 61, 76, 165 - Sofrimport 121,126 - TWD 178 f. - UEΑΡΜΕ 46, 56 - UPA 114,154, 161,203,223 - EGMR - Matthews 172 - Senator Lines 173 Rechtsschutzlücken 32, 95, 176,188, 193 f., 203,222 Rechtssetzungsgemeinschaft 21 rechtsstaatlich 19, 32, 72, 80, 120, 122, 140, 145,214 Rechtswegerschöpfung 216, 219 Richtlinie 23, 36 f., 63 f. Rückwirkung 68, 93, 122 Sammelentscheidung 95 Schadensersatz 26,70,145,226 Scheinrichtlinie 38, 59, 79 Scheinverordnung 25, 86 Sekundärrecht 23,143 Sekundärrechtsschutz 33 f., 70,144 f., 226 self-executing Normen 32, 143 f., 152, 163, 186, 221 f. Souveränität 19, 21,24,63, 168 spezifische Rechte 101,130 f. Staatshaftung 70 Subsidiarität 200, 202 f., 216 Ungleichbehandlung 65,156, 167 unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien 59 f., 81, 151

- Dreiecksverhältnisse 75 - horizontale Verhältnisse 69 - vertikale Verhältnisse 67 unmittelbare Betroffenheit - formelle 62,76, 221 - materielle 62, 77, 221 Unzumutbarkeit 32, 149, 187, 218, 220, 224 f. Verfahrensrechte 104,118 f., 132, 172 Verfassungsbeschwerde 29,196, 215 f. Verfassungsentwurf 94, 104,195,210 Verfassungskonvent 18,208 Verordnung 23, 86 f. Vollzug - gemeinschaftseigener 143 - mitgliedstaatlicher 144 Vorabentscheidungsverfahren 27, 28, 154, 189 - Auslegungsfragen 27,144,198, 204, 206 - Gültigkeitsfragen 27, 198 vorbeugende Feststellungsklage 186,188 vorbeugender Rechtsschutz 149 f., 187,189 Vorlagepflicht 28, 29 f., 147, 177 f., 197, 204, 223,225 Vorlagerecht 28 vorläufiger Rechtsschutz 146,147,150,155, 171, 192,194,224 Vorwirkungen von Normen 149,189 Willkür 29 f. wirtschaftliche Stellung 127 zentraler Rechtsschutz 17, 25,153 f., 213 f.